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Herrschende Klassen http://www.uni-muenster.de/PeaCon/global-texte/g-m/herrschendeklas...

H.J. Krysmanski
Herrschende Klassen
Diskussionspapier zur VI. InkriT-Konferenz, Berlin 9.-12. Mai 2002

1. Aktueller Ausgangspunkt für meinen Beitrag sind zwei Diskurse, einmal um das Buch
'Empire' von Michael Hardt und Antonio Negri, zum anderen um die derzeitige konservative
Empire-Debatte in den USA (Paul Kennedy, Robert Kaplan etc.). Beide Diskurse haben den
Vorteil, daß sie die Herrschaftsfrage in den Globalisierungskontext stellen und daß sie das
aktuelle Handeln 'herrschender Klassen' theoretisch, historisch
und politisch zureichend perspektivieren.

a) Hardt und Negri sprechen von einer


dreischichtigen Struktur des globalen
Herrschaftszusammenhangs (the pyramid of
global constitution). Die oberste Schicht (unified
global command) besteht aus der Supermacht
USA, einer ausgewählten Gruppe von
Nationalstaaten (G7), verschiedenen 'Clubs' wie
dem Pariser oder Londoner Club, dem World
Economic Forum in Davos sowie einem
vielfältigen Netz weiterer (informeller) Slide
Vereinigungen (heterogeneous set of Show
associations). Die mittlere Schicht (network of
international capitalist corporations) wird
bestimmt durch die transnationalen Konzerne: sie
nur für
organisieren die Kapitalflüsse, technologische Internet
Entwicklungen und Bevölkerungsbewegungen; Explorer 5+
die Konzerne 'teilen' sich diese Aufgaben mit
einer größeren Gruppe von Nationalstaaten
(general set of sovereign nation states) sowie vielfältigen lokalen und regionalen
Organisationen. Die unterste Schicht des globalen Herrschaftszusammenhangs bilden
die 'Mechanismen der Repräsentation' der Interessen des 'globalen Volkes', der
'Multitude': die politischen (parlamentarischen) Systeme der Nationalstaaten, die
Vereinten Nationen, Nichtregierungsorganisationen und vielfältige Basisbewegungen,
Initiativen usw. Hier findet sich beispielsweise der Satz, daß NGOs die lebendige
Kraft (vital force) der Völker in allgemeine Biopolitik verwandeln können ...

b) Das Wort Imperium (empire) wird neuerdings auch von konservativen


amerikanischen Intellektuellen und Politikberatern aufgegriffen. "Es ist eine Tatsache,
daß seit dem Römischen Reich kein Land kulturell, ökonomisch, technologisch und
militärisch so dominierend gewesen ist wie die USA heute." (Charles Krauthammer)
Seit Max Boot vom Wall Street Journal im Herbst 2001 in einem Aufsatz, 'The Case
for American Empire', die militärische Besetzung von Afghanistan und Irak mit der
stabilisierenden Wirkung begründete, welche die Britische Herrschaft im 19.
Jahrhundert in dieser Region hatte, breitet sich die Empire-Idee schnell aus. Amerika
sei ein 'Imperium im Entstehen' ('an empire in formation'), sagt Charles Fairbanks von
der John Hopkins University. Paul Kennedy, Yale University, behauptet gar, es habe
noch nie in der Geschichte ein solches Ungleichgewicht der Macht gegeben. Die bis
dato ausführlichste Darlegung aus dem Empire-Lager stammt von Robert Kaplan:
Warrior Politics: Why Leadership Demands a Pagan Ethos ('Eine Politik für Krieger:

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Warum Führung ein heidnisches Ethos braucht', Random House, 2001). Kaplan
schlägt vor, daß die führenden Politiker der USA sich mit den antiken Chronisten
beschäftigen sollten: denn historisch habe sich kaum etwas geändert. Also warum
nicht vom Zweiten Punischen Krieg lernen, oder von Kaiser Tiberius? Und Paul
Kennedy verweist auf die Tatsache, daß Amerika sich schon oft wie ein eroberndes
Imperium aufgeführt hat: "Schon seit die ersten Siedler in Virginia ankamen, waren
wir eine imperiale, eine erobernde Nation." Und, fährt er fort, dieses imperiale
Verhalten dauert an: "Die Vereinigten Staaten haben Militärsstützpunkte in 40
Ländern. Beim Angriff auf Al Qaeda und die Taliban haben wir Kriegsschiffe von
Großbritannien, Japan, Deutschland, Spanien und Italien aus in Bewegung gesetzt."
Die 'Empire-Gelehrten' (New York Times) konzedieren, daß Amerika heute nicht nur
mit roher Gewalt operiert, sondern ökonomische, kulturelle und politische Mittel
einsetzt. Man möchte andere Völker lieber zu Amerikanern machen als sie mit Krieg
zu überziehen. "Wir sind immer noch ein attraktives Imperium", sagt Max Boot. Und
aus genau diesem Grunde müsse man sich für eine Pax Americana stark machen.
Gerade in einer anarchischen Welt, mit Schurkenstaaten und terroristischen Zellen,
biete eine den Globus beherrschende USA den besten Garanten für Frieden und
Stabilität. "There's a positive side to empire," sagt Robert Kaplan. "It's in some ways
the most benign form of order."

Vorteil dieser Diskurse ist es auch, daß sich die Empirie der herrschenden Klassen mit
einiger Hoffnung auf Allgemeingültigkeit auf eine spezifische Klasse, nämlich die
amerikanischen Geld- und Machteliten, konzentrieren kann und daß möglicherweise dort
eine neue 'Qualität' der Herrschaft sichtbar wird.

2. Die systematische Bestimmung 'herrschender Klassen' geht aus von den Kategorien der
historisch-materialistischen Enwicklungstheorie (Krysmanski/Tjaden) und auch von den
Konnotationen des 52. Kapitels des dritten Kapitalbandes: "Die Eigentümer von bloßer
Arbeitskraft, die Eigentümer von Kapital und die Grundeigentümer, deren respektive
Einkommenquellen Arbeitslohn, Profit und Grundrente sind, also Lohnarbeiter, Kapitalisten
und Grundeigentümer, bilden die drei großen Klassen der modernen, auf der kapitalistischen
Produktionsweise beruhenden Gesellschaft." (MEW 25, 892) Die wichtigste Konnotation
lautet, daß diese drei Klassen nicht eo ipso herrschende bzw. beherrschte sind. Herrschende
Klassen können vielmehr erst systematisch begriffen werden a) im Kontext der
Produktionsverhältnisse, b) im Kontext der Überbauten, c) im Kontext des Weltsystems.

a) Produktionsverhältnisse: P. sind soziale Verhältnisse in bezug auf die Produktion


und das Zusammenwirken von Arbeitskräften und Produktionsmitteln. Der Begriff
bleibt grundsätzlich auf das Soziale der ökonomischen Dimension konzentriert. Der
Begriff bleibt weiterhin auf die funktionalen Verhältnisse der (Re-) Produktion von
Arbeitskräften und Produktionsmitteln, also auf das System der gesellschaftlichen
Produktion, bezogen. Außerdem ist es sinnvoll, vom System der P. zu sprechen, um
die Tatsache zu berücksichtigen, daß im (welt)gesellschaftlichen Zusammenhang ganz
unterschiedliche P. und Produktionsweisen ineinanderwirken. Im System der
allgemeinen P. können Eigentumsverhältnisse, Verwertungsverhältnisse,
Verteilungsverhältnisse und Arbeitsverhältnisse unterschieden werden.
aa) Eigentumsverhältnisse beziehen sich auf die 'soziale Funktion' der
Produktionsmittel, auf Regelungen der Verfügung über die sachlichen
Produktionsfaktoren. Der Kern kapitalistischer Eigentumsverhältnisse ist das
Privateigentum an den Produktionsmitteln, auch und möglicherweise
insbesondere des Privateigentums am allgemeinen Arbeitsgegenstand, der
Biosphäre. Insofern treffen sich heute an diesem Punkt die Kapitalisten- und die
Grundeigentümerklasse auf bemerkenswerte Weise. Dies ist auch der Fokus
aller Mystifikationen (Privatisierung, private wealth, Refeudalisierung).

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ab) Verwertungsverhältnisse meinen die 'soziale Funktion' der den


Produktionsmitteln anhängenden Arbeitskräfte, ausgebeutet werden zu können.
Sie beziehen sich auf Regelungen der Ausbeutung der menschlichen
Produktionsfaktoren im Prozeß der Wertschöpfung. Der 'soziale' Kern der
kapitalistischen Verwertungsverhältnisse sind also immer subtilere,
gesellschaftlich kaschierte, durch Management und Sicherheitsapparate
organisierte Ausbeutungsformen.
ac) Verteilungsverhältnisse meinen die 'soziale Funktion' der den Arbeitskräften
zugeordneten Produktionsmittel, Regelungen der Konsumtion der im
Produktionsprozeß geschaffenen Güter, insbesondere auch Regelungen der
produktiven Konsumtion (Wirtschaftspolitik). 'Sozialer' Kern der
kapitalistischen Verteilungsverhältnisse sind Operationen der Umverteilung von
'unten' nach 'oben' bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung eines Grundkonsens
(minimaler Verteilungsgerechtigkeit, Sozialpolitik).
ad) Arbeitsverhältnisse beziehen sich auf die 'soziale Funktion' der
Arbeitskräfte, auf Regelungen der Entfaltung des gesellschaftlichen
Handlungspotentials, das allein in den menschlichen Produktionsfaktoren steckt.
'Sozialer' Kern der kapitalistischen Arbeitsverhältnisse ist die Entfaltung aller
menschlichen Produktivkräfte (im Kontext der Verwertung aller
Produktionsfaktoren) um der Mehrung des privaten Reichtums willen.

b) Überbauten: Klassischerweise werden Herrschaftsverhältnisse, Dominanzen,


Hegemonien usw. nicht bezüglich der Produktionsverhältnisse, sondern bezüglich der
Steuerung der Produktionsweise (des Wirtschaftssystems) insgesamt diskutiert, also
als Überbauphänomene, insbesondere hinsichtlich der Rolle des Staates. Dies ist auch
heute noch angebracht, denkt man etwa an das mittlere Stratum des globalen
Herrschaftszusammenhangs bei Hardt und Negri. Vor allem hinsichtlich der
Entwicklung des Gesamts der Produktivkräfte (Technologiepolitik, Ressourcenpolitik,
Bildungspolitik) und des Gesamts der Produktionsverhältnisse (Konsensbildung,
Interessenausgleich, Zielvorstellungen usw.) sind verallgemeinerte
Herrschaftsoperationen (und die entsprechenden Akteure) vonnöten. Zugleich bleiben
aus der Sicht der historisch-materialistischen Entwicklungstheorie die Prozesse der
Verwertung (Mehrung des privaten Reichtums) und der Verteilung (Erhaltung eines
Grundkonsens in Verteilungsfragen) zentral - und tief in der 'Basis' der
Produktionsverhältnisse verankert.

c) Weltsystem: Die Ebene des Weltsystems spielt herrschaftstheoretisch eine immer


wichtigere Rolle. Systematisch handelt es sich hier um Steuerungsprobleme
hinsichtlich eines Weltzusammenhangs, der keineswegs allein durch die
kapitalistische Produktionsweise bestimmt wird, sondern unterschiedliche
Produktionsweisen und Reste von Produktionsweisen in sich vereint. Gleiches gilt für
die Überbauten: auch hier existieren und interagieren vielfältigste Staats- und
Regierungsformen und politische Kulturen. Überhaupt ist dies das Feld der 'Cultures
of Globalization' (Fredric Jameson, Masao Myoshi). Herrschaftsoperationen (und die
entsprechenden Akteure) richten sich hier - gemäß dem obersten Stratum bei Hardt
und Negri - auf den Zusammenhang des 'Systems der Produktionsweisen', etwa auch
auf Gegensatzwahrnehmungen wie 'Islamischer Fundamentalismus vs.
Informationskapitalismus'. Ich würde auf der Ebene des Weltsystems sogar von der
Existenz von zwei 'Geopolitiken' sprechen, bezogen auf die physikalische
Ressourcenqualität des Planeten (Industrie) einerseits und die virtuelle Vernetzung der
Kommunikationen (Cyberspace, Finanzsysteme, Kultur) andererseits. Durch diese
beiden Geopolitiken werden heute 'Eigentumsrecht' und 'Menschenrecht' redefiniert.
Solche Operationen zeitigen neuartige, globale Herrschaftsmechanismen und Akteure,
die unter das Thema 'herrschende Klassen' fallen.

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Insgesamt ermöglicht die Ausschöpfung des systematischen Potentials der Kategorien der
historisch-materialistischen Entwicklungstheorie einen differenzierten Begriff der
herrschenden Klassen als eines Netzwerks von Gruppen, Schichten und 'classes', die an
unterschiedlichen Funktionsstellen des kapitalistisch dominierten Weltsystems, und
insbesondere auch in den Produktionsprozessen selbst, für seine Stabilisierung und
Weiterentwicklung sorgen. Wobei Herrschaft bedeutet, daß diese Steuerungsoperationen
immer auf Kosten 'beherrschter Klassen' erfolgen, also Ausbeutung und Entfremdung
erzeugen.

3. Nach solcher systematischen 'Ableitung' wäre theoriegeschichtlich über


Differenzierungsversuche des Herrschaftsgeschehens und der Akteure zu diskutieren, die
sich im Umfeld der historisch-materialistischen Klassentheorie vollziehen. Es kann sich hier
nur um eine Auswahl handeln. Dabei wären z.B. imperialismus- und dependenztheoretische
Ansätze zu berücksichtigen (bis hin zu den genialen Vereinfachungen Fidel Castros), auch
die scholastischen Beiträge der Stamokap-Theorie. Für die Soziologie wären
elitentheoretische Ansätze (vor allem Pareto) relevant, die Abwehr des Klassenmodells von
Ralf Dahrendorf bis Ulrich Beck, die Eliminierung der Subjekte von Herrschaftsoperationen
durch die Systemtheorie, die weitestgehende Vernachlässigung der Oberschichten in der
Sozialstrukturforschung, das 'vergessene Bürgertum' (Rainer Rilling). Etwas genauer
möchte ich mich mit Antonio Gramscis und Pierre Bourdieus Beiträgen zur Frage der
herrschenden Klassen auseinandersetzen. Vor allem aber liegt mir, wegen der Rolle der
Supermacht USA und seiner Geld- und Machteliten, an der Tradition des amerikanischen
Power Structure Research. Diese Tradition geht auf Franz Neumanns Faschismusanalysen
zurück und hat bis heute das Bewußtsein für die Gefahr des Umschlags (kapitalistischer)
Herrschaftsoperationen ins Antidemokratische wachgehalten.

a) Ein wichtiger Beitrag zum Problem des Zusammenhangs von nationalen und
internationalen Klassenkonflikten und zum Entstehen eines Weltklassensystems
stammt von Antonio Gramsci. Gramsci hat sein Hauptwerk, die 'Gefängnishefte',
schon um 1930 in politischer Haft geschrieben. Er kritisiert die Konzepte der
'permanenten Revolution' und der 'Weltrevolution' mit dem Argument, daß sie nur
scheinbar internationalistisch seien, in Wirklichkeit aber unreflektiert. Reife und
relativ stabile Formen des kapitalistischen Herrschaftsystems seien keineswegs allein
durch ökonomische und politische Macht (also die Durchsetzung des Privateigentums
an Produktionsmitteln, staatliche Unterdrückung) erzwungen worden, sondern durch
den Konsens vermittelt, der in der 'bürgerlichen Gesellschaft' (società civile) und deren
Hegemonieapparaten (Schule, Medien, Parteien und Verbände, Kirchen etc.)
hergestellt wird. Mit anderen Worten, die Menschen seien überzeugt worden, daß die
'bürgerliche Gesellschaft des Kapitalismus' die beste aller Welten hervorgebracht habe
und ein dynamisches Gleichgewicht zwischen den Interessen der verschiedenen
Klassen und Schichten erlaube. In der 'bürgerlichen Gesellschaft' wird 'Herrschaft' zur
'Führung'; in ihr werden die Beziehungen zwischen den verschiedenen Gruppen nicht
primär durch unmittelbar ökonomische Interessen und die Aneignung des staatlichen
Gewaltmonopols, sondern durch Hegemonie - hier der entscheidende Begriff -
reguliert. Gramsci erklärt dementsprechend die unterschiedliche Anfälligkeit für
Revolutionen im 'Osten' und im 'Westen' so: "Im Osten war der Staat alles, die
bürgerliche Gesellschaft steckte in ihren Anfängen und ihre Konturen waren fließend.
Im Westen herrschte zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft ein ausgewogenes
Verhältnis, und, erzitterte der Staat, so entdeckte man sofort die kräftige Struktur der
bürgerlichen Gesellschaft." (Gramsci 1980, 273) Wenn es überhaupt zu grundlegenden
gesellschaftlichen Veränderungen kommen sollte, so würde der Weg dorthin weniger
die Form eines 'Bewegungskriegs' haben, sonder eher ein 'Stellungskrieg' sein.
Alternative Konsensbildungsprozesse über die 'Schützengräben und

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Befestigungsanlagen' (Gramsci 1980, 273) der bürgerlichen Gesellschaft hinweg


müßten ablaufen. Dieser Übergang zum 'Stellungskrieg' impliziert, daß auch in den
internationalen Beziehungen nicht allein ökonomische und militärische
Kräfteverhältnisse den Ausschlag geben, sondern auch die in Politik und Kultur
realisierte Hegemonie bestimmter nationaler Schichten oder Klassen in ihrem
Verhältnis zu den herrschenden bzw. beherrschten Klassen anderer Länder. (Gramsci,
Note sul Machiavelli, Rom 1974, 217ff) Die 'Tatsache der Machtergreifung' (Gramsci,
La Costruzione del Partito comunista, Torino 1971, 136) oder die Erhaltung der
staatlichen Macht kann also nie Selbstzweck sein. In ihrer 'antagonistischen
Kooperation' mit anderen Ländern trieben also die entwickelten kapitalistischen
Ländern zunächst einmal auch den Prozeß der Bildung der 'bürgerlichen Gesellschaft'
voran und damit die allgemeine Überwindung 'zivilisatorischer Rückständigkeit'. Um
"in der Umhüllung der politischen Gesellschaft eine komplexe und wohlgegliederte
bürgerliche Gesellschaft aufzubauen, in der jedes Individuum sich selber regiert", darf
die unvermeidliche Tendenz zur "Staatsvergötterung nicht sich selbst überlassen
bleiben; sie darf sich vor allem nicht in theoretischen Fanatismus verwandeln, darf
nicht als 'permanent' aufgefaßt werden". (Gramsci, Passato e Presente, Roma 1974,
219) Folglich konnten auch Gesellschaftsexperimente wie das sozialistische sich nur
vollziehen, indem in Verbindung mit dem Prozeß des ökonomischen Aufbaus ein
'erweiterter Staat' (das heißt, die Verbindung von 'politischer' und 'bürgerlicher
Gesellschaft') entsteht, in welchem Zwang zunehmend durch Hegemonie ersetzt
wurde: "Die Stärkung der Macht des Staates muß zum Ausdruck gebracht werden
durch die Schwächung des Staatsapparates." (I.Buci-Glucksmann, Gramsci und der
Staat. Für eine materialistische Theorie der Philosophie, Köln 1981, 289) Gramsci
entwickelt ein Forschungsprogramm zur Geschichte und Struktur der
Hegemonieapparate Italiens, um den 'Geheimnissen' von nationaler Entwicklung im
Kontext der dominanten internationalen Entwicklungstendenzen auf die Spur zu
kommen. Dabei wird deutlich, daß a) die Oktoberrevolutionund ihre Folgen, b) der
Aufstieg der USA als Weltmacht und Zivilisationsmodell, c) die Etablierung des
Faschismus in Europa zu den entscheidenden, epochenbestimmenden Ereignissen des
Weltsystems gehören. Inwieweit vor dem Hintergrund der Gedanken Gramscis die
allerjüngsten Entwicklungen - das sogenannte Ende des Kalten Krieges - tatsächlich
eine absolute 'Basiskorrektur', eine epochale Zäsur darstellen, ist zu prüfen. Der Status
der Epoche ist in einem ganz präzisen Sinne, als breitester nationaler und
internationaler Diskurs unter den Intellektuellen aller Länder zu überprüfen. Folglich
hat Gramsci versucht, in den Mittelpunkt seines Forschungsprogramms die Geschichte
und Theorie der Intellektuellen zu setzen, die er als soziale Gruppe durch die Tätigkeit
in den Hegemonieapparaten definiert. Hier sind die Parallelen zu Negri und Hardts
Konzept der 'Multitude' unübersehbar. Hegemoniale Konflikte sind ohne die Rolle der
Intellektuellen nicht denkbar. Mit Hilfe der Intellektuellen erreichen Klassen die
'freiwillige' Unterordnung anderer bzw. ordnen sich selbst anderen Klassen unter.
Gramsci lenkt damit die Aufmerksamkeit auch auf gesellschaftliche Gruppen, die
scheinbar quer zu oder außerhalb von (vor allem ökonomisch bestimmbaren)
Klassenstrukturen agieren: "Die Beziehung zwischen den Intellektuellen und der
Produktion ist nicht unmittelbar, wie es bei grundlegenden gesellschaftlichen Gruppen
der Fall ist, sondern wird in verschiedenen Abstufungen 'vermittelt', und zwar durch
das gesamte soziale Gewebe, durch die Gesamtheit des Überbaus, dessen Funktionäre
eben die Intellektuellen sind. Man könnte das 'Organische' der verschiedenen
Schichten, ihre mehr oder minder organische Beziehung zu einer grundlegenden
gesellschaftlichen Gruppe daran messen, daß man die Funktionen in ihrer graduellen
Beziehung zum Überbau von unten nach oben aufzeichnet..." (I.Buci-Glucksmann
1981, 228) Mit der theoretischen Erfassung (und historischen Untersuchung) dieser
Gruppen wird die Analyse des nationalen-internationalen 'Klassensystems' in
entscheidender Weise vertieft. Einerseits bringt jede Klasse Intellektuelle hervor, "die

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ihr nicht nur auf politischem Gebiet Homogenität und das Bewußtsein ihrer eigenen
Funktion verleihen", andererseits finden Klassen "in der Geschichte, zumindest bisher,
bereits existierende Intellektuellengruppen" vor, "die sogar eine historische
Kontinuität zu verkörpern scheinen, welche selbst durch die kompliziertesten und
radikalsten Veränderungen der gesellschaftlichen und politischen Formen nicht
unterbrochen wurde." (I.Buci-Glucksmann 1981, 222) Mit anderen Worten: die
Intellektuellen sind es, die soziale und nationale Besonderheiten artikulieren und in die
konfliktuelle Austragung von Differenzen, die nicht mehr gewaltsam, sondern
konsensusbezogen-hegemonial ablaufen, einbringen. Die Intellektuellen sind es aber
auch, die allgemeine, sozusagen Welttraditionen verkörpernde Positionen vertreten
und in die internationalen Konflikte einführen. Sie sind also die einzige soziale
Gruppe, welche national im Kontext der dominanten internationalen Entwicklungen
und international im Kontext der dominanten nationalen Entwicklungen zu operieren
in der Lage ist.

b) Pierre Bourdieu: Erfahrungshintergrund ist die französische Gesellschaft, die


bekanntlich im Windschatten des globalen Herrschaftsgeschehens segelt. Gleichwohl
hat Bourdieus Erkundung des sozialen Raums und der Funktion von 'Distinktion' viel
für ein besseres Verständnis des Herrschaftsgeflechts geleistet. Doch seine letzten
Äußerungen zum Herrschaftssystem des neo-liberalen globalen Kapitalismus sind eher
Mystifikationen (Für eine neue europäische Aufklärung, Utopie kreativ, H. 139, Mai
2002, S. 389ff). "Die Herren der Ökonomie", schreibt er, "sind weder owners noch
managers." Heute werde die Wirtschaft "von der blinden Logik des ökonomischen
Feldes, oder, genauer gesagt, des Feldes des Finanzkapitals beherrscht, das nur seinem
Selbstzweck folgt: dem Streben nach maximalem Profit." Bourdieu überhöht, wie so
viele, die Tatsache der Konzentration von Kapital in den Händen einer 'kleinen Zahl
sogenannter institutioneller Investoren' zum Mythos, daß es nun die Verwalter der
großen Institutionen (Pensionskassen, große Versicherungsgesellschaften, und, vor
allem in den Vereinigten Staaten, Anlageinrichtungen wie money market funds oder
mutual funds) seien, die das Feld des Finanzkapitals beherrschen. Und weiter: "Hier
bildet sich ein wirtschaftliches Regime, das untrennbar mit dem politischen Regime
verbunden ist, ein mit einem Herrschaftsmodus verbundener Produktionsmodus, der
die Institutionalisierung von Unsicherheit zur Grundlage hat und Herrschaft mittels
Prekarität ausübt". Es überrascht immer wieder, wie leichtfertig in der
Herrschaftsdiskussion mit dem subjektiven Faktor umgegangen wird, gerade auch von
Soziologen. Und es müssen nicht Leute wie Giddens oder Beck oder gar Luhmann
sein. Auch bei Linken und bei Marxisten wird gerne von anonymen Kräften geunkt
(denen man natürlich die lebendige Kraft der beherrschten Klassen entgegenstellt).
Das geht wahrscheinlich darauf zurück, daß die Kenntnis von und die Erfahrung mit
den wirklich herrschenden Gruppen für Intellektuelle schwer zu erwerben ist. In
Amerika war das ein wenig anders - und so ist dort Herrschaftsforschung durchaus
immer konkret. Das zahlt sich heute aus, denn meine These ist, daß gerade die Herren
des neo-liberalen globalen Kapitalismus, die von nichts anderem als von der
Privatisierung des gesellschaftlichen Reichtums leben, sehr wohl Gesichter haben.

c) Power Structure Research (USA): In den Dreißigern standen sich zwei 'Formen
bürgerlicher Herrschaft' gegenüber, faschistische Befehlgesellschaften und
demokratische Planungsgesellschaften. Der Kern des Rooseveltschen New Deal
bestand - gegen heftigen Widerstand lokaler, regionaler und nationaler
Wirtschaftseliten - in der überfälligen Ausdehnung der Rolle des Staates bei der
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und bei der Wirtschaftsplanung. Eine moderne
Industriegesellschaft war nur durch ein komplexes Zusammenspiel verschiedener
Eliten zu steuern; auch Planer, Verwalter, Experten - kurz, eine neue technokratische
Dienstklasse - beanspruchte ein Mitspracherecht. Aber mußte Modernisierung gleich

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'mehr Demokratie' bedeuten? Nicht von ungefähr nahmen manche Angehörige der
traditionellen amerikanischen Eliten die autoritär-faschistischen Lösungen des
Modernisierungsproblems in Deutschland, Japan und Italien mit Sympathie zur
Kenntnis. Doch die Rooseveltschen Reformen zeigten der Kernklasse des privaten
Reichtums, anfällig für Plutokratie, Grenzen auf: "Wir sehen im amerikanischen
Establishment nur noch eine kirchenähnliche Institution, die eine Mittlerrolle
zwischen den konkurrierenden Kräften in unserer Gesellschaft spielt, und zwar auf
eine gemäßigt reformistische und letztendlich konservative Weise." (Leonard Silk)
Dann aber schreckte 1942 Franz Neumanns Analyse der Struktur des
nationalsozialistischen Herrschaftssystems unter dem Titel Behemoth gerade
diejenigen amerikanischen Intellektuellen auf, die auf das New Deal gesetzt hatten.
Neumann zeigte, wie die Bildung von Monopolen, die Bürokratisierung aller
Bereiche, die Prägung des parlamentarischen Systems durch Berufspolitiker und eine
Politisierung des Militärs die strukturellen Voraussetzungen für das Entstehen des
nationalsozialistischen Systems in Deutschland gewesen waren. Das nach Kriegsende
in den USA zu beobachtende neue Zusammenspiel der Spitzen von Großindustrie und
Washingtoner Bürokratie mit einer neuen Klasse von Berufspolitikern und mit
'politischen Generälen' weckte begründete Befürchtungen vor autoritären
Herrschaftsstrukturen auch hier. Mit 'The Power Elite' (1956) brachte C. Wright Mills
diese Gefahr auf den Punkt. Damit kam in den Sechzigern und Siebzigern in den USA
eine Herrschaftsstrukturforschung in Gang, die weder in Europa noch insbesondere in
der Bundesrepublik oder in der DDR zureichend rezipiert wurde (William Domhoff,
Ferdinand Lundberg, Seymor Melman, David Halberstam etc.). Derzeit, im Gefolge
der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien und vor allem des 11.
September 2001, erleben wir eine Renaissance des Power Structure Research, aber
auch neue Formen des investigativen Journalismus, der elektronischen
Datensammlungstätigkeit und interessante private Forschungsinitiativen, in denen die
Rolle der Geld- und Machteliten der USA im globalen Herrschaftsgeflecht im
Zentrum steht. Viele dieser Untersuchungen sind theoretisch wenig untermauert, aber
sie tragen Informationen zusammen, die unabdingbar sind für das, was jetzt ansteht: in
einer Zeit, in welcher Klassenbewußtsein latent geworden ist, wenigstens für eine
vernünftige Klassifizierung des Systems der herrschenden Klassen zu sorgen.

4) Wo im Globalisierungsprozess mit den herrschenden Klassen qualitativ Neues geschieht,


muß also zunächst einmal Klassifizierungsarbeit geleistet werden. Um der Diskussion willen
gehe ich hier zunächst deskriptiv vor, konkret bezogen auf die Supermachtaspekte der
US-Gesellschaft. In einem zweiten Schritt schlage ich ein Klassifikationsschema vor, mit
der US-amerikanischen Situation als Illustrationsquelle:

a) Deskriptiv: Kann das Herrschaftssystem der USA beschrieben werden als eine
Plutokratie im Griff eines Klüngels von Milliardären, repräsentiert von korrupten
Politikern, geschützt von einer Generals-Junta und drogenhandelnden
Geheimdienstlern, übergossen vom schönen Schein aus Hollywood? Jedenfalls
handelt es sich um eine imperiale Macht römischen Zuschnitts mit einer aktiven, eng
verflochtenen (und auch zerstrittenen) Oberschicht. Sie legt ganz privat - unter der
Ideologie der Privatisierung - ein Netz aus greed and cunning, aus Habgier und
Verschlagenheit (Benjamin Barber) über den Globus. Die Geld- und Machteliten der
USA verfügen inzwischen in einem beängstigenden Ausmaß über die Bedingungen
der Verteilung der Reichtümer dieser Welt. Die Erde ist ihr Schachbrett, auf dem es
um Ressourcen und Territorien geht. Die Erde ist ihr Cyberspace, wo alle kulturellen
Erfahrungen der Menschheit unter Kontrolle gebracht werden können. Gegliedert ist
diese Oberschicht wie folgt:
aa) Private Wealth: Den innersten Kern bilden die Superreichen. Sie
unterscheiden sich von den Reichen dadurch, daß sie in keinerlei Gefahr

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schweben, ihre Vermögen durch irgendwelche Umstände plötzlich zu verlieren.


Im Gegensatz zu den Reichen können die Superreichen absolut ruhig schlafen.
Ihre Vermögen sind so riesig, so weit verzweigt, so gut plaziert, auch so gut
versteckt, daß dieser Planet schon zerplatzen müßte, damit auch sie mit leeren
Händen dastünden (Ferdinand Lundberg). Läßt man einmal die Frage beiseite,
wo sie ihren Hauptwohnsitz haben, verfügt das reichste halbe Prozent der U.S.
Bevölkerung über einen größeren Anteil am nationalen Reichtum als die unteren
90 Prozent, und die reichsten 10 Prozent verfügen über dreiviertel des gesamten
Reichtums. Und mit diesem Reichtum geht außerordentliche soziale Macht
einher - die Macht, Politiker, Publizisten und Professoren einzukaufen, die
Macht, die Politik des Gemeinwesens ebenso wie die Politik der Konzerne zu
diktieren. Mich begleitet seit langem ein Zitat aus einem Playboy-Heft von
1976. Dort schreibt der gute Robert Scheer nach einem Interview mit Nelson
Rockfeller: "Seine beeindruckendste Eigenschaft ist sein Vertrauen in die
Fähigkeit, jedermann kooptieren zu können. Ich verstand bald, daß Rockefeller
implizit an die marxistische Klassenkampfanalyse glaubt - er steht nur eben auf
der anderen Seite. Die Rockefellers sind nicht mächtig wegen ihres ungeheuren
Reichtums, sondern weil sie sich durch geschickten Gebrauch ihres Reichtums
zum Schiedsrichter unseres politischen Grundkonsens machen konnten. Wir
neigen dazu, die großen multinationalen Konzerne als unabhängige und
miteinander rivalisierende Einheiten zu betrachten. Das Gegenteil ist der Fall.
Die Spitzen der Industrie und Finanz verständigen sich kontinuierlich sowohl in
harten Diskussionen als auch bei freundschaftlichen Treffen."
ab) CEOs: Den ersten Ring um den Kern der Superreichen nenne ich den
CEO-Komplex. Die Chief Executive Officers aus Industrie und Finanz sind
vorrangig mit der Mehrung und Verwaltung des Vermögens der Superreichen
beschäftigt und wissen ihrerseits viele Multimillionäre unter sich. Als
Spitzenmanager großer Unternehmen, Versicherungen, Investmentfonds usw.
bilden sie zusammen mit den Superreichen den magischen Zirkel der oberen
Zehntausend. Diese Zahl ist seit Jahrzehnten konstant geblieben, auch wenn
andere diese Gruppe betreffende Zahlen unablässig steigen. 419mal mehr als
seine Arbeiter verdient im Durchschnitt der CEO eines großen amerikanischen
Konzerns: 10.7 Millionen Dollar jährlich. Sein Gehalt stieg beispielsweise 1998
um 36 Prozent, der Lohn eines Facharbeiters um 2.7 Prozent. Solche
Operationen gehen auf die größte Umverteilungsmaschinerie der Welt zurück,
das Finanzsystem der USA. Seine vorgebliche Aufgabe, die Ersparnisse der
Gesellschaft in Richtung der besten Investitionen zu lenken, erfüllt es nur
kümmerlich. Aber für die Mehrung des Vermögens der Wenigen ist es bestens
eingerichtet. "Statt die Reichen zu besteuern, borgt die Regierung von ihnen,
und bezahlt für dieses Privileg auch noch Zinsen. Auch jeder
Konsumentenkredit macht die Reichen reicher. Wer bei stagnierenden Löhnen
und Gehältern seine VISA-Karte benutzt, um über die Runden zu kommen, füllt
mit jeder Monatsrate die Brieftaschen der großen Kreditgeber im Hintergrund.
Kein Wunder also, daß Reichtum auf spektakuläre Weise ganz oben
zusammenfließt." (Doug Henwood) Auch die Chief Executive Officers der
größten Militärorganisation aller Zeiten, die US-Generäle, gehören zum
CEO-Komplex. Schon 1960 hatte Dwight D. Eisenhower vor ihrer Kollaboration
mit den anderen CEOs gewarnt. In den Sechzigern wurde gegen den
Militär-Industrie-Komplex protestiert. In den Siebzigern, nach der
Vietnam-Niederlage, wurde er perfektioniert und in den Neunzigern elektronisch
aufgerüstet. Jetzt, nach dem 11.9.01, scheint es kein Halten mehr zu geben.
ac) Political Class: Den zweiten Ring um das Zentrum des Private Wealth
bevölkert die politische Klasse im weitesten Sinne. Dazu gehören nicht nur die
Spitzen der Regierung, der Parteien usw., sondern auch andere Gruppen, die mit

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politics befaßt sind: Verbandsfunktionäre, Rechtsanwälte, politische Beamte und


die maßgeblichen Medienleute. Sie vermitteln auf die eine oder andere Weise
zwischen den oberen Zehntausend und der restlichen Gesellschaft, den Massen.
Sie halten das ganze System einigermaßen stabil und mehren nicht nur den
Wohlstand der Superreichen, sondern kümmern sich, trotz ständiger
Umverteilung von unten nach oben, auch um ein Minimum an
Verteilungsgerechtigkeit. Denn dieses ist die ureigenste Aufgabe der politischen
Klasse. - Der Enron-Skandal hat hier großen Schaden angerichtet. Er ist ein
zentrales Ereignis in der US-Elitengeschichte und spielt zwischen CEOs und
besagter politischer Klasse. Ken Lay, der entehrte Chef von Enron, hatte
Bush-Sohn während des Wahlkampfs nicht nur seinen corporate jet, sondern
auch viel soft money zur Verfügung gestellt. Ken Lay wählte die Spitzenleute
des Energieministeriums aus und gründete mit Dick Cheney (bis 2000
Topmanager der Ölfirma Halliburton) jene energy task force, die eine neue
Energiepolitik entwickeln sollte. Lawrence Lindsay, Bushs Chefberater in
Wirtschaftsfragen, kam aus dem Dunstkreis der Enron-Connection, auch
Finanzminister Paul O'Neill, desgleichen Robert Zoellick, Bushs Federal Trade
Representative, und der Bürochef des Weißen Hauses, Karl Rove.
Verfassungspolitisch ist der Enron-Skandal gravierender als Watergate.

ad) Supporting Classes: Den Außenring um die oberen Zehntausend und die
politische Klasse schließlich bildet die Schicht der Technokraten und
Dienstleister. Dieses Heer von Beratern, Experten, Helfern aus allen Bereichen
der Gesellschaft (Wissenschaft, Medien, Kultur, Technik usw.) geht in die
Millionen. Hier finden sich auch viele Angehörige der Mittelschichten -
Facharbeiter und Angestellte - als dienstbare Geister, als Chauffeure,
Physiotherapeuten, Köche, Sicherheitspersonal. Robert Reich, Clintons erster
Arbeits- und Sozialminister, hat diesen Trend zu einer 'Dienstbotengesellschaft'
am Hofe der Superreichen unter dem Titel The Care and Feeding of the Rich
anschaulich beschrieben. Übrigens: Diese ganze Gruppe ist durch den
Enron-Skandal so sehr verärgert worden, daß das System Risse bekommt.
ae) Meeting Places: Das Council on Foreign Relations zum Beispiel, die
mächtigste, seit 1921 bestehende private Denkfabrik der amerikanischen
Außenpolitik stellt mit seinen rund 3000 Mitgliedern so etwas wie eine geistige
Ressource für den Machterhalt des Establishments dar. "Rufen Sie nicht an,
wenn Sie Mitglied werden wollen, man wird Sie anrufen. Und warten Sie nicht
auf den Anruf, wenn Sie nicht wirklich reich sind, Erfahrung in nationalen
Sicherheitsfragen oder mit der CIA haben, wichtige politische Interessen
vertreten oder in den Medien mitreden." (Laurence Shoup) Die Bilderberg
Group, 1954 in Holland gegründet, gehört zu den Vereinigungen, an denen sich
die Phantasie der Verschwörungstheoretiker besonders entzündet. Die Liste der
bekannten Mitglieder (die Amerikaner unter ihnen gehören meist auch dem CFR
an) ist lang und schließt z.B. George Bush Sr., Bill Clinton und Tony Blair ein.
"By now Bilderberg is a symbol of world management by Atlanticist elites."
(Anthony Sampson) Die Trilateral Commission ist aus der Bilderberg Group
hervorgegangen und macht wie das CFR weltweit große Anstrengungen,
Spitzenintellektuelle zu kooptieren, um so die Ideen des Internationalismus, des
Freihandels und einer Neuen Weltordnung in der öffentlichen Meinung
durchzusetzen. Hinzu kommen die großen amerikanischen Stiftungen - allen
voran die Carnegie, Ford und Rockefeller Foundations -, über die René A.
Wormser bereits 1958 schrieb: "In den Händen dieser vernetzten und sich selbst
verewigenden Gruppe ist unvergleichliche Macht konzentriert. Anders als
Unternehmensmacht, wird sie nicht durch Aktionäre, anders als
Regierungsmacht, wird sie nicht durch Parlamente, anders als Kirchenmacht,

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Herrschende Klassen http://www.uni-muenster.de/PeaCon/global-texte/g-m/herrschendeklas...

wird sie nicht durch einen festen Wertekanon kontrolliert." Und dann die Think
Tanks ...
Wer heute sinnvolle theoretische Verallgemeinerungen über die 'herrschenden
Klassen' im kapitalistischen Weltsystem anstrebt, muß über die Davos Men (Hermann
Schwengel), über die 'globale Klasse' (Frank Unger, Ralf Dahrendorf), über das
Konzept einer global corporate statesmanship (de Pury / Lehmann), über die
Machenschaften der Mont Pelerin Society (Dieter Plehwe et al) usw. usw. informiert
sein und zugleich systematische Anhaltspunkte für die Herstellung erster sinnvoller
Klassifikationsschemata haben.

b) Schema herrschender Klassen: Ausgehend von der oben (2.) angedeuteten


systematischen Bestimmung herrschender Klassen im kapitalistischen Weltsystem läßt
sich ein Klassifikationsschema entwickeln. Es geht aus von den Funktionen des
Erhalts und der Mehrung des privaten Geldreichtums. Durch 'Eigentums'- und
'Verwertungs'-Operationen einerseits, durch Verteilungs- und Arbeitsleistungen
andererseits wird die Herrschaft eines differenzierten Klassenzusammenhangs
aufrechterhalten, der von der Herrschaft privaten Reichtums (Plutokratie) her definiert
ist. Die Privatisierung des gesellschaftlich erzeugten Reichtums, unterstützt durch
Überbau- und Sicherheitsoperationen der verschiedensten Art, scheint mir der
Ausgangspunkt für jede Bestimmung herrschender Klassen unter den gegenwärtigen
Bedingungen zu sein. Das folgende Klassifikationsschema wäre auszufüllen und in der
Diskussion weiter zu erläutern:

Klassifikation herrschender Klassen

Produktions- Eigentums- Verwertungs- Verteilungs- Arbeits-


verhältnisse verhältnisse verhältnisse verhältnisse verhältnisse
relations of private flow of distributing labor
production property revenues wealth relations
Eigentums-
verhältnisse private corporate political technocratic
private wealth elites 1 elites 1 elites 1
property
Verwertungs-
verhältnisse corporate corporate political technocratic
flow of elites 2 elites 3 elites 2 elites 2
revenues
Verteilungs-
verhältnisse political political political technocratic
distributing elites 3 elites 4 elites 5 elites 3
wealth
Arbeits-
verhältnisse technocratic technocratic technocratic technocratic
labor elites 4 elites 5 elites 6 elites 7
relations

Auch ein Perspektivenwechsel im Schema - dimensions of social progress? - ist möglich:

Produktions- Arbeits- Verteilungs- Verwertungs- Eigentums-


verhältnisse verhältnisse verhältnisse verhältnisse verhältnisse
relations of labor distributing flow of private

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Herrschende Klassen http://www.uni-muenster.de/PeaCon/global-texte/g-m/herrschendeklas...

production relations wealth revenues property


Arbeits-
verhältnisse 'instinct of politics of value variety of
labor workmanship' distribution 1 production 1 property 1
relations
Verteilungs-
verhältnisse politics of politics of value variety of
distributing distribution 2 distribution 3 production 2 property 2
wealth
Verwertungs-
verhältnisse value value value variety of
flow of production 3 production 4 production 5 property 3
revenues
Eigentums-
verhältnisse variety of variety of variety of variety of
private property 4 property 5 property 6 property 7
property

Anmerkung
Im übrigen verweise ich auf folgende Texte:
H.J. Krysmanski / K.H. Tjaden, Die historisch-materialistische Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung, in: H. Strasser / S.C. Randall
(Hg.), Einführung in die Theorien des sozialen Wandels, Neuwied u. Berlin 1979 (engl. 1981)
Artikel 'Klassen' (Krysmanski / Th. Mies), 'Produktionsverhältnisse' (Krysmanski), 'Produktionsweise' (Krysmanski), 'Klassenbewußtsein'
(Th. Mies / R. Steigerwald), 'Bourgeoisie' (M. Neumann), alle in: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften (Hg. H.J.
Sandkühler), Hamburg 1990
Vgl. auch: H.J. Krysmanski, Popular Science. Medien, Wissenschaft und Macht in der Postmoderne, Münster 2001

30.4.02 / 3.10.02
krysman@uni-muenster.de

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