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Holm Roch

Biografische Notizen 1938 bis 2008

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© Alle weitergehenden Rechte verbleiben beim Autor.

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Vorwort
Die folgenden biografischen Notizen sind in einzelnen Etappen zwischen 2003 und 2008 ent-
standen. Im ersten Teil beschreibe ich meine Kindheit und Jugend während der Kriegs- und
Nachkriegszeit. Die Überschrift "Bleem oder nieber machn" nimmt eine Frage auf, die das
Leben der Menschen in meiner Heimatstadt Leipzig und überall im Osten seit dem Ende des
zweiten Weltkrieges bestimmte: Sollen wir hier bleiben oder "nieber machn", also: in den
Westen gehen. Hunderttausende haben, bevor der Bau der Berliner Mauer dem Weggehen ein
Ende setzte, ihre Heimat verlassen und im Westen neu angefangen. Ich habe diesen Schritt
1958 getan. Da war ich zwanzig Jahre alt.

Der zweite Teil beschreibt meine “Lehr– und Wanderjahre” (1958 bis 1969), also das Studi-
um in Bonn und Mainz, die nachfolgende kirchliche Ausbildung am Predigerseminar in Her-
born, die Promotion an der Ruhr-Universität in Bochum und das Vikariat in Essen-Heisingen.

Die Nachkriegszeit, die Zeit des Wiederaufbaus ging zu Ende. Die auffallendsten Kriegsschä-
den – zerbombte Städte, zerstörte Brücken, kaputte Straßen – waren beseitigt. Es ging auf-
wärts. Von Jahr zu Jahr gab es immer mehr „Wohlstand für alle“. Erst besaß man ein Moped,
dann einen Motorroller, schließlich sogar einen Kleinwagen. Anders als heute wurden Ar-
beitskräfte dringend gebraucht, bald musste man sie sogar im Ausland anwerben. Das Leben
verlief berechenbar. Wer einen Beruf erlernte oder studierte, bekam mit Sicherheit einen Ar-
beitsplatz und konnte darauf vertrauen, bis zur Rente ein festes Einkommen zu haben - von
Jahr zu Jahr immer etwas mehr.

Das gesellschaftliche Klima war in jener Zeit eher konservativ und bewahrend als neugierig
und kreativ. Man hielt die mühsam wiederaufgebaute Ordnung für die beste aller Welten. Wer
das bezweifelte, vielleicht sogar alternative Vorstellungen entwickelte, der bekam schnell den
Rat „Wenn es dir hier nicht passt, kannst du ja gleich nach drüben gehen!“

In dieser Gesellschaft hatte die Kirche ihren festen Platz als Hüterin konservativer Werte.
Man muss sich nur einmal anschauen, wieviel Raum sie im neu aufkommenden Fernsehen
einnahm. Von den Kirchentagen wurde damals stundenlang berichtet, heute reicht eine zu-
sammenfassende Viertelstunde kurz vor Mitternacht im dritten Programm. Es herrschte eine
große Angst vor allem, das mühsam Erworbene zu bedrohen schien, insbesondere Sozialis-
mus und Kommunismus waren gefürchtet wie die Pest. Mit antikommunistischen Parolen
ließ sich jede Bundestagswahl gewinnen. So baute sich ein gewaltiger Reformstau auf, der
dann in den 68ern gewaltsam zum Durchbruch kam.

Im dritten Teil geht es um meine erste Pfarrstelle in Essen-Steele (1969 bis 1976). Es handelt
sich um jene Phase des Berufslebens, die gern mit dem Begriff „Praxisschock“ bezeichnet
wird. Die eigenen beruflichen Wünsche und Hoffnungen treffen auf die harten Realitäten. Da
ist manches anders als erwartet. Das, worauf man sich gefreut hat, nimmt nur einen Teil des
beruflichen Alltags ein. Routinearbeit, Sitzungen und Besprechungen kosten eine Menge
Zeit. Das Zusammenraufen mit Menschen, die teilweise völlig andere Vorstellungen von ei-
ner Kirchengemeinde haben, verbraucht Energie. Andererseits ist man als Berufsanfänger
noch weit vom „burn out“ entfernt, steckt voller Tatendrang und empfindet die neue Situation
als Herausforderung.

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Meine ersten Berufsjahre fallen in eine Zeit großer gesellschaftlicher Umbrüche. Eine neue
Generation war herangewachsen und wendete sich gegen die Werte und Ziele der Elterngene-
ration. Selbstbestimmung statt Anpassung, Überwindung bürgerlicher Normen, Aufstand der
Basis (des „Volkes“ wie man gern sagte) gegen seine Unterdrücker waren angesagt. Überall
gärte es. Die Kirche blieb von diesen Erschütterungen nicht verschont. Kirchenreform war
ein gängiges Schlagwort und es erschienen zahlreiche Bücher mit Vorschlägen, was man alles
anders machen müsse. Einige meinten sogar, dass man bald ganz auf die Kirche verzichten
könne. Hinzu kam, dass nach der Engführung der Hitlerzeit und den Jahren des Wiederauf-
baus der Blick zunehmend über den eigenen Tellerrand hinweg nach draußen wanderte. Da
sah man, dass Kirche in anderen Ländern ganz anders aussieht. Sie hat keine so enge Bin-
dung an den Staat wie bei uns, lebt nicht von Kirchensteuern - und ist doch kreativ und mun-
ter. Sie hatte auch längst Lösungen für Probleme, die in Deutschland ganz neu wahrgenom-
men wurden. Klinisches Seelsorgetraining, Gruppenpädagogik und Gemeinwesenarbeit sind
nur einige Beispiele für Arbeitsformen, die in den 70er Jahren neu zu uns kamen.

Von den genannten gesellschaftlichen Veränderungen war ich in meiner Gemeinde nur indi-
rekt betroffen. Hier fanden keine Straßenschlachten zwischen Studenten und Polizisten statt.
Es wurden auch keine US-Fahnen verbrannt. Und doch spiegelte sich die allgemeine Bewe-
gung, der Zeitgeist, natürlich auch in dem Mikrokosmos, den so eine einzelne etwas abgele-
gene Kirchengemeinde wie die in Horst-Eiberg, darstellt.

Der vierte Teil meiner autobiografischen Notizen umfasst die zehn Jahre, die ich mit meiner
Frau Erika und unserem Sohn Dominik in Koblenz zugebracht habe (1976 bis 1986). Rück-
blickend erscheint mir dieses Jahrzehnt wie ein „Goldenes Zeitalter“. Das liegt einmal an
meinem damaligen Lebensalter. Die Zeit zwischen Vierzig und Fünfzig ist eine Lebensphase,
in der man noch „voller Saft und Kraft“ dabei ist, ohne sich Gedanken über das spätere Alter
und die damit verbundenen Einschränkungen zu machen. Es liegt auch an den interessanten,
vielfältigen Aufgaben, mit denen ich es in Koblenz zu tun bekam. Und es liegt daran, dass ich
in ein Geflecht freundschaftlicher Beziehungen eingebettet war. Ich denke mit großer Dank-
barkeit an diese Zeit und alle Menschen, die mich damals unterstützt und angeregt haben, zu-
rück.

Im fünften Teil beschreibe ich meine Tätigkeit als landeskirchlicher Pfarrer für Familienbil-
dung (1986 bis 1995) und die nachfolgende Arbeit bei der Erwachsenenbildung hier im Kir-
chenkreis bis zum Beginn des sog. Ruhestandes (1996 bis 2001). Dieser Lebensabschnitt
spielt in Iserlohn, einer Stadt am Rande des Sauerlandes, die für Erika und mich zur neuen
Heimat geworden ist. 1986 sind wir aus Koblenz hierher gezogen, zunächst in ein Reihen-
haus in der Bertholdstraße, dann in unsere Alterswohnung in der Iserlohner Heide, einem
Neubaugebiet aus den 70er Jahren.

Von meiner Kindheit in Leipzig-Gohlis bis hierher war es ein weiter Weg, dessen Stationen
hauptsächlich durch meinen Beruf bestimmt wurden. Dass ich einmal endgültig in Westfalen
landen würde, war nicht vorauszusehen. Überrascht hat mich, dass es eine Parallele zu mei-
nen Kindertagen gibt: der Ortsname Gohlis stammt aus dem Sorbischen und bedeutet soviel
wie „draußen in der Heide“. „In der Heide“, nämlich in der Iserlohner Heide, wohne ich jetzt
wieder.

Nachdem ich meine Notizen zum Abschluss gebracht hatte, wollte ich allen Teilen ein glei-
ches Aussehen geben und sie zu einem einzigen Heft zusammenfügen. Dabei ist die vorlie-

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gende Fassung entstanden. Sie unterscheidet sich nur unwesentlich von den Einzelheften, die
es vorher gab. An einigen Stellen habe ich den Text geringfügig verbessert. Die Fotos habe
ich aus der Download-Fassung herausgenommen.Im Jahre 2008 habe ich dann noch ein neu-
es Kapitel über die ersten sieben „Rentnerjahre“ angefügt.

Schwierigkeiten hatte ich, eine gemeinsame Überschrift für alle Kapitel zu finden. Gibt es so
etwas wie einen “roten Faden” oder ein durchgängiges Motiv in meinem Leben? Ich habe
mich für den Titel “Zwischen den Stühlen” entschieden, denn ich war immer zwischen unter-
schiedlichen Welten zu Hause. Meine Kindheit verbrachte ich in einem kleinbürgerlichen Be-
amtenmilieu. Wir waren nicht arm, aber auch nicht reich, wir waren dazwischen. Mein Vater
stammte aus Sachsen, meine Mutter kam aus Baden, wieder so ein Zwischending. Den anti-
kirchlichen Sozialismus der DDR lehnte ich ab, neigte aber dem religiösen Sozialismus zu.
Mit zwanzig Jahren floh ich aus der DDR in den Westen, wurde aber nie ein richtiger “Wes-
si”, sondern blieb ein Zwischenwesen. Erst wollte ich Grafiker werden, als das nicht ging,
wurde ich Pfarrer, suchte mir aber immer wieder Aufgaben bei denen ich meine ursprüngli-
chen Interessen einbringen konnte. Als Pfarrer war ich meinen Vorgesetzten nicht fromm ge-
nug, aber natürlich war ich auch kein Atheist. In meiner ersten Gemeinde war ich den Leuten
zu politisch, später, als Studentenpfarrer, war ich den Kollegen nicht politisch genug. Manche
religiösen Überzeugungen, vor allem zum Thema Jenseits und zum Weiterleben nach dem
Tod, sind mir fremd. Andererseits halte ich den christlichen Glauben für eine positive, welt-
verändernde Kraft. Zehn Jahre lang war ich für die Familienbildung in der Westfälischen Kir-
che zuständig, hatte aber keine eigenen, leiblichen Kinder und schon gar keine “Vorzeigefa-
milie“. Was die Zeichnerei anlangt, bin ich kein gelernter Künstler, sondern ein Autodidakt -
wieder so ein Zwischenwesen. Das Radiomachen habe ich mir selbst beigebracht und auch
nach über 100 Sendungen unterläuft mir immer noch der eine oder andere Schnitzer. So habe
ich immer “zwischen den Stühlen” gelebt.

Eine solche Position hat ihre Vor- und Nachteile. Auf der einen Seite ist sie unbefriedigend,
man möchte endlich einmal einen festen, dauerhaften Platz haben. Auf der anderen Seite hat
es einen eigenen Reiz, “zwischen den Stühlen” zu sein. Wer sich dort befindet, kann auf meh-
reren Stühlen Platz nehmen! Menschen, die in verschiedenen Welten zu Hause sind, eignen
sich gut als Vermittler - sofern sie ihre Ambivalenz akzeptieren und nicht versuchen, eine Sei-
te auszublenden. Die ganze Pädagogik beruht darauf, dass einer (Vater, Mutter, Lehrer, Er-
wachsenenbildner ...) in verschiedenen Welten zu Hause sein kann: in seiner eigenen und in
der seiner Schüler. Auch die Tätigkeit als Supervisor und Berater erfordert, ebenso wie das
Zeichnen von Cartoons, einen wechselnden Standpunkt. Man muss gleichzeitig drinnen und
draußen sein können.

In meiner beraterischen Tätigkeit habe ich mir zunächst den Grundsatz “Der Berater ist der
Hüter der Realität” zu eigen gemacht. Später ist für mich ein zweiter Satz mindestens ebenso
wichtig geworden: “Der Berater ist der Anwalt der Ambivalenz!” Alles hat mehrere Seiten
und es ist hilfreich, es von unterschiedlichen Seiten aus zu betrachten, oder - um im Bild zu
bleiben - nacheinander auf verschiedenen Stühlen Platz zu nehmen.

Obwohl sich dazu noch vieles sagen ließe, setze ich hier einen Schlusspunkt und wünsche al-
len Leserinnen und Lesern einen Gewinn bei der Lektüre der folgenden Seiten.

Iserlohn, im Oktober 2009 Holm Roch

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Bleem
oder niebr machn?
Biografische Notizen 1938 bis 1958

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1.1 Ein Vorkriegskind
Während des zweiten Weltkrieges machte es einen wichtigen Unterschied ob etwas schon als
"Kriegsware" oder noch als "Vorkriegsware" einzustufen war. Ein Mantel beispielsweise war
entweder noch Vorkriegsware, dann war er gut verarbeitet, "etwas fürs Leben", oder er war
Kriegsware, dann taugte er nicht viel, die Knöpfe rissen ab und wärmen tat er auch nicht.
Nach dieser damals grundlegenden Einteilung bin ich noch "Vorkriegsware".

Am 5. September 1938 wurde ich in einer kleinen Privatklinik in der Leipziger Salomonstra-
ße geboren. Ich kam zu früh zur Welt und verbrachte die ersten Lebenswochen im Brutkas-
ten. Ein Kind also, dass schon am Anfang seines Lebens seinen Eltern Sorgen bereitete! Spä-
ter hat mir meine Mutter gelegentlich vorgehalten, dass ich ihr gleich am Anfang solche Mü-
he gemacht habe.

Trotz dieser Schwierigkeiten, mit denen offenbar niemand gerechnet hatte, war ich ein will-
kommenes Kind. Vor allem für meinen Vater. Sechzig Jahre war er bei meiner Geburt schon
alt und bekam nun endlich seinen ersehnten “Stammhalter”. Das hat ihm mächtig gut getan,
und er erwies sich als liebevoller, fürsorglicher Vater - obwohl er dem Alter nach gut mein
Großvater hätte sein können. Abends vor den Einschlafen sang er mir Gutenacht-Lieder vor.
Auf seinem Arm lernte ich die Wunder meiner nächsten Umgebung kennen. Das allergrößte
Wunder war die Kuckucksuhr im Flur. Ein Zug an einer kleinen Kette ließ das Türchen auf-
klappen, der Kuckuck schaute heraus, sperrte seinen Schnabel auf und ließ sein “Kuckuck -
Kuckuck!” ertönen, so lange bis das Gewicht in Tannenzapfenform den Fußboden erreicht
hatte.

1.2 Mein Vater


Mein Vater stammte aus Großhartau in der Nähe von Bautzen. Der Name Roch findet sich
dort recht häufig und ist vermutlich sorbisch-wendischen Ursprungs. Die Bezeichnungen
Rochsburg und Rochlitz haben ebenfalls diese Wurzel. Unter den ohnehin nicht sehr zahlrei-
chen Rochs gehöre ich also zu der kleineren, "heidnischen" Gruppe mit ost-sächsischem Ur-
sprung, während es sich bei der deutlich größeren, westlichen Gruppe um Abkömmlinge von
Hugenotten handelt, eingedeutschte LaRoches, die nach dem heiligen Rochus genannt sind.
Dieser Unterschied ist mir erst viel später bewusst geworden. Es war mir dann aber doch
wichtig, ein “übertaufter” Heide, also ein Mensch mit einem vitalen Kern, und nicht ein sanf-
ter, blasser Heiliger zu sein.

Mein Vater wurde 1878 geboren. Er war ein uneheliches Kind und erhielt den Mädchenna-
men der Mutter. Seine Mutter war eine einfache Arbeiterin und hatte vermutlich kaum Zeit,
sich um ihr Kind zu kümmern. Jedenfalls wuchs ihr kleiner Emil-Max bei seinem Großvater
auf. Dieser Großvater war Nachtwächter. Mein Vater sang mir später alle die traditionellen
Stundensprüche vor, er von seinem Großvater gelernt hatte. "Hört, ihr Leut und lasst euch sa-
gen, unsere Glock hat zwölf geschlagen. Hüt das Feuer und das Licht, dass der Stadt kein
Schad geschicht!" So ein Nachtwächter hatte eine wichtige Aufgabe, denn bei der damaligen
engen Bauweise, brannte - wenn es denn brannte - schnell der ganze Ort ab. Seine Stundenru-
fe ersetzten die Uhr, denn einfache Leute besaßen keine. Wurde man nachts wach und hörte
den Nachtwächter bei seinem Rundgang, wusste man "was die Stunde geschlagen hat". Ich

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nehme an, dass mein Urgroßvater tagsüber noch andere kommunale Aufgaben zu erledigen
hatte, also ein "Gemeindediener" war. In der Phantasie, habe ich mir gern ausgemalt, wie
mein Urgroßvater im Jahre 1813, als kleines Kind am Straßenrand stehend, den aus Russland
zurückkehrenden Napoleon und die Reste seiner Armee vorbeireiten sieht. Wahrscheinlich
stimmt es nur in meiner Phantasie, aber rein rechnerisch wäre es durchaus möglich.

Über den leiblichen Vater meines Vaters, meinen Großvater also, ist nichts bekannt. Aller-
dings gibt es in der Nähe von Großhartau ein eindrucksvolles Schloss und - wer weiß, wer
weiß - vielleicht fließt ja ein wenig blaues Blut in meinen Adern.

Nach der Volksschule hat mein Vater eine Lehre im Büro gemacht. Man muss sich so ein
Büro wie eine Schulklasse vorstellen. Ein Raum voller Schreibpulte, vorne thront ein ehema-
liger Offizier mit gezwirbeltem Schnurrbart. Wenn nicht fleißig gerechnet wird, wenn jemand
zum Fenster hinausschaut oder gar in der Nase bohrt, bekommt er eins mit dem Lineal über-
gezogen. "Dir juckt wohl das Fell, wart ich helf dir kratzen!", war nach Auskunft meines Va-
ters in solchen Fällen der übliche Spruch seines Vorgesetzen. Alles orientierte sich am militä-
rischen Drill und was dabei herauskam, sah ebenfalls militärisch aus: eine gestochen saubere
Handschrift, ein Buchstabe so akkurat wie der andere, Zahlengruppen wie Marschkolonnen.
Büroalltag in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts.

1.3 Zwölf-Ender und erster Weltkrieg


Mein Vater war strebsam, er wollte es trotz seiner einfachen Herkunft zu etwas bringen. Da-
für bot sich eine militärische Laufbahn an. Wer sich zu zwölf Jahren Militärdienst verpflich-
tete, also ein sogenannter "Zwölf-Ender" wurde, konnte anschließend Beamter werden. Das
war für einen mittellosen jungen Mann eine einmalige Chance. Sportlich war er übrigens
auch, mein Vater. Auf dem Hochrad nahm er an Radrennen teil und die tägliche Gymnastik,
meist ein "Müllern" genanntes, windmühlenartiges Armkreisen mit und ohne Hanteln hat er
bis ins hohe Alter betrieben. Mit seinem sportlich trainierten Körper gab er einen guten Aus-
bilder für junge Rekruten ab und zwar in Straßburg, das damals zum Deutschen Reich gehör-
te.

In seiner schmucken Uniform sah er richtig flott aus und ich kann mir gut vorstellen, wie sol-
chen Burschen, wenn sie in den umliegenden Dörfern auf Brautschau gingen, die Herzen der
Mädchen zuflogen. Jedenfalls hat sich meine Vater seine (erste) Frau aus dem Hanauerland
geholt. Das liegt, von Straßburg aus gesehen flussabwärts, auf der rechten Rheinseite, gegen-
über dem Elsaß. Die beiden heirateten und bekamen 1907 ihr erstes und einziges Kind, Hilda
- meine Halbschwester.

Der Übergang vom Militär zum deutschen Beamten war recht einfach. Mein Vater musste le-
diglich einen Besinnungsaufsatz schreiben, mit dem für die damalige Zeit typischen Titel:
"Arbeit und Fleiß, das sind die Flügel, die führen über Tal und Hügel." So wurde man zu Kai-
sers Zeiten Postbeamter!

In der Karriere des Postbeamten Emil-Max Roch trat gleich zu Beginn eine unvorhergesehe-
ne Unterbrechung ein. Der Kaiser brauchte ihn als Soldaten. In den Krieg zu ziehen, muss da-
mals eine geradezu religiöse Begeisterung ausgelöst haben. Ich erinnere mich an alte Postkar-

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ten. Da sind die Viehwaggons, welche die Soldaten an die Front bringen mit martialischen
Aufschriften versehen: “Jeder Schuss - ein Russ, jeder Stoß - ein Franzos!” Es stimmt doch
hoffnungsvoll, wie stark sich diese Einstellung innerhalb von zwei Generationen verändert
hat. Mein Sohn, 1972 geboren, hat bereits im ersten Schuljahr Französischunterricht gehabt
und ist ab dem dritten Schuljahr zum Schüleraustausch nach Frankreich gefahren. Er würde
nie auf die Idee kommen, gegen “die Franzosen” Krieg zu führen.

Mein Vater ist ziemlich viel herumgekommen in diesem Krieg. Westfront, Ostfront, Karpaten
und russische Sümpfe. Das hat er mir alles während der Stromsperren nach dem zweiten
Weltkrieg erzählt. Aber ich habe mir kaum etwas davon gemerkt, hatte vielleicht auch eine
pubertäre Abneigung gegen die alten Kriegsgeschichten. So sind mir nur Bruchstücke seiner
Erzählungen in Erinnerung geblieben. Zum Beispiel, dass er bei den Fesselballonfliegern
war. Da saß er hoch oben in einem Korb unter seinem Ballon und musste schauen, ob die Ar-
tillerie ihre Ziele traf. Per Telefon musste er dann nach unten melden, ob sie etwas weiter
nach rechts oder nach links schießen sollten. Da die Deutschen ihre Ballons mit brennbarem
Leuchtgas füllten, war das ein gefährliches Unternehmen. Kaum war man oben, erschienen
auch schon feindliche Doppeldecker und schossen auf den Ballon. Wenn der Ballon explo-
dierte, hieß es, schnell aus dem Korb zu springen, den Fallschirm zu öffnen und zu hoffen,
dass die brennenden Ballonteile woanders landeten als man selbst. Mut hatte er also, mein
Vater. Viele Male ist er abgesprungen und er besaß eine Menge Auszeichnungen. Das Ende
des Krieges hat er in irgendwelchen polnischen Sümpfen erlebt, wo er sich mit dem Beobach-
ten von Kreuzottern und dem Ausdenken von Kreuzworträtsel die Zeit vertrieb. Er war mutig,
aber nicht tollkühn. Im Gegenteil, eine seiner Haupteigenschaften war die Schlitzohrigkeit.
Eins hatte er im Krieg gelernt: Orte, an denen geschossen wird, sollte man meiden. Besser et-
was Abstand halten, abwarten bis die Lage sich bessert und dafür etwas länger leben. So hat
er den Krieg einigermaßen heil überstanden. So hat er auch die folgende Nazizeit hinter sich
gebracht. Und ich habe mir ein ganzes Stück von dieser Lebensweisheit abgeguckt. Sich bloß
nicht danach drängeln, an die vorderste Front zu kommen!

Eine weitere hervorstechende Eigenschaft war sein Humor. Viele Jahre seines Lebens labo-
rierte er an einem Bruchleiden herum, musste ein Bruchband tragen, musste operiert werden.
Geholt hatte er sich den Bruch, als er über einen Witz zu heftig lachen musste. Er hatte sich
buchstäblich "krank gelacht". Das finde ich, bei allem Ärger, den er damit hatte, eine köstli-
che Geschichte.

1918 war der Krieg zu Ende, und mein Vater konnte seine Beamtenlaufbahn fortsetzen. Auch
dabei hatte er den "richtigen Riecher". Er wurde Postinspektor beim Postscheckamt in Leip-
zig und zwar bei der Nachforschungsstelle für Auslandspostanweisungen. Diese Stelle be-
stand aus einem einzigen Beamten, nämlich meinem Vater. Er war dort sein eigener Herr,
konnte schalten und walten wie er wollte. Warum gerade diese Stelle? Nun, der Schriftver-
kehr mit dem Ausland wurde auf Französisch geführt und Französisch hatte mein Vater in
seiner Straßburger Zeit gelernt.

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1.4 Meine Mutter
Meine Mutter kam aus dem gleichen kleinen Dorf in der Nähe von Straßburg, aus dem auch
schon die erste Frau meines Vaters stammte. Diese Tatsache hat mir eine recht umfangreiche
Verwandtschaft beschert. Mit einem Teil der Dorfbewohner bin über die erste Frau meines
Vaters verwandt, mit einem anderen über seine zweite Frau, meine Mutter. Das Dorf heißt
Helmlingen (heute: Rheinau-Helmlingen) und liegt etwas abseits der Bundesstraße, die von
Rastatt nach Kehl führt. Mein Großvater (mütterlicherseits) war der Dorfschuster. Daneben
hatte er eine kleine Landwirtschaft, 2 bis 3 Kühe, die nicht nur Milch lieferten, sondern auch
zum Pflügen und Eggen angespannt wurden. Es herrschten ärmliche Verhältnisse. Meine
Großeltern hatten Mühe, ihre sechs Kinder zu ernähren. In den Hungerjahren nach dem ersten
Weltkrieg war es eine große Entlastung, wenn wenigstens die Mädchen aus dem Haus gingen
und für sich selbst sorgten. Dafür bot sich das nahe Straßburg an. Wer dort "in Stellung ging",
lernte gut kochen (die berühmte Gänseleber und vieles mehr). Also ging meine Mutter nach
Straßburg, in den Haushalt eines Apothekers, und als sie dort genug gelernt hatte, ging sie
nach Leipzig. Dort hatte ein Verwandter eine Gaststätte, und es gab um ihn herum eine Art
"Badische Kolonie". Eine Stelle fand meine Mutter im Haushalt der Familie Arnst. Den
Arnsts gehörte die Leipziger Universitätsbuchhandlung. In der Nähe des Völkerschlacht-
denkmals besaßen sie eine große Villa. Die musste sauber gehalten werden, es musste ge-
kocht werden, Einladungen und Feste standen an und zwei kleine Kinder waren auch zu ver-
sorgen, z.B. wenn "die Herrschaft" standesgemäß zum Wintersport in Davos weilte.

Einem dieser Kinder verdanke ich meinen ausgefallenen Vornamen. Der Stammhalter der Fa-
milie Arnst hieß ebenfalls Holm. Allerdings bekam ich noch einen Bindestrich-Dieter dazu,
(1938 hieß man Klaus-Dieter, Fritz-Dieter usw.), wurde also Holm-Dieter gerufen. Auf eini-
gen alten Fotos ist ein kleiner Junge auf dem Hof meiner Großeltern zu sehen. Die Beschrif-
tung "Mit Holm in Helmlingen" führt jedoch in die Irre. Das bin nicht ich, das ist Holm
Arnst. Es war damals nichts ungewöhnliches, dass zwischen "Herrschaft" und "Personal" per-
sönliche Bindungen bestanden. Solange sie noch kein eigenes Kind hatte, durfte meine Mut-
ter den kleinen Holm Arnst auf ihr Dorf mitnehmen. Auch später gab es noch lange eine gute
Beziehung zu dieser Familie. Meine Mutter ist öfters mit mir hingefahren, auch um zu zei-
gen, wie gut sich ihr Sprössling entwickelte. Später sind Arnsts in den Westen gegangen und
der Kontakt riss ab. Schade, ich wüsste gern, was aus meinem Namenspatron geworden ist.

Die erste Frau meines Vaters war kränklich, sie hatte einen Herzfehler. Als sie 1933 starb, fiel
das Auge meines Vaters auf die wesentlich jüngere Frieda Hänsel, die schon lange zum
Freundeskreis der Familie gehörte. Noch ehe das Trauerjahr um war, heirateten die beiden.
Sie waren ein ungleiches, aber durchaus ansehnliches Paar. Auf der einen Seite der gut situ-
ierte Beamte, 56 Jahre alt, eine stattliche Erscheinung mit Schnurrbart und Glatze, auf der an-
deren Seite die hübsche, in Haushaltsdingen erfahrene, 25 Jahre jüngere Frau. Abgesehen von
der gegenseitigen Zuneigung, über die ich nichts weiß, war es für beide eine vorteilhafte Ver-
bindung. Sie machte "eine gute Partie", er konnte der Bewunderung seiner Kollegen sicher
sein und sich für den Rest seines Lebens gut versorgt wissen.

Einen Verlierer gab es allerdings bei dieser Eheschließung: Hilda, die Tochter aus der ersten
Ehe meines Vaters. Sportlich war sie (Tennis, Diskus und Hockey), von Verehrern war sie
umschwärmt, - wir befinden uns in den lebenslustigen 20er Jahren! - und der gute Papa las
ihr jeden Wunsch von den Augen ab, zahlte auch die Reisen zum Wintersport in die Schweiz

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und was sonst gerade Mode war. Damit war jetzt Schluss! Meine Mutter übernahm das Regi-
ment. Hilda, damals 27 Jahre alt, musste ihr Paradies verlassen. 1938 hat sie dann Rudi Pfau
geheiratet, einen schneidigen, sportlichen Lehrer mit “Schmiss”. Im Jahr darauf bekamen die
beiden ihre erste Tochter und ich wurde, obwohl erst ein Jahr alt, zum ersten Mal Onkel. Das
Verhältnis zwischen unseren Familien hat sich allerdings für einige Jahre deutlich abgekühlt,
bevor Krieg und Nachkriegszeit sie wieder enger zusammenrücken ließen.

1.5 Das Beamtenmilieu


Das Umfeld, in das ich hineingeboren wurde, war typisch für den Beamten"stand". Man fühl-
te sich erhaben über alle, die auf der gesellschaftlichen Leiter weiter unten standen. Spielka-
meraden, die sich nicht benehmen konnten, die von "Arsch" und "Scheiße" sprachen, wurden
mir verboten. Mit solchen Menschen machte man sich nicht gemein. Der Umgang mit Kultur
war ein wichtiges Merkmal des eigenen Standes. Bei uns hing ein Ölgemälde an der Wand,
während in einer Arbeiterfamilie normalerweise nur ein Kunstdruck zu sehen war. Meine El-
tern lasen "anspruchsvolle" Literatur anstelle von Trivialromanen, sie gingen auch ins Theater
und nicht nur ins Kino.

Gegenüber Höhergestellten galt es, bescheiden und höflich aufzutreten. "Hast du dich gut be-
nommen? Hast du uns keine Schande gemacht?" Das waren die ersten Fragen, wenn ich von
einem Kindergeburtstag zurückkam. Es war das typische Milieu sozialer Aufsteiger. Man
grenzt sich nach "unten" hin ab, will möglichst nichts mehr mit der eigenen Herkunft zu tun
haben. Nach oben hin ist man auf der Hut, und weiß dass man sich mit "Höhergestellten" bes-
ser nicht anlegt. Denn die eigene Position ist eine höchst unsichere: Man kann auf der sozia-
len Stufenleiter schnell wieder eine Stufe zurückfallen. Die einzige Möglichkeit, um weiter
nach oben zu gelangen, sind "Arbeit und Fleiß". In einem solchen Milieu wird eine Moral der
Anpassung vermittelt: Bloß nicht unangenehm auffallen! Verhalten wird nicht an sich selbst
gemessen - ob jemand hilfsbereit oder egoistisch, ehrlich oder unaufrichtig ist - sondern dar-
an, was es bei anderen bewirkt. "Was sollen die Leute von uns denken?" ist wichtiger als:
"Wie würdest du vor dir selbst dastehen?"

Wir wohnten in einem großen Mietshaus aus der Gründerzeit und zwar in der ersten, also der
besten Etage. Das Haus hatte 5 Etagen und darüber noch mehrere Dachböden. Die unterste
Etage lag deutlich über dem Straßenniveau, “Hochparterre” nannte man das. Solche Häuser
werden heute nicht mehr gebaut. Aufzüge gab es damals schon, aber nicht bei uns, sondern
nur in “herrschaftlichen” Häusern. So hatte unser Hausmeister einen mühevollen Aufstieg bis
in seine kleine Wohnung im Dachgeschoss. Dafür wohnte er aber billiger als wir. Der Haus-
meister war der einzige "richtige" Arbeiter in unserem Haus, ansonsten wohnten Beamte und
Beamtenwitwen dort, außerdem eine Zahnärztin und ein Elektromeister, der auch die damals
neu aufkommenden Radios reparierte. Unsere Wohnung hatte neben Küche Bad, Toilette und
Flur ein großes und ein kleineres Wohnzimmer, eine Kammer (die dann mein Kinderzimmer
wurde) und das Schlafzimmer meiner Eltern. Ich schätze die Größe der Wohnung auf 65 bis
70 Quadratmeter. Nach heutigen Maßstäben war es eine kleine Wohnung, nach damaligen
Maßstäben war sie großzügig. Dem Grundriss nach waren in dieser Wohnung maximal 2
Kinder vorgesehen, ersatzweise ein Dienstmädchen. Auch das passte zum Beamtenmilieu.
Man hatte nicht mehr so viele Kinder wie die bäuerlichen Vorfahren.

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Natürlich war es ganz undenkbar, eins der beiden Wohnzimmer als Kinderzimmer zu benut-
zen. Das eine Wohnzimmer war zum täglichen Gebrauch bestimmt, das andere war als "gutes
Zimmer" besonderen Anlässen vorbehalten, wenn Besuch kam, oder für Weihnachten. Das
gute Zimmer wurde auch nur bei solchen Gelegenheiten geheizt. Heizen war nicht nur teuer
sondern auch arbeitsaufwendig. Kohlen mussten aus dem Keller geholt werden, Anfeuerholz
musste zerkleinert werden. Waren die Kohlen richtig durchgebrannt, wurde der Ofen luftdicht
zugeschraubt. Es waren sogenannte “Berliner Öfen”, große Kachelöfen, bei denen der Rauch
bevor er zum Schornstein gelangt, durch viele gemauerte Windungen zieht. War so ein Ofen
gut angefahren und im richtigen Moment zugeschraubt, hielt er mehrere Tage lang warm.
Schraubte man den Ofen zu früh zu, konnte er explodieren. Dann hatte man die Wohnung
voller Ruß und der Ofensetzer musste einen neuen Ofen mauern. Heizen war also eine auf-
wändige und gefährliche Angelegenheit, die man sich nur gönnte, wenn es richtig kalt war.
Kammer, Flur und Schlafzimmer hatten ohnehin keine Heizung. Die Toilette und die Bade-
wanne in der Wohnung waren damals Luxus, in den Nachbarhäusern befanden sich die Toi-
letten noch im Treppenhaus.

Wir wohnten also standesgemäß und lebten standesgemäß. Gekocht wurde “Badische Kü-
che”, grüner Salat beispielsweise immer mit Essig, Öl und Salz, aber ohne den in Sachsen üb-
lichen Zucker. Überhaupt hatten wir einen Hang zum Badischen. Zu der sächsischen Sippe
meines Vaters gab es keinen Kontakt. Auch war mein Vater durch seine Straßburger Zeit und
seine beiden Ehen nach Baden hin orientiert. So lebten wir wie Badener im Exil. Wir waren
von Sachsen umgeben, pflegten aber die Badischen Eigenheiten. Meine Eltern hatte kaum
Freunde, und wenn, waren es ebenfalls Badener, die es nach Sachsen verschlagen hatte. Ur-
laub machten wir ohnehin in Helmlingen.

1.6 Der Krieg


Der Krieg, den ich als Kind kennen lernte, war der Bombenkrieg. Es fing immer auf die glei-
che Weise an. Im Radio kamen erste Vorwarnungen: "Feindliche Bomberverbände im Raum
Braunschweig...". Zu diesem Zeitpunkt war noch offen, wen es diesmal treffen würde. Die
Chemiewerke bei Bitterfeld oder die Leunawerke bei Merseburg oder eben Leipzig. Plötzlich
heulten die Sirenen. Jetzt wurde es ernst. Schnell in den Keller. Dann ging es auch schon los.
Bomben heulten, die Flak bellte, dann immer heftigere Detonationen und das Schlimmste:
die Kellerwände schwankten hin und her. Wir hockten auf unseren Bänken im Luftschutz-
raum und konnten nichts tun als abwarten. Manche schrieen laut, wenn es wieder so entsetz-
lich krachte, andere wimmerten vor sich hin. Dann ging auch noch das Licht aus, und jeder
dachte: Nun ist Schluss, das Haus bricht zusammen und begräbt uns alle unter sich. Hinzu
kam noch die Sorge, was aus den Angehörigen, die nicht mit im Keller waren, geworden ist.
Mein Vater beispielsweise, hatte er in seinem Postscheckamt überlebt, kam er wieder? Nach
der Entwarnung schauten wir nach draußen. Die Luft war voller Staub, Nachbarhäuser waren
zusammengestürzt, andere brannten, Menschen irrten umher, suchten nach Angehörigen. Am
gleichen Tag kam dann oft noch ein zweiter Angriff, nachts ein dritter.

Wer immer sich diese Art der Kriegführung gegen die Zivilbevölkerung ausgedacht hat - ihm
gebührt ein besonderer Platz in der Hölle! Es war ein Bruch des Völkerrechts, denn dieses ge-
bietet, Zivilisten aus dem Krieg herauszuhalten. Dass die Deutschen damit angefangen haben,
Wohngebiete zu bombardieren, in Rotterdam und Coventry, rechtfertigt dieses Vorgehen nicht

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(zumal sich die Alliierten moralisch überlegen fühlten). Ich glaube auch nicht, dass der Bom-
benterror (anders vielleicht als der Einsatz der Atombombe in Japan) das Ende des Krieges
beschleunigt hat.

Aber ich greife den Ereignissen vor. Das war der Krieg in seinem Endstadium. Am Anfang
war der Krieg erst einmal weit weg. Etwa so wie ein Gewitter, das langsam aufzieht und von
ferne grummelt, aber man denkt noch: das zieht woanders hin, oder: es wird schnell vorüber-
gehen. In der ersten Kriegsjahren besaßen die Alliierten noch nicht die nötige Luftüberlegen-
heit und vor allem noch keine Flugzeuge, die große Mengen Bomben bis nach Mitteldeutsch-
land tragen konnten. Hamburg, später auch das Ruhrgebiet, waren schon früher erreichbar als
wir im fernen Sachsen.

In Leipzig fielen die ersten Bomben1943. Ich war damals fünf Jahre alt und kann mich noch
gut erinnern, wie Tausende von Menschen in die Nähe des Postbahnhofs pilgerten, um sich
den Schaden anzuschauen. Bei einem Haus waren die Wände in den oberen Etagen herausge-
rissen. Man konnte von außen in die Zimmer schauen. Bilder hingen noch an den Wänden,
abgerissene Tapeten flatterten im Wind. Es war eine große Attraktion und niemand konnte
sich vorstellen, dass es bald in jeder Straße so aussehen würde. Am 4. Dezember 1943 kam
dann der erste große Angriff auf Leipzig. Für den folgenden Tag war mein erster Theaterbe-
such geplant. Die Märchenoper "Hänsel und Gretel" sollte mir die Welt des Theaters eröff-
nen. Meine Mutter war mit mir in die Stadt gefahren, wir hatten die Karten abgeholt und uns
das Theater schon mal von außen angeschaut. Ich war mächtig aufgeregt vor diesem Ereignis
- aber dann wurde nichts daraus. In der Nacht gab es Fliegeralarm und danach brannte die
ganze Innenstadt. Der Krieg war bei uns angekommen.

Wie kommt ein Kind mit solchen Erlebnissen klar? Das Erleben der Todesangst und der tota-
len Ohnmacht während der Bombardierungen haben sich mir tief eingeprägt und käme - da
bin ich mir sicher - in vergleichbaren Situationen oder im Rollenspiel schnell wieder an die
Oberfläche. Orange angestrahlte Burgen und Schlösser erinnern mich sofort an brennende
Städte. Ansonsten suchen sich Kinder ihre eigenen Formen, Erlebtes zu verarbeiten. Natür-
lich zeigten meine ersten kindlichen Zeichnungen Flieger aus denen Bomben auf brennende
Häuser herabfallen. Sie zeigten aber auch Geschütze und deutsche Flieger, die feindliche
Bomber abschossen, deuteten also eine "Problemlösung" an und machten damit das Erlebte
erträglicher. Selbstverständlich haben wir Kinder ständig Krieg gespielt. Das nötige Spielma-
terial gab es in jeder Familie. "Bomben auf Engeland" war eins dieser populären Spiele (im
Bonner Haus der Geschichte ist ein Exemplar zu besichtigen). Mit einer Wippe wurden Hüt-
chen auf eine Karte von Großbritannien geschleudert. Traf man eine Großstadt, gab es viele
Punkte, traf man in abgelegene Regionen, gab es weniger. Heutigen Friedenspädagogen wer-
den angesichts solcher Spiele die Haare zu Berge stehen. Wir hatten unseren Spass am Ge-
winnen. Was hätten wir auch sonst spielen sollen? Dass Konfliktvermeidung besser als Krieg
ist, lag uns jedenfalls fern und ist wohl auch eher eine erwachsene als eine kindliche Idee.
(Sie kommt ja auch in der Geschichte der Menschheit erst spät vor). Das spricht natürlich
nicht dagegen, es heute zum Erziehungsziel zu machen.

Dass die Schwiegermutter meiner Schwester beim Bombenangriff umkam, hat mir keine
Probleme bereitet. Natürlich ist man tot, wenn einem das ganze Haus auf den Kopf fällt. Dass
ich nun nicht mehr mit ihrer tollen Märklin-Eisenbahn spielen konnte, war schade, aber ein-
zusehen. Die lag ja mit unter dem Trümmerberg. Kinder werden mit so etwas fertig und leben
einfach weiter. Außerdem hatten die Zerstörungen auch spannende Seiten. Es lag viel

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Brauchbares auf der Straße herum und die Trümmerberge dienten uns als Spiellandschaft.
Wir sammelten Granat- und Bombensplitter und tauschten sie untereinander. Für dieses Tau-
schen gab es das herrliche sächsische Wort “Gaubeln”.

Viel schwerer zu verkraften war es sicher, wenn Kinder selbst oder wenn nahe Angehörige
verletzt oder getötet wurden. Davon bin ich zum Glück verschont geblieben.

1.7 Waren meine Eltern Nazis?


In der Partei, also in der NSDAP, waren sie nicht. Mein Vater war im Beamtenbund und hat
es, - vielleicht dank seiner Schlitzohrigkeit - geschafft, den Eintritt in die Partei zu vermei-
den. Gewählt haben sie Hitler und seine Partei - wie die meisten Deutschen.

Selbstverständlich hing in unserer Wohnung ein Hitlerbild. Natürlich besaßen wir eine Ha-
kenkreuzfahne und hängten sie am 1. Mai vors Fenster. Alle deutschen Fensterbretter besaßen
damals die nötige Halterung für die Fahnenstange. Die Hersteller müssen damit ein Vermö-
gen verdient haben. Vor dem Einschlafen sprach meine Mutter mit mir immer ein kurzes Ge-
bet. Dazu gehörte auch die Bitte, dass Hitler den Krieg gewinnen möge. Das war aber weni-
ger als Unterstützung für den Führer gedacht, sondern geschah zu meinen Gunsten. Meine
Mutter war nämlich davon überzeugt, dass alle kleinen Kinder, wenn Hitler den Krieg ver-
liert, nach Sibirien verschleppt würden. Ins eiskalte Sibirien wollte sie ihr einziges Kind nun
wirklich nicht gehen lassen. Und auch ich wollte lieber bei meiner Mama bleiben.

Später, als Pubertierender, habe ich meinen Eltern die heftigsten Vorwürfe gemacht. "Wie
konntet ihr nur diesen Hitler wählen?" "Ja, was hätten wir denn sonst wählen sollen?" "Und
die Vernichtungslager? Fandet ihr es denn richtig, dass Juden umgebracht wurden, obwohl sie
nichts Böses getan hatten?" - "Das mit den Juden hat Hitler sicher übertrieben. Das hätte er
nicht machen sollen. Aber er war ja auch nur ein Anstreicher." (Eine Anspielung darauf, dass
Hitler gern Kunstmaler geworden wäre, aber von der Münchner Akademie abgelehnt worden
war). Ja, sie waren wie Millionen anderer Deutscher, meine Eltern. Aufgewachsen in einem
Obrigkeitsstaat, dazu erzogen, das Regieren “denen da oben” zu überlassen. Weit davon ent-
fernt, Politik als eigene Aufgabe zu betrachten, waren sie darauf aus, nicht aufzufallen und
die Zeit, deren Schattenseiten sie ja auch erlebten (zB dass Juden nach den Nürnberger Geset-
zen nicht mehr Beamte sein durften), heil zu überstehen.

Zweifellos haben meine Eltern durch ihr Verhalten den Nationalsozialismus möglich ge-
macht, aber welche Alternativen hatten sie? Ich meine nicht: theoretische Möglichkeiten
(theoretisch konnte jeder Widerstandskämpfer werden), ich meine Wahlmöglichkeiten, die
tatsächlich als Alternativen erlebt wurden. Ein deutscher Beamter fühlte sich verpflichtet, sei-
nem Dienstherrn treu zu dienen. Kam ein anderer Herr, galt es, diesem mit der gleichen Treue
zur Verfügung zu stehen. Dass man sich auch einen besseren Dienstherren suchen könne,
vielleicht sogar den Dienst verweigern musste, war dem deutschen Beamtentum fremd. Eben
deshalb konnten die gleichen Beamten nach der Hitlerzeit ja auch so leicht "weiterverwendet"
(ein sehr aufschlussreicher Ausdruck der Beamtensprache!) werden. Globke diente Adenauer
genau so treu, wie er vorher Hitler gedient hatte. Im proletarischen Milieu gab es da ganz an-
dere Traditionen, da wusste man, dass Politik "auf der Straße gemacht wird".

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Anders als mancher Obernazi, der sich am Ende der Hitlerzeit seiner Verantwortung durch
Selbstmord entzog oder im Ausland untertauchte, haben meine Eltern die Suppe, die sie ein-
gebrockt hatten, auch selbst ausgelöffelt. Mein Vater verlor zum zweiten Mal sein angespar-
tes Vermögen (1923 hatte er durch die Inflation schon einmal alles eingebüßt). Und auch die
Entbehrungen der Nachkriegszeit, unter denen wir so lange zu leiden hatten, waren ja eine
Folge des von Deutschland begonnenen Krieges.

So blicke ich mit gemischten Gefühlen, aber auch mit einem gewissen Verständnis auf das
Verhalten meiner Eltern in jener Zeit. Hätte ich an ihrer Stelle wirklich soviel anders ge-
macht? - Nur mit einem kann ich mich schlecht abfinden: Meine Eltern haben sich nie kri-
tisch zu ihrem eigenen Verhalten geäußert. "Wir haben etwas falsch gemacht" - zu einem sol-
chen Satz konnten sie sich nicht durchringen.

1.8 Kriegsende
Dass Deutschland den Krieg nicht gewinnen konnte, war schon lange vor dem Ende klar.
Mein Vater war auch in Sachen Sieg und Niederlage ein verlässlicher Buchhalter. In seinem
Atlas markierte er täglich den Frontverlauf. Da sah man ganz deutlich, wie der Hase lief.
1942/43 Stalingrad, 1944 Landung der Alliierten in der Normandie - dieser Krieg war nicht
mehr zu gewinnen.

1944 war ich in die Schule gekommen und zwar in die 35. Grundschule, etwa einen halben
Kilometer von unserer Wohnung entfernt. Mein erstes Schuljahr stand ganz im Zeichen des
Krieges. Wir gingen zwar morgens zur Schule, aber schon bald gab es Fliegeralarm. Dann
wurden wir nach Hause geschickt, besorgte Mütter kamen uns entgegen gerannt, packten uns
und brachten uns in den Luftschutzkeller, aus dem wir dann nach dem Angriff wieder auf-
tauchten und das alltägliche Leben fortsetzten - bis zum nächsten Alarm. Erstaunlich, dass ich
trotz dieser ständigen Unterbrechungen lesen und schreiben gelernt habe. Unsere Schulsa-
chen trugen wir in einem Tornister, an dem ein Schwamm baumelte. Der Schwamm diente
zum Abwischen der Schiefertafel, auf die mit einem Griffel geschrieben wurde. Die ersten
Schulbücher waren voller nationalsozialistischer Propaganda. Zum Beispiel sah man einen
schmutzigen Jungen traurig abseits stehen, während eine Gruppe fröhlicher Hitlerjungen in
sauberen Uniformen vorbeimarschierte. Klar, wozu wir hier erzogen werden sollten! Es gab
auch noch die Prügelstrafe. Einmal hatten wir im Gang herumgejohlt und wurden - die ganze
Klasse - nacheinander vom Lehrer übers Knie gelegt. Der Rohrstock (noch Vorkriegsware!)
hinterließ einen dicken Striemen auf meinem Po und die folgenden Tage konnte ich nur auf
der Stuhlkante einigermaßen schmerzfrei sitzen. Wer nicht hören will, muss eben fühlen! Die
Hände hatten immer nebeneinander auf der Tischplatte zu liegen. Manche Lehrer malten da-
für extra mit Kreide einen Kreis auf den Tisch. Sobald jemand diese Grenze überschritt (au-
ßer um sich zu melden) trat der Rohrstock in Aktion. Es war schon eine ziemlich finstere
Pädagogik, die hier praktiziert wurde. Aber sie passte zum System.

Es war nun Frühjahr 1945. Der Westen Deutschlands, das Rheinland, das Ruhrgebiet und
Westfalen war bereits von den Alliierten besetzt. Nun rückten sie nach Thüringen und Sach-
sen vor. In der Ferne, aus Richtung Halle, war schon das Wummern der Geschütze zu hören.
Niemand wusste genau, was uns bevorstand. Wurden nun alle Nazis erschossen? Kamen alle
deutschen Kinder nach Sibirien?

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In solchen Situationen lebte man einfach von einem Tag auf den anderen. Angesichts des na-
hen Kriegsendes war die Bevölkerung gespalten. Die einen wollten Deutschland "bis zum
letzten Blutstropfen" verteidigen. Die anderen probierten schon mal, wie man ein weißes
Betttuch an der Fahnenstange befestigt. Am besten mit Reißzwecken. (Ich nannte sie noch
Jahre danach Reichszwecken. Wo doch alles mit dem Reich zu tun hatte, die Reichsbahn, der
Reichskanzler und die Reichsmark, war ich gar nicht auf die Idee gekommen, das Wort an-
ders zu schreiben). Das Hitlerbild in unserer Wohnung wurde abgehängt. Schwierig war in
diesen Tagen, das richtige Tempo zu haben, also nicht zu schnell aber auch nicht zu langsam
zu sein. Was tun, wenn uns der Blockwart einen Besuch abstattet? "Volksgenosse Roch, wo
ist denn das Bild unseres Führers geblieben, das immer hier gehangen hat? Das wird dem
Führer aber gar nicht gefallen. Da muss ich gleich eine Meldung machen." So lustig war das
leider nicht. Es sind damals tatsächlich Menschen hingerichtet worden, nur weil sie gesagt
hatten, dass Deutschland den Krieg verliert.

Alte, Kranke und Heranwachsende wurden jetzt noch schnell eingezogen, sollten Panzergrä-
ben bauen oder mit der Panzerfaust die Heimat verteidigen. Zum Glück wurde mein Vater da-
bei übersehen. Zum regulären Kriegsdienst hatte er nicht gemusst, weil er schon am ersten
Weltkrieg teilgenommen hatte und für den zweiten zu alt war. Jetzt fuhr er weiter mit der
Straßenbahn durch unsere zerbombte Stadt in sein Postscheckamt und bearbeitete verloren-
gegangene Potschecksendungen. Ein Muster an Pflichterfüllung. Er wird genug zu tun gehabt
haben. In diesen Zeiten ging eine Menge verloren - nicht nur der Krieg.

Die allerletzten Kriegstage verliefen ziemlich chaotisch. In unserer Nähe gab es große Vor-
ratslager mit Wehrmachtsbedarf, die wurden aufgelöst, manchmal auch geplündert. Nachdem
wir jahrelang keine Schokolade mehr gesehen hatten, kippte ein LKW überraschend eine
ganze Ladung davon auf die nächste Straßenkreuzung - beste Fliegerschokolade, die mit den
Rillen. Orden und Ehrenzeichen waren eimerweise zu haben. Wir Kinder steckten uns die Ja-
cken voller Orden, natürlich alle mit Hakenkreuzen und überdimensionierten Adlern. Die El-
tern rissen sie uns wieder ab. "Wenn euch der Ami damit erwischt, werdet ihr gleich erschos-
sen!" Es war ein heilloses Durcheinander. Dann schickten mich meine Eltern zum Gemüse-
laden an der Ecke. Dort stand - ich werde es nie vergessen - ein Jeep auf dem Bürgersteig und
darin saß der erste Neger meines Lebens. Der Krieg war zu Ende.

An den Hauswänden klebten überall große Plakate, wie wir uns zu verhalten hätten: Waffen
abgeben, sich nicht zusammenrotten, nachts in den Häusern bleiben. Seltsamerweise mussten
auch alle Fotoapparate abgegeben werden. Um schnell die Wünsche der neuen Herren zu er-
füllen, - auch sie drohten gleich mit der Todesstrafe - übersah meine Mutter, dass noch ein
Film in der Kamera war, der mit den Bildern von meiner Einschulung. So kommt es, dass
von mir kein Foto mit Zuckertüte existiert. Aber das war zu verschmerzen. Wir hatten den
Krieg heil überstanden, waren nicht einmal ausgebombt, irgendwie würde es schon weiterge-
hen.

1.9 Die Russen kommen


Gerade hatten wir uns an die Amis gewöhnt und es gab die ersten Liebschaften zwischen
deutschen Frauen und "Besatzern", da zogen sie schon wieder ab. Anstelle der großen ameri-
kanischen Lkws rollten jetzt kleine Wägelchen mit Panje-Pferdchen davor in die Stadt, natür-

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lich auch Panzer - der berühmte T-34. Über die Hintergründe dieser Aktion haben wir lange
gerätselt. Es war so: die Amerikaner hatten mehr Land erobert als ihnen nach den Absprachen
von Jalta zustand, das wurde jetzt korrigiert. Leipzig gehörte fortan zur Sowjetischen Besat-
zungszone (SBZ) oder, wie man von den westlichen Zonen aus lieber sagte: Zur Ostzone
bzw. einfach "zur Zone".

Später, zu DDR Zeiten, mussten wir dann immer am 8. Mai, die Befreiung durch die ruhm-
reiche Sowjetarmee feiern. Kein Wort davon, dass uns Leipziger die US-Armee befreit hatte.
Wir dachten uns so unseren Teil, brachten auch manchen Lehrer in Verwirrung ("Erzählen Sie
doch mal, wie das war, als die Sowjetarmee uns befreite.")

Die neuen Besatzer hielten sich in der Öffentlichkeit sehr zurück. Ganz anders als bei den
Amerikanern waren Kontakte zwischen den Soldaten und der Bevölkerung nicht erwünscht.
Die Masse der Soldaten war in den ehemaligen Wehrmachtskasernen ganz in unsrer Nähe un-
tergebracht. Dort wurden sie den ganzen Tag über mit Musik und markigen Sprüchen be-
schallt, man hörte es im ganzen Stadtteil, konnten aber nichts verstehen. Russischunterricht
bekamen wir in der Schule erst später.

Viele der einfachen Soldaten kamen aus entlegenen Gebieten der Sowjetunion, hatten fremde,
mongolische Gesichtszüge. Für sie war unsere Lebensweise sehr ungewohnt. Manche hatten
noch nie eine Toilette mit Wasserspülung gesehen. Die Geschichte von dem Russen, der seine
Wäsche in der Toilette wäscht, machte schnell die Runde. Da fühlte man sich sofort in der
Meinung bestätigt, dass es sich um "Untermenschen" handelt. In der Stadt sah man nur gele-
gentlich Russen, meist Offiziere. Das waren oft sehr gebildete Leute, die gut Deutsch spra-
chen, Goethe und Schiller schätzten.

Einmal haben wir Jungens mit Schneebällen auf eine vorüberfahrende Straßenbahn geworfen.
Dabei trafen wir versehentlich zwei Russen. Am nächsten Tag mussten wir zum Schul-
direktor und wurden heftig zusammengestaucht. Wir sollten froh sein, wenn wir nicht abge-
holt würden. "Abgeholt" wurden damals viele, fast immer nachts, damit die Nachbarn nichts
mitbekamen. Es waren Leute, die unter Hitler wichtige Positionen innehatten, aber auch völ-
lig unschuldige, die von anderen denunziert worden waren. Das Schlimme war: es gab keine
Prozesse, die Angehörigen bekamen erst nach Jahren oder auch nie Bescheid, wohin jemand
gebracht worden war. Für die Familien war das eine Katastrophe. Die Ehefrau wusste nicht
ob ihr Mann noch lebte, ob sie Witwe war, ob sie wieder heiraten konnte, ob sie Anspruch auf
eine Rente hatte usw. Ein Freund hat auf diese Weise seinen Vater verloren. Er weiß bis heute
nicht, was aus ihm geworden ist. Es war eine Zeit der allgemeinen Verunsicherung.

1.10 Hungerjahre
Wirtschaftlich ging es bei uns nur ganz langsam voran. Zwar waren die Gas- und Wasserlei-
tungen bald geflickt, die Straßenbahnen fuhren wieder, Dächer waren notdürftig repariert,
über die Trümmerlandschaft waren Trampelpfade angelegt. Aber die Versorgung mit dem All-
täglichen lag völlig darnieder. Es gab keine Seife, keine Streichhölzer, keine Bleistifte, kein
Toilettenpapier - es gab gar nichts. Zudem gingen die Sachen aus der Vorkriegszeit nach und
nach kaputt und man bekam keinen Ersatz mehr. Was tun, wenn der Herd endgültig versagte,
das Bügeleisen kalt blieb, der Wasserboiler seinen Geist aufgab? In unserem Haus praktizier-

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te ein Zahnärztin. Was sollte sie tun, nachdem der elektrischer Bohrer ausgeleiert, die letzte
Ampulle mit Betäubungsmittel verbraucht war? Irgendwie musste man sich behelfen und ge-
legentlich musste man die Zähne zusammenbeißen. Es wurden die unmöglichsten Erfindun-
gen gemacht. Autos zum Beispiel bekamen einen Holzvergaser. In einem großen Kessel wur-
de unter Luftabschluss Holz verbrannt, das entstehende Gas wurde direkt zum Vergaser gelei-
tet. Es stank furchtbar, aber die Dinger funktionierten tatsächlich. Man sah diese Holzverga-
ser meist bei LKWs und bei Lieferwagen, wie dem berühmten Tempo-Dreirad, das bei
Milch- und Schrotthändlern so beliebt war.

Es war die große Zeit des Tauschhandels. Für Geld - immer noch die alten Scheine aus der
Hitlerzeit - konnte man, außer der "Zuteilung" d.h. dem, was man an Lebensmitteln und Klei-
dung auf "Marken" bekam, nichts kaufen. Geld war praktisch wertlos. Also musste man tau-
schen. Ein Radio gegen einen Sack Kartoffeln, ein defektes, aber noch reparierbares Bügelei-
sen gegen Goethes gesammelte Werke und so weiter. Dafür gab es sogenannte Tauschzen-
tralen. Man gab etwas ab, bekam dafür soundsoviel Punkte und konnte dafür etwas anderes
mitnehmen. Natürlich wurde auch auf dem "Schwarzen Markt" getauscht, an bestimmten
Plätzen und Straßenecken, immer in der Gefahr, von der Polizei geschnappt zu werden. Eine
neue deutsche Polizei war direkt nach Kriegsende etabliert worden. Was früher Schupo
(Schutzpolizist) oder Wachtmeister hieß war jetzt ein "Volkspolizist", abgekürzt: Vopo.

In diesen ersten Nachkriegsjahren sind viele Menschen gestorben, oft an ganz einfachen
Krankheiten. Sie waren in so schlechter Verfassung, dass sie eine einfache Erkältung nicht
überstanden. Es gab auch richtige Epidemien. Alle wurden wir gegen Typhus und Paratyphus
geimpft. Und es gab auch immer wieder Selbstmorde, weil jemand keine Perspektive mehr
für sich sah. Mein Schulweg führte über eine Eisenbahnbrücke. Dort habe ich mehrfach gese-
hen, dass ein Zug auf freier Strecke hielt, weil sich jemand vor die Räder geworfen hatte.

Die Schule hatte im Oktober 1945 wieder angefangen. Manches war jetzt anders als vorher.
Die Prügelstrafe war abgeschafft. Es gab viele neue Lehrerinnen und Lehrer, denn anders als
in den Westzonen waren im Osten alle Lehrer, die der NSDAP angehört hatten, entlassen
worden. Man wollte einen wirklichen Neuanfang machen. An ihre Stelle traten sog. Neuleh-
rer, meist Frauen - viele Männer waren ja noch in Kriegsgefangenschaft -, die keine richtige
Ausbildung hatten, dafür aber mit großem Eifer bei der Sache waren. Es kam vor, dass unsere
Lehrerin uns im Lehrbuch nur ein Kapitel voraus war. Eigentlich eine interessante pädagogi-
sche Situation. Wir hätten gemeinsam lernen können!

Alle waren wir neugierig. Ich erinnere mich an eine Vertretungsstunde. Der Lehrer kam her-
ein und fragte nur: ”Was wollt ihr wissen?” Wir wollten wissen wie ein Auto funktioniert. Da
hat er uns das Zusammenspiel von Motor und Getriebe erklärt. Das war die spannendste
Schulstunde meines ganzen Lebens. Später bin ich noch vielen Lehrern begegnet (und auch
selbst einer geworden), aber nie wieder hat einer gefragt "Was wollt ihr wissen?" Der Mann
hatte noch eine weitere Begabung: er konnte mit beiden Händen gleichzeitig schreiben und
zeichnen. Mit der linken Hand zeichnete er z.B. den Querschnitt einer Blüte an die Tafel, mit
der rechten schrieb er - gleichzeitig! - die Erläuterung dazu. Auch das habe ich kein zweites
Mal erlebt.

In den ersten Nachkriegsjahren gab es, was das geistige Leben anlangt, einen großen Auf-
bruch. In der Hitlerzeit war so vieles unterdrückt worden - man denke nur an Malerei und Ar-
chitektur - das sollte nun alles Raum bekommen. Menschen kehrten aus dem Exil zurück, er-

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zählten vom Leben in fernen Erdteilen, die wir bis dahin nur aus Abenteuerbüchern kannten.
Einer meiner Lehrer war in den USA gewesen. Er brachte den Unterschied zu Deutschland
auf den herrlichen Satz: “In Amerika fahren die Leichenwagen auf zwei Rädern um die Kur-
ve!” Gemeint war: Sie fahren so schnell, dass zwei der vier Räder abheben. Ein anderer war
zur See gefahren, war den Krieg über interniert gewesen und erzählte uns spannende Seefah-
rergeschichten. Manche kamen in die SBZ, weil sie dort ihre Familie hatten, andere weil sie
von einem sozialistischen Deutschland träumten und diesem im Osten größere Chancen ein-
räumten. Alle wollten sie mitmachen beim Aufbau einer ganz neuen Gesellschaft. Man darf
diese "wilde" Zeit nicht mit der späteren DDR verwechseln. Damals war noch vieles offen,
was später normiert und gleichgeschaltet wurde. Eine Zeit für kühne Träume!

Offen war auch, was aus Deutschland werden sollte. Nur eins war klar: in diesem Land sollte
nie wieder eine faschistische Diktatur an die Macht kommen, und es sollte nie wieder ein
Krieg von Deutschland ausgehen. Abgesehen von dieser grundsätzlichen Übereinstimmung
ähnelten die (noch) Alliierten einer Reisegruppe, die sich uneins ist, wohin die Reise gehen
soll. Die einen wollten ein möglichst schwaches Deutschland, allenfalls mit einer kleinen Ar-
mee zur Selbstverteidigung, jedenfalls nicht in der Lage, nochmal einen Krieg anzufangen
(das Japanische Modell), vielleicht auch politisch neutral, an keine der Großmächte gebunden
(das Modell Österreich). Andere dachten schon an die sich abzeichnenden "Blöcke". Wohin
gehörte dann ein künftiges Deutschland? Als Ganzes zum Osten, als Deutsche Volksdemokra-
tie? Oder aufgeteilt: die Westzonen zum Westen, die Ostzone zum Osten? Dass dieses Modell
sich schließlich durchsetzen würde, war in den ersten Nachkriegsjahren keineswegs voraus-
zusehen. Die Sowjetunion und die SBZ haben noch lange eine gesamtdeutsche Lösung ange-
strebt, die der Westen, vor allem Frankreich, nicht wollte und die Adenauer möglicherweise
durch seine einseitige Hinwendung zum Westen verhindert hat.

1.11 Mein Vater als Gärtner


Im Herbst 1945 war mein Vater in Pension gegangen. Nun hatte er endlich Zeit, sich gründ-
lich um seinen Garten zu kümmern. Genau genommen waren es zwei Gärten, beide in der
gleichen Schrebergartenkolonie, etwa einen Kilometer von unserer Wohnung entfernt. Da
ging er nun jeden Morgen nach dem Frühstück hin, kam zum Mittagessen heim, machte an-
schließend noch ein Nickerchen auf den Sofa und verzog sich dann wieder in seine Gärten.
Es war ein kleines Paradies, das er da zum Blühen brachte. Apfelbäume, Birnbäume, Johan-
nisbeeren, Stachelbeeren, Salatköpfe, Gurken, Möhren, all das wuchs und wuchs, musste aber
auch ständig gegossen und gegen Unkraut und Schädlinge verteidigt werden. Auch Tabak
wurde dort angebaut. Mein Vater war ein starker Raucher und brauchte Tabak für seinen Pfei-
fe.

In jedem der beiden Gärten hatten wir eine gemütlich eingerichtete Laube. Dahinein konnte
man sich zurückziehen, wenn es regnete. In der Laube zu sitzen, den Regen auf das Dach
trommeln zu hören oder in der offenen Tür sitzend, zuzuschauen wie der Regen auf den Pfüt-
zen Blasen bildet, das sind für mich die schönsten Kindheitserinnerungen. Es war eine Art
vorgeburtliche Geborgenheit. Gern hätte mein Vater aus mir einen Gärtner, wie er einer war,
gemacht, aber ich war ihm nicht genau genug. So exakt wie die Zahlenkolonnen auf seinen
Papieren, so genau sollten auch die Salatpflanzen in einer Reihe stehen. Solchen Ansprüchen
genügte ich nicht und so ist mir der berühmte "grüne Daumen" leider nicht gewachsen.

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Die Gärten waren für uns eine große Hilfe, weil sie unsere Ernährung sicherten. Leider wuch-
sen im Garten keine Buntstifte, die ich dringend für die Schule brauchte und die es nirgends
zu kaufen gab. Auch Fleisch wuchs nicht auf Bäumen. Da kam dann wieder die Tauschwirt-
schaft ins Spiel. Nicht weit von unserem Garten betrieb jemand eine Biberzucht. Diese pos-
sierlichen Tierchen landeten gelegentlich in unserem Kochtopf. Sie schmeckten lecker, nur
die riesigen Zähne wirkten abschreckend.

Was nicht im Garten wuchs, musste durch "Stoppeln" besorgt werden. Oft bin ich mit meinen
Eltern hinaus aus Land gefahren, um auf abgeernteten Feldern einzusammeln, was beim Ern-
ten übrig geblieben war: Getreide, Kartoffeln, Zuckerrüben. Es gab damals noch keine mo-
dernen Erntemaschinen, deshalb blieb für uns und die vielen tausend anderen Stoppler, die
heuschreckenartig über die Äcker herfielen, eine Menge übrig. Allerdings machte die Technik
Fortschritte. Schon bald gab es eine Kartoffelerntemaschine, die den sinnigen Namen "Stopp-
lertod" trug.

Ein glücklicher Zufall half uns, das Heizungsproblem zu lösen: Unsere Gasuhr ging kaputt.
Neue Gasuhren gab es nicht. Wir wurden direkt an die Gasleitung angeschlossen, zahlten
einen geringen Pauschalbetrag und konnten soviel Gas verbrauchen, wie wir wollten. Meh-
rere Winter lang brannten bei uns ständig alle drei Brenner des Herdes auf vollen Touren, die
Zimmertüren standen offen und wir brauchten nicht zu frieren. Es waren übrigens außerge-
wöhnlich kalte Winter, so als würden wir nun auch klimatisch stärker an den Osten angekop-
pelt (die "sibirische Kälte").

Ein weiteres Problem waren die Stromsperren. Strom wurde nicht genug produziert und man
brauchte ihn für die Industrie, also musste die Bevölkerung im Dunkeln sitzen. Nach einer
Weile hatte sich das ganz gut eingespielt. In der Zeitung stand, an welchen Tagen unser Stadt-
bezirk dran war. Man konnte sich darauf einrichten, den Abend im Dunkeln zu verbringen.
Kerzen waren uns zu teuer und zum Lesen waren sie ohnehin zu dunkel. Meist saßen dann
meine Eltern auf dem Sofa, während ich mir aus Decken und Kissen auf dem Boden eine
Höhle baute. Dann erzählten meine Eltern Geschichten aus ihrem Leben. Die Kaiserzeit, den
ersten Weltkrieg, die angeblich goldenen "zwanziger Jahre" - all das habe ich auf diese Weise
aus erster Hand erzählt bekommen.

1.12 Lernen fängt mit Neugier an


Verglichen mit heute war es schon eine wesentlich andere Welt, in der wir damals aufwuch-
sen. Kürzlich habe ich meinen Sohn gefragt, warum er nie wissen wollte, wie es in meiner
Kindheit zuging. "Kenn ich doch alles aus dem Fernsehn", war seine Antwort.

Anders als heute, wurden wir nicht mit Informationen überschüttet, sondern mussten uns vie-
les selbst zusammensuchen. Besonders wichtig wurde für mich die Volksbücherei. Erst
brachte mein Vater, der ein fleißiger Leser war, mir Bücher mit, später ging ich selbst hin. Ich
las so ziemlich alles, was ich in die Finger bekam, besonders Abenteuerbücher oder Reisebe-
schreibungen, Sven Hedin zum Beispiel. Natürlich auch Karl May, der war ja ohnehin eine
Art sächsischer Volksheld. Von seinen 64 Bänden habe ich 52 gelesen. Ein absoluter Spitzen-
wert, denn in der Bücherei hatten sie ihn nicht. Karl May galt als "nicht jugendfrei". Neu ge-
druckt wurde er auch nicht. Man musste herausfinden, wer noch ein paar Bände aus der Vor-

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kriegszeit besaß. Das waren dann meist die bekannteren Titel, zum Beispiel "Winnetou", aber
wer besaß schon den autobiografischen Band mit dem genialen Titel "Ich"?

Neben dem Lesen verbrachte ich viel Zeit mit Basteln. Ich nahm alles auseinander, was ich in
die Finger bekam. Das war nicht ungefährlich, vor allem, wenn ich die Wirkungsweise nicht
verstand. Warum hat die Steckdose zwei Löcher? Ganz einfach, dachte ich mir, durch zwei
Leitungen kann mehr Strom fließen, als durch eine. (Ein schönes Beispiel für kindliche
"Theoriebildung". Ich stellte mir Strom wie Wasser vor, hatte also das Prinzip des Span-
nungspotentials nicht verstanden). Dann könnte man aber doch auch anstelle der beiden Lei-
tungen eine einzelne, doppelt so dicke nehmen. Ich suchte mir ein dickes Kabel, spaltete es
auf und steckte die eine Kabelhälfte in das linke die andere in das rechte Loch der Dose.
"Patsch" war meine Konstruktion verschmort und eine neue Sicherung fällig. Meine Eltern
ließen mich gewähren, hatten vermutlich gar keine Ahnung in welche Gefahr mich meine
Entdeckerfreude gelegentlich brachte, zumal ich meist in ihrer Abwesenheit auf Entdek-
kungsreise ging.

Einen großen Vorteil hatte meine Wissbegier: ich kam in der Schule gut voran. Vor allem in
den naturwissenschaftlichen Fächern. In Mathematik, Chemie und Physik war mir, die ganze
Schulzeit über, eine Eins sicher. Der Rest waren Zweier, bis auf je eine Drei in Sport und Mu-
sik. Einschränkend muss man dazu allerdings sagen, dass die Noten im Osten nur bis zur
Fünf gingen.

Eines Tages machte ich eine Entdeckung, die mein weiteres Schulleben wesentlich erleichter-
te. Man konnte sich schon die Schulbücher der folgenden Klasse besorgen und darin herum-
schmökern. Ich betrieb also "selbstorganisiertes Lernen", wie es heute heißt, und ließ die
Lehrer darüber staunen, was ich schon alles wusste. Damit macht man sich bei Mitschülern
nicht gerade beliebt und so hatte ich keinen leichten Stand in der Klasse. Hinzu kam, dass ich
immer einer der Kleinsten war. Beim Völkerball machten sich die anderen immer einen Spaß
daraus, mich "abzuschießen". Zwar versuchte ich flink auszuweichen, aber irgendwann traf
mich der dicke, schwere Ball, ich ging damit zu Boden und schrammte mir Beine und Arme
auf. Auch sonst hatte ich allerhand Hänseleien zu ertragen, lernte dabei aber auch, mir Freun-
de zu verschaffen, die mich beschützten.

Meine Eltern freuten sich natürlich sehr über ihr aufgewecktes Kind. Allerdings waren sie
nicht leicht zufrieden zu stellen. Schrieb ich in einer Klassenarbeit eine Zwei, hieß es prompt:
"Da hättest du dich ruhig noch etwas mehr anstrengen können!" Es war das typische Schick-
sal eines Einzelkindes aus einer Aufsteigerfamilie. So ein Kind muss es weiter bringen als
seine Eltern. Als Leitbild schwebte meinem Vater der Sohn eines seiner Postkollegen vor. Der
war Professor und hatte zwei Doktortitel. Tut mir leid, ich habe es nur zu einem Lehrauftrag
für Sozialphilosophie und Sozialethik und auch nur zu einem einzigen Doktortitel gebracht.
Da hätte ich mich ruhig etwas mehr anstrengen können.

1.13 Die Spaltung Deutschlands


Die Frage, ob es nicht besser sei, sich in den Westen abzusetzen, hat meine Eltern oft be-
schäftigt. Einerseits besaßen wir noch die alten Bindungen nach Süddeutschland. Die gesam-
te Sippe meiner Mutter lebte dort. Daran hätten wir anknüpfen können. Mein Vater hätte auch

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im Westen weiter seine Pension bekommen. Aber: Wer "nieber machte", konnte bestenfalls
sein Handgepäck mitnehmen. Unsere Möbel, den Garten, die ganze vertraute Umgebung hät-
ten wir zurücklassen müssen. Mein Vater war jetzt siebzig. Hätte er es geschafft, noch mal ein
ganz neues Leben zu beginnen? Wir schwankten hin und her.

Ständig gingen Menschen in den Westen, weil sie sich dort bessere Lebensbedingungen er-
hofften. Auch meine Schwester hatte schon diesen Weg gewählt. Technisch war es kein Pro-
blem. Die Grenzen zwischen den Besatzungszonen waren noch durchlässig. Die Zonengren-
ze entsprach den alten Ländergrenzen und schlängelte sich noch ohne "Todesstreifen", ohne
Minen und Selbstschussanlagen durchs Gelände. Man brauchte nur einen ortskundigen
"Schlepper", der einen hinüber brachte. Schlimmstenfalls wurde man erwischt und zurückge-
schickt, vielleicht auch ein paar Tage festgehalten, wie es einem unserer Lehrer erging. Der
wollte zu einer Beerdigung in den Westen. Zum traurigen Anlass passend, hatte er einen
schwarzen Anzug angezogen. Leider wurde er geschnappt und für ein paar Wochen ins Kali-
bergwerk gesteckt. Von dort kam er wieder, als wäre nichts gewesen - nur sein Anzug, der
war jetzt weiß.

1948 konnte ich mir das alles aus der Nähe ansehen. Verwandte meiner Mutter waren gestor-
ben, Erbschaftsangelegenheiten mussten geregelt werden. Meine Mutter nutzte die Gelegen-
heit, sich mal wieder in ihrer alten Heimat umzusehen und nahm mich mit. Von der sowje-
tischen Behörde bekamen wir einen Interzonenpass. Was zwischen den einzelnen Zonen ab-
lief, war ja immer noch Sache der Besatzungsmächte. Damit wurde uns gestattet, aus der so-
wjetischen über die amerikanische in die französische Zone zu reisen. In vier Wochen hatten
wir zurück zu sein.

Die Verkehrsverbindungen waren noch schlecht, die Züge überfüllt. Am ersten Tag kamen
wir nur bis Eisenach. Das war schon ganz in der Nähe der Grenze. Hier hatten nun die meis-
ten Reisenden ein Problem. Anders als wir besaßen sie keinen Interzonenpass, mussten also
"schwarz über die grüne Grenze". Nach Einbruch der Dunkelheit begann um den Bahnhof
herum ein emsiges Treiben. Überall standen kleine Menschengrüppchen, die um den Schlep-
perlohn feilschten, um dann noch vor Sonnenaufgang Richtung Westen aufzubrechen. Eine
Stimmung wie in einem Goldgräberfilm und für mich ein spannendes Abenteuer! Wir hatten
es besser, schliefen im Wartesaal auf Kartoffelsäcken mit pieksender Strohfüllung und reisten
am nächsten Morgen weiter über Frankfurt nach Bühl, - wo die Bühler Zwetschgen und der
UHU-Kleber herkommen. Von Bühl aus fuhr damals eine Kleinbahn bis nach Kehl. An dieser
Strecke lag Helmlingen, das Heimatdorf meiner Mutter. Dort sah alles etwas freundlicher aus
als im fernen Leipzig, aber der große Wohlstand war auch dort noch nicht ausgebrochen. Das
Dorf war vom Krieg ziemlich mitgenommen, denn um den Rheinübergang bei Kehl war hef-
tig gekämpft worden. Aber natürlich hatten die Bauern genug zu essen. Obwohl für mich als
Großstadtkind hier vieles ungewohnt war, gefiel es uns gut. Meine Mutter ließ sogar bei den
Franzosen in Baden-Baden unseren Interzonenpass verlängern. Bei der Rückreise führte das
an der Grenze zu einer heftigen Szene. Die Franzosen seien überhaupt nicht berechtigt, ein
sowjetische Dokument zu verlängern, hieß es. Wir hätten ungültige Papiere. Diese Auseinan-
dersetzung war so ein kleines Spiegelbild der internationalen Lage. Die ehemaligen Kampf-
gefährten, - Amerikaner, Engländer und Franzosen auf der einen, Russen auf der anderen
Seite - standen sich zunehmend feindselig gegenüber. Als wir in Leipzig ankamen, hörten wir
aus dem Lautsprecher, soeben sei der letzte Interzonenzug eingetroffen. Die Verkehrsverbin-
dungen waren gekappt, Deutschland in Ostdeutschland und Westdeutschland geteilt.

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1.14 Die DDR entsteht
Die Spaltung zwischen West und Ost verschärfte sich. Mit der Berlin-Blockade ließ sich die
Sowjetunion auf eine riskante Machtprobe ein. Sie verlor diese nicht nur, sie beschleunigte
damit auch das Entstehen eines (west)deutschen Staates, der sich als "Bollwerk gegen den
Kommunismus" verstand. Am 23.Mai 1949 wurde die BRD gegründet, wenige Tage später
folgte als Reaktion die Gründung der DDR. Wir Ossis erlebten diese Vorgänge ziemlich pas-
siv. Partei und Regierung erwarteten zwar ständig eine breite Zustimmung der Bevölkerung,
gewünscht war aber lediglich ein Ja-Sagen zu Plänen, die bereits feststanden. Sich an der Su-
che nach Alternativen zu beteiligen, war nicht gefragt. Also fanden wir uns damit ab, dass wir
in der DDR lebten - man konnte ja doch nichts daran ändern.

Die wirtschaftliche Lage unserer Familie verschlechterte sich. Während die Einkommen der
Arbeiter langsam stiegen, bekam mein Vater weiterhin seine 90,-- Mark Rente. Zwar zahlten
wir nur eine geringe Miete und der Lohn eines Facharbeiters betrug1950 auch nur ganze
256,-- Mark, aber die Schere zwischen dem Durchschnittseinkommen und unserem Famili-
eneinkommen ging immer weiter auseinander. Da traf es mich hart, wenn andere mit ihrem
neuen Reichtum protzten. Einmal musste ich zuschauen, wie so ein "Besserverdiener" in der
Gaststätte seinen Hund mit Bockwürsten fütterte. Noch eine und noch eine und noch eine für
das liebe Hundevieh. Ich hätte auch gern eine Bockwurst probiert - sie kamen gerade in Mo-
de -, konnte sie aber nicht bezahlen. Dieses und ähnliche Erlebnisse haben in mir ein tiefes
Gerechtigkeitsbedürfnis wachsen lassen, das ich mir auch mit dem Schimpfwort "Sozialneid"
nicht ausreden lasse. Es gibt auf dieser Welt Verhältnisse, die sind so ungerecht, dass sie ge-
ändert werden müssen - notfalls mit Gewalt. Wenn jemand mit Reichtum protzt, kann ich
spontan zum Kommunisten werden.

Meine Eltern haben sich nach Kräften bemüht, die Familie über die Runden zu bringen. Mein
Vater fing an, Flaschen und Buntmetalle zu sammeln und weiter zu verkaufen. Viel Verwert-
bares fand er rund um die russischen Kasernen. Es war dort üblich, Abfälle aller Art einfach
über den Zaun zu entsorgen. Bald sah es in unserer Gartenlaube aus wie auf einem Schrott-
platz und es roch auch so. Einmal fand mein Vater eine fast komplette Maschinenpistole. Die
ließ er aber rasch verschwinden, denn die Staatsmacht sah es gar nicht gern, wenn das Volk
Waffen besaß. Später ging mein Vater an die Autobahn, Beeren sammeln. Die verkaufte er an
einen Heilmittelhändler. Außerdem vermieteten wir ein Zimmer an Studenten. Als meine
Schwester in den Westen ging, hatte sie uns ihr Klavier dagelassen. Dadurch konnten wir an
Musikstudenten vermieten. Die zahlten für die Nutzung des Klaviers extra, gingen mir damit
aber auch ganz schön auf die Nerven. Es ist ein großer Unterschied, ob man sich ein komplet-
tes Klavierkonzert anhört oder eine einzelne Passage daraus zwanzig oder dreißig Mal hinter-
einander.

Oft haben uns auch unsere Verwandten im Westen weiter geholfen, indem sie Waren schick-
ten, die es in der DDR nicht gab, Medikamente beispielsweise oder einen neuen Schulfarb-
kasten. Bis sich die Versorgungslage deutlich besserte, dauerte es noch eine ganze Weile. Zu-
nächst wurde in die Schwerindustrie investiert, erst später kamen Konsumgüter dran. Die
DDR hatte, was die Wirtschaft anlangt, deutlich schlechtere Startbedingungen als die BRD.
Sie besaß weniger Rohstoffe (Braunkohle statt Steinkohle), sie musste erst eine eigene
Schwerindustrie aufbauen (das Ruhrgebiet lag im Westen), und sie zahlte länger Reparatio-
nen als Westdeutschland. Der Versuch, die Entwicklung durch langfristige Wirtschaftspläne

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anzukurbeln, erwies sich nur teilweise als Erfolg. Nicht alles ist planbar, gute Ideen beispiels-
weise nicht, Begeisterung auch nicht.

Eine besondere Situation für uns Leipziger ergab sich aus dem Status unserer Stadt. Leipzig
war Messestadt und die Messen waren auch gleich nach dem Krieg (1946) wieder aufgenom-
men worden. Seitdem herrschte zweimal im Jahr, zur Frühjahrs- und zur Herbstmesse, Aus-
nahmezustand. Wer irgendwie ein Bett freimachen konnte, vermietete es an einen "Messeon-
kel", möglichst an einen aus dem westlichen Ausland. Die Messeonkel zahlten nicht nur gut,
sie brachten auch mal eine Packung Kaffee und westliche Zeitungen mit. Zudem sorgte der
Staat während der Messe besonders gut für seine Bürger. Leipzig galt als "Schaufenster des
Sozialismus". Lange Schlangen vor Lebensmittelläden luden nicht gerade dazu ein, es doch
auch einmal mit dem Sozialismus zu versuchen. Deshalb gab es bei uns während der Messe
volle Schaufenster, gelegentlich sogar ein paar Bananen und Apfelsinen. In anderen Städten
der DDR haben sie uns Leipziger um diesen Vorteil beneidet.

Ein paar Mal hat mein Vater sich während der Messe als Wachmann anstellen lassen. In ei-
nem der Messehäuser musste er nachts Streife gehn. Da hört er doch tatsächlich aus einer
Messekoje ein verdächtiges tick - tick - tick. Eine Bombe? Vorsichtshalber wurde die Polizei
gerufen. Zum Glück war es nur ein Wecker. Trotzdem: großes Lob für Wachmann R., der
durch sein umsichtiges Eingreifen einen möglichen Anschlag des Klassenfeindes vereitelt
hat.

1.15 Lausejungen
Je älter ich wurde, desto wichtiger war für mich natürlich die Gruppe der Gleichaltrigen.
Nach dem Mittagessen hieß es: Schnell die Schularbeiten erledigt und dann ab nach draußen.
Mit den Nachbarjungen Fußball spielen. Irgendwelche Streiche aushecken. Auch gefährliche
Mutproben kamen vor. Eine bestand darin, sich in der obersten Etage außen an die Hauswand
zu hängen. Man stieg auf das Fensterbrett, hielt sich mit beiden Händen am Fensterrahmen
fest und ließ sich mit ausgestreckten Armen, wie an einer Reckstange, nach unten hängen,
wohlgemerkt: an der Außenseite des Hauses! Da blieb so manchem Zuschauer die Luft weg.
Aber so ein wenig echten Nervenkitzel musste man schon riskieren, wenn man in der Gruppe
der Gleichaltrigen etwas gelten wollte.

Ein besonderes Leipziger Thema war "Tauchschern". Taucha ist ein Vorort von Leipzig, End-
punkt einer Straßenbahnlinie. Dort gab es einen Wochenmarkt. Mit dem hatten sich früher
einmal Studenten der Leipziger Universität einen Jux erlaubt. Sie verkleideten sich als India-
ner und überfielen den Markt. Seitdem ist in Leipzig am 1. Montag im September "Tauch-
schern". Die Kinder verkleideten sich als Indianer, Trapper, Cowboys und andere Wildwest-
typen. Ganz wichtig war es, zu einer "Bande" zu gehören. Diese Banden waren als Straßen-
banden organisiert und bekämpfen sich untereinander heftig. Unter Indianergeheul warfen
wir Steine auf die Gegner, die Trümmerberge boten dafür reichlich Material. Wir lieferten
einander auch handfeste Prügeleien. Manchmal wurde auch jemand an einen Marterpfahl ge-
bunden und gequält, ganz so, wie wir das bei Karl May gelesen hatten. Tauchschern war der
Höhepunkt im Jahreslauf, jedenfalls für Jungen. Mädchen durften allenfalls als Squaw für die
Jungs ein Süppchen kochen. Weil es soviel Spaß machte, wuchs sich die Sache - ähnlich wie
der Rheinische Karneval - zu einer fünften Jahreszeit aus. Es gab "Vortauchschern" und

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"Nachtauchschern". Wir hätten immer so weitermachen können. Die Obrigkeit versuchte, die
Sache in den Griff zu bekommen und so eine Art Kinderfest im Zeichen der Völkerfreund-
schaft daraus zu machen - ohne Erfolg.

Zu Tauchschern gehörte auch, dass es knallt und kracht. Also begannen wir, Raketen, "Frö-
sche" und andere Feuerwerkskörper zu bauen. Hier fand meine Lust am Experimentieren ein
reiches Betätigungsfeld. Die nötigen Chemikalien besorgten wir uns in der Drogerie. "Un-
kraut-ex" war ein vorzügliches Ausgangsmaterial für Raketen, denn es enthielt Kaliumchlo-
rat. Zusammen mit "Wanzengas", einem Insektenvertilgungsmittel, ließ sich daraus auch
"Knallpulver" machen. Man schüttete ein kleines Häufchen davon auf das Pflaster, legte
einen kleinen Stein darauf und ließ darauf einen großen Stein fallen - es tat einen fürchterli-
chen Schlag. Oder man schraubte das Pulver in das Gewinde eines dicken Bolzens und
schleuderte diesen an die Wand. Harmlos waren diese Vergnügen nicht. Oft hätte es auch "ins
Auge gehen” können. Einmal habe ich mit einer Rakete den Balkon unserer Nachbarn in
Brand gesetzt. Zum Glück hatten sie es bemerkt und löschten das Feuer mit einem Eimer
Wasser. Es gab rund um Tauchschern auch Ausschreitungen in der Art von Jugendrevolten
und Vandalismus. Das wurde aber, aus Angst vor Nachahmern, nicht an die große Glocke ge-
hängt. Eine Eisdiele in einem benachbarten Stadtteil, ein beliebter Treffpunkt für Jugendliche,
war so ein Ort, an dem immer mal wieder "Rowdytum" zu erleben war. Beispielsweise wur-
den mit Unkraut-Ex Hakenkreuze auf den Asphalt geschüttet und angezündet. Die brannten
sich tief in den Straßenbelag ein und die Staatsmacht hatte lange zu kratzen, bis man nichts
mehr davon sah. Dafür reagierte sie aber auch ausgesprochen sauer. Wer bei dabei erwischt
wurde, verschwand für etliche Jahre. Mit Neofaschismus hatte das kaum etwas zu tun. Für
den fehlten organisatorische Strukturen. Es war einfach so, dass man mit Hakenkreuzen die
Erwachsenen am besten ärgern konnte.

1.16 Ende der Grundschulzeit


So langsam war ein Ende meiner Grundschulzeit abzusehen. Anders als im Westen bauten in
der DDR die Schultypen aufeinander auf. Alle Kinder gingen 8 Schuljahre lang zur Grund-
schule, anschließend kamen die besten auf die Oberschule, wo sie entweder bis zur mittleren
Reife (am Ende des zehnten Schuljahres) oder bis zum Abitur (am Ende des zwölften Schul-
jahres) verblieben. Da ich bereits mit fünf Jahren eingeschult worden war, stand kurz vor
meinem 14. Geburtstag, im Sommer 1952, das Thema Oberschule an. Um dorthin zu kom-
men, brauchte man nicht nur gute Noten (die waren für mich kein Problem), sondern musste
sich auch "gesellschaftlich" bewährt haben. Punkte sammeln konnte man z.B. durch die Mit-
gliedschaft in Massenorganisationen. Die "Gesellschaft für Deutsch-sowjetische Freund-
schaft" bot sich an. Sie erwartete neben einem bescheidenen Mitgliedsbeitrag kein weiteres
Engagement. Bei den Jungen Pionieren sah das schon anders aus. Man musste zu Gruppen-
stunden und zu Arbeitseinsätzen und bei allen möglichen Anlässen, beispielsweise bei Schul-
feiern, durften wir als "Sprechchor" auftreten. Da ich eine gute Stimme hatte, stand ich im-
mer wieder mit weißem Hemd und blauem Pionier-Halstuch vor der gesamten Schülerschaft,
manchmal auch vor der Belegschaft unseres Patenbetriebes. "Sie haben deinen Vater erschos-
sen, Junge, einen unserer besten Genossen!" rief ich mit noch nicht vom Stimmbruch getrüb-
ter Stimme den versammelten Massen zu. Das Epos handelte vom heldenmütigen Widerstand
in der Hitlerzeit.

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Punkte ließen sich natürlich auch durch die richtige Gesinnung sammeln. Auf die Lehrerfra-
ge: "Warum brennt im Kreml spät am Abend noch Licht?" (Interpretation des Gedichtes "Im
Kreml brennt noch Licht") lautete die korrekte Antwort: "Weil sich Genosse Stalin bis spät in
die Nacht um das Wohlergehen des Sowjetvolkes sorgt." Das konnte man sich an den fünf
Fingern abzählen. Antwortete man dagegen, wie es tatsächlich so ein Esel von Klassenkame-
rad tat: "Weil er vergessen hat, es auszumachen", sah es mit der weiteren Schulkarriere nicht
so gut aus (auch wenn Stalin mit zunehmendem Alter vielleicht tatsächlich vergesslich wurde
und die Antwort, so gesehen, durchaus intelligent war). Man durfte es aber auch nicht über-
treiben. In einem Aufsatz zu schreiben "In Westdeutschland nagen alle Arbeiter am Hunger-
tuch", war denn doch etwas zu dick aufgetragen. Besser also "viele Arbeiter", oder am besten
"immer mehr Arbeiter", denn diese Formulierung bewies, dass man das Prinzip verstanden
hatte. Es handelte sich um einen historischen Prozess, der zwangsläufig zum Sieg des Sozia-
lismus führen musste. Deshalb würde die DDR ja auch schon bald den Westen bei der Pro-
duktion von Konsumgütern überholen. Nur ein klein wenig gedulden mussten wir uns eben
noch.

Vor dem Ende der Grundschulzeit sollte ich konfirmiert werden. Das war damals noch eine
verbreitete, volkskirchliche Sitte. Erst einige Jahre später begann die staatliche Kampagne zu-
gunsten der Jugendweihe. Leipzig war seit der Reformationszeit eine durch und durch evan-
gelische Stadt. Auch meine Freunde waren alle evangelisch und wurden ebenfalls konfir-
miert. Natürlich gab es in Leipzig auch Katholiken. Durch die Flüchtlinge aus dem katholi-
schen Osten hatte ihre Zahl etwas zugenommen, aber im öffentlichen Leben spielten sie keine
Rolle. Es gab nur einige wenige katholische Kirchengebäude, eins davon in unserem Stadt-
teil. Wenn dort Fronleichnam gefeiert wurde, kam uns das wie seltsame Stammesriten eines
fremden Volkes vor. Eine verständnisvolle Beziehung hatten wir dazu nicht. Meine Eltern
waren beide evangelisch. In den Gottesdienst gingen sie, wie es sich gehörte, an Ostern und
an Weihnachten und auch sonst noch ein paar Mal im Jahr. Religion war für sie gleichbedeu-
tend mit "ein anständiger Mensch zu sein" und einen Sinn für Höheres zu haben. Nicht zu lü-
gen, nicht zu stehlen und sich von "Niedrigem" fernzuhalten, das sollte ein Kind beizeiten
lernen. Dazu war die Religion da.
Diese kleinbürgerliche Frömmigkeit war weit verbreitet. Eine politische Dimension fehlte ihr
völlig. Jesus war ein vorbildlicher Mensch, dem es nachzueifern galt, kein Revolutionär, der
als Umstürzler hingerichtet wurde. Obwohl viel von Höherem die Rede war, hatte diese Art
der Frömmigkeit auch wenig mit Spiritualität zu tun. Es ging ihr darum, den Alltag anständig
zu bestehen, nicht um den Kontakt zum "Heiligen". Beim Jüngsten Gericht würde Gott nichts
anderes fragen, als meine Mutter, wenn ich von einem Kindergeburtstag zurück kam: "Hast
du dich auch anständig benommen?"

Schon lange vor der Konfirmandenzeit wurde ich sonntags in die Kirche, zum Kindergottes-
dienst geschickt. Ich ging gerne hin, denn das war eine recht kindgemäße Angelegenheit. An-
stelle der Predigt im Erwachsenengottesdienst wurden im Kindergottesdienst biblische Ge-
schichten erzählt. Das war spannend und weil die Geschichte am folgenden Sonntag fortge-
setzt wurden, kamen wir gern wieder. Gelegentlich ließen diese kindgerecht aufbereiteten Ge-
schichten bei mir allerdings erste Zweifel aufkommen. "Moses kommt zum Palast des Pha-
rao, er klingelt einmal, er klingelt noch einmal und als Pharao schließlich öffnet, sagt Moses:
"Pharao, ich muss mit dir etwas ganz Dringendes besprechen..." Konnte das wirklich so ge-
wesen sein? Hatten die alten Ägypter tatsächlich schon elektrische Klingeln?

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Auch gruppenpädagogisch war der Kindergottesdienst auf der Höhe der Zeit. Wer in der zu-
rückliegenden Woche Geburtstag hatte, durfte nach vorn kommen und sich ein Lied wün-
schen. Regelmäßige Anwesenheit wurde mit "Fleißkärtchen" belohnt. Darauf waren biblische
Sprüche und Blumenbildchen. Man konnte die Kärtchen sammeln und gegen andere tau-
schen. Das kam unserer Sammelleidenschaft entgegen und hielt uns ebenfalls "bei der Stan-
ge". So war ich auf den Konfirmandenunterricht, den ich ab 1950 zwei Jahre lang besuchen
sollte, gut vorbereitet.

Mein Konfirmator, Pfarrer Kriewald, war ein freundlicher, älterer Herr, der sich redlich ab-
mühte, uns für die höheren Werte des Lebens zu interessieren. Dabei hatten wir ganz andere
Dinge im Kopf. Zwischen Jungen und Mädchen wanderten erste Briefchen hin und her. Aber
in uns schlummerten natürlich auch altersgemäße Sinnfragen: Was will ich einmal werden?
Hat das Leben einen Sinn? Daran konnte der Unterricht anknüpfen und tat das in verständli-
cher, lebensnaher Weise ohne viel Dogmatik. Uns wurden Lebensbilder vorgestellt: Luther,
Bodelschwingh, Albert Schweitzer. Die Aussicht, einmal so zu werden, wie sie, war verlo-
ckend.

Kriewald war ein liberaler Theologe. Jedes Jahr am Totensonntag hielt er in der Trauerhalle
des Friedhofs eine Ansprache über den Wert der menschlichen Seele. "Wenn man ein Streich-
holz abbrennt, dann könnte man meinen, es sei hinterher nichts mehr davon da. Aber falsch!
Physik und Chemie zeigen: Es ist alles noch da, nur in verwandelter Form, als Gas, als Asche
usw. Wenn das nun aber schon bei einem wertlosen Streichholz so ist, wie könnte dann die
unendlich viel wertvollere menschliche Seele nach dem Tode zu einem Nichts werden." Das
leuchtete ein, und Kriewald wiederholte diesen Gedanken in jedem Jahr aufs neue.

Wir haben diesem Pfarrer manchen Streich gespielt, ihn aber auch geschätzt und respektiert,
denn eine positive Seite hatte seine Theologie: Weil ihm die menschliche Seele so wertvoll
war, behandelte er jeden von uns mit Wertschätzung.

Dafür dass ich bei der Konfirmandenprüfung so viel wusste, schenkte mit Kriewald eine Bi-
bel. Vorn hatte er hineingeschrieben: "Nach diesem Buch formte Jesus sein Leben - tu es ihm
nach!" Auf dieses Geschenk war ich sehr stolz. Ich spürte, dass es von Herzen kam, auch
wenn es da einen kleinen Schönheitsfehler gab: Wie konnte Jesus sein Leben nach einem
Buch formen, das teilweise erst nach seinem Tod geschrieben wurde? Die eigentliche Konfir-
mation ging dramatisch über die Bühne. Eine Grippewelle kam, wir Konfirmanden schlepp-
ten uns mit Fieber in die Kirche und verkrochen uns anschließend in unsere Betten. Unter
meinen Geschenken war - von meiner Schwester aus dem Westen - eine Armbanduhr Marke
Junghans. Davon hatte ich kaum zu träumen gewagt. Armbanduhren waren damals das wich-
tigste Zeichen der Jugendkultur. Man musste einfach eine haben. Da es keine zu kaufen gab,
jedenfalls keine, die zuverlässig ging, verlegten sich die Uhrmacher darauf, alte Uhren aus
der Vorkriegszeit umzubauen. Da saß dann in einem neuen Herrenuhr-Gehäuse das klitzeklei-
ne Uhrwerk einer früheren Damenuhr. Ich aber besaß jetzt eine durch und durch echte, genau
gehende Herrenuhr, sogar mit rotem Sekundenzeiger!

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1.17 Auf der Karl-Marx-Oberschule
Die erste Stufe auf der sozialen Stufenleiter hatte ich 1952 geschafft: Ich wurde Oberschüler
und zwar an der Karl-Marx-Oberschule. Diese Schule lag in der Löhrstraße, direkt am Rande
der Innenstadt. Wie schon der Name vermuten lässt, handelte es sich um eine Neugründung,
die sich deutlich von den Leipziger Traditionsgymnasien, wie der Thomasschule mit ihrem
berühmten Thomanerchor oder der Nikolaischule, absetzte. An unserer Schule wollte man die
Elite des sozialistischen Staates heranbilden, wollte eine "Kaderschmiede" sein. Hier lag alles
hundertprozentig auf der gewünschten Linie. Die Schulwoche begann mit einem Flaggenap-
pell. Wir mussten im Schulhof antreten, es wurde Meldung gemacht : "Klasse 9a vollzählig
zum Fahnenappell angetreten!". Die FDJ-Flagge stieg am Fahnenmast empor, kurze Anspra-
che zum Thema: "Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!" (oder zu irgendeiner an-
deren gängigen Losung), “Weggetreten zum Unterricht!”

Die Unterscheidung zwischen Arbeiter- und Bauernkindern und “Sonstigen” nahm man sehr
ernst. Als Sohn eines Postbeamten fiel ich unter Sonstige und musste deshalb bessere Leis-
tungen erbringen, um in die folgende Klasse versetzt zu werden. Der Fahrradkeller war Ar-
beiter- und Bauernkindern vorbehalten. Die anderen - so argumentierte man - hatten ja "rei-
che Eltern", mussten gar nicht mit dem Rad kommen, sondern konnten eine Monatskarte der
Straßenbahn kaufen. Mein Vater bekam aber weiterhin nur seine 90,-- Mark Rente, während
Facharbeiter inzwischen deutlich mehr verdienten. Trotzdem durfte mein Rad nicht in den
Keller. Weil ich es wegen der Diebstahlgefahr auch nicht anderswo unterstellen konnte, bin
ich ein ganzes Schuljahr lang zu Fuß zur Schule gegangen. Eine Stunde hin, eine Stunde zu-
rück. Später haben mir meine Eltern dann doch die Monatskarte bezahlt.

Zu dem Anspruch, eine besonders vorbildliche Schule zu sein, gehörte natürlich auch, dass
hier vorbildlich gelernt werden sollte. Wir hatten nicht nur politisch korrekte, sondern auch
fachlich gute Lehrerinnen und Lehrer, manche waren sogar für eine Oberschule überqualifi-
ziert. Unsere Biologielehrerin wollte mit uns wissenschaftlich arbeiten, so als ob wir schon an
der Uni wären. Also mussten wir Regenwürmer zerschneiden und anschließend wieder zu-
sammennähen. Dabei lernte man, dass sich das einfache Strickleiternervensystem dieser Tiere
ganz schnell regeneriert. Zerschnitten reagierten sie als zwei Würmer, zusammen genäht wie-
der als eines. Auch Frösche durften wir sezieren. Das war schon etwas eklig. Hinterher waren
wir ziemlich bedudelt, denn wir hatten von dem Chloroform, mit dem wir die Frösche be-
täubten, auch selbst eine Menge abbekommen.

Neben der einseitig politisch ausgerichteten Schule gab es reichlich Ausgleich und Abwechs-
lung. Hatten wir eher Schluss, weil Stunden ausfielen, gingen wir ins Kino. Die Innenstadt
lag gleich nebenan und das "Capitol" war ein Ganztagskino. "Fanfan der Husar", "Die Kart-
hause von Parma", "Rot und Schwarz"... wir haben alles gesehen, was damals "in" war, vor
allem die ausländischen Filme, die bis in die DDR gelangten. Die spannendsten waren natür-
lich nicht jugendfrei, da musste man auf die Toleranz der Kartenabreißerin hoffen oder einen
anderen Zugang wählen: Statt zum Eingang des Kinos ging man zum Ausgang, wartete das
Ende der vorangehenden Vorstellung ab, drängte sich mit der Behauptung "Ich habe etwas
vergessen" an den heraus strömenden Menschen vorbei, wartete auf der Toilette bis es dunkel
war und suchte sich dann einen guten Platz. Auf diese Weise konnte man sogar das Eintritts-
geld sparen.

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Die großen Sommerferien habe ich oft im Westen verbracht. Zu dieser Zeit, lange vor dem
Bau der Mauer, war das - jedenfalls für Schüler - noch möglich. Man musste einen Antrag
stellen, bekam eine Reiseerlaubnis, kaufte eine Bahnfahrkarte und konnte auch sein Fahrrad
mitnehmen. Das Problem war, wovon man sich die ganze Zeit über ernähren sollte, denn
Geld durfte man nicht mitnehmen. Wer wie ich Verwandte im Westen hatte, bei denen er
"auftanken" konnte, hatte es gut. Einmal bin ich von Stuttgart durch den ganzen Schwarzwald
bis in das Heimatdorf meiner Mutter gefahren, ein andermal vom Ruhrgebiet bis zum Boden-
see. Übernachtet habe ich in Jugendherbergen. Das wurde von der BRD gefördert. So ganz
wollte man die "Brüder und Schwestern" aus dem ärmeren Teil Deutschlands doch nicht auf
dem Trockenen sitzen lassen. Also gab es beim Jugendherbergswerk kostenlos Gutscheine für
Übernachtung und Verpflegung. Mit diesen Gutscheinen wurde ein schwunghafter Handel
getrieben. Hatte man am Ende der Reise einige über, ließen sie sich zu Bargeld machen, um
noch eins der im Osten so begehrten "Buschhemden" zu kaufen. Nach der Rückkehr war
dann immer eine schwierige Umstellung nötig. Auf der einen Seite hatte man viel zu erzählen
vom "Goldenen Westen" und wurde bewundert wie ein Weltreisender. Andererseits hatte
einen der DDR-Alltag wieder. Statt einfach in einen Laden zu gehen, wie im Westen, hieß es
jetzt wieder: anstellen! Überall gab es Schlangen. Eine praktische Lebensweisheit hieß: Erst
mal anstellen und danach erst fragen, was es gibt. Irgendetwas Wertvolles musste es ja geben,
sonst hätte sich keine Schlange gebildet. Vielleicht gab es Kochtöpfe, vielleicht Fahrradspei-
chen, vielleicht Gemüse. Die am häufigsten gestellte Frage jener Jahre, so ein DDR-Witz, be-
gann mit "Hammse" und ein Leipziger Geschäftsmann soll, der vielen Fragen überdrüssig,
ein Schild ins Schaufenster gehängt haben: "Hammse hammer nich!".

1.18 Sehlis
Die Versuche der Schule, aus mir einen vorbildlichen Sozialisten zu machen, die Diskrimi-
nierung als "Nicht-Arbeiterkind", meine West-Orientierung und eine Portion pubertärer Ei-
gensinn führten dazu, dass ich mir sagte: Ich mache hier bei euch mit, weil ich sonst das Abi-
tur nicht bekomme, aber ich mache nur das Nötigste. Auf keinen Fall werde ich so, wie ihr
mich gerne haben wollt. -

Meine eigentliche Heimat fand ich bei der Kirche. Dort gab es unter der Überschrift "Junge
Gemeinde" eine gut organisierte Jugendarbeit. Nach dem Ende des Konfirmandenunterrichts
wurden wir eingeladen, in eine Jugendgruppe überzuwechseln. Dort herrschte ein völlig an-
deres Klima als an der Schule. Wir trafen uns zu Gruppenstunden, übten Theaterstücke ein
und fuhren nach Sehlis.

Sehlis war ein unansehnliches Dorf in der Nähe von Leipzig, für uns aber der Inbegriff von
Freiheit, Abenteuer und erlebter Gemeinschaft. Von der Endstelle der Straßenbahn in Taucha
aus musste man noch etwa eine Stunde laufen. Dann kam, hinter dem gleichnamigen Dorf,
"unser Sehlis", eine ehemalige Kies- oder Tongrube mit einigen Wohnbaracken. Für Groß-
stadtkinder war es ein richtiges Abenteuerland. Die steilen Hänge konnte man sich hinunter
kugeln lassen oder im Winter mit dem Schlitten hinunter fahren. Am Rande gab es ein kleines
Wäldchen, da konnte man Baumhäuser bauen und sich verstecken. Und in der Mitte des Ge-
ländes lag ein Tümpel mit Ringelnattern. Das Gelände gehörte der Kirche und war praktisch
immer voll belegt. Wir schliefen auf Doppelstockbetten, ließen uns Geschichten vorlesen,
bastelten, malten oder saßen am Lagerfeuer. So etwas konnte uns die FDJ nicht bieten. Bei

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ihr war alles auf Schulung ausgerichtet. Hier dagegen herrschte ein freier Geist. Unsere The-
men konnten wir weitgehend selbst bestimmen. Im Grunde wurde hier an die Jugendarbeit
der zwanziger Jahre angeknüpft. Zwar durften wir uns nicht "Pfadfinder" nennen, aber die
Rituale, die Vorlesegeschichten, die Lieder samt Gitarrenbegleitung und auch mancher ältere
Mitarbeiter kamen aus dieser Tradition. Hinzu kam ein kirchlicher Akzent, der aber nicht auf-
dringlich wirkte. Vor dem Essen sprachen wir ein Tischgebet, zur Andacht versammelten wir
uns um ein riesiges Holzkreuz, wir lasen in der Bibel und diskutieren "über Gott und die
Welt" und natürlich auch darüber: ob man ES schon tun dürfe, wenn man noch nicht verhei-
ratet ist.

Das Erfolgsgeheimnis dieser Jugendarbeit war, dass sie bei unseren Bedürfnissen ansetzte.
Außerdem war sie die einzige Alternative zu den staatlichen Angeboten. Das führte auch
Leute zu uns, die zu Hause keinen kirchlichen Hintergrund hatten. Es war eine herrliche Zeit!

Dass die kirchliche Jugendarbeit immer mehr Zulauf hatte, und zwar in der gesamten DDR,
konnte auf Dauer auch dem Staat nicht verborgen bleiben. Anfang 1953 holte er zum Gegen-
schlag aus. In der "Leipziger Volkszeitung" erschien ein groß aufgemachter Artikel über Seh-
lis. Die staatlichen Sicherheitsorgane hätten sich dort ein wenig umgesehen und ihrem wa-
chen Blick sei unter vielen anderen jugendlichen Schmierereien ein verdächtiger Totenkopf
aufgefallen. Ein Totenkopf ? - das war doch ein SS-Symbol! Nun war alles klar: hier fanden
geheime faschistische Schulungen statt. Da musste man genauer nachfassen. Diese ganze
"Junge Gemeinde" war offensichtlich eine vom Westen gesteuerte Tarnorganisation, mit dem
Ziel, den Sozialismus zu unterwandern. Aber wartet nur, Freundchen, jetzt schlägt die Arbei-
terklasse entschlossen zurück... So in diesem Tonfall ging es weiter. Es war eine DDR-weite
Kampagne gegen die kirchliche Jugendarbeit, die sich aber an lokalen Gegebenheiten fest-
machte. In Leipzig war das Sehlis.

Nun wurde in jeder Schulklasse genau nachgeforscht, wer mit der "Jungen Gemeinde" zu tun
hatte. Die Listen der Verdächtigen wurden am schwarzen Brett ausgehängt, und man musste
"Stellung beziehen". Auf so einer Liste stand auch mein Name. Was sollte ich nun tun? Alles
abstreiten, wie meine Eltern rieten? Aber es gab ja Zeugen, die mich gesehen hatten. Zu den
Tatsachen stehen und mich notfalls von der Schule verweisen lassen? Eigentlich hätte ich das
tun müssen. Lehrte nicht die Bibel, treu zu seiner Überzeugung zu stehen, Nachteile in Kauf
zu nehmen und notfalls sogar als Märtyrer sein Leben hinzugeben? Letzteres stand hier nicht
zur Debatte, wohl aber stand meine schulische Zukunft auf den Spiel. Von unserer linientreu-
en Schule wurden etliche mutige Schüler ohne viel Federlesens entfernt. Ich war völlig ratlos,
was ich machen sollte. Schließlich habe ich mich doch irgendwie durch zu wursteln versucht.
Ja gut, ich sei dabei gewesen, aber doch nicht so häufig...

Kurz darauf wurde die ganze Aktion abgeblasen. Staat und Kirche hatten sich arrangiert. Ent-
lassene Schüler durften sogar an ihre Schulen zurückkehren. Davon hat aber an unserer Schu-
le niemand Gebrauch gemacht. Die Betroffenen hatten sich schon in den Westen abgesetzt.
Über die "Junge Gemeinde" wurde danach nicht mehr geredet. Man ließ sie gewähren, und es
gab für mich keinen Grund, nicht weiter hinzugehen. Aber: Ich hatte einen kleinen Vorge-
schmack davon bekommen, wie es ist, zu einer verfolgten Minderheit zu gehören. Für viele
Menschen auf dieser Erde ist das der Normalzustand.

Das Jahr 1953 hatte es in sich. Im März starb Stalin. Auf dem Karl-Marx-Platz, dem größten
Platz der Stadt, wurde eine riesige Stalin-Figur aufgestellt. An der mussten wir alle vorbei-

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marschieren und als Zeichen unserer Trauer die Mützen abnehmen. Ein Klassenkamerad wei-
gerte sich: "Vor meinem größten Feind nehme ich doch nicht die Mütze ab." Er wurde sofort
von der Schule verwiesen. Dass Stalin für den Tod von Tausenden zumeist überzeugter Kom-
munisten verantwortlich war, wurde erst viel später und nur "scheibchenweise" bekannt.

1.19 Der siebzehnte Juni


Dann kam - ebenfalls 1953 - der 17. Juni. Im Radio hörten wir über den Westberliner Sender
RIAS, dass sich etwas zusammenbraute. In Berlin und anderen Städten gäbe es Streiks. Also
schnell in die Stadt und nachgeschaut, ob da etwas los ist. In der Innenstadt herrschte ein
ziemliches Chaos. Überall standen Menschen, die meisten nur um zu gucken, wie wir ja
auch. Es gab kleinere Demonstrationen. Die Belegschaften einzelner Betriebe hatten alles ste-
hen und liegen gelassen und waren in die Innenstadt marschiert, wussten nun aber auch nicht,
wie es weitergehen soll. Jemand wurde zu Boden geworfen, andere traten auf ihn ein. Ein
verhasster Funktionär? - vielleicht aber auch eine Personenverwechslung. Der Info-Pavillion
der Nationalen Front wurde in Brand gesteckt. Ein russischer Offizier kam, zog seine Pistole
und schoss ein paar mal in die Luft. Aus der Ferne waren anhaltende Schießereien zu hören.
Am Abend standen dann überall russischen Panzer, es gab eine Ausgangssperre, der soge-
nannte "Arbeiteraufstand" war zu Ende.

Heute werden die damaligen Ereignisse - gerade war der fünfzigste Jahrestag - meiner Mei-
nung nach viel zu stark heroisiert. Zugegeben, der 17. Juni war ein gewaltiger Einschnitt in
der Geschichte der DDR. Er zeigte, wie weit sich die Herrschenden vom Volk, auf das sie
sich ständig beriefen, tatsächlich entfernt hatten. Bert Brecht hat diesen Punkt genau getrof-
fen, als er im Blick auf den 17. Juni formulierte: Wenn die Regierung mit dem Volk nicht zu-
frieden sei, dann solle sie sich doch ein anderes Volk wählen.

Ansonsten war der 17. Juni ein ungeplantes, chaotisches Ereignis, das keine Chance hatte, die
Verhältnisse zu verändern. Wer hätte auch die nötige Logistik für einen aussichtsreichen
"Aufstand" oder gar eine "Revolution" bereitstellen können? Es gab in der DDR zwar eine
weit verbreitete Unzufriedenheit, aber keine organisierte Opposition. Einfach gesagt: Die
Leute hatten die Schnauze voll, und am 17. Juni lief das Fass über. Die Behauptung der SED,
das Ganze sei vom Westen aus organisiert worden, war eine Propagandalüge und zeigte, wie
sehr man von der Ereignissen überrascht und betroffen war. Die Praxis lag dermaßen quer zur
Theorie, da half nur noch Verdrängen und Sündenböcke suchen. Es stimmt aber auch, dass
sich bei dieser Gelegenheit der Zorn gewalttätig Luft machte. Verhasste Einrichtungen wur-
den angezündet, vermeintliche oder wirkliche Gegner zusammengeschlagen - das habe ich
mit eigenen Augen gesehen. Und natürlich gab es Leute, die diese Gelegenheit nutzten um
mal ordentlich “Rabbatz” zu machen. Diese weniger heroische Seite des 17. Juni wird in of-
fiziellen Darstellungen gern übergangen.

Der Westen hat bei der "Niederschlagung des „Volksaufstandes" eine recht unrühmliche Rol-
le gespielt. Jahrelang hatte insbesondere der RIAS die Unzufriedenheit im Osten geschürt.
Jetzt, wo die Sache ernst wurde, rief der gleiche Sender plötzlich zur Mäßigung auf. Man ließ
die Brüder und Schwestern im Osten einfach hängen, und zwar in der doppelten Bedeutung
dieses Wortes. Zwischen 50 und 250 Menschen wurden in der Folge des 17. Juni als Rädels-
führer hingerichtet. Niemand weiß, wie viele es genau waren.

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Staat und Partei hatten sehr gut verstanden, dass sie am 17. Juni einen Denkzettel erhalten
hatten. So etwas durfte nicht noch einmal passieren. Ohne von grundsätzlichen Positionen ab-
zurücken, gelobte man Besserung. Der "neue Kurs" war angesagt. Dem Volk sollte mehr und
abwechslungsreicheres geboten werden, mehr Konsumgüter in den Läden, mehr Unterhal-
tung in Presse und Radio, " Brot und Spiele" also. Insofern hat der 17. Juni tatsächlich etwas
zum Besseren hin verändert.

1.20 Von der Kaderschmiede zur Penne


Im Sommer 1954, ich kam gerade von einer Westreise zurück, erwartete mich eine Überra-
schung. Ich wurde an eine andere Schule versetzt. Das war, jedenfalls offiziell, keine Diszi-
plinarmaßnahme, sondern eine Umverteilung. Vielleicht hatte sich die Schulleitung aber bei
dieser Gelegenheit auch an meine letzte Eskapade erinnert. Das 10. Schuljahr schloss mit der
Prüfung für die mittlere Reife. Da war auch ein Aufsatz zu einem gesellschaftspolitischen
Thema zu schreiben. Mit zwei Seiten meinte ich das Thema erschöpfend behandelt zu haben.
Mich so kurz zu fassen, war bei mir nicht ungewöhnlich. Ich hatte einen knappen, präzisen
Schreibstil und schrieb immer sehr kompakte Aufsätze. "Kein Wort zuviel!" war meine Devi-
se. Diesmal waren es aber offensichtlich ein paar Worte zu wenig gewesen. Jedenfalls meinte
die Prüfungskommission, ich hätte das Thema nicht ernst genommen. Ich bekam aus pädago-
gischen Gründen auf meinen Aufsatz nur eine Vier. Die mittlere Reife hatte ich aber trotzdem
sicher in der Tasche.

Wenn Karl Marx Schüler abgeben musste, dann war natürlich klar, dass man sich eher von
den nicht ganz so linientreuen trennte. So fand ich mich zusammen mit einigen anderen eher
kritisch eingestellten Kameraden an der Nikolai-Oberschule wieder. Zuerst war ich recht un-
glücklich über diesen Tausch. Die neue Schule lag am anderen Ende der Stadt und mir fehlten
die vertrauten Klassenkameraden. Schon bald zeigte sich aber, dass ich einen richtigen
Glücksgriff getan hatte. Die Nikolaischule blickte auf eine 600-jährige Tradition zurück. Sie
war die älteste Bürgerschule Leipzigs und hatte eine Menge bedeutender Persönlichkeiten
hervorgebracht. Richard Wagner beispielsweise war "Nikolaitaner".

Heute ist das mittelalterliche Schulgebäude unmittelbar neben der Nikolaikirche wieder res-
tauriert und zu besichtigen. Damals 1952 lag es noch in Trümmern. Was das Gebäude an-
langt, war meine neue Schule genaugenommen nicht die alte Nikolaischule. Die war schon
früher in ein größeres Gebäude umgezogen und dort ausgebombt worden. Aber unsere Schule
führte den Namen weiter und verstand sich als Erbe der alten Nikolai-Traditionen. Unterge-
bracht waren wir in der Heinrichstraße im Osten der Stadt. In einer Schule mit derartigen
Hintergrund ging es logischerweise anders zu als an der Karl-Marx-Oberschule. Das hier war
eine richtige "Penne" und ich habe an dieser Schule die zwei glücklichsten und auch unter-
haltsamsten Schuljahre meines Lebens verbracht. Selbstverständlich war die Schulleitung
auch hier linientreu, natürlich sollten wir auch hier zu sozialistischen Staatsbürgern erzogen
werden. Aber mit 600 Jahren Schulgeschichte im Rücken, davon gerade mal 5 Jahre unter
DDR-Hoheit, verschoben sich die Gewichte deutlich. Manche unserer Lehrer waren schon
vor dem Krieg an der Schule, hatten bereits die Eltern von Klassenkameraden unterrichtet.
Obwohl wir naturwissenschaftlich ausgerichtet waren, gab es ab der zehnten Klasse Latein
als Unterrichtsfach. Schon dies machte deutlich, woher hier der Wind wehte. Hier war huma-
nistische Bildung gefragt.

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Manche unserer Lehrer waren Originale, besonders der Musiklehrer. Er wollte uns für die hö-
heren Werte der Musik begeistern, Beethoven, Bach, Brahms und so weiter, wir aber hatten
nur Boogie-Woogie im Kopf. Waren wir im Musiksaal und unser Lehrer fehlte noch, musste
einer "Schmiere stehen". Dann setzte sich ein Klassenkamerad, ein guter Klavierspieler, der
sich abends als Kneipen-Pianist ein Zubrot verdiente, an den Flügel und begann "herumzu-
jazzen". Armer Musiklehrer, er hatte es schwer mit uns. In den Musikbüchern machten wir
aus der Bezeichnung "Sarabande" eine "Saharabande". Und wenn als schriftliche Aufgabe
eine kurze Melodie in eine andere Tonart zu transponieren war, schrieben wir "Komposi-
tionsübung" darüber. Das machte ihn immer ganz fuchtig. Ob wir das denn immer noch nicht
begriffen hätten: Mit Komponieren hätten solche Anfängerübungen nichts zu tun. Komponie-
ren sei einigen wenigen genialen Menschen vorbehalten. Es ging schon manchmal zu wie in
der "Feuerzangenbowle". Und doch wurden Grenzen respektiert. Nie haben wir versucht,
einen Lehrer fertig zu machen. Es gab so eine Art augenzwinkernde Komplizenschaft zwi-
schen uns und unseren Lehrern. Sie waren auch mal Schüler gewesen und versuchten nicht,
das zu verleugnen.

Natürlich galt es auch hier, seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen nachzukommen. Aber


da ging man viel lockerer heran. Beispielsweise waren Aufbaustunden abzuleisten. Zu denen
musste man sich "freiwillig" verpflichten. So etwa fünfzehn Stunden im Schuljahr waren ein
guter Durchschnitt. Da gingen wir zu unseren Klassensprechern und sagten:" Hört mal,
Freunde, wir sind bereit, 15 Stunden zu machen, aber wir verpflichten uns jetzt nur zu zehn.
Dann machen wir 15 und ihr schreibt uns aufs Zeugnis, dass wir unsere Verpflichtung zu
150% erfüllt haben. Aber schreibt nur den Prozentsatz und nicht die absoluten Zahlen". So
kommt es, dass auf meinem Abiturzeugnis zu lesen ist: “Er gehört zu den besten Aufbauhel-
fern der Klasse und erfüllte seine Aufbauverpflichtung mit 280%”.

Wir waren nun ein ganzes Stück erwachsener und begannen, uns entsprechen zu verhalten.
Natürlich rauchten wir. Schließlich konnte man in jedem Film sehen, dass - neben Brillantine
im Haar - eine Zigarette aus einem Halbwüchsigen einen richtigen Kerl macht (siehe: James
Dean!). Zigaretten waren uns aber zu popelig, wir rauchten Pfeife, und zwar Wasserpfeife.
Mit einigen Klassenkameraden traf ich mich regelmäßig reihum in unseren Wohnungen zum
"Tabakskollegium". In der Mitte stand die Wasserpfeife. Als Pfeifenkopf diente ein kleiner
Blumentopf, als Wasserbehälter ein Erlemeyerkolben. Den hatten wir, wie auch die Verteiler-
stücke und die Schläuche aus dem Chemiesaal mitgenommen. Wir nebelten uns so richtig ein
und führten Männergespräche. Dazu spielten wir Skat und zwar, wie in Sachsen üblich, mit
"Deutschem Blatt" also mit Eichel, Schippe usw. Skat war das Sächsisch-Thüringische Natio-
nalspiel. Altenburg, das Mekka aller Skatspieler, liegt in der Nähe von Leipzig, zwar in Thü-
ringen - aber nur weil die sächsische Grenze dort eine Einbuchtung hat. Das Skatspiel hatten
wir alle schon früh gelernt, auch die Mädchen in unserer Klasse. Man fand immer zwei Leu-
te, um mal schnell "eenen zu dreschn".

Mit dem Rauchen hatte es bei mir noch eine besondere Bewandtnis. Mein Vater war ein star-
ker Pfeifenraucher. Als ich dann auch damit anfangen wollte, sagte er: "Junge, ich werde dir
jetzt eine Pfeife anrauchen. Das ist dann deine erste." Ich war darauf mächtig stolz und emp-
fand es, mit Recht, als ein Initiationsritual, das mich in den Kreis der Erwachsenen aufnahm.
Von jetzt an war ich kein Kind mehr.

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Alt war er geworden, mein Vater. Er ging jetzt auf die 80 zu, hatte einen Schlaganfall hinter
sich und wurde langsam pflegebedürftig. Manchmal habe ich mich gegenüber meinen Klas-
senkameraden geschämt, so einen alten Vater zu haben. Wenn sie fragten "Wie gehts deinem
Opa?", habe ich das so stehen gelassen. Ich erlebte jetzt die Schattenseite des großen Alters-
unterschieds. Als kleines Kind, während des Krieges und in der Nachkriegszeit hatte ich ei-
nen Vorteil: Ich besaß einen Vater, während die anderen ohne ihren Vater zurechtkommen
mussten. Ihre Väter waren im Krieg, danach noch lange in Gefangenschaft, viele kamen auch
gar nicht wieder. Mein Vater war die ganze Zeit über zu Hause. Jetzt aber, in der Pubertät, als
ich dringend einen Vater gebraucht hätte, um mich an ihm abzuarbeiten, hatte ich es mit ei-
nem alten, kränkelnden Mann zu tun, auf den ich Rücksicht nehmen musste. Das ist keine
sehr günstige Voraussetzung, um erwachsen zu werden!

Mein Vater hat allerdings, und das rechne ich ihm hoch an, auch im hohen Alter immer so gut
es eben ging für seine Familie gesorgt. Und er war mit seinem Schicksal einigermaßen ausge-
söhnt. Außerdem ging es uns etwas besser als in den Vorjahren. Die Renten waren erhöht
worden. Meine Mutter ging in der Nachbarschaft putzen und besserte damit unser Famili-
eneinkommen auf. In den Läden gab es jetzt schon etwas mehr Luxus für alle. Da saß mein
Vater dann mit einer Flasche Pilsner Urquell, anstelle des normalen labbrigen DDR-Bieres,
und war mit sich und der Welt zufrieden.

Eines Tages, etliche Jahre vor seinem Tod, hat er seine geliebte Pfeife aus der Hand gelegt. Er
hatte genug davon.

1.21 Das Abitur


Zwei Jahre waren schnell vorbei. Das Abitur nahte und damit verbunden die Frage, wie es da-
nach mit mir weitergehen soll. Studieren, klar, sonst hätte ich ja nicht Abitur zu machen brau-
chen. Aber was? In der DDR unterlagen auch die Studienfächer der Planwirtschaft, man
konnte nicht einfach studieren wozu man Lust hatte, sondern in einem bestimmten Jahr gab
es für ein bestimmtes Fach eine bestimmte Anzahl Studienplätze. Die wurden sowohl nach
schulischer Leistung als auch nach gesellschaftlicher Beurteilung vergeben. Wie stark der
eine oder der andere Aspekt zu Buche schlug, hing vom Studienfach ab.

Ginge es nach meinen Neigungen, kamen verschiedene Bereiche in Betracht. Schon früh
wollte ich "Quizmaster" werden. Ich konnte gut Witze erzählen, stand gern im Mittelpunkt,
hatte unterhaltsame Einfälle. Dieser Wunsch hatte sich aber schon im Lauf der Grundschule
verflüchtigt. Einmal nahm mich der Vater eines Freundes zu einem Rundfunkkonzert mit. Die
Studioatmosphäre mit all den vielen Lämpchen und Reglern faszinierte mich und ich wäre
gern Tonmeister geworden. Aber dazu musste man zwei Instrumente beherrschen und ich
konnte kein einziges. Meine Westreisen brachten mich auf die Idee, Architekt zu werden. Ich
zeichnete massenweise Hochhäuser aus Stahl und Glas, aber damit hätte ich in der DDR so-
wieso nicht landen können. Hier herrschten noch die Ausläufer des "Zuckerbäcker-Stils" à la
Stalinallee. Kunsterzieher wäre auch eine Möglichkeit gewesen, aber dieses Fach gab es in
der Lehrerausbildung nur kombiniert mit Russisch und mit Russisch konnten sie mir gestoh-
len bleiben. Wir hatten diese Sprache, weil aufgezwungen, nur mit Widerwillen gelernt. Zu-
dem ging es im Russisch-Unterricht nicht um Konversation - Kontakte zu Russen oder Rei-
sen ins große Bruderland waren zu jener Zeit noch kein Thema - wir sollten lediglich in der

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Lage sein, den täglichen Leitartikel der PRAWDA zu lesen. Unser Nachbar riet zum Theolo-
giestudium. Das hätte zu meinem kirchlichen Engagement gepasst, aber die alten Sprachen
schreckten mich ab.

Was also tun? Seit dem Ende der Grundschule hatte ich viel Zeit mit Fotografieren verbracht,
hatte mir sogar in unserem Bad auf engstem Raum ein kleines Schwarz-weiß-Labor einge-
richtet. Vielleicht ließ sich daran anknüpfen, vielleicht sogar in einer Kombination mit Gra-
fik. Schließlich bewarb ich mich an der Leipziger “Hochschule für Grafik und Buchkunst"
für den Studiengang Fotografik. Lange war ich damit beschäftigt, geeignete Fotos für die ein-
zureichende Mappe auszuwählen. Aber ich hatte von vorne herein keine Chance. Auf ein paar
hundert Bewerber kamen 20 Studienplätze, und so toll waren meine Arbeiten nun auch wie-
der nicht. Andere Bewerber hatten bereits eine Fotografenlehre hinter sich, arbeiteten mit So-
larisation und Tönungen. Da konnte ich nicht mithalten. Auch ein eindrucksvolles Arbeiter-
bild - "Stahlarbeiter am Hochofen" oder "Kumpel, die Norm übererfüllend" - hatte ich nicht
zu bieten. Eine Steinrosette vom Freiburger Münster konnte das, obwohl grafisch eindrucks-
voll, nicht wettmachen.

Leider hat man vergessen, mir die Ablehnung mitzuteilen. Ich ging also zuversichtlich zum
Abitur und malte mir aus, wie ich anschließend Grafiker würde. Dabei war die Sache schon
gelaufen. Das Abitur war für mich eher eine Formsache. Durchfallen konnte ich nicht. Mit
dem Abi in der Tasche war ich nun ein "Muli", ein Wesen zwischen Pferd und Esel. Was heu-
te Abi-Fete genannt wird, hieß damals Muli-Ball. Es gab auch eine Muli-Zeitung, in der wir
unsere Lehrer noch einmal kräftig verulkten. Dann lief alles auseinander und es dauerte 40
Jahre, bis wir uns beim ersten gesamtdeutschen Klasssentreffen 1996 fast vollzählig wieder-
sahen. Viele gingen sofort in den Westen, weil sie in der DDR keine Perspektive sahen. An-
dere fanden einen einigermaßen akzeptablen Studienplatz. Für mich blieb zunächst alles of-
fen.

1.22 Ehrfurcht vor Gedrucktem


Da saß ich nun, ohne Studienplatz und ohne Zukunftsaussichten. Die Befürchtung meiner El-
tern, dass aus mir nichts rechtes würde, schien sich zu bestätigen. Ein Bekannter verhalf mir
zu einem Aushilfsjob bei der Evangelischen Verlagsanstalt (EVA). Das war der einzige vom
Staat einigermaßen unabhängige kirchliche Verlag in der DDR. Da sollte ich mich erst mal
nützlich machen, danach würde man weitersehen. Alle evangelischen Gesangbücher wurden
bei der EVA verlegt, daneben gab es eigene Haus-Autoren und vor allem Lizenzausgaben
westdeutscher Verlage. Gegenüber den großen volkseigenen Verlagen mit ihren Massenauf-
lagen war die EVA unbedeutend, sie füllte jedoch eine Lücke: Literatur mit christlichem Hin-
tergrund. Dafür gab es in der DDR ein eigenes Publikum und die Geschäfte liefen gut.

Der Chef der EVA hieß Heinrich Grothe. Ein Mensch von gewaltigen Ausmaßen, sicher mehr
als zwei Zentner schwer, saß da in einem ebenso gewaltigen Bürostuhl, wischte sich den stän-
dig rinnenden Schweiß von der Stirn und regierte sein kleines Imperium. Grothe war ein all-
seits anerkannter Typograf. Um sich herum hatte er Leute versammelt, die etwas konnten,
aber wegen ihrer christlichen Gesinnung in der DDR keine Chance hatten. Pro forma waren
auch die Schauspieler der Leipziger "Spielgemeinde" - einer freien christlichen Theatergrup-
pe - als Lektoren bei der EVA angestellt. In Grothes Reichweite durfte ich nun Botengänge

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erledigen, Druckplatten verpacken und Blindbände zum Buchbinder bringen. Blindbände wa-
ren Bücher mit unbedruckten Seiten, die aber bereits den späteren Umfang des Buches besa-
ßen. Sie mussten einer Behörde vorgelegt werden, um ein Qualitätszeichen für das spätere
Buch zu erhalten.

Junge Leute wie mich förderte Grothe so gut er konnte. Er stellte sich vor, dass aus mir ein Il-
lustrator werden könne. Deshalb schickte er mich zu einem Künstler, der privaten Kunstun-
terricht gab. Hauschild hieß der Mann. In seiner Wohnung trafen sich alle möglichen Künst-
lernaturen. Es war eine Entwicklung, die sich später nach dem Mauerbau noch verstärkte. Die
Unangepassten - das waren in einem eher zwanghaften Staat nun mal die Künstler - suchten
sich Nischen, wo sie einigermaßen unbeobachtet eine Art Gegenkultur entwickeln konnten.

Ich zeichnete jede Menge alte Schuhe, später Menschen nach Modell, einmal sogar Akt. Es
war das klassische Herangehen, wie es an Kunstakademien üblich war. Erst unbelebte Gegen-
stände, dann der Mensch, zunächst bekleidet, zuletzt nackt wie Gott ihn schuf. Vor allem
aber: üben, üben, üben. Heute würde man erst einmal mit Formen und mit Farben spielen.

Nach ein paar Monaten hat Grothe dann dafür gesorgt, dass ich doch noch einen Studienplatz
bekam und zwar an der "Ingenieurschule Otto Grotewohl". Die lag hinter dem Grassi-Fried-
hof, in einem Gebäude im Stil der “neuen Sachlichkeit” aus den dreißiger Jahren. Dort war
bis zum Kriegsende die "Meisterschule für das Grafische Gewerbe", als deren Nachfolgerin
sich unsere Schule verstand. Otto Grotewohl, der erste Ministerpräsident der DDR, war ge-
lernter Buchdrucker. Da lag die Namensgebung nahe. Heute ist in dem Gebäude die Guten-
bergschule untergebracht.

Unsere Ingenieurschule hatte zwei Gesichter. Einerseits war sie linientreu. Das war verständ-
lich, denn hier sollten Führungskräfte für die grafische Industrie ausgebildet werden. Ande-
rerseits traf ich hier auf die alten Traditionen des Druckgewerbes. Drucker und Schriftsetzer
verstanden sich ja nicht einfach als Arbeiter, sie legten Wert auf Bildung. Wer Maschinenset-
zer war, oder sogar Sonderausgaben mit der Hand setzte, der war belesen, oft sogar belesener
als die Autoren, deren Texte er setzte. Lithografen gar, definierten sich als Künstler und tru-
gen noch zu Beginn des vorigen Jahrhunderts eine Künstlerschleife. Notenstecher mussten
hochmusikalisch sein. Ich habe selbst Manuskripte von Liszt und Beethoven gesehen, in de-
nen der Notenstecher offensichtliche Fehler des Meisters korrigiert hatte. So empfand man
sich im ganzen grafischen Gewerbe als eine geistige Elite. Dieses Bewusstsein war auch an
unserer Schule deutlich zu spüren. Man lehrte uns die Ehrfurcht vor der Schrift und vor Ge-
drucktem. Noch heute kann ich schlecht ein Buch wegwerfen. Ein Buch zerschneiden, wie
ich es kürzlich getan habe, um mein Fluggepäck zu erleichtern, heiliger Gutenberg, welch
eine Sünde!

Das Studium war auf 8 Semester, also auf 4 Jahre, angelegt. Zunächst durften wir überall
mal reinschauen, lernten die verschiedenen Drucktechniken kennen und übten uns im Schrift-
setzen. Später erfolgte eine Aufteilung in Fachrichtungen: Hochdruck, Tiefdruck, Flachdruck
oder Reprofotografie. Ich entschied mich für die Reprofotografie. Da konnte ich an meine
Foto-Erfahrungen anknüpfen.

In der Reproabteilung einer Druckerei ging es darum, aus einer Vorlage, beispielsweise einem
vom Grafiker gezeichneten Plakat, eine Druckplatte zu machen. Dazu musste die Vorlage mit
einer Reprokamera abfotografiert werden. Diese Kameras waren mannshohe Apparate, denn

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der Film musste im Format 1:1 belichtet werden. War die Vorlage DIN A 0, ein Plakat bei-
spielsweise, musste auch der Film Meterware sein. Heute kann man so eine Vorlage einscan-
nen und mit dem Computer weiterbearbeiten, damals verbrachte ich täglich viele Stunden im
Labor, um solche Riesenformate in großen Trögen zu entwickeln.

Die Reprofotografie hatte noch eine zweite, zeichnerische Seite: die Retusche. Die belich-
teten Filme mussten noch verbessert werden. Bei einem Gesicht setzte man noch ein paar
"Lichter" in die Augen oder dunkelte die Augenbrauen nach. Bei Farbauszügen waren um-
fangreiche Farbkorrekturen nötig. Dies alles macht heute ein Computer in wenigen Augenbli-
cken. Damals war es stundenlange Handarbeit mit dem Pinsel. Hier, bei der Retusche, konnte
ich mein zeichnerisches Talent gut gebrauchen.

Wir Studenten waren eine bunt gemischte Truppe. Leute aus dem grafischen Gewerbe und
andere, die es einfach in diesen Bereich verschlagen hatte, Kinder von Funktionären und Leu-
te wie ich, die politisch eher distanziert bis oppositionell eingestellt waren. Bald hatte ich den
passenden Freundeskreis beisammen, alles Leute, die in grundsätzlichem Widerspruch zur of-
fiziellen Linie standen. Einige waren ebenfalls in der "Jungen Gemeinde" engagiert.

Die einzelnen Klassen standen untereinander im "sozialistischen Wettbewerb". Als Zeichen


der Schande bekam die Klasse mit dem schlechtesten Notendurchschnitt eine rote Laterne an
die Zimmertür gehängt. Am Ende des zweiten Semesters bot sich nun unseren Lehrern fol-
gendes Bild: Auf dem Schulhof stand die rote Laterne, die wir eben "gewonnen" hatten. Wir
hatten uns an den Händen gefasst, sprangen im Kreis um die Laterne herum und riefen "Wir
hammse, wir hammse!"

Mit solchen Aktionen macht man sich natürlich nicht gerade beliebt. Die Verantwortlichen
hatten mich bald "auf dem Kieker", aber noch schützten mich meine guten Leistungen. Mein
Freund, Peter Weber, durfte sich noch etwas mehr herausnehmen. Sein Vater war Arzt und
1956/57 war die DDR sehr bemüht, Angehörige solcher Berufsgruppen durch Vergünstigun-
gen bei der Stange zu halten. Es waren schon zu viele in den Westen abgewandert. Peter hatte
als einziger in unserer Klasse ein Auto zur Verfügung, d.h. er lieh sich gelegentlich den Wa-
gen seines Vater aus und machte damit großen Eindruck – vor allem auf die Mädchen. Mit
ihm habe ich oft darüber gesprochen, ob es nicht besser sei, in den Westen zu gehen. Irgend-
wann würden sie Berlin, das letzte Schlupfloch in den Westen, dicht machen. Wer dann nicht
drüben war, musste hier bleiben - für immer.

Zum Ingenieurstudium gehörten Betriebspraktika. Dabei lernte ich einen mir bis dahin völlig
fremden Lebensbereich kennen: den Arbeitsalltag. Was ich da zu sehen bekam, war ernüch-
ternd. In einer Papierfabrik arbeiteten sie noch mit Maschinen aus dem 19. Jahrhundert. In ei-
ner Druckerei waren die Lager der Druckmaschinen so ausgeleiert, dass sich die Farben nicht
mehr passgenau drucken ließen (kein Wunder, dass die DDR-Briefmarken von Jahr zu Jahr
größer wurden). Auf der anderen Seite zeigten uns westdeutsche Firmen auf der Leipziger
Messe, wie weit sie uns voraus waren. Wir ätzten unsere Klischees im Säurebad, im Westen
wurden sie in einem Bruchteil der Zeit aus Nylonplatten gestichelt. Wir klebten unsere Filme
mühsam mit Kleister auf metergroße Glasplatten, die neueste Kamera aus München saugte
den Film einfach per Unterdruck an. Wir bekamen große Augen und hätten gern getauscht.
Ich glaube, dass die Faszination westlicher Technik ganz entscheidend dazu beigetragen hat,
dass damals immer mehr “nach drüben” gingen.

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Hinzu kam die zunehmende Kontrolle, die bisweilen kuriose Züge annahm. Die DDR hatte
große Angst, jemand könne etwas Staatsfeindliches verbreiten. Deshalb brauchte nicht nur je-
des Druckerzeugnis sondern auch schon jede Vervielfältigung mit dem Spiritusumdrucker
eine Lizenznummer. Wollte man das Schriftsetzen lernen, durfte nur an Beispieltexten geübt
werden, für die eine Lizenznummer vorlag. Ich habe damals in unendlich vielen Variationen
immer wieder die Zeile "Evangelisches Kirchengesangbuch" gesetzt, ein Titel für den die
EVA eine solche Lizenznummer besaß. Am liebsten hätte der Staat wohl auch fürs Denken
Lizenznummern vergeben.

1.23 Flucht in den Westen


Ich war jetzt im vierten Semester und hatte weitere vier Semester vor mir. Je länger ich das
Studium fortsetzte, um so klarer wurde mir, wie perspektivlos die Sache war. Was wollte ich
nach Abschluss der Ingenieurschule anfangen? Wollte ich wirklich Leiter der Reproabteilung
in einem volkseigenen grafischen Betrieb werden? Bei meiner kritischen Einstellung zur
DDR hatte ich in dieser Richtung wenig Chancen. Es wäre auch kein befriedigender Beruf
für mich gewesen. Sollte ich versuchen, als freiberuflicher Grafiker zu arbeiten? Das war eine
kleine Nische, in die sich schon manche zurückgezogen hatten. Aber wie kam man an Aufträ-
ge, und wie konnte man davon leben? Außerdem: so toll waren meine Arbeiten ja nun auch
wieder nicht, mir fehlte eine gründliche Ausbildung.

Zu Hause ging es mir von Monat zu Monat schlechter. Ständig stritt ich mich mit meinen El-
tern herum. Meist stand dabei die ewige Sorge meiner Mutter im Hintergrund, dass aus mir
doch nichts werden würde. Außerdem geriet ich in eine für männliche Einzelkinder mit alten
Vätern typische Familiendynamik. Mein Vater wurde älter und kränker. Jetzt war ich "der
Mann im Haus", wollte und konnte diese Rolle jedoch nicht übernehmen. So trieb ich lang-
sam aber sicher auf eine Krise zu, aus der mich nur ein Befreiungsschlag retten konnte.

Eigentlich war die Lösung ganz einfach. Ich brauchte nur in den Westen zu gehen und hatte
dort die Chance, noch einmal ganz neu anzufangen. Aber durfte ich meine alten Eltern im
Stich lassen? Die Bibel, die mir so wichtig war, sagte ganz klar: "Du sollst Vater und Mutter
ehren..." Was also tun? Wochenlang habe ich kaum geschlafen, mir die Dinge immer und im-
mer wieder durch den Kopf gehen lassen. Dann hatte ich die Lösung: In den Westen gehen
und dort Theologie studieren. Das war ein Kompromiss, den sogar Gott akzeptieren würde.
Ich ließ zwar meine Eltern allein, würde aber durch diese Berufswahl eine Art Wiedergutma-
chung leisten. Vielleicht würde Gott mich sogar dabei unterstützen, die ungeliebten alten
Sprachen rasch leichter hinter mich zu bringen. Schließlich gab es genug Geschichten, die
von solch wunderbaren Fügungen berichteten.

Es war wie eine Erleuchtung! Auf einmal wusste ich, wie ich aus diesem ganzen Schlamassel
herauskam. Ich musste meinen Vorsatz nur noch in die Tat umsetzen. Vor allen Dingen durf-
ten meine Eltern nichts von meinen Plänen merken. Vielleicht hätten sie etwas ausgeplaudert
und dann wäre aus der Flucht nichts geworden. Damals, Mitte 1958, gab es zwar die Berliner
Mauer noch nicht, aber Republikflucht war bereits strafbar. Wurde man erwischt, musste man
seinen Ausweis abgeben und bekam ein Ersatzdokument, mit dem man nicht mehr nach Ber-
lin fahren konnte. Berlin war aber das einzige Schlupfloch in den Westen.

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Die größte Schwierigkeit bestand darin, ungeschoren nach Berlin hineinzukommen. War man
erst einmal im Ostteil der Stadt, kam man leicht mit der S-Bahn in den Westteil, oder man
wechselte im Bezirk Wedding einfach von der Ost-Seite einer Straße auf die West-Seite. We-
gen dieser durchlässigen Grenze innerhalb Berlins fanden die Kontrollen an der Stadtgrenze
statt. Dort konnte man leicht aus dem Zug geholt und verhört werden. Schlimm, wenn man
keinen überzeugenden Grund für seine Berlin-Reise angeben konnte oder gar Zeugnisse und
andere Papiere, die auf eine Fluchtabsicht schließen ließen, mit sich führte.

Ich musste also meine Reise heimlich und klug vorbereiten. Zunächst verkaufte ich meine
beste Kamera und andere Wertsachen um finanziellen Spielraum zu gewinnen. Dann packte
ich einen Reisekoffer und stellte ihn bei Freunden unter. Ein Bekannter gab mir den Tipp:
"Fahr über Halle. Zwischen Halle und Berlin sind Gleisbauarbeiten. Die Züge kommen ver-
spätet in Potsdam an. Die Kontrollen sind lasch." So habe ich es dann gemacht. Am "Tag X"
holte ich bei meinen Freunden den Koffer ab und fuhr mit dem Taxi zum Bahnhof. Über Hal-
le kam ich unbehelligt nach Ostberlin. Dort wartete bereits ein Freund, der mich zur S-Bahn
brachte und vorsorglich noch bis Gesundbrunnen, also in den Westteil der Stadt, mitfuhr. Ich
stieg aus, wischte mir den Angstschweiß von der Stirn und war im Westen. Ein neuer Lebens-
abschnitt hatte begonnen.

Von Westberlin aus rief ich Freunde in Leipzig an. Sie warfen bei meinen Eltern einen vorbe-
reiteten Abschiedsbrief ein. Sie sollten schnell erfahren, dass ich in den Westen gegangen
war. Zwar hatte ich meine Reisevorbereitungen vor ihnen verborgen gehalten, aber sicher hat-
ten sie gemerkt, dass da etwas im Gange war.

Auf mein "nieber machn" reagierten sie recht unterschiedlich. Meine Mutter eher mit Vor-
würfen ("Wie konntest du uns das antun?"), mein Vater eher verständnisvoll. Nachträglich ha-
ben meine Eltern mir viele Kleinigkeiten per Postpaket nachgeschickt und mir damit den
Start im Westen erleichtert. Dass jetzt erst einmal ein großer Abstand zwischen ihnen und mir
lag, war schmerzlich, aber – und daran habe ich in der Folgezeit nie gezweifelt – es war für
alle Beteiligten das Beste. Meinen weiteren Weg wollte ich mir alleine suchen.

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Mein Weg zur Kanzel
Biografische Notizen 1958 bis 1969

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2.1 Im „goldenen Westen“
Nun war ich also im "goldenen Westen". Und tatsächlich: die fröhlichen, schick gekleideten
Menschen, die vielen Autos, die von Waren überquellenden Geschäfte - das war doch etwas
ganz anderes als im trist-grauen Osten. Mit den Schattenseiten dieses strahlenden Kapitalis-
mus - soziale Ungerechtigkeit und kaum verhohlener Faschismus - sollte ich erst später zu
tun bekommen.

Die ersten Tage über war ich ziemlich durcheinander, musste mich erst an die so ganz andere
Welt gewöhnen. Zunächst hatte ich auch Zweifel: War meine Entscheidung, die eigenen El-
tern zu verlassen und in den Westen zu gehen, richtig? War hier tatsächlich alles so, wie es
sich auf den ersten Blick darstellte, oder war dieses Westberlin eine Art Potemkinsches Dorf
und drüben im Westen lebten die Menschen, wie die DDR-Propaganda ständig behauptete, in
Armut und Elend? Worauf hatte ich mich da eingelassen?

Langsam schwand meine Unsicherheit, es war alles "echt", was ich hier sah. Westberlin war
allerdings auch ein untypisches Beispiel für westlichen Lebensstil. Die Stadt galt als "Front-
stadt". Hier wollte man dem Osten deutlich zeigen, dass der Kapitalismus dem Sozialismus
überlegen ist. In Wanne-Eickel oder Duisburg-Meiderich sah die Welt schon etwas grauer und
unfreundlicher aus als in Westberlin. Trotzdem: Zwischen West und Ost lagen Welten. Auch
die Mentalität war eine andere. Die Westler waren selbstbewusster, auch gegenüber ihrem
Staat und seinen Behörden. Im Osten hatte der Staat ein patriarchalisches Verhältnis zu seinen
Bürgern. Vater Staat und Mutter Partei sorgten sich um ihre Kinder. Die mussten dafür aber
auch ständig dankbar sein und wehe, wenn sie ungehorsam waren. Dann gab es schnell ein
paar hinter die Ohren. Im Westen herrschte eher die Überzeugung: Du musst deine Sache
selbst in die Hand nehmen, sonst kommst Du zu nichts.

Meine Sache selbst in die Hand nehmen, musste ich jetzt auch. Zunächst einmal stand ich in
Westberlin, vor dem S-Bahnhof Gesundbrunnen. Wie nun weiter? Der nächste Polizist sagte
mir, wie ich ins Notaufnahmelager nach Marienfelde komme. Das war ziemlich kompliziert,
denn man durfte ja nicht wieder durch die Ostsektoren fahren. Mit Straßenbahn und Bus kam
ich schließlich ans Ziel und erlebte eine richtige Lageratmosphäre. Damals, im Juli 1958, gab
es eine Fluchtwelle, jede S-Bahn, die in Marienfelde hielt, spuckte wieder neue Flüchtlinge
aus. Die meisten hatten, wie ich, nichts weiter dabei als ein paar Habseligkeiten in einem
kleinen Reisekoffer, waren früh am Morgen in Thüringen, Sachsen oder Mecklenburg in den
Zug gestiegen, hatten voller Angst die Kontrollen hinter sich gebracht und aßen nun die letz-
ten Brote, die sie noch zu Hause mit DDR-Margarine geschmiert hatten. Aber irgendwie wür-
de es weitergehen und für Verpflegung und Quartier sorgte jetzt erst einmal der Berliner Se-
nat.

Manche waren auch enttäuscht, weil sie sich das neue Leben ganz anders vorgestellt hatten.
In Westberlin herrschte auf Grund der hohen Flüchtlingszahlen Ausnahmezustand. Sämtliche
Lager waren überfüllt. Man behalf sich mit Doppelstockbetten, requirierte Turnhallen und
versuchte, das allgemeine Chaos wenigstens einigermaßen in den Griff zu bekommen. Im La-
ger wurde heftig geklaut. Man brauchte sich nur einmal umzudrehen, schon war die Geldbör-
se, die Zahnbürste oder die Seife weg. Kurz: es ging zu, wie in den meisten Flüchtlingslagern
dieser Welt.

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Dass es überhaupt solche Lager gab, hatte folgenden Hintergrund: Genau genommen, war je-
der DDR-Bürger "Deutscher im Sinne des Grundgesetzes", konnte sich also jederzeit irgend-
wo in der Bundesrepublik ansiedeln und sich einen bundesdeutschen Pass ausstellen lassen.
Wer im Westen Verwandte hatte, bei denen er unterkommen konnte, und wer Westgeld besaß,
um sich ein Flugticket zu kaufen, konnte einfach diesen Weg gehen. Für die anderen gab es
nur den Weg über das sog." Notaufnahmeverfahren". Dieses Verfahren fand im Flüchtlingsla-
ger statt. Dort musste man diverse Formulare ausfüllen und schließlich vor einer Kommission
erscheinen, die - ähnlich wie heute bei Asylbewerbern - eine Entscheidung traf, ob und was
für ein Flüchtling man war. Es gab einen wichtigen Unterschied zwischen "einfachen" und
politischen Flüchtlingen. Politischer Flüchtling hieß, dass man die DDR verlassen musste,
weil Gefahr für Leib und Leben bestand. Dies wurde allerdings nicht so eng ausgelegt. Hatte
sich jemand bei der Obrigkeit unbeliebt gemacht, etwa durch Mitarbeit bei der Jungen Ge-
meinde, sodass der Verlust des Studienplatzes drohte, reichte auch das für die Anerkennung
als politischer Flüchtling. Meine Chancen, den begehrten Flüchtlingsausweis C zu bekom-
men, standen also nicht schlecht. Das war für meine Zukunftspläne wichtig, denn politische
Flüchtlinge konnten, wenn sie Hab und Gut zurücklassen mussten, mit einer Entschädigung
nach dem Lastenausgleichsgesetz rechnen. Wer - wie ich - sein Studium aufgegeben hatte,
konnte auf der gleichen Grundlage ein Stipendium erhalten.

Im Rahmen des Notaufnahmeverfahrens wurde man auch zu den militärischen Geheimdiens-


ten der Amerikaner, Engländer und Franzosen geschickt. Die hatten natürlich ein Interesse
daran, die neuesten Informationen aus dem Osten zu bekommen. Das war verständlich, aber
eine üble Trickserei war es auch. Uns sagte nämlich niemand, dass diese Befragung keinen
Einfluss auf das Notaufnahmeverfahren hat. Also gingen wir brav hin und erzählten, wo wir
zuletzt einen russischen Panzer gesehen hatten und was für Flugzeuge täglich über unsere
Köpfe geflogen waren. Daraus konnte man uns in der DDR, falls wir uns noch einmal dorthin
verirren sollten, jederzeit einen Strick drehen. Jetzt waren wir nicht nur Republikflüchtlinge,
sondern auch noch Spione!

2.2 Von der Spree an die Lahn und weiter an den Neckar
Bevor ich mit der Notaufnahme zu Ende war, trat eine überraschende Wende ein. Ich erhielt
einen Anruf aus Frankfurt. Unser früherer Nachbar, Edgar Lux, war dort Geschäftsführer des
Diakonischen Werkes. Er hatte von meiner Flucht gehört und freute sich darüber, dass ich
nun doch Pfarrer werden wollte, wozu er mir schon früher geraten hatte. Nun bot er mir an,
die Kosten für die Flugtickets zu übernehmen. Ich könnte auch erst mal eine Woche in einem
kirchlichen Erholungsheim unterkommen und das Notaufnahmeverfahren danach in aller
Ruhe in Gießen absolvieren. Ich war froh aus dem Lager herauszukommen, bestieg den
nächsten Flieger, sah unter mir die ungeliebte DDR vorbeiziehen, landete in Frankfurt und
wurde von Herrn Lux nach Laurenburg an der Lahn gebracht. Dort konnte ich mich erst ein-
mal von den Aufregungen der letzten Tage und Wochen erholen. Die schwierige Entschei-
dung, zu bleiben oder in den Westen zu gehen, die ständigen Auseinandersetzungen mit mei-
nen Eltern, das alles hatte mich ziemlich fertig gemacht. Erholung tat bitter Not und die fand
ich hier in diesem kleinen verschlafenen Nest an der Lahn, unweit der Schaumburg.

Von Laurenburg aus fuhr ich für ein paar Tage ins Notaufnahmelager nach Gießen und war
nun anerkannter politischer Flüchtling. Mit der Anerkennung war die Einweisung in ein be-

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stimmtes Bundesland verbunden. Wer irgendwo nahe Verwandte hatte, wurde dorthin ge-
schickt. Weil meine Schwester in Tübingen wohnte, bekam ich eine Einweisung nach Baden-
Württemberg. Allerdings durfte ich nicht direkt nach Tübingen, sondern musste vorher noch
ins "Landesjugenddurchgangslager" Wart bei Nagold. Wir sollten noch auf unsere neue Hei-
mat eingestimmt und im Blick auf unsere berufliche Zukunft beraten werden. Das war auch
sinnvoll, denn unter den Flüchtlingen befanden sich viele Jugendliche, die einfach zu Hause
abgehauen waren, ohne eine genaue Perspektive für die Zukunft zu haben.

Ich weiß nicht mehr, wie viele wir in jenem Lager waren, aber es hatte einen Hauch von Ge-
fängnis. Im Speisesaal war es üblich, die Messer unter die Tischplatte zu rammen und dann
auf das federnde Ende zu schlagen. Das gab einen Höllenlärm und hörte sich stark nach Ge-
fangenenrevolte an. Pro Tag gab es 50 Pfennige Taschengeld. Mit so wenig habe ich nie wie-
der auskommen müssen. Eine Episode aus Wart ist mir noch gut in Erinnerung: Wenn wir
nicht gerade beraten wurden, spielten wir Monopoly. Das Spiel war jedoch unvollständig. Es
fehlten 10.000 DM-Scheine. Ersatzweise waren einige 1000 DM-Scheine per Kugelschreiber
mit einer zusätzlichen Null aufgewertet worden. Ich hatte einen kleinen Jungen neben mir,
der saß halb unter dem Tisch. Immer wenn ich einen Tausenderschein bekam, reichte ich ihn
unauffällig nach unten und dieser Junge machte mit dem Kugelschreiber einen Zehntausender
daraus. Ich habe haushoch gewonnen! Offensichtlich hatte ich die Prinzipien der kapitalisti-
schen Wirtschaftsordnung schnell begriffen.

In Tübingen konnte ich erst einmal bei meiner Schwester im Gästezimmer unterkommen. Es
war nämlich noch eine Hürde zu überwinden, bevor ich mit dem Theologiestudium beginnen
konnte: Mein Ost-Abitur berechtigte nicht zum Studium. Es musste erst durch eine Ergän-
zungsprüfung aufgewertet werden. Das hieß: noch mal für ein halbes Jahr zur Schule gehen.
Dass ich schon vier Semester an einer Ingenieurschule studiert hatte, half mir nichts. Nach
Meinung der Kultusministerkonferenz besaß ich noch nicht die richtige, westliche Reife. Das
war insofern zutreffend, als sich die Lehrpläne im Osten deutlich von denen im Westen unter-
schieden. Zwar waren wir in den naturwissenschaftlichen Fächern besser als unsere Kollegen
im Westen, aber in Deutsch, Geschichte und Erdkunde sah es finster aus. Anstelle von Camus
und Sartre hatten wir Ernst Becher und Heinrich Mann durchgenommen, neuere Geschichte
hatte sich auf die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung beschränkt, und den ehemali-
gen deutschen Ostgebieten wurde in der DDR nicht mehr Aufmerksamkeit zuteil als Bulgari-
en oder Rumänien. Nun war Nachsitzen angesagt.

Meine Schwester und ihre Familie haben mir sehr geholfen, mich in der neuen westlichen
Welt zurechtzufinden. Ich durfte bis zum Kursbeginn bei ihnen wohnen, wurde bekocht und
bekam die Wäsche gewaschen. Dabei lernte ich nun auch meinen Schwager besser kennen.
Rudi Pfau war ein sehr unterhaltsamer Mensch. Schon als Kind hatte er mich damit beein-
druckt, dass er mit den Ohren wackeln konnte. Aber er konnte noch viel mehr, nämlich Kla-
vier spielen und viele Menschen unterhalten. Irgendeinen Spaß hatte er immer auf Lager. Da-
neben hatte er aber auch eine ausgeprägte zwanghafte Seite, wie ich sie nie wieder bei einem
anderen Menschen erlebt habe. Eine Scheibe Brot musste genau 8 mm dick sein und wenn
sein Sohn Eike sie zu dick oder zu dünn schnitt (7 oder 9 Millimeter), gab es einen heftigen
Rüffel und die Scheibe musste neu geschnitten werden.

Vor dem Weihnachtsfest zog sich Rudi für mehrere Tage zurück, um ungestört den Weih-
nachtsbaum zu schmücken. Mit einer Pinzette legte er jeweils einen Lamettastreifen hinter je-
des Nadelpaar. Das Ergebnis war phantastisch: ein total versilberter Baum - mit roten Kugeln.

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Rudi hatte kein leichtes Leben. Weil er in der NSDAP war, durfte er in der DDR nicht weiter
als Lehrer arbeiten. Er ging mit seiner Familie in den Westen und schlug sich als Buchhalter
durch. Erst nach vielen Jahren gelang es ihm, wieder in den Schuldienst zu kommen. Nun
war er an einer Schule in Tübingen und machte aus seiner zwanghaften Art eine Tugend: die
ganzen Schulferien über bosselte er an den Raumverteilungsplänen. Das war - ohne Compu-
ter - eine Heidenarbeit und er war dafür genau der richtige Mann.

Mit meiner Schwester führte Rudi eine bühnenreife Streitehe. Die beiden fanden immer wie-
der etwas, worin sie sich nicht einig waren. Bekanntlich sind solche Ehen äußerst dauerhaft,
weil beide Partner einander ständig brauchen. So haben sie es lange miteinander ausgehalten
bis Rudi – viele Jahre später - auf eine zu ihm passende Weise zu Tode kam. Er verursachte
einen Verkehrsunfall, sagte noch schnell der Polizei und dem Abschleppdienst Bescheid und
fiel dann tot um. Dass ihm, dem so korrekten Menschen, einmal etwas außer Kontrolle gera-
ten konnte (die Angst des zwanghaften Charakters vor dem Chaos!) muss ihm geradezu den
Boden unter den Füßen weggezogen haben - eine Deutung, der auch meine Schwester zu-
stimmte.

2.3. Nachsitzen
Der nächste Kurs zur Vorbereitung auf die Ergänzungsprüfung sollte im Oktober beginnen.
Es blieben also noch ein paar Monate Zeit, um meine Finanzen aufzubessern. Zunächst half
ich beim Zusammenbau eines Fahrstuhls. Die Unikliniken wurden erweitert. Es waren herr-
liche, sonnige Spätsommertage. In den Arbeitspausen lag ich auf den Streuobstwiesen zwi-
schen den neuen Klinikgebäuden, schob mir eine Zwetschge nach der anderen in den Mund
und war rundum zufrieden. Bis hierher war alles gutgegangen!

Als der Aufzug fertig war, fand ich eine Stelle bei einer Fertighausfirma. Die war auf Barak-
ken für NATO-Flugplätze spezialisiert. Kaum war ich da, gab es einen Betriebsausflug zu ei-
ner Baustelle in der Nähe von Verdun. Das war meine erste Begegnung mit den Schlachtfel-
dern des ersten Weltkrieges. Zehntausende von Grabkreuzen, alle in Reih und Glied ausge-
richtet - von dieser Seite des Krieges war in den Erzählungen meines Vaters nicht die Rede
gewesen.

Im Oktober 1958 begann der Vorbereitungskurs für die Ergänzungsprüfung. Der Unterricht
fand in einem Wohnheim der Arbeiterwohlfahrt in Tübingen statt, untergebracht waren wir
weit draußen vor der Stadt, auf dem Einsiedel. Jedes Schulkind in Tübingen kennt diesen Ort.
Hier residierte einst Graf Eberhard. Aus dem heiligen Lande hatte dieser überaus beliebte Re-
gent ("Eberhard, der mit dem Barte, Württembergs geliebter Herr...”) einen Weißdornstrauch
mitgebracht. Immer wenn dieser Weißdorn blüht, bekommen die Tübinger Kinder schulfrei
und pilgern hinauf zum Einsiedel. Wir dagegen schliefen dort oben und pilgerten hinunter in
die Stadt, um uns beschulen zu lassen. Pilgern ist nicht ganz der passende Ausdruck. Ein
klappriger Bus holte uns ab. Bald besaß ich sogar ein eigenes Fahrzeug, natürlich noch kein
Auto, sondern ein Fahrrad mit Hilfsmotor. Mit dem tuckelte ich an den freien Wochenenden
im Schwarzwald herum.

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Warum es in unserem Kurs ständig mündliche und schriftliche Noten gab, wenn doch hinter-
her bei der Suche nach einem Studienplatz die Noten des DDR-Abiturs galten, wusste nie-
mand. Jedenfalls haben wir uns nicht unnötig angestrengt. In jedem Fach eine Vier zu haben,
reichte völlig. Leicht schockiert war ich von unseren Lehrern, zumeist pensionierte Studien-
räte, die sich noch etwas zu ihrer Pension dazuverdienten. Es waren unbelehrbare Nazis da-
runter, die aus ihren Ansichten kein Hehl machten. So etwas hatte es in der DDR nicht gege-
ben.
Im April 1959 bestand ich die Ergänzungsprüfung. Nun konnte das Studium losgehen, aber
wo? Die theologischen Hochburgen waren zu jener Zeit Heidelberg, Marburg, Göttingen und
Tübingen. Ich hätte also gleich am Ort bleiben können, aber es kam anders. Die Arbeiter-
wohlfahrt, die unseren Ergänzungskurs ausgerichtet hatte, machte in Bonn ein Studenten-
wohnheim auf und bot uns preiswerte Heimplätze an. Also: Auf nach Bonn!

2.4 In der Bundeshauptstadt Bonn am Rhein


Im Sommersemester 1959 schrieb ich mich an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Univer-
sität als Theologiestudent ein. Bonn war damals eher eine Kleinstadt als eine Großstadt und
der Titel "Hauptstadt" mutete eher wie ein Witz an. Die Bahnlinie teilte die Stadt in zwei
Hälften. Kam ein Zug, sorgten die Schranken jedes mal für ein Verkehrschaos. Ein geflügel-
tes Wort brachte es auf den Punkt: Entweder du bist müde, oder es regnet oder die Schranken
"sin erunne". Damit war das Wichtigste über Bonn gesagt.

Dem Bonner Klima schrieb man eine mumifizierende Wirkung zu, was schon immer Pensio-
näre anlockte. Diese dröge Pensionärsstadt war 1949 völlig unerwartet zur Hauptstadt erho-
ben worden und als Folge davon ergoss sich ein bürokratischer und diplomatischer Zucker-
guss über die Stadt, der gar nicht zu ihr passte und von den Alteingesessenen mit Befremden
zur Kenntnis genommen wurde. Was war nur aus ihrem kleinen, gemütlichen Städtchen ge-
worden? Es gab Staatsbesuche und Empfänge, Polizeieskorten lotsten wichtige Menschen zur
Villa Hammerschmidt und zum Kanzleramt. Tausende von Bundesbeamten bauten sich in
den umliegenden Dörfern ihre Häuschen und die Mitarbeiter fremder Botschaften parkten
kreuz und quer auf den Bürgersteigen - dank Immunität von der Polizei unbehelligt.

Bonn platzte aus allen Nähten und hätte eigentlich völlig umgebaut werden müssen. Aber das
wollte man damals noch nicht. Bonn sollte ein Provisorium bleiben, um zu dokumentieren,
dass man noch immer auf die Einheit Deutschlands hoffte. Der große Modernisierungsschub
(Abgeordnetenhochhaus, Kanzlerbungalow, neuer Plenarsaal, Museumsmeile usw.) all das
kam erst sehr viel später, als man sich mit der deutschen Teilung endgültig abgefunden hatte
und sich in Bonn auf Dauer einrichtete.

Die Uni residierte, wie auch heute noch, im Schloss und die Universitätsgottesdienste fanden
in der integrierten Schlosskirche statt. Vermutlich gab es auch in Bonn Professoren, die der
Universität Ruhm und Ehre eingebracht hatten, aus meiner Bonner Zeit sind mir keine erin-
nerlich, schon gar nicht Theologen. Wahrscheinlich wussten die meisten Deutschen damals
nicht einmal, dass es in Bonn eine Universität gibt.

Das Studentenwohnheim der AWO lag in Bad Godesberg, damals noch eine selbständige
Stadt, eine Art nobler Vorort von Bonn. Mit der Straßenbahn kam man schnell von einem Ort

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zum anderen. Außerdem hatte ich bald ein Moped (grasgrün Marke NSU Quickly). Damit
knatterte ich über die B9, die sog. Diplomatenrennbahn, zur Uni und wieder zurück.

Mit dem Lastenausgleichs-Stipendium kam ich so einigermaßen über die Runden. Es waren
zwar nur 180,-- Mark, aber Mieten und Lebenshaltung waren billig. Außerdem konnte ich in
den Semesterferien dazuverdienen. Diese Erfahrungen in der Arbeitswelt waren allerdings er-
nüchternd. Einmal fand ich eine Stelle in der Papierverarbeitung. Frühstücksbeutel sollten
zusammengetragen und mit einer Banderole versehen werden. Keine besonders schwierige
Aufgabe. Am Band arbeiteten Männer und Frauen nebeneinander, die Männer bekamen je-
doch für die gleiche Arbeit einen höheren Lohn. Das fand ich ungerecht und sagte das auch
laut und deutlich. Daraufhin wurde ich zum Chef zitiert, der mir eine Standpauke hielt: Da
habe er nun so einem armen Studenten helfen wollen und was tut dieser undankbare Mensch?
Er wiegelt die Belegschaft auf und verbreitet kommunistische Parolen! Hinaus mit ihm, nie
wieder soll er seinen Fuß über diese Schwelle setzen. Die Situation war einigermaßen skurril,
dann ich war ja gerade erst als politischer Flüchtling anerkannt worden, sie passte aber zum
Antikommunismus der Adenauer-Ära. Georg Kreisler hat es auf eine herrliche Kurzform ge-
bracht: "In der Bundeshauptstadt Bonn am Rhein fürchtet sich der Kommunist, sollt es etwas
weiter östlich sein, fürchtet sich, wer keiner ist."

Übrigens hatte mich eine der benachteiligten Frauen beim Chef verpfiffen. Kaum zu glauben:
Die Sklaven verteidigen ihre Ketten! Erich Fromm hat über diese “Furcht vor der Freiheit”
ein lesenswertes Buch geschrieben. Befreiungsbewegungen und -theologien neigen dazu, die-
sen Effekt zu übersehen.

Ein andermal arbeitete ich bei Coca-Cola. Hier waren die Arbeitsabläufe auf die Sekunde ge-
nau durchgeplant. Alle 20 Minuten wurde der Arbeitsplatz gewechselt, erst 20 Minuten Fla-
schen in eine Spülmaschine setzen, die so schnell lief, dass man kaum nachkam, dann 20 Mi-
nuten "Erholung" beim Aussortieren nicht vollständig gefüllter Flaschen. Hier wurde wirklich
das Letzte aus den Menschen herausgeholt. Es gab viele Unfälle, weil man bei dem hohen
Tempo nicht nachschauen konnte, ob zerbrochene Flaschen im Kasten waren. Irgendwann
griff jeder mal in Scherben und konnte froh sein, wenn er sich keine Infektion holte.Genau so
hatte man uns in der DDR den Kapitalismus geschildert! Dass die Cola-Flaschen heute durch
Automaten aus den Kästen gehoben werden, ist ein Fortschritt. Allerdings macht die Maschi-
ne den Menschen arbeitslos. Wie wäre es mit langsamerem Arbeiten?

2.5 Im Pädagogium
Nach einem Jahr ergab sich für mich eine andere Lösung. Das Päda suchte Erzieher. Das
Päda - offiziell hieß es Pädagogium Bad Godesberg / Otto-Kühne-Schule - war ein öffentlich
zugängliches Gymnasium mit privatem Internat. Die Internatsschüler, nur Jungen, lebten un-
ter der Obhut von Hauseltern in alten Villen direkt neben dem monströsen Backsteinbau der
Schule. In jedem dieser Internatshäuser gab es zwei "Erzieher" für die Beaufsichtigung der
Schüler. Man bekam zwar nur ein Taschengeld, aber Kost und Logis waren frei. Theologie-
studenten nahm man sogar besonders gern, denn es handelte sich um ein christliches Haus,
mit Tischgebet und Sonntagskirchgang.

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Ich zog also aus dem Studentenwohnheim aus und wohnte fortan in einer schönen Gründer-
zeitvilla, oben unterm Dach. Oft sah ich Adenauer unterwegs nach Rhöndorf bei uns vorbei-
fahren. Er saß im Font seines schwarzen Mercedes, der heute im Bonner Haus der Geschichte
zu sehen ist, und studierte Akten.

Wir Erzieher mussten nachmittags die Schulaufgaben beaufsichtigen, gelegentlich Nachhilfe


erteilen, abends darauf achten, dass das Licht nicht zu lange brannte und am Wochenende mit
den Jungen, sofern sie nicht heim fuhren, Ausflüge in den Kottenforst und ins Siebengebirge
unternehmen. Für das Studium blieb mir neben dieser Tätigkeit genügend Zeit. Vormittags
waren die Jungs in der Schule und zum Vokabeln-Pauken musste ich ohnehin nicht nach
Bonn fahren, das konnte ich auch in Bad Godesberg erledigen.

Die Licht und Schattenseiten des Internatsbetriebes lernte ich in meiner Päda-Zeit gründlich
kennen. Einerseits waren hier Kinder, deren Vater beispielsweise Landarzt in einer abgele-
genen Gegend war. Die besuchten das Internat, weil sie kein Gymnasium in Reichweite hat-
ten. Andere kamen, weil die Eltern sie los sein wollten. Wir hatten auch viele Diplomaten-
kinder, die waren oft schon weit in der Welt herum gekommen, manchmal waren sie maßlos
verwöhnt. Am Wochenende, wenn sie heimfahren durften, kam dann ein Luxusschlitten und
der Chauffeur hielt dem Diplomatensprössling die Tür auf. Eine bunte Mischung also.
Schlimm war es, wenn ein Kind fürs Gymnasium nicht begabt genug war, aber die Eltern
meinten: Hier bezahlen wir gutes Geld, dann muss es das Internat schaffen, unser Kind
durchs Abitur zu bringen. Das gab Nachhilfestunden ohne Ende.

Der Hausvater besaß die volle Erziehungsgewalt und gelegentlich bezog ein Schüler eine
Tracht Prügel, wenn er nicht parierte. Heute würde das die Polizei und den Kinderschutzbund
auf den Plan rufen, damals regte sich niemand darüber auf, sollte es doch zum Besten des
Kindes dienen, gemäß dem Leitsatz des Pädagogiums: “Lex suprema salus liberorum” (Das
Wohl der Kinder ist unser oberster Grundsatz).

In einem Haus voller heranwachsender Jungen, ließ sich die Sexualität natürlich nicht ganz
verbannen, auch wenn das die Leitung in christlich-prüder Weise gern getan hätte. Da hatten
wir Erzieher es schwer, zwischen der Solidarität mit unseren "Zöglingen" und der Loyalität
gegenüber dem Arbeitgeber. Ein Kollege aus dem Nachbarhaus wurde fristlos entlassen, weil
er einem Schüler auf dessen Nachfrage hin erklärt hatte, was ein Kondom ist. So war das, da-
mals in den Zeiten vor Oswald Kolle!

2.6 Wie es in Leipzig weiterging


Als ich in den Westen "abhaute", war mir klar, dass ich meine Eltern wahrscheinlich nie mehr
wiedersehen würde. Aber es kam anders. Im Sommer 1959, ein Jahr nach meinem Weggang,
trafen wir uns in Westberlin. Um nicht durch die DDR fahren zu müssen, war ich von Hanno-
ver aus nach Berlin geflogen. Meine Eltern kamen mit dem Zug dorthin. Vor dem U-Bahnhof
im Hansaviertel fielen wir uns in die Arme. Gleich darauf ging mein Vater zur Toilette und
kam mit einem Packen Papiere wieder, die er mir in den Hand drückte. Er hatte die Originale
aller meiner Zeugnisse unter seinem Hemd in den Westen geschmuggelt. Ein großartiges Zei-
chen seiner väterlichen Liebe. Bis dahin besaß ich nur Fotokopien, die immer etwas misstrau-
isch beäugt wurden, wenn ich sie irgendwo vorlegte.

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Ein halbes Jahr später, im Februar 1960, ist mein Vater in Leipzig gestorben. Als Todesursa-
che war eine Lungenentzündung angegeben, man hätte aber ebenso gut Altersschwäche sagen
können. Er hatte viel erlebt mit seinen 82 Jahren, zwei Weltkriege hatte er überstanden, mehr-
fach hatte er alle seine Ersparnisse verloren, zweimal war er verheiratet, zuletzt war er ein-
fach ausgelaugt. Leider hat er nicht mehr miterleben können, wie ich - sein einziger Sohn -
das Studium gut zu Ende brachte und sogar einen Doktortitel erwarb. Er wäre stolz auf mich
gewesen. Ich überlegte, ob ich zur Beerdigung fahren sollte, traute mich aber nicht. Ich fürch-
tete, dass sie mich “einkassieren” würden.

Für meine Mutter, begann nun ein neuer Lebensabschnitt. Eigentlich war sie in Leipzig nie
so richtig angewachsen, warum also nicht wieder dorthin zurückgehen, von wo sie gekom-
men war, in ihr Heimatdorf Helmlingen. Die DDR hatte gegen die Ausreise nichts einzuwen-
den, im Gegenteil, jeder Rentner, der in den Westen ging, entlastete die staatliche Renten-
kasse. Als Witwe eines deutschen Postbeamten konnte meine Mutter im Westen Hinterbliebe-
nenversorgung beanspruchen. Das war nicht viel, aber sie konnte davon leben. Später hat sie
sogar zusammen mit ihrem Bruder ein Haus gebaut.

Vor der Ausreise waren einige bürokratische Hürden zu überwinden. Man musste lange Um-
zugslisten erstellen und Eigentumsnachweise beibringen. Schließlich sollte bei so einem Um-
zug nichts in den Westen "geschmuggelt" werden. Schnell noch ein Service aus Meißner Por-
zellan anschaffen, ging also nicht. Ansonsten verlief alles ganz problemlos. Möbel und Haus-
rat kamen in einen Güterwagen, der wurde verplompt und rollte gen Westen. Dort wartete be-
reits meine Mutter, um nachzuschauen, ob nichts verlorengegangen war. Sie war bei ihrem
Bruder untergekommen. Dessen Frau war gestorben und der arme Mann musste sich mit vier
gerade flügge werdenden Töchtern herumschlagen. Nun übernahm meine Mutter das Kom-
mando.

Auch für mich entstand eine neue Situation: ich hatte wieder ein zu Hause. Dort konnte, soll-
te, musste ich mich gelegentlich blicken lassen. Das war immer eine zweischneidige Angele-
genheit. Ich wurde verwöhnt, bekam mein Lieblingsessen gekocht, die Wäsche gewaschen
und durfte noch jede Menge selbst eingemachte Marmelade mitnehmen. Andererseits fanden
die alten Besorgnisse meiner Mutter neue Nahrung. Aus mir war immer noch nichts Rechtes
geworden und wer weiß, ob das jemals der Fall sein würde. Meist ging drei Tage lang alles
gut, dann bekamen wir uns wieder "in die Wolle" und ich reiste ab.

Manches lief nicht ganz so einfach wie meine Mutter es sich gedacht hatte. Die vier Töchter,
denen sie die Mutter ersetzen sollte, wuchsen ihr rasch über den Kopf und die dörfliche Um-
welt unterschied sich deutlich vom städtischen Leben in Leipzig. Obwohl meine Mutter hart
zu arbeiten gewohnt war, nahm sie sich sonntags die Freiheit, im Liegestuhl ein Buch zu le-
sen. Das kam auf dem Dorf nicht so gut an. Sie war jedoch in ihrer Sippe gut aufgehoben und
sie verstand auch den Dialekt ihrer Heimat. Warum das Nachbardorf Memprechtshofen
"Memmezeffe" genannt wird und eine Plastiktüte schlicht "Guck" heißt, werde ich nie begrei-
fen.

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2.7 Fremde Sprache - schwere Sprache
Bevor das Studium richtig losgehen konnte, musste ich mich erst einmal mit den alten Spra-
chen befassen. Großes Latinum, Graecum und Hebraicum wurden beim Theologiestudium
vorausgesetzt. Die Uni war immer noch der Meinung, dass ein künftiger Theologe ein huma-
nistisches Gymnasium besucht hat und folglich die drei alten Sprachen schon mitbringt. In-
zwischen gab es aber immer weniger humanistische und dafür mehr naturwissenschaftlich
oder neusprachlich ausgerichtete Gymnasien. Folglich hatten immer weniger Studienanfänger
ihre Sprachscheine in der Tasche. Das kümmerte die Uni jedoch wenig, sie bot zwar ein paar
Nachholkurse an, aber die Prüfung war Sache des Schulkollegiums beim nächsten Regie-
rungspräsidenten. Dort musste man als Externer die schulische Sprachprüfung nachholen.
Mit den Anforderungen des Studiums war das überhaupt nicht koordiniert. Man musste klas-
sisches Griechisch pauken, obwohl das Neue Testament gar nicht in klassischem Griechisch
geschrieben ist. Auch halfen einem die Reden Ciceros nicht weiter, wenn im Studium Kir-
chenlatein zu übersetzen war. Nur beim Hebräischen passte beides zusammen, da gab es nun
mal nur das Alte Testament zu übersetzen.

Das tägliche Leben hatte sich in der Nachkriegszeit deutlich verändert, aber die Universitäten
hatten einfach so weitergemacht, wie sie es seit Humboldt gewohnt waren - ein Reformstau,
an den sich damals noch niemand heranwagte. Erst die 68er machten daraus ein Thema: "Un-
ter den Talaren, Muff von tausend Jahren!"

Dass die Sprachprüfungen für mich eine schwierige Hürde würden, hatte ich mir schon ge-
dacht. Dass es so schwierig würde, hat mich überrascht. Ich bin nicht sonderlich sprachbe-
gabt, hätte vielleicht an Konversation Gefallen gefunden, aber hier ging es um tote Sprachen,
ums reine Übersetzen. Dass man das Gelernte hinterher gleich wieder vergessen konnte, weil
es ja nur um den Schein ging, trug auch nicht gerade zur Motivation bei. Aber: es führte kein
andrer Weg zum Pfarrberuf, also musste ich mich durchbeißen. Im Frühjahr 1960 meldete ich
mich zum Graecum - und fiel prompt durch. Na gut, dachte ich, dann lässt Du das Griechisch
erst mal liegen und machst das große Latinum (das kleine hatte ich schon, weil es Teil der Er-
gänzungsprüfung war). Das Latinum ging gut. Aber nun wieder Griechisch, ein zweiter Ver-
such - wieder durchgefallen. Jetzt wurde die Sache ernst, denn ich hatte nur noch einen letz-
ten Versuch.

Mir kamen erhebliche Zweifel. Sollte ich das Theologiestudium sausen lassen? Vielleicht hat-
te ich mir doch zuviel vorgenommen? Aber was war die Alternative? Wieder an die Reprofo-
tografie anknüpfen? Mein ganzer Lebensplan schien zusammenzustürzen. In meiner Ratlo-
sigkeit wandte ich mich an meinen Freund aus Leipziger Zeiten, Peter Weber. Peter war eben-
falls in den Westen gegangen aber der Drucktechnik treu geblieben. Er konnte mir auch nur
wenig Hoffnung machen, noch einmal umzusteigen. Allerdings verhalf er mir doch zu einer
neuen Perspektive. Peters Vater war aus den Zeiten der Bekennenden Kirche mit Pastor
Niemöller befreundet. Niemöller war jetzt Kirchenpräsident in Hessen-Nassau. Ihm schrieb
Peters Vater einen Brief: es gäbe da in Bonn einen jungen Mann, der wolle gerne Pfarrer
werden, käme aber mit dem Studium nicht so recht voran, ob man da nicht etwas tun könne.
Kurz darauf erhielt ich eine Einladung ins Landeskirchenamt nach Darmstadt. Das Gespräch
verlief sehr erfreulich. Natürlich müsse ich jetzt schnell die Sprachprüfungen hinter mich
bringen, aber ich könne ja nach Mainz gehen, dort sei zumindest das Hebraicum kein Prob-
lem, weil man gut vorbereitet würde. Wenn ich bereit sei, später in Hessen-Nassau Pfarrer zu

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werden, könnte ich im kirchlichen Wohnheim wohnen und hätte da auch gleich das richtige
Lernumfeld. Wenn mein Stipendium ausgehe - es war auf ein rasches Studium zugeschnitten
- würde man mir auch finanziell weiterhelfen.

Damals waren die evangelischen Landeskirchen, anders als heute, in Personalnot. Der Pfar-
rerstand war überaltert, man brauchte dringend Nachwuchs. Da es den Kirchen finanziell gut
ging - die Kirchensteuereinnahmen wuchsen von Jahr zu Jahr - ließ man gern etwas springen,
um künftige Theologen in den eigenen Hafen zu lotsen. So kam ich zum Sommersemester
1961 nach Mainz ins evangelische Studentenwohnheim "Jochen Klepper Haus“, direkt neben
der Uni. Die Rheinpfalz von Bingen bis Worms gehört zwar politisch nicht zu Hessen, son-
dern zu Rheinland-Pfalz, kirchlich aber zu Hessen-Nassau. Ich befand mich also bereits auf
dem Gebiet meiner künftigen Landeskirche.

2.8 Meenz bleibt Meenz


Mainz war es ähnlich ergangen wie Bonn. Über eine eher verschlafene Stadt war nach dem
Krieg eine neue Zeit hereingebrochen. Man war zwar nicht gleich Bundeshauptstadt, sondern
nur Landeshauptstadt geworden, aber immerhin. An der "Großen Bleiche", wo früher die
Wäsche zum Bleichen ausgelegt wurde, wuchsen jetzt Regierungsgebäude in die Höhe. Es
gab sogar ein "Ministerium für Reblausbekämpfung und Wiederaufbau", was die Frage nahe
legte, mit welch fürchterlichen Waffen man die armen Rebläuse zu bekämpfen gedachte.

Neben den alten Gassen mit ihren Weinstuben entstanden - wie überall in Deutschland - "mo-
derne" Betonkästen. Draußen vor der Stadt, in einer ehemaligen Kaserne, gab es jetzt sogar
eine Universität und die Weinbauern der umliegenden Dörfer konnten überflüssige Kammern
an Studenten vermieten.

Berühmt war der Mainzer Bürgermeister Stein, kurz OB Stein genannt. Angeblich war er frü-
her Milchhändler gewesen. Über OB Stein und seinen Bildungsstand kursierten zahlreiche
Witze. Ein Beispiel: Schiller ist gestorben und klopft bei Petrus an die Himmelstür. Petrus:
"Schiller? Das kann jeder behaupten, sagen Sie mal ein paar Zeilen aus der Glocke auf!"
Schiller besteht die Prüfung und darf rein. Danach klopft Goethe, muss etwas aus dem Faust
aufsagen und wird ebenfalls eingelassen. Eine Weile später steht wieder einer vor der Tür:
"Ich bin der OB Stein aus Meenz". Auch ihm stellt Petrus eine Testfrage: "Wer war Hans Ca-
rossa?" Stein selbstbewusst: "Ein deutscher Kaiser, der hat im Schnee in Italien Buße getan."
Darauf Petrus: "Kommen Sie rein, das kann nur der OB Stein sein.” Soweit zum geistigen
Klima in der neugebackenen Universitätsstadt. In einer Rede zum 17. Juni verstieg sich Stein
zu dem Satz "Mainz hat ein ähnliches Schicksal zu tragen wie Berlin!" Gemeint war, dass
die Amerikaner den Mainzern ihre rechtsrheinischen Vororte weggenommen und Wiesbaden
zugeschlagen hatten. Das haben ihnen die Mainzer nie verziehen. Stein hatte durchaus Volkes
Stimme wiedergegeben, nur der Vergleich mit Berlin lag völlig daneben und entsprechend
fiel die Presse über ihn her.

Ja und dann gab in Mainz noch den Karneval, damals noch nicht so stark kommerzialisiert
wie heute. Wenn Ernst Neger sein "heilernes Gäns´che" sang oder Margit Sponheimer ihr
"Gell, du hast mich gelle gern" trällerte, waren die Mainzer selig.

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Der Umzug von Bonn nach Mainz brachte mich tatsächlich neu in Schwung. Zwar hatte ich
das Graecum immer noch nicht in der Tasche, aber das Hebraicum schaffte ich im ersten An-
lauf. Zu verdanken hatte ich dies einem Mainzer Unicum, dem Professor Rapp. Rapp war ein
Sprachgenie, hatte schon während seines Studiums einen unbekannten Äthiopischen Dialekt
entdeckt und sammelte seitdem Sprachen wie andere Leute Bierdeckel oder Briefmarken.
Mehr als 20 beherrschte er schon - Dialekte nicht mitgerechnet - und jedes Jahr kam eine
neue hinzu. Uns Studenten verriet er, wie man das macht: einfach ein Karl-May-Buch (Karl
May wurde in fast alle Sprachen übersetzt) und eine Grammatik in die Ferien mitnehmen und
am Ende kann man wieder eine Sprache mehr! Der Mann war wirklich ein Phänomen. Die
Basler Mission schickte ihn mehrmals nach Westafrika um dort für Völker, die noch keine
Schriftsprache besaßen, eine zu entwickeln.

In Mainz lehrte Rapp Altes Testament, hielt Hebräisch-Kurse und nahm am Schluss auch
selbst die Prüfung ab. Der Mann hatte noch eine weitere Begabung: er konnte sich hunderte
von Witzen merken. Wenn es regnete ließ er die Vorlesung sein und erzählte eine Dreiviertel-
stunde lang Regenschirm-Witze. Einen habe ich mir gemerkt: Es hat geregnet und der zer-
streute Professor kommt völlig durchnässt nach Hause. “Warum hast Du denn keinen Schirm
mitgenommen?” fragt seine Frau. “Ich habe ja einen mitgenommen, aber ich habe ihn irgend-
wo liegen gelassen.” “Und wo hast du ihn liegen gelassen?”, will die Frau wissen. “Daran
kann ich mich nicht erinnern.” Die Frau: “Kannst du dich denn wenigstens erinnern, wann du
gemerkt hast, dass er nicht mehr da ist?” Der zerstreute Professor: “Gemerkt habe ich es, als
ich ihn zumachen wollte, weil es aufhörte zu regnen.”
So locker wie bei Rapp ging es im Studium nur selten zu. Kein Wunder dass bei ihm das He-
bräisch-Lernen leicht fiel. Im Dezember 1961 habe ich dann, beim letzten Versuch, auch das
Graecum bestanden und war nun frei für das eigentliche Studium. Zwar konnte man sich die
Lehrveranstaltungen frei aussuchen, doch bot sich ein systematisches Vorgehen an. Zunächst
die Einleitungswissenschaften, also Hintergrund, Aufbau und Inhalt der einzelnen biblischen
Schriften. Dazu Einzelthemen der Kirchengeschichte z.B. die Reformationszeit. Später dann
die sog. Systematische Theologie unterteilt in Dogmatik und Ethik. Zuletzt die "Praktische
Theologie", also Predigt, Unterricht und Seelsorge.

2.9 Im Bann der historisch-kritischen Methode


Zuerst einmal ging es darum, das wissenschaftliche Arbeiten im Blick auf biblische Texte zu
erlernen. Anders als aus ich es aus der Kirchengemeinde gewohnt war, hieß "wissenschaft-
lich": möglichst unvoreingenommen an die Texte heranzugehen. In der Gemeinde gab man
diesen Texten immer schon einen Vertrauensvorschuss. Die Bibel galt als "Wort Gottes". Die-
se Autorität wurde ihr zugeschrieben, schon bevor man die erste Seite aufschlug. Wissen-
schaftlich arbeiten hieß dagegen: Es gibt eine Menge antiker Bücher, die Bibel ist nur eins
davon. Wenn ihr eine besondere Autorität zukommt, dann muss sie sich diese Autorität so-
zusagen erst verdienen. Konkret: Die Forderung "liebet eure Feinde" ist nicht darum zu be-
herzigen, weil sie in der Bibel steht, oder weil Jesus das gesagt hat, sondern weil sie uns
überzeugt, einleuchtet, sich bewährt oder auf eine andere Weise unser Herz gewinnt. Man
kann die biblischen Texte durchaus "Wort Gottes" nennen, aber nur wenn sie sich als solches
erwiesen haben. Diese Sichtweise, die sog. historisch-kritische Methode, war für mich neu.
Ich hatte bis dahin einem naiven Biblizismus gehuldigt. Aber die neue Sichtweise überzeugte
und kam auch meiner naturwissenschaftlich ausgerichteten Schulbildung entgegen.

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In Mainz wurde die historisch-kritische Methode von Herbert Braun, einem Bultmannschüler
vertreten. Braun war, ähnlich wie Rapp, ein Original. Er war klein und rundlich gebaut, ein
echter Pykniker, bei dem jede Hose unweigerlich nach unten rutschen musste. Er half sich
mit Hosenträgern. Damit diese nicht auffielen - Braun pflegte hemdsärmelig zu dozieren -
hatte er sich eine besondere Konstruktion ausgedacht. In seine Hemden waren vier Schlitze
eingearbeitet. Vorn wurde der Hosenträger an der Hose angeklammert, verschwand dann in
seinem Schlitz, wanderte unter dem Hemd entlang, kam durch einen zweiten Schlitz an der
Rückseite wieder zum Vorschein und wurde an der Hose befestigt. Genial! Herbert Braun
lehrte Neues Testament. Er war ein vorzüglicher Kenner der antiken Literatur und der Um-
welt des Neuen Testamentes. Sogar die gerade erst entdeckten Schriftrollen von Qumran hat-
te er schon darauf hin abgeklopft, ob Jesus vielleicht der Jüdischen Essener-Sekte angehörte.

Braun brachte unser bisheriges Weltbild ziemlich durcheinander. Da hatten wir gedacht, Jesus
sei als einziger Mensch vom heiligen Geist gezeugt und von einer Jungfrau geboren. Stimmt
nicht, hat man alles von Alexander dem Großen und von Römischen Kaisern auch schon er-
zählt. Kranke heilen, Dämonen austreiben, übers Wasser laufen - antike Wundermänner
machten das mit Links. Auferstehung und Himmelfahrt gabs im alten Ägypten und bei Apol-
lonius von Tyana auch schon. Braun zitierte jeweils zahlreiche Fundstellen. Da standen wir
nun und der bisherige "Glaube" zerrann uns zwischen den Fingern. Braun ist deswegen oft
angegriffen worden und die Mainzer Uni war bei frommen Leuten nicht gut angesehen. Da-
bei ging es ihm um intellektuelle Redlichkeit! Wenn Wundergeschichten antikes Allgemein-
gut sind, darf man nicht so tun, als habe Jesus als einziger Mensch Wunder vollbracht.

Aber was bleibt dann überhaupt von der Einzigartigkeit Jesu noch übrig? Brauns Antwort
war: Seine Art, mit anderen - mit Verrätern, Sündern, Außenseitern - umzugehen. Und dass er
sich für seine Überzeugung kreuzigen ließ - das taten die anderen Gottes- und Wundermänner
nicht. Auch der jüdische Messias leidet nicht. Man musste also die Blickrichtung umkehren.
Nicht die (für uns) wunderhaften Ereignisse waren das Besondere an Jesus, sondern dass die-
se Ereignisse ausgerechnet diesem Mann, dem Freund der Sünder und Zöllner, zugeschrieben
wurden. Das leuchtete ein und hat mich, auch wenn ich mich nicht gleich als Braunianer be-
zeichnen würde, nachhaltig geprägt.

Überlegungen, wie Braun sie anstellte, waren damals revolutionär. Heute sind sie längst All-
gemeingut. Hinter die historisch-kritische Forschung kann man nicht mehr zurück. Jedenfalls
nicht im Rahmen wissenschaftlicher Theologie. In der Gemeindefrömmigkeit und in der Pre-
digtpraxis herrscht mitunter noch eine unbekümmerte Naivität.

Später sind weitere Zugänge zu biblischen Texten eröffnet worden, an die während meines
Studiums noch niemand dachte, beispielsweise die sozialgeschichtliche und die feministische
Interpretation biblischer Texte.

2.10 Das Mainzer Dreigestirn


Neben Braun wirkten in Mainz noch zwei weitere Professoren, die in die gleiche Richtung ar-
beiteten: Manfred Mezger und Gerd Otto. Beide waren für die Praktische Theologie zu-
ständig und zogen ebenfalls viele Studenten in ihren Bann. Mezger mit der "Gabe der Rede",
Otto indem er moderne Kunst, zeitgenössische Literatur und psychoanalytische Erkenntnisse

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in seine Vorlesungen einbezog. Bei Otto konnte man lernen, dass christlicher Glaube und
Modernität sich nicht ausschlossen.

Da Mezger, Braun und Otto sich persönlich gut verstanden, gern einen Wein miteinander
tranken, bildeten sie eine Art "Mainzer Dreigestirn". Sie hielten auch gemeinsame Lehrver-
anstaltungen ab, die berühmten "Sozietäten". Der damalige Assistent von Otto, Johannes
Schreiber, ging später als Professor für Praktische Theologie nach Bochum und wurde mein
Doktorvater. So gesehen bin ich, wenn man so will, ein Vertreter der “Mainzer Schule“. Scha-
de war, dass diesem Dreigestirn nicht noch ein vierter "Star" im Bereich Systematische Theo-
logie beigesellt war. Da war Mainz schlecht besetzt, Pannenberg ging nach München und hat-
te ohnehin eine andere Richtung. Meine Lehrer in Dogmatik und Ethik musste ich mir in Bü-
chern suchen. Mit Karl Barth, der eine ganze Theologengeneration geprägt hat, konnte ich
wenig anfangen. Seine Kulturkritik - Kultur und jede Art von Religion sind für Barth Versu-
che des Menschen, sich selbst zu erlösen - passten nicht zu mir. Dagegen habe ich begeistert
Paul Tillich gelesen. Bei ihm ist es genau umgekehrt: Kultur, Religion, Kunst, Wissenschaft
u.s.w. sind Versuche, sich Gott anzunähern. Das kam mir mehr entgegen, schließlich hatte ich
selbst einen Hang zu künstlerischer Betätigung.

Von Tillich habe ich gelernt, nicht darüber zu streiten, ob es Gott gibt oder ob es ihn nicht
gibt. Gott ist nicht ein Ding wie eine Büroklammer oder ein Radiergummi, den es gibt oder
auch nicht geben könnte. Gott ist vielmehr der Grund dafür, dass es überhaupt etwas gibt und
nicht nichts. Dass Tillich seine Wurzeln im religiösen Sozialismus hat, kam mir ebenfalls ent-
gegen. Ich fand das, was sie in der DDR versuchten, eine gerechte Gesellschaftsordnung auf-
zubauen, ein erstrebenswertes Ziel - nur die Mittel um dieses Ziel zu erreichen taugten offen-
bar nichts.

2.11 Im Jochen-Klepper-Haus
Das Leben im Wohnheim bewahrte davor, in einer abgelegenen Studenten"bude" in Trübsinn
zu versinken. Es war immer jemand da, mit dem man etwas unternehmen konnte, Tischtennis
spielen, ins Kino gehen, mal schnell mit dem Motorroller durch den Taunus düsen und vieles
mehr. Es gab Heimfeste, bei denen bis zum Tagesanbruch gezecht wurde. Gegen Mitternacht
brachte jeder seine Tanzpartnerin nach Hause, danach trafen wir uns zur Männerrunde, leer-
ten alle angebrochenen Schnapsflaschen, krochen in unsere Betten und wachten völlig verka-
tert irgendwann im Laufe des Tages wieder auf.

Unser Heim war ein kirchliches Haus, es gab also (schlecht besuchte) Andachten und es wur-
de auf Anstand geachtet. Damenbesuch nur bis 22 Uhr! Wehe wenn danach noch erotisches
Gekicher oder eine quietschende Matratze zu hören war. Wir befanden uns immer noch in der
prüden Nachkriegszeit, vor der großen Aufklärungswelle. Selbstverständlich waren wir ein
reines Männerheim. Wer mit seiner Liebsten zusammenleben wollte, musste sehen, wie er in
der Stadt einen progressiven Vermieter fand, der sich über den Kuppeleiparagrafen hinweg-
setzte. Nach diesem Paragrafen war es strafbar, einem unverheirateten Paar und dessen un-
keuschem Treiben Unterschlupf zu gewähren. Nur einige wenige Studenten waren damals
verheiratet und der Wunsch nach einem Uni-Kindergarten hätte verständnisloses Kopfschüt-
teln verursacht. Die jungen Leute sollten studieren - und keine anderen Sachen im Kopf ha-
ben. Dass es auch noch andere Körperteile gibt, wurde schlichtweg übergangen. Es galt das

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Leitbild: der junge Mann soll sich erst einmal in der Welt umschauen, sich "die Hörner ab-
stoßen" und etwas ordentliches lernen. Wenn er dann über einen Beruf und über ein ausrei-
chendes Einkommen verfügt, dann erst ist es Zeit, an Ehe und Familie zu denken. Das Studi-
um war also eine Zeit flüchtiger Verbindungen, den "Partner fürs Leben" suchte man/Mann
sich später. Natürlich gab es Ausnahmen von dieser Regel. Vor allem aber gab es einen erheb-
lichen Triebstau, der sich dann in den 68ern Bahn brach und das Bürgertum verschreckte.

2.12 Die Reise nach Jerusalem


In den Sommerferien 1962 gönnte ich mir eine Reise nach Israel. Das Studentenwerk bot ein
Workcamp an. Ein paar Wochen im Kibbuz arbeiten, am Ende dann eine Rundreise durchs
ganze Land. Am 13. August 1962, genau ein Jahr nach dem Bau der Berliner Mauer, ging die
Reise los. Zunächst in einem Sammeltransport nach München, dann weiter mit der Bahn nach
Athen. Drei Tage waren wir unterwegs. Mehrfach blieb der Zug auf freier Strecke für ein
Stündchen stehen, man konnte zum nächsten Dorf laufen und Wassermelonen kaufen. Dann
ein Pfiff, die Leute kamen gemächlich zurück und der Zug setzte sich wieder in Bewegung,
langsam, damit auch die letzten noch aufsteigen konnten. So tuckelten wir durch ganz Jugos-
lawien. Die Augustsonne heizte die Waggons mächtig auf. Metallteile ließen sich am Schluss
kaum noch anfassen.

In Athen verblüffte uns der mickrige Bahnhof. Weiter gings zum Flughafen. Wir bestiegen
eine alte Dakota und brummten in niedriger Höhe Richtung Tel Aviv. An der Tragfläche,
gleich neben meinem Fenster, hüpfte eine Schraube in ihrem ausgeleierten Gewinde auf und
ab. Beim Rückflug mit der gleichen Maschine war sie dann ganz verschwunden. Damals war
eine Flugreise noch etwas abenteuerlicher als heute.

Unser Kibbuz - Nachal Oz - lag in der Nähe des Gazastreifens, kurz vor dem Auftauchen der
ersten Kamele, also da, wo aus dem Ackerland langsam Wüste wird. Die Kibbuznicks hatten
aus dem öden Gelände eine blühende Landschaft gemacht. Kartoffeln, Gurken, Paprika - al-
les wuchs hier, dank künstlicher Bewässerung. Natürlich konnte man nicht in jede Ackerfur-
che eine Wasserleitung legen, die Felder reichten ja bis zum Horizont. Die Rohre mussten
also immer wieder abgebaut und ein paar Reihe weiter neu verlegt werden. Das war eine
dankbare Aufgabe für die Studenten aus Deutschland. Man konnte nichts falsch machen,
musste aber immer vor den kleinen Flugzeugen mit dem Insektenspray auf der Hut sein. Die
Piloten machten sich einen Spaß daraus, uns über den Acker zu scheuchen. Sie flogen ab-
sichtlich so tief, dass wir uns bäuchlings in die Pampe werfen mussten. Solche Szenen kennt
man aus Kriegsfilmen: Tiefflieger! Überhaupt ging es hier, in der Nähe der Grenze, wie im
Kriegsfilm zu. Die jungen Männer im Kibbuz brüsteten sich mit ihren Heldentaten, mit denen
sie im letzten Krieg die Palästinenser das Fürchten gelehrt hatten. Manchmal waren sie auch
nachts unterwegs, um “drüben” etwas anzustellen.

Gleich neben unserem Kibbuz lag der Gazastreifen, also die Grenze zu Ägypten. Sie zog sich
unauffällig über die Äcker und war mit Feldsteinen markiert. Norwegische Blauhelmsoldaten
bewachten sie. Mal schauen, was passiert, wenn man ein paar Schritte über die Grenzlinie
macht: Alarm im nächsten UNO-Camp. Ein Jeep kommt angebrummt. Inzwischen ist man
wieder einige Schritte zurück auf die israelische Seite gegangen und kann sich nun in aller
Ruhe ansehen, wie sich die Soldaten auf der anderen Seite mit ihren Maschinenpistolen dro-

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hend aufbauen. Nachdem sie eine Weile so gestanden haben, steigen sie wieder in ihren Jeep
und brausen davon. Nun tritt man wieder über die Grenzsteine, Alarm im Camp... Man hätte
dieses "Spiel" ewig fortsetzen können. Ich habe keine Ahnung, ob die Soldaten derartige
"Späße" als Veräppelung oder als willkommene Abwechslung empfanden. In ihren Wohncon-
tainern wurden sie erbarmungslos von der Sonne gebraten. Der Bierkonsum war offenbar ihre
einzige Abwechslung und die Grenzsteine hatten sie schon über viele hundert Meter durch
leere Bierflaschen ersetzt. Nichts gegen Blauhelm-Einsätze, nur hat der Krieg in dieser ver-
rückten Welt eben auch solche skurrilen Seiten - Szenen wie aus einem Woody-Allen- Film.

Nach drei oder vier Wochen im Kibbuz wollten uns die Kibbuznicks noch eine Woche lang
ihr Land zeigen. Auf einem LKW hatten sie Sitzbänke montiert und los gings, zunächst an
der Küste entlang bis hinauf zur Libanesischen Grenze, dann über Nazareth zum See Gene-
zareth und durch die Wüste hinunter bis nach Eilath am Roten Meer. Die Wüste hatte ich mir
immer leicht gewellt vorgestellt, mit Sanddünen bis zum Horizont. Am Toten Meer und auf
dem Weg nach Eilath erlebte ich etwas völlig anderes, nämlich Felswüste. Mal führte die
Straße in endlosen Serpentinen eine Felswand hinauf, mal schlängelte sie sich tief in eine
Schlucht hinunter. Oft lagen unten Lkw-Wracks, die die Kurve nicht gekriegt hatten. Am ein-
druckvollsten fand ich jedoch eine Bierreklame, mitten in der Wüste. Ein fotorealistisches,
meterhohes Bierglas aus Holz oder Pappe stand da. Das Glas war leicht beschlagen und au-
ßen lief ein Tropfen herunter. Wahnsinn!

In Eilath, damals noch kein mondäner Badeort, sondern eine Barackenstadt, staunten wir
über die bunten Fische an den Korallenriffen. Dann ging es, als krönender Abschluss der
Rundreise nach Jerusalem. Ich war enttäuscht. Diese Stadt hatte ich mir viel erhabener vorge-
stellt. Touristenrummel um die heiligen Stätten, überall ein unendlicher Andenkenkitsch - ge-
genüber dem himmlischen Jerusalem sah das irdische doch ziemlich bescheiden aus.

In der Altstadt erlebte ich, wie einige Frauen hemmungslos zu weinen begannen, als sie uns
Deutsch sprechen hörten. Ihre Familien waren im KZ umgebracht worden. Für mich war das
eine wichtige Lektion: Wenn ich als Deutscher nach Israel komme, habe ich immer die deut-
sche Geschichte mit dabei. Helmut Kohls Spruch von der "Gnade der späten Geburt" greift
einfach zu kurz. Ich bin zwar an der Hitlerzeit nicht mitschuldig in Sinne von "verursacht ha-
ben", aber ich trage die Schuld meiner Eltern mit mir herum. Diese Zusammenhänge sollten
mich Jahrzehnte später unter dem Stichwort "Familienrekonstruktion" noch weiter beschäfti-
gen.

Insgesamt war mein Eindruck vom heiligen Land überwiegend positiv. Ich war froh nun ein-
mal alles mit eigenen Augen gesehen zu haben und konnte mir die Umwelt Jesu jetzt viel
besser vorstellen. Die gewaltige Leistung der Israelis beim Urbarmachen des Landes beein-
druckte mich. Bedenklich fand ich die Militarisierung des Landes. Überall in den Kinos lie-
fen Militärfilme. Abstoßend fand ich den Andenkenrummel und die Penetranz christlicher Ju-
denmission, z.B. ein Plakat in einem Missionsladen: “Wir schenken jedem Juden ein Neues
Testament, wenn er sich verpflichtet, täglich darin zu lesen.” Die Arroganz gegenüber den Pa-
lästinensern - heute offenbar ein Grundprinzip israelischer Politik - ist mir damals nicht auf-
gefallen. Vielleicht war sie noch nicht so ausgeprägt oder ich hatte eine Pro-Israel-Brille auf.

Nachdem uns der Miniflieger wieder in Athen abgesetzt hatte, habe ich zusammen mit einem
Reisegefährten noch eine Woche Griechenland drangehängt. Mit dem Zug fuhren wir auf den
Pellopones, nach Patras. Unterwegs hatte ich zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben

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einen black out. In Eleusis, dem Zentrum der antiken Mysterienkulte, mussten wir auf einen
Anschlusszug warten und fingen an Retsina zu trinken. Die Sonne brannte vom Himmel, der
Zug ließ auf sich warten... An dieser Stelle setzt meine Erinnerung aus und ich finde mich in
einem Hotelbett in Patras wieder. Zwischen Eleusis und Patras klafft eine Lücke, die ich
schon damals nicht zu schließen vermochte - ein eleusinisches Mysterium.

In Patras passierte dann noch eine peinliche Geschichte. In unserem Hotelzimmer brach der
Wasserhahn ab und das Wasser ergoss sich in dickem Strahl ins Zimmer. Wir rannten zur Re-
zeption, fanden aber nur eine taubstumme Frau. Eine Weile versuchten wir noch, ihr mit Hän-
den und Füßen die Katastrophe zu schildern. Sie begriff überhaupt nichts. Da packten wir un-
sere Sachen, schlichen zum Bahnhof und reisten ab. Ich schäme mich immer noch ein wenig
für diesen Abgang, hoffe aber, dass der Schaden inzwischen behoben wurde.

Zurück in Mainz zehrte ich noch lange von den Reiseeindrücken, zeigte überall meine Dias
und war zu einem richtigen Israel-Fan geworden. Aus meinem Zimmer tönten Kibbuz-Lieder
und als ich den Rasen hinter dem Wohnheim mähen sollte, mähte ich zuerst einen Davidstern
und machte dann vor dem Weitermähen eine lange Pause. Den Stern konnten man noch wo-
chenlang erkennen. Die arabischen Studenten im Wohnheim fanden den Anblick gar nicht
lustig.

Bald musste ich mich nach einem anderen Quartier umschauen. Man durfte nur eine be-
stimmte Zahl von Semestern im Heim bleiben. In Mainz-Kostheim fand ich für den Rest des
Studiums Unterkunft bei einer freundlichen Familie, die alle bei Opel in Rüsselsheim arbeite-
ten und mich wie einen eigenen Sohn behandelten.

2.13 Auch das längste Studium geht einmal zu Ende


So langsam musste ich ans Examen denken. Schluss also mit dem lustigen Studentenleben -
jetzt wird für die Prüfung gepaukt! Der Umzug nach Kostheim kam da gerade recht. Ein
Wohnheim bietet doch zu viele Ablenkungsmöglichkeiten.

Das Examen machte man bei der Landeskirche in deren Dienst man treten wollte. Daneben
gab es noch das sog. Fakultätsexamen, entsprechend den Universitätsabschlüssen in anderen
Studiengängen. Aber was hätte man als “Diplomtheologe” schon anfangen können. Für uns
Theologen gab - und gibt es bis heute - eigentlich nur einen Arbeitsmarkt: die Kirchen.

Wer Pfarrer werden wollte, machte am Ende des Studiums ein erstes kirchliches Examen und
wurde Vikar. Der Vikar, eine Art Pfarrer-Lehrling (nicht zu verwechseln mit dem wesentlich
höher angesiedelten Vikar in der kath. Kirche), entsprach dem Referendar in staatlichen Aus-
bildungsgängen. Das Vikariat verbrachte man teilweise in einer Gemeinde, teilweise im Pre-
digerseminar. Anschließend kam das zweite kirchliche Examen, danach war man Hilfspredi-
ger. Das entsprach dem Assessor im Staatsdienst. Als Hilfsprediger war man fertig ausgebil-
deter Pfarrer, durfte auch schon eine Stelle verwalten, konnte aber - vergleichbar einem "Be-
amten z.A." - noch nicht Stelleninhaber sein. Erst mit der Berufung auf eine feste Stelle war
man Pfarrer auf Lebenszeit.

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Nach dem Studium war also noch ein Stück Ausbildungsweg zu bewältigen. Diese Etappe
war jedoch viel stärker verschult, als das Studium. Man wurde gleichsam in einen Zug ge-
setzt und konnte im Fahrplan nachlesen, wann man wo ankommt. Für mich war klar, dass ich
bei der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) einsteigen würde. Von ihr hatte
ich ein Stipendium erhalten und mich an sie gebunden.

Zunächst musste das erste theologische Examen geschafft werden. Dafür tat ich mich mit ei-
nem Freund und Studienkollegen, Paul-Martin Clotz, zusammen. Zu zweit konnte man sich
gegenseitig den Prüfungsstoff besser abfragen. Unklar war allerdings, was in der mündlichen
und schriftlichen Prüfung gefragt würde. Die Kandidaten hatten ja an unterschiedlichen Uni-
versitäten studiert und das Landeskirchenamt konnte nicht wissen, was jeder einzelne dort ge-
lernt hat.

Mit Paul Martin entwickelte ich ein Verfahren, das ich zur Nachahmung empfehle. Wir lasen
einfach das "Evangelische Kirchenlexikon", drei dicke Bände mit insgesamt rund 5300 Sei-
ten, einmal von vorn bis hinten durch. Weil die einzelnen Fachartikel durch Querverweise
verbunden sind, ergab sich von selbst der Effekt, dass wichtige Themen wie die Reformation
häufiger in den Blick kamen, als beispielsweise die Geschichte des Fronleichnamsfestes. Ein
Semester lang trafen wir uns fast täglich, fragten uns gegenseitig ab und waren danach zuver-
sichtlich, dass uns zu allen nur erdenklichen Prüfungsfragen etwas einfallen würde. Und so
lief es auch. Vielleicht könnte man sich mit dieser Methode das ganze Studium ersparen.

Nun war ich endlich mit dem Studium fertig. Dreizehn Semester, einschließlich des Exa-
menssemesters hatte ich gebraucht, davon fünf für die Sprachen. Viele Kollegen haben es in
kürzerer Zeit geschafft. Noch heute plagt mich gelegentlich ein Alptraum, in dem ich die
Sprachprüfungen oder das komplette Examen wiederholen soll. Schweißgebadet erwache ich
und bin erleichtert: Das habe ich ein für allemal hinter mir!

Meine Mutter war nun auch etwas sicherer dass es mit mir ein gutes Ende nehmen würde.
Zum Examen schenkte sie mir ein Auto und zwar eine "Ente", also den Citroen 2 CV. Der
kostete damals ganze 3999,-- DM. Bevor ich bei der EKHN anfangen konnte, blieb noch
eine Weile Zeit. Die nutzte ich für eine Griechenland-Reise mit meinem neuen Auto. Zusam-
men mit zwei Studienfreunden ging die Fahrt wieder auf den Pellopones. Mir fallen immer
noch typische Reisebilder ein. Beispielsweise ein weiter Strand mit blauem Himmel und ei-
ner einsamen Musikbox direkt am Meer. Aus diesem Gerät ertönt griechische Musik, sehr
laut, aber in die Landschaft passend. Immer wenn die Platte abgelaufen ist, kommt ein Mann
mit einem rostigen Draht, fummelt im Münzschlitz herum und das Ding läuft weiter. Eine
Stimmung wie bei Alexis-Sorbas! Das einzigartige Zusammenspiel von Landschaft, Sonne
und Musik verbinde ich seitdem mit Griechenland. Es hat mich noch oft in dieses Land ge-
lockt.

2.14 Im Predigerseminar
Im September 1965 sollte ich bei der Hessischen Kirche anfangen. Die Hessen unterhielten
damals zwei Predigerseminare, eins in Friedberg und eins in Herborn. Ich wurde letzterem
zugewiesen. Bevor ich nach Herborn reiste, war noch ein mehrwöchiges Schulvikariat abzu-
leisten. Als Pfarrer mussten wir auch Religionsunterricht erteilen können, hatten aber von

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Schulunterricht keine Ahnung. Die fehlende pädagogische Ausbildung sollte nun in einer Art
Schnellwäsche nachgeholt werden. Man wurde einem Lehrer zugewiesen und durfte mit ihm
zur Schule marschieren, am Ende des Schulvikariats auch mal eine eigene Stunde halten. Ich
landete bei Hans Nixdorff in Hofheim am Taunus, wurde von der Familie freundlich aufge-
nommen und durfte bei ihnen zu Hause unterm Dach wohnen. Wir verstanden uns gut und
noch heute schicken wir uns regelmäßig Neujahrsgrüße. Nixdorff war als Soldat bei der Ma-
rine gewesen. Auf der Klassenfahrt weckte er die Jungs im Kommandoton: "Erhebet eure
müden Leiber, am Kai steht eine Horde nackter Weiber!"

Nach dem Schulvikariat, es wird Anfang Oktober gewesen sein, musste ich mich in Herborn
"einschiffen". Herborn liegt im Dillkreis "weitab vom Schuss". Die Autobahn (Sauerland-
linie) war noch im Bau und so bummelte ich mit meiner Ente von Wetzlar aus nordwärts, im-
mer die Dill entlang, bis in meine neue Heimat. Das Predigerseminar war im Schloss unterge-
bracht. In dieser düsteren Anlage mit ihren dicken Mauern sollten wir - wie einst Luther auf
der Wartburg - für ein halbes Jahr wohnen, dann ein Gemeindepraktikum absolvieren, danach
wieder ins Predigerseminar zurückkehren und das Erlebte reflektieren.

Für uns war es wie die Rückkehr in die Schulzeit. Wir hatten jahrelang als freie Menschen
gelebt, nun gab es wieder einen vorgeschriebenen Tageslauf, internatsmäßige Unterbringung
und Lernen per Frontalunterricht. Bei den Mahlzeiten hatten wir artig hinter unseren Stühlen
zu stehen und zu warten bis die Hausdame, eine Diakonisse, das Tischgebet (immer dieses
einfallslose: "Komm Herr Jesu, sei unser Gast...") zu Ende gesprochen hatte. Erst dann durf-
ten wir zum Besteck greifen. Wenn man Erwachsene wie Kinder behandelt, reagieren sie wie
Kinder. Wir schockierten unsere Diakonisse, indem wir uns nach dem "Amen" an den Hän-
den fassten und einmal rund um den Tisch hopsten.

Unsere Dozenten - sie durften sich einer alten Tradition zufolge "Professor" nennen - hatten
es schwer mit uns. Wir nahmen sie nicht ernst und sie wussten nicht, wie sie mit solchen
Spätpubertierenden umgehen sollten. Die meisten waren ältere Herren und hatten ein traditio-
nelles Pfarrerbild vor Augen: Der Pfarrer als Hirte, die Gemeinde als Herde. Eine positive
Ausnahme gab es: Dieter Stoodt. Er hatte gerade einen Herzinfarkt hinter sich und erzählte
von seinem Kampf ums Überleben: "Die einen rieten mir zu beten. Die andern rieten mir, au-
togenes Training zu machen. Da habe ich immer abwechselnd gebetet und autogenes Training
gemacht.” Es war eine Umbruchszeit. Die modernen Sozialwissenschaften warteten vor der
Kirchentür und wollten eingelassen werden.

2.15 Verliebt, verlobt, verheiratet


Auch im Privaten kam für mich ein gewichtiger Umbruch: ich lernte Erika Steiner, meine
spätere Frau, kennen. Wir waren uns schon am Ende meines Studiums einmal in Bad Nau-
heim über den Weg gelaufen. Aber damals hatte ich ihr weiter keine Beachtung geschenkt.
Ich war noch in eine andere recht konfliktreiche Beziehung verstrickt. Nun war diese Bezie-
hung zu Ende, ich erinnerte mich an Erika und nahm den Faden wieder auf. Ein halbes Jahr
später haben wir geheiratet.

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Ach Erika, dich hat mir der Himmel genau im richtigen Moment geschickt. Ich war schon
ziemlich resigniert und zweifelte, ob ich überhaupt in der Lage bin, auf Dauer mit einer Frau
zurechtzukommen. Aber mit Dir ging es und geht es immer noch. Dabei war es nicht die gro-
ße Liebe, wie sie in Schlagern und Kitschromanen beschrieben wird, eher ein Gefühl von
sich vertrauen können und gut aufgehoben sein. Wir sind recht unterschiedliche Charaktere.
Du eher wissbegierig, immer auf der Suche nach neuen Erfahrungen, ich eher am Gewohnten
klebend. Du kontaktfreudig auf andere zugehend, ich eher eigenbrötlerisch und selbstgenüg-
sam. Du eher austeilend und großherzig, ich eher ängstlich mit einem großen Bedürfnis nach
Sicherheit. Also eine Beziehung nach dem Muster "Gegensätze ziehen sich an", anstelle von
"gleich und gleich gesellt sich gern." Fast 40 Jahre sind wir jetzt zusammen. Bei allen "Aufs
und Abs", die wir erlebten, habe ich nie daran gezweifelt, damals die richtige Wahl getroffen
zu haben.

Erika kam aus einem ganz anderen Milieu als ich. Ihr Vater war Schlosser bei der Frankfurter
Straßenbahn. Leider habe ihn nicht mehr kennen gelernt, er starb kurz bevor mir Erika "über
den Weg lief". Noch ein Unterschied: Ich bin ein Einzelkind und musste nie mit Geschwis-
tern teilen. Dass Erika ganz selbstverständlich meine Pullover anzog, war für mich anfangs
recht ungewohnt und das “mein” und “dein” spielt zwischen uns auch jetzt noch eine große
Rolle.

Erika war es ergangen wie vielen anderen Mädchen in jener Zeit. Trotz guter Schulnoten
konnte sie nicht Abitur machen und studieren, weil das Geld dafür nicht reichte. In Arbeiter-
familien schickte man, wenn überhaupt, den Sohn zur Uni. Erikas Bruder hatte Theologie stu-
diert und war dabei, Pfarrer zu werden. Zufällig war er sogar im gleichen Ausbildungskurs in
Herborn. Das haben wir aber erst festgestellt als Erika und ich uns bereits kannten.

Erika hatte das bestmögliche aus ihrer Situation gemacht. Um den Eltern nicht auf der Ta-
sche zu liegen, ging sie früh aus dem Haus, wurde zunächst Postangestellte, danach Kinder-
krankenschwester. Nach einigen Jahren an der Freiburger Uniklinik, fing sie noch mal etwas
ganz anderes an und machte am Burckhardthaus in Gelnhausen die Ausbildung zur Gemein-
dehelferin. Als wir uns kennen lernten hatte sie gerade ihre erste eigene Stelle in Bad Nau-
heim übernommen. Die ideale Pfarrfrau!

Der Weg ins Pfarrhaus machte jedoch erst noch einen Schlenker. Ursache war ein Brief, den
ich im Frühjahr 1966 aus Bochum erhielt. Johannes Schreiber, der frühere Assistent von Gert
Otto, war dort Professor geworden und fragte, ob ich bei ihm als "wissenschaftliche Hilfs-
kraft" arbeiten und nebenbei promovieren wolle. Das ergab nun eine ganz neue, reizvolle Per-
spektive. Die Frage war nur, was Erika und was die Hessische Kirche dazu sagen würden.
Erika war schnell einverstanden, mit mir nach Bochum zu gehen. Am besten würden wir vor-
her heiraten und im Ruhrgebiet gleich mit einem gemeinsamen Hausstand anfangen. Die
Hessische Kirche stellte sich jedoch quer. Klar, man habe auch schon anderen die Promotion
ermöglicht, ich wolle ja auch wieder zurückkehren - aber so einfach aus dem laufenden Kurs
heraus weggehen, das geht nicht! Im Moment werde wirklich jeder gebraucht.

Dass mir etwas verweigert wird, was man anderen ohne weiteres zugebilligt hatte, ärgerte
mich. Kurzentschlossen schrieb ich, wenn ich anders nicht nach Bochum käme, sollte man
mich eben ganz aus dem Dienst entlassen. Prompt kam die Antwort, man habe mich gestri-
chen, wünsche mir für den weiteren Lebensweg Gottes Segen und möchte nun aber gleich
mein Stipendium zurück haben. Ich schaute in den Darlehnsvertrag, da stand nur "Rückzah-

60
lung nach dem zweiten Examen". Das zweite Examen wollte ich nach der Rückkehr aus Bo-
chum weiterhin machen - also weigerte ich mich zu zahlen. Die Kirche gab nach, aber als ich
später meine Laufbahn in Hessen fortsetzen wollte, gab es Ärger. Ich sei im Unfrieden ge-
schieden, nun wollten sie mich nicht mehr haben. Ich musste mir eine andere Kirche suchen,
aber das hatte Zeit. Erst einmal war ich an keine Landeskirche mehr angebunden. Das erspar-
te Erika den Besuch im Landeskirchenamt, um sich bei Tee und Keksen als künftige Pfarrfrau
begutachten zu lassen. Das war damals noch üblich und entsprach dem deutschen Beamten-
recht. Beamte durften ohne Zustimmung ihres Dienstherrn nicht heiraten.

2.16 Im Ruhrgebiet
In Bochum fand ich anstelle der Uni eine riesige Baustelle vor. Das Projekt Ruhr-Universität
war Teil eines gigantischen Planes, der aus einer einseitig von Kohle und Stahl geprägten
Landschaft eine vielfältige, moderne Industrie- und Kulturlandschaft machen sollte. Im gan-
zen Ruhrgebiet mit etwa 8 Millionen Einwohnern gab es lediglich einige Fachhochschulen,
aber noch keine Universität. Nun wuchs auf den Ruhrhöhen im Süden von Bochum ein ge-
waltiger Gebäudekomplex in die Höhe, die Ruhr-Universität. An jedem Tag wurde dort eine
Million DM verbaut! Das Ergebnis ist eindrucksvoll aber nicht gerade schön, brutale Beton-
architektur ohne jede Leichtigkeit und ohne jeden Schnörkel.

Als hinkam war etwa die Hälfte der Uni-Gebäude fertig, darunter auch das Gebäude für die
evangelische Theologie. Jeder neue Professor bekam für seinen Fachbereich (wenn ich mich
richtig erinnere) 20.000,-- DM, um damit eine Seminarbibliothek aufzubauen. Dieses Geld
auszugeben, sollte meine Hauptaufgabe werden. Gar nicht so einfach, denn so viele Veröf-
fentlichungen gibt es im Bereich Praktische Theologie nun auch wieder nicht. Als ich alles
Ereichbare angeschafft hatte, war immer noch Geld übrig. Meine Rettung war das "Zentral-
antiquariat der DDR". Die verkauften schöne alte Schmöker, beispielsweise dicke Folianten
mit Barockpredigten, zu gesalzenen Preisen. Auf diese Weise habe ich dann doch der DDR
wieder einiges zukommen lassen, was sie einst in mich investiert hatte.

Zunächst besorgte ich mir in Witten-Annen ein Studentenzimmer. Im Sommer sollte dann
Erika nachkommen und wir würden für sie eine Arbeitsstelle mit Dienstwohnung suchen. An
den Wochenenden fuhr ich mit meiner Ente zu Erika nach Bad Nauheim, was jedes Mal eine
kleine Weltreise war. Die Autobahn hatte noch große Lücken, man zockelte die meiste Zeit
gemächlich über die Dörfer und freute sich, wenn kein Schützenumzug dazwischen kam.

Am 24. Juni 1966 genau ein halbes Jahr nach Weihnachten, haben wir geheiratet. Es war eine
Feier im kleinen Kreis. Nicht einmal meine Mutter war dabei. Sie war in dieser Zeit schlecht
auf uns zu sprechen. Die rasche Heirat konnte nur darauf hindeuten, dass bei uns ein Kind
unterwegs war. "Das ganze Dorf redet über Euch" schrieb sie empört. Es war aber kein Kind
unterwegs, wir hatten lediglich so viel um die Ohren, dass wir uns die große Hochzeitsfeier
mit allen Angehörigen bis zur kirchlichen Trauung im Herbst aufsparen wollten.

Am Morgen vor der standesamtlichen Trauung wollte Erika eigentlich noch eine Religions-
stunde halten. Nur mit Mühe ließ sie sich davon überzeugen, dass man für die eigene Hoch-
zeit Urlaub bekommen kann. So eine positive Einstellung zum Beruf findet man selten!

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Bei der Trauung sorgte der Standesbeamte für Heiterkeit. Sein Lieblingsthema war die "ame-
rikanische Seuche", womit er nicht etwa eine gefährliche Geschlechtskrankheit, sondern die
Tendenz, sich bald wieder scheiden zu lassen, meinte. Unser Trauzeuge, Klaus Fedler, kannte
den Mann und hatte uns darauf vorbereitet. Als er nun mit seiner eindringlichen Warnung an-
hob, breitete sich allgemeine Heiterkeit aus. Vermutlich hat der Mann noch lange gerätselt,
warum seine Zuhörer bei so einem ernsten Thema lachen mussten.

Wir waren nun verheiratet und ich durfte jetzt sogar in Erikas Dienstwohnung übernachten.
Vorher hatte es der zuständige Pfarrer verboten, nicht etwa dass er selbst etwas dagegen habe,
aber "wegen der Optik" gehe es nun einmal nicht. Mir ist dieses “sich hinter anderen Verste-
cken” bei Kirchenleuten noch öfters begegnet.

Verheiratet zu sein, erleichterte die Suche nach einer neuen Stelle für Erika samt Wohnung er-
heblich. Unverheiratet in einem kirchlichen Gebäude zusammenleben, undenkbar! (Noch
heute setzen viele Landeskirchen Pfarrer, die so etwas versuchen, unter Druck und erzwingen
die Heirat). Wir fanden für Erika eine Stelle in Herne. Sie sollte in mehreren Gemeindebezir-
ken Jugendarbeit machen. Im Gemeindehaus, einem Altbau an der Bochumer Straße, beka-
men wir eine kleine Wohnung. Eine unserer ersten Aufgaben war es, diese Wohnung einzu-
richten. Geld hatten wir kaum, es reichte gerade für ein paar einfache Möbel. Aber wir waren
zufrieden mit diesem einfachen "Nest" und es kam ja auch immer wieder etwas neues hinzu.
Ich bekam von der Uni 600,-- DM im Monat, Erika verdiente so um die 1400,-- DM. Für den
Anfang reichte das gut. Schwieriger war es, unseren Lebensstil aneinander anzupassen. Ein-
mal habe ich die Polizei angerufen, weil Erika von einer ihrer Gruppenstunden nicht heim-
kam und ich fürchtete, ihr sei ein Unfall zugestoßen. Sie hatte sich aber nur mit ihren Leuten
"verquatscht" - verständlich, bis vor kurzem hatte ja auch niemand zu Hause auf sie gewartet.
Warum sollte sie sich nicht Zeit lassen? - Ich finde übrigens, dass solche scheinbaren "Klei-
nigkeiten" das Zusammenleben als Paar viel mehr belasten, als man erwartet. Der unter-
schiedliche Umgang mit Zahnpastatuben wäre ein weiteres Beispiel.

2.17 Die Doktorarbeit


Neben meiner Hauptaufgabe, Geld für Bücher auszugeben, sollte ich mich um meine Disser-
tation kümmern. Zunächst musste ein geeignetes Thema gefunden werden. Ich wollte es
möglichst zeitnah haben und entschied mich für ein Thema aus dem Grenzbereich zwischen
Theologie, Psychologie und Soziologie. Seit einigen Jahren machte ein gewisser Werner
Heukelbach von sich reden. Er kam aus dem freikirchlichen Bereich, hatte eine Bekehrung
erlebt und versuchte nun, möglichst viele Menschen "zu Jesus zu bringen". Dabei nutzte er
geschickt moderne Kommunikationsmittel, ließ Handzettel verteilen, verschenkte Broschü-
ren, kaufte Sendezeit im Rundfunk, setzte Flugzeuge mit Werbebannern ein und sammelte
erhebliche Geldbeträge für sein Missionswerk. Sein Slogan "Gerade Du brauchst Jesus" war
bekannt wie eine Waschmittel-Werbung. Diesen Werner Heukelbach wollte ich mir genauer
anschauen. "Naive Frömmigkeit der Gegenwart - Eine kritische Untersuchung der Schriften
Werner Heukelbachs" lautete dann der Titel meiner Arbeit.

Rückblickend finde ich es nicht ganz fair, diesem einfachen Menschen mit wissenschaftli-
chen Methoden auf den Leib zu rücken. Die Art, wie er mit der Bibel umging, war natürlich
aus wissenschaftlicher Sicht einfach unmöglich. Andrerseits: Heukelbach vertritt eine Form

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von Frömmigkeit, wie sie in Gemeinden gar nicht so selten ist und von der Zeltmission bis
zur amerikanischen Irak-Politik immer noch Konjunktur hat. So ein Frömmigkeitstyp muss
sich natürlich kritisch untersuchen lassen, z.B. im Blick auf die Frage, was diese Frömmig-
keit für ihre Anhänger leistet. Über weitere Einzelheiten will ich mich hier nicht auslassen.
Die Arbeit steht in den Universitätsbibliotheken und ist über Fernleihe und übers Internet er-
reichbar.

Neben der wissenschaftlichen Leistung hatte meine Arbeit einen persönlichen Aspekt. So
eine naive Frömmigkeit hatte ich als Heranwachsender selbst vertreten. Billy Graham war
eine Zeit lang mein Idol und die Jugendarbeit unserer Gemeinde war erwecklich geprägt. Wie
stark mir die Sache unter die Haut ging, zeigte sich in meinen Träumen. Darin drohten mir
die Frommen mit der hintersten Hölle und ganze Busladungen von Heukelbach-Anhängern
drängten sich vor unserer Haustür, um mich zu beschimpfen.

2.18 Zurück zu Mutter Kirche


Nach zwei Jahren war meine Arbeit fast fertig, nur ins Reine geschrieben musste sie noch
werden. Es wurde Zeit, mich um meine Rückkehr in den kirchlichen Dienst zu kümmern. Die
Hessen wollten mich nicht mehr haben, aber weil damals alle Landeskirchen nach Pfarrern
suchten, war das nicht so schlimm. Im Rheinland war man gern bereit, mich aufzunehmen,
sogar zu besonders günstigen Bedingungen. Ins Predigerseminar brauchte ich gar nicht mehr,
die Vikarszeit konnte verkürzt werden und meine Dissertation wurde als Hausarbeit im zwei-
ten theologischen Examen anerkannt.

Ein Einsatzort für das Vikariat war rasch gefunden. In Essen-Heisingen hatte einer der beiden
Pfarrer einen Herzinfarkt erlitten, sein Kollege brauchte Unterstützung. So kam ich als Vikar
zu Georg Terpitz. Mit ihm als Mentor (damals hieß es noch "Vikarsvater") hatte ich es gut ge-
troffen. Terpitz war das, was man damals einen "modernen Pfarrer" nannte. Er war nüchtern-
praktisch veranlagt, ganz ohne pastorales Gehabe. Mit ihm habe ich mich schnell angefreun-
det und es wurde bald eine Freundschaft von Familie zu Familie daraus. Erika wurde Patin
bei seinem Sohn Julian. Wir teilten das Interesse an einer zeitgemäßen Kirche, befreit vom
Staub der Jahrhunderte. Als wir zum ersten Mal durch die Gemeinde fuhren, zitierte Georg
schmunzelnd die Ausbildungsordnung: "Der Vikar begleitet den Pfarrer auf seinem Gang
durch die Gemeinde." Nein, wir gingen nicht, wir fuhren mit dem Auto. Aber in der Ausbil-
dungsordnung gab es eben noch keine Autos.

Außerdem war die Gemeinde ausgedehnt, sowohl was ihre Fläche, als auch was die soziale
Schichtung anlangt. Unten am Baldeney-See gab es Zechenhäuser mit richtigen Bergarbei-
tern. Oben am Stadtwald lebten die Superreichen, die ohne Namensschild an der Einfahrt
auskamen. So unterschiedliche Menschen in einer Gemeinde zusammen zu halten, war ei-
gentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Georg Terpitz hat diesen Spagat trotzdem mit einigem
Erfolg versucht.

In Heisingen musste ich sofort "ins kalte Wasser springen." Gottesdienste, Taufen, Trauun-
gen, Beerdigungen, kirchlicher Unterricht und seelsorgerliche Gespräche - was ein Pfarrer
eben so zu tun hat. Außer den Gottesdiensten machte ich alles zum ersten Mal. Es war eine
schöne und spannende "Lehrzeit", in der ich vieles ausprobieren konnte. Wir wohnten in ei-

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ner kleinen, aber ausreichenden Etagenwohnung. Erika hatte eine Stelle an der evg. Familien-
bildungsstätte gefunden. Dort arbeitete sie im Kleinkindbereich. Das war eine ideale Verbin-
dung zwischen ihrem Lehrberuf Kinderkrankenschwester und ihrer zweiten Ausbildung als
Gemeindehelferin. Wahrscheinlich haben wir uns damals beide sehr in den Beruf "hinein ge-
kniet", jedenfalls erinnere ich mich an keinerlei Freizeitaktivitäten, außer Spaziergängen im
Stadtwald und kurzen Urlaubsfahrten nach Holland ans Meer.

Neben der Gemeindearbeit musste ich mich auch noch auf die mündliche Doktorprüfung, das
sog. Rigorosum, und auf das zweite kirchliche Examen vorbereiten. Das Rigorosum sah ich
mit Schrecken auf mich zukommen, galt es doch wieder einmal altsprachliche Texte zu über-
setzen und ich hatte doch so sehr gehofft, dies nie mehr tun zu müssen. Es ging aber alles gut
und im Februar 1969 wurde aus mir ein "Herr Doktor". Welche Gründe mich letztlich zu die-
ser Anstrengung bewogen haben, ist mir nicht ganz klar. Mit Sicherheit wollte ich mir selbst,
aber auch meiner Mutter, beweisen dass ich zu solch einer Leistung fähig bin. Besondere Vor-
teile hatte ich nicht davon, vor allem keine finanziellen. Alle Pfarrer werden gleich bezahlt,
ob sie nun einen Doktortitel besitzen oder nicht. Nur einen klitzekleinen Vorteil hat die Sa-
che: Man wird bei Verkehrskontrollen und bei manchen anderen Gelegenheiten freundlicher
behandelt. Deswegen habe ich mir den Doktortitel in den Ausweis schreiben lassen.

Kaum war das Thema Doktorhut abgeschlossen, nahte im September das zweite Examen. Da
ich jetzt zur Evangelischen Kirche im Rheinland gehörte, war es in Düsseldorf abzulegen.
Das Rheinische Landeskirchenamt befand sich damals noch in der Inselstraße neben dem
Hofgarten, in dem sich allerhand "lichtscheue Gestalten" herumtrieben. Einmal wollte mir je-
mand dort im Toilettenhäuschen eine Pistole verkaufen. Ich habe dieses Angebot jedoch aus-
geschlagen und mich weiter auf die „Waffen des Geistes“ verlassen.

Zu den schriftlichen Arbeiten reiste ich mit einer Schreibmaschine an. Schon damals war
meine Handschrift schwer zu lesen. Ich hatte gehört, dass unleserliche Arbeiten zurückgege-
ben wurden, mit der Maschine abgetippt und neu eingereicht werden mussten. Dann war es
doch wohl einfacher, gleich mit der Maschine zu schreiben. Diese Überlegung löste bei den
Prüfern einige Verwirrung aus. So etwas hatte es noch nicht gegeben, das musste erst geklärt
werden, allerdings mit positivem Ergebnis. Seitdem dürfen Examensarbeiten im Rheinland
mit der Maschine (heute vielleicht sogar mit dem Laptop?) geschrieben werden. Ich hoffe
sehr, dass dieser von mir ausgelöste "Modernisierungsschub" in den Annalen der Rheinischen
Kirche ausreichend gewürdigt wird.

Ansonsten ging alles klar. Ich war mit meiner Ausbildung am Ende und durfte jetzt im sog.
Hilfsdienst eine eigene Gemeinde b.z.w. einen Gemeindebezirk übernehmen.

Die Rheinische Kirche erstreckt sich von der Holländischen Grenze bis hinunter nach Saar-
brücken. Dazwischen gab es eine große Auswahl an Stellen. Ich wollte jedoch möglichst im
Essener Süden bleiben, schon damit Erika weiter an der Essener Familienbildungsstätte ar-
beiten konnte. Auch dieser Wunsch konnte erfüllt werden. In Horst-Eiberg entstand gerade
ein großes Neubaugebiet, das Bergmannsfeld. Mehr als 8000 Menschen sollten hier angesie-
delt werden, das ergab einen eigenen Pfarrbezirk. Die neue Pfarrstelle war gerade eingerichtet
worden. Solange ich noch im Hilfsdienst war, könnte ich sie verwalten und mich dann zum
Stelleninhaber wählen lassen. Eine reizvolle Aufgabe! Ich sagte ohne langes Zögern zu.

64
Am 1.Oktober 1969 konnte ich im zweiten Pfarrbezirk der “Evangelischen Kirchengemeinde
Horst-Eiberg zu Essen-Steele” anfangen. Mein Ziel, Pfarrer zu werden, hatte ich erreicht. Der
Weg von der Reprokamera zur Kanzel war zu Ende. Mit allen Verzögerungen, Pausen und
Umwegen habe ich zehn Jahre für diesen Weg gebraucht.

Ich war jetzt 31 Jahre alt.


Ich hatte ein langes Studium und die anschließende kirchliche Ausbildung absolviert.
Ich hatte mich in der Hessischen Landeskirche angesiedelt und sie gegen meine ursprüng-
liche Absicht wieder verlassen. Eine Reihe von Freunden sind mir dabei leider verloren
gegangen. Ich hatte in den universitären Bereich hinein geschaut und dabei keine Lust entwickelt,
dort weiter Karriere zu machen.

Ich hatte eine Frau gefunden, die zu mir passte, die mich unterstützte und im Blick auf die
Gemeinde manches besser konnte, als ich selbst.

Jetzt war es höchste Zeit, die Ärmel aufzukrempeln und mit der Gemeindearbeit so richtig
loszulegen.

65
Gemeinde
zwischen Plattenbauten
Biografische Notizen 1969 bis 1976

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3.1 Auf Kohle gebaut
Einer alten Lesebuchgeschichte* zufolge wurde der Ruhrbergbau im Mittelalter durch einen
Hirtenjungen begründet. Der Junge machte auf den Hügeln nördlich der Ruhr ein Feuerchen
und als er es löschen wollte, brannten die Steine weiter. Eine schöne Geschichte, an der zu-
mindest dies wahr ist: Die Kohle liegt schräg in der Erde. Auf den Ruhrhöhen liegt sie dicht
unter der Oberfläche und man kann sie im Tagebau fördern. In meiner neuen Gemeinde war
das anschaulich zu sehen. Die Gemeinde lag auf den Ruhrhöhen und in den Baugruben für
die neuen Hochhäuser sah man deutlich die dunklen Bänder der Kohlenflöze. Man hätte die
Kohle mit Leiter und Eimer heraufholen können. Zehn Kilometer weiter westlich, in Essen-
Heisingen, wo ich als Vikar tätig war, hatte man das tatsächlich gemacht. Dort holten sich die
Leute während des Krieges ihre Kohle unter dem Vorwand, einen Luftschutzkeller zu bauen,
aus dem Garten hinterm Haus.

Im Bergmannsfeld konnte niemand mit der Kohle etwas anfangen. Die Zeit der Kohleöfen
war vorbei. Die neue Siedlung wurde komplett mit Nachtstrom beheizt. Kohle war hier kein
Segen, im Gegenteil, sie stellte eine Gefahr dar. In dieser Gegend war in vergangenen Jahr-
hunderten oberflächennaher Bergbau betrieben worden, niemand wusste genau, wo die alten
Stollen liegen. Deshalb musste das Gelände, bevor man darauf bauen konnte, mit einem Netz
von Probebohrungen überzogen werden - eine teure Angelegenheit. Später, als die Neubauten
fertig waren, stellte unsere Siedlungsgesellschaft, die „Neue Heimat“, auf sämtliche Grünflä-
chen zwischen den Häusern „Betreten verboten!“- Schilder. Nicht weil man etwas gegen
spielende Kinder gehabt hätte, sondern um keinen Schadenersatz leisten zu müssen, falls ein-
mal ein Kind von einem Tagesbruch verschluckt werden sollte.

Natürlich hätte man lieber auf soliderem Untergrund gebaut, aber innerhalb der Stadtgrenzen
von Essen gab es kaum noch freie Flächen, auf die man ein Neubaugebiet für 8000 Menschen
hätte setzen können. Damals, in den 70er-Jahren, hatten alle deutschen Städte das gleiche
Problem: Man brauchte viele neue Wohnungen. Junge Paare mit kleinen Kindern (wir befin-
den uns noch vor dem Pillenknick!) wollten nicht länger bei den Eltern leben und suchten
eine eigene Wohnung. Die Zahl der Scheidungen nahm zu, was den Bedarf an Wohnungen
weiter vergrößerte. Außerdem waren viele Innenstädte sanierungsreif und die „Planungs-
verdrängten“ benötigten ebenfalls neue Wohnungen. Also errichtete man überall „auf der grü-
nen Wiese“ Neubaugebiete und ganze Trabantenstädte. Die Neue Vahr in Bremen, das Mär-
kische Viertel in Berlin und das Bijlmermeer bei Amsterdam sind in die Architekturgeschich-
te eingegangen. Gegen diese berühmten, teilweise auch berüchtigten Anlagen (das Bijlmer-
meer ist mit über 100 000 Einwohnern eine eigene Großstadt!) nahm sich unsere Siedlung
eher bescheiden aus. Sie hatte übrigens, trotz der Nähe zur Kohle, ihren Namen nicht vom
Kumpel, sondern einfach vom Bauern Bergmann, dem die Felder auf denen man baute, ge-
hört hatten. Andere Neubaugebiete in Essen hießen Isinger Feld, Hörster Feld u.s.w.

Als ich ins Bergmannsfeld kam war etwa ein Drittel der Häuser halbwegs fertig. Der Rest des
Geländes glich einer Mondlandschaft. Eine Baugrube reihte sich an die andere. Baustraßen
durchzogen kreuz und quer das Gelände. Mittendrin befand sich die Fabrik für die Platten,
aus denen die Häuser zusammengesetzt wurden. Tieflader brachten sie zu den einzelnen Bau-
stellen. Es waren die gleichen Plattenbauten, wie sie auch in der DDR hochgezogen wurden.
Aus einigen wenigen Grundelementen konnte man ein halbes Dutzend unterschiedlicher
Wohnungsgrundrisse bauen. Auch die Punkthochhäuser wurden aus diesen Fertigteilen mit

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ihrer typischen Waschbeton-Außenseite zusammengesetzt. Die Wände waren relativ dünn,
dafür aber aus hochverdichtetem Beton. Ein Schrecken für jeden Heimwerker! Wer in diese
Platten Dübellöcher bohren wollte, brauchte nicht nur eine kräftige Bohrmaschine, sondern
auch für jedes zweite Loch einen neuen Bohrer. Die Dinger glühten sofort durch.

Die meisten Straße und Gehwege mussten erst noch gebaut werden. Auch Läden und eine
Gaststätte existierten zunächst nur auf dem Papier und von einem Gemeindezentrum waren
wir noch weit entfernt. Im Winter und bei Regenwetter verwandelte sich die ganze Siedlung
in eine einzige Pampe. Kinder die vom Spielen zurück in die Wohnung kamen, wurden erst
einmal unter die Dusche gestellt. Die Menschen im Bergmannsfeld waren bunt zusammenge-
würfelt. Anders als im benachbarten Stadtteil Horst, der „natürlich gewachsen“ war, kannte
hier keiner seine Nachbarn. Die neuen Wohnungen waren vorzugsweise für kinderreiche und
sozial schwache Familien gedacht. Das bescherte uns einen gewaltigen Kinderreichtum. Den
Rekord hielt ein Haus, in dessen acht Wohnungen 52 Kinder mit ihren Eltern lebten. Erika
gab in der Grundschule mitten in der Siedlung Religionsunterricht. Als sie die Geschichte
von Josef und seinen vielen Brüdern behandelte, fanden die Schüler das völlig normal. Durch
ihren Unterricht war Erika in der Siedlung schnell bekannt und wenn sie durch die Straßen
ging, riefen die Kinder aus allen Richtungen „Frau Rooch, Frau Rooch“. Mich hingegen
kannte zunächst niemand. Einmal hörte ich wie ein Kind zum anderen sagte: „Da geht der
Mann von Frau Roch.“ Als ob ich ein Anhängsel meiner Frau wäre. Natürlich weiß ich, dass
es Frauen oft umgekehrt geht und sie als Anhängsel ihres Mannes behandelt werden. Aber es
ist doch ein Unterschied, ob man es „weiß“ oder ob man/Mann es am eigenen Leibe erfährt.

Einen Fehlgriff hatte die Stadt Essen getan, als sie die Straßen im Bergmannsfeld nach Philo-
sophen benannte. Die schlichten Bewohner dieser Gegend kamen in große Nöte, wenn sie
ihre Adresse schreiben sollten. Spinoza schrieben viele mit zwei „n“ (Spinner!), Schopenhau-
er mit zwei „p“ (Schoppen!), und bei Nietzsche kamen sie vollends ins Schleudern. Da hätte
die Stadt mit „Tulpenweg“ und „Rosenstraße“ manches erleichtern können.

Im Bergmannsfeld war immer etwas los, es wurde nie langweilig. Polizei und Feuerwehr hat-
ten alle Hände voll zu tun, weil gerade wieder eine Tür aufgebrochen oder in einem Keller
gezündelt worden war. Die Heranwachsenden, die man beim Bau von Spielplätzen vergessen
hatte, hockten nachts auf den Klettergeräten für die Kleinen und ließen ihre Radios „volle
Pulle“ laufen. Ein durch und durch lebendiger Stadtteil also, mit den besten Aussichten zum
sozialen Brennpunkt zu werden. Einen solchen Brennpunkt hatten wir schon, die städtische
Notunterkunft am Sachsenring, ebenfalls in meinem Bezirk. Das waren Schlichtwohnungen,
in denen man Familien unterbrachte, die anderswo nicht mehr unterzubringen waren. Der
Sachsenring war eine kleine Welt für sich, mit eigenen Spielregeln.

Und das Maß voll zu machen, lag oberhalb des Bergmannsfeldes noch eine Fabrik, die tieri-
sche Fette verarbeitete und - vor allem an heißen Sommertagen - einen widerlichem Gestank
verbreitete. Einige Jahre später wurde sie endlich stillgelegt. Da hatte ich mir eine Gegend
ausgesucht, in der es allerhand zu tun gab und wo die übliche, an einer bürgerlichen Mittel-
schicht orientierte Gemeindearbeit wenig ausrichten konnte.

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3.2 Gemeinde muss erst werden
Wenn ich hier von meiner Gemeinde spreche, ist das nicht ganz korrekt. Es handelte sich um
einen von zwei Pfarrbezirken der einen Gemeinde „Horst-Eiberg zu Essen-Steele“. Der erste
Bezirk lag oben im Ortsteil Horst und wurde von meinem Kollegen Kurt Künhaupt betreut.
Dort sah es wie überall im Ruhrgebiet aus: Mehrfamilienhäuser aus der Gründerzeit, Eck-
kneipen, einzeln stehende Häuser aus der Zeit zwischen den Kriegen und Neubauten aus der
Nachkriegszeit in einer bunten Mischung. Würde man einen Quadratkilometer Steele gegen
einen Quadratkilometer Wanne-Eickel austauschen – der Tausch würde niemandem auffallen.
Erst wenn man eine Weile hier wohnt, nimmt man die feinen Unterschiede wahr und es kann
so etwas wie ein Heimatgefühl entstehen.

Als auf den Äckern nördlich von Horst das Bergmannsfeld entstand, gliederte man es als neu-
en, zweiten Bezirk an die bestehende Gemeinde an - eine konfliktträchtige Lösung, denn bei-
de Bezirke passten schlecht zusammen. Vor allem aber hatten die neu Zugezogenen über-
haupt keine Anbindung an den alten Ortsteil. Dass dort drüben auf dem nächsten Hügel eine
Kirche stand, nun ja, eine Kirche gab es in jedem Dorf, aber dass diese Kirche ihre Kirche
und der dortige Friedhof ihr Friedhof sein sollte, das war nun wirklich nicht einzusehen. Man
kam auch nur schwer hin. Eine Bahnlinie trennte beide Ortsteile voneinander. Um zu Fuß
nach Horst zu kommen, musste man zum nächsten Bahnübergang laufen, warten bis die
Schranke sich öffnete und dann noch einen steilen Hang hinaufkraxeln. Niemand konnte den
Bergmannsfeldern erklären, was sie dort oben verloren hatten.

Erika und ich wohnten in einer Vierzimmerwohnung im Erdgeschoss eines viergeschossigen


Plattenbaus. Das Zimmer neben der Eingangstür war mein „Amtszimmer“. Ein besonderes
Wartezimmer gab es, obwohl eigentlich vorgeschrieben, nicht. Wollten mehrere Leute etwas
Persönliches mit mir besprechen, musste der zweite eben noch einen kleinen Spaziergang
machen. Ich fand das in Ordnung denn es war mir wichtig, als Pfarrer nicht anders zu leben,
als „meine Leute“. Ein großes Pfarrhaus, wie es Kollege Künhaupt oben in Horst bewohnte,
hier zwischen den Plattenbauten, hätte meiner Vorstellung von Solidarität widersprochen
(und war zum Glück auch nie geplant).

Übrigens war ich nicht der erste Kirchenmann in Bergmannsfeld. Vor mir gab es schon einen
Vikar, Siegfried Essen, der eigentlich zum Pfarrer in der neuen Siedlung ausersehen war.
Aber er hatte es mit dem Gemeindeleitung, dem Presbyterium, verdorben, indem er sozialis-
tisches Gedankengut verbreitete und rote Socken zum Talar trug. In einer von CDU-Leuten
regierten Gemeinde reichte das, um ihm den Laufpass zu geben. Offiziell wurde es damit be-
gründet, dass er zum Predigen eine zu leise Stimme habe, also für den Pfarrberuf nicht geeig-
net sei. Da sie ihm das schriftlich gegeben hatten, erstritt er sich vor Gericht ein Stipendium
für ein Zweitstudium, wurde Psychologe und ist heute, wie ich hörte, ein renommierter The-
rapeut. Siegfried wohnte noch etliche Jahre in der Gemeinde, zwei Etagen über uns. Wir ha-
ben uns rasch angefreundet, was natürlich von der Gemeindeleitung nicht so gern gesehen
wurde. Unvergesslich sind mir seine suggestiven Sprüche für die Kinder in unserer Notunter-
kunft. Er hatte ein Programm für lernbehinderte Kinder entwickelt, mit dem sie sich selbst in
Richtung Schulerfolg trainieren konnten. Wenn sie mit den Schularbeiten begannen, sagten
sie halblaut vor sich hin: „Ich bin gescheit, ich nehm mir Zeit“. Wenn sie sich verrechnet hat-
ten, hieß es „Fehler passieren, noch mal probieren!“

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Mein Vorgänger hatte schon einen kleinen Kreis von kirchlich Interessierten gesammelt. Dar-
aus wurde dann der Gemeindeaufbaukreis (GAK). In dieser Gruppe überlegten wir, wie die
Gemeindearbeit im Bergmannsfeld aussehen konnte, wo wir Vorbilder für unsere Arbeit fan-
den und wie wir unsere Ideen im Presbyterium durchsetzen wollten.

Weil die Menschen im Bergmannsfeld einander kaum kannten, fingen wir mit einem Nach-
barschaftsprojekt an. Auf einer Liste konnte man angeben, was man braucht (Babysitter, Hil-
fe beim Ausfüllen von Anträgen usw.) und was man bereit war, für andere zu tun. Durch diese
„Aktion gute Nachbarschaft“ machten wir uns als Kirchengemeinde rasch bekannt und be-
liebt und stießen immer wieder auf Menschen, die sich bei weiteren Aktionen (z.B. bei einer
Schularbeitenhilfe) aktivieren ließen. Die Aktion lief über viele Jahre und war eine gute Basis
für alles, was später an Gemeindearbeit in meinem Bezirk gewachsen ist.

Bald wurde unsere Nachbarschaftsaktion durch ein Netz von „Kontaktleuten“ gestützt. Diese
Kontaktleute machten Hausbesuche, überbrachten zum Geburtstag einen Gruß der Gemeinde,
verteilten die Gemeindebriefe und gaben meinen Mitarbeiterinnen und mir Bescheid, wenn
irgendwo Not am Mann bzw an der Frau war. Für die Organisationsarbeit, für Besuche und
Gruppen stand mir bald eine Gemeindehelferin, zuerst Frau Chan, dann Frau Kollhoff, zuletzt
Frau Ahting, zur Seite. Später ließ sich sogar noch eine zweite Mitarbeiterin finanzieren. Für
diese Stelle konnte ich Barbara Scholz gewinnen. Sie hatte mit Erika am Burckhardthaus die
Ausbildung zur Gemeindehelferin gemacht und danach noch eine Zusatzausbildung als Ge-
meinwesenarbeiterin absolviert. Gemeinwesenarbeit war damals noch ein weithin unbekann-
ter, neuer Zweig der Sozialarbeit. Ich konnte viel von meiner neuen Mitarbeiterin lernen. Tra-
ditionellerweise war (und ist) Kirche stark auf Einzelpersonen ausgerichtet. Einzelne werden
getauft und konfirmiert, Einzelne kommen zum Glauben (oder auch nicht), Einzelne landen
später im Himmel oder in der Hölle. Aber was bedeutet Kirche für ein Gemeinwesen? Diese
Frage wurde für mich zum Kernpunkt meiner Arbeit. Wenn man einem Stadtteil nicht an-
merkt, dass dort Christen leben, kann man so viele Gottesdienste oder Bibelstunden abhalten
wie man will, es hilft den Menschen nicht weiter. Hier im Bergmannsfeld hieß die Aufgabe:
Kirche muss dazu beitragen, dass aus einer Waschbeton-Wüste ein bewohnbarer Stadtteil
wird.

Die Frage nach den spirituellen Wurzel unserer Arbeit haben wir damals kaum gestellt. Die
Aufgaben lagen so klar auf der Hand, dass wir über Begründungen nicht weiter nachgedacht
haben. Beispielsweise wurden an einer bestimmten Straßenecke immer wieder Kinder ange-
fahren, weil parkende Autos den Blick verstellten. Klar, dass wir da Unterschriften für einen
Überweg und eine Ampel gesammelt haben und zwar in schöner Eintracht mit den Leuten
von der DKP. Oder die Neue Heimat setzte plötzlich viele Familien wegen Mietrückständen
auf die Straße. Auch da musste sofort etwas getan werden: Unterschriften sammeln, Leser-
briefe schreiben usw. In einer Notlage tut man, was einem vor die Hand kommt, ohne lange
nach biblischen oder theologischen Begründungen zu fragen.

Mit unserem auf die Nachbarschaft bezogenen Ansatz hatten wir einen kräftigen Rückhalt in
der Bevölkerung. Auch Menschen, die von der Kirche wenig hielten, sagten: Ihr tut wenigs-
tens etwas für uns! Von der Stadt und der Neuen Heimat fühlte man sich eher im Stich gelas-
sen. Es gab viele stürmisch verlaufende Bürgerversammlungen mit erregten Debatten und
Forderungen an die Kommunalpolitiker: Baut endlich Kindergärten! Wo bleibt das verspro-
chene Einkaufszentrum? Wann hört der Gestank der Fettfabrik auf?

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Das Verhältnis zur Katholischen Gemeinde war unproblematisch, aber auch nicht sonderlich
eng. Die Katholiken ließen sich nicht so gern in die Karten gucken und gingen auch nicht so
stark in die Öffentlichkeit wie wir. Die Folge war, dass eine Reihe von ihnen lieber in der
evangelischen Gemeinde mitmachten. Manchmal gab es auch schwierige Wechselwirkungen.
Weil die Plätze in den Kindergärten nicht ausreichten, wollten wir in den evangelischen Kin-
dergarten alle Kinder, ohne Rücksicht auf Konfession und Kirchenzugehörigkeit, aufnehmen
und nur nach der Bedürftigkeit schauen. Die Katholiken nahmen vorzugsweise katholische
Kinder, andere nur im Ausnahmefällen. Also mussten wir notgedrungen den evangelischen
Kindern ebenfalls einen Vorrang einräumen, sonst hätten die katholischen einen Vorteil ge-
habt. So eine Siedlung ist ein geschlossenes System, darin kann keiner völlig frei agieren.
Was der eine tut, schränkt die Handlungsmöglichkeiten der anderen ein. Man kann die unter-
schiedlichen Konzepte gut an den beiden Gemeinde-Zentren, die jetzt im Bergmannsfeld ste-
hen, ablesen. Die Katholiken bauten sich eine Art Burg, ganz nach innen ausgerichtet und mit
großen Toren gegen die Außenwelt abschließbar. Wir Evangelischen bauten ein offenes Haus
mit viel Platz für geselliges Leben um einen als Forum verstandenen Versammlungsraum her-
um.

3.3 Die Brücke


Ein wichtiger Schritt auf dem Weg eine Gemeinde zu werden, war die Anmietung einer Drei-
zimmerwohnung in einem Hochhaus am Philosophenweg. Dieses provisorische Gemeinde-
zentrum nannten wir „Die Brücke“. In der Brücke war bald an jedem Tag der Woche von früh
bis spät etwas los. Kinderbetreuung, Seniorenclub, Brücken-Cafe, Kinderkleidertausch, Ge-
meindeaufbaukreis, Sprechstunden von mir und meinen Mitarbeiterinnen und und und - die
Räume waren ständig ausgebucht.

Neben dem Gemeindeaufbau hatte ich natürlich noch die ganz normalen pastoralen Aufgaben
zu erledigen: Gottesdienste halten, Kinder taufen, Paare trauen, Verstorbene beerdigen und
Konfirmanden unterrichten. Auch dabei war manches anders als im ersten Bezirk. Weil im
Bergmannsfeld so viele junge Familien wohnten, gab es dort kaum Trauungen. Die Kinder
waren noch nicht im heiratsfähigen Alter. Auch Bestattungen waren selten, dafür waren es
meist „Sonderfälle“. In meinem Bezirk starb man nicht an Altersschwäche sondern durch Un-
fall oder Selbstmord. Konfirmanden hatte ich in großen Zahl, an die hundert pro Jahrgang.
Zwei Nachmittage pro Woche war ich ausschließlich mit kirchlichem Unterricht beschäftigt,
jeweils drei Gruppen hintereinander. Die Konfirmationen erledigte ich dann in zwei Gottes-
diensten am gleichen Sonntag. Die normalen Sonntagsgottesdienste hielt ich im Wechsel mit
meinen Kollegen an den drei zu Essen-Steele gehörenden Predigtstätten. Dieser Ringtausch
hat uns Pfarrer sehr entlastet.In der Zionskirche, oben im ersten Bezirk – der gemeinsamen
Predigtstätte für mich und meinen Kollegen Künhaupt – predigte ich nur ungern. In dem
großen Kirchenraum saßen meist nur einige wenige Gemeindeglieder und die auch noch in
den hinteren Bänken. Sie zu erreichen war nicht nur ein theologisches sondern vor allem ein
akustisches Problem. Ganz anders bei Beerdigungen. In einer Trauerhalle ist der Abstand
zwischen Pfarrer und Gemeinde kleiner, man fühlt sich wie in einem Zimmertheater. Außer-
dem gibt es ein gemeinsames Thema: Einer von uns ist gestorben. Was löst sein Tod aus? Wie
soll es jetzt weitergehen? Solche Trauergottesdienste waren mir immer am liebsten. Weil ich
mich kurz und knapp ausdrückte und nicht herumsalbaderte, kam ich gut an.

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Oft musste ich auch zur anderen Friedhöfen irgendwo in der Stadt oder zum Krematorium
fahren, denn manche Verstorbenen wurden dort bestattet, wo sie vor ihrem Umzug ins Berg-
mannsfeld gewohnt hatten. Im Krematorium freute man sich, wenn ich wieder einmal auf-
tauchte. Weil meine Kollegen meist zu lange redeten, war das Krematorium oft dem Zeitplan
hinterher. Da kam ich mit meinen kurzen Ansprachen gerade recht um die verlorene Zeit wie-
der einzuholen.

Im Bergmannsfeld gab es noch keine eigene Predigtstelle. Es gab ja auch noch keine Kirche
und kein Gemeindezentrum. Wir haben es mit Gesprächsgottesdiensten in angemieteten
Schulräumen versucht, aber die wollten nicht so richtig laufen. Schulräume machen Erwach-
sene wieder zu Schülern! Die Leute hoben die Hand, wenn sie etwas sagen wollten.
Sehr oft bekam ich mit Notfällen zu tun. Jemand konnte die Miete nicht bezahlen, kam mit
dem Partner oder mit den Kindern nicht klar, trank zu viel usw. Nun kamen sie zur mir mit
der Vorstellung: Die Kirche hat doch Geld genug, sie muss mir helfen. Bei mir war aber auch
nichts zu holen. Natürlich hatte die Kirche viel Geld, aber sie hatte kein Geld übrig. Im Ge-
genteil, wir hätten gern noch jemanden für die Jugendarbeit eingestellt, konnten aber keinen
weiteren Mitarbeiter finanzieren. An Hilfesuchende konnte ich zwar Lebensmittelgutscheine
austeilen, aber das war nicht mehr als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Außerdem
hätten die Ratsuchenden ihren gesamten Lebensstil umkrempeln müssen, um dauerhaft aus
ihren Problemen herauszukommen. Da wäre professionelle Krisenintervention und Schuld-
nerberatung nötig gewesen. Diese Instrumentarien heutiger Sozialarbeit steckten aber damals
noch in den Anfängen. Ich tat was ich konnte, aber das war angesichts der Fülle von Proble-
men recht unzureichend.

Hinzu kam noch die Notunterkunft, die ja auch in meinem Bezirk lag. In diese mir fremde
Welt bin ich nie so richtig eingetaucht. Ich war in einem anderen Milieu aufgewachsen und
musste mir immer einen Ruck geben, wenn ich im „Sachsenring“ zu tun hatte. (Die Bezeich-
nung „Sachsenring“ wurde für die Notunterkunft gebraucht, auch wenn in der gleichnamigen
Straße auch noch andere Menschen wohnten). Im „Sachsenring“ waren die Hausflure ver-
dreckt, Kinder lungerten herum, überall roch es nach Kohlsuppe und es war laut, sehr laut:
Türen wurden zugeknallt, Babys plärrten, Mütter brüllten ihre Kinder an „Halt die Fresse,
oder du fängst eine!“ Ja, ich wusste, dass die Menschen durch unglückliche Umstände dort-
hin gekommen waren. Ich wurde auch immer freundlich behandelt und bekam als „Herr Pfar-
rer“ einen Stuhl angeboten. Aber wenn kurz zuvor ein Kind auf den Stuhl gekotzt hatte und
dieser nur notdürftig abgewischt war, fiel es mir schwer, darauf Platz zu nehmen. Am liebsten
hätte ich die Flucht ergriffen.

Die Kinder aus dem „Sachsenring“ kamen auch zur mir in den Konfirmandenunterricht.
Wenn aber im Fernsehen „Fury“ oder „Flipper“ lief, blieben sie weg. Mit diesen vermensch-
lichten Fernsehtieren konnte mein Unterricht, auch wenn er pädagogisch auf dem neuesten
Stand war, nicht konkurrieren.

Für den Sachsenring haben wir dann eine gute Lösung gefunden. Die evangelische Familien-
bildungsstätte, begann dort mit sozialer Gruppenarbeit und machte das so erfolgreich, dass
sie dafür den Hermine-Albers-Preis bekam.

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3.4 Höhepunkte
Wie in jeder Gemeinde gab es bei uns neben dem Gemeindealltag eine Reihe von Besonder-
heiten und Höhepunkten, die uns auszeichneten und auf die wir besonders stolz waren.

Jeweils einmal im Monat kochten wir in der Brücke am Sonntag ein einfaches Mittagessen.
Es kamen bis zu 40 Gäste. Weil nicht alle auf einmal in die Wohnung passten, mussten sie in
mehreren Schichten essen. Bezahlt wurde nach Selbsteinschätzung. Der Überschuss ging an
„Brot für die Welt“. Wir fanden immer wieder Menschen, die bereit waren, beim nächsten
Mal den Einkauf, das Kochen und das Spülen zu übernehmen. In gewisser Weise erfüllte die-
ses gemeinsame Essen die Funktion des Gottesdienstes.

Ein weiterer Höhepunkt waren die großen Jugendfreizeiten, die wir zusammen mit dem Esse-
ner Jugendreferat in Lugano durchführten. Untergebracht waren wir in der „Casa Coray“. Es
war ein schlichtes Haus, eine Art Landschulheim, unmittelbar am See. Der Besitzer hatte in
der Schweizer Landschulbewegung eine wichtige Rolle gespielt und die Casa war ein leicht
verkommenes Relikt aus den großen Zeiten dieser Bewegung. Der Alte Coray lebte noch
oben unterm Dach und manchmal schlurfte er nachts durch die Gänge und rief „Wer bin
ich?“ - „Wer bin ich?“ Das war ein wenig gruselig, aber die ganze Umgebung dort hatte oh-
nehin etwas Übersinnliches. Wir lebten unter Palmen. Es war südländisch warm. Die hohe
Luftfeuchtigkeit ließ alle Konturen unscharf erscheinen. Manchmal meinte man in einer an-
deren Wirklichkeit zu sein und einige Zentimeter über dem Boden zu schweben.

In diese völlig andere Welt fuhren wir mit jeweils 180 jungen Leuten aus dem Ruhrgebiet,
viele davon aus dem Bergmannsfeld, zum Teil auch aus anderen problematischen Stadtteilen.
Manche flippten in dieser ungewohnten Umgebung völlig aus, wozu natürlich auch der Rot-
wein seinen Teil beitrug. Mehrfach mussten wir Teilnehmer bei der Polizei abholen, weil sie
beim Ladendiebstahl erwischt worden waren. Dass einige in die Villa einer Filmschauspiele-
rin eingebrochen waren - um kostenlos nach Hause zu telefonieren! - erfuhren wir zum Glück
erst auf der Rückreise. Es war ständig etwas los, aber wir waren auch gut vorbereitet, hatten
18 Betreuer dabei, darunter zwei Psychologen, dazu noch jede Menge Material zum Malen,
Basteln und Theaterspielen. Den jungen Leuten wurde ordentlich etwas geboten und sie
schwärmten noch lange danach von Lugano. Zwei Mal bin ich mitgefahren, mehrmals ist
auch Frau Scholz dabei gewesen. Hinterher waren wir jedes Mal völlig urlaubsreif, aber es
war auch „das Größte“, was man sich damals denken konnte.

Eine weitere Besonderheit waren unsere Kontakte in die Niederlande. Wir waren öfters im
Bildungszentrum „Oud Poolgeest“ in der Nähe von Leiden zu Gast. Umgekehrt kamen Mitar-
beiter von dort nach Essen. Die Niederländer waren damals den Deutschen in Sachen Psy-
chologie und Sozialarbeit weit voraus, vor allem, wenn es um kreative Arbeitsformen – Ma-
len, Tanzen, Körperarbeit – ging. Sie probierten einfach alles aus, was ihnen so einfiel. Ein-
mal bekamen zwei Mädchen, die mit ihren Eltern dabei waren, (ich weiß nicht mehr aus wel-
chem Grund) Angst, die Eltern könnten sterben. „Dann lasst uns doch einfach mal spielen,
wie die Eltern beerdigt werden“, sagten unsere Freunde. Sie haben das tatsächlich gemacht
und die Kindern möglicherweise nachhaltig traumatisiert. Aber so war das, Grenzen wurden
einfach übersprungen. Mal schauen, was dabei herauskommt!

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Einmal hatten wir mit den Holländern einen großen Jugendgottesdienst zum Erntedankfest
vorbereitet. Unsere jungen Leute hatten Leinwände mit Bildern und Sprüchen bemalt. Die
sollten am Sonntag in unserer Kirche, oben in Horst, aufgehängt werden. Bei der Generalpro-
be am Samstag erschien unser Kirchmeister, um sich die Sache kritisch anzuschauen. Er war
dermaßen schockiert, dass er noch am Abend das Presbyterium zusammentrommelte und der
Gottesdienst am Folgetag nicht stattfinden durfte.

Es ergaben sich viele interessante Kontakte in die Niederlande. Oft machte ich dort auch mit
Erika und später mit ihr und Dominik Urlaub, meist in Bergen (in der Nähe von Alkmaar).
Dort konnte man stundenlang am Strand oder in dem breiten Dünengürtel wandern, mit dem
Rad am Wasser entlang flitsen oder in einem der gemütlichen, alten Gasthäuser einkehren.
Ich kaufte mir ein Reihe niederländische Krimis und konnte die Sprache bald recht flott le-
sen. Das Sprechen habe ich allerdings nie gelernt.

Auch in Amsterdam bin ich - mit und ohne Erika - öfters gewesen. Ich erinnere mich noch
lebhaft an eine nächtliche Tour durch Amsterdamer Klöster. Sie waren in großen alten Villen
untergebracht und es ging dort zu wie in studentischen Wohngemeinschaften. Obwohl es alle-
samt Männerklöster waren, hielten sich dort - wie einst um Jesus - eine Menge attraktiver
Frauen auf. Damals bereiteten die holländischen Katholiken dem Papst manchen Kummer.
Sie waren ökumenisch und weltoffen eingestellt. Besonders die Texte des Jesuiten Huub
Oosterhuis haben mich sehr angesprochen, weil sie sprachlich und theologisch anspruchsvoll
und zugleich schlicht sind. Ich habe diese liturgischen Texte oft in meinen Gottesdiensten
verwendet. Schön, dass inzwischen einige in unser neues Gesangbuch übernommen wurden.

In der Trabantenstadt Bijlmermeer südlich von Amsterdam lernte ich den reformierten Pfarrer
kennen und freundete mich mit ihm an. Mehr als hunderttausend Menschen wohnten dort,
alle in völlig gleichen wabenförmig gewinkelten Hochhauszeilen. Das war schon eine etwas
andere Größenordnung als unser überschaubares Bergmannsfeld! Leider bekam mein Kollege
kurz darauf eine Hochhausphobie und musste sich eine neue Stelle weit weg vom Bijlmer-
meer suchen. Die Reformierten machten im Bijlmermeer eine auf Hauskreisen aufbauende
Gemeindearbeit, von der wir uns einiges abgucken konnten. Deshalb bin ich auch einmal mit
meinem Gemeindeaufbaukreis hingefahren. Bei dieser Gelegenheit schauten wir uns auch die
Arbeit von „Oudezijd 100“ an, einer christlichen Kommunität mitten im Bordellviertel vom
Amsterdam. Ungewöhnlich und anregend, wie so manches, was die Niederländer machten. In
Holland hatten sie damals, also vor über 30 Jahren, schon reichlich Erfahrungen mit dem
Rückgang der Mitgliederzahlen, dem Verkauf von Kirchengebäuden und einem stark abneh-
menden kirchlichen Einfluss in der Öffentlichkeit - alles Themen die heute bei uns aktuell
werden.

Aus einer Elterninitiative „Kindergärten ins Bergmannsfeld“ entstand der „Hangwimpel“,


eine Tageseinrichtung, die sich an den damals in Mode gekommenen Kinderläden orientierte.
Er lag in oben Horst, wurde aber vom Bergmannsfeld aus mit Kindern beschickt. Der Hang-
wimpel bildete den Grundstock für unseren späteren Kindergarten im Bergmannsfeld.

Mit Familien aus dem Bergmannsfeld fuhr ich zu meiner ersten Familienfreizeit nach Wem-
ding in Bayern, noch nicht ahnend, dass ich viele Jahre später ein Fachbuch über Familien-
freizeiten schreiben würde.

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Wir machten auch erste Erfahrungen mit gruppendynamisch ausgerichteten Fortbildungen für
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unseres Bezirkes. Zweimal sind wir ins Kloster Walber-
berg gefahren, wo wir unter Leitung von Ingvild Odendahl Sensitivity-Übungen und Koope-
rationsspiele ausprobierten. Das war damals alles noch neu, spannend und beängstigend zu-
gleich.

3.4 In Horst ist die Welt noch in Ordnung


Im ersten Bezirk, oben in Horst, sah die Gemeindearbeit völlig anders aus als im Bergmanns-
feld. Dort hatte sich eine durch und durch konventionelle Gemeinde etabliert. Es gab einen
Kirchenchor, die Frauen gingen zur Frauenhilfe, die Männer in den Männerkreis und in den
Jugendräumen traf sich die nächste Generation zum Tischtennis und zum Kickern. Zu Pfar-
rers Geburtstag marschierten die Kinder aus dem Kindergarten auf, um meinem Kollegen ein
Ständchen zu bringen und um Gedichte aufzusagen.

In Horst hatten einige ältere Presbyter und ihre Frauen das Sagen, allen voran der Kirchmeis-
ter. Er regierte die Gemeinde als wäre sie eine Unterabteilung seines Tischlerbetriebes. Bei
Projekten, die er gut fand, war die Finanzierung kein Problem, erschien ihm etwas verdäch-
tig, vor allem wenn es nach Sozialismus roch, war dafür kein Geld vorhanden. Wollte die
Horster Frauenhilfe einen Ausflug unternehmen, ging die Finanzierung problemlos über die
Bühne. Wollte Frau Scholz mit Frauen aus dem Bergmannsfeld wegfahren, stellte man sofort
die Frage, ob diese Frauen überhaupt zur Gemeinde gehören und ob sie sonntags in die Kir-
che gehen.

Um jede Kleinigkeit mussten die Bergmannsfelder kämpfen. Weil sie in der Gemeindelei-
tung, also im Presbyterium, in der Minderheit waren, hatten sie bei diesen Auseinanderset-
zungen schlechte Karten. Die Alteingesessenen verteidigten ihre Machtposition mit allem
Mitteln und gingen dabei bis an die Grenze des Erlaubten. Die Kirchenordnung sieht vor,
dass vor Entscheidungen Gründe und Gegengründe in offener Debatte abgewogen werden
und dass bei Beschlüssen Einmütigkeit anzustreben ist. In Horst lief das anders. Kam ein An-
trag aus dem Bergmannsfeld auf den Tisch, redete man zwar eine Weile darüber, aber dann
sagte der Kirchmeister: „Ich glaube, wir können jetzt abstimmen.“ Da zeigte sich dann, dass
sich die Horster Mehrheit schon vor der Sitzung abgesprochen hatte. Keine Chance für die
Bergmannsfelder!

Ich muss zugeben, dass mich diese Auseinandersetzungen nicht nur belasteten, sondern auch
reizten. Gestritten habe ich mich schon immer gern, vor allem wenn es geistreich und mit
Witz geschah. Einmal hat das Presbyterium meinem Kollegen einen elektrischen Antrieb für
den Rollladen in seinem Wohnzimmer bewilligt. Da beantragte ich, auch in meinem Wohn-
zimmer einen solchen Antrieb zu installieren. Beinahe wäre es beschlossen worden. Aber
dann ist doch einigen aufgefallen, dass es bei mir (wie im ganzen Bergmannsfeld) gar keine
Rollläden gab.

Ich war damals jung und unerfahren. Wenn es um „meine Leute“ ging, fühlte ich mich
schnell im Recht. Das machte es für Presbyter, die zu vermitteln versuchten, nicht gerade ein-
fach. Von meinem Pfarrkollegen im ersten Bezirk war wenig Unterstützung zu erwarten.Der
Mann hatte längst resigniert. Am Anfang, sah es so aus, als könnte ich als jüngerer Kollege

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ihn ein wenig mitreißen. Einmal haben wir sogar zusammen einen Gottesdienst im Stile der
Kölner Politischen Nachtgebete veranstaltet. Als sich aber die Konflikte zwischen den Bezir-
ken zuspitzten, zog er sich wieder auf sich selbst zurück und zuletzt weigerte er sich sogar,
die wöchentlichen Dienstbesprechungen mit mir fortzusetzen. Dieser Kollege hatte es nicht
leicht, er war stark sehbehindert. Die Bibel oder seine Aufzeichnungen musste er sich unmit-
telbar vors Gesicht halten um darin lesen zu können. Wahrscheinlich hat diese Behinderung
seine Tendenz zum Rückzug verstärkt. Als „Kampfgenosse“ fiel er jedenfalls aus und ich är-
gerte mich auch zunehmend über ihn. An seiner Arbeit ließ sich mindestens genau soviel aus-
setzen wie an meiner, aber während ich ständig der Kritik des Presbyteriums ausgesetzt war,
saß er schön im Trockenen und ließ mich im Regen stehen. Es war sicher kein Zufall, dass er
sich der Theologie von Karl Barth verschrieben hatte. Seine Kirche war eine Predigthalle.
Am Sonntagvormittag erscholl dort „Gottes Wort“, verkündet von Pfarrer Künhaupt und den
Menschen blieb nichts als die gläubige Annahme. Gemütliche Clubräume, Sitzgruppen zum
Gespräch, passende Räume für Unterricht und Erwachsenenbildung gab es in diesem Zen-
trum nicht. Es ging um Hören und Gehorchen, nicht um Kontakt, Erfahrungsaustausch und
die Suche nach Lebenskonzepten.

Außen war die Kirche mit einem hässlichen Mosaik geschmückt: ein Hirte mit seinen Scha-
fen, dazu riesige Dornen, von denen monströse Blutstropfen herabfallen, fast schon eklig und
auf keinen Fall einladend.

1972 kam es zum „großen Knall“. Das Presbyterium weigerte sich, den Arbeitsvertrag für
Frau Scholz, unsere Gemeinwesenarbeiterin, zu verlängern. Aber da hatten sie die Rechnung
ohne die Bergmannsfelder gemacht. Die ließen auf eigene Kosten knallgelbe Plakate mit
dem Satz „Frau Scholz muss bleiben“ drucken und hängten sie überall im Bergmannsfeld in
die Fenster. Die ganze Siedlung sah gelb aus. Außerdem demonstrierten sie mit Spruchbän-
dern („Ist Beten wichtiger als Helfen?“) bei der Tagung der Kreissynode. Das Presbyterium
zog den Beschluss zurück, Frau Scholz konnte bleiben und ihre Arbeit fortsetzen. Die Berg-
mannsfelder erhielten sogar ein größeres Mitspracherecht. Zwar hatte das Presbyterium wei-
terhin das letzte Wort, aber in Zukunft sollte der Gemeindeaufbaukreis wenigstens angehört
werden, wenn es um das Bergmannsfeld ging. Ein Teilerfolg – immerhin!

Im Untergrund grummelte es natürlich weiter und es blieb auch einiges an meiner Person
hängen. Ich hatte zwar mit dem „Aufstand“ direkt nichts zu tun, denn ich war in der heißen
Phase gerade im ebenfalls heißen Afrika, aber irgendein Rädelsführer musste ja hinter sol-
chen für die Kirche ungewohnten Aktionen stecken, wahrscheinlich doch wieder der Pfarrer,
mit dem man schon soviel Ärger gehabt hatte.

3.5 Wir reisen nach Afrika und bekommen ein Kind


Am Anfang unsrer Ehe, als meine berufliche Zukunft noch ganz ungewiss war, wollten wir
noch keine Kinder. Erika nahm die Pille. Jetzt, wo ich ein wohlbestallter Pfarrer war, hätten
wir gern Kinder gehabt, aber wir bekamen keine. Woran das lag, hat nie ein Arzt herausge-
funden. Sie schüttelten nur den Kopf und empfahlen, einen weiteren Spezialisten aufzusu-
chen. Rückblickend bin ich froh, damals nicht diesen Weg eingeschlagen zu haben. Statt des-
sen entschieden wir uns für eine Adoption. Das würde nicht nur uns, sondern auch einem
kleinen Kind, das sonst ohne Eltern aufwachsen müsste, weiterhelfen.

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In den 70er Jahren war es wesentlich leichter als heute, ein neugeborenes Kind zu adoptieren.
Es waren lediglich einige bürokratische Hürden zu überwinden, um eine Adoptionsberechti-
gung zu erhalten. Unter anderem kam eine Fürsorgerin ins Haus und schaute ob in der Woh-
nung alles ordentlich aufgeräumt ist. Als wir unser Einkommen offen legten, sagte sie im
Blick auf Erikas Anteil nur: "Das fällt ja dann weg!“ So waren damals die Zeiten. Berufstäti-
ge Frauen waren die Ausnahme. Lange Zeit brauchten Frauen sogar noch die Zustimmung ih-
res Mannes, wenn sie arbeiten wollten! Wir fanden Gnade vor den Augen des Jugendamtes,
bekamen den erforderlichen Schein und konnten damit auf Kindersuche gehen.

Zuvor gönnten wir uns aber noch eine große Reise. Unsere Freunde Elke und Ludwig Sasse
waren mit drei kleinen Kindern, eins davon mein Patenkind, als Entwicklungshelfer nach
Tanzania gegangen. Sie lebten am Hang des Kilimanjaro. Dort wollten wir sie besuchen. Wir
buchten zwei Wochen Badeaufenthalt in Mombasa, eine Woche am Anfang, die andere am
Ende unseres Aufenthaltes und hatten dazwischen vier Wochen Zeit, um „Afrika pur“ zu erle-
ben. Ludwig war als Bauingenieur bei der dortigen Lutherischen Kirche beschäftigt, haupt-
sächlich um alte Missionskrankenhäuser aufzumöbeln. Mit ihm konnten wir zu verschiede-
nen Baustellen, weitab von den üblichen Touristenrouten, fahren. Natürlich waren wir auch in
der Serengeti und in anderen Tierparks. („Park“ erweckt den Eindruck von klein und über-
sichtlich, die Serengeti ist etwa so groß wie Bayern!). In der Serengeti haben wir eine Nacht
im Zelt verbracht. Diese Nacht zählt zu den unruhigsten meines Lebens. Kurz vorher waren
wir Löwen begegnet und draußen vor dem Zelt herrschte in der Dunkelheit ein lautes Ge-
maunze, Geknurre und Gejaule - wie soll man da in Ruhe schlafen? In einem anderen Tier-
park kam uns ein Löwe hinterher gespurtet. Er hatte sich über uns geärgert und ich sah ihn
schon mit der Pranke durch die Heckscheibe des Autos langen. Erstaunlich, wie langsam
manchmal ein Auto beschleunigt, obwohl man doch Vollgas gibt!

Der Höhepunkt der Reise war ein nächtliches Fest, mit stundenlangem Trommeln, mit Gnu
auf dem Teller und Vollmond über dem Kilimanjaro. So etwas erlebt man nicht alle Tage.
Später habe ich mich darüber geärgert, dass ich nicht oben auf dem Gipfel war. Beinahe ein
Sechstausender und ich lebe vier Wochen an seinem Hang und kraxle nicht hinauf. Wenn ich
eine Liste der Versäumnisse meines Lebens aufstellen sollte, käme dieses an die erste Stelle.

Ein Abstecher führte uns in den Süden Kenias zum Tana-River. Eine Gegend, wie man sie
von den Plakaten der Hilfsorganisationen kennt: ein paar armselige Hütten inmitten einer aus-
getrockneten Landschaft. Wenn wir in einem Dorf ankamen, holte unser Anführer, ein deut-
scher Missionar, als erstes seine Trompete hervor und ließ „Ein feste Burg ist unser Gott!“ er-
tönen. Das wirkte, wie so manches andere Stück „Deutschland in Afrika“, recht deplaziert,
aber er verstand es als seine persönliche Erkennungsmelodie. Die Menschen hörten es und
kamen von dem Äckern zum Gottesdienst und zur Bibelstunde. Der Dorfälteste versammelte
die Kinder um sich und erzählte wie im Jahre 1912 die ersten Missionare aus Deutschland in
ihr Dorf kamen. „Das hier“ - sagte er und zeigte dabei auf uns - „das sind die Enkel jener
Missionare, die uns damals den Glauben an Jesus brachten“. Zum Abschied haben sie für uns
ein paar Münzen gesammelt. Davon sollten wir uns im nächsten größeren Ort eine Cola kau-
fen. Wir haben dieses Geschenk voller Dankbarkeit und Rührung angenommen und ich habe
später oft davon erzählt. Wie anders würde es in der Welt aussehen, wenn die reichen Länder
im gleichem Maße von ihrem Reichtum abgeben würden, wie die Armen in diesem Beispiel
den Reichen geschenkt haben!

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Die letzte Urlaubswoche machten wir es uns wieder im Hotel „Two fishes“ bei Mombasa be-
quem. Da saß ich nun beim Mittagessen unter Palmen am Indischen Ozean. Plötzlich stupst
mich Erika an: „Was machst Du denn da?“ Geistesabwesend tunkte ich einen Hühnerschen-
kel in mein volles Bierglas. Ich hatte an meinen Kirchmeister in der fernen Heimat gedacht.
Ein schönes Beispiel für eine „back home“ Situation: Nach fünf Wochen Urlaub war ich da-
mals so in die afrikanische Umwelt eingetaucht, dass es mir ziemlich gleichgültig war, ob es
Europa überhaupt noch gibt. Jetzt erfolgte schlagartig das Umschalten in Richtung: Zurück
nach Hause.

Als wir wieder daheim waren, riefen uns Marlies und Günter Schmidt aus der Nähe von Köln
an. Sie kannten eine schwangere 17-Jährige, der sie versprochen hatten, nach passenden Ad-
optiveltern für ihr Kind Ausschau zu halten. Wir fuhren hin und fanden uns sofort sympa-
thisch. Schmidts hatten die gleichen Schallplatten (Süverkrüp, Degenhard...) im Regal und
die gleichen Bücher (Grass, Böll...) wie wir auf dem Bücherbord. Rasch war klar: wir würden
das Kind von Agnes Siedlatzek nach der Geburt zu uns nehmen. Es sollte auch gleich den
von uns gewünschten Namen „Dominik“ bekommen.

Am 8. Oktober 1972 wurde Dominik geboren, eine Woche später holten wir ihn im Dortmun-
der Klinikum ab. Mit Freunden und Bekannten feierten wir ein Fest, so als wäre uns selbst
ein Kind geboren worden. Wenn andere zu bedenken gaben, wir wüssten doch gar nicht, wel-
che negativen Eigenschaften ein adoptiertes Kind von seinen leiblichen Eltern geerbt hat,
wischte ich das mit leichter Hand weg. „Jedenfalls hat Dominik keine von meinen schlechten
Eigenschaften geerbt!“ Das war ziemlich naiv, entsprach aber dem damaligen Stand der Wis-
senschaft. Auch Fachleute meinten damals, wenn ein Kind gut bei Adoptiveltern unterge-
bracht sei, könne man die leiblichen Eltern vergessen. Vom Jugendamt gab es außer Hinwei-
sen zur Säuglingspflege keine Hilfestellung für frischgeborene Adoptiveltern. Weder wurde
der Kinderwunsch thematisiert, noch dachte man über die systemischen Zusammenhänge
zwischen Ursprungs- und Adoptivfamilie nach. Da hat sich in den folgenden Jahrzehnten sehr
viel verändert. Es gab übrigens auch kein Mutterschaftsgeld, weil die Adoptivmutter sich ja
nicht von den Strapazen der Schwangerschaft und der Geburt erholen muss. Dass es eine
Menge Stress mit sich bringt, wenn plötzlich ein Neugeborenes in der Familie auftaucht, war
kein Thema.

Nun hatten wir endlich ein eigenes Kind! Erika war glücklich, denn sie hatte sich immer Kin-
der gewünscht. Bei mir war der Kinderwunsch nicht so ausgeprägt. Ich hatte meinen alten ei-
genen Vater vor Augen und war mir unsicher, ob ich ein guter Vater sein könne. Aber: es ging
wunderbar und da das Stillen bei Adoptiveltern wegfällt, konnten wir uns beide ziemlich
gleichberechtigt unserem Kind zuwenden. Dass Erika weiter zur Arbeit gehen würde, war
klar. Außerdem fanden wir bald eine Kinderfrau für Dominik. Wenn Erika zur Familienbil-
dungsstätte fahren musste, kam Frau Voßnacke, kümmerte sich um Dominik und hielt auch
noch unsere Wohnung sauber. Das Zusammensein mit Dominik machte ihr soviel Spaß, dass
sie ganz gegen ihre Absicht, selbst noch einmal schwanger wurde. Das hat sie so überrascht,
dass sie ihre Schwangerschaft erst bemerkte, als sie schon im fünften Monat war.

Das eigene Kind stellte uns auf die gleiche Stufe mit den vielen jungen Familien um uns her-
um. Wir konnten nun auch einen Kinderwagen durch die Siedlung schieben und auf den Bän-
ken neben dem Spielplatz sitzen, während die Kinder auf den Spielgeräten herumturnten. Das
gab völlig neue Kontaktmöglichkeiten. Mit Siegfried Essen und seiner Frau, die auch ein
kleines Kind hatten, gründeten wir eine Kochgemeinschaft. Von Tag zu Tag wechselnd koch-

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ten und spülten wir füreinander - eine große Erleichterung für vielbeschäftigte Eltern. Man
konnte sich einfach an den gedeckten Tisch setzen, bekam etwas Leckeres vorgesetzt (wer
wollte sich schon vor den anderen blamieren?), erhielt nach dem Essen noch eine Tasse Kaf-
fee und konnte sich gleich darauf wieder an die Arbeit machen – jedenfalls an jedem zweiten
Tag.

Dominik entwickelte sich prächtig. Als eins der ersten Kinder kam er in den Genuss des „Pra-
ger-Eltern-Kind-Programmes“ (PEKiP), das gerade von der Essener Familienbildungsstätte
aufgegriffen wurde und für Erika zum Lebensinhalt werden sollte. Unermüdlich hangelte sich
dieses quicklebendige Kind am Klettergerüst herum und es dauert viele Jahre bis wir auch die
Schattenseiten dieser Quirligkeit kennen lernten. Zunächst freuten wir uns riesig, so ein le-
bendiges, Kind zu haben.

3.6 Man lernt nie aus


Dass ich mit meinem Kenntnissen und Fertigkeiten aus Studium und Predigerseminar in mei-
ner Arbeit nicht weit kommen würde, war schon bald klar. Ich musste noch viel hinzu lernen
und oft auch improvisieren. Für den Gemeindeaufbau in einem Neubaugebiet gab es kein
Lehrbuch, es war ja alles noch in der Entwicklung begriffen. Wichtig war deshalb der Aus-
tausch mit Kollegen in vergleichbarer Lage. Das waren die ersten Pfarrerfortbildungen, die
ich besuchte.
Von 1970 bis 1972 machte ich eine Langzeitfortbildung in Seelsorge. Es gab damals unter
jungen Pfarrern die Tendenz, die Kirche wieder zu verlassen und in einen Beratungsberuf zu
gehen. Dort konnte man sein Ziel, anderen zu helfen, mit effektiveren Mittel – z.B. mit Hilfe
der Psychotherapie - verfolgen, ohne sich um verstaubte kirchliche Strukturen kümmern zu
müssen. Eine solche Fluchtbewegung konnte der Kirche, die ihre Pfarrer dringend selber
brauchte, nicht recht sein. Also entwickelte man eine „Fortbildung in seelsorgerlicher Praxis“
(FSP) um die Pfarrer in der Kirche zu halten. FSP war an die Ausbildung der Ehe- und Le-
bensberater angelehnt. Ein Jahr Selbsterfahrungsgruppe, ein Jahr Balintgruppe, dazu eine
Reihe von Kurswochen im Zentralinstitut in Berlin. Ich hatte Glück, wurde angenommen und
fuhr nun zwei Jahre lang etwa alle drei Wochen jeweils für einen halben Tag zur Ausbil-
dungsgruppe bei Frauke Krukenberg und Siegfried Keil nach Düsseldorf.

Anfangs tat ich mich mit dieser Gruppenarbeit schwer. Von mir selbst, meinen Erfahrungen
und Empfindungen zu reden, war recht ungewohnt. Zu Hause war mir beigebracht worden,
was „man“ tut oder nicht tut. Sich selbst in der Vordergrund zu stellen, galt als ungehörig. So
etwas machten nur Angeber. Ein gebildeter Mensch handelte nach dem Motto: Mehr sein als
scheinen. Aber nun kam aus Amerika die Welle der Gruppendynamik und der Selbsterfah-
rung herüber. Jetzt musste „man“ von sich selbst sprechen, um nicht als Außenseiter zu gel-
ten. Hinzu kam die antiautoritäre Bewegung: Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung war
die Devise. Begeistert lasen wir vom „Kinderladen rote Freiheit“ und die Schriften von A.S.-
Neill (Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung) standen in jedem Bücherregal.
Manches wurde damals übertrieben und ließ sich leicht im Witz verulken (Fragt ein Kind im
Kinderladen: „Müssen wir heute wieder machen, was wir wollen?“). Im Kern war es aber
eine längst fällige Abkehr von einer Erziehung, die einseitig auf Anpassung und Gehorsam
ausgerichtet war, hin zum ernst nehmen der Kinder und ihrer Interessen. Es war auch nicht
zufällig, dass diese Bewegung gerade aus den USA zu uns kam. Die fortschrittlichen Sozial-

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wissenschaften waren (genau wie die moderne Kunst) vor Hitlerdeutschland in die USA ge-
flüchtet und kehrten jetzt aus dem Exil zurück.

Ich habe in jener Zeit einiges an „Lehrgeld“ zahlen müssen. Einmal machte ich mit Konfir-
manden eine sogenannte Vertrauensübung. Ein Konfirmand sollte mit geschlossenen Augen
möglichst schnell auf die gegenüberliegende Wand zugehen. Dort stand ein anderer Konfir-
mand um ihn, bevor er die Wand berührte, sanft aufzufangen. Der Junge läuft los - sein Kum-
pel lässt ihn voll gegen die Wand knallen. Die beiden hatten, was ich nicht wusste, von früher
her noch ein Hühnchen miteinander zu rupfen. Ich weiß nicht mehr ob die blutige Nase noch
ein Nachspiel im Presbyterium hatte, denkbar wäre es schon: Pfarrer missbraucht Konfirman-
den als Versuchskaninchen! Unchristliches Experiment nimmt blutiges Ende!!
Nach Abschluss der FSP-Fortbildung wollte ich in diese Richtung weiterlernen und stieß da-
bei auf die „Themenzentrierte Interaktion“ (TZI). Das ist eine gruppenpädagogische Metho-
de, bei der die Interessen des Einzelnen, die Beziehungen in der Gruppe und das jeweilige
Thema (zB der Inhalt und das Lernziel einer Unterrichtsstunde) gleich wichtig genommen
werden. Begründet wurde diese Methodik von Ruth Cohn, einer Psychoanalytikerin. Sie hatte
in therapeutischen Gruppen beobachtet, dass die Beachtung aller drei Faktoren einen lebendi-
gen Gruppenprozess in Gang setzt und übertrug dies auf andere Gruppen. Im Laufe der Jahre
wurde die Methodik immer weiter verfeinert. Heute ist die TZI ein Standardverfahren, das
überall da angezeigt ist, wo in Gruppen gearbeitet wird (Schule, soziale Gruppenarbeit, thera-
peutische Gruppen, Organisationsentwicklung und vieles mehr).

Die TZI-Ausbildung ist als mehrjährige, berufsbegleitende Fortbildung - mehr als 700 Stun-
den - angelegt. Es gibt Pflicht- und Wahlkurse und man muss ein Jahr lang mit anderen Aus-
bildungskandidaten an einer lokalen sog. Peer-Gruppe teilnehmen. Es gibt internationale
Kontakte, eine Zeitschrift, Tagungen, Kongresse u.s.w. – genau wie bei anderen Gruppen-
oder Therapieverfahren. Damals steckte die Organisation noch in den Kinderschuhen. In
Nordrhein-Westfalen gab es aber schon ein „Nest“ von TZI-Leuten. 1976 haben wir dann un-
seren „W.I.L.L. im Rheinland e.V.“ gegründet (W.I.L.L. steht für „Werkstatt-Institut für Le-
bendiges Lernen“). Ich gehöre zu den Gründungsmitgliedern und habe lange die Organisati-
onskommission geleitet. Die Themenzentrierte Interaktion zieht sich von da an wie der be-
kannte rote Faden durch mein Leben.

3.7 Auf der Suche nach einer neuen Aufgabe


Als es im Presbyterium wieder einmal hoch herging, kam mein Vorgesetzter, der Superinten-
dent, um zu vermitteln. Hinterher nahm er mich beiseite und fragte, ob ich mir das denn noch
weiter antun wolle. Es gäbe ja auch noch andere Gemeinden. Den Hinweis auf einen mögli-
chen Stellenwechsel habe ich damals strickt zurückgewiesen. Mittendrin die Sachen hinzu-
werfen kam überhaupt nicht in Frage. Das hätte mir zu sehr nach Kneifen ausgesehen. Wenn
ich gehen würde, dann erst wenn im Bergmannsfeld alles einigermaßen fertig ist und ich mei-
nem Nachfolger eine vorzeigbare Gemeindearbeit übergeben kann. So habe ich es dann auch
gehalten.

Die Frage war, ob ich mich nach einer Stelle in einer anderen Kirchengemeinde oder nach ei-
ner ganz anderen Aufgabe umschauen sollte. Pfarrstellen gab es ja nicht nur in Gemeinden,
sondern auch im Krankenhaus, in der Schule, im Gefängnis und bei zahlreichen anderen sog.-

80
Sonderaufgaben. Auch hatte ich mich durch meine Fortbildungen auf Beratung und Gruppen-
arbeit spezialisiert und stand dem üblichen „all in one“- Pfarramt ohnehin skeptisch gegen-
über. Hinzu kam, dass meine Mutter immer älter wurde und die Fahrt nach Helmlingen stets
eine kleine Weltreise war. Sollten wir vielleicht doch weiter nach Süden gehen?

Übrigens hatte sich die Beziehung zu meiner Mutter seit wir ein eigenes Kind hatten, deutlich
verbessert. Diese Beobachtung habe ich auch in anderen Familien gemacht: Wenn die alten
Eltern sich in der Großelternrolle einrichten, tritt ihre Eltern-Rolle in den Hintergrund. Das
macht es für die erwachsenen Kinder leichter.

Leider ist meine Mutter 1975 nach kurzer Krankheit gestorben. 72 Jahre ist sie alt geworden.
Ich hatte sie noch kurz vorher im Krankenhaus besucht. Nichts deutete auf ein nahes Ende
hin. Nach ihrem Tod fand man unter dem Bett alle die Medikamente, die sie hätte nehmen
sollen. Sie hatte nicht mehr gewollt und eine solche Entscheidung gegen ein möglicherweise
langes Siechtum muss man respektieren. Auf dem Friedhof in ihrem Heimatdorf Helmlingen
haben wir sie beerdigt. Die Asche meines Vaters kam in das gleiche Grab.

Ich bin damals viel herumgereist und habe die unterschiedlichsten Bewerbungssituationen
kennen gelernt. Manchmal wussten sie schon, dass sie einen anderen nehmen würden, und
machten nur eine pro-forma-Ausschreibung. Da wurde bereits bei den Fahrtkosten zum Vor-
stellungsgespräch geknausert. Manchmal war die Wohnung zu mickrig (wir wollten noch ein
zweites Kind) oder sie musste erst noch gebaut werden. Einmal wurde ich gleich zu Beginn
des Gespräches gefragt, ob meine Ehe in Ordnung ist. Die Gemeinde hatte schon drei Pfarrer
durch Scheidung verloren. Scheidung war (und ist) für Pfarrer ein heikles Thema. Solange
sich niemand beschwerte, konnte man - vielleicht - seine Stelle behalten. Gab es Ärger oder
der Scheidungsgrund wohnte gar in der gleichen Gemeinde, hieß das meist: anderswo neu an-
fangen. Im Blick auf eine drohende Scheidung konnte ich mein Gegenüber beruhigen – sie
haben sich trotzdem für einen anderen Kandidaten entschieden (und sind hoffentlich nicht
zum vierten Mal enttäuscht worden).

Natürlich waren meine Chancen eine neue Stelle zu finden schon deswegen gering, weil mir
kein guter Ruf vorausging. Wenn ein Pfarrer sich um eine neue Stelle bewirbt, hört man sich
beim Presbyterium seiner bisherigen Gemeinde um. Heißt es dort „Mit dem hatten wir
Ärger“, stehen die Chancen von vorneherein schlecht.

Ein besonderes Erlebnis hatte ich nach einem Vorstellungsgespräch in Koblenz. Bei mir in
Essen erschienen zwei unauffällig gekleidete Herren und wollten wissen, warum ich in Kob-
lenz einige Fotos gemacht habe. Das hatte ich getan, um Erika, die zu Hause geblieben war,
ihre mögliche neue Heimat zeigen zu können. Die Herren waren vom Geheimdienst und auf
meine Frage, warum denn wegen ein paar ganz normalen Fotos so ein Aufwand getrieben
würde, reagierten sie erstaunt: „Aber wir machen doch den ganzen Tag nichts anderes!“

Meine Suche nach einer neuen Stelle zog sich in die Länge. Da ich im Presbyterium ange-
kündigt hatte, dass ich mich nach etwas anderem umschaue, musste nun bald etwas gesche-
hen. Gerade hatte ich mich in Hochdahl, einer Trabantenstadt von Düsseldorf, beworben, da
tauchte unvermutet eine ganz neue Lösung auf: In Koblenz suchten sie einen Schulpfarrer
und erinnerten sich an meine vergebliche Bewerbung um eine Gemeindestelle. Sollte ich
noch einmal zur Schule gehen? Warum eigentlich nicht. Unterricht ist schließlich auch eine
Form von Gruppenarbeit und bei den TZI-Leuten gab es, neben den Beratern und Therapeu-

81
ten, eine starke Abteilung von Lehrern. Beim Bewerbungsgespräch stelle sich dann heraus,
dass es nur um ein halbe Stelle in der Schule ging, die zweite Hälfte war eine Studentenpfarr-
stelle. Das versprach eine interessante Kombination zu werden und ich sagte zu.

Nach den Sommerferien 1976 konnte ich in Koblenz anfangen. Wir mussten Abschied neh-
men von den Menschen im Bergmannsfeld, von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, von
den Plattenbauten und der Notunterkunft, von unserer Kinderfrau, von der Familienbildungs-
stätte und allem anderen, was uns im Laufe der Jahre ans Herz gewachsen war. Viele Berg-
mannsfelder, mit denen ich zunächst nur beruflich zu tun hatte, waren im Laufe der Zeit zu
Freunden geworden. Kein leichter Abschied, aber es war an der Zeit. Zum Abschluss feierten
wir in unserem neu gebauten Bürgerhaus noch ein großen Fest, dann stand der Möbelwagen
vor der Tür.

3.8 Sieben Jahre Bergmannsfeld – eine Bilanz


In den knapp sieben Jahren, die ich im Bergmannsfeld verbrachte, hatte sich dort vieles ver-
ändert. Zwar brauchten die Bäume noch Zeit zum Wachsen, aber die Siedlung war fertigge-
stellt. Es kamen keine neuen Häuser mehr hinzu. Mittendrin gab es ein Ladenzentrum und
eine Gaststätte, es gab Schulen, einen großen Bauspielplatz und mehrere Kindergärten. Direkt
neben der Siedlung waren Tennisplätze und ein Schwimmzentrum entstanden und im Berg-
mannsbusch war das erste Bürgerhaus Nordrhein-Westfalens gebaut worden. Für das Bürger-
haus hatten wir einen Förderverein gegründet und ich war herumgefahren, um mir vergleich-
bare Einrichtungen, zB in Nürnberg-Langwasser, anzuschauen. Der Architekt erwies sich als
sehr kooperativ, viele Wünsche von uns künftigen Benutzern hat er berücksichtigt.

Der erste Bauabschnitt unseres Gemeindezentrums, ein Kindergarten mit Ganztagsgruppe


war bereits fertig. Er war aus einer Elterninitiative hervorgegangen und die Eltern wurden,
was damals noch ungewohnt war, kräftig in den Betrieb einbezogen. Die gesamten Außenan-
lagen hatten sie in Arbeitseinsätzen selbst gestaltet. Der zweite Bauabschnitt - Gemeindesaal,
Gruppenräume, Wohnungen - war fertig geplant, bald sollte mit dem Bau begonnen werden.
Drüben in Horst war inzwischen ein weiteres Neubaugebiet im Bau: Das Hörster Feld. Man
hatte aus den Erfahrungen des Bergmannsfeldes gelernt und setzte zwischen Wohnblocks
Einfamilienhäuser. Das versprach eine größere soziale Spannweite der künftigen Bewohner.
Ein eigenes Gemeindezentrum war geplant, eine neue Pfarrstelle bewilligt. Die Gemeinde
musste sich zum zweiten Mal auf einen Umstellungsprozess einlassen und man konnte nur
hoffen, dass dabei die Erfahrungen aus dem Bergmannsfeld berücksichtigt würden.

Das Gemeindeleben im Bergmannsfeld hatte sich aus bescheidenen Anfängen zu einem um-
fangreichen Angebot entwickelt. Neben dem Gemeindeaufbaukreis und den Kontaktleuten
gab es einen Miniclub für 3 bis 4-Jährige, eine Kinderbetreuung („Mutter hat frei“), es gab
den „Kinderparkplatz“ (für Kinder, die im Kindergarten nicht unterkamen), eine Jungschar,
zwei Flötengruppen, einen Jugendclub, die Schularbeitenhilfe, einen Ökumenischen Ge-
sprächskreis, das Brücken-Cafe, den Seniorenclub, das „Brot für die Welt-Essen“, dazu in un-
regelmäßigen Abständen: Kinderkleidertausch, Gesprächsgottesdienste, Stadtranderholung,
Agape-Feiern und Besinnungswochenenden. Jetzt fehlte nur noch, dass alle diese Aktivitäten
ein „Dach über dem Kopf“ bekamen. Unser provisorisches Zentrum, die Brücke, platzte aus
allen Nähten.

82
Für mich war die Zeit im Bergmannsfeld eine sehr gefüllte Zeit. In der Gemeinde gab es von
früh bis spät genug zu tun. So nebenbei habe ich auch noch zwei Vikare ausgebildet, am Pre-
digerseminar Gesprächsgruppen geleitet, mich um die Öffentlichkeitsarbeit des Kirchenkrei-
ses gekümmert und viel Zeit in Fortbildungen investiert. Wie viele andere Berufsanfänger
identifizierte ich mich voll mit meinem Beruf und fand daneben allenfalls noch Zeit für die
Familie. Ich gönnte mir keinen Ausgleich, trieb keinen Sport und hatte auch sonst keine Hob-
bys. So eine Lebensweise endet leicht im „burn out“. Einmal schickte mich der Arzt zur Kur,
aber das bringt auch nicht viel, wenn man hinterher genauso weiterlebt wie vorher.

Der Gegenwind, der mir aus Richtung Presbyterium ins Gesicht blies, zwang zur Profilie-
rung, oft auch zum Widerspruch. Vielleicht wäre der Gemeinde mit einem älteren, erfahrene-
ren und auf Ausgleich bedachten Pfarrer besser gedient gewesen. So aber hatten sie einen
jungen, der Auseinandersetzungen eher suchte als vermied. Schade war, dass damals für Ge-
meinden in Umbruchsituationen noch keine Beratungsmöglichkeiten zur Verfügung standen.
Heute ließe sich ein solcher Prozess mit Gemeindeberatung und Supervision hilfreich beglei-
ten. Ich bin später viele Jahre lang als Supervisor tätig gewesen und habe dabei manche Ge-
meindesituation kennen gelernt, die mich ans Bergmannsfeld erinnerte. Kirche ist eben doch
ein sehr menschliches Unternehmen und oft weit entfernt von dem, was am Sonntag in ideali-
sierender Weise gepredigt wird.

Man wird unsere Auseinandersetzungen sicher auch im Rahmen größerer Zusammenhänge


sehen müssen. In der Jahren nach 1968 geriet in Deutschland manches ins Wanken, was bis
dahin als unumstößlich gegolten hatte. Ein Generationswechsel stand an. In Berlin und ande-
ren Städten liefen die Studenten „Ho-Ho-HoChi-Minh“ skandierend durch die Straßen. Fens-
terscheiben wurden eingeworfen und Autos in Brand gesteckt. Es war ein pubertäres Aufbe-
gehren gegen das sogenannte Establishment. Unser „Establishment“ waren die alteingesesse-
nen Mitglieder des Presbyteriums und während man anderswo das Informationsmonopol der
Springerpresse bekämpfte, wehrten wir uns gegen die Bevormundung aus dem ersten Ge-
meindebezirk.

Heute erinnert im Bergmannsfeld nur noch wenig an die Anfangszeiten. Die damals neu ge-
pflanzten Bäume sind groß geworden und verdecken mit ihrem Grün die Plattenbauten. Viele
meiner damaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind weggezogen, einige sind bereits ge-
storben. Nach einer Phase des Niederganges, in der die Siedlung zum Slum zu werden drohte,
ist in den letzten Jahren wieder neu investiert worden. Neue Haustüren, anstelle der alten mit
ihrer abgeblätterten Farbe, neue Briefkästen, anstelle der alten aufgebogenen - das Berg-
mannsfeld sieht wieder etwas schmucker aus. Mein Sorgenkind, die Notunterkunft, ist sogar
teilweise abgerissen und durch Neubauten ersetzt worden.

Mitten im Bergmannsfeld steht das evangelische Gemeindezentrum, das ich seinerzeit mitge-
plant habe. Es ist nach wie vor von Leben erfüllt und bietet zahlreichen Gruppen und Kreisen
ein Zuhause. Unser damaliger Versuch, eine lebendige Gemeinde zu schaffen, die in ihrem
Umfeld wirksam wird, hat positive Auswirkungen bis heute.

Mein direkter Amtsnachfolger hat recht deutlich eine spirituelle Komponente ins Gemeinde-
leben eingebracht. Diese Seite hatte ich vernachlässigt. Ich war nun einmal kein „frommer“
Pfarrer, sondern eher ein Gemeindeorganisator. Sogar einen kleinen Kirchturm hat er an das
Zentrum anbauen lassen - eine Idee, auf die ich nie gekommen wäre.

83
An diesem Teil der Gemeindegeschichte war ich nicht mehr beteiligt. Ins Bergmannsfeld kam
ich immer seltener und wenn, dann nur zu privaten Besuchen. Mit meinen Nachfolgern gab
es keinerlei Kontakte. Erst im Jahr 2004 wurde ich wieder offiziell eingeladen. Man feierte
das 25-jährige Bestehen des Gemeindezentrums. Bei diesem Fest traf ich auch einige der „al-
ten Kämpfer“ und es ging uns wie Soldaten beim Veteranentreffen mit dem früheren Gegner.
Es ist alles lange her, man ist älter geworden, das stimmt einen milder!

2005 war dann eine Ausstellung meiner Cartoons im Gemeindezentrum – ein versöhnliches
Ende einer langen Geschichte, mit Verletzungen auf beiden Seiten, die nun endlich in Frieden
ruhen sollen.

84
Zehn bunte Jahre
an Rhein und Mosel
Biografische Notizen 1976 bis 1986

85
4.1 Koblenz - Stadt an Rhein und Mosel
In Koblenz, unserer neuen Heimat, war vieles anders, als wir es vom Ruhrgebiet her gewohnt
waren. Die Stadt war deutlich kleiner als Essen, hatte aber mit dem Schloss, mit den Alleen
und Straßencafes einen gewissen "französischen" Charme. Das kam nicht von ungefähr, mit
Franzosen hatten die Koblenzer schon oft zu tun gehabt. Wer in Koblenz geboren ist, darf
sich “Schängel” nennen. Das kommt von Jean und geht auf französische Flüchtlinge aus der
Zeit der Hugenottenkriege zurück. Unter Napoleon war Koblenz Hauptstadt eines französi-
schen Departements - auch davon ist einiges hängen geblieben. Und schließlich: Koblenz
wurde bei Kriegsende von den Franzosen besetzt und pflegt bis heute zahlreiche Partner-
schaften über die Grenze hinweg in Richtung Westen. Als Dominik in die Schule kam, lernte
er vom ersten Tag an Französisch und bald darauf fuhr er zum ersten Schüleraustausch in un-
sere Partnerstadt Nevers.

Auch das Wetter war in Koblenz anders, sonniger und gleichbleibender. Die für das Ruhrge-
biet so typische "graue Soße", die von Oktober bis April anhaltende Verwandlung der Sonne
in eine mehr oder weniger helle Scheibe hinter grauen Wolkenschleiern, die gab es hier nicht.

Viele Gebäude in Koblenz stammen noch aus dem Mittelalter. Während sich im Ruhrgebiet
jede gotische oder romanische Kirche bei genauerem Hinsehen als neugotisch oder neuroma-
nisch entpuppt, also aus dem 19. Jahrhundert stammt, ist in Koblenz (fast) alles "echt". Dafür
ist aber auch so mancher Hinterhof schmuddelig, manches Gebäude renovierungsbedürftig.
Diese Mischung von schön, alt und leicht verwahrlost trifft man überall an Rhein und Mosel,
meist ergänzt durch moderne Verwaltungs- oder Sparkassengebäude, die in die Landschaft
passen “wie die Faust aufs Auge”.

Koblenz ist eine Beamtenstadt, richtige Arbeiter gibt es dort kaum, Kumpel schon gar nicht.
Der alles bestimmende Faktor war zu jener Zeit, also vor dem Schrumpfen der Bundeswehr,
das Militär. In Koblenz befand sich die größte Garnison der Bundesrepublik. Außerdem be-
herbergte die Stadt noch ein gutes Dutzend weiterer wichtiger militärischer Einrichtungen,
angefangen vom Bundeswehr-Zentralkrankenhaus über die Schule für Innere Führung und
das für die Militärmedizin zuständige Rodenwald-Institut bis hin zum Militärhistorischen
Museum. Selbst die Hundestaffel der Bundeswehr war in Koblenz zu Hause. Hinzu kam noch
das Beschaffungsamt, in dem viele tausend Menschen damit beschäftigt sind, alles was der
Soldat in Kriegs- und Friedenszeiten braucht, vom automatischen Schnellfeuergewehr bis
zum Zahnstocher, auszuwählen und anzuschaffen.

Hoch über der Stadt, gegenüber dem Zusammenfluss von Rhein und Mosel, thront die Fes-
tung Ehrenbreitstein, Europas zweitgrößtes Festungsbauwerk (nach Gibraltar). Jahrhunderte-
lang hat man die Festung umgebaut und erweitert. Als sie endlich fertig wurde, war sie auch
schon überholt. Der Feind ließ sich nicht mehr durch Festungen aufhalten, die Flugzeuge flo-
gen einfach darüber hinweg. Ein lehrreiches Beispiel dafür, wohin Rüstung führen kann.
Auch sonst steht in Koblenz noch manches alte Militärbauwerk herum und oft auch der
Stadtplanung im Wege.

Obwohl wir nicht mehr in Kaiser Wilhelms Zeiten lebten, war das Militär immer noch so eine
Art "Staat im Staate", eine für Zivilisten nur sehr begrenzt zugängliche Eigenwelt. Das habe
ich in Koblenz oft erfahren, am unangenehmsten bei folgendem Erlebnis: Ich ging mit Chris-

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tine, einer Freundin, nachts oberhalb von Metternich spazieren. Dort gibt es einen Reiterhof.
Offenbar hatte sich ein benachbarter Bauer darüber geärgert, dass die Reiter durch seine
Streuobstwiesen galoppierten. Um ihnen das zu verleiden, hatte er zwischen die Stämme der
Bäume Stacheldraht gespannt. Damit hatte ich bei unserem Spaziergang natürlich nicht ge-
rechnet. Es war stockdunkel und ich rammte mir den Stacheldraht genau unters linke Auge.
Die Sache sah gar nicht gut aus. Christine lud mich in ihr Auto und fuhr mich zum nahegele-
genen Bundeswehrkrankenhaus. Die erste Frage dort war: "Sind sie Zivilist?" Das war ich
nicht und da allenfalls eine Gefahr für mein Auge, nicht aber für mein Leben bestand, muss-
ten wir zum Städtischen Krankenhaus weiterfahren.

Landschaftlich gesehen liegt Koblenz in einer reizvollen Umgebung. In welche Richtung


man auch wandert, es gibt immer wieder Neues zu entdecken: das Rheintal und das Moseltal
mit seinen Weindörfern, die Eifel mit dem Laacher See, Burg Eltz und den diversen Maaren.
Das Kannebäcker-Land und das Lahntal, der Taunus und der Hunsrück liegen ebenfalls vor
der Haustür. Überall gibt es Schlösser, Burgen, schnuckelige Dörfer und große Wälder. Wir
waren begeistert und wussten sofort: fünf Jahre wird es mindestens dauern, bis wir unsere
neue Umgebung wenigstens einigermaßen kennen.

Kirchlich gesehen gehört Koblenz noch zur Rheinischen Kirche. Eine Zeit lang war dort so-
gar der Sitz der Rheinischen Kirchenleitung, die sich heute in Düsseldorf befindet. Das war
gar nicht so verkehrt, denn die Rheinische Kirche erstreckt sich noch weit nach Süden und
Südwesten, bis ins Saarland. Koblenz liegt fast genau in der Mitte. Politisch gesehen befindet
man sich nicht mehr in Nordrhein-Westfalen sondern in Rheinland Pfalz und vieles ist hier
anders geregelt z.B. das Schulwesen und die Erwachsenenbildung. In diesen für meine Arbeit
wichtigen Bereichen musste ich umlernen und mich an neue Spielregeln gewöhnen.

4.2 Wohnen auf der Karthause


Eine Wohnung fanden wir oben auf der Karthause, im Zwickel zwischen Rhein und Mosel.
Aus der Innenstadt führt die Hunsrückhöhenstraße auf eine Hochfläche, auf der früher ein
Karthäuserkloster stand - daher der Name “Karthause” - und dann hinauf in Richtung Em-
melshausen und weiter bis zum fernen Hermeskeil. Hier oben auf der Karthause hatte man
nach dem Krieg Reihenhäuser für Beamte errichtet. In so einem Reihenhaus sollten wir nun
für die nächsten zehn Jahre wohnen. Es war ein kleines Haus mit dem üblichen, handtuchför-
migen Garten dahinter und dem Blick auf die nächste Reihenhauszeile. Nichts Besonderes,
aber gemessen an den Essener Plattenbauten und unseren vier Zimmern dort, erschien es uns
wie der reinste Luxus. Endlich Platz, Platz, Platz! Sogar eine eigene Garage besaßen wir
jetzt. Dominik konnte im Garten herumbuddeln und Straßen für seine Matchbox-Autos bau-
en. Wundervoll - warum waren wir nicht schon eher in so eine Gegend gezogen?

Noch etwas war anders als in Essen. Dort war immer etwas los, auch nachts. Polizei und Feu-
erwehr, lärmende Jugendliche und Betrunkene sorgten für Unruhe. Hier dagegen ließen die
Menschen bei Anbruch der Dunkelheit die Rollläden herunter, eine Weile sah man durch die
Ritzen noch bläuliches Fernsehgeflimmere, dann trat eine himmlische Ruhe ein. Nur das Tu-
ckern der Schiffe und die Geräusche der Züge hörte man nachts auf der Karthause überdeut-
lich, weil das Rheintal wie ein Schalltrichter wirkt.

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In dieser paradiesischen Gegend sollte ich nun als Pfarrer tätig sein, genau genommen als
zwei halbe Pfarrer, denn ich war Inhaber von zwei halben Stellen, die nichts miteinander zu
tun hatten. Mit einer halben Stelle war ich Schulpfarrer am “Gymnasium auf der Karthause”
mit der zweiten halben Stelle Studentenpfarrer für die Studierenden der beiden Koblenzer
Hochschulen, der Erziehungswissenschaftlichen Hochschule (heute Universität) und der
Fachhochschule.

4.3 Ein Pfarrer geht zur Schule


Als "Schulpfarrer" war ich eine Art Leiharbeiter. Weil es nicht genug Religionslehrer gab,
lieh sich der Staat von der Kirche Pfarrer aus und setzte sie als Religionslehrer ein. Die Kir-
che zahlte weiter das Pfarrersgehalt, das Lehrergehalt ging an das Landeskirchenamt. Mehr
oder weniger verband sich auf kirchlicher Seite mit dieser Konstruktion auch die Vorstellung
einer "Schulgemeinde", für welche der Schulpfarrer als Seelsorger zuständig ist und für deren
“geistliches Leben" - insbesondere die Schulgottesdienste - er sorgen soll. Für einen Teil der
Lehrerschaft war dies allerdings eine unerträgliche Vorstellung. Sie wollten beides getrennt
halten, hier die staatliche Schule, dort die Kirche mit ihren religiösen Angeboten. Insofern
wurden Schulpfarrer von ihren Lehrerkollegen immer kritisch beäugt, ob sie nicht zu stark
kirchliche Interessen in die Schule einbringen.

Ein Grundproblem steckt natürlich schon in der Frage, was der Religionsunterricht in der
Schule zu suchen hat. Entweder gehört er zum Bildungsauftrag der Schule, weil Religion
zum Leben gehört und die Schule “fit for live” machen will. Dann müsste er von schulischen
Kräften erteilt und wie jedes andere Fach behandelt werden. Oder er gehört zum Bildungs-
auftrag der Kirche, dann sollte sie ihn in eigenen Räumen mit eigenen Lehrkräften erteilen.
Beide Konzepte sind bei uns gemischt. Der Religionsunterricht ist einerseits normales Schul-
fach mit versetzungsrelevanten Noten, andrerseits ein Bekenntnisfach von dem man sich aus
Gewissensgründen abmelden kann. Für abgemeldete Schüler gab es in Rheinland Pfalz eine
gute Lösung. Anders als in anderen Bundesländern bekamen sie nicht frei, sondern mussten
zum Ethikunterricht. Den ungeliebten "Eckstunden" konnte man also nicht durch Abmelden
entgehen. Wer Pech hatte, fand sich sogar beim gleichen Lehrer und manchmal sogar beim
selben Thema wieder, denn manche Lehrer erteilten Religion und Ethik. In Religion behan-
delten sie die zehn Gebote, in Ethik "Rechtsordnungen der Menschheit - die zehn Gebote".

Meine Schule, das “Gymnasium auf der Karthause" war ein schlichter, funktionaler Neubau
mit viel Sichtbeton. Die hellgrauen Wandflächen luden zum Sprayen ein. “Ihr wollt unser
Bestes, aber ihr bekommt es nicht!" war lange Zeit an der Schulfassade zu lesen. Die Schule
war notwendig geworden, weil durch die rege Bautätigkeit auf der Karthause immer mehr
junge Familien dorthin zogen, für deren Sprösslinge die alten Traditionsgymnasien in der In-
nenstadt zu weit abgelegen waren.

Wenn so eine Schule neu aufmacht, braucht sie auch Schüler aus älteren Jahrgängen, also
mussten die anderen Gymnasien Schüler abgeben. Das waren natürlich nicht die fleißigen
und begabten, sondern eher die Problemfälle. Folglich hatten wir auf der Karthause eine bun-
te Mischung. Unser Gymnasium war zudem sehr groß, eins der größten in Rheinland-Pfalz.
1800 Schüler und über 100 Lehrkräfte wuselten in den verschiedenen Gebäudeteilen herum.
Da konnte man leicht den Überblick verlieren. Schulbetrieb erwies sich unter diesen Voraus-

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setzungen vor allem als organisatorische Aufgabe. Wenn morgens am Ende der ersten Stunde
endlich in jedem Klassenraum ein Lehrer eingetroffen war, rieb man sich in den Direktions-
räumen zufrieden die Hände: der Tag war gelaufen! Ich kann mich nicht erinnern, dass in den
Konferenzen jemals eine pädagogische Frage erörtert worden wäre. Es ging immer nur um
Organisatorisches, jedenfalls in den Gesamtkonferenzen. In den Fachkonferenzen sah es
schon anders aus. Für den einzelnen Lehrer hatte das einen großen Vorteil: War die Klassen-
zimmertüre zu, konnte man seinen Unterricht gestalten wie man wollte, ohne das sich jemand
dafür interessierte.

Bezeichnend für die Rolle der Pädagogik an unserer Schule ist auch die folgende Episode: In
Rheinland-Pfalz wird die gymnasiale Oberstufe hochtrabend "Mainzer Studienstufe" genannt.
In den letzten drei Jahren des Gymnasiums soll schon ein universitärer Studienbetrieb statt-
finden. Die Schüler können Kurse auswählen und die Größe der Lerngruppen ist begrenzt.
Bei mir hatten sich ein paar Schüler zu viel angemeldet. Ich ging zum Oberstufendirektor und
wollte dass der Kurs, wie vorgeschrieben, geteilt wird. Das lehnte er mit folgender Begrün-
dung ab: “Sie haben es doch selbst in der Hand, ihren Unterricht so zu gestalten, dass nicht so
viele Schüler daran teilnehmen wollen."

In der ganzen Schule gab es keinen einzigen Raum, in den alle Schüler und Schüler hinein-
gepasst hätten. Vollversammlungen fanden auf dem Hof statt und wer etwas sagen wollte,
musste ein Megaphon benutzen. Auch in das Lehrerzimmer passten längst nicht alle Lehr-
kräfte. Erst ein geplanter zweiter Bauabschnitt versprach Besserung.

Ein großer Vorteil des Faches Religion liegt in der Freiheit der Themenwahl. Zwar gibt es ei-
nen Lehrplan, aber man kann je nach Interesse der Klasse (und des Lehrers) bei einem Thema
kürzer, bei einem anderen länger verweilen und wenn spontan ein neues Thema auftaucht,
bleibt genug Raum, um darauf einzugehen. Andere Fächer geben einen viel strengeren Ablauf
vor. Wenn z.B. eine Klasse in Englisch der Parallelklasse hinterherhinkt, rebellieren schnell
die Eltern aus Sorge, ihr Kind gerate ins Hintertreffen. In "Reli" konnten wir uns Zeit lassen!
Das führte leicht zu der Meinung, es werde in diesem Fach nicht ernsthaft gearbeitet und wer
sich gerade mal ein wenig beteiligt, erhalte automatisch die berühmte "Zwei in Religion". Bei
mir war das nicht so. Gegen Ende meiner Tätigkeit habe ich mich sogar damit unbeliebt ge-
macht, dass ich zwei Schüler durchs Abitur fallen lies. Natürlich sind sie nicht in Religion
durchgefallen, sondern weil ihr Notendurchschnitt insgesamt nicht reichte. Sie hatten sich al-
lerdings verrechnet, als sie hofften, in Religion eine gute Note zu bekommen, ohne etwas da-
für zu tun müssen. Ihre Eltern sind dann - glaube ich - noch bis vor das Verwaltungsgericht
gegangen, um die Sache anzufechten. Für unsere Schule war so ein Vorgehen nicht unge-
wöhnlich. Viele Väter waren Verwaltungsjuristen und prozessierten wegen der geringsten
Kleinigkeit. Wurfgeschwindigkeit und Flugrichtung eines Schneeballs, der in der Pause einen
anderen Schüler getroffen hatte, beschäftigten mehrere Lehrerkonferenzen und Gerichtsin-
stanzen. Wollte man im Unterricht etwas Neues probieren, sagte der Direktor nur: “Machen
sie was sie wollen, aber passen Sie auf, dass kein Verfahren daraus wird.”

Ich nahm meinen Unterricht ernst. In meinen zehn Koblenzer Jahren bin ich kein einziges
Mal unvorbereitet zum Unterricht gekommen. An die 4000 handschriftliche Unterrichtsent-
würfe hatte ich am Ende meiner zehn Schuljahre beisammen. Aus meiner TZI Ausbildung
wusste ich, dass jeder Mensch seinen eigenen Zugang zu einem Thema braucht. Deshalb ver-
suchte ich immer, verschiedene Wege zu eröffnen. Wenn also beispielsweise die Reformation
behandelt wurde, konnten die einen nachforschen, ob Luther seine 95 Thesen wirklich an die

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Schlosstür zu Wittenberg angeschlagen hat oder ob es sich dabei um eine Legende handelt.
Andere konnten die Thesen auf ein Plakat schreiben, andere konnten Rollenspiele entwi-
ckeln, in denen die Wittenberger ihre Meinung über die Thesen äußerten. Wieder andere
konnten neue Thesen entwickeln, die sie heute an Plakatwände hängen möchten. Diese Viel-
falt und das Einbeziehen kreativer Elemente waren eine Art Markenzeichen meines Unter-
richt und kamen gut an. Ich versuchte auch immer spielerische Elemente in den Unterricht
einzubeziehen. In den letzten zehn Minuten meiner Stunden wurde oft nur noch gespielt.
Dazu hatte ich eine Sammlung geeigneter Gruppenspiele zusammengetragen und später auch
in einer Broschüre veröffentlicht.

Probleme bereitete mir der Umgang mit pubertierenden Schülern. Ich kam aus der Erwachse-
nenbildung und war gewohnt, selbstverantwortliche Personen vor mir zu haben. Aber hier
hatte ich Menschen vor mir, die ihre Persönlichkeit noch suchten und Lehrer als Vater-Ersatz
(miss)brauchten, um sich an ihnen abzuarbeiten. Auch neigte ich eher zu einem antiautoritä-
ren Stil und musste erst lernen, Grenzen zu setzen. Zudem kam in meinen Stunden mancher
Frust zu Tage, der sich in vorangegangenen Stunden aufgestaut hatte. In einer Schule hängt
nun einmal (wie in jedem System) alles mit allem zusammen. Nach einer Stunde bei einem
Lehrer, der viel Druck macht, muss der nachfolgende Kollege aufpassen, dass ihm nicht alles
aus dem Ruder läuft. Anfangs habe ich den Schülern übel genommen, dass sie nicht honorier-
ten, wieviel Mühe ich mir mit ihnen gab. Sie reagierten mit dem Hinweis, es sei doch mein
Problem, wenn ich nicht härter durchgreife. Da liegt die Wahrheit wohl irgendwo in der Mit-
te.

Natürlich hatten auch andere Kollegen Mühe mit dieser Altersgruppe. Einer weigerte sich so-
gar in den Klassen 8 bis 10 zu unterrichten, Begründung: “Ich arbeite nicht gegen Hormone!"
Weil er ein älterer Herr war, nahm man auf ihn Rücksicht. Von den genannten Schwierigkei-
ten abgesehen, ging ich gern zur Schule und war mit viel Einsatz bei der Sache. Ich hatte mir
diese Tätigkeit selbst gewählt und wollte ein guter Lehrer sein.

Beinahe hätte mein Lehrerdasein ein vorzeitiges Ende gefunden, weil mir ein schwerwiegen-
der Fehler unterlief. Es war die Zeit der RAF, Arbeitgeberpräsident Schleyer war ermordet
worden und meine Schüler diskutierten heftig, ob man für Terroristen aus der Baader-Mein-
hof-Gruppe die Todesstrafe einführen solle. Fein, dachte ich, dann können die Schüler doch
gleich mal eine Umfrage starten, wer jetzt die Todesstrafe wieder einführen will und wie die
Leute das begründen. Das bekamen einige Eltern in den falschen Hals und plötzlich stand ich
als Unterstützer von Terroristen da. Nichts lag mir ferner, als die Aktionen von Andreas Baa-
der oder Gudrun Ennslin gut zu heißen, aber die Eltern ließen nicht locker. Da hatten sie doch
tatsächlich einen richtigen "Sympathisanten" aufgestöbert, ausgerechnet an ihrer Schule und
noch dazu ein Pfarrer - schlimm!

Dass die Sache damals keine weiteren Kreise zog, verdanke ich unserem Direktor. Der nahm
mich beiseite und sagte nur: "Ihre pädagogische Absicht leuchtet mir ein, aber passen Sie
besser auf, wenn sie wieder so eine Idee in die Tat umsetzen wollen!" Damit war die Sache
für ihn erledigt. Die Eltern moserten noch eine Weile herum, gaben dann aber auch Ruhe. An
dieser Stelle merkte ich, wie unsicher (ganz abgesehen von der strafrechtlichen Seite) meine
Position an der Schule war. Der Gestellungsvertrag zwischen Kirche und Schule konnte ohne
Angabe von Gründen zum Ende jedes Schuljahres aufgelöst werden. Mich schützte kein Be-
amtenrecht und kein Arbeitsgericht hätte mir geholfen. Da hatte ich nochmal Glück gehabt.

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4.4 Das Huhn auf der Rolltreppe - Erfahrungen als Studentenpfarrer
Studentengemeinden haben in Deutschland noch keine lange Tradition. Das liegt am organi-
satorischen Aufbau der Großkirchen, dem Ortsgemeindeprinzip. Jeder Christ gehört automa-
tisch zu der Gemeinde, in der er seinen Wohnsitz hat. Dort ist er eingebunden, dort findet er
einen Pfarrer als Ansprechpartner. Studierende sind in diesem System nicht vorgesehen. Zu
ihren Herkunftsgemeinden haben sie kaum noch Kontakt, schließlich verbringen sie die meis-
te Zeit am Studienort, zu den Ortsgemeinden am Studienort haben sie aber auch nur selten
einen Bezug, weil das studentische Milieu nach außen abgeschlossen ist. Solange nur wenige
junge Leute studierten, konnte dieses Problem vernachlässigt werden. Außerdem gab es
christliche Studentenverbindungen wie die DCSV. Als aber dann die modernen Massenuni-
versitäten entstanden, musste man die Studenten anders in die Kirche einbinden. Man
schickte Studentenpfarrer an die wichtigsten Hochschulen. Dietrich Bonhoeffer war einer der
ersten, im Berlin der 30er Jahre. Nach dem Krieg versuchte man, möglichst alle Hochschul-
orte zu versorgen. An kleinen Standorten bekam ein örtlicher Gemeindepfarrer den Zusatz-
auftrag, sich um die Studentengemeinde zu kümmern. An großen Universitäts- und Hoch-
schulorten, wie Bonn, Köln oder Aachen gab es bald mehrere Studentenpfarrer und eigene
Gemeindezentren für die Studierenden, oft verbunden mit einem kirchlichen Wohnheim.

Auch in Koblenz mit seinen vielleicht 3000 Studierenden hatte sich zunächst ein Gemeinde-
pfarrer um die Studenten gekümmert, aber seit meinem Vorgänger - Johannes Metzdorf - gab
es dafür eine halbe Studentenpfarrstelle. Sie war von Anfang an mit einer halben Schulpfarr-
stelle gekoppelt, keine schlechte Lösung, denn manche Angebote der ESG wurden auch von
Abiturienten genutzt.

Koblenz beherbergte zwei Hochschulen, einmal die Fachhochschule, zum anderen die Erzie-
hungswissenschaftliche Hochschule (EWH). Die Fachhochschule lag auf der Karthause ne-
ben dem sog. Löwentor, einer alten Koblenzer Festungsanlage. Diese Hochschule war aus ei-
ner höheren Fachschule für Maschinenbau hervorgegangen. Im Laufe der Zeit hatte man im-
mer neue Fachrichtungen angegliedert, von der Elektrotechnik bis zur Sozialarbeit, Betriebs-
wirtschaft und Architektur - ein bunter Strauß an Studienmöglichkeiten mit immer nur ein
paar Dutzend Studenten pro Fach und Jahrgang. Studiert wurde in Pavillons, wie sie auch auf
vielen Schulhöfen stehen. Ein Neubau war schon damals dringend nötig (ist aber erst vor ei-
nigen Jahren errichtet worden). Hinter diesen Pavillons steht das Evangelische Studenten-
wohnheim, das zum Mittelpunkt meiner Arbeit wurde.

Die EWH lag unten am Rhein. Sie war Teil der "Erziehungswissenschaftlichen Hochschule
Rheinland-Pfalz“, deren zweite, größere Hälfte sich ein paar hundert Kilometer entfernt in
Landau befand. Die Verwaltung beider Teile lag ziemlich genau in der Mitte, nämlich in
Mainz. An der EWH wurden Lehrer ausgebildet, in Koblenz mit dem Schwerpunkt Sonder-
pädagogik. Dass die beiden Koblenzer Hochschulen weit auseinander lagen, war für die Stu-
dentengemeinde ungünstig. Wo sollte die Gemeindearbeit stattfinden, oben auf der Karthause
oder unten am Rhein? Die katholische Hochschulgemeinde (KHG) hatte sich an beiden Orten
eingerichtet, saß neben der EWH in einer herrschaftlichen Villa und betrieb außerdem neben
der Fachhochschule den Inso-Club (INSO für "Ingenieurwissenschaften und Sozialwissen-
schaften”).

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Unsere evangelische Studentengemeinde (ESG) war schlechter dran. Sie verfügte lediglich
über einen ungemütlichen Kellerraum im evangelischen Studentenwohnheim. Man saß dort
wie in einer finsteren Höhle, von der Decke hingen Heizungsrohre herab und muffig roch es
auch. Mein Vorgänger war damit zufrieden gewesen, während ich mich sehr darum bemühte,
einladendere Räume zu finden. Es dauerte ein paar Jahre bis wir eine gute Lösung gefunden
hatten. Als sich die Ortsgemeinde auf der Karthause ein neues Zentrum baute, konnten wir
dort über den Gemeinderäumen eine Wohnung anmieten. Die war hell und freundlich und wir
durften die darunter liegenden Gemeinderäume mitbenutzen. Leider lag die Wohnung für die
Studierenden ziemlich weit abseits. Der große Durchbruch kam erst einige Jahre später. Im
Studentenwohnheim unmittelbar neben der Fachhochschule wurde eine große Wohnung frei.
Endlich hatte ich genug Platz für die Gruppenarbeit und für meine Sprechstunden. Die ESG
ist bis heute in diesen Räumen zu Hause. Unser neues Domizil nannten wir “Die Arche”, das
Semesterprogramm hieß fortan “Archeopteryx”.

In der Studentengemeinde läuft manches anders als in einer Ortsgemeinde. Weil viele Stu-
denten am Wochenende wegfahren, gibt es keinen Sonntagsgottesdienst. Taufen, Trauungen
und Beerdigungen sind höchst selten. Der Schwerpunkt der Gemeindearbeit liegt ganz auf
Beratung, Bildung und Geselligkeit. Für die Koblenzer Studenten bot ich neben meinen
Sprechstunden offene Abende, Seminare und Workshops an, gelegentlich auch Studienfahr-
ten. Bei meinem TZI-Hintergrund lag es nahe, einen Schwerpunkt auf Gruppenpädagogik
und Selbsterfahrung zu legen. Noch immer bin ich stolz darauf, schon damals - als dies noch
ganz unüblich war - eine Männergruppe angeboten zu haben. Zu den Veranstaltungen kam
noch eine Menge Verwaltungsarbeit. Ich konnte nicht auf ein Gemeindeamt zurückgreifen,
sondern musste jede Buchung selbst erledigen, Inventarlisten führen und vieles mehr. Außer-
dem war ich für Studenten, die ein kirchliches Stipendium bekamen, zuständig, musste Gut-
achten schreiben und darauf achten, dass sie mit dem Studium voran kamen. Im Beirat des
Studentenwohnheims saß ich auch.

Bei meinen Angeboten ließ sich nie voraussagen, ob viele Teilnehmer kommen oder ob ich
am Abend ganz alleine dasitzen würde. Das lag weniger an den angebotenen Themen als an
der Lebenssituation der Studierenden. An einer Fachhochschule ist das Studium sehr ver-
schult. Die Studenten müssen pünktlich ihre Scheine machen, Projekte bearbeiten und Prü-
fungen absolvieren. Mit einem relativ freien Studentenleben, wie ich es aus der eigenen Stu-
dienzeit kannte, hatte das wenig zu tun. Sie steckten den ganzen Tag über in Vorlesungen und
Seminaren, mussten danach noch Literatur durcharbeiten oder Konstruktionszeichnungen an-
fertigen. Irgendwann am Abend reicht es dann und sie suchten sich ein paar Kumpel, um zu
schauen, wo noch "etwas los” ist. Da hatten Bildungsveranstaltungen wenig Chancen, auch
wenn es natürlich immer ein paar wirklich Interessierte gab. Solche Veranstaltungen aufs Wo-
chenende zu legen, war auch keine Lösung. Viele Koblenzer Studenten kamen aus dem
Hunsrück oder aus der Eifel. Sie fuhren am Wochenende nach Hause, um sich bei Muttern
richtig satt zu essen, die Freundin zu treffen oder die Wäsche abzugeben.

Deutlich besser lief es mit den offenen Abenden, an denen in unseren Räumen eine Art Club-
betrieb stattfand. Man konnte einfach mal reinschauen, eine Weile bleiben und dann weiter-
ziehen. Ich hatte viele Schallplatten und Brettspiele angeschafft. So gab es immer die Mög-
lichkeit, eine Partie Awari oder Reversi zu spielen oder einfach nur herum zu hängen und
Musik zu hören. Mit dem Pfarrer kam man bei dieser Gelegenheit ganz zwanglos ins Ge-
spräch.

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Großveranstaltungen, Podiumsdiskussionen, Filmabende und Auslandsfahrten überließ ich
ganz der katholischen Hochschulgemeinde. Im Vergleich zur ESG waren die Katholiken viel
besser ausgestattet, sowohl was die Räumlichkeiten als auch was das Personal anlangt. Als
Gegenstück zum halben evangelischen Studentenpfarrer hatten sie einen ganzen Priester,
dazu als “zweiten Mann” noch einen Diplomtheologen, außerdem noch drei Zivildienstleis-
tende und zwei Frauen im Büro. Geld war bei den katholischen Brüdern immer genug da. So
ausgestattet fiel es ihnen leicht, an jedem Abend zwei interessante Veranstaltungen anzubie-
ten. Es war völlig unmöglich, dem ein gleichwertiges evangelisches Angebot entgegenzuset-
zen, statt dessen habe ich mir lieber einige Nischen gesucht, die sie noch nicht besetzt hatten
und im übrigen möglichst viel mit ihnen zusammengearbeitet. Da ich mich mit meinem ka-
tholischen Kollegen - Günter Reinert - gut verstand, war das kein Problem. Sogar ein ge-
meinsames Programmheft hatten wir, einen Eine-Welt-Laden betrieben wir ebenfalls gemein-
sam und die Semestergottesdienste waren ohnehin ökumenisch. Mit diesen Semestergottes-
diensten - einer am Semesteranfang, einer am Ende - gaben wir uns immer besondere Mühe.
Stets war eine spektakuläre Aktion eingebaut. Einmal haben wir auf dem Altar Zettel mit un-
seren aufgeschriebenen “Sünden” verbrannt. Vielleicht waren besonders schlimme Sünden
dabei, jedenfalls entwickelten die brennenden Zettel eine solche Hitze, dass beinahe die gan-
ze Altardekoration in Flammen aufgegangen wäre. Ein andermal pflanzten wir neben der
Christuskirche einen Baum, um gegen die Abholzung der Tropenwälder zu protestieren. Am
nächsten Tag ließ ihn die Stadt wieder ausbuddeln.

Später hat mich oft verblüfft, wie wenig Ökumene in Ortsgemeinden praktiziert wird. Im Be-
reich der Hochschulen war ökumenische Zusammenarbeit etwas Selbstverständliches. Ich
habe in Koblenz zB viel öfters an katholischen Eucharistiefeiern teilgenommen als am evan-
gelischen Abendmahl.

Für die unterschiedliche Ausstattung der katholischen und der evangelischen Gemeinde gab
es einen einfachen Grund. Bei uns geht die Kirchensteuer an die Ortsgemeinden. Gesamt-
kirchliche Aufgaben, wie die Studentenarbeit, werden über eine Umlage finanziert. Das Geld
für die Studenten muss den Gemeinden also abgerungen werden. Ihnen ist aber die eigene
Orgel oder der eigene Kindergarten wichtiger, als die Studierenden an irgendwelchen fernen
Hochschulen, die man nur als randalierende Demonstranten aus dem Fernsehen kennt. Bei
den Katholiken sieht die Sache anders aus. Die Kirchensteuer geht an das Bistum. Ein kluger
Bischof sagt sich: Wer studiert, sitzt später fast immer in einer wichtigen Position. Wenn er
während des Studiums einen positiven Eindruck von der katholischen Kirche bekommen hat,
kann uns das langfristig nur nützen. So sah es jedenfalls der für Koblenz zuständige Bischof
in Trier und folglich war für die Studenten immer Geld da. Studentenpfarrer sind in beiden
Kirchen sehr unterschiedlich angesehen. Für Katholiken vertritt der Studentenpfarrer die Po-
sition der Kirche gegenüber den künftigen Akademikern. Da schickt man die besten Leute
hin. Oft ist das Studentenpfarramt die erste Stufe auf dem Weg zum Weihbischof. In unserer
evangelischen Kirche gelten Studentenpfarrer eher als Außenseiter und linke Vögel.

Es gibt noch einen wichtigen Unterschied zwischen Studenten- und Ortsgemeinde. An der
Hochschule ist es viel schwerer, Mitarbeiter zu gewinnen. Kaum sind sie in die Gemeindear-
beit hineingewachsen, müssen sie sich aufs Examen oder eine Zwischenprüfung vorbereiten.
Diese Problematik ist sehr treffend in einem geflügelten Wort festgehalten: Der Studenten-
pfarrer gleicht einen Huhn, das versucht, auf einer Rolltreppe ein Ei zu legen.

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4.5 Kirche und Studenten - ein angespanntes Verhältnis
Bei den regelmäßigen Treffen der Studentenpfarrer mit dem zuständigen Dezernenten des
Landeskirchenamtes wurde mir schnell klar, wie groß die Kluft zwischen etablierter Kirche
und dem studentischen Milieu war. Der Mann mühte sich redlich, kam sogar jugendlich-dy-
namisch mit dem Motorrad angebraust, wurde aber wie der Vertreter einer feindlichen Macht
behandelt.

Die Studentengemeinden und ihre Pfarrer lagen damals voll im Trend der studentischen Pro-
testbewegung. Ich erinnere mich an keine einzige Konferenz, in der wir nicht Unterschriften
gegen irgendetwas, das uns nicht passte, gesammelt haben. Als ESG-ler stand man von vorn-
herein auf der richtigen Seite im Kampf gegen Ausbeutung und Ungerechtigkeit. Wenn schon
Theologie, dann Befreiungstheologie! Nach dem Erfolg der Revolution in Nicaragua, so die
allgemeine Meinung, würden nun bald die Militärdiktaturen in Lateinamerika und überall auf
der Welt zusammenbrechen. Auch in Deutschland würde "das Volk" seine Sache selbst in die
Hand nehmen. Den Vogel schoss mein Kollege Zielke (damals in Essen, später in Aachen)
ab. Als Franz Josef Strauß der Militärjunta in Argentinien einen Besuch abstattete, ging Ziel-
ke zur Polizei und zeigte Strauß “wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung" an.
Viele Kollegen haben ihn für seinen Mut bewundert.

Aus heutiger Sicht mögen solche Aktionen und die dahinter stehende Selbstüberschätzung
seltsam wirken, sie hatten aber einen verständlichen Hintergrund. Einmal war damals wirk-
lich eine Zeit des Aufbruchs und kühner politischer Hoffnungen. Nicaragua war zu einem
Symbol geworden! Zudem waren meine Kollegen an den großen Hochschulstandorten viel
stärker in politische Zusammenhänge einbezogen als die meisten Ortsgemeinden. In Köln,
Bonn oder Aachen lebten etliche tausend Studenten aus Krisengebieten: Palästinenser, Iraner,
Kurden, Chilenen, Philippinos usw. Sie wollten nicht nur in Deutschland etwas lernen, son-
dern auch in ihrer Heimat etwas verändern. Wenn ein Studentenpfarrer mit Ausländern zu tun
hatte, bekam er es folglich immer mit aktuellen und brisanten weltpolitischen Fragen zu tun.
Er konnte auch schnell in die Grauzone zwischen legaler Gewaltanwendung (Stichwort: Be-
freiungskampf) und Terrorismus geraten.

Immer wieder haben wir im Kollegenkreis darüber gestritten, ob man zur Durchsetzung poli-
tischer Ziele Gewalt gebrauchen darf. Grundsätzlich natürlich nicht, da waren wir uns einig,
aber wenn auf andere Weise nichts zu ändern ist? Wenn die Regierenden das Volk ausbeuten
(wie auf den Philippinen), wenn eine Militärjunta Andersdenkende in Konzentrationslager
sperrt (wie in Chile) oder wenn eine Minderheit der Mehrheit die Menschenrechte vorenthält
(wie in Südafrika) ist es dann nicht erlaubt, vielleicht sogar geboten, einen Umsturz zu orga-
nisieren? Unser von den Nazis ermordeter Kollege Dietrich Bonhoeffer hat es jedenfalls so
gesehen.

Mit meinem Interesse an Beratung und Gruppenpädagogik war ich unter meinen stets auf po-
litischen Kampf ausgerichteten Kollegen eine Ausnahme. Da fragte doch einer tatsächlich,
warum sie sich so aufopfernd für andere einsetzen, ob dahinter vielleicht ein "Helfersyn-
drom" steckt. Und wie es mit der Gruppendynamik unter den Kollegen bestellt sei, warum da
immer die gleichen Personen große Worte schwingen. Was sollte das denn nun wieder? Woll-
te der Mann die Weltrevolution aufhalten? Für solche bürgerliche Selbstbespiegelung hatte
man nun wirklich keine Zeit. Ich bin von meinen Kollegen durchweg freundlich, aber manch-

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mal auch etwas mitleidig behandelt worden. Ein Außenseiter blieb ich immer. Es war die
Umkehrung der Situation in meiner Essener Gemeinde: dort war ich zu politisch, hier nicht
politisch genug.

Erst als meine Koblenzer Zeit zu Ende ging, setzte in den Studentengemeinden ein Wandel
ein. Statt nach außen zu blicken, begann man nun, stärker nach innen zu schauen. Auf einmal
tauchten Selbsterfahrung, Spiritualität ja sogar Esoterik in den ESG-Programmen auf. Viel-
leicht war ich ja der Zeit um eine Nasenlänge voraus gewesen.

Bei meiner Suche nach Arbeitsfeldern, die noch nicht von der KHG abgedeckt waren, stieß
ich auf die Kunst. Zusammen mit dem Maler und Lehrerkollegen Hanns Lansch entwickelte
ich die “Karthäuser Kunsttage”. Einmal pro Semester sorgten wir mehrere Tage lang für Aus-
stellungen, Konzerte, Tanztheater und Performances. Dafür nutzten wir das neue evangeli-
sche Gemeindezentrum auf der Karthause. Für Koblenzer Verhältnisse, wo im Stadttheater
die Moderne bei "Maske in Blau” aufhörte, waren unsere Kunsttage ein avantgardistisches
Ereignis. Indische Saiteninstrumente und japanische Flöten, das “Tanztheater Regenbogen”
und ausgefallene Skulpturen in einem ganz normalen Gemeindezentrum - das hatte es zuvor
noch nicht gegeben.

Leider nahmen unsere Kunsttage ein plötzliches Ende. Zum Thema "Stühle" hatte ein Künst-
ler einen Stuhl aufgebaut, auf dem ein kleiner Scheißhaufen lag, natürlich kein echter, son-
dern ein Plastikgebilde aus dem Geschäft für Scherzartikel. Das wäre vielleicht gerade noch
als zeitgenössische Kunst durchgegangen, aber dass er sein Objekt auch noch "heiliger Stuhl"
nannte, war denn doch zu viel. In der Presse gingen die Wogen hoch und wir wurden mit un-
seren Kunsttagen aus dem Gemeindezentrum verbannt. Ärgerlich war, dass keine Auseinan-
dersetzung um die Grenzen von Kunst stattfand. Die Gemeinde zog sich einfach darauf zu-
rück, so ein Objekt sei aus Rücksicht auf Katholiken nicht tragbar. Da unsere Projekte der
Gemeinde schon vorher ein Dorn im Auge waren - es hatte bereits Streit wegen einer Akt-
zeichnung gegeben - waren sie wohl einfach froh, uns endlich loszuwerden. Ich fand es scha-
de, fühlte mich auch ein wenig schuldig, denn ich hätte das Unheil kommen sehen müssen,
hatte aber die Auswahl der Objekte meinem Kollegen überlassen. So endeten die Karthäuser
Kunsttage abrupt mit einem Eklat. Aber es hatte Spaß gemacht und ich hatte auch einiges
über Kulturmanagement gelernt.

4.6 Innere Führung und andere Nebentätigkeiten


Zur Arbeit an der Schule und mit den Studenten kam für mich noch eine Reihe zusätzlicher
Aufgaben. Dazu gehörte der Religionsunterricht an einer Berufsaufbauschule. Dort versuch-
ten junge Leute nach der Berufsausbildung auf dem sog. zweiten Bildungsweg noch die
Hochschulreife zu erlangen. Dafür mussten sie sich mächtig ins Zeug legen und viele gaben
nach kurzer Zeit wieder auf. Anstatt sie nach Kräften zu unterstützen, war die Schulleitung
der Ansicht, dass hier ohnehin jeder Zweite fehl am Platze ist. Die Stimmung an der Schule
war entsprechend. Der Religionsunterricht brachte für die Schüler eine angenehme Pause in
den Leistungsstress. Wir diskutierten über Abtreibung und Sterbehilfe, über Dritte-Welt und
Kernenergie und alles, was sonst noch im öffentlichen Gespräch war.

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Regelmäßig war ich bei der Bundeswehr zu Gast. Die Schule für Innere Führung wollte mit
einem Vertreter der kirchlichen Friedensbewegung über Rüstungsfragen diskutieren. Auch
wenn dabei nicht viel herausgekommen ist, bin ich immer gerne hingegangen. Die jungen Of-
fiziere dort waren keine platten Militaristen, sie kannten sich aus, hatten studiert und entspre-
chend war das Niveau unserer Streitgespräche. Manchmal redeten wir allerdings auch völlig
aneinander vorbei. Wenn draußen vor dem Fenster wieder einmal Panzer vorbeirasselten,
sagte ich gern: "Da sehen Sie: Wenn erst einmal Panzer rollen, kann man sich nicht mehr ver-
stehen!" Das war natürlich symbolisch gemeint, aber meine nüchtern denkenden Gesprächs-
partner erklärten mir, warum Panzer so laut sind, dass man dickere Fensterscheiben einbauen
könne und so weiter. -

In der Schule für Innere Führung machte ich noch eine andere fast schon amüsante Erfah-
rung. Es gab dort eine große Toilettenanlage und ich stand oft mit pinkelnden Offizieren in
einer Reihe. Das war immer eine seltsam-peinliche Situation: Soll man seine Nachbarn grü-
ßen, darf mit ihnen ein Gespräch anfangen oder muss man besser so tun, als wären sie gar
nicht vorhanden? Für diese Situation hatte ich eine simple Lösung. Die Urinale waren sehr
tief angebracht und ich sagte halblaut vor mich hin: "Früher waren die Menschen kleiner als
heute." Dieses Thema wurde sofort aufgegriffen: Jawoll, ein riesiges Problem sei das. Die
Jungs würden immer größer, passten nicht in die Panzer, auch in den U-Booten würde es
eng... Die Sache funktionierte immer. So habe ich durch meine Tätigkeit an der Inneren Füh-
rung zwar nicht die ganze Bundeswehr in Richtung Friedensbewegung umgepolt, aber doch
einigen Führungskräften eine gewisse Erleichterung verschafft.

4.7 Wenn der Russe hinterm Busche lauert


Vom Kirchenkreis bekam ich den Auftrag, Kriegsdienstverweigerer (KDV) zu beraten. Da-
mals musste fast jeder, der bei der Musterung für tauglich befunden wurde, zum Bund. Nun
gibt es zwar in unserer Verfassung den Grundsatz, dass niemand gegen sein Gewissen zum
Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden darf, aber wie stellt man fest, ob das Gewis-
sen oder die Bequemlichkeit jemanden dazu bringt, den Wehrdienst zu verweigern? Damals
lud man die Verweigerer vor eine Prüfungskommission beim Kreiswehrersatzamt. Dort fand
eine Art kleine Gerichtsverhandlung statt, der Verweigerer wurde ausgiebig befragt, dann zog
sich die Kommission zur Beratung zurück und verkündete danach ihr "Urteil". Das lautete
entweder "NN ist berechtigt, den Wehrdienst mit der Waffe zu verweigern", dann musste er
zum Zivildienst, oder er war nicht berechtigt, dann musste er zum Bund oder konnte sein
Glück nochmal vor dem Verwaltungsgericht versuchen.

In ihre Verhandlung konnten sich die Verweigerer einen kirchlichen Beistand mitnehmen und
so bin ich fast zehn Jahre lang immer wieder ins Kreiswehrersatzamt gepilgert - mit mäßigem
Erfolg. Manche Verhandlungen verliefen fair. In anderen herrschte reine Willkür und ich kam
oft empört nach Hause. Ein KDV hatte als Heranwachsender erlebt, wie ein Freund beim
Spielen mit Benzin verunglückte und bei lebendigem Leibe verbrannte. Als er davon erzählte
und darauf zu sprechen kam, dass so etwas ja auch im Krieg geschieht, zitterte er am ganzen
Leib. Ergebnis: Nicht anerkannt! Ein anderer erzählte, dass er gerne Hausmusik macht. Der
Vorsitzende war begeistert: Ja die Hausmusik, die sollte wirklich mehr gepflegt werden. Er-
gebnis: Anerkannt! Gelegentlich versuchten sie, die jungen Leute mit Fangfragen herein zu
legen. Selbst die berüchtigte Frage mit dem Russen im Stadtpark wurde immer mal wieder

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hervorgeholt: "Stellen Sie sich vor, Sie gehen mit ihrer Freundin im Stadtpark spazieren.
Plötzlich springt ein Russe aus dem Gebüsch, zückt seine Kalaschnikow und will ihre Freun-
din vergewaltigen. Nun haben sie aber zufällig selbst ein Waffe dabei. Würden sie auf den
Russen schießen?” Die Frage war nicht nur dämlich (Russen sind triebhafte Untermenschen,
Deutsche haben beim Spaziergang eine Waffe dabei), sie war auch hinterhältig. Man verlor
nämlich auf jeden Fall. Sagte man "ich werde nicht schießen", erwies man sich als unglaub-
würdig, weil angeblich jeder Mensch in dieser Situation zur Waffe greift. Sagte man "ich
werde schießen", war das Gewissen offenbar doch nicht gegen den Waffengebrauch. Die ein-
zige richtige Antwort lautete deshalb: "Ich kann nicht beschwören, dass in so einer Situation
bei mir vielleicht doch eine Sicherung durchbrennt und ich - ganz gegen mein Gewissen! -
im Affekt!! zur Waffe greife. Aber ich bin mir sicher, dass mein Gewissen!!! danach bis zu
meinem Lebensende schwer belastet sein wird." Es gab also doch einen Ausweg, nur wie soll
ein unbedarfter Mensch darauf kommen. Viele Verweigerer waren schlichte Menschen und
verweigerten aus naiven, aber durchaus echten, nicht vorgetäuschten Gründen, beispielsweise
mit dem Argument "Jesus hätte auch kein Gewehr in die Hand genommen." Man hat uns Be-
ratern damals oft vorgeworfen, dass wir unsere Schützlinge für die Verhandlung regelrecht
trainieren. Ich finde: wenn Menschen derartig trickreich über den Tisch gezogen werden, ha-
ben sie ein Recht darauf, über diese Tricks aufgeklärt zu werden.

4.8 Vom Drachenbau, vom Segeln und anderen Vergnügen


Eins hatte ich mir beim Umzug nach Koblenz fest vorgenommen: ich wollte nicht wieder bis
über beide Ohren im Beruf versinken und allenfalls noch für die Familie Zeit haben. Zum
Glück machte es die neue Tätigkeit leichter, diesen Vorsatz in die Tat umzusetzen. Während
ein Gemeindepfarrer nie so richtig zum Ende kommt, es gibt ja immer noch ein Dutzend Sa-
chen, die man auch noch anpacken müsste, waren meine Aufgaben begrenzt. In der Schule
musste ich 12 Stunden, also die halbe Stundenzahl ableisten. Da kamen natürlich noch die
Unterrichtsvorbereitung, die Korrekturen von Klassenarbeiten, Konferenzen und Elternaben-
de hinzu, aber es war ein begrenzter Auftrag. Ich musste auch nur an jedem zweiten Tag zur
Schule gehen. Abends war ich für die Studenten da, natürlich auch nicht an jedem Abend. Für
private Interessen blieb dabei schon noch einige Zeit übrig und ich entdeckte bald ein wun-
dervolles Hobby: den Drachenbau.

In meiner Kindheit hatte mich einmal ein Nachbar mitgenommen zum Drachensteigen auf
dem Acker draußen vor der Stadt. Seitdem hatte ich nicht mehr damit zu tun gehabt. Jetzt ent-
deckte ich, dass es Bücher mit Bauanleitungen und Fachgeschäfte mit passendem Bastelma-
terial gibt. Ich begann, Drachen zu bauen, erst einfache Modelle, später immer kompli-
ziertere. Auf der Karthause weht fast immer ein leichter Wind und wenn ich die Schule hinter
mich gebracht und zu Mittag gegessen hatte, zog es mich auf die nahe gelegene Drachenwie-
se. Meist war noch Wilhelm Klein dabei, ein Aktionskünstler, den ich auch schon für Veran-
staltungen der Studentengemeinde engagiert hatte. Wilhelm lebte, ähnlich wie Spitzwegs
"Armer Poet", in einem kleinen Kämmerchen und schlug sich mehr schlecht als recht durchs
Leben. Dabei war er ein begabter Künstler. Eine Performance von ihm ist mir noch in lebhaf-
ter Erinnerung. Er hatte sich als Schamane verkleidet und schob zu magischer Musik eine
Menge Teelichter mit einem Stock auf dem Boden hin und her. Die Aktion fand im Foyer un-
seres Studentenwohnheimes statt und war einfach phantastisch. Wilhelm hatte "ein Händ-
chen" für Klänge und Materialien. Auf der Drachenwiese ließen wir die seltsamsten Dinge

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zum Himmel steigen, beispielsweise eine große hauchdünne Folie, die unter einem Drachen
hängend im Licht der untergehenden Sonne magisch glänzte. Einmal bekam ich Ärger mit
der Polizei, weil ich einen Drachen aus goldbedampfter Folie nachts über dem Studenten-
wohnheim schweben ließ. Sie waren aber freundlich und sagten nur, ich solle das Ding runter
holen, es gefährde den Flugverkehr.

Zum Drachenbau gesellte sich als zweite Leidenschaft das Segeln. Unser Freund Bernd
Schatz hatte ein Boot auf dem Laacher See. Bernd war Lehrer wie ich und nach dem Schul-
stress zog es ihn hinaus zu seinem Boot. Es machte ihm Spaß, mir das Segeln beizubringen.
Ich musste mir immer erst einen Ruck geben, denn ich bin ein schlechter Schwimmer und
hatte immer Angst davor, zu kentern. Mit der Zeit wurde ich jedoch mutiger, schaffte mir
ebenfalls ein Boot an und nutzte einen unserer Urlaube, um den Segelschein zu machen. Lei-
der geriet ich bei der praktischen Prüfung an einen Prüfer von der stahlharten Sorte, ein Mann
mit so einem Luis-Trenker-Blick, der jeden Fehler mit einem “Wo haben Sie denn das ge-
lernt?" kommentierte. Ich fiel durch, durfte den praktischen Teil aber später in Koblenz wie-
derholen. Statt der sanften Brise, die mich im Urlaub umweht hatte, fand die Nachprüfung bei
Sturm auf der Mosel statt. Aber ich hatte Glück, der Prüfer war freundlicher. Nun hatte ich
den begehrten Segelschein in der Tasche und war bereit für weitere Abenteuer.

Der Laacher See ist ein herrliches Segelrevier, fast kreisrund, man findet also immer einen
passenden Kurs, egal aus welcher Richtung der Wind weht, anders als bei den schlauch-
förmigen Talsperren, die ich später im Sauerland kennen lernte. Auf denen muss man stun-
denlang kreuzen um ans andere Ende zu kommen. Hat man Pech, dreht unterdessen der Wind
und die Rückfahrt wird noch einmal genauso anstrengend wie die Hinreise. Allerdings hat der
Laacher See auch seine Mucken, er liegt in einem Vulkankrater. Manchmal herrscht darin ab-
solute Flaute, aber wenn im Sommer ein Gewitter aufzieht, kann es gefährliche Böen geben,
die urplötzlich über den Kraterrand wirbeln. Da bin ich einige Male in “Seenot” geraten.

4.9 Wiedersehen mit Tanzania


Ein Höhepunkt meiner Koblenzer Jahre war die zweite Tanzania-Reise im Jahre 1980. Sie
wurde vom Ev. Erwachsenenbildungswerk organisiert und war als entwicklungspolitische
Studienreise gedacht. Wer mitreisen wollte, musste vorher eine lange Reihe von Vorberei-
tungsseminaren absolvieren: Über entwicklungspolitische Fragen, über den afrikanischen So-
zialismus, über die Kolonialgeschichte Ostafrikas und vieles mehr. Fast anderthalb Jahre dau-
erte diese Vorbereitungsphase, bis wir am 7. Juli 1980 endlich aufbrechen konnten. Bernd
Schatz, Christine Holzing und Rosa Sing aus meinem Freundeskreis waren mit dabei. Ich
konnte mich also gut aufgehoben fühlen, was mir auch wichtig war, denn diese Reise ging -
im Unterschied zur ersten 1972 mit Erika - in abgelegene Regionen. Es gab sogar das Ge-
rücht, Pest und Cholera würden auf uns warten. Beinahe hätten wir deswegen die Reise abge-
sagt.

Von Brüssel aus flogen wir nach Daressalam. Unterwegs, bei einer Zwischenlandung in Bu-
jumbura, erlebten wir ein schönes Beispiel für afrikanischen Erfindungsreichtum. Weil die
Maschine betankt werden sollte, mussten wir aussteigen. Beim Verlassen des Flugzeuges
wollte uns jemand ein Papier in die Hand drücken. Viele hielten das für Safari-Werbung und
verzichteten dankend. Als wir später wieder ins Flugzeug wollten, stellte sich heraus, dass es

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Bordkarten gewesen waren. Ein Uniformierter wollte sie kontrollieren, nur: manche Passa-
giere hatten keine. Der Mann fand eine geniale Lösung. Wenn jemand eine Karte vorzeigen
konnte, wurde sie streng kontrolliert, hatte jemand keine, durfte er auch so hinein. Man be-
achte: Es wurden nicht einfach unterschiedslos alle eingelassen, sondern es wurde jeder in
seiner spezifischen Situation ernst genommen.

Zunächst verbrachten wir ein paar Tage in Daressalam, dann fuhren wir in die neue Haupt-
stadt Dodoma, mitten im Land. Dort teilte sich die Gruppe auf, ein Teil fuhr in den Südwes-
ten, ein Teil in den Nordwesten bis hinter den Victoria-See. Die dritte Abteilung, zu der wir
Koblenzer gehörten, blieb in der Zentralregion. Das war eine ziemlich trostlose Gegend,
meist flache Steppe voller Gestrüpp und Dornen, gelegentlich auch gebirgig (der bekannte
“ostafrikanische Grabenbruch”). Ohne Jeep kam man da kaum voran. Zum Glück stellte uns
der Bischof einen zur Verfügung. Diese Reise war ja - ganz anders als die erste Reise - eine
Kirchenreise. Christen besuchten Christen. Wir wurden überall als Delegation aus dem fernen
Deutschland willkommen geheißen und wo das Essen knapp war, schlachtete man sogar die
letzte Ziege für uns. Es war wirklich eine Hungergegend, die wir uns ausgesucht hatten. Un-
sere Kollegen hinter dem Viktoria-See hatten zwar eine drei Tage längere Anreise, aber ihnen
wuchsen die Bananen und die Mangos in den Mund. Wir dagegen mussten manchmal mit ei-
ner Hand voll Reis auskommen - nicht schlimm, wenn man Vitamintabletten im Rucksack
und das Rückflugticket in der Tasche hat, aber schlimm für die Einheimischen. Tanzania ist
eins der ärmsten Länder der Erde. Jedes dritte Kind stirbt bevor es sechs Jahre alt ist.

Manchmal waren uns die endlosen Empfänge lästig. Als Deutscher ist man nicht an Gottes-
dienste, die drei bis vier Stunden dauern (manchmal mehrfach am gleichen Tag), gewöhnt.
Einmal wurden uns sogar die Namen aller Getauften vorgelesen, von 1912 als die ersten
Missionare ins Land kamen, bis heute. Wir murrten, konnten uns aber nicht entziehen.
Manchmal wurden uns auch schwierige Fragen gestellt. Warum wir in Deutschland so wenig
Kinder bekommen, obwohl wir doch viel mehr Geld haben als die Menschen in Afrika. Und
ob es bei uns tatsächlich Männer gibt, die so verrückt sind, dass sie bei der Geburt ihres Kin-
des dabei sein wollen. - Am Schluss kamen alle drei Reisegruppen in Daressalam wieder zu-
sammen um Erfahrungen auszutauschen. Dann flogen wir wieder heim in unser armes, rei-
ches Deutschland.

Unsere Reise hatte noch ein spannendes “Nachspiel“. Wir hatten uns verpflichtet, einen Ge-
genbesuch zu organisieren. Zehn Afrikaner aus den Regionen, die wir besucht hatten, sollten
nach Deutschland kommen. Da sie die Reise nicht bezahlen konnten, wollten/mussten wir
selbst für die Kosten aufkommen. Dafür sammelten wir überall da, wo wir von unserer Reise
berichteten und unsere Dias zeigten. Wir waren uns einig, dass wir den afrikanischen Gästen
unser Land so zeigen wollten, dass sie neben den Vorteilen auch die Nachteile unserer Le-
bensweise kennen lernen. Wer zu Hause auf dem Dorf lebte, sollte auch hier auf dem Dorf
wohnen und sehen wie hart beispielsweise die Arbeit im Weinberg ist. Den Blick auf den
Rhein verbanden wir mit einem Besuch im Wasserwerk, um zu zeigen, welcher Aufwand ge-
trieben werden muss, um aus der verdreckten Brühe wieder Trinkwasser zu machen. Nach
der Fahrt über die Autobahn gab es einen Besuch in der Unfallabteilung des Krankenhauses.
Es wurde ein tolles Bildungsprojekt.

Außerdem sammelten wir Geld für Wasserpumpen. In der Zentralregion Tanzanias ist Wasser
das Problem Nummer eins. Es ist zwar unterirdisch vorhanden, aber wie bekommt man es
nach oben? Australische Entwicklungshelfer hatten begonnen, windbetriebene Wasserpum-

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pen aufzustellen. Wenn möglichst viele Dörfer so eine Pumpe bekommen, sind die Leute aus
dem Gröbsten heraus. In den Folgejahren haben wir deshalb eine Reihe solcher Pumpen fi-
nanziert. Mein Beitrag zu diesem Projekt war “Karibu”, ein afrikanisches Geduldspiel, das
ich in großer Stückzahl aus Holzspateln und Kronenkorken produzierte. Für 5,-- DM zuguns-
ten unseres Projektes war es zu haben. Auf dem Hamburger Kirchentag war ich sogar mit ei-
nem eigenen Bauchladen unterwegs.

Die Auswirkungen unserer Tanzania-Reise waren noch über viele Jahre zu spüren. Immer
wenn ich daran dachte, dass sich so weit entfernt Menschen an mich erinnern und im Gottes-
dienst für mich beten, wurde mir ganz warm ums Herz.

4.10 Familie, Freunde und Gefährten


Erika fand bald wieder eine Tätigkeit in der Familienbildung, natürlich im Kleinkindbereich.
Da es in Koblenz keine evangelische Familienbildungsstätte gab, arbeitete sie an der katholi-
schen, allerdings nur auf Honorarbasis. Eine feste Stelle hat sie nach dem Weggang aus Essen
nie wieder besessen. Zum zentralen Lebensinhalt wurde für Erika das Prager-Eltern-Kind-
Programm (PEKiP). Sie kannte es aus der Familienbildungsstätte in Essen. In unserer Kob-
lenzer Zeit nahm PEKiP einen ungeahnten Aufschwung. Erika bekam alle Hände voll zu tun.
Sie betreute zahlreiche Aus- und Fortbildungsgruppen und saß immer wieder mit Kolleginnen
zusammen, um das Konzept methodisch und didaktisch weiterzuentwickeln, damals noch
ganz ohne einen Verein und eine Geschäftsstelle im Hintergrund. Außerdem hatte Erika in-
zwischen ebenfalls mit einer TZI-Ausbildung begonnen und absolvierte auch noch das “Fern-
studium Evangelische Erwachsenenbildung“. So waren wir beide oft zu Fortbildungssemina-
ren unterwegs. Wenn es sich einrichten ließ, verbanden wir die Fortbildung mit unserem Ur-
laub, fuhren mit Dominik auf einen Bauernhof und machten von dort aus - jede/r eine Woche
lang - einen Abstecher zu einem Tagungshaus. Schon lange waren wir uns einig, dass man
auch Urlaub voneinander braucht. Meist fuhr ich einmal pro Jahr für eine Woche allein ans
Meer und im Sommerurlaub bekam jeder von uns “einen Tag für sich”. Einmal - wir waren
auf einem Bauernhof in der Nähe von Salzburg - bin ich an so einem Tag von früh bis spät in
den Alpen herumgefahren. Als ich am Abend zurückkam, erntete ich böse Blicke von den an-
deren Feriengästen. Als ich erklärte, dass ich auch mal Abstand von der Familie brauche, em-
pörte sich ein Mann aus dem Ruhrgebiet: “Wer so denkt, sollte nicht heiraten!” Seine Frau
sagte dagegen leise: “Mir täte das auch mal gut.”

Ein besonderer Höhepunkt in meinem TZI-Werdegang war ein Lehrerkurs an der École d´
Humanité in der Schweiz. Dort lehrte Ruth Cohn Didaktik und ich bin heute noch stolz dar-
auf, damals an dieser berühmten Schule eine Unterrichtsstunde gehalten zu haben, nicht über
ein religiöses Thema, sondern eine Einführung in die Thermodynamik.

1979 kam Dominik in die Schule. Als er die ersten Vorübungen fürs Schreiben machen sollte,
zeigte sich, dass er keine kleinen Kringel zustande bringt. Der Arzt diagnostizierte MCD (mi-
nicerebrale Dysfunktion, heute spricht man von ADS oder ADHS = Aufmerksamkeits-Defi-
zit-Syndrom). Das war eine unangenehme Überraschung, denn der Arzt schockte uns auch
gleich mit dem Hinweis, dass solche Kinder nur in seltenen Fällen den Hauptschulabschluss
schaffen. Es handelt sich um eine Störung im Gehirn. MCD-Kinder werden von Reizen über-
flutet, können sie aber nicht genug filtern und Wichtiges vom Unwichtigen trennen - ähnlich

100
wie bei einem Hörgerät, das alle Nebengeräusche mitverstärkt. Die Folge ist eine ständige
Unruhe. Solche Kinder sind zappelig und nur bedingt für die Schule geeignet. Nachträglich
fiel uns auf, dass Dominik nie Puzzles zusammengesetzt oder andere "Feinarbeiten" gemacht
hat. Er hatte immer nur die Grobmotorik benutzt, konnte schon früh schwimmen und wenn er
mit 6 Jahren vom 5-Meter-Brett sprang, blieben andere Badebesucher stehen, um ihm zuzu-
schauen. Die Nachricht ein behindertes, in seinen Möglichkeiten eingeschränktes Kind zu
haben, mussten wir erst einmal verdauen. Wir ahnten, dass uns schwierige Jahre bevorstehen.
Die Überlegung, noch ein zweites Kind zu adoptieren, konnten wir unter diesen Umständen
vergessen.

Natürlich wollten wir alle Fördermöglichkeiten für Dominik ausschöpfen, aber da gab es
nicht viel. MCD wurde gerade erst entdeckt und war noch kaum erforscht. Die Lehrer in der
Schule hatten auch noch nichts davon gehört und reagierten nach dem Motto: “Das Kind soll
sich eben mehr anstrengen.” Es strengte sich aber schon sehr an und wenn es mit viel Mühe
einen krakeligen Buchstaben zu Papier brachte, war das eine tolle Leistung! Die große
Schwierigkeit für Erika und mich war, einzuschätzen, was man von Dominik verlangen kann
und was ihn überfordert. An dieser Aufgabe haben wir uns in den Folgejahren abgestrampelt,
manchmal bis an die Grenze unserer Möglichkeiten.

Heute ist Dominik längst erwachsen. Den Hauptschulabschluss hat er leider nicht geschafft.
Zwei Versuche, eine Lehre zu absolvieren, scheiterten an der Berufsschule. Aber: er hat auch
ohne Schulabschluss eine Stelle in einem Stahlwerk gefunden, kann gut für sich sorgen und
ist mit seinem Leben einigermaßen zufrieden. Bis dahin war es ein langer Weg, von dem wir
damals in Koblenz nur andeutungsweise ahnten, was auf uns zukommt.

In Koblenz waren wir von einem großen Freundeskreis umgeben, meist Leute mit Kindern in
Dominiks Alter. Mit ihnen gingen wir wandern und fuhren auf dem Schlauchboot in Etappen
die Lahn herunter. Das schöne neue Hallenbad in Lahnstein lockte und ebenso das Kurbad
oben auf der Lahnhöhe. In unserem Keller hatten wir eine Sauna einbauen lassen. Dort
schwitzten wir mit unseren Freunden, wobei sich Dominik gern einen Spaß daraus machte,
mal schnell als Nackedei ums Viereck zu flitzen und die Fußgänger zu schockieren. Erika
spielte in einer Theatergruppe der Volkshochschule und engagierte sich bei den SPD-Frauen
(ASF). Auch auf diesem Wege vergrößerte sich unser Freundeskreis.

Wenn wir zusammen mit anderen etwas unternahmen, waren meist Christine Holzing sowie
Bernd und Bärbel Schatz dabei. Mit Bärbel verband mich das Interesse an der Gruppenpäd-
agogik und der TZI. Wir sind oft zusammen zu Fortbildungen gefahren, einmal sogar ins weit
entfernte Iserlohn. Es könnte sein, dass der Raum, in dem ich damals übernachtete, später in
der Iserlohner Zeit mein Büro wurde, denn die Gästehäuser hat man bald darauf zu Büroräu-
men umgebaut.

Zweimal fuhren wir mit einer großen Gruppe von Freunden und Bekannten in den Urlaub,
einmal auf die Insel Elba, einmal nach Dänemark. Vor Elba erlebte ich mit Bernd Schatz den
schlimmsten Segeltörn meines Lebens. Erst paddelten wir stundenlang in einer Flaute he-
rum, dann brach ein Sturm los und wir hatten Mühe, das Land nicht aus den Augen zu verlie-
ren. Ich dachte schon, nie mehr festen Boden unter die Füße zu bekommen, aber Bernd er-
wies sich als erfahrener, ruhiger Segler. Er brachte mich heil wieder an Land.

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In Dänemark hatten wir uns mit 40 Personen in einer Feriensiedlung eingemietet und daraus
"unser Dorf" gemacht. Leider ist mir erst nachträglich eingefallen, dass man daraus gut eine
Familienfreizeit mit staatlichen Zuschüssen hätte machen können.

Eine "geistige Heimat” fanden wir in der "Ökumenischen Initiative Eine Welt" (kurz "Ö - I"
genannt), einer Bewegung, die sich um einen alternativen Lebensstil bemüht. Es gab eine Art
Manifest mit den Grundsätzen und überall in (West)Deutschland lokale Gruppen. Die Kob-
lenzer Gruppe traf sich ein- bis zweimal im Monat, reihum in den Wohnungen, um gemein-
sam zu essen und anschließend zu diskutieren. Manchmal arbeiteten wir ein Buch durch oder
gingen zusammen in eine Veranstaltung. Die Gruppe lebte davon, das sich alle in der Zielset-
zung "anders leben" einig, im Blick auf die Konsequenzen jedoch uneinig waren. Auto oder
Fahrradfahren, Big Mäc oder Körner essen, Geld bei der Deutschen Bank oder bei der Öku-
menischen Entwicklungsgenossenschaft anlegen, über solche Fragen konnte man sich präch-
tig in die Wolle geraten, manchmal bis weit nach Mitternacht.

Am Montagnachmittag traf man sich mit vielen Gleichgesinnten zum "Schweigen für den
Frieden" auf dem Plan, einem Platz in der Innenstadt. Heute, nach dem Ende der DDR und
der Sowjetunion, ist nur noch schwer vorstellbar, wie stark uns damals die Friedensfrage,
festgemacht am Thema “Nachrüstung”, bewegt hat. Ost und West standen sich wie zwei zor-
nige Nashörner gegenüber, bereit den anderen platt zu machen, wäre da nicht ein kleines Pro-
blem gewesen: Beim atomaren Schlagabtausch gibt es keine Sieger. Wer als erster anfängt,
verliert als zweiter. Die Welt stand damals mehrfach am Rand eines Atomkrieges. Mit unse-
ren jungen Familien waren wir in besonderer Weise betroffen. Sollte all die Mühe, die wir
uns mit unseren Kindern gaben, für die Katz gewesen sein, nur weil ein Politiker in Moskau
oder Washington auf den falschen Knopf drückte? Das wollten wir verhindern und in einer
Stadt die vom Militär bestimmt war, war es uns ganz besonders wichtig, unsere Meinung öf-
fentlich zu zeigen. Natürlich sind wir auch nach Bonn zu den Großdemonstrationen gefahren.

Die Friedensbewegung spaltete die Koblenzer in zwei Lager: Hier die Friedensbewegten, da
die Leute von der Bundeswehr. Besonders schwierig war es für die vielen tausend Mitarbeiter
des Bundeswehr-Beschaffungsamtes. Mancher hätte sich gern mit in unseren Schweigekreis
gestellt, was aber, wenn der Vorgesetzte davon erfährt? Die Leute befanden sich in einer
Zwickmühle. Sie hatten Technik studiert und waren zum Bund gegangen, weil es dort sichere
Arbeitsplätze gab. Aber jetzt kamen sie in den Geruch, auf der falschen Seite zu stehen. Ein
Freund hat uns jahrelang erzählt, er sei ausschließlich mit der Beschaffung von Lastwagen
beschäftigt, mit Rüstung habe das nichts zu tun. Eines Tages rückte er dann aber doch damit
heraus: Naja, eine Vorrichtung um ein Maschinengewehr zu befestigen, hätten die Lastwagen
schon.

Bei meinen Schülern fand ich oft eine unkritische Begeisterung für militärische Technik.
Kein Wunder, ihre Väter arbeiteten in diesem Bereich und die Bundeswehr verstand es sehr
geschickt, mit Technik für sich zu werben. Viele meiner Schüler hatten zu Hause Plakate mit
Düsenjägern, Panzern und U-Booten über dem Bett hängen. Nie werde ich die folgende Sze-
ne vergessen: Wir hatten darüber gesprochen, wie viele Millionen ein neues Kampfflugzeug
kostet (gerade wurde vom Starfighter auf Phantom umgestellt), wir hatten ausgerechnet, wie-
viel Menschen in den Entwicklungsländern davon satt werden könnten, da meldet sich ein
Schüler und sagt: "Eine Phantom kann aber auch in Baumwipfelhöhe fliegen." Beim Wort
Baumwipfelhöhe strahlten seine Augen, während ich ihn fassungslos anstarrte. Da hatte ich
mich wieder einmal vergeblich abgemüht.

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In unserem Freundeskreis haben wir auch eine Sache ausgebrütet, die in Koblenz für Furore
sorgte und uns viel Vergnügen bereitete, die Aktion “Schlumpf aufs Eck”. Die Koblenzer
wollten gern ihren alten Kaiser Wilhelm wiederhaben, das riesige Reiterstandbild, das bis
zum Kriegsende am Deutschen Eck stand. Seitdem war der Sockel leer. Nun hatte ein Kob-
lenzer Großverleger Geld gespendet und das Standbild sollte wiedererstehen. Die offiziellen
Vertreter der Stadt waren begeistert. Diese Attraktion würde Scharen von Touristen in die
Stadt locken. Wir waren sauer. Erstens hätte man das Geld für bessere Zwecke ausgeben kön-
nen, zweitens war dieser Kaiser ein berüchtigter Anti-Demokrat. Aber was kann man tun ge-
gen einen Kaiser, der beabsichtigt auf einem gewaltigen Schlachtross in die Stadt einzu-
reiten? Wir dachten: Man muss das Ganze lächerlich machen. Wenn schon eine Kolossalfigur
am deutschen Eck, dann - billiger und zeitgemäßer - ein Schlumpf. Diese weißbemützten
Blaulinge waren gerade sehr in Mode, überall konnte man “Das Lied der Schlümpfe” hören.
Wir ließen 7000 Flugblätter drucken und sammelten Unterschriften für unsere Idee “Wilhelm
weg - Schlumpf aufs Eck!” Es gab einen riesigen Wirbel, die Illustrierte Stern brachte einen
Artikel über unsere Initiative, die Stiftung für staatsbürgerliche Mitverantwortung lobte uns
und das Thema war tatsächlich für einige Jahre vom Tisch. Leider war es nur ein Aufschub,
heute steht der alte Kaiser wieder da, wo ihn die konservative Mehrheit der Koblenzer hinha-
ben wollte, am “Deutschen Eck”.
Auch Dominik hat in Koblenz schnell Anschluss gefunden. Kaum waren wir eingezogen, da
entdeckten wir im Nachbargarten ein Bübchen, das von der Größe her gut zu Dominik passte,
Rüdiger. Mit “Rüdi” war Dominik über viele Jahre hin befreundet. Die beiden erinnerten
stark an “Max und Moritz”. Nicht alle ihre Streiche fanden unseren Beifall. Einmal haben sie
sogar auf dem Dach unseres Autos einen Indianertanz aufgeführt und dabei bleibende Ein-
drücke hinterlassen. Rüdis Vater war Straßenbaudirektor, er war beim Umbau des Nürburg-
ringes beteiligt und kannte dort Hinz und Kunz. Gern nahm er Dominik mit auf die Rennstre-
cke und ins Fahrerlager, später auch zum Wintersport in die Alpen.Leider zog Rüdiger, weil
seine Eltern sich trennten, nach Mayen und die Jungenfreundschaft mit Dominik war zu
Ende.

4.11 In Koblenz schien immer die Sonne


Aufs Ganze gesehen waren die Koblenzer Jahre eine herrliche Zeit. Ich fühlte mich vital wie
nie zuvor, hatte Erfolg im Beruf, genoss das Leben mit Erika und Dominik, war in ein Netz
von Gleichgesinnten eingebunden. Was will man mehr? So gut war es mir noch nie gegan-
gen. Kein Wunder, dass in meiner Erinnerung in Koblenz immer die Sonne scheint (was sie
natürlich in Wirklichkeit nicht tat).

Leider gab es ein “Haar in der Suppe": ich bekam Ärger mit meinem Dienstvorgesetzten,
dem Superintendenten Warnecke. Sein Kirchenkreis war der zweitgrößte in der Rheinischen
Kirche und reichte von Adenau bis Bingerbrück. Da war immer irgendwo eine Pfarrstelle un-
besetzt oder ein Kollege erkrankt und man brauchte einen Vertreter für den Gottesdienst.
Warnecke meinte, dass der Schul- und Studentenpfarrer für solche Vertretungen hervorragend
geeignet ist, weil er ja am Sonntag nicht Schule halten muss. Immer wieder rief er an, um
mich auf entlegene Dörfer zu schicken. Das bedeutete bis zu zwei Stunden Anfahrt, dann der
Gottesdienst in einer schwach gefüllten Kirche, danach die lange Rückfahrt. Ich wehrte mich
und sagte, dass ich das Wochenende für die Familie, für Korrekturen und zur Unterrichtsvor-
bereitung brauche. Das überzeugte ihn aber nicht. "Am Sonntag gehen Sie doch ohnehin zur

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Kirche. Da können Sie doch auch eine alte Predigt mitnehmen und diese halten." Als ich ent-
gegnete, dass ich keineswegs an jedem Sonntag in die Kirche gehe, war es ganz aus. Das
passte nicht zu seinem Pfarrerbild. Auch mein Kompromissvorschlag, regelmäßig einmal im
Monat eine Vertretung zu übernehmen, brachte uns nicht weiter. Am liebsten hätte er mich
aus seinem Kirchenkreis verbannt.

Gelegentlich habe ich ganz gern eine Vertretung übernommen. Die Gottesdienste am heiligen
Abend in Oberdiebach-Manubach sind mir immer noch in guter Erinnerung. In einem abgele-
genen Seitental des Rheins, fand ich eine große, mittelalterliche Kirche vor, festlich erleuch-
tet und voller weihnachtlich gestimmter Menschen, die alle auf mich und die Botschaft von
der Menschenfreundlichkeit Gottes warteten. Auf der Heimfahrt konnte ich dann richtig Gas
geben, kein Mensch war an diesem Abend auf der Straße. Den Rhein entlang brauste ich vor-
bei an erleuchteten Weihnachtsbäumen und angestrahlten Burgen und kam in bester Stim-
mung wieder in Koblenz an, wo die Bescherung auf mich wartete. Ein Festtag für alle Sinne!

An einem solchen Weihnachtsabend kam Katze Nena in unsere Familie. Dominik hatte vor-
her schon mit Meerschweinchen Plusteback und zwei Hasen erste Erfahrungen in der Haus-
tierhaltung gemacht. Nun hielten wir ihn für alt genug, für eine Katze zu sorgen. Erika hatte
das kleine Wollbällchen am Nachmittag des heiligen Abends auf einem Bauernhof abgeholt,
nun schlief das Tierchen in einer Kiste unterm Weihnachtsbaum. Es war bei uns üblich, die
Geschenke schon vor der Bescherung auszubreiten, man durfte die Päckchen schon mal ab-
tasten und raten, was drin ist. Nur öffnen durfte man sie nicht. Unser Kätzlein hielt ganz still
und Dominik machte große Augen, als er am Abend den Karton aufmachte: "Da ist ja eine
Katze drin!" Am nächsten Tag passierte noch ein furchtbares Unglück. Jemand hatte die Tür
zum Garten offengelassen und Nena war und blieb verschwunden. Die ganze Weihnachts-
stimmung war dahin, wir hätten heulen können. Aber wer kommt da plötzlich ausgeschlafen
und hungrig die Treppe herunter? Unsere Nena. Fast siebzehn Jahre lang hat sie unser Leben
begleitet, zwei Umzüge hat sie mitgemacht, hat uns oftmals den Bauch gewärmt, gelegentlich
auch an Sesseln und Tapeten bleibende Spuren hinterlassen, sich mit Katern herumgetrieben
und uns Mäuse vor die Tür gelegt. Ich vermisse sie immer noch und wenn irgendwo ein
schwarzes Tuch oder ein kleines dunkles Kissen herumliegt, überfällt mich manchmal der
Gedanke: Da bist Du ja wieder, wo hast du nur die ganze Zeit gesteckt?

Mehr als aufgewogen wurde der Ärger mit dem Superintendenten durch die enge Freund-
schaft zu unserem Schulreferenten Gustav-Adolf Böttcher, genannt “Düdi”. Der Schulrefe-
rent ist der Schulbeauftragte des Kirchenkreises. Er soll den Kontakt zwischen Kirche und
Religionslehrern pflegen. Düdi wohnte gleich nebenan und wir haben oft mit ihm und seiner
Frau bei einem Glas Wein über Gott und die Welt gesprochen. Leider ist er kurz nach unse-
rem Wegzug aus Koblenz ganz überraschend gestorben.

Eine ähnlich anregende Freundschaft verband uns mit Renate und Dietrich Röllinghoff, er
Leiter der Volkshochschule, sie Ärztin und Vorsitzende der Koblenzer “pro familia”. Auch
mit dem Leiter der Koblenzer Beratungsstelle waren wir befreundet. Als Renate den Vorsitz
der “pro familia” abgeben wollte, hätte ich mich gern um diese ehrenamtliche Aufgabe be-
worben, aber mein Superintendent legte sich quer. In kirchlichen Kreisen wurde die “pro fa-
milia” wegen ihrer liberalen Einstellung zur Abtreibung heftig angefeindet. Ein Pfarrer an der
Spitze, das war in Koblenz undenkbar, auch wenn es in Saarbrücken dafür schon ein Vorbild
gab.

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Mit allen unseren Freunden und Freundinnen feierten wir gern und oft. Ein Höhepunkt war
die Enthüllung eines Bildes, das Hanns Lansch für unser Wohnzimmer gemalt hatte. Es war
eine besondere Erfahrung, mit diesem großformatigen, abstrakten Bild zu leben. Normaler-
weise begegnen einem solche Bilder nur im Museum und man hat nur einen flüchtigen Ein-
druck davon. Ein Bild an der Wohnzimmerwand ist etwas ganz anderes. Es sieht zu jeder Ta-
ges- und zu jeder Jahreszeit anders aus. Man entdeckt auch immer neue Einzelheiten darauf.
“Unser Bild” war in den Farben schwarz-rot-gold gehalten und dem ermordeten italienischen
Politiker Aldo Moro gewidmet.

4.12 Abschied von Koblenz


Wenn es in Koblenz so schön war, stellt sich die Frage, warum wir wieder weggezogen sind.
Der Hauptgrund war: ich brauchte eine neue Herausforderung. Wenn man zehn Jahre lang
unterrichtet, kommen einem nicht mehr viele neue Ideen. Ein bestimmtes Thema behandelt
man nicht anders als im vergangenen Jahr und auch die Abiturprüfung verläuft nicht anders,
als die letzte und die vorletzte. Der Ärger mit meinem Superintendenten ermutigte auch nicht
gerade zum Bleiben. Außerdem rückte langsam mein fünfzigster Geburtstag heran, eine Mar-
ke bis zu der man als Pfarrer entweder zum letzten Mal die Stelle wechselt - oder es ganz
bleiben lässt. Also begann ich, mich nach etwas anderem umzusehen. In eine Gemeinde hätte
ich natürlich immer gehen können, aber ich war dem normalen Gemeindeleben ziemlich ent-
wachsen. Was aber dann? Für Sonderaufgaben im Bildungsbereich wie beispielsweise die
Leitung einer Akademie oder eines Tagungshauses, war ich mit TZI und Rollenspiel gut vor-
gebildet, aber solche Stellen gab es im Süden der Rheinischen Kirche kaum.

Überraschend tauchte dann eine interessante Möglichkeit auf. Nach dem Abschluss meiner
TZI-Ausbildung (1979) hatte ich lange überlegt, auf welchem Gebiet ich mich weiter fortbil-
den soll. Etwas körpernäher als TZI sollte es sein, aber auch nicht gleich Massage oder Bio-
energetik. Schließlich stieß ich auf das Pädagogische Rollenspiel, wie es von Jan Tillmann
und Hella Pörtner angeboten wurde. Im Herbst 1985 begann ich die mehrjährige Ausbildung
zum Rollenspielleiter. Dabei lernte ich meinen Kollegen Klaus Rudolf kennen. Er hatte gera-
de aus der Westfälischen Kirche zum Erwachsenenbildungswerk der Rheinischen Kirche ge-
wechselt und erzählte, dass sie in Westfalen keinen Nachfolger für ihn finden.
Nach Westfalen? Womöglich wieder ins Ruhrgebiet?? Niemals! - Oder vielleicht doch? Anse-
hen konnte ich mir die Sache ja mal. Es war wirklich eine interessante Aufgabe, die in West-
falen wartete: für die Familienbildung in der gesamten Landeskirche zuständig sein. Der
Dienstsitz war in Iserlohn, das Büro gleich neben der Evangelischen Akademie mit der Mög-
lichkeit, im Park von "Haus Ortlohn" zu lustwandeln und die vorzügliche Küche der Akade-
mie zu genießen - nicht schlecht! Iserlohn liegt auch nicht mitten im Ruhrgebiet, sondern an
seinem Rand und schmückt sich mit der Bezeichnung "Waldstadt". Ich war hin und her geris-
sen zwischen dieser verlockenden Möglichkeit und Koblenz, wo ich mich gut eingewöhnt
hatte und nach zehn Jahren langsam wusste “wie der Hase läuft“. Bewerben kannst du dich ja
mal, dachte ich, der Ausgang ist ohnehin recht ungewiss, vielleicht finden sie ja doch noch
einen geeigneten Westfalen. Damals waren die Grenzen zwischen den Landeskirchen schon
ziemlich dicht, bei Stellenbesetzungen nahm man zuerst eigene Leute und nur wenn sich
nach mehreren Anläufen niemand fand, jemanden aus einer anderen Landeskirche, schließ-
lich musste man den Neuzugang bis zum Lebensende bezahlen.

105
Erika war von meinen Plänen nicht gerade begeistert. Auch ihr war Koblenz ans Herz ge-
wachsen. Aber wenn sie mich in Westfalen nehmen würden, käme sie mit. Das sei dann aber
wirklich der letzte Umzug, den sie meiner Karriere zuliebe mitmache. Und so kam es. Ich
bewarb mich beim Landeskirchenamt in Bielefeld, wurde genommen und unsere Zeit an
Rhein und Mosel ging zu Ende.

In der Schule gab es einen unauffälligen Abschied. An so einem großen Schulsystem waren
ständig Lehrer zu verabschieden oder zu begrüßen. Manche Kollegen waren etwas neidisch
auf mich. “Du hast es gut, kannst Dir einfach eine andere Aufgabe suchen. Wir müssen bis
zur Pensionierung weitermachen.”

In der ESG ließ sich der Abschied gut mit dem Sommerfest verbinden. Wir feierten bis lange
in die Nacht hinein von Dirk Juchem auf dem Saxophon begleitet. Im Freundeskreis gab es
viele kleine und große Abschiede. Manche Freundschaften aus der Koblenzer Zeit sind uns
bis heute erhalten geblieben.

106
Neue Heimat Iserlohn
Biografische Notizen 1986 bis 2001

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5.1 Von Koblenz nach Iserlohn
Im April 1986 hatte die Westfälische Kirchenleitung mich auf die landeskirchliche Pfarrstelle
für Familienbildung berufen. Im August sollte ich anfangen. Da blieb nicht viel Zeit für die
Umzugsvorbereitungen, zumal die Zeit vor den Sommerferien in der Schule wegen der anste-
henden Zeugnisse immer eine "dicke Zeit" ist. Der Umzug war ohnehin nicht vor September
zu bewerkstelligen. Wir mussten erst noch eine Wohnung in Iserlohn finden. Dabei hatten wir
Glück und fanden ein schönes Reihenhaus. Die Kirche war bereit, das Haus zu kaufen und an
uns zu vermieten. Es war etwas komfortabler als unser Reihenhaus in Koblenz. Mehr als 180
Quadratmeter warteten auf uns und wollten eingerichtet werden. Sogar einen Kamin besaßen
wir jetzt, und auf unseren drei Balkonen ging die Sonne nicht unter. Wir konnten auf der Ost-
seite in der Morgensonne frühstücken, uns den Tag über auf der Westseite bräunen lassen und
am Abend, wieder auf der Ostseite, den Sonnenuntergang genießen - natürlich nur bei schö-
nem Wetter. Sauerland ist Schauerland!

Aber so weit war es noch nicht. Am 1. August packte ich erst einmal die wichtigsten Sachen
ins Auto, fuhr nach Iserlohn, bezog ein Gästezimmer in der Evangelischen Akademie und sah
meine Familie nur noch an den Wochenenden.

Iserlohn liegt südöstlich von Dortmund in der Randzone des Ruhrgebietes - eine recht attrak-
tive Lage, denn auf der einen Seite hat man das Ruhrgebiet mit seinen vielfältigen kulturellen
Angeboten und seinen Einkaufsmöglichkeiten direkt vor der Haustür, auf der anderen Seite,
im „Land der tausend Berge“ gibt es Ausflugsmöglichkeiten ohne Ende. Wer möchte, kann
im Wald bis nach Frankfurt laufen. Iserlohn hat dank zahlreicher Eingemeindungen zwar bei-
nahe 100 000 Einwohner, ist aber eher eine Kleinstadt als eine Großstadt. Das Schützenfest
bildet den Höhepunkt des Jahres. Da mussten wir uns etwas umgewöhnen.

Der Wechsel vom Rheinland nach Westfalen war nicht weiter problematisch. Zwar werden
Rheinländer und Westfalen oft als gegensätzlich beschrieben, der Rheinländer als lebenslus-
tig, der Westfale eher als stur und dröge, im täglichen Leben verwischen sich die Unterschie-
de, jedenfalls in städtischen Regionen. Rheinische und Westfälische Kirche unterscheiden
sich nur geringfügig. Sie sind gleich aufgebaut und es gilt das gleiche Kirchenrecht. Aller-
dings kam mir die Westfälische Kirche manchmal etwas patriarchalischer vor, so eine Art
"Kirche nach Gutsherrenart". Ein Beispiel erlebte ich gleich an meinem ersten Arbeitstag. Da
wollte ich mich einfach an meinen Schreibtisch setzten, wurde aber ins Landeskirchenamt
nach Bielefeld beordert. So einfach gehe das nicht, zunächst müsse mir die Berufungsurkun-
de ausgehändigt werden. Also fuhr ich mit dem Zug (2 Stunden) nach Bielefeld, bekam die
Urkunde vom Vizepräsidenten des Westfälischen Kirche zunächst vorgelesen und dann in die
Hand gedrückt. Dann wieder zwei Stunden Rückfahrt, und nun durfte ich loslegen. Mir hätte
es völlig gereicht, wenn man mir die Urkunde per Einschreiben zugeschickt hätte. Aber man
kann natürlich auch sagen: Die Westfalen haben ein Gefühl für Stil.

Das Packen für den Umzug musste ich zum größten Teil Erika überlassen. Wir fanden eine
sehr praktische Lösung, den Komplettumzug. „Sie fahren in den Urlaub und wenn Sie zu-
rückkommen, steht in der neuen Wohnung alles am vertrauten Platz!“ Mit diesem Slogan
warb eine Koblenzer Spedition. Das kam uns gerade recht. Ganz so einfach wie versprochen
war es natürlich nicht, denn die neue Wohnung sah ja anders aus als die alte. Sie haben aber
tatsächlich jede Schranktür aufgemacht und mit einer Polaroidkamera festgehalten, welches

108
Glas und welches Figürchen an welcher Stelle steht. In Iserlohn haben sie dann alles genauso
wieder eingeräumt.

Während ich mich in die neue Arbeit stürzte, tat sich Erika mit dem Eingewöhnen schwer.
Kein Wunder, hatte sie doch in Koblenz alles, was ihr wichtig war, zurückgelassen und hier
(noch) nichts Neues dafür gewonnen. Sie fand aber eine geradezu geniale Lösung für dieses
Problem. Sie lief zu Fuß von Koblenz nach Iserlohn!

Im vorletzten Jahrhundert gab es zwischen Berlin und Koblenz eine optische Telegrafenver-
bindung. Man hatte jeweils in Sichtweite auf den Bergen Signalmasten aufgestellt. Die sahen
so ähnlich wie Bahnsignale aus, hatten aber ein paar Arme mehr. Damit konnte der König in
Berlin seinen Soldaten auf der Festung Ehrenbreitstein bei Koblenz Befehle zukommen las-
sen. Das war damals ein großer Fortschritt, denn eine Nachricht war, von Mast zu Mast wei-
tergegeben, in 20 Minuten am Ziel. Vorher hatte ein Reiter dafür mehrere Tage gebraucht.
Nur bei Nebel ließ sich die neue Technologie nicht verwenden. Die Telegrafenstrecke führte
über Iserlohn, und wenn sich die Flügel oben am Mast bewegten, sagten die Iserlohner: "Der
König rudert mit den Armen!" Entlang dieser alten Signalstrecke wanderte nun Erika von
Koblenz nach Iserlohn und siehe da: Als sie dort eintraf, war ihre Seele ebenfalls am neuen
Wohnort angekommen.

5.2 Arbeit in der Arbeitsstelle


Stärker als in Koblenz, wo ich eher als „Einzelkämpfer“ agiert hatte, war ich jetzt in eine In-
stitution eingebunden, musste mich mit anderen absprechen und lernen, im Team zu arbeiten.
Meine Stelle gehörte zur "Arbeitsstelle für Erwachsenen- und Familienbildung". Dort gab es
neben meiner eigenen Pfarrstelle noch die Stelle des Landeskirchlichen Pfarrers für Erwach-
senenbildung. Dazu kam ein kleiner Bürobetrieb mit zwei, später drei Verwaltungsangestell-
ten und einem Zivildienstleistenden. Nach einigen Jahren bekamen wir noch eine Diplompä-
dagogin dazu. Die Leitung der Arbeitsstelle wechselte von Jahr zu Jahr zwischen meinem
Kollegen von der Erwachsenenbildung und mir. Untergebracht war die Arbeitsstelle in einem
Bürogebäude unmittelbar neben dem landeskirchlichen Tagungshaus („Haus Ortlohn“) in
Iserlohn. Grob gerechnet, gab es für mich drei Aufgabenfelder: die pädagogischen Angebote
der Arbeitsstelle, vor allem das Fernstudium; meine eigenen Projekte im Bereich Familienbil-
dung und die Mitwirkung in zahlreichen Gremien.

a. Das “Fernstudium Evangelische Erwachsenenbildung”

Die Hauptaufgabe der Arbeitsstelle bestand darin, die pädagogischen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter in den Gemeinden und Kirchenkreisen zu unterstützen. Als hilfreiches Instrumen-
tarium hatte sich dabei das "Fernstudium Evangelische Erwachsenenbildung" erwiesen, ein
Kursprogramm zur Aus- und Fortbildung von haupt- und (überwiegend) ehrenamtlichen Mit-
arbeiterinnen. Die gingen meist mit viel Begeisterung an die Arbeit, hatten aber nicht gelernt,
mit Gruppen umzugehen. Da übernahm beispielsweise jemand in einer Kirchengemeinde die
Leitung einer Frauengruppe oder aus einem lockeren Treff von Müttern mit ihren Kindern
wurde ein Gesprächskreis. Aber wie leitet man/frau so eine Gruppe? Im Fernstudium wurde
vermittelt, wie man Themen formuliert, wie man mit schwierigen Teilnehmern umgeht, wie
man nicht nur mit dem Kopf, sondern mit allen Sinnen lernt. Die Bezeichnung Fernstudium

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war allerdings etwas hoch gegriffen, es ging ja nicht um einen akademischen Abschluss, son-
dern um eine solide, praxisbezogene Grundausbildung in Sachen Erwachsenenbildung. Der
Grundkurs des Fernstudiums dauerte ca. zwei Jahre. Wer wollte, konnte danach noch zwei
Jahre Aufbaukurs in Familienbildung, Seniorenbildung oder politischer Bildung dranhängen.
Die Teilnehmenden trafen sich zu Studienzirkeln in ihrer Heimatregion und zu sog. “Direkt-
kursen” in einem Tagungshaus, irgendwo in Westfalen. Am Ende der Fortbildung musste eine
schriftliche Arbeit vorgelegt werden. Da wir für jeden Kursdurchgang bis zu 100 Leute auf-
nahmen, war das Fernstudium eine aufwändige Angelegenheit. Allein schon die Organisation
der Kurse hielt unser Büro in Atem. Es mussten aber auch ständig Lehrpläne verändert, neue
Materialien gesichtet und die laufende Kurs ausgewertet werden. Für die Leitung der Kurse
hatte sich die Arbeitsstelle ein eigenes Lehrkollegium herangezogen, die Tutoren. Diese Tuto-
ren - meist waren es Tutorinnen - leiteten die Studienzirkel und die Kurse und sahen auch die
Abschlussarbeiten durch. Natürlich mussten auch sie ständig weitergebildet werden.

Unsere etwa zwei Dutzend Tutorinnen waren sehr gut qualifiziert, hatten selbst das Fernstudi-
um absolviert, viele besaßen außerdem eine gruppenpädagogische Zusatzausbildung, meist
Rollenspiel oder TZI. Die Tutorenschaft bildete sozusagen die “Kerntruppe” der Arbeitsstelle,
ohne sie lief gar nichts. Die Tutorinnen waren sich ihrer Bedeutung durchaus bewusst, und
mein Kollege kam oft ins Schwitzen, wenn sie sich widerborstig zeigten. Er war zwar auf
dem Papier der Leiter des Fernstudiums, aber was tun, wenn sich die Leute nicht leiten lassen
wollen, weil Leitung zu sehr nach Herrschaft riecht? Ein wenig wehte im Fernstudium noch
der Geist der antiautoritären Bewegung. Auch die Romantik der Anfangsjahre machte uns zu
schaffen - ein Problem vieler Organisationen. In der Gründungsphase braucht man wenig
Strukturen, alle kennen sich, vertrauen sich und ziehen am gleichen Strang. Später, wenn das
Unternehmen gewachsen ist und eine neue Generation von Mitwirkenden nachwächst,
braucht man andere Umgangsformen. Ein solcher Umstellungsprozess war im Fernstudium
gerade im Gange. Ich kam voll hinein in die Phase der Gärungen und Klärungen.

Zum Fernstudium kamen unter der Überschrift “Mitarbeiterfortbildung” noch zahlreiche wei-
tere, weniger umfangreiche Angebote der Arbeitsstelle.

b. eigene Projekte

Eine zweite “Säule” meiner Arbeit waren eigene Projekte im Bereich Familienbildung. Eins
fand ich schon vor, als ich nach Westfalen kam. Alle Kirchengemeinden sollten zu einem
Wettbewerb “Familienfreundliche Gemeinde" eingeladen werden. Sie sollten Projekte be-
schreiben, die sie selbst durchgeführt hatten und als nachahmenswert empfanden. Dafür gab
es Preise, und alle Beteiligten durften sich ein Schild "Familien willkommen!" an die Kirche
oder ans Gemeindezentrum schrauben. Mein Vorgänger hatte schon erste Vorbereitungen ge-
troffen, aber nach seinem Weggang ruhte das Projekt in der Schublade. Schon bei meiner Be-
rufung hatte man mir bedeutet: "Da können Sie zeigen, was Sie können". Der Unterton
"...und wir können sehen, ob wir uns den richtigen Mann geholt haben", war nicht zu überhö-
ren. Der Wettbewerb erwies sich tatsächlich als günstiger Einstieg für mich. Ich konnte kaum
etwas falsch machen. Zwar meldeten sich zunächst nur einige wenige Gemeinden, aber eine
Nachwerbung brachte dann doch den gewünschten Erfolg. Wir bekamen eine bunte Fülle von
Projektbeschreibungen zusammen, angefangen vom Familienfrühstück am Sonntagmorgen
vor dem Gottesdienst über Kontakte zwischen Seniorenclub und Kindergarten bis zur Bilder-
buchausleihe während des Gottesdienstes. Den Abschluss des Wettbewerbs bildete ein großes
Familienfest im Park von Haus Ortlohn. Danach war noch eine Dokumentation zu erstellen,

110
damit andere Gemeinden die eingeschickten Projekte übernehmen konnten. Meine erste grö-
ßere Aufgabe hatte ich erledigt. Aus dem Landeskirchenamt kamen anerkennende Worte. Of-
fenbar hatte man sich den richtigen Mann geholt.

c. Sitzungen, Sitzungen, Sitzungen

Etwa ein Drittel meiner Arbeitszeit brauchte ich für Sitzungen und Besprechungen. Insgesamt
waren es gut zwei Dutzend Gremien, in denen ein Platz für mich reserviert war. Manche die-
ser Gremien tagten nur einmal im Jahr, wie die Bundeskonferenz der Familienbildungsstät-
ten, andere kamen jede Woche zusammen. Die Sitzungs“kultur“ habe ich in den folgenden
Jahren gründlich kennengelernt und war immer wieder überrascht, wie wenig effektiv sie ist.
Oft wurden die Sitzungen miserabel geleitet. Man kam "vom Hölzchen aufs Stöckchen" und
fing immer wieder bei Adam und Eva an, obwohl alles in Ausschüssen schon mehrfach
durchgekaut worden war. Rivalitäten wurden hinter Sachfragen versteckt abgehandelt, und
über allem lag nur allzu oft der Dunst nichtssagender theologischer Phrasen. Da war ich mit
meinem gruppenpädagogischen Hintergrund einfach Besseres gewohnt.

Ein Wunder war es freilich nicht. Kirchenleute haben nur selten das Leiten gelernt. Nicht ein-
mal für die oberste Etage gibt es so etwas wie eine Führungsakademie. Wozu auch - der heili-
ge Geist weht bekanntlich, wo er will! Da gibt es nichts zu lernen und Fortbildung erscheint
als reine Zeitverschwendung. Natürlich fand ich unter meinen Kollegen auch so manchen ge-
nialen Kopf und charismatischen Führer, aber es gab eben auch Typen, wie sie Elias Canetti
so treffend als "Gottprotz“ beschrieben hat. „Der Gottprotz muss sich nie fragen, was richtig
ist, er schlägt es nach im Buch der Bücher. Da findet er alles, was er braucht. Da hat er eine
Rückenstütze. Da lehnt er sich beflissen und kräftig an. Was immer er unternehmen will, Gott
unterschreibt es. Er findet Sätze, die er braucht, er fände sie im Schlafe. Um Widersprüche
braucht er sich nicht zu bekümmern, sie kommen ihm zustatten. Er überschlägt, was ihm
nicht von Nutzen ist und bleibt bei einem unbestreitbaren Satze hängen. Den nimmt er für
ewige Zeiten in sich auf, bis er mit seiner Hilfe erreicht hat, was er wollte. Doch dann, wenn
das Leben weitergeht, findet er einen anderen. ... Der Gottprotz ist ein schöner Mann, mit
Stimme und Mähne.“

Eine alte Leidenschaft habe ich in langweiligen Sitzungen wiederentdeckt und weiterentwi-
ckelt: das Zeichnen. Unendlich viele Ränder von Sitzungsprotokollen habe ich vollgekritzelt.
Später ist daraus eine ernsthafte Beschäftigung, das Cartoon-Zeichnen, geworden.

5.3 Turbulenzen
Fast vier Jahre lang lief in der Arbeitsstelle alles sehr erfreulich. Wir konnten unsere Angebo-
te weiter ausbauen und erreichten sogar, dass unsere Tutorinnen nicht mehr ehrenamtlich ar-
beiten mussten, sondern ein bescheidenes Honorar erhielten. Dann trat eine unvorhergesehe-
ne Unterbrechung ein. Mein Kollege, Christoph Meier, verließ die westfälische Kirche. Er
war aus Bayern nach Westfalen gekommen und als sich eine Aufstiegschance an der Akade-
mie in Tutzing bot, griff er zu. Nun stand das Fernstudium ohne Leiter da und es war auch
keine Frage, wer den freigewordenen Platz ausfüllen durfte, bis sich ein Nachfolger gefun-
den hat. Zum Glück hatte ich mich von Anfang an als Stellvertreter betätigt, war also gut in
der Materie drin. Nur: ich war mit dieser Vertretungsaufgabe voll ausgelastet und konnte kei-

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ne eigenen Projekte mehr beginnen. Nun muss aber eine Arbeitsstelle immer wieder auf sich
aufmerksam machen, es muss etwas in der Zeitung stehen, eine neue Veröffentlichung muss
erscheinen, eine erfolgreiche Tagung durchgeführt werden usw. Bleiben solche wichtigen
“Lebenszeichen” aus, heißt es schnell: "Gibt es die überhaupt noch?" Von da bis zum "Brau-
chen wir die eigentlich?" ist es nur ein kurzer Weg. Eine schwierige Zeit, deren Ende ich
sehnlichst herbeiwünschte!
Die Suche nach einem Nachfolger gestaltete sich schwerer als erwartet. Die wirklich guten
Leute, möglichst mit Doppelstudium (Theologie und Pädagogik) standen nicht gerade auf der
Straße herum. Einige Interessenten hatten wenig Ahnung von Erwachsenenbildung, andere
gefielen der Kirchenleitung nicht. Die Sache zog sich in die Länge.

Dann kam es auch noch zu einem Eklat. Obwohl sich die gesamte Tutorenschaft gegen eine
bestimmte Bewerberin ausgesprochen hatte, wurde sie von der Kirchenleitung gewählt. Un-
sere Tutoren gingen auf die Barrikaden. Sie statteten der Frau einen Besuch ab und überzeug-
ten sie, dass es besser sei, die Stelle nicht anzutreten. Oje, auf diese Weise gegen einen Be-
schluss der Kirchenleitung anzugehen, das gehört sich nicht! Nun schien die Bielefelder Son-
ne weniger freundlich auf die Arbeitsstelle, und auch ich bekam einen Teil des Ärgers ab.
Zwar hatten mich die Tutoren klugerweise nicht in ihre Pläne eingeweiht, aber es hieß eben
doch, ich hätte meine Leute "nicht im Griff". In solchen Kategorien zu denken, lag mir völlig
fern. In der Erwachsenenbildung geht es um Verstehen, Überzeugen und Anerkennen, aber
nicht darum, andere "im Griff" zu haben. Kirchenjuristen sehen das offenbar anders.

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis wir eine geeignete Nachfolgerin für Christoph Meier
gefunden hatten und ich mich endlich wieder meinen eigentlichen Aufgaben widmen konnte:
Maria Barutzky-Jürgens. Mit ihr habe ich eine Reihe von Jahren zusammengearbeitet, bis sie
als Kirchenrätin nach Bielefeld ging. Die Beziehung zu ihr war kühler als zu Christoph, mit
dem mich eine richtige Freundschaft verband. Aber sie verstand etwas von der Sache, war
ausgebildete Supervisorin und - was das wichtigste ist - die Zusammenarbeit mit ihr war lo-
yal, ohne Tricks und Intrigen. Dass wir es nie bis zum "Du" gebracht haben, war zu ver-
schmerzen. Auf Maria Barutzky-Jürgens folgte Antje Rösner, mit ihr war die Verbindung wie-
der etwas enger.

5.4 Miteinander wachsen – ein Projekt für Eltern-Kind-Gruppen


Fast zwei Jahre hatte ich durch die unglückliche Konstellation in der Arbeitsstelle verloren.
Nun konnte endlich wieder ein größeres Projekt in Angriff genommen werden. In fast allen
Kirchengemeinden gibt es Eltern-Kind-Gruppen (Krabbelgruppen, Miniclubs, wie auch im-
mer sich solche Angebote für Kinder bis zu drei Jahren nennen). Diese Gruppen werden
meist ehrenamtlich geleitet, mit viel Einsatz oft aber auch mit wenig Kompetenz. Selbst Sozi-
alpädagoginnen wissen meist nur wenig über Bedürfnisse von Kleinkindern und über die Ent-
wicklungsphasen in den ersten Lebensjahren. Sie versuchen beispielsweise, mit den Kindern
zu basteln, obwohl die Kinder noch keine Schere halten können. Für diese Gruppen musste
unbedingt etwas getan werden.

Mir schwebte eine Art abgespecktes Fernstudium vor. Zum Glück hatte ich völlig freie Hand
und genug Geld, um diesen Plan in die Tat umzusetzen. Ich suchte mir eine Projektgruppe
aus fachkundigen Frauen und Männern zusammen. Fast zwei Jahre lang diskutierten wir,

112
schrieben Texte, probierten Spiel- und Bewegungsanregungen. 1995 war "Miteinander wach-
sen in der Eltern-Kind-Gruppe" fertig für einen ersten Probedurchgang. Es besteht aus einzel-
nen Kursbausteinen, die sich je nach Bedarf unterschiedlich zusammensetzen lassen. Außer-
dem schulten wir Mitarbeiterinnen für den Umgang mit diesem Programm. Es sollte sich
durch ein Schneeballsystem über Westfalen ausbreiten. Das ist leider nicht in dem Maße ge-
lungen, wie wir uns das vorgestellt hatten. In manchen Regionen wurde es gut angenommen,
in anderen entschied man sich für andere Modelle. Aber es war ein gutes Produkt und kam
genau zur richtigen Zeit.

5.5 Die Vertreibung aus dem Paradies


Leider zogen am Horizont neue Wolken auf. Die Westfälische Kirche ordnete ihre Einrich-
tungen um. In Dortmund hatte sie ein Bürogebäude gekauft, dort sollten in einem “Haus Lan-
deskirchlicher Dienste” zentrale Einrichtungen untergebracht werden. Auch unsere Arbeits-
stelle stand zur Diskussion. Wir wehrten uns so gut wir konnten, verwiesen darauf, dass es in
Dortmund keine Übernachtungsmöglichkeiten für unsere Kursteilnehmer gibt. Man hörte uns
geduldig zu, aber wenn es um Macht und Einfluss geht, sind Argumente nur begrenzt wirk-
sam. Wir mussten umziehen. Mit der engen Nachbarschaft zum Tagungshaus war es vorbei.
Wir glichen fortan einer Schule, bei der Verwaltung und Klassenräume 40 km auseinander
liegen. Keine sehr praktische Lösung.

Für mich war die Entscheidung mehr als unglücklich. Schließlich war ich wegen der günsti-
gen Arbeitsbedingungen in Iserlohn, vor allem wegen der Nähe zur Akademie, nach Westfa-
len gegangen. Auch war mir Haus Ortlohn inzwischen richtig ans Herz gewachsen. Wir hat-
ten es gerade für viel Geld völlig umgebaut. Da ich in der Umbauzeit Vorsitzender des Lei-
tungsgremiums war, war es noch stärker als vorher "mein Haus" geworden. In Zukunft in der
Innenstadt von Dortmund arbeiten zu sollen, empfand ich - auch wenn sich rechtlich nichts
gegen den Beschluss der Kirchenleitung sagen ließ - als einen Vertragsbruch. So hatten wir
nicht gewettet! Die Fahrt zum neuen Arbeitsplatz erwies sich zudem als äußerst umständlich.
Erst 20 Minuten zu Fuß bis zum Iserlohner Bahnhof, dann 50 Minuten Bahnfahrt, dann noch
20 Minuten Fußmarsch quer durch die Dortmunder Innenstadt bis zu unserem neuen Domizil
am Junggesellenweg. Mit allen Wartezeiten ergab das fast vier Stunden vertane Lebenszeit
pro Arbeitstag. Nein, so hatte ich mir das nicht vorgestellt! Dass ich mir auch reine Heimar-
beitstage einrichten konnte und manche Termine direkt von Iserlohn aus zu erreichen waren,
machte die Sache nur unwesentlich besser.

Es kam aber noch schlimmer. Kaum hatten wir die neuen Räume bezogen, liefen wir mit di-
cken Hängebacken wie die Hamster herum. Die neuen Räume dünsteten Formaldehyd aus.
Wir flohen zurück nach Iserlohn. Weil die meisten Umzugskartons unausgepackt in Dort-
mund zurückbleiben mussten, begann eine chaotische Zeit. Wir konnten nur einen Notbetrieb
aufrechterhalten, suchten ständig nach Unterlagen - und das bei laufendem Fernstudium.
Mittlerweile bemühten sich Spezialfirmen um die Entgiftung unserer neuen Räume. Nach ein
paar Monaten gab es endlich Entwarnung. Wir zogen zum zweiten Mal nach Dortmund und
hofften, nun endlich wieder ungestört arbeiten zu können.

Angesichts solcher frustrierender Erfahrungen, will ich die positiven Seiten meiner Arbeit
nicht unterschlagen. Es machte einfach Spaß, in der Arbeitsstelle zu arbeiten. Auch in den

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schwierigen Zeiten hielten die Mitarbeiter phantastisch zusammen. Der Arbeitsstil war kolle-
gial und nur selten von Rivalitäten behindert. Vor allem mit den Tutorinnen und Tutoren kam
ich gut klar. Ich genoss es, zusammen mit anderen Projekte zu entwickeln. In einer Gruppe zu
arbeiten, in der sich alle gegenseitig schätzen, wo jeder seine Kompetenzen einbringen kann
und wo Kritik weiterführend geäußert wird, - das machte wirklich Freude und wog die
Schwierigkeiten, von denen ich berichtet habe, mehr als auf.

Oft waren unsere Projekte mit einer abschließenden Veröffentlichung verbunden. Da konnte
ich meine Erfahrungen aus dem grafischen Gewerbe gut einbringen. Außerdem hatte der
Computer bei uns Einzug gehalten. Ich stürzte mich auf die neue Technik und ihre Möglich-
keiten. Bald kaufte ich mir für zu Hause den ersten eigenen PC - den berühmten Commodore
64. Von diesen ersten Anfängen ging es dann immer weiter. Heute stehen gleich mehrere, na-
türlich modernere PCs neben meinem Arbeitsplatz, und ich kann mir ein Leben ohne ihre Un-
terstützung kaum noch vorstellen.

5.6 Und die eigene Familie?


Ein Pfarrer für Familienbildung sollte eigentlich eine richtige Bilderbuchfamilie vorweisen
können: Eine immer freundliche Ehefrau, die ihm den Rücken frei hält und ein Herz für Not-
leidende aller Art hat, dazu zwei oder drei süße Kinderchen, aus denen später Theologen oder
doch wenigstens Fachärzte werden. Mit einer solchen Familie konnte ich leider nicht dienen.
Kinder bekamen wir keine, und unser Adoptivsohn Dominik zeigte wenig Neigung, Karriere
zu machen. Wenn Kollegen voller Stolz von ihren erfolgreichen Sprösslingen berichteten,
wurden Erika und ich immer ganz still. Mit seiner Behinderung (ADHS) tat Dominik sich in
der Schule schwer. Oft haben wir uns gefragt, ob es für ihn nicht besser gewesen wäre, wenn
wir in Koblenz geblieben wären. Rheinland-Pfalz bemühte sich, die Hauptschule durch kleine
Klassen und gute Lehrer aufzuwerten. In Iserlohn sah die Sache anders aus. Kinder aus acht
Nationen tobten in Dominiks Klasse herum, und die Lehrer waren froh, wenn das Mobiliar
nicht angezündet wurde. Zum Schluss ging Dominik nur noch mit Springerstiefeln und
Schmetterlingsmesser bewaffnet hin.

Je stärker ihn die Fluten der Pubertät erfassten, um so unzugänglicher wurde er für uns. Mit
16 suchte er sich eine Art Ersatzfamilie, schlichte Menschen, die nach dem Motto lebten: vie-
le Kinder, viele Tiere, viel Alkohol. Erika und mir standen die Haare zu Berge. Als wir nicht
mehr weiter wussten, gingen wir zur Erziehungsberatung. Die verlief nach der Devise: Das
Problem ist nicht das Kind, das Problem sind die Eltern, denen das Verhalten ihres Kindes so
viel ausmacht. Immerhin hat uns die Beratung klargemacht, dass wir nur begrenzt für unser
Kind verantwortlich sind und dass wir vor lauter Sorge um seine Zukunft nicht das eigene
Leben vergessen dürfen.

Dominik verließ die Hauptschule ohne Abschluss, machte ein Berufsfindungsjahr, versuchte
eine Lehre als Koch - es war alles nicht das Richtige. Auch die Bundeswehr hatte er bald
über. Seine anfängliche Begeisterung für alles Militärische hatten sie ihm schnell ausgetrie-
ben. Enttäuscht erzählte er: “Wenn Du eine Frage hast, lassen sie dich so lange um den Ka-
sernenblock laufen, bis du diese Frage nicht mehr hast.” Nach meinen positiven Erfahrungen
mit der Inneren Führung hatte ich mir das etwas anders vorgestellt. Jedenfalls kam Dominik
zurück und war von aller militärischen Begeisterung geheilt..

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Die Frage der Berufswahl blieb weiter offen. Dominik versuchte zum zweiten Mal eine Aus-
bildung zum Koch, brach auch diese Lehre ab und landete schließlich als Küchenhelfer in
Haus Ortlohn. Als wir erfuhren, dass bei ihm Heroin im Spiel war, wussten wir auch nicht
mehr weiter. Zu allem Überfluss wurden wir auch noch Großeltern. Eine junge Frau aus dem
Berufsfindungsjahr behauptete, Dominik sei der Vater ihres Kindes. Plötzlich hatten wir ein
Baby und eine völlig überforderte Mutter im Haus. Das konnte nicht gut gehen. Dominik zog
sich immer weiter aus seiner Vaterrolle zurück. Vielleicht hatte er "den richtigen Riecher".
Die Sache mit der Vaterschaft war uns gleich ein wenig spanisch vorgekommen und endete
schließlich vor dem Richter. Nun bekamen wir es schriftlich: Dominik ist nicht der Vater die-
ses Kindes und wir sind nicht seine Großeltern. Erleichtert atmeten wir auf.

Auch die Drogengeschichte nahm ein gutes Ende. Dominik ging freiwillig zum stationären
Entzug. Danach suchte er sich eine Stelle in einem Kabellager. Endlich Licht am Ende des
Tunnels! Sehr geholfen hat Dominik seine Fähigkeit, hart gegen sich selbst zu sein. Wenn er
etwas erreichen will, kann er bis an die Grenzen seiner Möglichkeiten gehen. Das imponiert
mir sehr.

Vielleicht hat auch noch ein anderer Umstand dazu beigetragen, dass Dominik sich "an den
eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen" konnte. Er kam wieder in Kontakt mit seiner leibli-
chen Mutter. Zu der Zeit ,als wir Dominik adoptierten, meinten die Fachleute, die Beziehung
von adoptierten Kindern zu ihren leiblichen Eltern könne man vernachlässigen, Hauptsache
das Kind ist gut untergebracht. Inzwischen sah man das ganz anders. Als ich im Rahmen ei-
ner Fortbildung bei Bert Hellinger meine Familie aufstellen sollte, beharrte Hellinger darauf,
dass ich auch Dominiks leiblichen Eltern einen Platz im Raum zuweise. In diesem Moment
muss es in meinem Kopf "Klick" gemacht haben, jedenfalls war ich plötzlich daran interes-
siert, was aus Dominiks Mutter Agnes geworden ist. Es war nicht einfach, sie zu finden. Sie
war mehrfach umgezogen, ohne sich umzumelden. Dann kam mir aber doch ein Zufall zu
Hilfe, und ich erfuhr ihre aktuelle Adresse. Briefe und Telefonate gingen hin und her, und
schließlich konnten sich Mutter und Sohn in die Arme schließen, noch etwas zögerlich, aber
doch glücklich.In der Folgezeit gab es lebhafte Kontakte zwischen den beiden, sie hatten sich
viel zu erzählen. Später ist Agnes dann für einige Jahre nach Iserlohn gezogen bevor sie wie-
der ganz aus unserer Sichtweite verschwand. Ich denke, es war hilfreich, diese Verbindung
wieder zu knüpfen. Es ist einfach nicht gut, wenn Kinder an der Stelle von Eltern nur einen
weißen Fleck haben, den sie mit Phantasien füllen müssen. Offen bleibt die Frage, was aus
Dominiks Vater geworden ist. Für diese Suche fühle ich mich nicht mehr zuständig, die muss
er selbst in Gang bringen.

Die Geschichte von der wiedergefundenen Mutter hat noch einen interessanten Nebenaspekt.
Als wir Agnes zum ersten Mal zu Hause besuchten, sah es in ihrer Wohnung ungefähr so aus,
wie bei den Ersatzeltern, die sich Dominik mit 16 Jahren gesucht hatte. Es roch auch so und
der Hund begrüßte Dominik, als habe er immer zur Familie dazugehört. Kann es sein, dass
Adoptivkinder, die nichts über ihre Herkunftsfamilie wissen, diese Familie rekonstruieren
und inszenieren? Ich halte es für möglich und bin im Zusammenhang mit meiner Arbeit im-
mer mal wieder auf dieses Phänomen gestoßen. Für Hellinger-Fans sind solche Zusammen-
hänge ohnehin eine Selbstverständlichkeit.

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5.7 Drachenreisen
Das Vergnügen am Drachenbau hatte ich aus Koblenz nach Iserlohn mitgebracht. Es ließ sich
gut mit der Familienbildung verbinden. Wenn ich eine Familienfreizeit anbot oder anderen
beibrachte, wie man so etwas macht, war das Drachenbauen immer ein Programmpunkt.

Drachen kamen damals groß in Mode. In vielen Städten entstanden Drachenläden. Manche
hatten auch mein "Kleines gelbes Drachenbuch" im Regal. In dieser Broschüre hatte ich ein-
fache Bauanleitungen zusammengestellt. Zusammen mit dem Heft "Zehn-Minuten-Spiele für
die Schule” bildete es den Grundstock unseres Familien-Kleinverlages (oder besser: Kleinst-
verlages). Diesen “Verlag Erika Roch” hatten wir gegründet, weil ein Pfarrer kein Gewerbe
betreiben darf. Später sind dort noch eine Reihe von Heften für Eltern von Kleinkindern er-
schienen. Der Verlag machte uns nicht viel Arbeit, er lief einfach so nebenbei mit. Große Ge-
winne brachte er uns nicht, aber doch immer so ein kleines Zusatzeinkommen.
Für einen flotten Lenkdrachen konnte man vor zwanzig Jahren schon ein paar hundert Mark
ausgeben. Mein Motto beim Drachenbau war diesem Trend genau entgegen gerichtet: Mehr
als eine Mark muss ein Drachen nicht kosten, fliegen sollte er trotzdem gut. Also baute ich
meine Drachen aus Tragetaschen und mit den Stäben aiatischer Sonnenrollos, anstelle von
Spinnaker-Nylon und Glasfiberstäben, einfach, billig und ohne großen Zeitaufwand zu bauen,
was natürlich auch bei Familienfreizeiten von Vorteil war.

a. Ein Drachenfest in China

Wenn ich ein freies Wochenende hatte, fuhr ich immer mal wieder zu einem Drachenfest, um
zu schauen, was andere Drachenbauer so treiben. Außerdem wurde ich Mitglied im Drachen-
club Deutschland (DCD). Der DCD organisierte Reisen zu Drachenfesten in aller Welt. Unter
anderem hatte er ein Drachenfest in Weifang (China) im Angebot. Warum nicht mal nach
China fahren? Allein oder mit jemandem zusammen? Erika hatte kein Interesse an Weifang.
Außerdem musste sich ja auch jemand um unser Kind kümmern. Ich fand eine andere Reise-
begleiterin: Else Semmer. Wir kannten uns schon viele Jahre aus Fortbildungen. Else hatte
eine heimliche Liebe zu China, wollte unbedingt einmal auf der großen Mauer stehen, und als
ich sie fragte, ob sie mitkomme, sagte sie "Ja, wenn Erika einverstanden ist."

Else erwies sich als kluge und hilfreiche Reisebegleiterin. Ich kann mir keine Situation vor-
stellen, in der sie nicht ein passendes Gedicht aufsagt, meist von Bert Brecht. Auch war sie
schon einmal in Japan gewesen und konnte mir den Sinn der endlosen japanischen Fernsehse-
rien, die abends über den Fernseher flimmerten, erklären.

China war damals (1987) erst am Anfang des gewaltigen Umbruchs, von dem heutige Besu-
cher so begeistert und teilweise auch schockiert sind. Wir fanden sowohl plüschige Hotels
aus der Mao-Zeit wie auch nagelneue Wolkenkratzer vor, sahen primitive Holzkarren und
Züge mit eingebauten Fernsehern. China im Umbruch! Von den bekannten Touristenattraktio-
nen haben wir nur wenig mitbekommen, erlebten weder die Zuckerhut-Berge bei Guilin,
noch die Armee der Tonsoldaten, noch die Kaisergräber. Statt dessen arbeiteten wir uns von
Süd nach Nord von Drachenwerkstatt zu Drachenwerkstatt vor. Überall, wo wir hinkamen,
ließen wir unsere Drachen steigen, zum ersten Mal gleich nach Ankunft in Hongkong auf ei-
nem Berg mit herrlichem Blick hinunter auf die Stadt. Leider wurde der Ausblick durch eini-

116
ge tote Kühe, die auf der Drachenwiese herumlagen, getrübt. Unsere Gastgeber nahmen das
mit asiatischer Gelassenheit.

Von Hongkong aus ging es mit dem Zug nach Kanton, dann mit dem Flugzeug nach Schang-
hai und in einer schier endlosen Zugfahrt in den Nordosten, in die “Drachenstadt” Weifang.
Die Stadt liegt in der Provinz Shadong, südöstlich von Peking auf der Landnase, die in Rich-
tung Korea zeigt. Je näher wir an die Stadt herankamen, um so mehr Drachen zeigten sich am
Himmel, meist in Form von Vögeln oder Fischen. Bald sah der Himmel wie eine Kreuzung
von Voliere und Aquarium aus.

In Weifang wurden wir im Yuanfei Hotel ("Drachensteige Hotel", wir sagten: “Hotel Dra-
chensteigenberger“) untergebracht. Es war eben erst fertig geworden, und im Speisesaal wur-
den noch "Mädchen vom Lande" angelernt, wie sie Bestecke anstelle von Stäbchen neben die
Teller zu legen hatten. Die halbe Stadt war auf den Beinen, um die fremdländischen Gäste zu
bestaunen.

Am nächsten Morgen ging es dann richtig los. Hinter der deutschen Flagge zogen wir ins
vollbesetzte Stadion ein. Jubel, Grußworte, Böllerschüsse, Musik, Jubel... - ein Spektakel von
olympischen Dimensionen. Dass dem Festzug beim Einmarsch ein riesiger Osterhase voran-
getragen wurde, erheiterte uns, war aber durchaus ernst gemeint. Wir befanden uns im "Jahr
des Hasen". Nach dem offiziellen Teil durfte dann jeder noch seine mitgebrachten Drachen
steigen lassen, was natürlich zu massenhaft verhedderten Leinen führte. Es war aber auch ein
toller Anblick: Drachen im asiatischen Stil, also Blumen, Fische und Vögel, dazu buddhisti-
sche Heilige und hunderte japanischer Minidrachen ergänzt durch moderne westliche Schöp-
fungen wie Saurier und Telefonzellen, das alles flog kreuz und quer in der Luft herum.

Am folgenden Tag brachten uns Busse zu den Wettbewerben in eine ausgedörrte Salzsteppe,
draußen vor der Stadt. Es war ein spannendes Zusammentreffen von asiatischer Drachenbau-
kunst und modernem westlichem Drachenbau, auf einen Seite feinste Handwerksarbeit aus
gepaltenen Bambusstäben, auf der anderen Seite feinste High-Tech-Schöpfungen. Zwischen
allen diesen Meistern hatte ich natürlich keinerlei Chance, einen Preis zu erringen. Ich tröste-
te mich mit dem olympischen Gedanken: Hauptsache dabei gewesen!

Von Weifang aus ging unsere Reise weiter nach Bejing, wo wir unsere Drachen auf dem Platz
des himmlischen Friedens und vor dem Himmelstempel steigen ließen. Nur auf der Großen
Mauer hatten wir Pech. Es regnete in Strömen. Niemand mochte bei diesem Wetter seine
Drachen auspacken. Die letzten Stunden vor dem Rückflug verbrachte ich im Pekinger Zoo.
Nach all den Erlebnissen der vorangehenden Tage war ich müde, legte mich auf einer Wiese
zu einem Mittagsschläfchen nieder und erwachte von einem heftigen Stimmengewirr um
mich herum, alles Eltern, die ihren Kindern die schlafende "Langnase" zeigten. So bin ich,
wenn auch nur für kurze Zeit, nach den Panda-Bären die zweitgrößte Attraktion des Pekinger
Zoos gewesen.

Über Hongkong und London flogen wir zurück nach Düsseldorf. Es war der erste Flug auf
der direkten Route über Sibirien. Bei der Hinreise hatten wir noch den Umweg über Bombay
nehmen müssen. Jetzt gab es die ersten Anzeichen eines politischen Tauwetters. Die USA und
die Sowjetunion, jahrzehntelang verfeindet und manchmal am Rande eines Atomkrieges, re-
deten plötzlich wie vernünftige Menschen miteinander. Der "Wind of change" begann zu we-
hen.

117
Völlig ausgefüllt mit Reiseeindrücken kehrte ich zurück und bedauerte, die Rückreise nicht
mit der Transsibirischen Eisenbahn gemacht zu haben. Ich hätte mehr Zeit zum "Verdauen"
gebraucht. Besonders beeindruckt hat mich die selbstverständliche Würde, mit der uns die
Chinesen entgegen traten. Ich hatte immer wieder den Eindruck, allenfalls ein geduldeter
Gast zu sein. Als man in Deutschland noch im Bärenfell herumlief, gab es in China bereits
eine hochentwickelte Kultur, Musik, Theater usw. Wir Westeuropäer waren damals die Unter-
entwickelten, und ein Gefühl für diese kulturelle Differenz ist vielen Chinesen anzuspüren. In
Afrika hatte ich das ganz anders erlebt. Dort begegnete mir oft eine unterwürfige Haltung ge-
genüber Europäern.
Der zweite überwältigende Eindruck war die Kraft der Farben. Hier bei uns ist alles bunt, die
Farben überbieten sich gegenseitig. In China, jedenfalls im Norden, herrschen erdige Farb-
töne. Vor diesem reizarmen Hintergrund springt einem eine rote Flagge oder ein gelbes Tuch
förmlich ins Auge.

Der dritte nachhaltige Eindruck war ein Besuch bei Mao. Einbalsamiert liegt er in seinem
Mausoleum auf dem Platz des himmlischen Friedens. Stundenlang warten die Menschen in
einer langen Schlange, um dann für wenige Augenblicke ehrfurchtsvoll vor dem großen Füh-
rer zu verharren. Es sind viele Greise aus entfernten Provinzen darunter, die ihrem Enkel den
toten Mao zeigen. Keine Frage: Hier ruht “der letzte Kaiser von China".

b. Eine Reise ans Ende der Welt

Eine zweite Drachenreise führte mich 1990 ans Ende der Welt, nach Neuseeland. Die Kiwis
feierten den 250. Jahrestag ihrer Staatsgründung. Zu den vielen Feierlichkeiten aus diesem
Anlass gehörte auch ein mehrtägiges Drachenfest in Napier auf der Nordinsel. Die Stadt Na-
pier ist in Europa kaum bekannt, hat jedoch schon einmal weltweit für Schlagzeilen gesorgt.
1931 wurde Napier durch ein Erdbeben verwüstet und anschließend mit internationaler Hilfe
wieder aufgebaut, alles im feinsten Art-Deco-Stil. Für Freunde dieser Stilrichtung ist die
Stadt ein Geheimtip.

Neuseeland empfängt seine Besucher recht abweisend. Nach 23 Stunden Flug - mit Unter-
brechungen in Bankok und Singapur - will man eigentlich nur noch raus aus der engen Blech-
kiste. Aber so einfach geht das nicht. Erst einmal erscheinen Uniformierte mit der Sprühdose
und nebeln das Flugzeug mit Insektengift ein. Die Passagiere husten, röcheln, ringen nach
Atem, es gibt kein Erbarmen, erst müssen alle Insekten tot sein, bevor die Passagiere an die
frische Luft entlassen werden. Neuseeland will seine Obstplantagen gegen Fruchtfliegen
schützen, da müssen die Touristen ein paar kleine Unbequemlichkeiten in Kauf nehmen.

Unser Drachenfest fand in einem großen Park unmittelbar neben dem Flughafen von Napier
statt. Man hatte ihn während des Festes für den Flugbetrieb gesperrt. Wir mussten aber ver-
sprechen, unsere Drachen schnell herunter zu holen, falls eine Notlandung ansteht. Das Fest
verlief ähnlich wie in Weifang und wie die meisten Drachenfeste überall auf dieser Erde: Er-
öffnung, Schaufliegen, Wettbewerbe, Preisverleihung. Anders als in China waren hier mehr
moderne High-Tech-Konstruktionen zu sehen, alle nach dem Motto: der Größte, der
Schnellste, der Schönste. Einer war so gewaltig, dass man ihn an einer Baumaschine festma-
chen musste, sonst wäre er zusammen mit seinem Erbauer davongeflogen.

118
Mit meinen Mini-Fliegern hatte ich natürlich keine Chance gegen solche Superlative, aber
immerhin: Als ausgerechnet bei der Pressekonferenz der Wind völlig einschlief, blieb mein
kleiner Superflieger als letzter oben. Auch ein Triumph!

Für die Reise hatte ich mich mit zwei Drachenfreunden zusammengetan, Peter aus Düssel-
dorf und Wolfgang aus Berlin. Vor und nach dem Fest wollten wir uns noch ein wenig im
Land umschauen. Logisch, wenn man schon mal da ist...

Neuseeland wird zu Recht die "Schweiz in der Südsee" genannt. Es geht dort ganz und gar
europäisch zu. Hat man sich erst einmal an den Linksverkehr gewöhnt, fühlt man sich bald
wie zu Hause. Selbst in entlegenen Gegenden findet man überall ein sauberes Motel, eine
Tankstelle oder einen Arzt. Nur das Essen ist zum Weglaufen: ein riesiges Stück Fleisch ein
paar halbgare Kartoffeln, dazu noch etwas Gemüse auf dem Teller, das wars auch schon. Mc-
Donalds, Kentucky Chicken und viele kleine Imbissbuden mit Spezialitäten aus aller Herren
Länder haben uns vor dem Verhungern bewahrt.

Zum europäisch anmutenden Umfeld kommen die vielen exotischen Attraktionen wie Rie-
senfarne, rauchende Vulkane und Tümpel, in denen eine kochend heiße Brühe blubbert und
gewaltig nach faulen Eiern stinkt. Viereinhalb Wochen waren viel zu kurz, um alles Sehens-
werte zu bestaunen. Schließlich mussten wir ja auch noch einheimischen Drachenbauern wie
Peter Lynn einen Besuch abstatten. Die Zeit reichte gerade noch zu einem Sprung auf die
Südinsel, aber die Alpenlandschaft und den Kakapo, jenen Papagei, der in Eis und Schnee
lebt und am liebsten Autoantennen abknickt, haben wir nicht kennen gelernt. Man müsste
einfach nochmal hinfahren! Wenn es nur nicht so weit wäre.

Beim stop-over in Singapur erlebten wir noch ein kleines, nicht ganz ungefährliches Abenteu-
er. Wir gerieten in ein eher schlichtes Hotel. Unsere Vorgänger hatten das Zimmer unter Was-
ser gesetzt und wir planschten bis zum Knöchel in einer undefinierbaren Brühe herum. Auf
einmal gab es einen lauten Knall mit heftigem Funkenregen. Die Deckenlampe war abge-
stürzt und samt Zuleitung ins Wasser gefallen. Gut erholt, nahmen wir es gelassen. Wahr-
scheinlich war die Harmonie zwischen Yin und Yang gestört und jetzt hatte sich die Sache
wieder zurechtgeruckelt.

Singapur ist erfüllt von Menschengetümmel und von feuchtwarmer Hitze. Es gibt nichts, was
man dort nicht zu kaufen bekäme. Sogar einen Laden mit Kuckucksuhren fanden wir, alle
handgeschnitzt aus Russland, daneben Läden mit modernster Elektronik. Ich kaufte mir ein
kleines Aufnahmegerät und ging auf die Jagd nach Tönen. Dieses Gerät habe ich später noch
oft auf Reisen mitgenommen. Wo andere Fotos knipsten, fing ich mir akustische Erinnerun-
gen ein. Es ist verblüffend: Wenn ich so eine Cassette laufen lasse und die Augen schließe,
tauchen in meinem Kopf sofort wieder die zugehörigen Bilder auf. Ich stehe wieder an einer
Straßenkreuzung in Singapur, inmitten von lärmenden Lkw, hupenden Taxis, stinkenden
Bussen, knatternden Mopeds und spüre sogar die warme Luft um mich herum.

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5.8 Im wilden Westen
1995 animierte mich Bernd Schatz zu einer Reise in den Südwesten der USA. Er war schon
einmal dort gewesen und wollte seine Erinnerungen auffrischen. Wir flogen nach San Fran-
cisco, nahmen einen Leihwagen und zockelten über die Sierra Nevada und das Tal des Todes,
wo ich natürlich einen Drachen steigen ließ, nach Las Vegas und weiter bis nach Moab, dann
am Gran Canyon vorbei wieder in Richtung Küste nach San Diego und Los Angeles. Als Rei-
selektüre hatte ich mir das Buch "Der Strom, der bergauf fließt" mitgenommen. Es schilderte
eine Fahrt von Evolutionsbiologen und Hirnforschern durch die Stromschnellen des Colora-
do. Während sie (im Buch) durch die tosenden Wellen geschleudert wurden, blickte ich (in
reality) vom Rande der etwa 1800 Meter tiefen Schlucht auf eben diese Strudel hinab. Eine
spannende Reise - und ein spannendes Buch! Der Leser erfährt (im Buch) eine Menge über
die Entwicklungsgeschichte der Menschheit z.B. über die Erfindung der Tragetasche. Der
Vormensch mit Tragetasche (aus Blättern und Lianen) konnte mehr Steine mitnehmen und
war deshalb bei der Jagd erfolgreicher als sein Kollege ohne dieses Utensil. Ein gewaltiger
Fortschritt in der Geschichte der Menschheit!

Zwei Jahre später habe ich die Reise ein zweites Mal gemacht, diesmal mit Uwe Polinski. Al-
lerdings fuhren wir in umgekehrter Richtung, von Los Angeles nach San Francisco. Am
Schluss blieben uns noch ein paar Tage, um in aller Ruhe diese faszinierende Stadt zu erkun-
den, z.B. das Museum of Modern Art (SF-MOMA), in dem die ganze klassische Moderne
von Chagall bis Picasso versammelt ist. Dann flogen wir zurück in die "alte Welt". Unser
Flieger beschrieb eine große Kurve über der Stadt, wir blickten hinunter auf die Golden Gate
Bridge, über die wir am Vortag zu Fuß gewandert waren (40 Minuten pro Richtung). Leb
wohl Amerika, wahrscheinlich werden wir uns nicht noch einmal wiedersehen!

Meine Eindrücke von "Gottes eigenem Land" waren widersprüchlich. Die Weite der Land-
schaft, die Hilfsbereitschaft der Menschen und das multikulturelle Durcheinander beein-
druckten mich. Zurück in Deutschland, kam mir alles viel kleiner und kleinkarierter vor. Das
Bemühen um die Umwelt überraschte mich. In jedem Naturpark lernen die Kinder in bester
Pfadfindermanier sorgsam mit Tieren und Pflanzen umzugehen. Auf der Autobahn die linke
Spur für Menschen, die nicht allein im Auto sitzen, zu reservieren, darauf muss man erst ein-
mal kommen. Dass Raucher inzwischen systematisch verfolgt werden und im Restaurant bes-
tenfalls einen Katzentisch neben der Toilettentür erhalten - nun ja, das Land hatte schon im-
mer einen Sauberkeitsfimmel. Alles muss clean sein! Früher putzte man Hexen und Kommu-
nisten weg, heute Raucher.

Ungewohnt und schwer zu ertragen war für mich die große Kluft zwischen Arm und Reich.
Die einen fahren unbekümmert mit ihrem Mercedes oder Porsche spazieren, während andere
am Straßenrand Essensreste aus den Mülltonnen der Reichen klauben. Warum sollte man sich
seines Reichtums schämen, wo es doch jeder mit etwas Anstrengung vom Tellerwäscher zum
Millionär bringen kann? Erstaunlich ist, dass offenbar alle mit diesen Zuständen zufrieden
sind. Niemand möchte daran grundsätzlich etwas ändern.

120
5.9 Im Osten viel Neues
Die Nachricht vom Fall der Mauer erreichte mich übers Autoradio auf der Rückfahrt von un-
serem Wohnwagen am Sorpesee. Zu Hause angekommen, machte ich gleich zwei Radios an.
Das eine für den Deutschlandfunk, das zweite für Radio DDR. Wie unterschiedlich beide
Sender die Lage darstellten und kommentierten, war eine spannende Sache. Schade, dass ich
es nicht aufgezeichnet habe.

Eine Weile später besuchte ich eine gesamtdeutsche Bildungstagung. Wir arbeiteten im
Wechsel, mal Ossis und Wessis getrennt, mal beide Gruppen zusammen. Ich fühlte mich kei-
ner dieser beiden Gruppen zugehörig. Auf mein Drängen hin wurde dann noch eine dritte
Gruppe eingerichtet, für die “Wossis“, wie ich einer bin. Wir sind tatsächlich eine besondere
Gruppe, die im Osten Geborenen, die später "nach drüben" gegangen sind. Das fängt schon
damit an, dass wir "hüben" und "drüben" nicht eindeutig zuordnen können. Von hier aus ist
der Osten “drüben”, von der alten Heimat aus ist er “hüben” und der Westen “drüben”. Viele
von uns haben auch ein wenig ein schlechtes Gewissen, weil wir seinerzeit unsere Freunde
und Kameraden im Stich gelassen haben.

Ich hatte den Kontakt in Richtung Osten die DDR-Jahre über gehalten. Nach dem Grundla-
genvertrag und der Amnestie für Flüchtlinge war ich auch immer mal wieder in Leipzig, mei-
ner alten Heimat, oder in Ost-Berlin. Ich besuchte Freunde, brachte Bücher und Kaffee mit
und wusste - wie die meisten Ost-Reisenden - nicht so recht, was ich mit dem zwangsumge-
tauschten Geld anfangen sollte. Die Angst, bei einem dieser Besuche festgehalten zu werden,
hat mich nie ganz verlassen. Ich atmete jedes Mal auf, wenn ich die Grenze hinter mir hatte.
Dazu trugen nicht nur meine Kindheitserinnerungen, sondern auch aktuelle Erfahrungen an
der Grenze bei. Einmal hatte ich ein Äthiopisches Hungertuch als Mitbringsel dabei. Der
Grenzer runzelte die Stirn: "Äthiopisches Hungertuch? In Äthiopien herrscht doch jetzt der
Sozialismus. Wollen Sie etwa den Sozialismus beleidigen?" Ein andermal wurde ich am
Bahnhof Friedrichstraße für eine Weile in eine Zelle eingesperrt. Niemand hat mir damals et-
was zuleide getan, aber es war trotzdem schlimm, nicht zu wissen, wann man wieder frei
kommt. Ein Glück, dass wir das hinter uns haben!
Wenn ich Lust bekomme, meine alte Heimat wiederzusehen, steige ich um 10 Uhr 28 in
Dortmund in den Intercity und bin um 15 Uhr 18 in Leipzig. Gern zeige ich Freunden und
Bekannten “mein Leipzig“: Thomaskirche und Nikolaikirche, altes und neues Rathaus, Mäd-
lerpassage und Specks Hof, die Galerie für Zeitgenössische Kunst und das nagelneue Muse-
um der Bildenden Künste. In den langen Häuserzeilen der Vororte, wo kurz nach der Wende
nur ab und zu ein einzelnes Haus in neuem Glanz erstrahlte, bekommen die neuen Fassaden
langsam die Überhand. Wundervoll!

Seit etlichen Jahren fahre ich zu den Klassentreffen meines Abiturjahrganges an der Nikolai-
schule. 2006 konnten wir das "Goldene Abitur" feiern,, am richtigen Datum und im alten
Klassenraum. Wir gehören zu einer Generation, deren Biografie entscheidend von der Spal-
tung Deutschlands geprägt ist. Je nachdem, ob man in der DDR blieb oder "nach drieben
machte", lief das Leben in sehr unterschiedliche Richtungen. Auf diese Weise ist bei unseren
Treffen die deutsche Nachkriegsgeschichte immer präsent. Dass wir offen darüber sprechen
können, wie sich diese Geschichte in unseren Lebensläufen spiegelt, ist eine bewegende Sa-
che.

121
Wende gut, alles gut? Natürlich nicht, dazu gibt es zu viele Verlierer auf der östlichen Seite.
Trotzdem ist mir noch niemand begegnet, der sich die Mauer zurückgewünscht hat.

5.10 Überraschendes Ende und neuer beruflicher Anfang


Wie alle landeskirchlichen Pfarrstellen war auch meine Stelle befristet. Nach acht Jahren
musste ich entweder die Verlängerung beantragen oder mir eine andere Stelle suchen. Eine
schwierige Entscheidung! Um Klarheit zu gewinnen, suchte ich mir einen Supervisor. Mit
seiner Unterstützung arbeitete ich alle Vor- und Nachteile, alle möglichen Alternativen und
auch meine Einstellung zum Beruf, zur Kirche und zur Religion gründlich durch. Dann ging
ich zu meinen Dezernenten im Landeskirchenamt und sagte, dass ich weitermachen möchte.
Dafür war ein Beschluss der Kirchenleitung nötig, aber nachdem die Dezernenten mir ihre
Unterstützung zugesichert hatten, meinte ich, das könne nur noch eine Formsache sein. Mir
war auch kein einziger Fall bekannt, wo die Verlängerung nicht problemlos über die Bühne
gegangen war. Da hatte ich mich jedoch gründlich verrechnet. Zu meiner Überraschung be-
schloss die Kirchenleitung, meine Tätigkeit nicht zu verlängern. Nur einen Zuschlag von
zwei Jahren wollten sie mir geben, damit ich alle laufenden Arbeiten abschließen könne. Ich
war wie vor den Kopf gestoßen und eine Weile so durcheinander, dass ich einen Autounfall
baute. Zum Glück ist dabei weder Erika noch mir etwas Ernsthaftes passiert, aber das Auto
war hinüber, und wir brauchten ein neues.

Wie es zu jenem Beschluss der Kirchenleitung gekommen ist, habe ich nie erfahren. Insider
sagten: "Du musst Dir jemanden in der obersten Leitungsetage zum Feind gemacht haben."
Aber wen, und wann und wie? Spielte vielleicht auch die beginnende Finanzkrise der Kirche
eine Rolle und man wollte meine Stelle einsparen? Für diese Vermutung spricht, dass die
Stelle nach meinem Weggang tatsächlich gestrichen wurde. Aber darüber hätte man ja offen
mit mir sprechen können. So bleibt an diesem Vorgang etwas Rätselhaftes.

Wie sollte es nun mit mir weitergehen? Allzu tief konnte ich nicht fallen, denn ich war Pfarrer
auf Lebenszeit, muss also von meiner Kirche “versorgt” werden. Fand ich keine neue Stelle,
drohte mir schlimmstenfalls der vorgezogene Ruhestand. Im Landeskirchenamt zeigte man
sich zuversichtlich. "Da machen Sie sich mal keine Sorgen, Bruder Roch, wir finden schon
etwas Passendes für Sie. Notfalls richten wir eben einen Beschäftigungsauftrag ein." Ein sol-
cher Auftrag fiel nicht unter den Stellenstopp, er war eine persönliche Beauftragung. Jemand
sollte eine bestimmte fest umrissene Aufgabe erledigen. Dafür musste keine neue Stelle ge-
schaffen werden.

"Welchen Aufgabenbereich können Sie sich denn am ehesten vorstellen?" wurde ich gefragt.
Diese Frage war leicht zu beantworten. Nach zehn Jahren in der Erwachsenen- und Familien-
bildung wollte ich in diesem mir vertrauten Bereich bleiben. Klar war auch: Wir wollten nicht
noch einmal umziehen, denn das mussten wir am Beginn des Ruhestandes ohnehin noch ein-
mal tun. Also gut, ein Beschäftigungsauftrag für Erwachsenen- und Familienbildung im Kir-
chenkreis Iserlohn sollte es werden. Das war nun wieder dem Kirchenkreis nicht recht, denn
einerseits bekam er zwar einen zusätzlichen Pfarrer "geschenkt" (das Gehalt zahlte die Lan-
deskirche), aber der Mann verursacht ja auch Sachkosten.. Dem Erwachsenenbildungswerk
verdanke ich es, dass der Gordische Knoten dann doch noch durchgehauen werden konnte.
Das Bildungswerk richtete für mich eine Pädagogenstelle ein. Dafür gab es staatliche Zu-

122
schüsse, die meine Sachkosten abdeckten, und ich war nun für den Kirchenkreis ganz um-
sonst zu haben.

Zum 1. Januar 1996 konnte ich in Iserlohn anfangen. Die Dortmunder Arbeitsstelle richtete
mir ein großes Abschiedsfest aus und schenkte einen Rundflug, damit ich mir meine neues
Tätigkeitsfeld schon einmal aus der Luft anschauen konnte. Umgekehrt organisierte ich für
die Fachkollegen noch eine schöne Tagung zum Thema “Lebensraum Familie”.

So hatte alles doch noch ein gutes Ende gefunden! Ein restlicher Groll darüber, wie mein Ab-
gang aus der landeskirchlichen Ebene gelaufen war, ist mir allerdings geblieben. Ich finde:
wenn jemand mit meiner Arbeit nicht zufrieden ist, soll er mir das sagen und mir Gelegenheit
zur Besserung geben. Darin dürfte ein Pfarrer nicht schlechter gestellt sein als ein normaler
Angestellter, für den es das Instrument der Abmahnung gibt. Jemanden ohne Begründung
einfach fallen zu lassen, ist kein guter Stil, erst recht nicht, wenn der Arbeitgeber die Kirche
ist.

Der neue Start in Iserlohn war schwieriger als erwartet. Die Kollegen bei der Erwachsenen-
bildung des Kirchenkreises zeigten sich reserviert. Das war verständlich, denn da wurde ih-
nen jemand "von oben" verordnet. Niemand hatte mich gerufen, und es roch auch ein wenig
nach Strafversetzung. Andererseits war ich eine willkommene Verstärkung.

Gelernt hatte ich – neben dem Theologiestudium und vielen Jahren Praxis in der Erwachse-
nenbildung – eine ganze Menge. Ich war diplomierter TZI-Gruppenleiter und Rollenspiellei-
ter, besaß eine beraterische Grundausbildung und war sowohl bei den TZI-Leuten als auch
bei der Landeskirche als Supervisor anerkannt. Außerdem hatte ich neun Semester lang einen
Lehrauftrag für Sozialphilosophie und Sozialethik an der Fachhochschule in Bochum wahr-
genommen. In Anbetracht der Zurückhaltung, die manche Pfarrerskollegen gegenüber Fort-
bildungen an den Tag legen, war das sehr viel und wirkte wohl auch ein wenig abschreckend.

Anfangs besaß ich noch kein eigenes Büro im Iserlohner Kreiskirchenamt, sondern arbeitete
im Kellergeschoss unseres Reihenhauses. Dort schaute kaum einmal jemand vorbei, und ich
hatte den Eindruck: Ob es mich gibt oder nicht gibt, ist etwa genau so bedeutsam, wie wenn
in China ein Sack Reis umfällt. Das war ziemlich deprimierend, aber ich nutzte die Gelegen-
heit und schrieb nun endlich einmal auf, was man bei Planung und Durchführung von Famili-
enfreizeiten alles beachten muss. In den Kursen der Arbeitsstelle und im Rahmen der Pfarrer-
fortbildung hatte ich das Thema oft genug traktiert. Nun sollte ein Buch daraus werden. 1998
ist es unter dem Titel "Mit Familien unterwegs" im Grünewald-Verlag herausgekommen.

Später bekam ich dann doch noch ein Arbeitszimmer im Kreiskirchenamt und auch das Ver-
hältnis zu den Mitarbeitern der kreiskirchlichen Erwachsenenbildung besserte sich deutlich.
Sie schätzten meine vielfältigen Erfahrungen, und ich versuchte, mich nützlich zu machen.
Da mein Auftrag nur sehr allgemein beschrieben war, konnte ich selbst meine Schwerpunkte
setzen. Ich entschied mich für die Fortbildung der Leiterinnen von Eltern-Kind-Gruppen und
für die Unterstützung von Adoptiv- und Pflegeeltern. Außerdem stand ich für Supervisionen
zur Verfügung. Es waren geradezu ideale Arbeitsbedingungen. Niemand redete mir in meine
Arbeit hinein, und während überall gespart werden musste, hatte ich meinen festen Etat aus
staatlichen Fördermitteln, der für kirchliche Sparbeschlüsse unantastbar war. Beneidenswert!

123
5.11 Der Ruhestand rückt näher
Langsam wurde es Zeit, zu überlegen, wie Erika und ich im Alter leben wollten. Sollten wir
in Iserlohn bleiben oder weiter in den Süden ziehen? Sollten wir allein das Alter erwarten
oder mit Freunden eine Senioren-Wohngemeinschaft bilden? Zusammen mit Gleichgesinnten
haben wir diese Fragen lange hin und her gewälzt. Aber als Dominik signalisierte, dass er uns
gerne in der Nähe hätte, haben wir uns doch für Iserlohn entschieden. Nur eine andere Woh-
nung brauchten wir noch, mit weniger Fläche, behindertengerecht oder entsprechend umzu-
bauen, alles auf einer Etage und nicht zu weit vom Grünen entfernt. In der Iserlohner Heide,
einer Trabantenstadt aus den 70er Jahren, fanden wir, was wir gesucht hatten, die oberste Eta-
ge in einem Terrassenhaus, direkt am Wald und mit der Bushaltestelle vor der Haustür. Wir
kratzten alle unsere Ersparnisse zusammen und kauften die Wohnung. Im Sommer 1999 zo-
gen wir zusammen mit Katze Nena in das neue Domizil. Vorher hatten wir monatelang aus-
sortiert und weggeworfen, was sich im Laufe der Jahrzehnte an Überflüssigem ansammelt
hatte. Alte Briefe und Sammeltassen, jede Menge Urlaubsmitbringsel und andere Rumsteher-
chen, Bücher aus der APO-Zeit, Cassetten, Tonbänder und Schallplatten, die schon Jahre
nicht mehr abgehört worden waren und und und. Wir verkleinerten uns von 180 auf 118 Qua-
dratmeter, da konnte die Devise nur heißen: Raus, raus, raus! Die Trennung von all dem an-
gesammelten Krempel wirkte entlastend wie eine Fastenkur. (Was sich inzwischen wieder an-
gesammelt hat, steht auf einem anderen Blatt). Wir waren froh, diese Arbeit und den Umzug
nicht bis zum Beginn des Ruhestandes aufgeschoben zu haben.

Eine andere Aufgabe stand noch vor mir: Ich musste irgendwie in Iserlohn anwachsen. Wäh-
rend meiner Zeit bei der Landeskirche war ich viel unterwegs. Wenn ich zu Hause war, wollte
ich meine Ruhe haben. Also hatte ich kaum jemanden am Ort kennen gelernt. Das musste an-
ders werden. Aber wie? Sollte ich in einem Chor singen? Oder mich im Heimatverein enga-
gieren? Solange ich noch berufstätig war, schieden solche regelmäßigen Verpflichtungen aus,
denn in der Erwachsenenbildung wird gearbeitet, wenn andere frei haben. Schließlich fand
ich eine Aufgabe, die wie maßgeschneidert zu mir passte: das Radiomachen. Zum Rundfunk
hatte ich schon als Kind gewollt, jetzt konnte mir das Bürgerradio diesen Wunsch erfüllen.
Dort kann jeder Rundfunksendungen produzieren, die dann über den Lokalsender ausge-
strahlt werden. Ich ließ mir eine Sendereihe "Menschen in unserer Stadt" einfallen und bin
seitdem jeweils einmal im Monat auf Sendung.

Daneben habe ich die Zeichnerei wiederentdeckt. Zuerst waren es mehr Kritzeleien, später
wurden richtige Cartoons daraus. Man kann damit nicht zu besonderer Berühmtheit gelangen
und auch kein Geld verdienen. Das bleibt den wirklichen Könnern auf diesem Gebiet vorbe-
halten, deren Arbeiten in Zeitungen und Zeitschriften abgedruckt werden. Aber es ist eine an-
regende Beschäftigung und man kann dabei wunderschön "Dampf ablassen", also Ärger und
Frust in sozial verträglicher Weise loswerden. Zum Jahreswechsel produziere ich über viele
Jahre hinweg einen Cartoonkalender, den ich an Freunde und Bekannte verschenkte. Gele-
gentlich gibts auch mal eine Ausstellung. Auch das Fernsehen war schon da, weniger wegen
der Qualität meiner Zeichnungen, sondern weil ein zeichnender Pfarrer ähnlich wie ein jo-
delnder Briefträger ein seltenes Wesen ist.

124
„Tiergottesdienste gibt’s inzwischen überall,
aber mit Tier-Trauungen haben sie hier die Nase vorn.“

Kostproben aus meinen


Cartoon-Kalendern
„Eiliger Bimbam“
“... ich muß aufhören, gleich kommt die linke Hand!“ und „Handys hoch!“
125
Mit diesen beiden Interessengebieten - eins fürs Auge, eins fürs Ohr - war ich für den anste-
henden Ruhestand gut gerüstet. Langweilig würde es mir jedenfalls nicht werden. Bald kam
auch noch ein drittes Interessengebiet hinzu, bei dem ich meine grafischen Fähigkeiten mit
der Computerleidenschaft verbinden konnte. Ich begann, Internet-Seiten zu gestalten. Darin
habe ich es inzwischen zu einer gewissen Fertigkeit gebracht.

Wie lange ich noch arbeiten würde, blieb zunächst noch offen. Die Westfälische Kirche hatte
eine Vorruhestandsregelung eingeführt. Wer wollte, konnte ohne größere finanzielle Nachtei-
le mit 58 Jahren aufhören. Da es mir aber bei meiner Arbeit gut ging und wir mein volles Ge-
halt noch brauchten, um die Wohnung abzuzahlen, machte ich erst einmal weiter. Erst als das
neue Jahrtausend angebrochen war, hatte ich den Eindruck: Jetzt reichts! Zum ersten Oktober
2001, kurz nach meinem 63. Geburtstag, habe ich dann den Dienst quittiert und bin nun zwar
immer noch Pfarrer, aber wie es das Beamtenrecht formuliert "nicht mehr zur Dienstleistung
verpflichtet".

Wenn ich auf die rund 30 Jahre meiner Tätigkeit als Pfarrer zurückblicke, fällt die Bilanz
überwiegend positiv aus. Es ist ein interessanter, vielseitiger Beruf und ich habe immer wie-
der einen Platz gefunden, an dem ich meine Fähigkeiten gut einbringen konnte. Eine pasto-
rale Persönlichkeit (wie man sich einen Pfarrer vorstellt und wie er in Film und Fernsehen
gern dargestellt wird) bin ich nie gewesen und wollte ich auch nicht sein. Ich war auch kein
charismatischer Führer, sondern eher ein solider Handwerker.

Ich habe in diesen 30 Jahren viel gearbeitet und musste meine Kirche oft nach außen hin ver-
treten und verteidigen. Das hat sie mir nicht immer gedankt.

Den Pfarrberuf finde ich nach wie vor einen der schönsten Berufe, die es gibt. Wer allerdings
nicht gelernt hat, sich abzugrenzen, der droht in der Fülle der Aufgaben unterzugehen. Das ist
mir dank einer grundlegenden kritischen Distanz zur Kirche und zu jeder Art gefühlsbetonter
Frömmigkeit, aber auch dank hilfreicher Fortbildungen, erspart geblieben.

5.12 Ein Dank an Erika


Mein Leben wäre weniger abwechslungsreich und spannend verlaufen, hätte ich nicht Erika
an meiner Seite gehabt. Den mehrfachen Wechsel an einen anderen Ort, das Einarbeiten in
immer neue Aufgabenbereiche, das Durchstehen von Krisen aller Art kann ich mir ohne ihre
Unterstützung kaum vorstellen.

Ich bin immer wieder erstaunt, wie neugierig Erika auf Unbekanntes zugeht. Beispielsweise
hat sie mit 60 Jahren noch angefangen, Akkordeon zu lernen. Das wird sie nicht mehr bis zur
Perfektion entwickeln können, aber für einen Auftritt in der Iserlohner Fußgängerzone könnte
es noch reichen.

Erika hat fast ihr ganzes Berufsleben in der Familienbildung verbracht und ist in vielen Be-
reichen erfahrener und qualifizierter als ich. Viel Zeit und Mühe hat sie in die Entwicklung
und Verbreitung des “Prager-Eltern-Kind Programmes” (PEKiP) investiert. Aus dem kleinen
PEKiP-Verein, der seinerzeit in unserem Wohnzimmer gründet wurde, ist inzwischen eine
Organisation mit über 1000 Mitgliedern - alles ausgebildete PEKiP-Gruppenleiterinnen - ge-

126
worden. Damit nicht genug, machte Erika nach der TZI-Ausbildung auch noch eine Ausbil-
dung zur Supervisorin und später zur Fastenleiterin. So hatte ich für viele Bereiche meiner
Arbeit eine kompetente Gesprächspartnerin im Haus. Ich schätze dieses "Tür an Tür"-arbei-
ten, wo man einfach mal beim anderen hereinschauen und fragen kann: "Wie findest Du diese
Formulierung?” oder "Hast Du eine bessere Idee?"

Genau wie ich, war Erika viel beruflich unterwegs, allerdings mit einem größeren Aktionsra-
dius. Mit der Bahn, dem Auto und manchmal auch mit dem Flugzeug reiste sie zu ihren Kur-
sen in Dresden, Berlin, Leipzig und in Zürich, im Odenwald-Institut auf der Tromm und an
einem Dutzend anderer Orte. Manchmal haben wir uns viele Tage lang nicht gesehen. Die ge-
meinsamen Urlaube - sieben Mal im gleichen Hotel auf einer griechischen Insel - halfen, das
Defizit an Nähe wieder auszugleichen.

Meine Reisen in ferne Länder hat Erika nicht mitgemacht, statt dessen war sie ohne mich in
Indonesien und in Israel. Übrigens kein schlechtes Rezept für eine dauerhafte Ehe. Wer allein
etwas erlebt hat, kann dem Partner viel erzählen.

Bei der Feier unserer silbernen Hochzeit (1991) sagte ein Freund, um uns als Paar zu be-
schreiben: “Mal sieht man sie zusammen, mal sieht man jeden für sich alleine“. Ich hoffe,
dass wir noch lange in diesem Wechsel von Nähe und Distanz miteinander leben können,
vielleicht in Zukunft mit etwas mehr Nähe, weil man im Alter leichter friert.

127
Der sogenannte
Ruhestand
Biografische Notizen 2001 bis 2008

128
6.1 Ein neuer Lebensabschnitt beginnt
Am ersten Oktober 2001 wurde aus mir ein Rentner, genauer gesagt: ein Pensionär. Das ist
ein kleiner Unterschied mit finanziellen Folgen. Der Pensionär bekommt ein Ruhegehalt, das
er voll versteuern muss. Der Rentner braucht von seiner Rente nur den Ertragsanteil zu ver-
steuern. Von diesem Unterschied einmal abgesehen, stehen aber beide vor der gleichen Auf-
gabe: die über Jahrzehnte hinweg gewohnte Strukturierung des Tages durch den Beruf fällt
weg. Man hat plötzlich viel Zeit und muss sehen, wie man eine neue Struktur für die Tage,
Monate und Jahre, die einem noch bleiben, findet. Bei meinen vielseitigen Interessen, machte
mir das aber wenig Kopfzerbrechen. Ich würde ganz bestimmt nicht gelangweilt zu Hause
herumsitzen. Wie es dann genau gelaufen ist, habe ich auf den folgenden Seiten festgehalten.

An den Anfang meiner Rentnerzeit kann ich mich nur noch ungenau erinnern. Es muss unge-
fähr so gewesen sein: Heute klingelt der Wecker nicht, ich kann so lange im Bett bleiben, wie
ich möchte. Erinnerungen an meine Kindheit werden wach. Eigentlich ist es längst Zeit um
aufzustehen und zur Schule zu gehen, aber ich habe Fieber und bin krank. Zögernd hat meine
Mutter sich zu einem "Heute bleibst du im Bett!“ durchgerungen. So etwas geschieht sehr
selten. Meist lautet ihr Urteil "Hab dich nicht so, ab in die Schule!” Aber heute habe ich
Glück gehabt - wunderbar, gleich geht’s mir etwas besser. So ähnlich erlebe ich auch die ers-
ten Tage des sogenannten Ruhestandes. Natürlich bleibe ich nicht bis zum Mittagessen im
Bett liegen, aber den Tag etwas langsamer angehen lassen, das kann ich jetzt schon. Es ist
beispielsweise nicht schlimm, wenn ich den Bus in die Stadt verpasse. Da nehme ich eben
den nächsten.

In den ersten Wochen und Monaten dieser neuen Lebensphase gibt es noch eine Menge auf-
zuarbeiten. Die längst fällige Abrechnung mit der Krankenkasse wurde immer wieder aufge-
schoben, auf dem Schreibtisch liegt ein Stapel unerledigter Post, vor allem aber muss jetzt
ausgemistet werden. Protokolle, Tagungsnotizen, Zeitungsausschnitte... das alles werde ich
nie wieder brauchen. Also weg damit - oder vielleicht doch nicht? Dieser Holzschnitt von
Frans Masereel würde sich wunderbar für eine Andacht eignen. Jenes Gedicht von Rose Aus-
länder habe ich vor Jahren entdeckt und vorsorglich kopiert. Es tut mir in der Seele weh, so
etwas einfach wegzuwerfen. Wahrscheinlich spielen bei dieser Hemmung auch Erfahrungen
aus der Nachkriegszeit eine Rolle. Damals hieß es: Bloß nichts wegwerfen, man weiß ja nie,
wann man es noch mal brauchen kann! Als meine Mutter 1975 starb, haben wir einen ganzen
Baucontainer mit Aufgehobenem weggeworfen. Brillen, kaputte Wecker, Bügeleisen... alles
hatte sie vorsorglich aufgehoben. So weit sollte es bei mir nicht kommen, aber einiges ist
auch nach den ersten Durchgängen doch immer noch übrig, obwohl ich es sicher nicht mehr
brauche. Ausgelesene Bücher sind ein besonderes Problem. Bücher in den Müll werfen, das
macht man nicht, schon gar nicht, wenn man einmal im grafischen Gewerbe gearbeitet hat.
Für Bücher haben wir inzwischen eine gute Lösung gefunden. Sie kommen in einen Korb,
aus dem sich jeder, der uns besucht, ein paar mitnehmen kann. Und dann gibt es ja auch noch
die Möglichkeit, Texte und Bilder zu digitalisieren. Dias beispielsweise, lassen sich einscan-
nen und nehmen danach so gut wie keinen Platz mehr weg. Schallplatten und Musikcasset-
ten, können ebenfalls elektronisch "eingedampft" werden. Das alles kostet Zeit - und Zeit hat
der Ruheständler ja - jedenfalls mehr als die "werktätige Bevölkerung".

Obwohl in meinem Beruf keine abrupte Trennung von der Arbeitsstelle erfolgt, man wird ja
nicht von heute auf morgen aus dem Betrieb ausgesperrt, habe ich mich an meinem Arbeits-

129
platz kaum noch sehen lassen. Man bringt die früheren Mitarbeiter damit nur in Schwierig-
keiten. Auf der einen Seite gebietet die Höflichkeit, dem ehemaligen Kollegen, der da einfach
so hereinschneit, Zeit zu widmen. Andererseits hat eigentlich jeder genug zu tun und keine
Zeit zu verschenken.

Als Ruhestandspfarrer wird man oft wegen Gottesdienstvertretungen angefragt. Manche äl-
teren Kollegen übernehmen diese Aufgabe gerne. Ich habe mich damit zurückgehalten. Predi-
gen ist weniger meine Sache und ich hatte mich deshalb nach den ersten acht Berufsjahren als
Gemeindepfarrer, in denen regelmäßig Gottesdienste zu halten waren, in ganz andere Arbeits-
bereiche begeben. Taufen, Trauungen und Beerdigungen hatte ich seit Jahren nicht mehr ge-
halten. Nun wollte ich auch im Ruhestand nicht ein ehrenamtlicher Gemeindepfarrer sein.
Über den Einsatz anderer Kompetenzen hätte man reden können, aber daran war nun wieder
die Kirche nicht interessiert. Im Gegenteil: Ab 65 darf man grundsätzlich nicht mehr als lan-
deskirchlicher Supervisor tätig sein. Man greift sich an den Kopf, warum solche Fähigkeiten
nicht genutzt werden, wo doch andererseits ständig Geld fehlt. Aber so ist es nun einmal.

Der Umgang der Kirche mit den Fähigkeiten ihrer Mitarbeiter ist überhaupt ein trauriges Ka-
pitel. Eine Organisation dieser Größenordnung müsste eigentlich alles daran setzen, den rich-
tigen Mann und die richtige Frau an die richtige Stelle zu befördern - erst recht in Zeiten
knapper Kassen. Aber wie sieht die Praxis aus? Personalentwicklung ist in der Kirche ein
Fremdwort. Wer was besonders gut (oder besonders schlecht) kann, interessiert das Landes-
kirchenamt nicht. Wer welche Position besetzt, überlässt man dem freien Spiel der Kräfte.
Die Ergebnisse sind entsprechend. Meist setzt sich das “Peter-Prinzip” durch. Das besagt,
dass in Organisationen, in denen jeder ungehindert in eine höhere Position aufsteigen kann,
am Ende alle Stellen mit ungeeigneten Leuten besetzt sind. Damit will ich nicht bestreiten,
dass in der Westfälischen Kirche auch einige hervorragende Leute in leitenden Positionen sit-
zen. Sie sind jedoch mehr durch glückliche Umstände als durch gezielte Personalentwicklung
dorthin gekommen.

In der Gemeinde, in der ich wohne, habe ich noch eine Zeit lang Gottesdienstvertretungen
übernommen bis dann die Sache mit der Oblate passierte. Beim Abendmahl fiel mir eine Ob-
late zu Boden. Was tut man in so einem Fall? Ich habe sie einfach aufgehoben und zur Seite
gelegt. Im Mittelalter wäre die Sache vermutlich schlimmer ausgegangen. Wenn da eine ge-
weihte Hostie zu Boden fiel, wurde vermutlich gleich der Kirchenbann über den ganzen Ort
verhängt. Also: Kein großes Problem! Der Vorfall hatte mir aber deutlich gemacht, wie ange-
spannt ich bei so einer Vertretung war. Ich wollte alles besonders gut machen, schlief auch in
den Nächten davor schlecht. Diesen Stress musste ich mir nun wirklich nicht mehr antun und
so habe ich es dann ganz gelassen. Es gibt genügend andere Möglichkeiten, wie ich öffentlich
"zu Wort kommen kann", es muss nicht im Gottesdienst sein.

Die Theologie habe ich damit nicht aufgegeben. Ich gehe gerne in den Bibel-Gesprächskreis
hier in unserer Gemeinde in dem wir sehr offen und recht persönlich über biblische Texte
sprechen. Außerdem habe ich meine eigene Theologie aufgeschrieben. Auslöser war eine Ak-
tion, die von der Westfälischen Kirche im Jahre 2006 gestartet wurde. Aktive Kirchenleute
wurden ausgeschickt um passive Mitglieder zu besuchen, sich deren Fragen und Rückmel-
dungen anzuhören und sie wieder näher an die Kirche heranzubringen. Da machte sich auch
auf Holm Roch aus dem Sauerlande, aus der Stadt Iserlohn, mit Erika, seinem vertrauten
Weibe … Auch wenn diese Aktion nicht gerade professionell gemacht und mehr ein simpler
Aktivierungsversuch als ein ernsthaftes Bemühen um die sog. “Kirchenfernen” war, haben

130
diese Besuche mich doch nachdenklich gemacht. Wie wäre es denn, wenn wir den Spieß ein-
mal umdrehen, wenn also nicht die Besuchten gefragt werden, was sie vom Gottesdienst, von
der Bibel oder vom heiligen Geist halten, sondern wenn wir Kirchenleute darüber Auskunft
geben müssen. Daraus ist eine kleine Schrift mit dem Titel "Was glauben Sie, Herr Pfarrer?"
geworden. Das Heft ist allerdings nur im Freundeskreis zu haben. Noch scheue ich mich, den
Text wie andere meiner Veröffentlichungen einfach ins Internet zu stellen. Meine Theologie
weicht in einigen Punkten deutlich von der offiziellen Lehre meiner Kirche ab. Da möchte
ich mir unnötigen Ärger ersparen.

Die Arbeit an dieser Schrift hat mich gezwungen, mir über meine grundlegenden Überzeu-
gungen klar zu werden. Welche Aussagen über Gott und die Welt würde ich unterschreiben -
und welche würde ich nicht unterschreiben. Eigentlich sollte jeder Theologe sich aller paar
Jahre einmal einem solchen Klärungsprozess unterziehen.

Noch eine weitere Umstellung wartete auf mich. Über viele Jahre war ich, ebenso wie Erika,
beruflich oft unterwegs gewesen. Diese Reisen sind jetzt weggefallen und wir sind die meiste
Zeit beide in unserer Wohnung anzutreffen. Die ist mit 118 qm zwar nicht gerade klein und
doch hat man den Eindruck, dass der andere "immer" im Wege ist. Wenn ich an der Kühl-
schrank gehe, kramt Erika auch gerade darin herum, will ich eine E-mail verschicken, ist Eri-
ka auch gerade online und so weiter. Nur mit der Toilette ist es nicht so schwierig, weil es in
unserer Wohnung zwei davon gibt. Aber auch da gibt es konkurrierende Interessen, weil die
eine bequemer und mit Lesestoff ausgestattet ist, die andere jedoch nicht. Vielleicht liegt es ja
an meiner Vergangenheit als Einzelkind, dass ich mit dem Zusammenwohnen nicht so leicht
zurechtkomme. Oder es liegt den Sternen. Nach dem chinesischen Horoskop sind Erika und
ich beide im Jahr des Tigers (1938) geboren. Was das Zusammenleben unter einem Dach an-
langt, sagt ein Fachbuch: Zwei Tiger in einem Haus geht nicht! Es geht zwar doch, ist aber
gewöhnungsbedürftig. Hilfreich ist es die Einflussbereiche genau abzugrenzen. Das Ein- und
Ausräumen der Spülmaschine beispielsweise ist ganz allein meine Sache und es darf auch je-
der in seinem Zimmer seine eigene Ordnung bzw Unordnung organisieren.

Das Zusammenleben im Alter ist wirklich keine einfache Aufgabe und muss ganz neu ein-
geübt werden. Erschwert wird es durch altersbedingte Eigenheiten wie das nachlassende Hör-
vermögen verbunden mit schlechten Angewohnheiten. Immer wieder ertappe ich mich dabei,
dass ich mit Erika spreche, obwohl sie gerade aus dem Zimmer gegangen ist. Oder ich rede
mit ihr und gehe dabei selbst aus dem Raum. Vom Kopf her ist dieses Verhalten nicht zu be-
greifen, es ist eine Art von Unaufmerksamkeit. Kein Mensch würde sich am Telefon so ver-
halten. Da spricht man erst wenn die Verbindung hergestellt ist. Im direkten Kontakt redet
man einfach darauf los und mit zunehmendem Alter wird das auch noch schlimmer – furcht-
bar!

6.2 On air
Mit dem Radio-Machen beim Bürgerfunk hatte ich schon in meinen letzten Berufsjahren an-
gefangen. Dass ich dafür mehr Zeit investieren würde, sobald mir der Ruhestand dafür mehr
Raum lässt, war klar. Angefangen habe ich mit der Sendereihe "Menschen in unserer Stadt".
In diese Reihe stelle ich einmal im Monat einen interessanten Iserlohner oder eine interessan-
te Iserlohnerin vor. Über 130 solche akustischen Portraits sind in den letzten elf Jahren gesen-

131
det worden. Darauf bin ich richtig stolz, denn so alt werden Sendereihen im Radio selten.
Meine Gesprächspartner finde ich meist indem ich Augen und Ohren offen halte und gründ-
lich den Lokalteil der Zeitung lese. Manchmal geben mir auch andere Bürgerfunker einen
Tipp: "Da weiß ich jemanden für dich!" Oft benutze ich die Sendung, um neben einem Men-
schen auch ein Projekt vorzustellen. Man glaubt ja gar nicht, wie viele soziale oder kulturelle
Projekte es gibt. Da unterstützt eine kleine Gruppe ein Kinderkrankenhaus im Weißrussland,
anderen geben eine Blindenzeitung auf Toncassetten heraus oder bemühen sich darum, die
plattdeutsche Sprache wieder zu beleben. Solche Aktivitäten haben es verdient, bekannt ge-
macht zu werden und ich trage mit meinen Sendungen gerne dazu bei. Daneben gibt es natür-
lich auch originelle Einzelpersonen, wie jene Iserlohnerin die Dudelsack spielt (eine ausge-
sprochene Männerdomäne!) oder einen Iserlohner, der Musik macht, indem er mit Löffeln
auf seinem Körper trommelt. Die einzige Gruppe, für die ich mich nicht interessiere, sind
Leute, die ohnehin ständig in der Presse vorkommen, beispielsweise unser Oberbürgermeis-
ter, von dem an jedem zweiten Tag ein Foto in der Zeitung zu sehen ist.

Hinter einer einstündigen Sendung steckt eine Menge Arbeit. Ich muss einen Kontakt knüp-
fen, einen Termin vereinbaren, das Interview führen, das "Material" bearbeiten, passende Mu-
sik aussuchen, die Moderation sprechen, alle Einzelteile zusammenfügen und auf eine CD
brennen, die dann zum Sender geht. Sechs bis sieben Arbeitsstunden kommen da gut und ger-
ne pro Sendung zusammen.

Als ich anfing, wurde im Studio noch mit Tonbandmaschinen gearbeitet. Hatte sich der Inter-
viewpartner verhaspelt oder zu oft "Äh" gesagt, musste das mit einer Art Nagelknipser aus
dem Band herausgeschnitten werden. Es ging zu wie in Heinrich Bölls köstlicher Geschichte
"Dr. Murkes gesammeltes Schweigen". Heute erledigt der Computer das Schneiden mit ei-
nem Mausklick. Auch die Aufnahmetechnik hat sich radikal verändert. Früher schleppten wir
kiloschwere Reportageausrüstungen herum, heute genügt ein Minirecorder mit Flashspeicher,
nicht größer und nicht schwerer als ein Rasierapparat.

Dass die Geräte immer kleiner werden, kommt mir sehr entgegen, denn ich suche meine "Op-
fer" gern in ihrer Wohnung auf, anstatt sie ins Studio zu bitten. Im Studio steht so viel Tech-
nik herum, dass es manchem Besucher die Sprache verschlägt. In ihrer eigenen vier Wänden
sind die Leute viel gesprächiger. Dafür muss ich (und meine Hörer) allerdings akustische
Probleme in Kauf nehmen: mitten im Interview klingelt das Telefon oder (schlimmer, weil
nicht mehr zu entfernen) ein Kühlschrank brummt. Unvergesslich ist mir auch ein Hund, der
das Interview so lange mit Knurren und Jaulen begleitete, bis er vor die Tür gesetzt wurde,
wo er lautstark weitermachte. Das sind wahre “Sternstunden” im Leben eines Radiomachers.
Manchmal passt aber auch die vermeintliche Störung ganz gut zum Thema. In Iserlohn tobt
gerade ein heftiger Streit um eine Skulptur, die vor dem neuen Bahnhof aufgestellt werden
soll. Den meisten Iserlohner sind die Entwürfe viel zu modern. Die Zeitung druckt seitenwei-
se empörte Leserbriefe nach dem Motto: Und so etwas soll Kunst sein! Nein, etwas Zeitge-
nössisches mögen die Iserlohner nicht, auch wenn es vom renommierten Toni Cragg stammt.
Da soll doch lieber ein ortsansässiger Kunstschmied ein Reh, ein Wildschwein oder eine Eule
vor den Bahnhof stellen. Über dieses Thema habe ich mit dem Vorsitzenden unseres Kunst-
vereins eine Sendung gemacht. Der polterte so richtig los wider die Kleinkariertheit und das
Banausentum in unserer kleinen Stadt. Während des Gesprächs tobte draußen gerade ein hef-
tiges Unwetter und begleitete die Ausführungen des Dr. B. mit Blitz und Donner. In der Sen-
dung ist nun beides zu hören, die Meinung des Fachmannes und der Zorn der Götter. Herr-
lich!

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Zu der Reihe „Menschen in unserer Stadt“ kam später noch die Reihe "Ohrwurm" hinzu. Im
Radio braucht man Lückenfüller. Sollte jemand krank werden oder aus anderen Gründen sei-
ne Sendung nicht fertig bekommen, muss Ersatz im Regal liegen. (Dass einmal gar nichts
gesendet wird, ist für das Radio ein unvorstellbarer Gedanke!). Interviews sind als Lücken-
füller nicht geeignet, weil sie meist einen zeitlichen Bezugspunkt haben. Kurz vor Weihnach-
ten wünscht man als Moderator allen ein frohes Fest. Diese Sendung kann dann aber nicht bis
Ostern aufgehoben werden. Lückenfüller müssen überall hin passen und so kam ich auf die
Idee, eine Reihe mit vorgelesenen Texten zu machen. Zuerst hatte ich an moderne Literatur
gedacht, aber das scheiterte am Urheberrecht. Es ist einfach zu aufwändig, mit einer Rechts-
anwaltskanzlei in Zürich zu verhandeln, wenn man lediglich eine einzige Kurzgeschichte von
Woody Allen vorlesen möchte. Bei Autoren die siebzig Jahre tot sind, gibt es diese Probleme
nicht und so verlegte ich mich darauf, für den Ohrwurm bei älteren Autoren herumzustöbern.
Richtige Perlen lassen sich da finden. Heines "Rabbi von Bacharach" beispielsweise, die ver-
rückte Welt der Franziska von Reventlow (“Das Logierhaus zur schwankenden Weltkugel”)
oder der schwarze Humor des Erich Mühsam (“Die Erbtanten”). Leider gab es die literarische
Form der Short story im 19. Jahrhundert noch nicht. Man schrieb Romane oder Novellen,
Texte die vorzulesen länger als eine Stunde dauert. Fürs Radio müssen sie gekürzt werden
und da die Hörer auch einiges über den jeweiligen Autor erfahren sollten, gestaltete sich die
Arbeit an den Ohrwürmern doch etwas aufwändiger, als ursprünglich gedacht. Es machte
aber Spaß, weil ich selbst dabei eine Menge hinzu lernte. Siebzehn Ohrwurm-Sendungen sind
es insgesamt geworden, dann setzte ein neues Mediengesetz, von dem noch die Rede sein
wird, der Reihe ein abruptes Ende.

Aller guten Dinge sind drei! Zu den Menschen und dem Ohrwurm kam noch eine dritte Rei-
he, der "Grübel-Otto". Das waren kurze satirische Beiträge für eine Magazinsendung, die vie-
le Jahre lang immer am Mittwochabend lief. Dafür hatte ich mir einen gewissen Otto Grübel
ausgedacht, einen knotterigen Alten, der ständig an lokalen Ereignissen und Gegebenheiten
herummäkelt. Das hört sich dann beispielsweise so an:

“Wahrscheinlich haben sie schon gelesen oder gehört, dass unsere amerikanischen Freunde
in Tschechien und Polen einen Raketenschutzschild bauen wollen. Das hat folgenden Hinter-
grund: Weiter hinten, in einem dieser Schurkenstaaten, leben böse Menschen, die wollen un-
bedingt eine Atombombe bauen und wenn sie fertig ist, möchten sie die Bombe vorn an eine
Rakete dranschrauben und nach Amerika schießen. Das wollen sich die Amerikaner natür-
lich nicht gefallen lassen und deswegen soll jetzt dieser Schutzschild aufgebaut werden.
Wenn dann so eine böse Rakete aus dem Iran angeflogen kommt, wird sie vom Radar in
Tschechien erfasst, aus Polen startet blitzschnell eine Anti-Raketen-Rakete und diese gute
Rakete zerstört dann die böse Rakete.

Soweit so gut! Jetzt gibt es da aber ein kleines Problemchen. Die Einzelteile von den beiden
Raketen fallen natürlich irgendwo herunter. Vielleicht denken sie: Wenn dahinten etwas her-
unterfällt, dann müssen die Leute dort eben sehen, wie sie es wegräumen. So einfach ist das
aber nicht. Die Dinger fallen ja nicht senkrecht vom Himmel. Raketen fliegen ziemlich weit
oben und auch ziemlich schnell. Deshalb kommen die Teile ganz woanders herunter. Ich habe
einmal in meinem Weltatlas nachgeschlagen und bin richtig erschrocken. Vom Iran nach
Nordamerika führt die Flugbahn ziemlich genau über das nördliche Sauerland. Das heißt:
Wir Iserlohner können durchaus etwas abbekommen! Und dann haben wir ein Problem. Bei
den großen Raketenteilen ist das recht einfach zu lösen, da handelt es sich um Sperrmüll, den
stellen wir an den Straßenrand, füllen im Rathaus eine Anforderungskarte aus und das Zeug

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wird abgeholt. Bei elektronischen Bauteilen ist auch alles klar. Da gilt die Elektroschrott-Ver-
ordnung. Diese Teile müssen wir zum Bringhof bringen. Bleibt noch der Atomsprengkopf!
Der ist mit Sicherheit radioaktiv, also Sondermüll hoch drei. Keine Ahnung, was man mit
dem macht! Im Abfallkalender der Stadt Iserlohn steht jedenfalls nichts darüber. Da müssen
wir uns wohl etwas einfallen lassen. Denken sie mal darüber nach!”

An die 50 solcher Otto-Beiträge habe ich produziert und an die Kollegin vom MK-Magazin
weitergegeben, die sie dann in ihre Sendung einfügte. Dann hörte die Kollegin auf und das
Magazin samt Grübelotto verschwand aus dem Programm. Die schönsten Beiträge habe ich
danach zu einer "Best of" - CD zusammengestellt, die es natürlich nicht im Fachhandel, son-
dern nur bei mir gibt. Auch eine gedruckte Fassung der schönsten Otto-Beiträge gibt es. Die-
se Textfassung war gar nicht so einfach herzustellen, denn im Radio habe ich nach Stichwor-
ten improvisiert und das lässt sich nicht so leicht in "Schreibe" umsetzen. Mit dem Ergebnis
bin ich aber doch zufrieden. Ich habe auch noch einige Fotos hinzugefügt, damit auch Leser,
die mit den hiesigen Verhältnissen nicht vertraut sind, ihren Spaß haben. So gesehen hat ein
schriftliches "Produkt" auch Vorteile gegenüber einer Radiosendung.

Leider ist es um die Zukunft des Bürgerradios schlecht bestellt. Radio ist Ländersache und
die neue Landesregierung in Düsseldorf hat das Bürgerradio gehörig zurechtgestutzt. Die Ur-
sachen gehen weit zurück. Das Bürgerradio ist ein Ergebnis der berühmten 68er Jahre. Da-
mals empörten sich junge Leute gegen die herrschenden Verhältnisse, das sogenannte Estab-
lishment. Teil dieses Gärungs- und Klärungsprozesses war der Streit um den Zugang zu den
Massenmedien. Die wollte man nicht einigen Großkonzernen überlassen. Das Volk oder "die
Basis", wie man damals sagte, sollte sich selbst zu Wort melden, beispielsweise im Bürgerra-
dio. Als dann einzelne Interessengruppen, allen voran den Zeitungsverleger, an den Staat her-
antraten und privaten Rundfunk (Lokalfunk) machen wollten, sagten die Landesregierungen
in einigen Bundesländern: Einverstanden, aber ihr müsst jeden Tag ein paar Stunden Bürger-
radio senden. Seitdem sitzen da zwei unterschiedliche Interessengruppen in einem Boot. Die
Leute vom Lokalfunk, die mit Werbung Geld verdienen wollen, und die Bürgerfunker, die
nach eigener Lust und Laune Radio machen möchten. Das konnte auf Dauer nicht gut gehen.
Für die Lokalsender war das Bürgerradio immer eine Art "Laus im Pelz", die man lieber heu-
te als morgen losgeworden wäre. Unter einer SPD-Regierung war das nicht durchzusetzen,
als jedoch die jetzige schwarz-gelbe Koalition in Düsseldorf an die Macht kam, konnte der
Bürgerfunk endlich zusammengestaucht werden. Jetzt ging es nicht mehr um Bürgerbeteili-
gung, sondern darum, die Wirtschaft anzukurbeln. Deshalb: Nur noch eine Stunde Bürgerra-
dio pro Tag, keine fremdsprachigen Sendungen mehr, nur noch Themen mit Lokalbezug (also
keine Ohrwürmer!) und vor allem: kein Geld mehr für die Bürgerfunker! Um sie finanziell
nicht ganz sitzen zu lassen - sie müssen schließlich ihre Studios unterhalten - hat man sich
eine raffinierte Koppelung einfallen lassen. Geld gibt es nur noch, wenn die Bürgerfunker mit
Schulen kooperieren und mit den Kindern Medienpädagogik betreiben. Das ist etwa so, als
würde man den Sportvereinen nur noch Geld zukommen lassen, wenn sie den Sportunter-
richt in den Schulen übernehmen. Ob das neue Finanzierungskonzept funktioniert oder ob der
Bürgerfunk bald ganz ausstirbt, ist zur Zeit noch offen. Mich betrifft die Sache nicht so sehr,
denn ich kann nach elf Jahren leichter aufhören, muss es irgendwann sowieso aus Altersgrün-
den tun, aber jüngere Kolleginnen und Kollegen, die erst vor Kurzem ihr Herz ans Radioma-
chen verloren haben, gehen einer ungewissen Zukunft entgegen.

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Wenn man selbst Sendungen produziert, liegt es nahe, immer mal wieder rein zu hören, was
die Profis zustande bringen. Bei mir hat sich daraus eine richtige Sammelleidenschaft ent-
wickelt. Seit zwei Jahren sammle ich Hörspiele. Über 250 habe ich schon zusammengetragen
und auf der Festplatte meines Computers abgelegt, darunter etliche alte “Schätzchen” aus der
Nachkriegszeit. Der Deutschlandfunk und vor allem “Deutschlandradio Kultur” sind für sol-
che Perlen eine gute Adresse. Natürlich kann man solche Fundstücke nicht archivieren ohne
sie vorher angehört zu haben, wofür dann wieder ein Teil der Zeit, die man als Rentner hat,
draufgeht. So sieht man mich häufig an allen möglichen Orten mit einem Knopf im Ohr einer
Tonkonserve vom mp3-Player lauschend. Und Freunde und Bekannte wissen schon im Vor-
aus, was sie von mir zum Geburtstag bekommen: Wieder eine seltene Scheibe.

6.3 Ein wenig Kommunalpolitik


In vielen Städten gibt es Seniorenbeiräte. Die funktionieren ähnlich wie Behinderten- und
Ausländerbeiräte und sollen sicherstellen, dass die Interessen älterer Menschen ausreichend
berücksichtigt werden. Seniorenbeiräte sind kein Muss. Manche Städte meinen darauf ver-
zichten zu können (schließlich weiß der Rat der Stadt am besten, was für die Einwohner gut
ist!). Andere trommeln einfach Vertreter der Wohlfahrtsverbände, Diakonie, Caritas und
AWO, zusammen und nennen dieses Funktionärstreffen “Seniorenbeirat”. Hier in Iserlohn
haben wir eine andere und - wie ich finde - bessere Tradition. Bei uns wird der Seniorenbeirat
von der Bevölkerung gewählt. Als 2005 wieder eine Wahl anstand, dachte ich: Probieren
kannst Du es ja mal. Dass ich dann einen ganze Menge Stimmen erhielt und stellvertretender
Vorsitzender wurde, hat mich überrascht und gefreut. Seitdem stehen wieder Sitzungen und
offizielle Termine in meinem Kalender, genau wie in der Zeit meiner Berufstätigkeit.

Die Aufgaben des Seniorenbeirates sind ziemlich weit gespannt. Auf der einen Seite gibt es
eine Menge "Kleinkram” zu erledigen. Beispiel: Jemand beschwert sich darüber, dass an ei-
ner Bushaltestelle keine Straßenlaterne steht. Da muss etwas geschehen. Entweder muss man
die Haltestelle oder die nächste Laterne verlegen. Wenn die Busgesellschaft oder die Stadt-
verwaltung mitspielen, kann so ein Problem in wenigen Tagen gelöst werden. Gelegentlich
dauert es aber auch Jahre. Neben solchen Einzelaufgaben gibt es auch weitreichende und ent-
sprechend spannende Aufgaben: Wie wirkt sich der demografische Wandel auf unsere Stadt
aus? Brauchen wir mehr Pflegeheime und wenn ja, wieviele? Sollte vielleicht eins mit Tür-
kisch sprechendem Personal ausgestattet sein? Solche Fragen setzen eine Menge Fachwissen
voraus und ich bin immer noch dabei, mich in die Materie einzuarbeiten.

Ein Seniorenbeirat muss natürlich in Kontakt mit den älteren Mitbürgern bleiben. Dafür bie-
ten wir Sprechstunden an und stellen unsere Arbeit in Seniorentreffs vor. In manchen Städten
gibt es Seniorenzeitschriften. Das Problem dabei ist, wie sie zu den Empfängern gelangen
und nicht stapelweise ungelesen in Seniorentreffs herumliegen. Hier in Iserlohn haben wir
eine andere Lösung gefunden. Einmal im Monat stellt uns die lokale Tageszeitung, der Iser-
lohner Kreisanzeiger (IKZ), eine ganze Seite zur Verfügung. Da können wir unter der Über-
schrift BISS ("Bunte Iserlohner Seniorenseite") nach Herzenslust Informationen verbreiten
und erreichen wesentlich mehr Menschen als mit einer speziellen Seniorenzeitschrift möglich
wäre. Wir bieten eine Mischung aus Interviews, Sachbeiträgen, Tipps für das Leben im Alter,
Buchbesprechungen und vielem mehr. Meist ist auch eine Glosse und ein satirischer Cartoon
von mir dabei. Da ich die ganzen Berufsjahre über mit Veröffentlichungen zu tun hatte, macht

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mir die Redaktionsarbeit viel Vergnügen. Manchmal gerate ich aber auch unter Stress, wenn
die nächste Ausgabe ansteht und mir immer noch keine Situation, die ich mit satirischer
Übertreibung aufspießen könnte, eingefallen ist. Das kenne ich von meinem "Grübel-Otto".

6.4 Mit Pinsel, Stift und Feder


Von meinen Cartoons war schon die Rede. Diese Art der Zeichnerei betreibe ich nun seit vie-
len Jahren und finde langsam meinen eigenen Stil. Der ist recht minimalistisch. Die Einzel-
heiten einer Szene werden so weit reduziert bis man kaum noch etwas weglassen kann. Nor-
malerweise zeichne ich auch nur in Schwarzweiß. Während ich früher nur am PC gearbeitet
habe, nutze ich heute eine Mischung aus klassischer Handarbeit mit dem Bleistift und einem
Lichtpult und der Arbeit mit einem Grafiktablett. Es hat beides seine Vorteile. Eine ge-
schwungene Linie lässt sich mit dem Bleistift nun einmal besser ziehen als am Bildschirm,
Korrekturen (typisches Problem: der Daumen sitzt auf der Zeichnung falsch herum an der
Hand) sind dagegen am Bildschirm leichter, weil man nicht immer wieder von vorn anfangen
muss.

Neben der Zeichnerei gibt es bei mir auch noch die Abteilung “Malen”. Auch dabei habe ich
einen eigenen Stil gefunden. Schon als Kind habe ich gern vorüberziehenden Wolken nachge-
schaut und darin Bilder gesehen, Tiere oder Fabelwesen, Riesen oder Zwerge. Ähnlich ist es
mit Holzmaserungen an der Wand oder an der Decke. Auch da gibt es eine Menge zu entde-
cken. Ein Astloch entpuppt sich als Gesicht oder als Silhouette eines alten Mannes, eine ge-
riffelte Fläche zeigt ein Pferd oder einen Drachen. Dieses Prinzip der Hineindeutens von Bil-
dern in vorgegebene Strukturen habe ich ein wenig weiterentwickelt.

Knüllbild, Aquarell auf Toner (Original 16 x 24 cm)

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Am Anfang (die Kunstgeschichte wird diese Phase später die "Knüll-Phase" nennen) habe ich
einfach Papier zusammengeknüllt, dann das Blatt wieder auseinander gefaltet und unter den
Kopierer gelegt. Das ergibt ein unregelmäßiges Muster, das anschließend mit Aquarellfarbe
ausgestaltet werden kann. Die so entstandenen Bilder haben wegen des Kopierverfahrens et-
was Strenges, Holzschnittartiges, wirken expressionistisch.

Später habe ich eine zweite Methode gefunden (die "Rubbel-Phase"). Ich rolle Blütenblätter
auf dem Zeichenpapier hin und her. Das ergibt zartere Muster und kommt der Phantasie ent-
gegen. Wenn man mit leichten Aquarelltönen weiterarbeitet, ergeben sich sehr reizvolle Ge-
bilde, eine Art magischer Realismus, der zum Erzählen von Geschichten einlädt: Die alte
Gräfin (links oben im Bild) lebt seit Jahren im Streit mit ihrer Nichte (rechts daneben), beide
werden argwöhnisch beobachtet von Ferdinand, dem Familienfaktotum (rechts unten) und so
weiter.

Rubbelbild, Aquarell und gerollte Hibiskusblätter (Original 11 x 11 cm)

Leider geraten diese Bilder recht klein und ich habe noch keine Möglichkeit gefunden, sie zu
vergrößern. Wenn man sie mit Hilfe eines Gitters einfach größer nachzeichnet, ist der Reiz,
der sich aus dem luftigen Grundmuster und der Übermalung ergibt, dahin. Schade, denn ich
würde gern mal ein richtig großes Bild malen! Das ließe sich allerdings kaum in unserer mit
Bildern überfrachteten Wohnung unterbringen. Da ist es wohl besser, bei kleinen Formaten zu
bleiben.

137
Zum Glück lässt mir der Ruhestand viel Zeit um in Sachen Kunst einigermaßen auf dem Lau-
fenden zu bleiben, Ausstellungen wie die “Dokumenta” und Museen zu besuchen oder mal
im Tarot-Garten der Niki de Saint-Phalle vorbeizuschauen. Weil es mir hilft, Dinge, die ich
eine Weile im Kopf und im Herzen bewegt habe, am Schluss zu Papier zu bringen, ist aus der
Kunst-Begeisterung eine kleine Broschüre mit dem Titel "Was Kunst ist" geworden. Die Rei-
he solcher Privatdrucke ist damit weiter gewachsen. Den Sprung in den Buchhandel werden
diese Schriften natürlich nicht schaffen, aber das sollen sie auch nicht. Es sind - wie die CDs
mit meinen Sendungen - einfach Freundesgaben, kleine persönliche Geschenke, deren Reiz
darin besteht, dass man sie nirgendwo kaufen kann.

6.5 Abschiede
Erikas und meine Eltern sind schon lange tot. Meine Halbschwester Hilda Pfau starb 2003
mit 95 Jahren. Jetzt ist unsere eigene Generation dran. Jedes Jahr sind es wieder einer oder
zwei aus dem Freundes- und Bekanntenkreis, die uns für immer verlassen. Die einen gehen
still und unauffällig, andere auf dramatische Weise, wie Hannah Lothrop, die Begründerin der
Stillbewegung und Autorin zahlreicher Fachbücher. Eben waren wir noch mit ihr und ihrem
Mann Rob auf den Rheinhöhen bei Bacharach gewandert, da erreicht uns die Nachricht von
ihrem völlig überraschenden Tod. Der Föhn ist zu ihr in die Badewanne gefallen. Ihr Sohn,
mit dem sie gerade per Handy telefonierte, hat noch einen Schrei gehört. Auch ihr Mann hört
den Schrei, stürzt ins Badezimmer, kann aber nichts mehr machen - eine Szene, wie aus ei-
nem Psychothriller.

Besonders nahe ist mir der Tod von Else Semmer gegangen. Seit über 20 Jahren verband uns
eine vertraute Freundschaft. 1987 sind wir gemeinsam vier Wochen lang durch China gereist.
Danach habe ich Else oft in Ratingen besucht, in ihrer Wohnung voll mit Büchern und Erin-
nerungsstücken aus aller Welt. Ihr Leben war spannend wie ein Kinofilm. 1929 in Berlin ge-
boren, Tochter eines Industriellen, der in der Schweiz eine bürgerliche Familie und in
Deutschland eine zweite Familie, bestehend aus einer Geliebten - Elses Mutter - und gemein-
samen Kindern, besaß. Um ihren Kindern den Makel einer unehelichen Geburt zu ersparen,
geht Elses Mutter eine Scheinehe mit einem verarmten baltischen Adligen, der sich als Taxi-
fahrer sein Brot verdient, ein. Auf diese Weise wird Else adlig, aber nur vorübergehend, denn
später stellt sich heraus, dass der Adelstitel ihres Adoptivvaters erschwindelt ist. Nach den
Wirren der Kriegs und Nachkriegszeit lernt Else in Worpswede das künstlerische Weben und
knüpft Kontakte zu den führenden Leuten dieser Künstlerkolonie, insbesondere zu Walter
Müller, dem Schwiegersohn von Heinrich Vogeler. Else wird Kunsterzieherin und schockt
ihre bürgerliche Familie indem sie einen ausgemachten Linken heiratet, den Literaten und
Theatermann Gerd Semmer. Er hat das Schneiderhandwerk gelernt, sich in der Hitlerzeit als
zeitkritischer Puppenspieler unbeliebt gemacht, Theaterwissenschaft studiert und später bei
Erwin Piscator als Regieassistent gearbeitet. Zwei Kinder werden den beiden geboren und
immer ist das Geld knapp, denn in der Adenauerzeit gibt es wenig Raum für wirkliche oder
vermeintliche Kommunisten Else begibt sich auf die Reise zu einem Lehrerkongress in Ja-
pan, bleibt aber in Sibirien hängen. Als sie in Japan ankommt, ist die Tagung schon fast vor-
bei. Unterwegs verliebt sie sich in einen Jugoslawischen Völkerkundler und Weltreisenden,
der von der Idee besessen ist, der Weltfriede ließe sich sichern, wenn alle Menschen Esperan-
to lernen. Mit ihm korrespondiert Else lange (auf Esperanto, versteht sich) und es gibt nach
dem Tod ihres Mannes Gerd Semmer eine Reihe geheimnisvoller Zusammenkünfte.

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Eine außergewöhnliche Frau, diese Else Semmer! Es wundert nicht, dass ihr Lebensweg von
weiteren interessanten Männern gesäumt wurde, angefangen von einem indianischen Heiler
bis zu einem bekannten Schriftsteller, dessen Namen ich aber nicht verrate. In vorgerücktem
Alter hat Else noch angefangen, Geige zu spielen und es damit immerhin bis ins Düsseldorfer
Ärzteorchester gebracht. In der Psychologie und in der Astrologie war sie bewandert, wie
kaum jemand in meinem Bekanntenkreis. Else hatte die vielen Bücher in ihrer Wohnung
(fast) alle gelesen und es gab kaum eine Situation, in der sie nicht ein passendes Gedicht pa-
rat hatte. So waren unsere Treffen immer voller Anregungen. Dass sie mich in ihr Leben und
in dessen Geheimnisse einweihte, war für mich ein außergewöhnlicher Vertrauensbeweis. Zu-
dem verband uns "unser Kind". Dahinter verbarg sich, allen Gerüchten zum Trotz, kein We-
sen aus Fleisch und Blut, sondern ein Laptop. Den hatte ich Else als Ersatz für eine Schreib-
maschine geliehen, ein altes Gerät aus der Vor-Windows-Zeit. Else schrieb damit ihre biogra-
fischen Texte, kam aber mit der modernen Technik nicht immer klar. Wenn Erika mir sagte
"Else hat angerufen", wusste ich schon, wie der Satz weitergeht: "Es gibt wieder Probleme
mit eurem Kind." Da war dann eine baldige Reise nach Ratingen fällig.

Nun ist Else tot und es gibt keine Fahrten nach Ratingen mehr. Wenige Tage vor ihrem Ende
habe ich sie noch im Krankenhaus besucht. Da war sie von ihrer fortgeschrittenen Krebser-
krankung schon so entstellt, dass ich sie kaum wiedererkannt habe. Das war für mich, der ich
keine Erfahrungen mit sterbenden Menschen habe, ungewohnt und irritierend. Zusammen mit
Bettina, ihrer Tochter, habe ich an Elses Sterbebett leise einige Kinderlieder gesungen und so
haben wir voneinander Abschied genommen.

Elses Sterben hat mich im Blick auf die üblichen Vorstellungen vom Leben nach dem Tode
recht nachdenklich gemacht. Da wird ja gern behauptet, Sterben sei etwa so, als würde man
durch eine Tür in einen anderen Raum gehen. Aber gibt es dieses dauerhafte ICH, das so ein-
fach den Raum wechselt, wirklich? So schön und beruhigend diese Vorstellung sein mag, die
Erfahrung macht doch einige Fragezeichen dahinter. Es sieht viel eher so aus, als würde sich
das ICH im Prozess des Sterbens - bei dem einen schneller, bei dem anderen langsamer - auf-
lösen. Wer mit Demenzkranken zu tun hat, erlebt das sehr deutlich. Am Anfang des Lebens
ist es übrigens umgekehrt. Da ist ja auch das ICH, das wahrnimmt und aus Sinneseindrücken
eine “Welt” konstruiert, nicht mit der Geburt voll da, sondern es entwickelt sich langsam im
Lauf der ersten Lebenswochen und -jahre, kommt aus einem Dämmerzustand langsam zu
größerer Klarheit. Anstelle des Bildes vom Hinübergehen in andere Räume liegt mir deshalb
des Bild vom Ein- und Ausblenden, vom Auftauchen und Verdämmern näher. Damit will ich
niemandem die Vorstellung vom Weiterleben nach dem Tode nehmen. Ich reagiere allerdings
zunehmend allergisch, wenn sie allzu vollmundig vorgetragen wird oder wenn so getan wird,
als bestehe der Kern des Christentums im Glauben an ein Leben nach dem Tode. Religions-
geschichtlich stimmt das nicht. In der Antike glaubten so gut wie alle Menschen an ein Jen-
seits. Mit dieser Botschaft konnte man, salopp gesprochen, keinen Hund hinter dem Ofen
hervorlocken. Das Neue am Christentum war nicht der Jenseitsglaube, sondern der Glaube an
die baldige Veränderung der Welt.

Abschied nehmen müssen wir nicht nur von Menschen, sondern auch von vertrauten Orten.
2007 mussten wir uns von Haus Ortlohn trennen, dem Tagungshaus, dessen besondere Atmo-
sphäre mich 1986 nach Iserlohn gelockt hat und in dem ich so viele Tagungen und Seminare
besucht und auch selbst angeboten habe. Nun fiel es der kirchlichen Finanzkrise zum Opfer.
Ein Tagungshaus musste aufgegeben werden, aber welches? Das weit über Iserlohn hinaus
bekannte “Haus Ortlohn” oder das weniger bekannte “Haus Villigst” in Schwerte? Lange

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wurde darum gestritten. Dass es schließlich das traditionsreiche Haus Ortlohn und nicht das
weniger bekannte Haus Villigst traf, hat einen einfachen Grund: Haus Ortlohn gehört der
Kirche, lässt sich also zu Geld machen, Haus Villigst ist in Erbpacht, kann also nicht einfach
verkauft werden.

Mir wäre es umgekehrt lieber gewesen, nicht nur wegen meiner persönlichen Bindung an
Haus Ortlohn, sondern auch weil mit dem Weggang der Akademie unsere Stadt wieder eine
Attraktion verloren hat. Auch war Haus Ortlohn mit seiner Vollwertküche ein positives "Aus-
hängeschild" der Westfälischen Kirche. Aber so werden nun einmal Entscheidungen durch
scheinbar nebensächliche Faktoren bestimmt.

Nun wird die Arbeit der Akademie in Villigst fortgesetzt und Haus Ortlohn hat man an eine
freikirchliche Gruppe aus Australien verkauft, die hier ihre Europazentrale einrichtet. Beim
großen Abschlussfest waren viele der Ortlohn-Fans noch einmal beisammen und manche wa-
ren den Tränen nahe. Bevor Haus Ortlohn geschlossen wurde, hatte ich dort noch eine Aus-
stellung mit Arbeiten des Illustrators Herbert Holzing, dem verstorbenen Mann unserer Kob-
lenzer Freundin Christine, organisiert, und so noch einmal eine Brücke zwischen zwei Ab-
schnitten meines Lebens geschlagen, der Koblenzer Zeit und der Zeit unmittelbar danach, in
der ich in Haus Ortlohn arbeitete und - zusammen mit Dr. Sareika - für die Kunstausstellun-
gen verantwortlich war.

Auch in der Gemeinde in der wir jetzt wohnen, ändert sich einiges. Das Geld wird knapp und
es können nicht mehr alle Angebote aufrecht erhalten werden. Unseren Pfarrer müssen wir
uns seit Kurzem mit der Nachbargemeinde teilen. Eins unserer Gemeindezentren musste ge-
schlossen werden. Das zweite bleibt uns vorerst erhalten. Es ist nach Martin-Luther-King,
dem amerikanischen Bürgerrechtler, benannt. Schon als wir noch in einem ganz anderen
Stadtteil wohnten und ich nur gelegentlich hier vorbei kam, dachte ich: Das muss eine ganz
besondere Gemeinde sein, die ihr Zentrum nach einem Bürgerrechtler unserer Tage, statt
nach dem Reformator Martin Luther nennt. So ist es auch! Was sie hier mit begrenzten Mittel
auf die Beine stellen, kann sich sehen lassen.

Im Übrigen ist mir um die Zukunft der Kirche nicht bange, selbst wenn die Finanzen noch
knapper werden. Sollten sich einmal Kirchgebäude und Gemeindezentren gar nicht mehr fi-
nanzieren lassen, ziehen wir uns eben wieder in unsere Wohnungen zurück und gründen klei-
ne Hausgemeinden. So hat die Kirche schließlich einmal angefangen.

6.6 Die Flucht vor den Pollen


Heute ist ein schöner, sonniger Tag. Ich blicke auf das Mittelmeer. Halblinks, hinter dem Ho-
rizont liegt Zypern. Rechts sehe ich das Küstengebirge westlich von Antalya, links im Dunst
verschwindend die Tempelruinen von Side. Hinter mir erhebt sich die Kette des Taurusgebir-
ges. Eben hat der Kellner eine Tasse Tee und ein Glas Wasser vor mich hingestellt. Er kennt
mich seit vier Jahren, ist aber immer noch verwundert, wenn er mich auf meinem kleinen
Computerchen (ein Palm m515) tippen sieht. Immer wieder fragt er, warum ich denn im Ur-
laub arbeite. Vergeblich habe ich zu erklären versucht, dass ich kein richtiger Urlauber bin,
sondern für ein paar Wochen im Jahr meinen Wohnsitz verlege. Immer wenn bei uns in
Deutschland die Gräserpollen fliegen und mich mit Niesanfällen und zugeschwollenen Augen

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plagen, fliehe ich in ein Land, wo Palmen und Oleander anstelle von Gräsern wachsen. Das
ist seit sieben Jahren eine gute Lösung! Drei Jahre lang habe ich mich nach Kroatien geflüch-
tet, jetzt bin ich zum vierten Mal an der Türkischen Südküste, immer im gleichen Hotel.

In Kroatien war es, was die Landschaft anlangt, wunderschön und Dubrovnik ist eine reizvol-
le Stadt. Im Balkankrieg wurde zwar die Altstadt in Brand geschossen (trotz "Weltkultur-
erbe“!), heute ist aber alles wieder restauriert und repariert. Touristen flanieren durch die al-
ten Gassen mit den neuen Schicki-Micki-Läden. Nur in den Vororten sieht man noch manche
rauchgeschwärzte Ruine und andere Kriegsschäden. Die Hotels auf der Halbinsel Babi Kuk
wurden wieder zurecht geflickt. Sie strahlen den Charm von früheren DDR-Hotels aus. Der
Pool ist neu, edel, von gewaltigen Ausmaßen mit Blick auf die ebenfalls neue Hängebrücke,
aber im Hotel rosten die Moniereisen aus der Wand, niemand fühlt sich für den Müll, der in
den Gängen herumliegt, zuständig und die Verpflegung - naja. Kroatien hat nicht genug Devi-
sen, da kann es keine Bananen und keine Pampelmusen zum Frühstück geben. Ersatzweise
liegen ein paar mickrige Äpfel herum. Damit es nach mehr aussieht, werden sie aufgeschnit-
ten, sind im Nu braun und niemand will sie mehr essen. Drei Jahre lang habe ich mir das ge-
duldig angesehen und dann auf Türkei umgeschaltet. Ein Unterschied wie Tag und Nacht!

Das Auseinanderbrechen Jugoslawiens, mit allen seinen Folgen, scheint mir ein lehrreiches
Beispiel, wie man ein Land ruinieren kann, indem man sich für Krieg anstelle von Interes-
sensausgleich durch Verhandlungen entscheidet. Fast jeder Staat auf dieser Erde muss ver-
schiedene Völker und Kulturen unter einen Hut bringen. Auch die Türkei hat ihr "Kurden-
problem" und merkt so langsam, dass es nicht durch Unterdrückung zu lösen ist. Wie man so
ein Problem zufriedenstellend lösen kann, habe ich 2007 in Südtirol gesehen. Dort hat man
zunächst die deutsche Sprache und Kultur unterdrückt und damit einen Bürgerkrieg riskiert,
später aber umgeschaltet und auf weitgehende Autonomie gesetzt. Jetzt sind nicht nur die
Straßenschilder zweisprachig (deutsch / italienisch), auch die Kinder wachsen zweisprachig
auf. Einen besseren Start in eine zunehmend vernetzte Welt kann man sich kaum vorstellen

Ob Israelis und Palästinenser das eines Tages auch begreifen? Erika und ich unterstützen seit
etlichen Jahren den "Friedenskoch", einen Palästinenser, der schon lange in Köln lebt und auf
dem Kirchentag und bei ähnlichen Gelegenheiten arabische Gerichte kocht. Damit will er das
Geld für einen Kindergarten in Ramle (Israel) zusammenbringen, in dem christliche, jüdische
und muslimische Kinder miteinander leben sollen. Wir denken, es ist sehr wichtig, solche
Projekte zu fördern, weil sie das Vorurteil, so etwas ginge nun einmal nicht, widerlegen.

Ruth Cohn, die Begründerin der TZI, hat es auf die einfache Formel gebracht: Jeder ist parti-
ell mächtig, er kann mehr verändern als gar nichts, und er ist zugleich partiell ohnmächtig
und muss ertragen, was er selbst, andere Menschen und die Natur ihm eingebrockt haben. In
den 68ern sahen wir uns einseitig auf der Seite der Allmacht und meinten, in wenigen Jahren
die ganze Welt umkrempeln zu können. Heute schlägt das Pendel nach der anderen Seite aus:
Gewalt, Krieg, soziale Ungerechtigkeit - da kann man ja doch nichts machen! Die Wahrheit
liegt wohl in der Mitte. Wenn jeder tut, was er kann - nicht mehr aber auch nicht weniger -
kommen wir schon ein Stückchen weiter.

Bis auf ein Ausnahme habe ich die Flucht vor den Pollen immer ohne Erika angetreten. Ein-
mal fliegt Erika nicht gern, zum anderen sind wir, wenn es darum geht, Neues auszuprobie-
ren, grundverschieden. Das zeigt sich, wenn wir essen gehen. Erika wählt sich Speisen aus,
die sie noch nie probiert hat, immer nach dem Motto: “Mal schauen, wie das schmeckt!” Ich

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dagegen entscheide mich für etwas, das mir schon beim letzten Mal zugesagt hat. Da weiß
man, was man hat! So kommt es, dass ich jedes Jahr zwei oder drei Wochen als Single Ur-
laub mache, was ja auch seine Vorteile hat. Beispielsweise habe ich ein Doppelzimmer ganz
für mich alleine, kann mich richtig ausbreiten, die Klamotten auf dem zweiten Bett verteilen
und niemand sagt: “Warum liegen deine Sachen schon wieder auf meinem Bett herum?” Die
Nachteile dieser Single-Reisen will ich aber nicht verschweigen. In “meinem” Hotel findet
man durchweg Paare, seien es nun junge Leute - meist mit Kindern - oder auch Großeltern -
meist mit Enkeln. Da sitzt so ein armer Single abends oft allein am Tisch mit seinem Rotwein
oder Raki und trinkt dann leicht ein Glas zu viel. Paare setzen sich (fast) immer zu Paaren.
Durchbricht man dieses Prinzip und fragt, ob man sich dazu setzen darf, erntet man erstaunte
Blicke: “Ja finden sie denn wirklich keinen anderen Platz?” Kein Wunder also, dass ich nach
zwei oder spätestens drei Wochen das Alleinsein gründlich satt habe und gern nach Iserlohn
zu meiner Erika zurückkehre. Unseren gemeinsamen Urlaub machen wir dann in einer ande-
ren Jahreszeit, wenn sich die Gräserpollen ausgetobt haben.

Beim abendlichen Herumhocken im Hotel kann man interessante Bekanntschaften machen,


oft mit Leuten aus meiner alten sächsischen Heimat. Einmal habe ich einen ehemaligen
Oberst der Nationalen Volksarmee kennen gelernt. Der war in der DDR bei der Raketenab-
wehr und hat es nach der Wende zum Leiter eines Supermarktes gebracht. “Kein großer Un-
terschied”, sagte er, “damals mussten die Raketenköpfe richtig im Regal liegen (de Ragehdn-
göbbe mussdn rischdsch im Regal lieschn), jetzt die Salatköpfe – alles Logistik!”

Einmal habe ich ein Schweizer Ehepaar kennen gelernt, beide in heftigem Kontrast zum lo-
cker-legeren Umfeld des Urlaubshotels, äußerst korrekt gekleidet. Sie hatten gerade eine
Rundreise durch Kappadokien hinter sich. Auf meine Frage, wie ihnen die Türkei gefalle,
antwortete der Mann: “Ein schönes Land, aber die Währung ist nicht stabil.” So einen Satz
kann nur ein Schweizer zustande bringen!

Ein andermal hatte ich einen vom Leben sichtlich hart geschlagenen Mann zum Gegenüber,
wieder einen Schweizer, diesmal einen Wirt aus Graubünden, dessen Wirtshaus nicht mehr so
richtig lief. Seine Frau, eine kleine, rundliche Person, erzählte von ihren zahlreichen Katzen,
von denen immer mal wieder eine überfahren werde, weil der Gasthof an einer Hauptstraße
liegt. Die Frau sah selbst wie eine wohlgenährte Katze aus, trug eine Menge Goldschmuck
und eine samtenes Bändchen um den Hals. Als der Mann seine Frau vorstellte, sagte er: “Das
ist meine dritte Frau, die anderen beiden sind mir weggelaufen.” Er sagte tatsächlich “weg-
gelaufen”, so als würde es sich um Haustiere handeln. Was soll man dazu sagen? Vielleicht:
“Miau!”

6.7 Ein Blick in die Zukunft


Nachdem nun die ersten sieben "Rentnerjahre" herum sind, blicke ich einigermaßen beruhigt
in die Zukunft. Das Älterwerden hat sich als langsame und keineswegs nur schreckliche Ver-
änderung herausgestellt. Körperliche Einschränkungen nehmen zu, haben aber noch keine ka-
tastrophalen Folgen. Zumindest werden wir noch einige Jahre in unserer Wohnung, die nur
begrenzt behindertengerecht ist, bleiben können. Natürlich freue ich mich, wenn ich für jün-
ger gehalten werde, als ich wirklich bin. Vor einigen Jahren habe ich an der Kasse des Spren-
gel-Museums in Hannover gefragt, ob es für Senioren eine Ermäßigung gibt. “Ja”, sagte die

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Frau an der Kasse “aber nicht für Sie, sondern erst ab 65!” Ich war gerade 67 geworden und
habe flugs meinen Ausweis gezückt. Das hat gut so richtig gut getan!

Schön ist es, immer mehr den Jüngeren überlassen zu können, nach dem Motto: Jetzt seid ihr
dran! Schade finde ich allerdings, dass diese Übergabe an die kommenden Generationen im
Bereich unserer Familie nicht wie gewünscht gelaufen ist. Wir haben keine leiblichen Kinder
und auch keine Enkelkinder. Konni, die Frau unseres Adoptivsohns Dominik, hat aus ihrer
ersten Ehe zwei Töchter in die neue Beziehung eingebracht. Die sind beide schon in der Pu-
bertät und probieren gerade aus, wie man die Erwachsenen am schnellsten “auf die Palme”
bringen kann. Für Großeltern mit völlig anderen Vorstellungen von den Wichtigkeiten des
Lebens kann das ziemlich nervig sein. Ein eigenes Enkelbaby, wie ich es gern auf meinem
Bauch herumkrabbeln ließe, kann es nicht ersetzen. Da fehlt mir was, aber ich muss das wohl
oder übel als Schicksal hinnehmen.

Man kann es allerdings mit den Enkeln auch übertreiben. Im Freundeskreis erlebe ich man-
che Großmutter, die nur noch um ihre Enkel rotiert. Dem göttlichen Kinde werden bombas-
tische Hausaltäre mit silbern gerahmten Fotos errichtet. Die eigenen Interessen schrumpfen
auf ein Nichts zusammen. Beim letzten Klassentreffen in Leipzig haben wir versucht, für die
kommenden Jahre einen veränderten Termin zu finden. Es scheiterte daran, dass bei jedem
Terminvorschlag mindestens eine Beteiligte sagte: "Geht nicht, da hat mein Enkel Geburts-
tag!"

Meine Frau Erika hat übrigens für das fehlende Enkelkind einen guten Ersatz gefunden. Sie
hilft regelmäßig einer Frau, die Drillinge bekommen hat, indem sie mit den Dreien spielt und
sie badet. Auch eine Möglichkeit, die Verantwortung für die Zukunft wahr zu nehmen.

An dieser Stelle schließe ich vorerst meine biografischen Notizen aus den ersten sieben Ru-
hestandsjahren. Mal schauen, was das Leben im Alter noch so alles mit sich bringt. Eines Ta-
ges wird es mir nicht mehr gelingen, Text in den PC einzutippen – aber davon reden wir jetzt
noch nicht. Als Nächstes stehen erst einmal zwei siebzigste Geburtstage an, der von Erika
und mein eigener. Danach sehen wir weiter.

H.R.

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lichen damit die Herausgabe weiterer Veröffentlichungen

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