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1/2007-pp 21-27
Gerald Kozicz
Der Manjusri Lhakhang von Alchi-Ein Raum für den Bodhisattva der Weisheit
Abstract Inhalt
Explaining the aspects of quality of an architec- Es mag banal klingen zu behaupten, dass eine
tural piece of art-work by the fact that the “value der wesentlichen Qualitäten guter Architektur da-
of the piece is higher than the values of its sin- rin liegt, dass „das Ganze mehr ist als die Sum-
gle elements”, might be considered a statement me der Teile“. Und dennoch, wenn sich durch
of simplicity.Still, wherever the interaction of das Zusammenspiel der gebauten Struktur, des
the architectural elements, the space which co- durch sie gebildeten Raums und der Raumaus-
mes into existence through construction and the stattung die Vorstellung einer übergeordneten
contained elements allows the perception of the Idee enthüllt, kann man von der gelungenen
conceptual idea or even a metaphysical level, we Umsetzung eines räumlichen Konzepts sprechen.
may talk of a valuable piece of work. Accordingly Daraus lässt sich ableiten, dass es für die Erfah-
we may assume that the proper evaluation and rung und Beurteilung einer gebauten Struktur
understanding of an architectural structure has unumgänglich ist, die architektonische Konstruk-
to be based on the analysis of the interaction of tion in Hinblick auf den geschaffenen Raum ge-
structure and space including a comparative stu- nau zu untersuchen und gleichzeitig die Bedeu-
dy of the semantic aspects of all its elements. tungsebenen einzelner Gestaltungselemente
auf ihre Beziehungen untereinander zu analy-
In particular, when dealing with religious struc- sieren. Dies trifft im Besonderen zu, wenn man
tures, these introducing statements become true. I sich mit räumlichen Strukturen befasst, die im
would like to avoid to use the term “building” in the weitesten Sinn kultischen Charakter aufweisen.
first place since, as I will like to point out in the fol- Ich vermeide es hier, einleitend von kultischen
lowing article, spatial relations exist beyond single „Gebäuden“ zu sprechen, da sich auch im Fol-
structures and a particular space may become just genden zeigen wird, dass wesentliche Raumbe-
another sub-element of a larger spatial network. züge über den umbauten Raum hinausgehen und
der einzelne Raum wieder nur Teil eines größe-
The building I will focus on may be regarded as ren Netzwerks, eines übergeordneten Ganzen ist.
a representative of that kind of structures. It is
a Tantric Buddhist temple which was built around Der folgende Artikel befasst sich mit einem Bau-
the year 1225 and is dedicated to the Bodhisattva werk, das genau in diese Kategorie fällt. Der Man-
of Wisdom, Manjusri. This temple reflects the re- jusri Lhakhang, benannt nach dem Bodhisattva
ligious milieu of an era, when the artistic, cultural der Weisheit Manjusri, ist ein Tempel, der das re-
and religious influence of Central Tibet began to ligiöse Milieu des Vajrayana Buddhismus im west-
expand its dominant position to the western Hima- lichen Himalaya widerspiegelt – knapp vor jener
layan regions overwhelming the northern Indian Zeit, als der religiöse und kulturelle Einfluss der
of Vajrayana Buddhism in this region. Vajrayana tibetischen Zentralmacht die ursprünglichen Ein-
Buddhism, also known as Tantrism, emerged from flüsse aus Nordindien immer mehr zu verdrängen
Mahayana Buddhism as an increasing number of begann. Der Vajrayana Buddhismus, auch Tantris-
tantric rituals were incorporated into the doctrine. mus genannt, stellt eine Weiterentwicklung des
This development took place in Northeast India Mahayana Buddhismus dar, die in Nordostindien
in the 7th century. Its art and architecture was im 7.Jahrhundert einsetzte. Er zeichnet sich im
based on the idea of the mandala. The Manjusri rituellen Bereich durch die starke Einbindung tan-
Lhakhang is part of a monastic complex, namely trischer Ritualpraktiken aus, während in der Bild-
the Alchi Coskor (“Sacred Compound”). Ladakh, kunst und der Architektur das Mandala zur prä-
where this famous monastery is situated today, is genden formalen und konzeptionellen Idee wurde.
part of the Indian State of Jammu and Kashmir.
Three of the Alchi Choskor’s temples belong to the Der Manjusri Lhakhang ist Teil einer größeren
so-called Alchi group, a particular group of monu- Anlage, des sogenannten Alchi Choskor („um-
ments, which also includes the nearby temples of friedeter Bereich“ von Alchi), der heute be-
Sumda Chung, Sumda Cheng, Mangyu and Sas- rühmtesten Klosteranlage von Ladakh. Drei der
potse. The Manjusri Lhakhang is the “youngest” fünf Tempel dieser Anlage gehören zur sogenann-
temple of this group. Because of its spatial con- ten Alchi Group of Monuments, zu der auch noch
ceptualisation it is an out-standing piece of work. die nahegelegenen Tempel von Mangyu, Sum-
There is no other temple, where the idea of the da Chung, Sumda Chen und Saspotse gezählt
mandala, the cosmic diagram or celestial palace, werden. Der Manjusri Lhakhang ist das jüngste,
has been transformed into architecture with such ca.1225 errichtete Gebäude dieser Gruppe. Es
purity. The following article is aiming at an ana- stellt als solches auch einen konzeptionellen Son-
lysis of the interaction of the architectural, spati- derfall dar. In keinem anderen Gebäude dieser
al and decorative elements of the temple – and Gruppe wurde die Idee des Mandalas, des kos-
how this physical representation of the manda- mischen Diagramms und Götterpalastes, auf der-
lic idea integrates into a larger spatial concept. art direkte Art umgesetzt. Der folgende Beitrag
versucht zu zeigen, wie die Teile – Architektur,
Raum und Skulptur – innerhalb eines überge-
ordneten Raumplans die Idee des Mandalas in
eine räumlich erfahrbare Struktur übersetzen.
Abb. 4
Abb. 2 Abb. 5
der Figuren werden durch zwei architektonische nander liegende Träger, die lediglich zwischen den
Elemente betont: die Deckenkonstruktion und vier zentralen Stützen laufen. Sie ruhen auf Dop-
drei lukenartige Öffnungen in den Raumachsen. pelkapitellen und sind an den Endpunkten über-
plattet. Beachtenswert ist die Farbgestaltung: der
Im Gegensatz zur orthogonalen Rasterung in allen innere Träger ist jeweils rot, der äußere blau. Im
anderen Tempeln laufen die Balken dieses Tem- Vergleich dazu sind im Sumtsek alle Hauptträger
pels vom Raummittelpunkt aus strahlenförmig blau. (Abb.4 und 5) Die kreuzförmigen Kapitelle
nach außen. (Abb.3) In Folge dessen fehlen die des Manjusri Lhakhang, deren Schnitzereien sie
üblichen Hauptträger, die im Normalfall quer zur als originale Bauelemente ausweisen, sind die
Gebäudehauptachse eingesetzt werden. Stattdes- ältesten Beispiele dieser Konstruktionsform, die
sen gibt es im Manjusri Lhakhang zwei nebenei- mir in dieser Region bekannt sind. Die Balkenlage
endet bei diesen Trägern, wodurch das Mittelfeld
frei bleibt. Auch hier wechseln rote und blaue Bal-
ken einander ab. In Bezug auf Konstruktion und
Statik lässt sich feststellen, dass es zwischen der
hölzernen Primärkonstruktion (Stütze und Haupt-
träger) und den tragenden Außenwänden keinen
direkten Kraftschluss gibt, was bei den herkömm-
lichen, orthogonal aufgebauten Deckensystemen
sehr wohl der Fall ist. Die Verbindung zum Mas-
sivteil wird über die strahlenförmige Balkenlage
hergestellt. Dadurch ist die Konstruktion in ge-
ringerem Maße belastbar als jene herkömmlicher
Tempelbauten. Das andere architektonische Ele-
ment, das die räumliche Dominanz der Skulp-
turengruppe hervorhebt, sind drei Öffnungen
jeweils gegenüber den Bodhisattvafiguren in den
Abb. 2, Ansicht der Tür
Mit reichhaltigen Schnit- Außenwänden (ausgenommen ist die Eingangs-
zereien versehene Ein- wand). Diese Öffnungen sind als solche einmalig
gangstür zum Tempelraum. in der frühen buddhistischen Architektur Ladak-
Abb. 3, Axonometrie der hs. Kein anderer Tempel in diesem Kontext ver-
Skelettkonstruktion fügt über Vergleichbares. Denn im tantrischen
Axonometrische Darstel- Buddhismus unterscheidet sich der Umgang mit
lung der strahlenförmig
angelegten Balkenlage. Licht sowohl im theoretischen Ansatz als auch
in der konkreten Anwendung grundlegend von
der abendländischen Weise der Lichtkonzeption.
Abb. 4 und 5: Knoten im
Manjusri Lhakhang (li.) bzw. Buddhistische Kulträume sind als hermetische, in
Balkenlage im Sumtsek (re.) sich geschlossene Raum- und Symbolgefüge kon-
Der Knoten mit den kreuzför- zipiert und werden als solche grundsätzlich von
mig überlagerten Kapitellen
im Manjusri Lhakhang (li.) innen erhellt. Der Begriff „erhellen“ ist bewusst
unterscheidet sich wesentlich gewählt, da der Begriff „beleuchten“ bereits wie-
vom üblichen Standartauf- der den Einsatz eines gerichteten Lichts impliziert
bau der Deckenkonstruktion
wie etwa im Sumtsek (re.) und damit den Faktor Licht als raumgestaltendes
Abb. 3 Element sowie als rituelles Inszenierungsmittel
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Gerald Kozicz
erklären würde. Dass es hier Öffnungen in den 5 Die Öffnungen in Höhe der
Sitze der Bodhisattvafiguren
Wänden gibt, darf also keinesfalls als „Beleuch- schließen bereits aus, dass sie
tungsmaßnahme“ interpretiert werden. Vielmehr jemals der Belichtung der Skulp-
handelt es sich um einen konzeptionellen Ein- turen gedient haben könnten. An
der SW-Wand stellt die Öffnung
griff, der die Raumachsen unterstreicht und da- heute eine direkte Verbindung
mit ein axiales Bezugssystem definiert, in dessen zum Lotsawa Lhakhang her.
Mittelpunkt die Figurengruppe steht5 . (Abb.6) Das Vorhandensein dieser Öff-
nung beweist, dass der Lotsa-
Auch die Figurengruppe verdient es, einer kon- wa Lhakhang später errichtet
struktiven Betrachtungsweise unterzogen zu wurde, da es undenkbar wäre,
werden. Grundsätzlich handelt es sich um eine eine Öffnung in einen bestehen-
den Tempel zu machen und die
bestehenden Malereien zu zer-
stören. Auch ist klar zu sehen,
dass die Malereien im Lotsawa
Lhakhang exakt um die Öff-
nung herumgeführt wurden d.h.
dass diese bereits vorher vor-
handen gewesen sein musste.
Abb. 11
Dukhangs in proportionalem Zusammenhang ste- Dies deutet darauf hin, dass durch das bewusste 8 Es ist jene Relation, nach der
sowohl die einzelnen Raumele-
hen8 . Diese Zusammenhänge werden erkennbar, Vorrücken des Manjusri Lhakhang, der tiefer im mente eines Tempels festgelegt
wenn man die ursprüngliche Form des Dukhangs Terrain liegt als die oberen Tempel und auch nied- als auch die Größen der Mandala-
betrachtet – jene originale Raumkonfiguration, riger ist, dieser besser wahrnehmbar ist und so kreise bestimmt wurden (Kozicz
in Druck). Dieses Verhältnis ent-
die sich aus dem Versammlungsraum mit Nische, ein Gleichgewicht im Ensemble der Gebäudekon- spricht dem der Seitenlänge des
der Veranda, den Türmen und einer umlaufenden, figuration erzielt wurde. Gleichzeitig wurde damit Quadrats zu seiner Diagonale,
heute weitgehend verschwundenen Umfassungs- ein formaler Abschluss der Anlage zum Indus hin d.h. 1:1,41 (Kozicz 2007: ).
mauer zusammensetzt9 . Es ist bemerkenswert, erreicht. Auf gleicher Achse liegt auch der später 9 Eine genaue Bauzeittafel des
dass der Abstand zur Umfassungsmauer auch über dem Innenhof des Dukhang errichtete Stu- Dukhang würde den Rahmen
dem Rauminnenmaß des Manjusri Lhakhangs pa, womit dieser auf einer gemeinsamen Linie mit dieses Artikels sprengen. Es
kann jedoch mit Sicherheit da-
entsprach. Als der Lotsawa Lhakhang in der Lücke den Stupalaternen der beiden unteren Tempel ist. von ausgegangen werden, dass
platziert wurde, wurde seine SW-Wand einfach diese Umfassungsmauer ein
auf diese Umfassungsmauer gesetzt. Das Raum- Das Raumgrundmaß, auf dem der architektonische äußeres Ambulatorium bildete,
vergleichbar jenem des Haupt-
Plan des Dukhang und seine Dekorationsstruktur tempels des großen Klosters von
basieren, bildete also die geometrische Grundlage Nyarma – ca.70 km Indus auf-
für weitere architektonische Strukturen. Bewusst wärts gelegen – wo die Gründer
Alchis nachweislich ihre religi-
nicht wahrnehmbar, bildet diese geometrische öse Ausbildung erhielten (Snell-
Ordnung die Basis für das Erlebnis einer gelun- grove / Skorupski 1977:30)
genen räumlichen Gesamtkomposition. (Abb.15)
Abb. 13
Literatur