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. Annäherungen an eine tolle Idee ..

Herausgegeben vom Revoiutionsbräuhof Wien.


Nachgedruckt vom Infoladen Mannheim und
deiTl VEB laut & lästig
3,-
Was ist eigentlich Anarchie 7

Anmerkung : Wir drucken diese


Broschüre nach und machen
sie billiger in der Anschaffung,
weil wir sie für sehr lesens-
wert und zeitgemäß halten.
Solidarische Grüße
gehen an den
Revolutionsbräuhof in
Wien ( und alle anderen
Genossinnen weltweit! ).

VER laut 8. lästig


+
Infoladen Mannheim

/\
~ INFOLADEN MA~HE1M 7

clo Schwarzwurzel
Jakob-Binder-Str.l 0
67063 Ludwigshafen
1
Was ist eigentlich Anarchie 7

lVORWORT!
"Was wol lt Ihr denn statt dessen? " müssen wir uns oft gen ug fra-
gen lassen, wenn wir radika le Kritik an Zuständen und Verhä ltnissen
üben.
Was wol lt ih r denn satt dessen - statt Arbeitszwang, statt Polizei-
gewa lt, statt Gef ängn is und Wegsperren. statt Frauenunterdrük-
kung, statt Aus länderhetze ? Was wol lt ihr denn statt dessen -
statt Schule und Fabrik. statt Kasernen und Militärdienst, statt
Wucherm ieten und Wohnhaft ?
"Eine klassen- und herrschaftslose Gesellschaft !" antworten wir
dann . Damit ist viel gesagt und auch wieder nicht.
Die Anarchie wo llen wir. Brau chbare Texte dazu - jenseits der >Klas-
siker< aus dem vorigen Jahrhundert - gibt es wenige.
Einen so lchen - der wenigst ens in Ansätzen heutigen Fragestellungen
gerecht zu werden versucht. um daraus anarchistische Utopien zu
entwicke ln - legen wir hier ALS DISKUSS IONSGRUN DLAGE vor.
Nicht verhehlen wollen wir au ch, c'aiS wir in einigen zentra len Fragen
mit dem Text nicht übereinstimmen.
So können wir weder der Rätedemokratie viel abgewinnen. noch haben
wir etwas f ür irgendwelche Avantgardekonzepte übrig - auch wenn sie
im libe rtären Gewand daherkommen. Diskutiert und gestritten wer-
den muiS aber darüber - und das benötigt d ie fre ie Debatte : Die -
und zwar nicht a ls Selbstzweck. sondern um Klarheit über politische
Ziele und die Wege dorthin zu gewinnen - soll dadurch befördert wer-
den.

Revolutionsbräuhof (RBH)
2
I Was ist eigentlich Anarchie ?

Was ist eigentlich Anarchie?

Inhaltsverzeichnis

Einführung in die Grundgedanken des Anarchismus

Einiges zur Verwirrung Seite 4

Der Begriff der »Anarchie« und seine Herkunft Seite 6

Wer ist Anarchist Seite 7

Was wollen die AnarchistInnen Seite 9

Kritik am Staat Seite 11

Kritik an der bürgerlichen Demokratie Seite 13

Kritik am autoritären Sozia lismus:

Das Verhältnis Anarchismus/Marxismus Seite 15

Die freie Gesellschaft Seite 19

Ökonomisches System Seite 23

Die Organisation Seite 29

Räte und Selbstverwaltung Seite 30

Parteien Seite 33

Das Problem der Avantgarde Seite 37

Philosophische Neigungen Seite 40


Was ist eigentlich Anarchie 7
Einführung in die Grundgedanken des Anarchismus
ODER???
Aber selbstverständlich . Das weiß doch
jedes Kind. Am 19. 12. 69 definierte
der »secolo d' italia« AnarchistInnen
folgendermaßen: »Eine wilde, obszöne
Bestie, bis ins Mark von der kommuni-
stischen Syphilis zersetzt!« Der be-
rühmte Arzt und Kriminologe Sare
Lombroso weiß es gar noch besser -
für ihn sind alle Anarchistinnen »Idioten
oder angeborene Verbrecher, die noch
dazu allgemein humpeln, behindert
sind und asymmetrische Gesichtszüge
haben« Sind Anarchistinnen über-
haupt Menschen?
Nichts spricht dafür, denn auch in dem
Teil der Erde, der sich kommunistisch
Elniaes zur Verwlrruna genannt hat, hat man über die sagen-
umwitterten Anarchistinnen nichts Gu-
Wie jeder mensch weiß~ tes zu berichten gewußt. »Kleinbürger-
liche Chaotiker«, »Voluntaristische
Helfershelfer der Konterrevolution« ,
ist einE Anarchistln ein »Linkschaoten« sind die üblichen Vo-
kabeln, mit denen man uns dort belegt
hat Also auch hier nichts Gutes
gewalttätiger Mensch~
Viel Feind, viel Ehr' !
einE Mörderln. Auch ist Wenn man Anarchistinnen in Ost und
West nicht leiden kann, dann muß das
allgemein bekannt~ daß einen Grund haben Was also ist einE
Anarchistln wirklich?
Versuchen wir es mit einer Kurzdefini-
Anarchistinnen Terrori- tion einE Anarchistln glaubt an eine
freie Gesellschaft gleichberechtigter
stinnen sind~ denen das Menschen ohne Herrschaft. Er/sie tritt
für die Beseitigung jeder Herrschaft ein
und bekämpft deshalb Staat, Kirche ,
menschliche leben Polizei, Kapital, Herrschaftsideologie.
Er/sie tritt immer und überall für die In-
teressen der unterdrückten Masse ein ,
nichts~ das Chaos aber gleichzeitig arbeitet er/sie an theoreti-
schen
alles bedeutet.
4
Modellen und den praktischen Bei- Mensch nichts mehr bedeutet, in der
spielen für eine zukünftige Gesell- die Technik dem Menschen nicht mehr
schaft: eine Gesellschaft ohne Herr- dient, sondern ihn umzubringen droht,
schaft und Autorit~t , ohne Ausbeutung und in der das kapitalistische Wirt-
und Entfremdung 1 aufgebaut auf neu- schaftssystem derart versagt, daß t~g­
en Prinzipien wie Solidarit~t statt Ego- lich 30000 Menschen verhungern müs-
ismus, gegenseitiger Hilfe statt Konkur- sen (Quelle UNESCO 1984) - kurz: in
renz und freier Vereinbarung statt Be- dem »repressiven Chaos« 3 aller heuti-
fehlsprinzip. 2 gen Herrschaftssysteme, hat der Anar-
»Das klingt ja alles sehr gut«, werden chismus eine ungeahnte Aktualit~t er-
sie sagen, »aber das ist ein schöner halten .
Wunschtraum und nicht zu verwirkli-
chen«. Sie werden lachen: Anarchi-
stinnen behaupten doch tats~chlich,
daß eine solche Gesellschaft möglich
ist, und erkl~ren ihnen auch, warum sie
möglich sein kann . Und nun werden sie
staunen: Es hat tatsächlich schon ein
halbes Dutzend anarchistischer Ge-
meinwesen gegeben. Wußten sie, daß
die Ukraine fast vier Jahre lang anar-
chistisch war? Wußten sie, daß es vor
allem AnarchistInnen waren, die im
spanischen Bürgerkrieg gegen den Fa- 1 Ausbeutung nennt man. vereinfacht gesagt. die
schismus gek~mpft haben? Millionen Tatsache. daß der Fabrikbesitzer für einen Gegen-
von spanischen Arbeiterinnen haben stand. für den er z. B. öS 50.< für Material und Unko-
praktisch gezeigt, daß der Anarchis- sten bezahlt und für dessen Herstellung er dem Ar-
beiterinnen öS 100,< gibt, ÖS 500,< auf dem Markt
mus möglich ist! dafür einnimmt. Er hat daher die Arbeitskraft des
Die AnarchistInnen sind SozialistInnen Arbeiters um ÖS 350,< ausgebeutet.
und sie sind gegen Herrschaft. Also Entfremdung nennen wir die Arbeitsbedingungen in
wenden sie sich genauso scharf gegen der modernen Industrieproduktion und die durch sie
Herrschaft im »Kommunismus« wie im auftretenden Reaktionen beim Menschen: z. B. ein-
tönige Fließbandarbeit, unangenehme Arbeit; sowie
»Kapitalismus«. Folgerichtig ziehen sie die Tatsache, daß die Arbeiterinnen nie einen Ge-
sich den unversöhnlichen Haß der genstand selbst vollsti:lndig herstellen können , d. h.
Herrschenden in Ost wie West auf den sie im Grund nicht wissen, was und wofür sie eigent-
Hals. Und ebenso folgerichtig ist auch lich produzieren.
2 Freie Vereinbarung und Gegenseitige Hilfe sind
der Anarchismus die einzige Alternati- Begriffe, die Peter Kropotkin geprägt hat und auf die
ve einen freien und menschlichen So- wir im Kapitel »Kropotkin. noch näher eingehen wer-
zialismus zu verwirklichen. Genau des- den . Zentraler Punkt bei diesen Begriffen ist oie freie
halb ist auch der Anarchismus nach Willensentscheidung des Menschen und die Solida-
rität der Menschen untereinander.
dem Krieg wieder auferstanden, ob- 3 Repressives Chaos bedeutet, daß das System den
wohl Trotzki, der Marschall der Roten Menschen unterdrückt (Repression) und nicht fähig
Armee, dem Anarchismus schon 1920 ist, eine menschliche Ordnung herzustellen. Vielmehr
befohlen hatte: »Geht wohin ihr gehört bringt diese System regelmäßige Hungersnöte, Krie-
ge und Wirtschaftskrisen mit sich, sowie eine Ver-
- auf den Müllhaufen der Geschichte!« schwendung und ungerechte Verteilung der Güter.
Aber durch die immer perfekter wer- Das bezeichnen wir als Chaos, Unordnung.
dende Unterdrückungsmaschine der
Systeme, durch eine Gesellschaftsord-
nung, in der der einzelne

5
Was ist eiQefjtl,ch Anarchie 1
Der Begriff der »Anar- »Normalverbraucher« ebenfalls, daß
bei Verwirklichung des Anarchismus
chie« und seine Herkunft die Gesellschaft in ein Chaos gestürzt
werde, und insofern verfälscht diese
}}Anarchie ist nicht Chaos - sondern Definition unterSChwellig den Begriff.
Ordnung ohne Herrschafff« Im eigentlichen Worts.inn ist der Begriff
der »Gesetzlosigkeit« natürlich richtig:
as Wort Anarchie ist so alt da Gesetze vom Staat verabschiedet

D wie die menschliche Zivilisa-


tion . Es kommt von dem
griechischen Wort an-archia
und bedeutet »Keine Herr-
schaft«, meint also die Abwesenheit
werden und dieser durch Polizei und
Gericht dafür sorgt, daß sie eingehal-
ten werden , werden bei Abschaffung
der Staatssysteme, auch die Gesetze
nicht mehr existieren. Das heißt aber
jeglicher Autorität. Nun ist es ein weit nicht, daß es keine Regeln bzw. Ver-
verbreitetes Vorurteil, daß der Mensch einbarungen im menschlichen Zusam-
ohne Autorität und Regierung nicht le- menleben mehr gibt.
ben kann ; ganz so, als ob ein Zirkus- Pierre Joseph Proudhon war einer der
pferd ohne seinen Dompteur zugrunde Väter des modernen Anarchismus . Er
gehen müsse. Deshalb ist das Wort hat das Wort für die antiautoritäre Ar-
Anarchie in der Umgangssprache auch beiterbewegung aufgegriffen. Unter
als Synonym für Chaos, Unordnung , Anarchie verstand er absolut das Ge-
Verwilderung und Zerstörung einge- genteil von Chaos. Für ihn war die an-
gangen. archische Gesellschaft der höchste
Ausdruck der Ordnung - eine Ordnung ,
Hinzu kommt die offensichtliche Ab- die nicht durch Herrschaft und autoritä-
sicht, den Anarchismus als politische re Strukturen gestört sei. Erst in einer
Bewegung zu verleumden und zu be- anarchistiscrlen Gesellschaft könne die
kämpfen . Aus diesem Grunde haben natürliche Ordnung der menschlichen
Politiker und Literaten , KommunistIn- Beziehungen, die »soziale Harmonie« ,
nen und Adlige , Pfarrer und Hausda- wieder hergestellt sein.
men jahrhundertelang diesen Begriff Wir werden noch sehen , daß
von Anarchismus verbreitet. Für sie Proudhon dabei alles andere als ein
verbindet sich das Wort Anarchismus verträumter Utopist war.
mit einem . kalten Schauer und dem So hält Proudhon auch den Staat - als
Gedanken an den Weltuntergang. Wie höchsten Ausdruck der Herrschaft von
sie, so kann sich die Mehrheit der Be- Menschen über Menschen - für den
völkerL'ng nicht vorstellen , daß auch eigentlichen Unruhestifter; eine An-
ohne Staat und Herrschaft eine Ord- sicht, die nicht so abwegig erscheint,
nung - eben eine freie Ordnung - be- wenn man sich all das ansieht, was an
stehen kann. Kriegen , Untel drückung und Wirt-
Selbst in allgemeinen Nachschlage- schaftskrisen von den Staaten und ih-
werken, wie auch z. B. im Duden , wird ren Organen geführt oder angestiftet
Anarchie einfach mit »Gesetzlosigkeit« wurde und noch wird .
übersetzt. Dies impliziert für den Der Name Anarchismus hat - wegen

6
Was ist eigentliCh Anarch1e 7 . ; .
seiner Doppeldeutigkeit - unter den neu überdacht, kritisiert und verbes-
Anarchistinnen starke Diskussionen sert. Eine solche Haltung nennt man
hervorgerufen. Viele von ihnen nannten undogmatisch (Dogma = unveranderli-
sich spater »Föderalistinnen« (Anhan- cher Glaubenssatz), und sie ist für den
gerinnen eines nicht zentralen Ge- Anarchismus typisch .
meinwesens, das auf gleichberechtig- So kann man auch für den Anarchis-
ten Kommunen basiert), »Mutualistin- mus keine Führerinnen oder Cheftheo-
nen« (Gesellschaftsordnung auf dem retikerlnnen anführen; man muß eine
Prinzip der gegenseitigen Hilfe und So- ganze Reihe von Namen nennen und
lidaritat) oder »Kollektivistinnen« (Ord- kann eigentlich nirgendwo eine Grenze
nung auf der Basis der Gemeinschaft- ziehen: Die Namen der bekannten An-
lichkeit) . archistlnnen verlaufen irgendwo in der
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts Masse der aktiven Kämpferinnen .
setzte sich mehr und mehr das Wort
»Iibertar« (freiheitlich , nicht zu ver-
wechseln mit liberal!) durch.

Wer ist Anarchist,


Wer ist Anarchistin?
ie wir gesehen haben , umreißt

W das Wort Anarchismus eine


freiheitliche Theorie und Gei-
steshaltung . Im Laufe der Zeit haben
sich eine Unzahl politischer und unpoli-
tischer Strömungen unter diesem Na-
men gesammelt.
So ist der Anarchismus , im Gegensatz
zum Marxismus, kein einheitliches Ge-
bilde. Der Marxismus ist eine in sich (Insofern darf man es nicht mißverste-
abgeschlossene philosophisch durch- hen , wenn wir in einigen Kapiteln be-
dachte Theorie; von wenigen Men- stimmte Personen, ihre Biographie und
schen in relativ kurzer Zeit entwickelt, ihre Ideen beschrieben haben . Leute
ziemlich eindeutig formuliert und defi- wie Bakunin, Kropotkin, Proudhon usw.
niert. Anders der Anarchismus. bis hin zu Landauer sollen, zur Er-
Seine revolutionäre politische Richtung leichterung der geschichtlichen Be-
ist das Produkt einer ganzen Reihe be- schreibung, stellvertretend für eine be-
deutender Theoretikerinnen, die mei- stimmte Bewegung erwähnt werden .
stens auch aktive Revolutionärinnen Daß eine ständige geistige Rückkop-
waren . Seine Theorie entstand in vie- pelung zwischen den einzelnen Theo-
len Fallen aus der Praxis der Freiheits- retikerlnnenn und der Bewegung be-
kämpfe heraus, und wird und wurde steht, laßt sich unschwer nachwei.,en.
laufend Da der Anarchismus aus einer Unzahl

7 . _ - _J
·. Was ist eigentlich Anarchie 1
von politischen Strömungen besteht, ist liegt auf der Hand: erstens kann man
es klar, daß wir im Folgenden nur eine mit dem Begriff Anarchismus eine un-
Auswahl beschreiben können - daß liebsame Gruppe in der Öffentlichkeit
diese [und auch der Umfang, der den nachhaltig diffamieren , zumal der
einzelnen Kapiteln gewidmet wird] von Kommunismus durch die Entspan-
eigenen Anschauungen und Vorstel- nungspolitik damals gerade kurzfristig
lungen geprägt ist, muß dabei selbst- salonfähig geworden ist. Und zweitens
verständlich zugegeben werden.) sieht man, daß auch in Deutschland
Parallel zu der politisch revolutionären der Anarchismus wieder an Wichtigkeit
Linie, die die wichtigste des Anarchis- gewinnt. So kann man schnell und si-
mus ist und von der wir vorzugsweise cher die Bevölkerung gegen ihn auf-
sprechen wollen, gibt es noch eine hetzen. Wenn wir auch die Aktionen
Reihe anderer Strömungen, die den der RAF nicht von vornherein ver-
Namen Anarchismus für sich bean- dammt haben , so ist doch ihre Praxis
spruchen. vom anarchistischen Standpunkt aus
Dazu zählen gewisse Formen des Indi- anzugreifen . Die RAF entfernte sich im
vidualanarchismus, einige naturvereh- Laufe der Jahre immer mehr von der
rende Sekten von Rohkostlerlnnenn , gesamten linken Bewegung und be-
pazifistische Gesellschaftsreformerl n- trachtet sich als eine Avantgarde , als
nen oder unpolitische Terrorbanden , eine Elite, die danach strebt, dem Volk
ebenso wie versonnene Künstlerseelen die »Befreiung« nach staatssozialisti-
und verspätete Romantikerinnen , mei- schem Muster aufzuzwingen . Sie ent-
stens aus der Schicht des Kleinbür- wickelte in ihren Pamphleten und Ak-
gertums. tionen eine diktatorische, stalinistische
Ihr Denken und Handeln steht oft im Sprache. Wenn sie sagen: »Das
Gegensatz zur politischen Richtung Schwein wurde im Namen des Volkes
des Anarchismus , und wird von dieser erschossen« , so fragen wir uns: in
kritisiert. Andere dieser Zweige jedoch wessen Volkes Namen?
haben dem Anarchismus neue Impulse Auf der anderen Seite gibt es natürlich
geben können und seine Theorie auch eine ganze Anzahl politischer
fruchtbar ergänzt, so die anarchistische Gruppen, die sich zwar nicht anarchi-
Kunst, die freie Erziehungstheorie , die stisch nennen , in Wirklichkeit aber an-
Hippie- und Undergroundbewegung , archistisch handeln und libertäre Ziele
um nur einige zu nennen . 1 haben. Oft lehnen sie den Namen An-
Es hat sich eingebürgert, daß Staat archismus ab, weil sie falsch über ihn
und Polizei unliebsame Gruppen ein- informiert sind , oder weil sie fürchten ,
fach als AnarchistInnen bezeichnen . zu sehr angefeindet zu werden .
Ein Beispiel dafür ist die Rote Armee Da es tatsächlich auch nicht um ein
Fraktion (RAF), auch Baader-Meinhof- Glaubensbekenntnis, sondern um kon-
Gruppe genannt. Obwohl die RAF sich sequentes politisches Handeln geht,
selbst vom Anarchismus distanzierte haben die AnarchistInneninnen in ihrer
und sich als marxistisch-leninistisch Praxis und ihren Bündnissen nie nach
bezeichnete, was der Polizei selbstver- dem Namen ihrer Genosseninnen ge-
ständlich bekannt war, wurden sie au- fragt. So gibt es z. B. viele rätekommu-
tomatisch als »anarchistische Gewalt- nistische Gruppen, die im Grunde »an-
verbrecher« bezeichnet. Der Grund archistischer« handeln , als so manche
8
.Was ist ei erttJicn Anarchie 1;;
Gruppe, die sich anarchistisch nennt. Kreation einer Gegenkultur, Provoka-
Auch wir wollen unsere Betrachtung tionen und oftmals auch durch unmit-
einzig und allein danach richten, was telbare Anwendung von Gewalt.
die einzelnen Gruppen tun oder taten , Dabei erweist sich der anarchistische
und nicht, wofür sie sich ausgeben . Kampf aber keineswegs als blinde Bil-
derstürmerei gegen diese oder jene
1 Um einen Eindruck von der breiten anarchistischen Regierung oder den Staat schlechthin.
oder anarchistisch beeinflußten Literatur zu bekom-
men, möchten wir darauf hinweisen, daß z. B. Auto- Vielmehr haben die anarchistischen
ren wir George Orwell, B. Traven , Miutin Bunber, Theoretikerinnen schon sehr früh er-
Jules Verne oder Tolstoi entweder AnarchistInnen kannt , daß der Staat kein Phantom,
waren oder aber stark zum Anarchismus tendierten .
In der Kunst (auch Literatur) finden wir im Dadaismus kein anonymes Gebilde ist, sondern
starke anarchistische Einflüsse. der Ausdruck ganz bestimmter, vor al-
lem wirtschaftlich bedingter Machtver-
hältnisse.
Was wollen die Anar- Gerade deswegen haben auch die An-
archistlnnen immer versucht, einen
chistlnnen? Kampf gegen Kapital und Staat zu füh-
ren und sich geweigert, »politische«
Daniel Guerin schreibt in seinem Buch Ziele, wie die Durchsetzung von Re-
»Anarchismus« 1: formen durch schrittweise Eroberung
»Anarchismus ist in Wirklichkeit und der Macht im Staat, zu verfolgen. Denn
vor allem gleichbedeutend mit Sozia- die AnarchistInnen haben sehr wohl
lismus. Der Anarchist ist in erster Linie erkannt, daß Macht korrumpiert:
Sozialist; seine Ziele sind die ' Ab- »Nehmt den
schaffung der radikalsten
Ausbeutung des Men- Revolutionär und
schen durch den setzt ihn auf den
Menschen. Im Zen- Thron aller Reussen
trum seiner 2 oder verleiht ihm
politischen Aktivität eine diktatorische
steht der Macht und ehe ein
sozialistische Jahr vergeht, wird er
Freiheitsgedanke, die schlimmer als der
Abschaffung des Zar geworden sein«,
Staates.« schrieb Bakunin .
Um dieses Ziel zu er- Im Laufe der Zeit
reichen, führen die haben die Anarchist-
Anarchistinnen einen Innen eine Reihe
Kampf gegen den von Forderungen
Staat und alle seine und programmati-
Organe. Dieser schen Punkten auf-
Kampf wird mit gestellt, die sich u.
verschiedenen Mitteln geführt: durch a. aus dem Kampf für die Verwirkli-
Massenorganisationen (vgl. Anarcho- chung ihrer Ideen ergaben. Hier
syndikalismus), Aufklärung und Propa- schlagwortartig einige der wichtigsten ,
ganda , Direkte Aktionen, durch die
------------------------------- ,
9
-_._-~-------- - ------------------'
,Was ist eigentlich Anarchie ?
die wir dann in den folgenden Kapiteln keit. Errichtung von freien Schulen
versuchen werden, näher zu erklären: (Konzepte Tolstois/Ferrers)
( Gleiche Freiheit für jeden Menschen ( Abschaffung der Armee und der Poli-
in der Gesellschaft. Kein Mensch soll zei als Machtfaktor und Symbol des
Macht ausüben; alle Beschlüsse wer- Staates und des Kapitals. Für die Pha-
den kollektiv gefaßt und ausgeübt. se des Kampfes sind sie durch revolu-
Dies bedingt: tionäre Volksarmeen und -patrouIlien
( Abschaffung der kapitalistischen Pro- ohne hierarchische Struktur zu erset-
duktionsweise, Bekämpfung des Kapi- zen .
tals und seiner internationalen Mono- ( Abschaffung des Strafprinzips. Krimi-
pole. Abschaffung des Privateigentums nelle werden als Produkte einer
an Produktionsmitteln 3, Aufbau einer schlechten Gesellschaft angesehen.
föderierten, hochtechnisierten Produk- Sie sind als Kranke zu behandeln und
tionsweise nach Gesichtspunkten, die müssen genesen, nicht bestraft wer-
die Bedürfnisse der Arbeiterinnen über den .
. die der profitorientierten Produktion ( Abschaffung des Privateigentums an
stellen (vgl. Kapitel »ökonomisches Menschen , demzufolge Ersetzung der
Svstem«) Ehe und der bürgerlichen Kleinfamilie
: < Überwindung der Schichten und durch freiwillige Zusammenschlüsse in
Klassen. Hierbei muß die unterdrückte Großfamilien , Kommunen , nach dem
Klasse dann Gewalt gegen die herr- Prinzip der Wahlverwandtschaft.
schende Klasse anwenden , wenn die- ( Propagierung der freien Liebe, Be-
se nicht freiwillig abtritt (da diese ihre kämpfung der unterdrückenden beste-
Privilegien verteidigen will , und damit henden Sexualmoral S
den Aufbau einer freien Gesellschaft ( Aufbau einer völl ig neuen Kultur mit
aktiv bekämpft) einer eigenen Kunst, Musik, Lebens-
( Abschaffung des Staates, seiner weise etc.
Grenzen und seines Apparates , Erset- ( Prinzip der Kritik und Selbstkritik und
zung durch neue Strukturen , auf der der permanenten Revolution in der
Basis gleichberechtigter Kommunen neuen Gesellschaft. Ablehnunq aller
und Räte, die sich dezentral (föderal) Dogmen, ständige Überprüfung des
organisieren . Aufbaus an den Bedürfnissen der neu-
( Bekämpfung des Rassismus und Ko- en Gesellschaft.
lonialismus in all seinen klassischen ( Bekämpfung jeder neuen Form von
und neuen Erscheinungsformen (z. B. Herrschaft, Bürokratismus und Milita-
Imperialismus, Neoimperialismus , Eu- rismus in der neuen Gesellschaft
ropäische Union , etc.) Dieses Programm , unvollständig und
( Abschaffung der Kirchen und Religio- recht ungeordnet, faßt die wesentlich-
nen als Vermittler der Rechtmäßigkeit sten Punkte anarchistischer Zielset-
von Herrschaft, durch berufsmäßige zung zusammell. Auf den ersten Blick
Verdummer. Bekämpfung und Erset- mögen manche Thesen als Gleichma-
zung des religiösen Glaubens durch cherei erscheinen , in Wirklichkeit ist
rationale Erziehung , d. h. durch das ihre Verwirklichung aber erst die Vor-
Prinzip der Vernunft, sowie einer men- aussetzung dafür, daß sich alle Men-
schenfreundlichen Wissenschaftlich- schen frei nach ihren Bedürfnissen
entfalten können, schöpferisch werden
10
''l " Was ist eigentlich Anarchie 7; .,
und ihre eigene Persönlichkeit entwik-
kein. In den Kreisen der Reichen hat
sich namlich eingebürgert, ihre eigenen
Kritik am Staat
Vorteile, die sie sich mit ihrem Geld er- »Der Staat ist eine Abstraktion, die das
kaufen, als die Freiheiten des Volkes Leben des Volkes verschlingt - ein un-
hinzustellen. Tatsachlich aber können ermeß/icher Friedhof, auf dem alle Le-
die Reichen nur in dem Maße frei sein, benskräfte eines Landes sich großzü-
wie sie die Mehrheit des Volkes aus- gig und andächtig hinschlachten haben
rauben . lassen.«
Zusammenfassend können wir sagen: ( Michail Bakunin (
Die AnarchistInnen haben nur ein Ziel :
die freie Gesellschaft. Alles andere
sind Mittel zu ihrer Erreichung, die sich
je nach Situation ändern können und
müssen.

»Die Regierung des Menschen über


1 Daniel Guerin : Anarchismus , Begriff und Praxis;
den Menschen ist Sklaverei«
Edition Suhrkamp Nr. 240, Frankfurt 1967 » Wer immer die Hand auf mich legt,
2 Gemeint ist der Thron des Zaren , des Herrschers um über mich zu herrschen, ist ein Ur-
aller Reussen (Russen)
3 PRODUKTIONSMITIEL sind die zur Herstellung
surpator. und ein Tyrann, und ich erklä-
von Waren verwendeten Rohstoffe, Geräte, Maschi- re ihn zu meinen Feinde. «
nen und Gebäude. »Regiert sein, das heißt unter polizeili-
4 KOLONIALISMUS ist das Bestreben eines Landes
andere Länder zumeist in Afrika , Asien und Südame-
0/7(% ..Überwachung .stehen) . ,jnspi2Ji~,
rika unter dem Vorwand der Zivilisierung zu erobern spioniert, dirigiert, mit Gesetzen über-
und auszubeuten. Früher nannte man dies Länder schüttet, reglementiert, eingepfercht,
Kolonien ; heute im NEOKOLONIALISMUS, nennt
man sie Handelspartner. belehrt, bepredigt, kontrolliert, einge-
IMPERIALISMUS ist die Absicht eines Landes , ande- schätzt, abgeschätzt, zensiert, kom-
re Länder zu unterwerfen und von sich wirtschaftlich mandiert zu werden - durch Leute, die
und politisch abhängig zu machen.
5 Wir sind der Ansicht, daß die Moral , die uns täglich weder das Recht, noch das Wissen,
in sexuellen Dingen begegnet weder natürlich , noch noch die Kraft dazu haben . Regiert
zufällig ist. Die Kleinfamilie ist ein kleines Abbild des sein heißt, bei jeder Handlung, bei je- .
Staates und dessen Keimzelle und wird daher von
ihm geschützt. Wir meinen , daß die freie sexuelle dem Geschäft, bei jeder Bewegung no-
Entfaltung Voraussetzung für freie Menschen ist. tiert, registriert, erfaßt, taxiert, bestem-
pelt, vermessen, bewertet, versteuert,

11
Was ist eigerltliCh Anarchie 1
patentiert, lizensiert, autorisiert, befür-
wortet, ermahnt, behindert, reformiert, Was ist der
ausgerichtet, bestraft zu werden. Es
heißt, unter dem Vorwand der öffentli- Staat?
chen Nützlichkeit und im Namen des
Allgemeininteresses ausgenutzt, ver- Jeder Staat ist totalitär. Kein Staat hat
waltet, geprellt, ausgebeutet, monopo- einen anderen Zweck als den einzel-
lisiert, hintergangen, ausgepreßt, ge- nen zu beschränken und zum Unterta-
täuscht, bestohlen zu werden; schließ- nen zu machen . Verfechterinnen des
lich, bei dem geringsten Widerstand, Staates bemühen sich redlich , uns vor-
beim ersten Wort der Klage unter- zumachen, er sei eine einige Volksge-
drückt, bestraft, heruntergemacht, be- meinschaft, In Wirklichkeit vertuschen
leidigt, verfolgt, mißhandelt, zu Boden sie mit dieser Phrase die riesigen' so-
geschlagen, entwaffnet, geknebelt, zialen Unterschiede in jedem Staat und
eingesperrt, füsiliert, beschossen, ver- rechtfertigen die Privilegien einer klei-
urteilt, verdammt, deportiert, geopfert, nen Minderheit. Der Staat unterdrückt
verkauft, verraten und obendrein ver- jede freie Tätigkeit durch seine ausfüh-
höhnt, gehänselt, beschimpft und ent- renden Organe oder »Ordnungskräf-
ehrt zu werden. Das ist die Regierung, te« . Das ist beileibe nicht nur die Poli-
das ist ihre Gerechtigkeit, das ist ihre zei. Die Presse, der Rundfunk und das
Mora!.« Fernsehen bemühen sich ebenso an-
(Proudhon) gestrengt, den Menschen dumm zu
halten , wie die Kirche , die Schule und
die Institution der Familie. (Freilich oft,
ohne es selbst zu wissen .)
Die Kritik am Staat und seinen Orga- »Der Staat erlaubt uns allen, unsere
nen ist typisch für den Anarchismus. Gedanken an den Mann zu bringen,
Ursprünglich entstand er aus einem allein nur so lange, als unsere Gedan-
persönlichen Gefühl der Auflehnung ken seine Gedanken sind, sonst stopft
gegen den Unterdrücker. Da dieser er uns das Maul. « (Max Stirner)
Unterdrücker jedoch nur ausführendes Schon früh haben AnarchistInnen die
Organ der Machtverhältnisse und der psychischen Funktionen der Autoritäts-
wirtschaftlichen Struktur ist, muß der gläubigkeit erkannt. Der Staat erzieht
Kampf gegen beide geführt werden . zum Gehorsam , zur Disziplin und zur
Die Abschaffung der staatlichen Orga- Unterwerfung, Er lehrt uns »Tugen-
nisation ist immer eines der wichtigsten den« wie Konkurrenz und Lei-
Ziele der Anarchistinnen geblieben Die stungsprinzip und er entwöhnt uns im
Richtigkeit dieser Forderung hat sich Gleichen Maße selbst zu denken, Ide-
am gerade am Beispiel der russischen en zu entwickeln , spontan Initiativen zu
Oktoberrevolution gezeigt, wo der ergreifen und uns unseren Mitmen-
Staat mit dem ihm eigenen Bürokratis- schen solidarisch zu verhalten. Errico
mus die Revolution überlebt und am Mallatesta 1 beschreibt die »Angst vor
Ende »aufgefressen« hat. der Freiheit« , die die meisten autoritä-
ren Menschen empfinden und nimmt

12
damit eine wichtige Erkenntnis der
Psychoanalyse vorweg .
Kritik an der bürgerli-
Konsequent haben die Anarchistinnen chen Demokratie
dort, wo sie mit der Verwirklichung von
freien Gesellschaften begannen, die
Vernichtung des Staates vorangetrie- »Ich bin nicht frei ich kann nur wählen,
ben. So wurden in Spanien und der welche Diebe mich bestehlen, welche
Ukraine die staatlichen Akten und Mörder mir befehlen. «
Grundbücher vernichtet, die Gefäng- ( Ton-Steine-Scherben (
nisse eingerissen und die Herrscher
abgesetzt und die Organisation des Viel schärfer als die autoritären Kom-
gesellschaftlichen Lebens den Räten munistlnen erkennen und entlarven die
des Volkes übertragen. Wir werden . Anarchistinnen die strukturellen Mi:in-
noch sehen, daß solche Maßnahmen gel der bürgerlichen »Demokratie« . Der
nicht automatisch zum Chaos führen Parlamentarismus hat mit Demokratie,
müssen, sondern im Gegenteil die also Volksherrschaft nichts zu tun . Es
Grundlage für eine freie, harmonische gibt auch hier einen Herrscher; der Kö-
Gesellschaft legen können. nig oder Diktator ist durch einen »Pri:i-
Der Kampf gegen den Staat hat sich in sidenten« oder »Kanzler« ersetzt. Der
diesem Jahrhundert vor allem im einzige Unterschied ist, daß dieser alle
Kampf gegen den Bürokratismus ge- paar Jahre ausgewechselt wird.
zeigt, vor allem im »kommunistischem« Können wir ihn wählen? Stellen wir den
Rußland hat es unzählige Auflehnun- Kandidaten auf? Haben wir Einfluß auf
gen gegen den allmächtigen Staat und sein Handeln , wenn er erst einmal ge-
seine unmenschliche und konterrevo- wi:ihlt ist? Haben wir die Möglichkeit,
lutionäre Bürokratie gegeben , die ihrem direkt für unsere Interessen einzutre-
Charakter nach anarchistisch waren . In ten? Nein!
den Kapiteln über die einzelnen Theo- Wir können zwischen den Parteien
rieansätze werden wir auf die Staats- wählen, wie eine Hausfrau zwischen
kritik noch ausführlicher eingehen . Dash und Omo, wenn sie in Wirklich-
keit frisches Brot einkaufen will. Das
Verhältnis der Menschen zur Politik ist
zu einem Warenverhältnis . verkrüppelt
worden .
Der Parlamentarismus macht aus der
Herrschaft lediglich eine Institution 1,
die dem Unterdrückungssystem einen
»demokratischen anstrich gibt - in
Wahrheit hat keine einzige Bürgerinn
einen tatsächlichen Einfluß auf das po-
1 ERRICO MALTATESTA. 1853-1952. italienischer
Anarchist. In Italien organisierte er mehrere Bau- litische Geschehen. Die einzige Gnade,
ernaufstände, traf mit Kropotkin in der Schweiz zu - die ihm das System gewährt, ist, alle
sammen , lebte lange Jahre in London im Exil. Malta- vier oder fünf Jahr brav ein Kreuzchen
testa verkörpert den Typ der Anarchistinnen , die für
einen konsequenten Klassenkampf und eine verbind- unter eine Liste von (schon vorher
liche Organ isation des Anarchismus eintreten ausgewählten) Menschen zu machen,
die sich in ihrer grundsätzlichen Ein-
~-----------------------------------

13
stellung zur Freiheit und zum Gesell- demokratinnen oder Kommunistinnen
schaftssystem nicht unterscheiden. nie für die bürgerliche Republik einge-
Diese Leute werden uns einfach kü- treten. Sie haben den Überg'ang . vom
chenfertig vorgesetzt, ob sie uns pas- Monarchismus 2 zur Republik nicht un-
sen oder nicht. Beurteilen müssen wir bedingt für einen Fortschritt gehalten
sie meistens nach ihrem Aussehen, und sind für einen sofortigen und tota-
denn ihren Worten und Wahlverspre- len Umsturz jeglicher Herrschaft ein-
chen Glauben zu schenken, hieße, die getreten. Alle anarchistischen Theore-
bittere Erfahrung vieler Jahrzehnte tikerinnen haben einheitlich die reak-
einfach totzuschweigen . Wenn diese tionäre Entwicklung der bürgerlichen
Leute erste einmal gewählt sind, kön- Republiken vorausgesagt und alle So-
nen sie machen, was sie wollen : sie zialistlnnen gewarnt, sich mit der bür-
können ihre Stimme an den Meistbie- gerlichen Demokratie einzulassen.
tenden verkaufen, lassen sich ihre
Meinung von Konzernen bezahlen und Ein eindrucksvolles Beispiel bürgerli-
scheren sich einen Dreck um den Wil- cher Versumpfung bietet die Sozialde-
len ihrer Wählerinnen. mokratie: Auch in Osterreich befriedete
und kanalisierte sie 1918/19 die revo-
lutionäre Grundstimmung unter den
Arbeitern. Sie trat in die Regierung ein,
predigte Legalismus 3 und ließ, nach-
dem sie zwei Wochen an der Macht
war, auf demonstrierende Arbeiterin-
nen schießen und sie durch Alarmfor-
mationen der Polizei brutal ermorden.

Heute sind die SPO oder auch die


Grünen für das Kapital kein schlechte-
rer Handlanger als OVP und FPO .

1 INSTITUTIONEN sind Einrichtungen mit bestimm-


ten Funktionen in der Gesellschaft, also z. B. die Po-
lizei, Ämter, die Reg ierung , die Kirche, Parteien usw.
Natürlich darf es diesen Herrn nie in 2 MONARCHIE: Regierung eines Königs, Kaiser oder
den Sinn kommen, das Prinzip der Re- Ftirsten, von niemandem gewählt. Republik : Staats-
gierung zugunsten einer Selbstverwal- form , in der eine gewählte Regierung den Staat führt.
Kommt von res publica - die öffenllichen Interessen.
tung in Frage zu stellen - das wäre ge- 3 LEGAL: Gesetzmäßig, im Rahmen der bestehen-
gen ihre eigenen Interessen. So setzen ·den Gesetze, also im Interesse der Herrschenden .
sie alles daran, diese Herrschaft zu Daloz der Verfasser der »Französischen Gesetzes-
sammlung« schreibt: »Wenn Unverstand im Schoße
rechtfertigen und aller anderen Modelle der Gesellschaft herrscht, Unordnung in den Gei-
- so auch den Anarchismus - als radi- stern , werden die Gesetze zahlreich, die Menschen
kal, utopisch oder terroristisch zu ver- erwarten alles von der Gesetzgebung und jedes Ge-
setz wird eine neue Ursache der Unzufriedenheit; sie
leumden ist fortwährend bestrebt, von der Gesetzgebung das
Die Anarchistinnen sind aus diesem zu verlangen , was nur von ihnen selbst, ihrer eigenen
Bildung, Ihrer eigen Moralität entspringen kann .«
Grund - im Gegensatz zu den Sozial-

14
Kritik am autoritären So- (aufeinanderfolgenden Formen) der
neuen Gesellschaft hatten, waren sehr
zialismus - das Verhältnis viel anders als die der AnarchistInnen.
Anarchismus - Marxismus So plädierten die Marxistinnen, die das
autoritäre Lager anführten, für die
»Ich verabscheue den Kommunismus, Gründung starker, zentraler Parteien,
weil er die Negation der Freiheit ist, für den Eintritt in Gewerkschaften, für
und weil ich mir nichts menschenwür- die Beteiligung an Wahlen und für ei-
diges ohne Freiheit vorstellen kann. Ich nen politischen Kampf, der die Bedin-
bin deshalb nicht Kommunist, weil der gungen der Arbeiterklasse schrittweise
Kommunismus alle Macht der Gesell- verbessern sollte. Die AnarchistInnen
schaft im Staat konzentriert und aufge- hielten diesem Programm entgegen:
hen läßt, weil er notwendig zur Zentra- Organisation auf der Basis geheimer,
lisation des Eigentums in den Händen freier und dezentral organisierter Bün-
des Staates führen muß, während ich de, die sich lediglich zur Absprache ih-
die radikale Abschaffung des Staates rer Aktionen zusammenschließen soll-
wünsche, die radikale Ausrottung des ten . Man erkannte, daß in einer autori-
Autoritätsprinzips und der Vormund- tären Organisation bereits der Keim für
schaft des Staates, die unter dem Vor- eine neue autoritäre Gesellschaft ent-
wand die Menschen sittlich zu erziehen halten war. Statt der Beteiligung an der
und zu zivilisieren, sie bis heute ver- Politik forderten sie eine radikale 1 und
sklavt, unterdrückt. ausgebeutet und konsequente Aktion gegen das Grund-
verdorben hat. Ich wünsche die Orga- übel und die endgültige und sofortige
nisierung des sozialen Eigentums von Beseitigung des ungerechten Gesell-
Unten /lach Oben auf dem Weg über schaftssystems.
die freie Assoziation und nicht von Wie wir gesehen haben, gibt es also
Oben nach Unten mit Hilfe irgendeiner beträchtliche Unterschiede zwischen
Autorität, wer immer sie sei. « beiden Strömungen , und zwar vor al-
( Michail Bakunin ( lem in der Frage des Weges, auf dem
Man hat den Marxismus und den Anar- das gemeinsame Ziel erreicht werder;
chismus oft als zwei feindliche Brüder soll. Dies sind aber offensichtlich so
bezeichnet. Doch auf den ersten Blick wichtige unterschiede, daß man den
scheint es kaum Unterschiede in der Konflikt zwischen AnarchistInnen und
Theorie zu geben. Tatsächlich kann Marxistinnen nicht einfach als Haar-
man sagen, sie haben gemeinsame spalterei abtun kann.
Wurzeln : die gleichen philosophischen Hierbei müssen wir allerdings vorsich-
Grundlagen und im Grunde auch das tig sein , und von Fall zu Fall genau
gleiche Ziel eine freie , sozialistische untersuchen, ob das, was wir kritisie-
Gesellschaft. ren , denn eigentlich Marxismus ist. Be-
Trotzdem verwundert es nicht, daß es kanntlich gibt es mehrere »Schulen«
zwischen AnarchistInnen und Kommu- des Marxismus, die alle von sich be-
nistinnen zu Gegensätzen kommen haupten, die einzig wahren , rechtmäßi-
mußte. Die Vorstellungen die die »Au- gen Nachfolger des großen Lehrers zu
toritären« sowohl von dem Weg zur sein .
Revolution als auch von den Stadien Von der reformistischen Sozialdemo- .
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bereits gesehen, daß

I
L-._ _ _ _ _ _ _ __ _ _ _ _ _ _ . 15 I
Was Ist eigentfiCh Anarchie?
bei ihr von Marx nicht mehr viel übrig- Marx und Engels nicht viel zu finden,
geblieben ist. Aber auch im Leninis- wo sie höchstens im Kern und unter-
mus, der heute als »echter« schwellig vorhanden sind.« 3
Marxnachfolger allgemein anerkannt Aus diesem Avantgardebewußtsein 4
ist, müssen wir feststellen, daß hier der LeninistInnen und Marxistinnen er-
Marx ganz erheblich verfälscht wurde. klärt sich auch, daß in den Schriften
Schnell erkannten die Antiautoritären, von Marx und Engels der begriff der
daß der Kommunismus eine Gefahr in »Spontaneität« niemals auftaucht. Si-
sich birgt: er nimmt aufgrund seiner cherlich kann sich eine revolutionäre
geistigen Überlegenheit die Führung Partei neben ihren hervorragenden Ak-
der Revolution für Sich In Anspruch und tivitäten ein gewisses Maß an Selbsttä-
ist genau in diesem Moment bereits tigkeit der Massen erlauben , aber die
wieder eine neue Regierung . Bakunin Spontaneität der Massen würde ihren
warf Marx polemisch 2 vor, der »Chefin- Anspruch auf die Rolle gefährlich in
genieur der Weltrevolution« sein zu frage stellen .
wollen. Eine solche Führung würde am Es scheint, als seien die AnarchistIn-
Ende nur das Volk in seinen revolutio- nen ProphetInnen gewesen. Schon
nären Initiativen hemmen, ihm ein neu- Bakunin schrieb 1860: »Vorzugeben,
es Joch auferlegen. daß eine Gruppe von Individuen, seien
Statt den Staat zu zerschlagen , planten es die Intelligentesten und die mit den
die MarxistInnen, ihn erst zu überneh- besten Absichten, in der Lage sind, die
men, ihn stark zu machen , und ihn für Seele, der leitende und vereinigende
die Zwecke des Sozialismus »dienstbar Wille der revolutionären Bewegung und
zu machen«, da ihm die wirtschaftli- der Wirtschaftsorganisation des aller
chen Grundlagen entzogen seien , wür- Länder zu werden, ist eine solche Ket-
de er später von ganz alleine abster- zerei gegen den Gemeinsinn, daß man
ben. Diese Ansicht mag vielleicht theo- mit Erstaunen fragt, wie ein so intelli-
retisch richtig sein, praktisch ist sie genter Mensch wie Herr Marx das hat
aber durch viele Beispiele widerlegt denken können . Die einer Diktatur S
worden (Ostblock). würde genug sein, die zu töten, alle
Diese Unterschiede führten zu heftigen Volksbewegungen zu lähmen und zu
Auseinandersetzungen innerhalb der 1. verfälschen S Man kann das Etikett
Internationale (vgl. »Bakunin und die 1. wechseln, das unser trägt, seine Form
Internationale«) und schließlich zu de- - aber im Grunde bleibt er immer der
ren Spaltung . gleiche. Entweder müsse man diesen
Durch Lenin wurden dann deutlich ei- Staat zerstören, oder sich mit der
nige der jakobinischen und autoritären fürchterlichsten Lüge, die unser Zeital-
Züge verstärkt, die zuweilen - jedoch. ter hervorgebracht hat, versöhnen : die
keineswegs immer - in den Schriften rote Bürokratie.«
von Marx und Engels auftauchten . Er Genau das ist in Rußland eingetreten.
erweiterte diese auch um einen Ultra- Lenin , der den Marxismus im autoritä-
Zentralismus, eine enge und sektiereri- ren Sinne weiterentwickelt hat, gelang
sche Konzeption der Partei und vor al- es innerhalb von drei Jahren, die russi-
lem um die Praxis der Berufsrevolutio- sche Volksrevolution unter die Diktatur
näre als Führer der Massen . »Vpn die- seiner straff organisierten , kleinen
sen Punkten ist in den Schriften von Partei zu bringen . Als das Volk begriff,
16
Was ist eigentlich Anarchie 7

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17
Was ist eigentlich Anarchie 1
was geschehen war, war es schon zu dem Anarchismus im wesentlichen vor,
spät: jede Erhebung gegen die neue kleinbürgerlich zu sein , nicht die richti-
Diktatur wurde blutig unterdrückt. ge Organisation zu haben, und im
Anarchistinnen und Anarchogruppen Endeffekt nur Chaos zu produzieren .
haben oftmals ihre Kräfte mehr zur Be- Was die bei den letzteren Vorwürfe an-
kämpfung des Marxismus verwandt, geht, so haben wir sie schon weiter
als zum Kampf gegen den gemeinsa- oben abgeklart und widerlegt.
men Klassenfeind. Oft hat es dieser Das Argument des Kleinbürgertums 6
anarchistischen Marxismuskritik erheb- ist nicht sehr gehaltvoll. Vor allem muß
lich an Substanz gemangelt. mensch erst einmal definieren, was
Man kann darüber denken, wie man darunter zu verstehen ist. Da gibt es
will - zur Klärung der Standpunkte hat zwei Möglichkeiten. Erstens könnte
dies alles herzlich wenig beigetragen gemeint sein, daß die anarchistische
und zur Entwicklung des revolutionären Ideologie dem Kleinbürgertum nutzt.
Kampfes schon gar nicht. Diese These wäre, nach allem , was wir
Es ist auch nicht unsere Absicht, die gesagt haben, so idiotisch , daß wir
spießig<:!n Intrigen 5 und die persönli- nicht darauf einzugehen brauchen. Al-
chen Hahnenkämpfe eines MarxCE so sind die Anhängerinnen des Anar-
oder eines Bakunins auseinanderzu- chismus Kleinbürgerinnen ? Proudhon ,
pflücken . Für uns ist allein wichtig , was dem dieser Vorwurf gerade am häufig-
wir auf unserem Weg zur Freiheit von- sten gemacht wird, war simpler Schrift-
einander lernen können . setzer. Das Gros der an AnarchistIn-
Wir haben schon gesehen , daß der nen (sowohl Theoretikerinnen als auch
Anarchismus am Marxismus folgende Praktikerinnen) hat sich zeitlebens ihr
wichtige Punkte kritisiert: Brot mit ihrer Hände Arbeit verdient.
( Autoritäre Organisation , mit der Ge- Freilich waren Kropotkin und Bakunin
fahr der Verselbstständigung (Partei adliger Herkunft, aber beide waren ge-
usw.) nau das , was Bakunin selber als dieje-
( Falsche Taktik bei der Erreichung der nigen beschreibt, die »der Klasse, der
freien Gesellschaft. Der Staat sollte sie entstammen , völlig den Rücken ge-
nicht übernommen , sondern zerschla- kehrt und sich völlig der Interessen des
genwerden . Volkes angenommen haben .«
( Gefahr einer mechanistischen Ge- Der autoritäre Sozialismus ist heute
schichtsauffassung nach dem (im nicht mehr so aktuell und gen~hrlich wie
Grunde richtigen) historischen Materia- der Kapitalismus. Gerade aus diesem
lismus. Demzufolge Vernachlässigung Grund lohnt es sich , erneut anarchisti-
der Rolle des revolutionären Subiekts. sche Klassiker zu lesen . Rudi Dutschke
< Überbetonung der ökonomischen Re- schreibt 1967: »In einer Zeit der sich
volution infolge dieser mechanistischen verstärkenden und sich verselbststän-
Auffassung . Nicht nur die Wirtschafts- digenden Staatsbürokratie scheint uns
ordnung muß aktiv verändert werden , die, bei Bakunin im Mittelpunkt stehen-
sondern auch der Überbau , wie Ver- . de Frage der Abschaffung des Staates,
waltung, Polizei, Militär, Kirche, Justiz, der unmittelbaren Beseitigung dessel-
Erziehung usw. ben , der erneuten Aufarbeitung durch-
Darüber hinaus wirft der Marxismus, aus wert.« Schon in der Mitte des vori-
vor allem der Marxismus-Leninismus, gen Jahrhunderts, also fast 100 Jahre
18
.Was ist eigerttlich AnarChie? i

vor Stalin, hat Proudhon treffend die


Politik der KommunistInnen zusam-
Die freie Gesellschaft
mengefaßt: »SO hat der Kommunis-
» Wer die Freiheit anders besitzt als
mus, wie ein Heer, daß dem Feinde
seine Kanonen weggenommen hat das zu Erstrebende, der besitzt sie tot-
und geistlos, denn der Freiheitsbegriff
nichts anderes getan als gegen da~
hat ja gerade die Eigenschaft, sich
Heer der Besitzenden dessen eigene
während der Aneignung stetig zu er-
Artillerie gekehrt. Von jeher hat der
weitern. Wenn deshalb einer im
Sklave den Herrn nachgeäfft.« Das
verhängnisvolle daran war: die Nach- Kampfe stehenbleibt, und sagt: jetzt
äfferei hat sich im Endeffekt nicht so hab ich sie! - so zeigt er eben dadurch,
daß er sie verloren hat. «
sehr gegen die Besitzenden gewandt
( Proudhon (
(denn die sind wieder auferstanden),
Die Grundprinzipien der freien Gesell-
sondern gegen die Besitzlosen . Die
schaft, die die Anarchistinnen anstre-
Revolution , die für sie sein sollte, hat
ben , . haben wir schon grob umrissen.
ihr tägliches Leben nicht verändert. Sie
Wir werden weiter unten auch noch
leben weiterhin in Unfreiheit und ar-
sehen, wie die Anarchistinnen jie ein-
beiten für die Interessen anderer.
zelnen Probleme verwirklichen wollen.
Auch können wir beurteilen, wie sich
diese Vorstellungen in der Praxis be-
währten oder versagten .
Eine freie Gesellschaft kann nur aus
freien Menschen entstehen. Die Men-
schen heute aber sind nicht trei. Sie
sind nicht frei erzogen, könne!') nicht
frei denken, sind, mit einem Wort, fast
gänzlich von den Wertvorstellungen
dieser Gesellschaft durchtränkt. Das
äußert sich entweder in ihrem Bewußt-
sein oder in ihrem Unterbewußtsein.
1 Radikal bedeutet von der Wurzel her (lateinisch ' Hiervon können wir Anarchistinnen uns
radix = Wurzel) . Eine radikale Lösung ist daher eine selbstverständlich nicht ausnehmen.
Lösung, die ein Problem gründlich und nicht Ober- Welche Schlüsse müssen wir nun dar-
flächlich löst, indem sie z. B. die Ursachen eines
Mißstandes beseitigt und nicht nur die Erschei- aus ziehen?
nungsformen. Wenn der Entwurf der neuen Gesell-
2 POLEMISCH = eine Form der Auseinandersetzung , schaft bis in alle Einzelheiten von Men-
. bei der durch Ubertreibung, Gleichnisse und Witz
eine gegenteilige Meinung bekämptt wird . schen gemacht wird, die noch der alten
3 Güerin: »Anarchismus und Marxismus« , Verlag Gesellschaft angehören, wird dieses
Freie Gesellschaft, Frankfurt Modell immer dem Keim des Alten in
4 AVANTGARDE = Elite; Wegbereiter der Revoluti-
on ; vergl. entsprechendes Kapitel sich tragen , der mit der Zeit wieder
5 INTRIGEN = hinterhältige Fallen und Winkelzüge in hervorbrechen und das Neue überwu-
einer Auseinandersetzung
6 als Kleinbürgertum bezeichnen wie diejenige
chern kann. Demnach ist es für Revo-
~chlcm , Oie zWlscnen dem Bürgertum und aem tJro- lutionärlnnen , die diesen Zusammen-
letariat steht, also gehobene Angestellte . Kleinhänd- hang kennen, geradezu ein Verbre-
ler und Beamte.
chen, einen genauen »Fahrplan« für

19
Was ist eigentliCh Anarchie 1
die Revolution und die neue Gesell- lution wird natürlich nicht von alleine
schaft auszuarbeiten. kommen . Zu ihrer Durchsetzung gehört
Dennoch wird es den AnarchistInnen eine mächtige Bewegung der unter-
fast überall als Schwache ausgelegt, drückten Schichten gegen ihre Unter-
daß sie keine Patentrezept bereithal- drücker. Diese Bewegung muß durch
ten. Aufklarung , Agitation 1 und erfolgreiches
In seiner Schrift »Worte an die Ju- revolutionares Handeln verbreitet wer-
gend« beschreibt Bakunin diesen Kon- den.
flikt folgendermaßen : »Wir kennen Da die Herrschenden noch nie freiwillig
auch solche, die aufrichtige Pläne zu auf ihre .Vorrechte verzichtet haben ,
einem besseren Leben aussinnen. Sie wird es zu Kampfen kommen - ob blu-
wissen gut, daß man für keine Ände- tig oder nicht, sei dahingestellt.
rung, die der Regierung nicht gefallt, Durch viele Beispiele, sowohl aus per-
ihre Zustimmung erlangen kann . Sie sönlichen Erfahrungen wie aber auch
wissen, daß die Vorteile der Regierung durch geschichtliche Beispiele von Be-
denen des Volkes absolut entgegenge- freiungskampfen ganzer Völker wissen
setzt sind . Sie begreifen , sie wissen , wir, daß im revolutionaren Kampf, unter
daß man mit Gewalt alles nehmen ganz bestimmten Bedingungen, in de-
müsse ... Dennoch ersinnen sie solche nen Solidarität, Organisation und ge-
Plane, der Teufel weiß für wen und genseitige Hilfe notwendig sind , der
wozu . Da sie ihr Material aus den be- neue Mensch und die Urformen der '
stehenden widerwartigen Verhältnissen neuen Gesellschaft geboren werden .
schöpfen , so ist das Resultat stets Um nur ein Beispiel zu nennen , sind
dasselbe - ekelhaftes Zeug .« Wenn al- die »Räte« nicht von gelehrten Theore-
so etwas vollstt:indig Neues entstehen tikerinnen erfunden , oder in Büchern
soll, so kann es nur dann Wirklichkeit entdeckt worden , sondern haben sich
werden , wenn wir das Alte vollständig stets aufs Neue in den Klassenkamp-
überwunden haben. Bakunin nennt fen entwickelt. Dieser Kampf ist der
diesen Zustand »Amorphismus « Moment, in dem der einzelne Mensch
(Formlosigkeit). zum ersten mal das Gefühl der ge-
Das heißt z. B. daß wir die herge- meinsamen Stärke spürt, und daß an-
brachten Formen des Denkens über- erzogene Verhaltensweisen wie Kon-
winden müssen , daß wir alte Lebens- kurrenzdenken , Profitsucht, Geltungs-
weisen durch neue ersetzen , daß wir bedürfnis, Besitzstreben , Egoismus,
Staat, Kapital , Kirche , Bürokratie , Ar- usw. Teil seiner Unterdrückung waren
mee und Polizei vollständig abschaffen und vor der konkreten Möglichkeit einer
müssen , bevor wir uns an die Erschaf- freien Gesellschaft unsinnig werden.
fung n8uer Lebensformen heranma- Wir können zwar theoretisch erklaren,
chen , und das bedeutet auf gar keinen aber wohl kaum nachempfinden , wei-
Fall, wie unsere Widersacher behaup- che kollektive Solidaritat z. B. 1871 in
ten, daß Fabriken, Häuser, ganze Paris, 1917 in Petersburg , 1921 in
Städte dem Erdboden gleichgemacht, Kronstadt, 1936 in Barcelona , 1956 in
und alle »Nicht-Anarchistlnnen« umge- Algerien oder 1960 in Kuba herrschten
2
bracht werden müssen !
Wie aber können wir so tiefgreifende Die Frage, die sich hier stellt, ist »Ist
Veränderungen bewirken? Eine Revo- denn der Mensch von seiner Natur her

L __ 20
überhaupt fähig , als freier Mensch in weist es in gar keiner Beziehung, daß
einer freien Gesellschaft zu leben? Hat der Mensch nicht frei sein könne! Ganz
nicht vielmehr sie Tatsache, daß es im Gegenteil werden wir sehen, daß in
trotz vieler Ansätze heute noch immer Gesellschaften wie dem revolutionären
keine anarchistische Gesellschaft gibt, Spanien oder der freien Ukraine, trotz
das Gegenteil bewiesen?« ihrer denkbar ungünstigen Bedingun-
Beginnen wir mit der letzten Frage. Sie gen bereits wichtige erfolgreiche
ist, wenn man sich die Hintergründe Schritte in Richtung einer freien Ge-
des Untergangs. anarchistischer Ge- sellschaft getan wurden.

seilschaften vor Augen hält, einiger- Was die erste Frage angeht, so wissen
maßen zynisch . Die freiheitlichsten Ex- wir, daß uns einige WissenschaftlerIn-
perimente sind allesamt unter dem Ku- nen und Verhaltensforscherinnen vor-
gel hagel und der blutigsten Unterdrük- rechnen, daß Besitz, Unterdrückung,
kung ihrer Feinde vernichtet worden - Aggression, ja sogar kapitalistische
entweder von den kapitalistischen oder Produktionsweisen »angeborene Trie-
von den »kommunistischen« Truppen . be« seien. Nikolai Bucharin 3 schreibt in
Dies alles hat mit der menschlichen seinem Buch» Theorie des historischen
Natur und ihrer Fähigkeit, frei zu sein, Materialismus«: »Für die bürgerlichen
herzlich wenig zu tun. Vor allem be- Gelehrten ist das Huhn, das ein Korn

21
'Was ist eigentlich Anarchie 1
pickt, Imperialist, denn es annektiert B. die Psychologische Schule Wilhelm
das Korn (...) so müssen die bürgerli- Reichs oder die Sexpol-Bewegung in
chen Wissenschaftler in ihrer Not im- den 20er Jahren) heftig beschimpft,
mer wieder auf das imperialistische verfolgt und zum Teil sogar kriminali-
Huhn oder den kapitalistischen Affen siert. Verwundert es da noch, daß linke
zurückgreifen. Dieses Beispiel illustriert Wissenschaftlerinnen, wie Peter Kro-
zur Genüge das jämmerliche Niveau, potkin z. A., der lange Jahre als Natur-
auf dem sich unsere Wissenschaft be- wissenschafter und Geograph be-
wegt.« kannter als als anarchistischer Theore-
In der Tat: fragen wir uns doch einmal , tiker war, zu ganz anderen Ergebnis-
wem denn diese Art von Wissenschaft, sen kommen , als die offizielle Wissen-
die sich »objektiv« nennt, dient? Es hat schaft?
nie eine andere offizielle Wissenschaft Kropotkin , der mit die ersten Verhal-
gegeben, als gerade die, die dem Sy- tensforschungsstudien an sibirischen
stem , das sie bezahlt, auch nützt. Tieren durchführte, stellt in seinem
Haben nicht im Mittelalter, in einer vom Werk »Gegenseitige Hilfe« 5 beispiels- .
kirchlichen Aberglauben geprägten weise fest , daß das Prinzip der gegen-
Welt, die »objektiven« Wissenschaftler seitigen Hilfe im Tierreich mindestens
feierlichste behauptet, die Erde sei eine ebenso stark verbreitet ist, wie das
Scheibe, um die sich die Sonnen dre- Konkurrenzprinzip , wenn es diese nicht
he, und jeder, der etwas anderes be- gar überdeckt.
haupte, sei mit dem Teufel im Bunde? Ganz und gar klar wird die wissen-
Wurden nicht in der Sowjetunion Biolo- schaftliche Parteilichkeit, wenn wir uns
ginnen, die eine andere Vererbungs- betrachten , wo allgemein anerkannte
lehre, als die dem System genehme, Wissenschaftlerinnen , wie, um nur ei-
vertraten , nach Sibirien in die Verban- nen herauszugreifen, Konrad Lorenz,
nung geschickt ? Bezieht nicht die der zum Liebling aller Autoritären ge-
Psychologie all ihr empirisches Grund- worden ist, politisch stehen: nämlich
lagenmaterial aus der Masse der Men- rechts .
schen , die in diesem System bereits Diejenige Sache aber, die die gelehrten
erzogen, »erkrankt« , mit einem Wort: Herren und Damen Anhängerinnen des
verdorben worden sind? An diesen Kapitalismus schier zur Verzweiflung
Menschen habe Gelehrte »Gesetzmä- bringt, sind jene bösen Naturvölker, die
ßigkeiten« beobachtet, sie beschrieben doch tatSächlich anders leben, als es
und sie mir nichts dir nichts das vor- die Wissenschaft für möglich erklärt.
gefundene zum unumstößlichen Natur- Uns sind nämlich sehr wohl Völker mit
gesetz erhoben , das Kranke und De- zum Teil recht hohem Kulturniveau be-
formierte also zum Natürlichen erklärt. kannt, die weder die Ehe noch das
Weiter ist bekannt, daß sich die wis- Geld , weder Besitzdenken noch Ag-
senschaftlichen Schulen untereinander gression, weder Kriege noch Herr-
sehr über ihre Ergebnisse streiten (so schaft kennen . Jede/r, die/der sich mit
6
z. B. über die Herkunft der Aggression) Ethnologie be;:;chäftigt hat, wird das
4
bestätigen können .
Seltsamerweise wird auch immer die- Das soll jedoch nicht heißen, daß die
jenige Schule, die den Machtverhält- Anarchistinnen die Rückkehr in den
nissen am Meisten widerspricht, (so z. Urwald fordern . Ganz im Gegenteil
22
Was ist eigentlich Anarchie 7
werden wir noch sehen, daß die anar- Ökonom isches System
chistischen Theorien, ganz bewußt die
technischen Möglichkeiten unserer Ge-
Es versteht sich, daß das ökonomische
sellschaft in ihr Modell einbeziehen.
(wirtschaftliche) System einer neuen
Hier wollten wir jedoch nur eines zei-
Gesellschaft anders aussehen muß,
gen: Hüten wir uns davor, der Wissen-
als das kapitalistische, welches wir jetzt
schaft blind zu vertrauen! Hüten wir
haben. In dieser Hinsicht ist die Analy-
uns davor, das Vorgefundene für das
se und die Kritik des kapitalistischen
Natürliche und einzig Mögliche zu hal-
Produktionssystems der AnarchistIn-
ten! Gewöhnen wir uns vielmehr daran ,
nen fast gleichwertig mit dem der
unsere Phantasie zu schulen , und uns
KommunistInnen . Tatsächlich hat Mar-
das, was man uns von klein auf als
xens gute und tiefgehende Analyse der
Unmöglich dargestellt hat, vorzustellen
Wirtschaft die anarchistische Theorie
und zu verwirklichen . Dann werden wir
entscheidend beeinflußt, und auch
merken : Der Anarchismus ist nicht uto-
heute noch gelten die wichtigsten der
pisch.
Marxschen Prinzipien.
Genau das war mit jener Wandparole
So wissen wir, daß das Kapital sich in
gemeint, die im Mai 1968 überall auf-
den Händen weniger Kapitalisten mehr
tauchte: »Sei realistisch : fordere das
und mehr akkumuliert (anhäuft) und so
Unmögliche!« zur Bildung von Monopolen führt, die
Sehen wir uns in den folgenden Kapi- zentral die ganze Wirtschaft kontrollie-
teln an, wie sich Anarchistinnen das ren. Die Folge davon ist eine relative
»Unmögliche« vorstellen . Verelendung 1 der Arbeiter. Das kapita-
listische Wirtschaftssystem beruht auf
dem Prinzip der Ausbeutung und des
Mehrwerts 2 und bringt nach dem
1 AGITATION = politische Information. Bewußtma- Schema Lohn-Preis-Profit immer mehr
chung und Aktivierung von bisher unpolitISchen Men- Ungerechtigkeit und soziales Elen.d ~it
schen. .
2 Vgl. »Mensch und Sozialismus In Kuba« von Erne- sich . Des weiteren kann der Kapitalis-
sto »Che« Guevara, Trikont-Verlag, Munchen ; »Die mus aus logischen Gründen (die wir
verdammten dieser Erde« von Frantz Fanon , rororo hier nicht alle entwickeln können) das
aktuell Nr. 1209 und »Meine Katalon ien« von George
Orwell, Diogenes-Verlag 1976. regelmäßige Auftreten von großen
3 NIKOLAI BUCHARIN, russischer Kommunist. Mit- Wirtschaftskrisen nicht verhindern.
glied der Bolschewiki, war einer der führenden Theo- Diesen Krisen fallen gewöhnlich Tau-
retiker und gleichzeitig Agitator LenInS. In den zwan-
ziger Jahren gehörte Bucharin zur Opposition gegen sende von Arbeiterinnen, nie aber die
Stalin und trat innerhalb der »ArbeiteropposItion« fur Reichen zum Opfer. Auch in Österreich
eine Demokratisierung und fur mehr Rechte des hat es bekanntlich eine Reihe solcher
Proletariats in Rußland ein. Von einem Sondergencht
zum Tode zu verurteilt und erschossen. . Krisen gegeben , und es wird sie auch
4 vgl. hierzu Rattner, »Aggression und menschliche wieder geben .
Natur«, Fischer-Taschenbuch Nr. 6173 ; Anro Plack,
»Die Gesellschaft und das Böse« , list, Munchen
Weiter wird der Mensch aus Gründen
1968; Artur Janov, »Der Urschrei «, Fischer 1972; der Kostenersparnis gezwungen, lang-
»Anarchistische Blatter Zürich « 7/73, Gruppe James weilige , ermüdende oder gefährliche
Guillaume , Zürich und »Kultur zwischendurch« 47
und 59, Revolutionsbrauhof (RBH) , Wien
Arbeit zu leisten, zu der er keine Be-
5 vgl. auch Kropotkin Kapitel ." ziehung hat und die er für andere
6 ETHNOLOGIE = die Lehre von den Volkern . Vo l- macht Das nennen wir Entfremdung .
kerkunde

23
Was ist eigentlich Anarchie 7 .
Zwar geht es den Arbeiterinnen heute ein. Es sollte vor allem zwei Bedingun-
nicht mehr so schlecht wie früher, aber gen erfüllen: menschlich sein und ef-
wir dürfen nicht vergessen, daß der fektiv produzieren. Vor allem das Erste-
gesamte Wohlstand der westlichen re sahen sie im marxistischen Konzept
Welt auf der hemmungslosen Aus- gefährdet - Sie fürchteten sogar, daß
beutung der Völker Asiens, Afrikas und aus dem allmächtigen Wirtschaftsstaat
Südamerikas beruht eine neue, schlimmere Regierungsform
Um es kraß zu sagen: wir können un- hervorbrechen würde. Wenn man sich
sere Dose Ananas nur deshalb so billig das Staat- und Wirtschaftssystem der
kaufen, weil irgendwo in Formosa UdSSR angesehen hat, muß man zu-
Menschen verhungern. In den bis hier geben , daß diese Befürchtung nicht
geschilderten Punkten sind sich Marxi- ganz abwegig war. 4
stinnen und Anarchistinnen einig. Wie Genau wie alle anderen Gesellschafts-
aber steht es mit den Gegenvorschlä- bereiche, so sollte auch die Wirtschaft
gen? und die Industrie von »unten nach
Schon Marx und Bakunin haben sich oben« organisiert werden, d. h. auf der
hierüber gestritten. Marx strebte eine Grundlage von freien und gleichbe-
zentrale Organisation der Produktion rechtigten Produktionsgemeinschaften ,
an . Ein Stab von Ingenieuren sollte für die sich nach den Bedürfnissen und
den ganzen Staat, der das Bank- und Notwendigkeiten der Arbeiterinnen und
ProdL.:~~tionsmonopol 3 hat, bestimmen , Verbraucher zu wirtschaftlichen Föde-
was und was nicht produziert wird . rationen (Bünden) zusammenschließen
Marx sprach vom geordneten und dis- sollten . Dasselbe sollte für die landwirt-
ziplinierten »Arbeiterarmeen« . schaftlichen Genossenschaften gelten.
Die Wirtschaft sollte also nicht durch
Grenzen und zentrale Planung ge-
hemmt, sondern sich von der Basis
her, d. h. an den tatsächlichen Bedürf-
nissen der Produzentinnen (Arbeiterin-
nen) und Konsumentinnen (Verbrau-
cherinnen) orientieren.
Nun wird es jedem einleuchten , daß
man die wirtschaftliche Ordnung nicht
. dem Zufall überlassen kann. Das ist mit
diesem Konzept auch keineswegs ge-
meint. Vielmehr sollten sich Industrie
und Produktionszweige zu Räten zu-
sammenschließen , die aus ihrer prak-
tischen Erfahrung Probleme, wie z.B.
Transport, Rohstoffgewinnung, Lage-
rung und Verteihmg der Güter beraten,
beschließen und durchführen.
Es leuchtet ebenfalls ein, daß bei einer
solchen Organisation, in der Handar-
Die Anarchistinnen traten dagegen für
beiterinnen und Kopfarbeiterinnen aus
ein völlig anderes Wirtschaftssystem
ihrer täglichen und fachlichen Erfah-
24
Was ist eigentlich Anarchie 1
rung heraus viel reibungslosere und rung oder Vermeidung von Krisen,
richtigere Entscheidungen treffen, als Kriegen , politischen Machenschaften
irgendwelche studierten TheoretikerIn- eingesetzt werden kann - also weit
nen an irgendwelchen grünen Tischen, mehr, als alle Ziegen und Kühe der
in irgendwelchen staatlichen Zentralen . Welt vermögen. Mit einem Wort: Geld
Ein solches Prinzip nennen wir Räte- kann sich verselbstständigen. Geld ist
prinzip oder Selbstverwaltung. Leider das Symbol gesellschaftlicher Unge-
würde es zu weit führen , an dieser rechtigkeit und der Arroganz der herr-
Stelle das ökonomische Konzept des schenden Klasse.
Anarchismus in seinen Einzelheiten Was aber geschieht, wenn das Geld
darzulegen. abgeschafft ist? Müssen wir dann nicht
doch wieder mit Kuh und Ziege tau-
schen gehen?
Die Lösung ist ganz einfach .
Wir gehen davon aus, daß die Produk-
tionsweise in der neuen Gesellschaft
eine Bedürfnisproduktion ist. Das be-
deutet, daß unter der größtmöglichen
Ausnutzung aller technischen und wis-
senschaftlichen Möglichkeiten und un-
ter der größtmöglichen Verminderung
entfremdeter menschlicher Arbp.it, ge-
nau das produziert wird, was alle Men-
schen der Erde zum Leben , ZlJin Ver-
gnügen und zur Bequemlichkeit brau-
chen. Nicht mehr und nicht weniger.
Und das ist beim heutigen Stand der
Technik ohne weiteres möglich.
In unserem heutigen System ist dies
jedoch ganz anders. Der größte Teil
Mit der kapitalistischen Produktions- der Menschheit bekommt nicht einmal
weise müßte auch sein charakteristi- genug zu essen, während der kleinere
sches Merkmal fortfallen : das Geld . Teil im Überfluß lebt. Für ihn wird Lu-
Viele Menschen meinen , das Geld sei xus produziert (viele unserer Bedürf-
eine sehr praktische Einrichtung , die nisse werden nämlich erst künstlich
nur dazu diene, daß mensch nicht im- geweckt, damit die Industrie das neue
mer mit Kühen oder Ziegen zum Tau- Bedürfnis dann wieder »befriedigen«
schen umherlaufen müsse. Das ist lei- kann . Nur drei Beispiele: elektrische
der ein Irrtum, denn Geld ist bedeutend Zahnbürsten , computergesteuerte gol-
mehr als nur eine Warenersatz. Geld dene Tischfeuerzeuge, Luxusautos). In
kann sich (ohne, daß sein Besitzer die Waren selbst werden Verschleiß-
auch nur einen Finger krumm macht) teile eingebaut, damit sie nach einer
vermehren. Mensch kann es unbe- bestimmten Zeit kaputtgehen. So müs-
grenzt aufheben und horten , es ist ein sen sie häufiger gekauft werden und
abstrakter Wert, der sich akkumulieren die Industrie kann viel mehr produzie-
(anhäufen), der gezielt zur Provozie- ren , was wiederum den Profit der Ka-
---2 -5~----------~1
Was' ist ei entlieh Anarchie?
pitalistlnnen ins Riesenhafte klettern techniker Radios. Der Techniker wird
läßt. sich morgen beim Bäcker sein Bröt-
Die Mode zwingt uns, auf noch abson- chen holen , soviel er braucht, ohne
derlichere Weise, neue Kleider zu diesem dafür Geld oder gar ein Radio
kaufen , die wir noch gar nicht brau- geben Zlj müssen. Dafür wird sich aber
chen. der Bäcker, wenn sein altes Radio
Um diesen idiotischen Zustand auf- nicht mehr zu reparieren ist, ein neu es
rechtzuerhalten, gibt man unter ande- Radio nehmen , und zwar wieder ohne
rem ungeheure Summen für eine Ar- dafür mit Geld oder gar mit einem
mee aus, die noch dazu den unge- Lastwagen voll Brötchen zu bezahlen.
ahnten Vorteil hat, sich und viele ande- Diese Beispiel ist bewußt stark verein-
re Werte, von Zeit zu Zeit zu vernich- facht, tatsächlich wird die Gütervertei-
ten. Den Rest des Geldes gibt man lung , sofern es nicht tägliche Ver-
dann noch für solche Dinge wie den brauchsgüter sind , zur Aufgabe der
Flug zum Mond aus, für den höchstens Produktionsräte gehören . So wird eine
ein rein wissenschaftliches Bedürfnis möglichst gerechte Verteilung der Wa-
besteht. 5 Angesichts des riesigen ren gewährleistet, denn die Bedürf-
EIends in der Weit sollte uns diese irr- nisproduktion wird sich nicht von heute
sinnige Verschwendung von Produkti- auf morgen und ohne Schwierigkeiten
onskraft zu denken geben. Sie kann verwirklichen lassen. Auf jeden Fall
nur den Zweck haben, das wider- aber wird der gesellschaftliche Wohl-
sprüchliche und wackelige System der stand allen und - allen in gleichem Ma-
kapitalistischen Produktionsweise am ße - zugute kommen.
Leben zu erhalten . Zugegeben , uns dies vorzustellen ist
All das aber fiele bei einer Bedürf- schwer. Vor allem deshalb, weil es uns
nisproduktion weg . Es gibt Berecllnun- »natürlich« erscheint, für etwas, was
gen ameriki:mischer Universitäten , die wir bekommen auch etwas zu geben .
besagen, daß bei einer konsequent Dies wird sich jedoch, bei genauer
durchgeführten Bedürfnisproduktion , Betrachtung, auch im neuen System
also, wenn Mode, Militär, Verschleiß- nicht ändern . Der Unterschied liegt nur
teile, Werbung, usw. wegfallen , die Be- darin, daß wir nicht im sei ben Augen-
dürfnisse ' aller Menschen befriedigt blick »bezahlen«, sondern indirekt
würden, und das bei einer täglichen durch die Arbeit die jeder leistet.
Arbeitszeit von vier bis fünf Stunden . Was geschieht aber mit Leuten, die
Dies klingt unglaublich, wird uns aber nicht arbeiten wollen? Hierzu ist wieder
verständlich, wenn wir uns klarmachen, ein kleiner Exkurs nötig.
daß allein für die »Verteidigung« direkt Arbeit im kapitalistischen System be-
oder indirekt weit über die Hälfte allen deutet für fast alle Menschen Gefahr,
Geldes der Erde ausgegeben wird . Stumpfsinn, Plackerei. Weiter oben
Wir können also davon ausgehen, daß haben wir das bereits als Entfremdung
in der Bedürfnisproduktion so viel pro- bezeichnet Ebenfalls haben wir darauf
duziert wird, das genug für alle da sein hingewiesen , daß die Bedürfnisproduk-
wird . Nun zurück zu unserer Frage: tion hauptSächlich menschlich sein soll.
weshalb sollte mensch da noch tau- Das bedeutet, daß alle Arbeitsvorgän-
schen? Hier ein Beispiel : ein Bäcker ge weniger nach ihrer Erzeugungskraft,
produziert Brötchen und ein Elektro- als nach ihrer Menschenfreundlichkeit
------
26 I
Was ist eigentlich Anarchie 7
beurteilt werden . Freundlichere Ar- Überlegungen ist es aber, daß ganz im
beitsplatze, kürzere Arbeitszeit, eigene Gegensatz zum heutigen System, nie-
Einteilung der Zeit und der Aufgabe , mand gezwungen wird, sich dieser
Bewaltigung der stumpfsinnigen Auf- oder jener Kommune anzuschließen.
gaben durch Maschinen , all das sind Jedem steht frei , sich mit anderen in
nur einige Beispiele, die die Arbeit in neuer Form zu organisieren. Mit der
einem völlig anderem Licht erscheinen Zeit aber müssen auch die Dümmsten
lassen . Die Arbeiterinnen wissen , was merken, daß das Horten von Waren il1
sie machen, weshalb sie etwas ma- einer geld losen Gesellschaft Irrsinn ist.
chen, und für wen sie etwas machen. Verkaufen kann mensch nichts mehr,
Dabei haben sie das gute Gefühl, nicht da man sowieso alles »umsonst« be-
eine Schicht von Schmarotzerinnen (= kommt und mehr Essen, als der Magen
Kapitalistinnen) miternähren zu müs- verträgt, kann man nicht, ebensowenig
sen . Arbeit wird mehr und mehr zum wie in zwei Häusern zugleich wohnen,
Spiel, zu schöpferischer Leistung 6 zwei Autos zugleich fahren, oder in
So werden sich die meisten Menschen zwei Fernseher zugleich sehen.
an der allgemeinen Arbeit beteiligen . Auch der Warenbesitz als Symbol einer
Jemanden aber zur Arbeit zu zwingen , Kiassenzugehörigkeit, als Beweis für
würde gegen die freiheitlichen Prinzipi- Wohlstand und Luxus hat mit der Ab-
en des Anarchismus verstoßen! Auf schaffung der Klassengesellschaft sei-
der anderen Seite kann aber auch kei- nen Sinn verloren.
ne freie Kommune gegen ihren Willen In den bei den erfolgreichsten anarchi-
gezwungen werden , Menschen , die stischen Gesellschaften, die je exi-
nicht arbeiten wollen , in ihre Gemein- stierten , in der Ukraine und in Spanien,
schaft aufzunehmen und mit zu versor- ist es tatsächlich gelungen, diese Vor-
gen . So wird dies letztlich immer im stellungen schon in den wichtigsten
Ermessen der Kommunen bleiben und Ansätzen zu verwirklichen . Zwar stan-
folglich von ihrem Wohlstand abhän- den beide Bewegungen unter dem un-
gen. günstigen Stern eines harten Krieges ,
Bliebe noch die Frage: was ist, wenn der viele Anstrengungen einfach wie-
sich manche Menschen mehr nehmen , der über den Haufen warf; mensch
als ihnen zusteht? konnte in einer solchen Situation natür-
Wir müssen hier unbedingt freimachen lich nicht von einer Bedürfnisproduktion
von der Vorstellung , daß die freie Ge- reden . Dennoch ist es gelungen, die
sellschaft ein liberaler Hampelmann Arbeitswelt erheblich zu humanisieren .
sei , der aufgrund seines menschen- Alle Betriebe wurden von den Arbeitern
freundlichen Bewußtseins sich alles selbst übernommen und verwaltet
gefallen ließe. Selbstverständlich wer- (»kollektiviert«) . Die Verwaltung wurde
den die neuen Gemeinschaftsformen erheblich reduziert und ebenso wie alle
ihre Interessen gegenüber Menschen , Dienstleistungen , Transportfragen und
die andere Auffassungen vertreten , zu die Kriegsführung nicht mehr vom Ka-
verteidigen wissen. Jeder wird in der pital und der Regierung, sondern einzig
Lage sein, den anderen zu kontrollie- von den demokratischen Raten der Ar-
ren und darauf zu achten , daß er nicht beiterinnen , Bäuerinnen und Milizionä-
mehr bekommt, als er braucht. Grund- rinnen (Soldatinnen) besorgt. Und, was
legendes Prinzip bei allen diesen niemand (freilich außer den Anarchi-

27
Was ist eigentlich Anarchie 7
stlnnen) für möglich gehalten hatte, möglich sein kann: beide sind unlösbar
geschah: die Produktion stieg, statt zu miteinander verbunden .
fallen, die Löhne konnten, durch die
enormen Einsparungen am bürokrati-
schen Wasserkopf, gehoben werden ,
ja, in einigen Fällen konnte sogar die
Arbeitszeit gesenkt werden (trotz
Kriegsführung!) . Weder in der Ukraine
1918 bis 1922, noch in Spanien 1936
bis 1939 hat es Hungertote gegeben ,
wie es sie im zentralistischen Wirt-
schaftssystem Sowjetrußlands schon
zu Millionen zu beklagen waren. Beide
Modelle haben es vermocht, während
sie einen Krieg führen mußten , ihre In-
dustrie zu vergrößern und auch auf
kulturellem Gebiet das Fundament für
eine neue Gesellschaftsordnung zu le-
gen.
War die Ukraine mehr ein Agrarland
mit wi;nig Industrie, so haben wir in
Spanien mit seinen Industriezentren,
so vor allem Barcelona und Valencia, 1 RELATIVE VERELENDUNG bedeutet, daß der
Lebensstandard des Arbeiters steigt, aber viel lang-
ein typisches Beispiel dafür, daß das samer als der der Kapitalisten; während sich der Ge-
anarchistische Prinzip der Selbstver- winn eines Kapitalisten z.B. in zehn Jahren verzehn-
waltung und der Bedürfnisproduktion facht , ist der Lohn eines Arbeiters nur um die Hälfte
gestiegen; er ist also im Vergleich zum Kapitalisten
auch in modernen Industrien möglich ärmer statt reicher geworden. Diese relative Verelen-
ist. dung darf man nicht mit der ABSOLUTEN
Auch in jüngster Zeit hat es wieder VERELENDUNG verwechseln . Diese bedeutet, daß
ein Arbeiterinnen weniger Lohn bekommt als früher.
zahlreiche Beispiele von (freilich kürze- 2 Mehrwert ist die Differenz zwischen dem Verkaufs-
ren) '='erioden der Arbeiterselbstver- preis und dem Produktionspreis einer Ware. Kostet
z.B. eine Ware 5 DM Material und 10 Mark Lohn , und
waltu r 1 gegeben. wird sie fur vierzig Mark verkauft, so beträgt der
Fasse , wir die Thesen der ökonomi- Mehrwert 25 Mark. Der Mehrwert ist also die Geld-
schen Organisation der Anarchistinnen form der Ausbeutung . den der Kapitalist einsteckt,
ohne dafür zu arbeiten.
kurz zusammen : Arbeiterinnenselbst- 3 Als MONOPOL bezeichnet man den alleinigen An-
verwaltung , Bedürfnisproduktion, Ab- spruch auf etwas; so ist z. B. die Steuer. ebenso wie
schaffung des Geldes, Humanisierung die Justiz. das Monopol des Staates und die Presse
schon beinahe das Monopol des Herrn Dichand.
der Arbeitswelt, Ausnutzung der tech- 4 Vgl. Charles Bettelheim > Über das Fortbestehen .
nischen Mittel und wirtschaftliche Ko- des Warenverhältnisses in den sozialistischen Län-
ordination nach dem Räteprinzip. dern« , Merve Verlag , Berlin, Internat. Marxist. Dis-
kussion Nr.1.
Ganz bewußt haben wir uns bei die- 5 Der abstrakte menschliche Forschungsdrang darf
sem Kapitel etwas länger aufgehalten , erst dann so große Summen verschlingen , wenn Not
denn ohne eine freie Organisation der und Elend auf der Welt aufgehört haben , zu existie-
ren .
Wirtschaft wird keine freie Gesellschaft 6 Vgl Herbert Marcuse »Der eindimensionale
möglich sein. Ebenso, wie ohne eine Mensch «, Sammlung Luchterhand.
freie Gesellschaft keine freie Wirtschaft

28
Was ist eigentfich Anarchie 7
)revolutionäre und die Nach-(post-
Die Organisation )revolutionäre. In der ersten geht es
darum , die meist schwachen freiheitli-
"Tatsache ist, daß es zwar tausende chen Kräfte möglichst effektiv und
Studenten der Staats wissenschaften nutzbringend einzusetzen , revolutionä-
gibt, aber kaum jemand, der sich je mit re Propaganda zu betreiben, überall
einer Gesellschaft ohne Staat beschäf- Zellen und Gruppen zu bilden und sich
tigt hat. " gleichzeitig gegen die wachsende Un-
( Colin Ward ( terdrückung des Staates zu wehren.
Dabei dürfen aber keine zentral-
Es wird allgemein angenommen , Anar- diktatorischen Strukturen auftreten, die
chie sei der klassische Begriff der Des- auf der einen Seite das Instrument der
organisation . Nicht stimmt weniger. Befreiung in ein Instrument der Unter-
Wie wir schon a.11 Anfang erwähnt ha- drückung verwandeln würden und in
ben, bedeutet für die anarchistischen demselben Maße aus der Volksbewe-
Theoretikerinnen Anarchie keineswegs gung eine Parteibewegung machen
Unordnung, sondern im Gegenteil ist würden.
sie Ausdruck höchster, weil natürlich- Auch hier gilt also das Prinzip der An-
ster Ordnung. Sie entspricht den natür- wesenheit des Zieles in den Mitteln.
lichen sozialen Bedürfnissen aller (Das Ziel : Freiheit, muß auch Grundla-
Menschen am Besten und stellt vor- ge der Organisation sein.) Selbstver-
aussichtlich die einzige Organisations- ständlich kann eine revolutionäre Or-
form dar, die den enormen Anforde- ganisation , eine politische Zelle nicht in
rungen der gesamten Menschheit jetzt dem Maße frei sein , wie die O,ganisa-
und in Zukunft gewachsen ist. tion der freien Gesellschaft. Vor allem
Erst durch die Befreiung von der staat- dann , wenn die Organisation von der
lich gelenkten und gewollten Unord- Polizei verfolgt wird .
nung wird der Anarchismus zur Ord- Zur Zeit Bakunins war der Anarchismus
nung. vor allem in Geheimbünden organisiert.
Diese Ansicht wird nicht von allen An- Diese waren untereinander durch ein
archistlnnen geteilt. Viele wehren sich System von Kurieren und geheimen
strikt gegen jede Art der Organisation . Konferenzen verbunden und konnten
Ihnen wirft Errico Maltatesta vor: »Un- so ihre Tätigkeiten abstimmen . Hierbei
ter dem Einfluß ihrer autoritären Erzie- stellte die Verbindung zur Masse des
hung glauben sie, daß die Autorität die unterdrückten Volkes ein besonderes
Seele der sozialen Organisation sei Problem dar.
und um jene zu bekämpfen haben sie Zu Beginn diese Jahrhunderts bis zum
diese abgelehnt. Der Grundirrtum der Beginn des zweiten Weltkriegs war die
Anarchistinnen die GegnerInnen aller Organisationsform die des Anarcho-
Organisationen sind, ist die Annahme, syndikalismus. Diese Organisation hat
Organisation sei ohne Autorität nicht es vermocht, beide Probleme zu lösen:
möglich.(~ Die Organisation der breiten Massen in
ihrem Kampf um die Freiheit zusam-
Wie sieht nun diese Organisation aus? men mit dem oft illegalen Kampf der
Hierzu müssen wir zwei Etappen un- aktiven Revolutionärinnen zu vereini-
terscheiden: Die Vor-(Prä-)revolutionä- gen . Diese anarchistischen Gewerk-

29 I
" Was isteigentJich Anarchie 7 '
schaften, in ihren Zielen revolutionär, in bar; eine echte Organisation des
ihrer Struktur von unten nach oben or- werktätigen Volkes. So hat die innere
ganisiert und in ihrer Organisation de- Struktur der prärevolutionären Organi-
zentral aufgebaut, haben es vermocht, sation es verhindert, daß die postrevo-
Millionen von Menschen zu organisie- lutionäre Organisation, in diesem Fall
ren und einen erfolgreichen Kampf um die CNT, zu einem neuen, autoritärem
ihre Interessen zu führen . Von bedeu- »Staat« wurde .
tender Wichtigkeit hierbei ist, daß die Wir haben nur zwei Beispiele betrach-
gewerkschaftliche Organisation mühe- tet, an denen mensch jedoch klar er-
los den Schritt von einer prä- zu einer kennen kann . . Eine Organisation ist
postrevolutionären Organisation tun notwendig, wenn mensch tatSächlich
kann. In ihrer Struktur finden sich die für eine revolutionäre Veränderung
ersten Grundlagen für den Aufbau der eintritt, wenn man die Revolution mit
freien Gesellschaft. In Spanien war die den Massen des Volkes will und nicht
anarchosyndikalistische CNT (Confe- als Karnevalsrevoluzzerln auftritt.
deration National dei Trabajo = Natio- Die Grundlage der postrevolutionären
nale Föderation der Arbeit) die Grund- Gesellschaft ist die Organisation der
lage auf die sich die AnarchistInnen freien Kommunen (auch Bünde ge-
nach der Revolution stützen konnten . nannt) . Dies Kommunen sind jede für
Die Gewerkschaft kannte sich in den sich und alle wieder untereinander
Betri~ben gut aus und zählte (nach A. nach dem Räteprinzip organisiert. Was
Souchys Angaben) zum Zeitpunkt der es mit diesen , als Schlagwort allgemein
Revolution 1,600 .000 Mitglieder, die bekannten Begriff auf sich hat, wollen
zum größten Teil IndustrieArbeiterIn- wi r im nächsten Kapitel untersuchen .
nen waren . So konnten sie die Indu-
strieproduktion regeln. Die CNT r,at ei-
nen jahrzehntelangen Kleinkrieg gegen Räte und Selbstverwaltung
den spanischen Staat geführt und
zählte auf erfahrenen Kämpferinnen " Verteilt die Macht, damit sie keinen
So konnte sie gegen den Faschisten mächtig macht. "
Franco schnell die sogenannten Mili-
zen aufstellen.
Um die CNT hatten sich Ärztinnen , In-
genieurlnnen , Verwaltungsfachleute
gesammelt - so konnten die öffentli-
chen Dienste, Planung und Verwaltung
ebenfalls über die Gewerkschaften
gelöst werden . Freilich in einem ganz
anderem Sinne als vorher: die unnütze
Bürokratie verschwand gänzlich, Ärz-
tinnen, Ingenieurinnen, und Fachar-
beiterinnen waren , wie alle anderen
Menschen, den normalen Arbeiterin- Die Räte bilden das Prinzip, das der
nen gleichgestellt, und , was sicher das Selbstverwaltung zugrunde liegt. Sie
wichtigste war, der ganze Apparat war sind von allen bisher bekannten gesell-
für alle durchschaubar und kontrollier-

L
I - - -_ _ _ _ _ _ _ _ _ _
30
schaftlichen Organisationsformen die ist freiwillig, demzufolge auch die Un-
demokratischste. Viele hundertmal an terwerfung unter die Beschlüsse des
verschiedenen Stellen der Erde sind Rates, sowie der Genuß der durch ihn
sie immer aufgetaucht. Erfinder dieser erzielten Ergebnisse. Die Räte ver-
Organe ist das revolutionäre Volk. Im- sammeln sich in bestimmten Abstän-
mer waren die Räte die spontane Ant- den und vor allem immer dann, wenn
wort der unterdrückten Massen gegen wichtige Probleme zur Lösung anste-
ihre Unterdrückter; stets kam in ihnen hen. Damit sie arbeitsfähig bleiben,
ein völlig entgegengesetztes Konzept sollten die Räte klein gehalten werden.
gesellschaftlicher Organisation zum (Es wäre z. B. unsinnig, einen Rat von
Ausdruck als das herrschende. Deutschland oder Hamburg zu bilden .)
Wir finden sie in der französischen Re- Jeder Rat ist grundsätzlich autonom
volution von 1789, in der Pariser (unabhängig) . Zur Bewältigung be-
Commune von 1871, in der russischen stimmter Probleme oder zur Bildung
Revolution von 1905 und in der Okto- von Räten, die sich überregional orga-
berrevolution sind sie ein fester Be- nisieren müssen (z. B. Transportwe-
standteil des revolutionären Prozesses. sen, Post usw.) wählt der Rat soge-
1918 finden wir sie in Kronstadt und nannte Delegierte. Grundsätzlich hat
1936 entwickeln sie sich zum Träger jedes Mitglied eines Rates das aktive
der Revolution - auch 1956 in Ungarn , und passive Wahlrecht, d. h. es kann
1969 in Italien und 1971 in Polen tau- wählen und gewählt werden. Die Dele-
chen sie wieder als Organe der Unter- gierten bilden dann wiedeI einen Rat,
drückten gegen ihre Unterdrücker auf. der sich nach denselben Prinzipien or-
Es gibt unzählige Beispiele mehr. ganisiert wie eben beschrieben. Hierbei
Die Räte sind sowohl geographische ist immer gewährleistet, daß die, die
als auch sachliche Organisationsfor- das meiste Vertrauen in der Cevölke-
men. Sie können sich überschneiden , rung genießen, und sich mit dem Pro-
d. h. es gibt z. B. den Rat eines Dorfes , blem , um das es gerade geht, bestens
einer Stadt oder eines Landstrichs, je auseinandergesetzt haben, gewählt
auch Größe und Einwohnerzahl. In werden . Im Gegensatz zum bürgerli-
diesem Gebiet organisieren sich Räte chen Parlament kennt jede/r seine De-
nach sachlichen Zusammenhängen , so legierten , den sie mit den Aufgaben
z. B. am Arbeitsplatz, in der Fabrik, im betrauen , gut. Dies ist eine klare Orga-
Transportwesen, in den Krankenhäu- nisation von Unten nach Oben. Die
sern, Universitäten und Schulen , auf Aufstellung von Delegierten ist im
den Bauernhöfen, ja sogar in den Fa- Grunde eine rein technische Angele-
milien, Stadtteilen und Bezirken. Es genheit, denn 7 Millionen Österreiche-
kann auch andere sachliche Zusam- rinnen können sich schlecht versam-
menhänge geben, wie den Rat der meln und noch weniger sich über ir-
Frauen, den der Alten, der Kör- gendwelche Probleme unterhalten .
per»behinderten«, der Verbraucher- Damit dies auch eine rein technische
Innen usw. Jeder Rat ist im Grunde Angelegenheit bleibt und die Delegier-
nichts weiter als die Versammlung aller tinnen ihre Position nicht mißbrauch-
Menschen, die unter einen bestimmten ten , werden sie immer nur für kurze
Bereich fallen und an ihm teilnehmen Zeit gewählt: meist nur für die Zeit die
möchten. Die Teilnahme und Mitarbeit nötig ist, diese oder jene Sache zu be-

31 I
waltigen. Die Delegierten werden aber rungsschichten bilden können. Die ge-
auch deshalb von Zeit zu Zeit ausge- sellschaftliche Organisation, Produktion
wechselt, damit möglichst viele Men- und Verteilung wird also rationell (ohne
schen fahig werden, Dinge zu beurtei- Umwege) und den Bedürfnissen des
len und Probleme zu lösen. Volkes entsprechend organisiert.
Wenn einE Delegierte/R gewählt ist. Eine bedeutende Bewegung der
bekommt er/sie von seinem/ihrem Rat Selbstverwaltung (= System der Ge-
einen Auftrag. Mensch sagt genau, samtheit aller Räte) finden wir vor al-
was zu tun und was zu lassen ist. Dies lem in Frankreich in der Mitte des vori-
ist die eigentliche Aufgabe des Rates, gen Jahrhunderts: die Genossen-
in ihm werden die anstehenden Pro- schaften.
bleme diskutiert; jede/r kann sich äu- Diese Zusammenschlüsse von Arbei-
ßern, jede/r kann argumentieren und tern, die sich ohne Chefs und Ingenieu-
es wird versucht die für alle einleuch- re , nur auf ihre eigene Kraft und ihre
tendste Lösung zu finden . Wird eine eigenes Wissen gestützt, daran mach-
Lösung vorgeschlagen, so können alle ten , ihre Fabriken zu leiten , ihren Wa-
sicher sein , daß sie von einer ganzen rentausch zu organisieren und ihren
Reihe Leute, die auf diesem Gebiet Verkauf zu regeln , haben zwar eine
Erfahrung haben, gewissenhaft durch- schnelle Ausbreitung gefunden, doch
diskutiert wird . Die Einzelheiten sind lag ihrem Konzept eine grundlegender
dann mehr oder weniger den Dele- Fehler zugrunde. Proudhon, einer der
gierten überlassen . Diese sind aber Väter des Genossenschaftsgedankens ,
wieder den ursprünglichen Räten lau- hatte versucht, sein revolutionäres Mo-
fend Rechenschaft schuldig . dell innerhalb einer noch funktionieren-
Weicht die Arbeit der Delegierten von den kapitalistischen Ordnung zu ver-
den Beschlüssen des Rates ab, ohne wirklichen. Man glaubte damals noch ,
daß es dafür vernünftige Gründe gibt, daß man so das bestehende System
werden diese sofort abgesetzt und überwinden könnte. Das war natürlich
neue Delegierte, die das Vertrauen falsch , insofern, als es dem Staat ein
besser rechtfertigen, gewählt. Dieses leichtes war, die Genossenschaften in
Prin: ' 0 nennt man imperatives Mandat. den finanziellen Ruin zu treiben oder
So e 'scheidet also in jedem Fall der zu zerschlagen.
unter. te Rat und nicht der Delegierten- Wie allen Versuchen , den Kapitalismus
rat, was gemacht wird. Wie wir sehen , auf friedlichem Wege abzuschaffen ,
löst dieses System alle Mängel , die wir erging es auch der Genossenschafts-
im Kapitel über die bürgerliche Demo- bewegung : sie wurde schließlich »ent-
kratie und über den autoritären Sozia- schärft« und dient heute unter anderem
lismus :in allen gegenwärtigen Syste- Vorzeichen zur Erhaltung und Kräfti-
men festgestellt haben. Das Rätesy- gung des Staatssystems. (vgl. auch
stem, mehr als einmal erprobt, garan- heute das Kibbuzsystem in Israel).
tiert eine echte lebendige Volksdemo- Arbeiterinnenselbstverwaltung finden
kratie in allen Lebensbereichen . Es wir in fast allen revolutionären Ereig-
sorgt dafür, daß jede/r die gesellschaft- nissen , die spontan und von keiner
liche Organisation gänzlich durch- Partei geführt, stattfanden. Auch heute
schauen, in sehr vielen Dingen mitre- können wir in einigen Landern Erhe-
den kann und daß sich keine Füh- bungen mit der Tendenz der Selbst-

L 32
verwaltung der Produzentlnnen beob- PARTEIEN
achten. (vgl. z. B. die Anfangszeit der
portugiesischen Revolution) .
Parteien sind zum Schlafen da - und
Diese Diskussion innerhalb der anar-
chistischen und rätekommunistischen
~um schrecklichen Erwachen!"
( Zeitung ,,883">
Bewegung ist unerhört wichtig, denn
sie kann möglicherweise im anarchisti-
Die Frage, ob mensch sich in Parteien
schen Sinne sein.
organisieren oder in bestehenden
Natürlich dürfen wir die Selbstverwal-
Parteien eintreten sollte, hat sich den
tung nicht mit der Mitbestimmung ver-
AnarchistInnen schon sehr früh ge-
wechseln. Diese, von reformistischen 1
steilt. Noch während der ersten Inter-
Gewerkschaften geforderte Verwal-
nationalen begann sich abzuzeichnen,
tungsform bedeutet keinesfalls Demo-
daß sowohl die revolutionären Marxi-
kratie, sondern nur ein kleines Zuge-
stinnen um Marx als auch die deutsche
ständnis an die Arbeiter, die an der tat-
Sozialdemokratie um Lasalle 1 sich in
sächlichen Unterdrückung nichts än-
Form von Parteien organisieren wür-
dert und in Wirklichkeit nur die Arbeite-
den .
rinnenschaft beruhigen soll.
Diese »Arbeiterparteien« waren zu-
nächst kleine Gruppierungen in den
verschiedenen Städten und Industrie-
zentren eines Landes. Sie betrieben
Propaganda unter der Arbeitprlnnen-

1 Unter REFORMISTISCH
bezeichnet mensch die politische
Strömung, die versucht, innerhalb
der Grenzen des Systems (und
ohne die Gesellschaft von Grund
auf zu ändern), ein menschliches
Systems aufzubauen.
Reformistisch ist also das
Gegenteil von radikal ; sie will das
System durch kleine Veränderung
umwandeln .

33
ist eilUlll'rI'IiCh Anarctlie ?
schaft und traten für einen Kampf ein, 1) Die Richtung der Partei war
der die Lebensbedingungen der Ar- nicht die soziale Revolution,
beiterinnen verbessern sollte. Die Ab- also der Umsturz der bestehenden ka-
schaffung der Kinderarbeit, die Verkür- pitalistischen Verhältnisse, sondern die
zung der Arbeitszeit, freies Streikrecht Verbesserung der Lebensbedingungen
und ahnliches stand auf ihrem Pro- innerhalb dieser Gesellschaft. Dies, so
gramm. argumentierten die Anarchistinnen, sei
Ihre Starke wuchs rasch und mit dieser ein mühevoller, unnötiger Umweg, der
Starke bildete sich fast automatisch ein nur vom eigentlichen Ziel ablenke. Tat-
großer Stamm an berufsmäßigen Par- sächlich hat sich zum Beispiel die
teiangestellten : Bürokratinnen, Schrift- deutsche sozialdemokratische Partei
stellerinnen, Rednerinnen usw. Diese gute 30 Jahre für die Einführung des
Leute, die sogenannten FunktionärIn- allgemeinen Wahlrechts herumge-
nen, entstanden selbst meistens nicht schlagen, von dessen Verwirklichung
der Arbeiterinnenschaft. Der ganze sie sich offenbar die Revolution oder
Parteiapparat unterstand einer Zentra- noch größere Wunder versprachen . Als
le, die die politische Richtung der Par- es dann durchgesetzt war, .brachte es
tei ausarbeitete und die Befehle an die nicht die geringste Änderung an der
einzelnen Ortsgruppen ausgab. Diese Situation der Arbeiterinnen .
haUen meistens nichts weiter zu tun ,
als diese Befehle auszuführen , neue 2) Die Organisation der Partei
Mitgliederinnen zu werben, und im üb- war zentral, autoritär und vom Staat
rigen pünktlich ihre Mitgliedsbeiträge leicht zerschlagbar. Man hätte nur das
zu zahlen. Die Parteien gaben ihre ei- Zentral büro verhaften müssen , und die
genen Zeitungen heraus, unterhielten Partei stände ohne Kopf da. Deshalb
ihre Parteischulen und versuchten ist die Partei weder in ihren Aktionen
schon bald , in den verschiedenen Re- beweglich, noch kann sie sich von tat-
gierungen an Gewicht zu gewinnen, sächlichen Bedürfnissen an ihrer Basis
und sich an der parlamentarischen Ar- leiten lassen, da die autoritäre Struktur
beit zu beteiligen . von unten nach oben nur sehr schwer
Waren diese Parteien zu Beginn ihrer zu durchdringen ist. (Für die einfachen
Entwicklung reine Zweckverbände der Arbeiterinnen war es nämlich fast un-
Arbeiterinnenbewegung, so war schon möglich, Einfluß auf die Politik »ihrer«
bald ihr wichtigstes Ziel die Wahlbetei- Partei zu nehmen .)
ligung, und die Erringung möglichst
vieler Stimmen im Wahlkampf. Um im 3) Die zentrale Organisation
Parlament viele Sitze zu bekommen bringt weiterhin die Gefahr mit sich,
und stark zu werden, mußte man viel daß sich eine riesige Schicht von be-
paktieren, und so wich man sehr zahlten Funktionärinnen bildet, die der
schnell ganz beträchtlich von den re- Arbeiterinnenbewegung nicht nur auf
volutionaren Vorsätzen ab. Es wird der Tasche liegt, sondern sie auch
nicht verwundern, daß die AnarchistIn- noch beherrschen möchte. Mit der Zeit
nen diese Organisationsform ablehn- bildet sich eine völlig neue kleine Klas-
ten. Sie kritisierten an ihr vier wichtige se - eine Kaste - die mehr an ihre eige-
Punkte: nen Vorteile und ihre Karriere als an
den Kampf der Arbeiterinnen denkt.

[ _____________3_4____________~
rung einer allgemeinen Räterepublik
4) Daraus ergibt sich, daß die und verteidigte zäh die bürgerliche
Partei im Falle einer Revolution not- Ordnung. Gegen dieselben Arbeiterin-
wendig hinter den revolutionären Mas- nen , deren Interessen sie einst vertre-
sen zurückbleiben muß. Wie ein zu ten sollte, setzte die Partei Polizei und
klein gewordenes Hemd wird sie der Militär ein. 2
Revolution nicht dienen, sondern sie Heute ist dieselbe SPO an der Macht.
lediglich einengen . Sie wird die Revo-
lution nicht vorbereiten , sie nicht be-
ginnen, sie nicht führen - sie wird ihr
hinderlich sein und meistens nur daran
denken, ihre Funktion , d. h. ihren An-
spruch auf eine Führung, aufrechtzuer-
halten.
Im übrigen haben wir bereits gesehen ,
daß das Wahlsystem ein simpler Be-
trug ist. Ein gefährlicher Selbstbetrug
ist es aber, zu glauben, durch die Teil-
nahme an diesem Betrug das System
abschaffen zu können .
War diese Kritik berechtigt?
Was die Sozialdemokratie betrifft, so
können wir ein ungeheures Anwachsen Wenn man es nicht überall lesen wür-
des bürokratischen Apparates feststel- de, man könnte es gar nicht merken:
len. In ihren Reihen waren um die von Sozialismus keine Spur! Also: ei-
Jahrhundertwende Millionen von Ar- nes der ekelhaftesten Beispiele einer
beiterinnen organisiert. 1912 war sie degenerierten Arbeiterl nnenpartei.
schon die stärkste Fraktion im Reichs- Auch für die andere Warnung der An-
tag . Und was tat sie? Hat sie die so- archistlnnen hat es eine bittere ge-
ziale Revolution begonnen? Sie saß schichtliche Bestätigun~ gegeben: die
seelenruhig auf ihren Parlamentsbän- Partei der Bolschewiki.
ken , hielt geschliffene Reden mit den Diese Partei , eine Abspaltung der rus-
bürgerlichen Politikern und trat noch sischen Sozialdemokratie, hatte zwar
immer für Lohnerhöhungen , bessere den Reformismus ihrer Mutterpartei
Wohnungen und dergleichen ein . Als kritisiert, aber die Organisationsform
Kaiser Franz-Josef den 1. Weltkrieg der Partei beibehalten . Sie erhob sich
anzettelte, stimmten die Sozialdemo- selber zur »Avantgarde des Proletari-
kraten zu und sorgte dafür, daß die Ar- ats« und war straff und autoritär orga-
beiterlnnenschaft in den Krieg zog . nisiert. Ihr Ziel war es, unter ihrer Füh-
Als sie nach dem Zusammenbruch der rung einen Aufstand zu beginnen , die
Donaumonarchie mehr aus Versehen Macht im Staat zu übernehmen und
und ohne es eigentlich gewollt zu ha- einen Sozialismus nach Marx'schem
ben, an die Macht kam , hatte sie ihre Muster einführen. 4
revolutionären Ziele längst aus dem Von dem revolutionären Bewußtsein
Gedächtnis verloren . So wehrte sie des Arbeiters hielt die Partei nicht all-
sich mit allen Mitteln gegen die Einfüh- zuviel. Ihr Führer, Wladimir IIjitsch Le-

35
i 'Was ist a·"".........ich Anarchie 1..
nin, schreibt in seinem Buch »Was halten. Sie ist ein Hemmschuh der Re-
tun?«, daß der Arbeiterinnen lediglich volution.
trade-unionistisches Bewußtsein 5 ent- Dem Partei modell setzen die Anarchi-
wickeln könne, und das für den politi- stInnen eine Organisation revolutionä-
schen Kampf eine Avantgarde vorhan- rer Arbeiterinnen entgegen, die vom
den sein müsse. - Damit meinte er täglichen Kampf in den Betrieben
selbstverstl:indlich seine eigene Partei. kommt. Diese »Betriebskomitees« or-
Als die Revolution im Februar 1917 in ganisieren sich nach dem Rl:iteprinzip
Rußland begann, war diese Partei da- und kämpfen für revolutionäre Ziele.
von sehr überrascht. Sie hatte die gan- Politische Tagesforderungen setzen sie
ze Bewegung verschlagen. Zunächst spontan mit dem Mittel der direkten
zog sie mit, und kl:impfte unter den Aktion durch .
gleichen Parolen »alle Macht den Rä-
ten« an der Seite der Anarchistinnen
und Sozialrevolutionäre mit dem Volk
für die Revolution. Das war nur ein tak-
tischer Zug, die Bolschewiki warteten
nur solange, bis sie sich von ihrem
Schrecken erholt hatten und wieder
stark genug geworden waren. Dann
zerschlugen sie erst einmal mittels ih-
res starken Apparates die anarchisti-
schen und sozial revolutionären Orga-
nisationen und machten dann Schritt
für Schritt die Revolution wieder rück-
gl:ingig. Die Räte wurden entmAchtet,
Polizei und Armee wieder aufgebaut,
die Bürokratie hielt überall großen Ein-
zug und eine neue Kaste reicher Funk- 1 FERDINAND LASALLE , gründete 1863 den »All-
gemeinen deutschen Arbeiterverein« , aus dem später
tionärlnnen nistete sich in der Regie- die SPD hervorging. Er war zwar von Marx beeinflußt
run~ ~in . 6 Die letzten Erhebungen ge- und arbeitete mit ihm zusammen , aber sein Sozialis-
gen lie Parteidiktatur wurden blutig mus hatte starke nationale Anflüge (So strebte er z.B.
auch im Gegensatz zu Marx ein sozial und demokra-
niede geschlagen 7, und nach knapp tisch ausgerichtetes Königtum an.) Ihm sind die
20 Jahren unterlag ganz Rußland der Grundlagen für die starken deutschen Gewerkschaf-
Diktatur eines einzelnen Mannes: Josef ten zu verdanken.
2 Vgl. auch: »Geschichte, Weimarer Republik sub-
Stalillc;, der seinen Weg zur Macht mit versiv «,
den '-eichen zehntausender seiner Verlag Roter Stern , Frankfurt 1973.
Parteig8nosslnnen gepflastert hatte . 3 Die russische Sozialdemokratie spaltete sich auf
ihrem Londoner Parteitag 1903 in eine Mehrheits-
Von Sozialismus keine Spur, von Frei- frakti on, die BOLSCHEWIKI und eine Minderheiten-
heit erst recht nicht. fraktion , die MENSCHEWIKI. Die erstere war die
Partei Lenins, letzterq war sozialdemokratisch einge-
Auch heute noch lehnen die Anarchi- stellt.
stinnen eine Parteiarbeit ab. Sie lenkt 4 Eine solche HALTUNG , in der eine kleine, meist
vom eigentlichen Ziel ab und ist nicht in intellektuelle Minderheit einen Aufstand anzettelt,
nennt man putschistisch (womit nicht gesagt ist, daß
der Lage, im Fall einer Revolution mit die Revolution 191 7 ein Putsch wari) .
den revolutionären Massen Schritt zu

L-______ _ ________ _
36
\lias ist eigentlich Anarchie·7 . ~. .
PROBLEME DER Phase nicht die nötige Schlagkraft be-
saßen. Diese bittere Erfahrung haben
AVANTGARDE
die spanischen AnarchosyndikalistIn-
nen machen müssen. Sie begannen
Revolutionäre haben die Verpflich-
wiederholt bewaffnete Aufstände ge-
tung, anderen zu helfen, ebenfalls Re-
gen die Regierung, die nach anfängli-
volutionäre zu werden, aber nicht die
chem Erfolg wegen der schlechten
Verpflichtung, Revolution zu "machen".
überregionalen
Und solche Aktivität ist
Organisation blutig
nur möglich, wenn der
zerschlagen wurden.
Revolutionär oder die
(hier soll kein Zen-
Revolutionärin zuerst
tralismus propagiert
bei sich selbst . mit der
werden, aber es hat
Veränderung anfan-
sich gezeigt, daß es
gen."
notwendig ist, daß
( Murray Bookchin >
die revolutionären
Aktivitäten der Räte
aufeinander
abgestimmt werden
Ein System von müssen , damit die
Betriebskomitees und Räte nicht zersplittert
Räten, ja selbst eine agieren und ihre
starke Kräfte verzetteln.)
anarchosyndikalistische
Je nachdem wie
Bewegung reicht aber
stark der Terror des
nicht aus, um eine Staates ist, arbeitet
Revolution effektiv die Avantgarde einer
vorzubereiten und durch-
Revolution mehr
zuführen : es müssen oder weniger stark
Leute vorhanden sein , konspirativ (geheim).
die sich in bestimmten Konspiration
Gebieten auskennen , bedeutet für die
die sich auf die Anarchistinnen
Vorbereitung der allerdings nicht, als
Revolution selbsternannte Chefs
konzentrieren, die der proletarischen
Unternehmungen Massen, diese zu
planen und durchführen putschistischen Aben-
können , ohne dabei auf teuern anzustiften .
ihre Arbeit oder Bakunin nannte die konspirativen Or-
ähnliche Verpflichtungen Rücksicht ganisationen, die er selbst mitbegrün-
nehmen zu müssen . dete die »Geburtshelfer« der Revolu-
Vor allem in den Aufständen vor (und tion. ' Natürlich ist die Avantgarde nicht
z. T auch während) der spanischen mit der Masse der Revolutionärinnen
Revolution sah mensch, daß dezen- zu verwechseln , der revolutionären
trale Räte in der vorrevolutionären Armee die aus dem Volke selbst
37 ' I
kommt. »Die Armee muß immer das sonstwie geistig zu betatigen. Auch
Volk sein« , nie kann und darf es diese fehlte ihnen oft die finanzielle Möglich-
Aufgabe an eine intellektuelle Minder- keit, sich langere Zeit revolutionär zu
heit abgeben. Diese Individuen müssen betätigen.
im revolutionaren Kollektiv »aufgelöst« Woran es heute liegt, daß z.B. in
sein, dürfen also keine Autoritäten bil- Deutschland meist Intellektuelle meist
den. In »Staatlichkeit und Anarchie« eine Avartgarde darstellen, ist ein voll-
beschreibt Bakunin eingehender die kommen anderer Grund. Zum Teil liegt
Rolle solcher Kader: »diesen Schichten dies ,in der faschistischen Vergangen-
(gemeint sind: den Proletarierinnen) heit Deutschlands begründet, die be-
schließen sich aus der bürgerlichen wirkt, daß die Menschen durch die
Welt nur einige Individuen an, die der Massenmedien in einem total unpoliti-
Klassen, der sie entstammen, den schen Zustand gehalten werden; Bür-
Rücken gekehrt und sich völlig den In- gerinneninitiativen werden verteufelt,
teressen des Volkes angenommen ha- und die Illustrierten, die in Millionen
ben , weil sie die gegenwärtige Ord- Auflagen verkauft werden, bauschen
nung , sei es nun die politische, soziale unwichtige und unpolitische Kleinig-
oder ökonomische, von ganzem Her- keiten immens auf) .
zen hassen .« - Aber zurück zur intellektuellen Avant-
Bakunin spricht garde: »diese
hier vornehmlich Individuen sind
von Kadern aus nicht zahlreich, aber
der bürgerlichen dafür wertvoll,
Klasse; natürlich unter der
natürlich Bedingung, daß sie
kommen auch durch ihren Haß auf
sehr viele aus das
den Reihen des Herrschaftsstreben
Proletariats, der Bourgeoisie in
besonders sich selbst auch die
wahrend sehr letzten. , . Überreste,
revolutionärer von persönlichem
Epochen ; oft Ehrgeiz gelöscht ha-
sind es aber ben - in diesem
tatsachlich Falle, so wiederhole
hauptsachlich ich, sind sie wirklich
Personen aus wertvoll.
dem Bürgertum, Das Volk schenkt
die ihren Klassen den Rücken kehren ihnen Leben, elementare Kraft und ein
und zur Avantgarde werden . (dies war Aktionsfeld; als Gegenleistung bringen
vor allem zu Bakunins Zeiten der Fall , sie ihre positiven Kenntnisse mit, Me-
als die Arbeiterinnen und Bauerinnen thoden der Abstraktion und der Analy-
taglich zwischen 12 und 16 Stunden se, sowie die Kunst, sich zu organisie-
arbeiteten. Wenn sie dann nach hause ren, Allianzen zu bilden, die ihrerseits
kamen, hatten sie meist andere Sor- diese aufgeklärte, kämpferischen Kraft
gen , als Bücher zu lesen oder sich

38
Was ist eigentlich Anarchie?
bilden, ohne die der Sieg unerreichbar rächt hatten, zu befreien und ihn
bleibt.« gleichzeitig durch neue, lebendige
»Damit sie (die Kader) aber handeln, Elemente aus dem Marxismus und
müssen sie vorhanden sein und dazu durch Erfahrungen aus der russischen
muß man sie vorbereiten und im Vor- Revolution zu bereichern.
aus organisieren, denn sie wird nicht Gortier sprach von Avantgarde , von
ganz von selbst entstehen - weder Parteien, deren Verhältnis zu den Mas-
durch Diskussion, noch durch Ausein- sen nicht in einem hierarchischen Füh-
andersetzungen und prinzipielle De- rungsanspruch bestehen sollte, die al-
batten, noch durch Volksversammlun- so keine Organisation für das Proleta-
gen. « (Bakunin, gesammelte Werke riat sein sollte, die nicht die eigene
Bd. 3, Seite 97) Stärkung, sondern die der Klasse be-
Und was ist nun die Funktion der treiben sollte. Hat das Volk erst einmal
Avantgarde in der Revolution? triumphiert und sich nach freiheitlichen
Auch hierüber hat sich Bakunin schon Prinzipien organisiert, haben diese
sehr früh geäußert: Avantgarden keine Funktion mehr, sie
»sie läßt der revolutionären Bewegung verschwinden.
der Massen ihre volle Entwicklung und Diese Art der Avantgarde wirkt also wie
ihren sozialen Aufbau von unten nach in der Chemie ein Katalysator: d.h. sie
oben durch freiwillige Föderationen und macht die Revolution nicht selbst, son-
die unbedingte Freiheit, aber sie wacht dern gibt in günstigen Gelegenheiten
stets darüber, daß hierbei nie Autori- nur den Anstoß dafür. Hat die Revolu-
täten, Regierungen und Staaten wieder tion gesiegt, ist er überflüssig gewor-
gebildet werden können und bekämpft den .
jeden Ehrgeiz, sei er kollektiv oder in-
dividuell, durch den natürlichen, nie of-
fiziellen Einfluß aller Mitglieder unserer
Allianz. .. « (Spanische Brieffragmente,
gesammelte Werke Band 3, Seite 103)
Die Bewegung in der freien Ukraine
oder die spanische Revolution hat bei-
spielsweise in Nestor Machno oder
Buenaventura Durruti 1 typische Kader
dieser Prägung hervorgebracht.
Nach den bitteren Erfahrungen der
russischen Revolution ist diese anar- 1 BUENAVENTURA DURRUTI, legendärer anarchi·
stischer Stadtguerilla und späterer Heerführer gegen
chistische Konzeption der Avantgarde die Francisten. Eine Biographie Durrutis mit vielen
erneut aufgegriffen worden und hat ihre eindrucksvollen Beschreibungen über die Schwierig.
keiten des spanischen Bürgerkriegs ist im Suhrkamp
moderne Fassung erhalten . Verlag , Frankfurt, erschienen: Hans Magnus Enzens·
Rosa Luxemburg, Otto Rühle, Anton berger »Der kurze Sommer der Anarchie« zu dem
Pannekoek, Herman Gorter und Karl Kaderprobem vergleiche auch P. Arschinoff: »Die
Mach no·Bewegung« , Kramer Verlag , Berlin und
Korsch waren die bedeutendsten Theo- •• Nacht über Spanien - Anarchosyndikalisten in Re-
retikerlnnen dieser neuen Richtung . volution und Bürgerkrieg 1936,1939, vgl freie Ge- ·
Ihre große Leistung war es, den tradi- seilschaft, Frankfurt 1975
tionellen Anarchismus von lästigem
Ballast und Dogmen , die sich bitter ge-
39
Was ist eigentlich Anarchie 7 ]
PHLOSOPHISCHE zem Herzen und unter vielen Opfern
GRUNDLAGEN für eine Sache einsetzen . Sind also
Materialistinnen Leute, die nur an ihren
Vorteil denken, Geld scheffeln - Egoi-
».. . Wenn der Mensch den Naturgeset-
stlnnen?
zen gehorcht, so ist er doch keines-
Wir müssen hier streng zwei ganz ver-
wegs Sklave, da er nur Gesetzen ge-
schiedene Definitionen voneinander
horcht, die seiner eigenen natur Inne-
wohnen, unter deren Voraussetzung er
existiert und die sein ganzes Wesen
ausmachen: wenn er ihnen gehorcht,
gehorcht er sich selbst. .
Und dennoch gibt es im Schoße dIeser
selben Natur eine Sklaverei, von der
der Mensch sich freimachen muß, will
er auf sein Menschentum nicht ver-
zichten: es ist die natürlich Welt, weI-
che Ihn umgibt und die man gewöhn-
lich die äußere Natur nennt. Es ist die
Gesamtheit der Dinge, der Erschei-
nunger. und der lebenden ",:"esen, die
trennen , die nichts miteinander zu tun
ihn beständig von allen Seifen umrin-
haben : den volkstümlichen Begriff von
gen und entwickeln - allerdings könnte
Idealismus und Materialismus, den wir
er ohne sie und außerhalb von Ihnen
soeben beschrieben haben, und philo-
keinen einzigen Augenblick leben -
sophischen Begriff. Den meisten ist
trotzdem scheinen sie sich gegen Ihn
dieser Unterschied nicht bekannt, und
verschworen zu haben, sodaß er j eden
sie werfen beide Erklärungen unent-
Augenblick seines Lebens gezwungen
wegt durcheinander, Deshalb wollen
ist, sein Dasein gegen sie zu behaup-
wir hier ganz kurz (und sehr verein-
ten. Der Mensch kann diese äußere
facht) auf diese Unterschiede einge-
Welt nicht entbehren, weil er nur in ihr
hen ,
leben tnd auf ihre Kosten sich nähren
Der philosophische Begriff Idealismus _
kann - Ind gleichzeitig muß er sich ge-
Materialismus dreht sich um die Frage:
gen S/l ' schützen, weIl diese Welt Ihn
was bestimmt was - bestimmt das Sein
immer vernichten zu wollen scheint. «
(d , h. die Verhältnisse, in denen ein
Mensch lebt) das Bewußtsein , oder ist
Der m0derne Anarchismus ist wie der
es umgekehrt? Anders ausgedrückt:
Marxismus ein Kind der ArbeiterInnen-
sind das Leben , der Mensch , seine
bewegung des . kapitalistischen Sy-
Gedanken , aus einer langen geschicht-
stems, und ebenso wie der Marxismus
lichen Entwicklung entstanden , oder
baut der Anarchismus philosophisch
sind sie Produkt einer allmächtigen
auf dem Materialismus auf,
»Idee« , einer höheren Kraft, die apriori
Was ist Materialismus? Das Gegenteil
(also unabhängig vom menschlichen
von Idealismus, wird man sagen , und
Individuum) existiert? 1
als Idealisten uezeichnet man für ge-
Überträgt man beide Systeme auf das
wöhnlich Menschen , die sich mit gan-
menschliche Zusammenleben , so stellt
40
Was ist eigentlich Anarchie 7
sich die Frage etwas anders: sind un- oder die Materialisten? Wenn die Frage
sere Ideen, unsere Handlungen und erst einmal so gestellt ist, wird ein Zau-
Aktionen von einer »Idee«, von einem dern unmöglich: ohne jeden Zweifel
idealen Ziel, daß Gott oder wer auch haben die Idealisten unrecht und nur
immer gestellt hat, geleitet, entwickelt die Materialisten recht. Jawohl, das
es sich zwangsläufig zu Ideal ist, so wie Proudhon
einem Idealzustand hin (wie sagt, nur eine Blume,
z. B. Paradies, vollkom- deren Wurzeln die
mener Mensch, das Gute, materiellen
Schöne, die Harmonie o. Existenzbedingungen
ä.) , oder aber ist es die bilden. Jawohl, die ganze
Vorstellung der Menschen geistige, moralische,
und damit die Geschichte, politische und soziale
abhängig von der Umwelt, Geschichte der
von den ökonomischen Menschheit ist eine
Verhältnissen einer Reflex ihrer wirt-
Bestimmten Epoche, von schaftlichen Geschichte. «
der Entwicklung der Technik Trotzdem hat der
und der Wissenschaft, vom materialistische
Stand der sozialen Kämpfe? Standpunkt auch seine
Für den anarchistischen Tücken , weil in
Denker Bakunin ist der ihm nämlich die Gefahr
Mensch (zwar nicht aus- einer verhängnisvollen
schließlich), aber Diffamierung liegt: viele
überwiegend von den Leute meinen, wenn doch
materiellen Umständen die Geschichte nach
abhängig . Hat ein Kind z.B. Gesetzmäßigkeiten
arme Eltern, wächSt es in ablaufe, wenn die Ideen
einer aggressiven und der Menschen von ihrer
brutalen Umwelt auf, lernt Umwelt abhängen, so
und sieht es schon könne man ja sowieso
frühzeitig, daß es, um zu nichts tun, denn alles
überleben, Gewalt an- werde ja von alleine.
wenden, stehlen, sich Diese Meinung war seit
wehren muß, so wird es sich Ende des vorigen
vollkommen anders ent- Jahrhunderts in der
wickeln, als wenn es in Sozialdemokratie sehr
einem wohlbehüteten , verbreitet »Wir brauchen
reichen Elternhaus ja keine Revolution mehr
aufwachsen würde, keinen zu "machen", sondern nur
Mangel an lebenswichtigen Gütern auf sie zu warten, denn nach den histo-
kennen, und z.B. als frommer Christ rischen materialistischen Gesetzmä-
erzogen würde. ßigkeiten kommt sie ja ganz von alIei-
So schreibt z.B. Bakunin zur Ausein- ne.({ Diese revisionistische Haltung 2
andersetzung Idealismus - Materialis- hat mit der materialistischen Anschau-
mus: »Wer hat Recht, die Idealisten ung von Marx nichts mehr gemein. Im

41 ~
I
Gegenteil nähert sie sich wieder stark Das politisch-sozialökonomische En-
dem Idealismus, in dem sie nämlich gagement darf deshalb nicht so sehr in
den »geschichtlichen Prozeß« ähnliche der Reflexion und Meditation, als viel-
Funktionen wie dem lieben Gott zu- mehr in der Revolte(sowohl der geisti-
kommen läßt: von ihm erwartet man gen wie der tätigen) zum Ausdruck
sich das Heil bzw. die Revolution . kommen.
Dieser Anschauung liegt der Fehler »Weg mit allen religiösen und philoso-
zugrunde, daß die Wechselbeziehung phischen Theorien! Sie sind nur eine
zwischen dem menschlichen Willen , Lüge die Wahrheit ist keine Theorie,
der ohne Zweifel von seiner Umwelt sondern die Tat, des Lebens selbst.«
geformt wird, und der Umwelt selbst (Bakunin)
vernachlässigt wird ; beide beeinflussen »Welt und Mensch werden fortan nicht
sich gegenseitig (= dialektische Bezie- mehr nur interpretiert, sondern qualita-
hung): Mein Wille setzt sich in die Tat tiv verändert, wie Bakunin und Marx
um, und diese Tat beeinflußt, wenn übereinstimmend fordern . Die antme-
auch in kleinem Maße, meine Umwelt, taphysische Philosophie der Tat Ba-
denn diese Umwelt ist ja (vom zwi- kunins stellt sich als oberste Aufgabe,
schenmenschlichen Standpunkt her die vollständige Humanisierung der
gesE:hen) nichts weiters als die Summe wirklichen Lage aller wirklichen Indivi-
aller Taten aller Menschen . duen , die auf der Erde geboren wer-
Der Materialismus verneint also den den , leben und sterben .«
Willen nicht, sondern erklärt ihn
Die Phiiusophen bis zum Beginn der
Neuzeit sahen den Menschen im mer
von einer über ihm stehenden Macht
bestimmt - sei es einer der Ideen , der
allgemeinen Vernunft oder Gottes.
Menschliche Theorie war immer Spie-
gelfeld göttlicher Theorie, d.h. geistiqer
Anschauung deren Übermacht alles I
1 In dieser Fragestellung kommt die Gegensätzlich-
bestehende vorherbestimmte . Erst et- keit zwischen Wissenschaft und Metaphysik zum
wa Ende des 18. Jahrhunderts ent- Vorschein .
deckten sie die Macht des Bewußt- 2 REVISIONISTISCH : revidieren = überprüfen , än-
dern ; gemeint ist Marxa: Revolutionstheorie.
seins und die gestaltende Tätigkeit des Als Hauptvertreter des Revisionismus in der Sozial-
menschlichen Subjekts. Auf dem Hö- demokratie Ende des vorigen Jahrhunderts gilt vor
hepunkt dieser philosophischen Ent- allem Eduard Bernstein . Hauptmerkmal ist die Hin-
wendung zu Reformen und die Leugnung der Not-
wicklung kam es zu einer nie dagewe- wendigkeit der Revolution. Kautsky erhob zwar noch
senen Verkündung der Freiheit des den Anspruch, auf der Grundlage des Klassenkamp-
menschlichen Geistes, »wobei Freiheit fes zu stehen, deckte jedoch in der Realität die
Handlungsweise seiner Partei, die sich mehr und
nicht nur als sittliches Moment begrif- mehr reformistisch verhielt. Bernstein dagegen for-
fen (wurde) , sondern als souveränes 3 derte ihn auf, konsequent zu sein, den Klassen-
entwerfen können von Welt und Seien- kampf, (den er für überholt hielt), anzulehnen und
sich für Wahlen , Parlamentarismus und Sozialrefor-
den, die zum bloßen Material der Tä- men einzusetzen. Für ihn bedeutete »Das Endziel
tigkeit des autonomen Subjekts herab- nichts, die Bewegung alles ... «
sehen kann .« 3 selbständiges , unabhängiges Handeln

42
---------- J
»Ich verabscheue den Kommunismus/ weil
er die Negation der Freiheit ist und weil
ich mir nichts menschenwürdiges ohne
Freiheit vorstellen kann. Ich bin deshalb
nicht Kommunist/ weil der Kommunismus
alle Macht der Gesellschaft im Staat
konzentriert und aufgehen läßt weil er
notwendig zur Zentralisation des Eigentums
in den Händen des Staates führen muß/
während ich die radikale Abschaffung des
Staates wünsche/ die radikale Ausrottung
des Autoritätsprinzips und der
Vormundschaft des Staates/ die unter dem
Vorwand die Menschen sittlich zu erziehen
und zu zivilisieren/ sie bis heute
versklavt,unterdrückt ausgebeutet und
verdorben hat. Ich wünsche die
Organisierung des sozialen Eigentums von
Unten nach Oben auf dem Weg über die
freie Assoziation und nicht von Oben nach
Unten mit Hilfe irgendeiner Autorität wer
immer sie sei. «

( Michail Bakunin (

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