Kalkül / Unbefleckt: Zwei Theaterstücke aus der Welt der Wissenschaft
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About this ebook
Unbefleckt behandelt Djerassis Lebensthema, die Trennung von Sex und Fruchtbarkeit, am Beispiel einer Wissenschaftlerin, die sich einer neuartigen Methode der Selbstbefruchtung unterzieht.
Kalkül geht, reizvoller Weise, in eine ganz andere Richtung und stellt zwei der wichtigsten europäischen Geistesgrößen auf die Bühne, Newton und Leibnitz und ihren vieldiskutierten "Prioritätsstreit" über die Differentialrechnung. Was vielleicht spröde klingt, wird dank Djerassi zu einem aufregenden Lese-Erlebnis. "Science-in-Theatre" in der häuslichen Lese-Ecke.
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Book preview
Kalkül / Unbefleckt - Carl Djerassi
Kalkül / Unbefleckt
Carl Djerassi
Kalkül / Unbefleckt
Zwei Theaterstücke
aus der Welt der Wissenschaft
Aus dem Amerikanischen von Bettina Arlt.
Vorwort übersetzt von Ursula-Maria Mössner.
Die Aufführungsrechte liegen beim Autor.
© 2003
HAYMON verlag
Innsbruck-Wien
www.haymonverlag.at
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-7099-7499-5
Satz: Haymon-Verlag
Umschlag: Benno Peter
Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.haymonverlag.at.
Inhalt
Vorwort
Unbefleckt
Kalkül
Über den Autor
Danksagung
Vorwort
Ist „Science-in-Theatre" Literatur im eigentlichen Sinn? Etwas, das gelesen und nicht nur auf der Bühne gesehen wird? Die Tatsache, dass zwei meiner Theaterstücke dieses Genres, Unbefleckt und Kalkül, nun zusammen in einem kleinen Band erscheinen, beweist wohl, dass ich diese Fragen mit einem klaren Ja beantworte.
Aber was verstehe ich unter „Science-in-Theatre? Ich meine damit Bühnenwerke, in denen Naturwissenschaft und Naturwissenschaftler nicht primär eine metaphorische Funktion erfüllen – so lobenswert und reizvoll derartige Bemühungen in so wichtigen Theaterstücken wie Stoppards Arkadien oder Dürrenmatts Die Physiker auch sind –, sondern vielmehr im Brennpunkt des Stückes stehen, wie beispielsweise in Frayns Kopenhagen. Meine eigene Definition des Begriffs „Science-in-Theatre
ist sogar noch enger gefasst, da sie außerdem voraussetzt, dass die geschilderten naturwissenschaftlichen Vorgänge real oder zumindest plausibel sind und dass das Verhalten meiner naturwissenschaftlichen Charaktere insofern authentisch ist, als es ihr Stammesverhalten dokumentiert. Diese selbst auferlegten Einschränkungen gelten auch für die Art von literarischen Prosawerken, der ich mich in den letzten 15 Jahren mit einer Roman-Tetralogie gewidmet habe und die ich als „Science-in-Fiction" klassifiziere, um sie von dem wesentlich weiter verbreiteten Genre der Science-Fiction zu unterscheiden.
Ist Science-in-Theatre also schlicht Science-in-Fiction, die statt zwischen zwei Buchdeckeln auf der Bühne präsentiert wird? Ich möchte behaupten, dass es dabei um mehr geht. Seit dem Beginn der Aufklärung ist der Dialog aus den schriftlichen Abhandlungen von Naturwissenschaftlern faktisch verschwunden. Dialoge jedoch machen Abhandlungen in entscheidender Hinsicht menschlicher, und da es mein Ziel als Naturwissenschaftler und Schriftsteller ist, die menschlichen Schwächen und Stärken meiner Stammeskultur aufzuzeigen, habe ich mich inzwischen der dialogischsten Form der Literatur zugewandt, nämlich dem Drama.
Und obgleich ich mir natürlich wünsche, dass man meine Theaterstücke auf der Bühne sieht, steht doch fest, dass selbst die beliebtesten Stücke nur hin und wieder und jeweils nur an wenigen Orten aufgeführt werden. Ich bin jedoch überzeugt, dass meine Form der „Science-in-Theatre" für sich betrachtet auch als eine Geschichte über Naturwissenschaft und Naturwissenschaftler gelesen werden kann, die nur zufällig ausschließlich in Dialogform verfasst wurde. Mein zweites Theaterstück dieses Genres, Oxygen – geschrieben in Zusammenarbeit mit Roald Hoffmann und beendet im Jahre 2000 –, wurde binnen drei Jahren in acht Sprachen übersetzt und in sechs davon in Buchform veröffentlicht. Das zeigt, dass Oxygen viel gelesen wird – ob zur Unterhaltung oder zur Belehrung –, und so hoffe ich, dass dies auch bei dem hier vorliegenden Duo der Fall sein wird.
Unbefleckt beschäftigt sich – wie der Untertitel „Sex im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit andeutet – mit einer wissenschaftlichen Entdeckung, die eine Revolution auf dem Gebiet der menschlichen Fortpflanzung darstellt. Das Stück setzt sich mit einer neuen und umstrittenen Methode der assistierten Reproduktion (ICSI = intracytoplasmatische Spermieninjektion) auseinander, die die bevorstehende Trennung von Sex („im Bett
) und Befruchtung („unter dem Mikroskop") bis zur letzten Konsequenz zu verfolgen verspricht. Wer das Stück liest oder sieht, wird zwangsläufig die technischen wie auch die moralischen Aspekte dieser neuen IVF-Methode besser einzuschätzen wissen.
Kalkül dagegen beschäftigt sich weniger mit Naturwissenschaft (in diesem Fall mit Mathematik), sondern mit dem sittlichen Verhalten von Naturwissenschaftlern im Rahmen des heftigen Prioritätsstreits zwischen zwei der bedeutendsten europäischen Geistesgrößen, Newton und Leibniz, der sich über drei Jahrzehnte hinzog. Das Stück beleuchtet einen speziellen Aspekt der naturwissenschaftlichen Kultur – den Drang, der Erste zu sein –, der für den in der Forschung tätigen Naturwissenschaftler Antrieb und Gift zugleich ist. Das Stück beweist, dass sich in dieser Hinsicht in den letzten 300 Jahren kaum etwas verändert hat.
Ich glaube, dass die in Unbefleckt und Kalkül behandelten Themen nachdenkenswert und folglich auch lesenswert sind. Warum also nicht in reiner Dialogform?
San Francisco, 1. April 2003
Unbefleckt
Sex im Zeitalter
der technischen Reproduzierbarkeit
Vorbemerkung
Sex im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit
„Die Reproduktionstechnik löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab." (Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, 1936)
Die Befruchtung einer weiblichen Eizelle durch einen zeugungsfähigen Mann erfordert bei normalem Geschlechtsverkehr weit mehr als 10 Millionen Spermien – dabei stößt der Mann pro Ejakulat etwa 100 Millionen Spermien aus. Eine erfolgreiche Befruchtung durch ein einzelnes Spermium erscheint völlig unmöglich, wenn man bedenkt, dass ein Mann, der nur 1-3 Millionen Spermien im Ejakulat hat, praktisch zeugungsunfähig ist. Im Jahre 1992 haben Gianpiero Palermo, Hubert Joris, Paul Devroey und André C. Van Steirteghem von der Universität von Brüssel in der Zeitschrift Lancet, 340, 17 (1992) einen sensationellen Artikel veröffentlicht, in dem sie die erfolgreiche Befruchtung einer menschlichen Eizelle durch ein einzelnes Spermium mittels direkter Injektion unter dem Mikroskop und anschließende Rückführung der Eizelle in den weiblichen Uterus bekannt gaben. ICSI – das anerkannte Akronym für „intrazytoplasmatische Spermiuminjektion" – ist mittlerweile die wirksamste Waffe gegen männliche Unfruchtbarkeit: seit 1992 sind bereits über 100 000 ICSI-Babys auf die Welt gekommen.
So weit die echten Fakten von ICSI. Aber da Unbefleckt ein Theaterstück ist, sind Handlung und Personen – im Gegensatz zu den wissenschaftlichen Fakten* – frei erfunden, insbesondere die Figur der Dr. Melanie Laidlaw, der Erfinderin von ICSI im Stück. Die moralischen Fragen aber, die ICSI aufwirft, sind authentisch und bleiben auch dann noch relevant, nachdem der Vorhang gefallen ist.
* Der Videofilm, der in Szene 5 den ICSI-Vorgang zeigt, basiert auf einer tatsächlichen Befruchtung, die Dr. Roger A. Pedersen von der University of California, San Francisco, durchgeführt hat, während der Film in Szene 6 den gleichen Vorgang von Dr. Barry R. Behr von der Stanford University durchgeführt zeigt. Standfotos dieses Videofilms (vom Autor erhältlich) sind im Buchtext wiedergegeben.
Personen
Dr. Melanie Laidlaw: Amerikanische Reproduktionsbiologin, in den späten Dreißigern, schlank, sportlich gebaut, mit schönen Beinen (wichtig in Szene 1).
Menachem Dvir: Israelischer Atomingenieur, 40-50, muskulös.
Dr. Felix Frankenthaler: Amerikanischer Kliniker und Infertilitätsspezialist (zwischen Ende 30 und Anfang 50).
Adam: Junger Teenager (im Prolog 17, im Epilog 13 Jahre alt).
Die Handlung spielt in Amerika zwischen 1997 und 1998.
Prolog (im Jahr 2015)
1. Akt, 1. Szene: Mai 1997, Wohnzimmer einer Hotelsuite, während eines wissenschaftlichen Kongresses.
1. Akt, 2. Szene: September 1997, Dr. Melanie Laidlaws Labor in einem amerikanischen Institut für Reproduktionsbiologie und Infertilitätsforschung.
1. Akt, 3. Szene: November 1997, Traumszene in einer Samenbank.
1. Akt, 4. Szene: Januar 1998, gleiche Dekoration wie Szene 1.
1. Akt, 5. Szene: Sonntag, 8. Februar 1998, gleiche Dekoration wie Szene 2.
1. Akt, 6. Szene: Fünf Minuten später, gleiche Dekoration wie vorhergehende Szene.
2. Akt, 7. Szene: September 1998, gleiche Dekoration wie vorhergehende Szene.
2. Akt, 8. Szene: Ein paar Minuten später, Cafeteria des Forschungszentrums.
2. Akt, 9. Szene: Ein paar Minuten später, gleiche Dekoration wie Szene 7.
2. Akt, 10. Szene: Eine Woche später, gleiche Dekoration wie vorhergehende Szene.
2. Akt, 11. Szene: Anfang Dezember 1998, Dr. Melanie Laidlaws Wohnzimmer.
Epilog: Dreizehn Jahre später (2011).
Die E-Mail-Zwischenspiele können (vorzugsweise) in Echtzeit projiziert werden oder als vollständige Texte nach den Szenen 1, 2, 3, 4, 6 und 10. Die E-Mail-Überschriften können wahlweise, zusätzlich zur Projektion, von einer Stimme aus dem Off gesprochen werden.
Prolog
Zeitpunkt: das Jahr 2015
Adam: (nachdenklich, ein bisschen traurig) Ich weiß nicht mehr genau, wann ich zum ersten Mal gehört habe, wie meine Mutter mir ins Ohr geflüstert hat: „Adam, mein süßes ICSI-Baby. … Es hörte sich schön an, wie sie „ICSI
sagte … wie ein Kosename. Und danach hat sie mir immer einen Kuss gegeben.
Dann kann ich mich daran erinnern, dass ich „ICSI mal in einem ganz anderen Zusammenhang gehört habe. Und da habe ich es eigentlich nur zufällig mitbekommen. Da hat sie am Telefon von „dem
ICSI-Baby gesprochen, und das hörte sich gar nicht mehr so niedlich an. (Kurze Pause.) Jedenfalls nicht in meinen Ohren. Der Artikel „das statt „mein
machte das Ganze so distanziert, fast klinisch … als hätte sie mich auf einmal zu einem medizinischen Kuriosum oder Meilenstein in der Geschichte der Medizin degradiert.
Von dem Tag an sah ich mich selbst mit ganz anderen Augen (kurze Pause) … nicht mehr als „Adam oder „Sohn
… sondern als (kurze Pause) „ICSI".
Erster Akt, Erste Szene
Mai 1997, ein wissenschaftlicher Kongress. Menachem Dvir und Dr. Melanie Laidlaw rekeln sich nach vollbrachtem Liebesakt. Typisch post-koitale Unterhaltung: liebevoll, mit einem Anflug von Schuldgefühl, beinahe kitschig, neugierig und doch vertraulich.
Menachem: (schmiegt sich an sie) Du hast mir also angesehen, dass ich verheiratet bin?
Melanie: Jedenfalls sahst du nicht aus, als wärst du allein stehend. (Kurze Pause.) Dazu hast du irgendwie … (sucht nach den passenden Worten) … nicht unabhängig genug gewirkt. Du hast zwar nicht das typische Brandmal am Finger, aber man konnte spüren, dass da schon jemand Besitz angemeldet hat.
Menachem: Warum hast du mich nicht gefragt … gestern bei der Eröffnung … oder am Abend in der Sauna?
Melanie: Weil ich es gar nicht wissen wollte.
Menachem: Und warum nicht?
Melanie: Wenn ich vorher gewusst hätte, dass du verheiratet bist … ich meine, ganz sicher … dann wäre ich nicht … dann hätte ich das nicht gekonnt …
Menachem: Dann bin ich froh, dass du nicht gefragt hast. Du hast übrigens tolle Beine.
Melanie: Weiß ich. Trotzdem danke.
Menachem: Und so glatt. Als ich deine Beine gestern Abend in der Sauna gesehen habe, da dachte ich gleich: die muss ich anfassen. (Kurze Pause.) Du hattest als Einzige ein Handtuch um.
Melanie: Wir Amerikaner sind züchtiger als die Europäer. Das liegt an unserem puritanischen Erbe … und äußert sich besonders, wenn wir mit Fremden in der Sauna sind.
Menachem: Von wegen puritanisch! Vielleicht zu puritanisch, um sexy zu sein … aber züchtig? Dazu bist du eindeutig zu sinnlich. Und wenn ich die Wahl hätte zwischen sexy und sinnlich, wüsste ich sofort, wofür ich mich entscheiden würde.
Melanie: (schnell) Wer sagt denn, dass du die Wahl hast? (Pause, dann in ernstem Ton:) Glaubst du mir, dass ich so was noch nie gemacht habe?
Menachem: Was meinst du denn mit „so was"?
Melanie: Na ja … ich meine, Geschlechtsverkehr –
Menachem: (grinst) „Geschlechtsverkehr" – (Er will weitersprechen, aber sie lehnt sich über ihn und hält ihm den Mund zu.)
Melanie: – mit einem Mann zu haben, den ich erst ein paar Stunden vorher kennen gelernt habe; über den ich praktisch nichts weiß, außer dass er ein israelischer Spitzenatomphysiker ist, und –
Menachem: (reißt ihre Hand von seinem Mund und lacht) – aus dem Heiligen Land kommt?
Melanie: Glaubst du mir etwa nicht? Du denkst also, ich mache das regelmäßig, mit Männern einfach so ins Bett hüpfen –
Menachem: Typisch amerikanisch! „Ins Bett hüpfen."
Melanie: Wie wär’s mit „Ich ficke keine Männer, die ich nicht kenne"?
Menachem: (sanft) Melanie! Ts, ts … Hör auf … (Will ihr seinen Zeigefinger auf die Lippen legen, aber sie beißt hinein.) Aua!
Melanie: Okay … wie würdest du es denn nennen?
Menachem: Mit jemandem schlafen. Oder jemanden „lieben".
Melanie: Und was machst du lieber?
Menachem: Jemanden lieben.
Melanie: Und haben wir das gerade getan?
Menachem: (sehr sanft) Wir haben miteinander geschlafen … jemanden lieben ist anders. Dazu muss jemand die Initiative ergreifen.
Melanie: Aha … und natürlich wäre mein vor Manneskraft strotzender Israeli gerne derjenige gewesen …
Menachem: (spielt mit ihren Haaren) Nein, stimmt gar