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Psychoanalytisch-philosophischer Essay
zur Sozialpsychologie des Verbrechens
Ulrich Kobbe
Zusammenfassung
Anhand der Interaktion zwischen den Zofen Papin und ihren Herrinnen werden psy chosoziale
Aspekte des lebensgeschichtlichen Dramas, der paranoiden Wahnentwicklung, der
narzißtischen Krise und der grausamen Tatdynamik aufgezeigt. Die historische Fallvignette
erörtert Fragen der geschlechtspezifischen Delinquenz, der Dialektik von Demut und
Demütigung sowie der Metaphernanalyse aus psychoanalytischer Sicht und stellt die
Einbeziehung philosophischer, sprachanalytischerund surrealistischer Untersuchungsaspekte
zur Diskussion.
Schlüsselwörter
Summary
The interaction ofthe servants Papin and her mistresses allows to exemplify psychosocial
aspects ofthe biographic drama, ofthe paranoid maniac development, ofthe narcissistic
crisis, and ofthe cruel offensive dynamic. The historical casualty treats questions ofsex-
specific delinquency, of a humility-humiliation-dialectic, of metaphorical analysis from a
psychoanalytic view and discusses the use of philosophical, linguistic and surrealistic
discoursive aspects.
Resume
L'interaction entre les deux bonnes, les soeurs Papin, avec leurs maitresses montre les
aspects psychosocials de ce drame biographique, du developpement du delire parano'iaque,
WsFPP 2.Jg. (1995) H.l 117
de la crise narcissique et de la dynamique d'un crime atroce. Du point de vue psychanalytique, 482). -Als zweites biblisch-anthropologisches Thema dialektischer Sozialgeschichte
ce cas historique traite les questions d'une delinquance feminine, d'une dialectique entre (Zwahr 1990) wird das paradigmatische Figurenpaar von Herr und Knecht einge-
humilite et humiliation, d'une analyse metaphorique et permet l'introduction des discours führt: Zwar wird dessen Dialektik von Nietzsche (l 886) bestritten, doch ist die
philosophiques, linguistiques et surrealistes dans la discussion. forensische Kasuistik gerade aus der deliktrelevanten, konzeptionell dialektischen
Sicht des Knechts zu untersuchen (Deleuze 1962, 13-15).
Mots-cles
In diesem Kontext ist der Mord der Zofen Papin als intrapsychische Krise,
delinquance feminine - dialectique maitre-esclave - relation offenseur-victime - metaphores
wahnhafte Dramatik und agierte Raserei, mithin als narzißtische Apokalypse
- «deconstruction»
zusehen. Ihr existentieller Sinnausfall führt als "metaphorische Indetermi-
nation" (Baudrillard) dazu, daß die nicht mehr dialektisch zu bewältigende
"Mein ist die Welt, und Untertan und dienstbar Situation katastrophisch zu lösen versucht wird. Damit ist ihre Beziehungs-
Sind alle Kräfte mir, struktur nicht - mehr - nur als horizontale Begegnung Täterin . /. Opfer zu
zur Magd ist mir betrachten, sondern auch als - sich mörderisch umkehrende - vertikale
Die herrnbedürftige Natur geworden." Beziehung des Oben ./. Unten darzustellen:
(Hölderlin 1799, 235-236)
Daß es sich um Frauen als Täterinnen handelt, soll zunächst als Ausgangs-
Einleitung punkt der Überlegungen dienen. Selbstkritisch bleibt einzuwenden, daß
man aber von dem gewählten diskursiven Ansatz aus trotz Einbeziehung
Im folgenden soll ein historischer Mordfall erörtert werden, der neben anderer Denkfiguren nicht der Tatsache entkommt, damit zugleich einen
dem klinischen Zugang zu einer Facette weiblicher Straftaten auch sprach- Wahrheitsdiskurs über die Frau oder das Weibliche zu halten, da diese/s
analytische, diskursphilosophische, literarische Bezüge und surrealistische nur in Form von männlich verordneten Paradigmen existiert (Irigaray
Querverweise gestattet, damit auch eine andere, zum Teil spekulative Les- 1977b, 89)'.
art des forensischen Materials ermöglicht. So greift bereits der Titel dieser
Arbeit eine Formulierung Dali's (1968,73) über den Sinn des " katastrophen- Charakteristika weiblicher Tötungskriminalität
haft erlösenden" Konflikts, "die vertikale Richtung dieser Apokalypse"
auf. In ihr deutet sich an, daß die psychodynamische zur philosophischen Wenn delinquentes Handeln unter sozialpsychologischen Gesichtspunkten
Argumentation hin ausgeweitet soll, um eine Annäherung an das Verständ- als Möglichkeit sozialen Verhaltens mit problemlösendem Charakter zu
nis der Tat zu ermöglichen. Denn allzu leicht" löscht die moderne Psycho- begreifen ist, so zeigen Frauen geschlechtspezifisch eher anderes, nicht-
logie den Begriff des Tragischen aus und ersetzt ihn durch den des Patholo- delinquentes Problemlösungsverhalten (Rode 1985, 10). Eine der Bedin-
gischen, sie legt das pragmatische Feld der Behandlungschancen frei" gungen hierfür ist, daß "sich infolge der spezifischen Position der Frau in
(Starobinski 1976, 18-19). unserer Gesellschaft neben vielen anderen Chancen auch die' Deliktchance'
einengt" (Wiese 1993, 29): Noch immer werde Frauen im Rahmen ge-
Der Terminus 'Apokalypse' suggeriert eine apokalyptische Erlösungsvision, in schlechtsspezifischer Arbeitsteilung "überwiegend die Verantwortung für
der sich Menschen benachteiligt, unterdrückt, verfolgt erleben (Vondung 1993,9/ die Reproduktion in Ehe und Familie übertragen" und von ihnen im Rah-
18-9/19). Die Erlösung aus der Krise scheint nur durch Vernichtung der Welt bzw. men der weiblichen Rollendefinition erwartet, keine antisozialen Verhal-
des Gegenübermöglich, wobei die Unbedingtheit und Radikalität dieses Phantasmas tensweisen zu zeigen. Denn: "Die informelle soziale Kontrolle durch ...
Ambivalenz auslösen muß: Die Angst vor dem katastrophenhaften eigenen Unter-
gang mag in - eschatologische - Lust am Untergang und/oder Lust an der Zer- insbesondere die Familie, aber auch die verinnerlichte Kontrolle als Er-
störung umschlagen, kann als psychotisches Erlebenhingegen "Züge eines apoka- gebnis des weiblichen Sozialisationsprozesses führen zur quantitativ ge-
lyptischen Geschehens " annehmen (Becker 1990,9) und in eine Totalvernichtung ringeren Ausprägung kriminellen Verhaltens bei Frauen und tragen dazu
der Gesamtstruktur verinnerlichter Entfremdung münden (Drewermann 1985,
120 WsFPP 2.1g. (1995) H.l WsFPP 2.Jg. (1995) H.l 121
Doppelstruktur von "strukturellem (primärem) Wahnsinn" als Wirklich- genoux» bedeutet Niederknien, einen Kniefall machen, und insofern eine
keit zweiter Ordnung und 1933 agierten "individuellem bzw. sekundärem zusätzliche narzißtische Verletzung (Dupre 1984,155). Daß dieser soziale
Wahnsinn" (Pusch 1992, 347). Un-Fall - zunächst - vergessen und erst bei späteren Befragungen erinnert,
so-mit zum scheinbaren Nicht-Fall wurde, gibt einerseits einen Hinweis
"Ihre Taten sind Diskurse; aber was sagen sie und warum sprechen sie die- auf den demütigend-strafenden Akzent der interaktioneilen sekundären
se entsetzliche Sprache des Verbrechens? Man braucht nur die Verwirrung Wahndynamik und beleuchtet andererseits die Alltäglichkeit des vorherr-
zu betrachten, die diese so tragisch-schönen Schauergeschichten im sonst schenden (sie!) strukturellen Wahnsinns. In ihrer Tat haben die Frauen
so satten, selbstsicheren Diskurs der Justizbehörden und der Ärzte gestiftet somit, "vom äußersten Rand der Gesellschaft aus, deren innere Struktur
haben, um zu begreifen, daß etwas Bedeutsames geschah" (Peter & Favret markiert und bloßgelegt" (Jones 1980, 32).
1973,213). Dieser Wahnsinn hat folgerichtig stets den intentionalen Cha-
rakter eines Verbrechens, fast beständig den einer Rache, oft den Sinn Anhand der Beziehung zur Paranoia macht Margarete Mitscherlich (l 987,49-51)
einer Bestrafung, d.h. einer auf sozialen Vorstellungen beruhenden Ver- eine sonst nur implizit mitgedachte Facette des Weiblichen deutlich. Sie be-
schreibt, "Würde" oder "Ehre" seien typisch männliche Attribute und dürften bei
geltungsmaßnahme (Lacan 1933a, 392-393).
der Frau "ad infmitum verletzt werden" - der Ausdruck 'Erniedrigung' verweise
bereits auf die hierarchische Grundeinteilung, daß "nur die Oberen" Ehre zu ver-
Delinquente Konfliktlösungen lieren haben:
"Dennoch soll ich Knechten gleich
Bei Betrachtung der paranoiden Verarbeitung im dargestellten Fall und der Den Tag der Unehr überleben"
«solution», der delinquenten Konflikt-Lösung im Impulsdurchbruch (Dupre fragt Empedokles bei Hölderlin (1798/99, 214) und drückt damit aus, was
1984), wird deutlich, daß sie gleichermaßen End-Lösung wie Auf-Lösung Mitscherlich (1987, 51) lakonisch feststellt: Eine Ehre "der Unteren" existiere
der paranoid-symbiotischen Verstrickung wird und auf die Sittenlosigkeit "quasi nicht".
des Impulsdurchbruchs, «la dis-solution [des moeurs] dans lepassage ä
Dies entspricht einem Rollenklischee, das offensichtlich an der ursprünglichen
l 'acte», verweist. «C'est du propre» kommentieren Christine und Lea die
biologischen Geschlechtsspezialisierung des Mannes - und nicht der Frau -
Tat (Dupre 1984, 68) - die Übersetzung "Eine schöne Bescherung" (Weid- normiert ist (Wickler & Seibt 1983, 184), damit
mann) unterschlägt entscheidenden Hinweis: "Na, das ist was Sauberes" a) der männlichen Rolle Dominanz und Überlegenheitsgefühle, Angstfreiheit,
(Gürtler 1992, 226 Fn40) oder "Das haben wir sauber hingekriegt" bein- sozialen Erfolg und geringe Emotionalität zuschreibt sowie
haltet diese Bemerkung gleichermaßen - "Das ist vom Feinsten" würde b) die weibliche Rolle durch Unterwerfungsbereitschaft, Ängstlichkeit, Untüchtig-
dies wohl neudeutsch heißen. In seiner projektiven Verkehrung ins Ge- keit und geringem sozialem Erfolg, hohe Emotionalität charakterisiert.
genteil wird die blutige Mordtat zur Säuberung, wird die Herrschaft zum Mit dieser Geschlechterdifferenz geht nach Mitscherlich (1987, 53-54) auch der
Schmutz, der beseitigt werden muß. Unterschied von autoplastischer und alloplastischer Reaktion einher, d.h. die
"paranoischen" Bedrohungsgefühle und Racheimpulse seien typisch männliche
Seinsweisen. Tatsächlich geben die Papins ihre demütig-indirekten autoplastischen
Jenseits der psychodynamischen Analyse dieses Abwehrgeschehens ver-
zugunsten direkter alloplastischer Aggressionsmusterauf. Allerdings enthält diese
weist der Fall auf die soziale Stellung der Dienstboten. Exemplarisch Charakterisierung Mitscherlichs das (miß)verständliche Problem, die Herrschaftsbe-
deutlich wird dies im erzwungenen Knie-Fall von L6a Papin: Im Jahr 1930, ziehung der Geschlechter nicht nur als geschichtlich zu begreifende, mithin sozial-
also zwei Jahre vor der Tat, zwang Madame ihr Dienstmädchen, ein aus psychologische Beziehung aufzufassen, sondernu. U. als geschlechtlich begründe-
dem Papierkorb gefallenes Stück Papier aufzuheben. Christine Papin be- te und somit anthropologische Herrschaftsbeziehung zu legitimieren (Kupke 1994,
schreibt dies mit den Worten «en lapinfant (eile) laforfait ä se mettre ä 49).
genoux», d.h. sie verfügt kneifend über den Körper der Dienerin, fügt ihr
ein körperliches Mal und den seelischen Schmerz («le mal») der Demü-
tigung zu und läßt sie sich - so das Erleben der Dienerin - keineswegs
einfach Hinknien = «agenouiller». Das von Christine benutzte «mettre ä
122 WsFPP2.Jg. (1995) H.l WsFPP2Jg. (1995) H. l 123
Die gesellschaftliche Ordnung der Geschlechterdifferenz Herr und Knecht: Eine psychosexuelle Lesart
So ist der Ritualmord der Schwestern Papin ebenso ein Akt momentaner Die reale Schlüsselinszenierung der hohen Stellung der einen und niedri-
Aufgabe ihrer Persönlichkeit wie der Inbesitznahme der Herrschaft ihrer gen Position der anderen verweist zudem auf den von Genet heraus-
Opfer: "Die Zofen wollen morden, um Madame zu werden, und erst, als gearbeiteten Kontext von analem Schmutz mit der sozialen Stellung. Der
es ihnen mißlingt, als die vorweggenommene, rollenhaft eingeübte Exis- Knie-Fall dient der Beseitigung von Ab-Fall, der bei Genet in der Küchen-
tenz der Madame ihnen verwehrt bleibt" (Raddatz 1983, 80-81), als also arbeit am Ausguß, in den Ausdünstungen und als Auswurf («crachat») von
die Anstrengungen, einen Konsens (durch Rollenübernahme, Idealisierung, Sauberem/Reinem zu trennen ist. "Wann wirst du endlich begreifen, daß
Identifikation usw.) zu finden, wegfallen und die Realitätskontrolle ver- dieses Zimmer nicht verunreinigt werden darf? " herrscht die gnädige Frau
loren geht, kann die Aggression nicht mehr (nur) typisch weiblich nach in- ihre Zofe an (Genet 1957,41), denn: "Alles, alles ohne Ausnahme was aus
nen gewendet werden: Ihnen 'brennt' nun auch selbst buchstäblich 'die der Küche kommt, ist Auswurf'. Und nicht nur das - selbst der Spülstein,
Sicherung durch' und "was übrig bleibt, ist nur noch eine richtungslose zu dessen "schweigende(m) Rülpsen des Ausgusses" (Genet 1957,47) sie
Aggression, die alles vernichtet, worauf sie trifft" (Erdheim 1982, 434). zurückkehre, werde noch von ihr "verpestet"... (Genet 1957, 44). Damit
erleben die Zofen real wiederholt die für Schamaffekte charakteristische
Neben der Inkohärenz gesellschaftlicher Ordnung verweist das Drama auch Trias von Schwäche, Schmutzigkeit und Defekt (Wurmser 1986, 125).-
darauf, daß die realen Zofen per definitionem «bonnes» sind. «Des bonnes», die Thematisch geht es "also darum, wer sich bücken muß, wer die (weibliche)
als Kinder-, Haus-undDienstmädchen, vielleicht auch als «banne ätoul'faire» gut, Arbeit = wer den Dreck wegmacht, oder nach der Herr-Knecht-Dialektik
gutwillig, fügsam und gutmütig, wohlwollend und freundlich sein sollten, «de Hegels formuliert: wer mit der selbständigen Seite der Dinge konfrontiert
banne gräce», bereitwillig und aufrichtig, «de banne foi». Für diese Dienstboten ist, um diese, die dem reinen Geniessen im Wege steht, dem Herrn zu er-
jedoch gilt, daß sie dies gerade nicht sind: «que les bonnes ne sont pas bonnes».
Sie sind "gefallene Engel" (Lautreamont) und es zeigt sich ein Bild der vollkom-
sparen" (Gürtler 1992, 226). So dürfen die intersubjektiven Aspekte des
menen und "unheimlichen sozialen Anpassung, wenn man von ihrer Schweigsam- konkreten Falls nicht von den historischen Bedingungen abgetrennt wer-
keit, dem Fehlen sozialer Außenbeziehungen und sexueller Interessen absieht" den. In der von Hegel (1807, 145-159) herausgearbeiteten Dialektik ver-
(Gürtler 1992,221). Diese innerweltliche Askese, Unterdrückung der weiblichen wirklicht erst der Knecht das Ideal der Freiheit des Selbstbewußtseins, das
Sexualität und sexuelle Enthaltsamkeit skizziert Gottschalch (1983, 1985) als vom Herrn nur mittelbar und damit unzulänglich verkörpert werden kann.
Kennzeichen frühkapitalistischer Geschlechts Verhältnisse, für die ein korrelativer
Zusammenhang von resultierenden Leidensdruck und reaktiver Aggressivität fest- Über diese Lesart hinaus bietet sich eine psychosexuelle Lesart an (Gürtler
zustellen sei. 1992,227 Fn 42), die sich auf die Hegel-Interpretation von Kojeve bezieht
und so geschlechtliche und geschichtliche Existenz miteinander verschränkt
So sind die Zofen Papin schließlich böse, neidisch, haßerfüllt und situativ (Kupke 1994, 49).
gefährlich, dies auch über die Dynamik ihrer inzestuös-paranoiden Spie-
gelbeziehung hinaus. Denn über den konkreten Einzelfall hinaus gibt es In der patriarchalisch verfaßten Gesellschaft ist das Tun der Frau, sind ihre Haus-
soziale Umstände, «parentes de edle des domestiques», die ganze Bevöl- arbeit wie ihre fortpflanzungs- und familien-bezogenen Tätigkeiten "unwesent-
kerungsgruppen zu Haß und Grausamkeit, zur Paranoia führen können (Le lich" . Zugleich erfährt sie als Mutter Anerkennung, indem sie "das Familienprinzip,
Guillant 1963,911). Deutlich wird hierbei auch die Qualität dieser - weib- d.h. jenes Prinzip der Einzelheit, das der Gesellschaft als solcher feindlich ist",
lichen - Aggression: Sie ist als feindselige Destruktivität beschreibbar, die vertritt (Kojeve 1973, 174). Hier findet sich die Dialektik des männlich regierten
situativ durch "exzessive Unlust", extreme Angst also, aktiviert wird Gemeinwesens, das sich dadurch "bewegt und erhält..., daß es ... die selbständige
Vereinzelung in Familien, welchen die Weiblichkeit vorsteht, in sich aufzehrt"
(Parens 1993) und als paranoider Übertragungshaß auf die traumatischen (Hegel 1807, 352). Dieses Prinzip geschlechtsspezifischer Arbeits- und Lebens-
Vorerfahrungen, d.h. die soziale Bedingtheit dieser feindseligen Destruk- einteilung wird von Jones (1980, 84-88) konkret als speziell deliktrelevante Be-
tivität verweist. dingung für Tötungen durch Frauen beschrieben. Denn selbst in der modernen Ge-
sellschaft beinhaltet der bürgerliche Ehevertrag die Unterwerfung der "züchtigen
Rollendynamisch ist dies die Knecht-Thematik der abhängigen Freiheit des wehr- Lea sagt aus: «... etj'ai vu sesyeux grands ouverts qui nie regardaient.
los angeblickten Subjekts (Sartre 1943,314,317),diehierauchgeschlechtsspezifisch C'est alors queje M ai mis les doigts dans les yeux et queje les lui ai
disproportional verteilte Sehweisenimpliziert. Die "erzwungene Skotomisierung" arraches» (Dupre 1984, 52). Das heißt, in diesem Augen-Blick spielt sich
und Unterwerfung des weiblichen Blicks der Zofen ist Gegenstück der entsubjekti- das Drama sozusagen "im Auge und fern vom Gehirn ab" (Moro 1985,
vierenden Erstarrung des auf die Linse reduzierten herrschaftlichen Auges und 877).
seines männlichen Blicks (Schneider & Laermann 1977).
Bei der Entkernung des beäugenden Auges geht es weder um die Blendung schuldig
Entwicklungsdynamisch verweist die ambivalente Qualität des Blicks (Bastian Gewordener in Mythologie und Antike (Starobinski 1984, 8) noch um das be-
1993, 186-187) auf frühe "Erlebnisse von Scham und frühem Zweifel" (Erikson klemmend-ästhetische surreale Aufschlitzen eines Frauenauges wie im «Chien
1950), auf die Genese des Urtraumas extremer Hilflosigkeit wie auf die optische Andalou» von Bunuel, wenngleich dort über die thematisierte aggressive Des-
Vermittlung des sozialen Zwangs zur Selbst- und Affektkontrolle. Hierzu macht integrations- und Zerstückelungsangst bereits Verbindungen zum Spiegelbild und
Bernstein (l 993) darauf aufmerksam, daß Mädchen aufgrund spezifischer Entwick- zum alter ego hergestellt werden. Thematisiert wird im Gegensatz zur Kasuistik
lungskonflikte einem größeren Zwang zum Erlernen der af fektiven Selbstkontrolle, jedoch das "verletzungssüchtige" Auge, das demMesser "seine eingegrabene Ver-
der kontraphobischen Bewältigung von innerem Chaos bzw. intellektueller Ver- letzungswilligkeit" gleichsam anbietet (Müller 1994, 54). "Reiße mir ein Auge
wirrung in Streß Situationen sowie der Beherrschung und Integration genitaler aus, bis es zu Bodenfällt, ich werde dir nie dengeringsten Vorwurf machen" lautet
Ängste unterliegen. Geschlechtsspezifisch bliebe also zu diskutieren, inwieweit diese phantasmagorische Umkehrung, denn "ich bin dein, ich gehöre dir, ich lebe
Frauen den Blicken des Anderen mehr ausgesetzt sind als Männer, dies
nicht mehr für mich" (Lautreamont 1869, 55).
* einerseits durch gesellschaftliche Sichtweisen als "herrschende skopische Öko-
nomie" und "Zuweisung zur Passivität" (Irigaray 1977a, 25),
* andererseits wegen des Erlebens als 'offenem' System mit den resultierenden «Je me suis serviepour les arracher que de nies doigts, je n 'ai employe ni
Ängsten des Zugangs und der Diffusion (Bernstein 1993, 533-537), des pene- les couteaux ni les ciseaux», sagt L6a Papin aus (Dupr6 1984, 52). Es geht
trierenden Eindringens und der Verschmelzung (Wurmser 1986, 113-116). um die Enukleation, das Herausreißen des Augapfels aus der Augenhöhle.
Dies also nicht als phallische Gewaltanwendung, vielmehr als eine den
Situationsdynamisch kommt es in der panischen Antizipation von Strafe zu einer Nukleus erbarmungslos entfernende Verstümmelung. Denn das Augenaus-
projektiv verzerrten Wahrnehmung der Herrschaft und ihres unbarmherzig kratzen steht in engem Kontext mit der Unbarmherzigkeit (Grimm &
strafenden Blicks: Die nervenzerreißende Angstspannung kippt um in das agierte Grimm 1854, 897): "ich will ihm die äugen mit den nageln auskratzen",
Zerreißender Sehnerven beim Gegenüber. was auch bedeute, "eine teufelei mit der ändern auskratzen". Denn das
radikal-archaische Kratzen mit den Nägeln als ältesten Waffen (s.a. Lau-
Wahndynamisch wird deutlich, daß der Blick der Herrschaften nicht nur als
durchbohrend und demütigend, sondern eben auch als Vergewaltigung erlebt
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tr6amont 1869, 13-14) dient primär feindseligem Gebrauch, Krallen brecht 1974, 51) und verweist als nur scheinbarer Tod der sprachlichen Zeichen
gleich, die "die Augen aufreißen wie Austern" (Giguere 1985, 474). darauf, daß diese (Ohn)Macht nur durch "die Vergeltung des aufgeschobenen
Todes mit dem unmittelbaren Tod" abgeschafft werden kann (Bergfleth 1982,
Weiter notiert der Gerichtsmediziner: « Un des globes oculaires a ete retrouve dans 379).
l'escaüer» (Dupre 1984, 26) - das linke Auge von Madame befand sich auf der
Treppe...-Thematisch ähnlich phantasiert Millet (l 990,216-218) Inder Auslotung Die stumme Beziehung der Dienstherrinnen und der Zofen läßt die Unterdrückung
einer ungeheuerlich sadistischen Folterung folgende Sequenz der Täterin: "Wage verbotener Bedeutungen bereits erahnen: Ihre Sprachlosigkeit verweist auf jenen
nicht, mich mit dem Blick so anzuschauen ... und jetzt die Augen genau in die kryptischen "Hohlraum" der "Sinn-Reserve", "wo Sprache und Wort sich impli-
Mitte. Tu', was ich dir sage, oder ich werde sie dir aus dem Kopf stechen und sie zieren" (Foucault 1966, 125-126). Das heißt, die Sprachlosigkeit enthält bereits
dort auf den Boden werfen, wo ich sie haben möchte. Wie Murmeln, hörst du insofern die tödliche Stille der Dinge («le silence des choses»), als sie das
mich...?"- Tatsächlich sagt Christine Papin an einer Stelle der Vernehmungen: Schweigenhinter den Worten («la silencederrierelesmots») selbst ist (Goldschmidt
«En arrachant lepremier oeil, je l 'aijete dans l 'escalier» - sie warf das Auge ins 1988, 15).
Treppenhaus. Es ist die agierte Phantasie beliebiger Verfügbarkeit.
In der Tat erscheint diese verworfene Dimension des Symbolischen, wird
Subversion der Metaphern der sprachlose Aufstand der geknechteten Zofen gegen die Tyrannis ihrer
Herrschaft wortwörtlich agiert. Denn die interpersonelle Dynamik bedingt
Deutlich wird in dieser Wahn- und Tatdynamik, daß eine sprachliche Klär- auch, daß in der Sprachlosigkeit die Introjektion verweigert oder untersagt
ung des Konfliktes nicht (mehr) möglich ist, wobei selbst die Metaphorik wird und so nicht mehr verbal artikuliert werden kann. Als zwangsläufig
nicht mehr 'funktioniert' - was nicht anderes bedeutet, "als daß die Wahr- erfolgende Inkorporation traumatischer Identitätsbildung (Küchenhoff
heit, die in ihrer metaphysischen Tradition im Sinne der Sehmetapher auf- 1990,18) werden diese unnennbaren Dinge quasi kryptisch als Phantasma
gefaßt wird, definitionsgemäß unaussprechlich ist" (Arendt 1977, 123). der Einverleibung über den Mund aufgenommen (Derrida 1976, 44), so-
Stattdessen werden Metaphern wörtlich genommen und primärprozeßhaft daß eine Metaphorisierung im Körper (über den Leib) erfolgt (s.a. Kobbe
agiert, sodaß diese Verbindung von Sprache - Handlung - Unbewußtem nä- 1994b), die nach außen hin als Demetaphorisienmg erscheine und zum
her zu untersuchen ist (Widmer 1990,70-79). Hierbei wird angenommen, Buchstäblichnehmen der damit zurückgewiesenen Metaphern führe. Da-
daß auch der Primärprozeß bereits sprachlich bedingt ist und das Unbewuß- mit ist der hier angesprochene Leib ein anderer als nur der Körper selbst:
te sprachanalog strukturiert innerhalb des Symbolischen geschieht. Er ist das leibhaftige Leben im Gegensatz zum funktionalen Körper (Gold-
schmidt 1988, 16). Das gemeinsame Element von Sprache, Körper und
Derrida (1976) verwendet zur Darstellung der einem Wort unterlegten Bedeutun- Handlung istalso eine Widerspiegelung, gleichsam als sprachliche Reflexion
gen den plastischen Begriff der 'Krypta'; bei Foucault (1966, 124) "nistet" sich körperlicher Flexion(Deleuze 1965,45) bzw. als derenzwar unreflektiertes
die vom offiziellen sprachlichen Code nicht zugelassenen Bedeutung "in eine so doch reflexives Agieren.
wesentliche Falte des Wortes ein..., die es von innen und unendlich tief aushöhlt".
Die Subversion der Metaphern bedeutet, daß die Spannung des metaphorischen Dekonstruktionen
Pulsierens von verdrängtem Signifikant und dessen Substitut als Metaphorisierung
des Seinsmangels nicht mehr gelingt, da der metaphorische Pol des Begehrens im
unhaltbaren Versuch der Zofen, anstelle der Position des Knechts die des Herrn
Das beim Metaphorisieren ersetzte/verdrängte Wort steht in einer Bezie-
einzunehmen, aufgelöst wird. Denn die sinnstiftende Differenz, die sich für das hung zu seinem Substitut, die als Differenz den Sinneffekt ausmacht
Subjektaus der Substituierung des Signifikanten ergibt, wird durch die undialektische (Widmer 1990,70-79), der folglich durch eine sprachliche Analyse der tat-
Erstarrung und Verwerfung des Herrendiskurses weder hergestellt noch aner- sächlichen Geschehnisse erschließbar sein müßte. Wenn die Szenen
kannt. Angesichts dieser diskursiven Infragestellung kann die Halt gebende meta- zwischen Zofen und Herrinnen zum Ziel hatten, Wörter in Tat-Sachen zu
phorische Schließung des Seinsmangels nicht mehr erfolgen und was im Symbo- transformieren, so müßten sich diese aufgrund der kryptischen Struktur,
lischen verworfen wurde, kehrt unweigerlich im Realen wieder. Das Wörtlich- des intrasymbolischen Spalts im Ich sowie der Verdrängung bestimmter
nehmen wird zurRekonkretisierung, zur Wiederholung der Authentizität (Ercken- Worte in das Unbewußte als Rebus lesen lassen (Derrida 1976, 46). An-
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stelle der verbalen Symbolisierung wird der inkorporierte Konflikt durch Die Sprache des Verbrechens (II): Anagrammatik der Biographie
die Szene visualisiert "und es bedarf einer Reflexion der Wörter, einer
Reflexion in den Wörtern, damit am Ende der flexionelle Charakter der Das Eindringen der anagrammatischen Dekonstruktion in die Syntax dient
Sprache, befreit schließlich von allem, was ihn zudeckt, erscheint" hier wie bei Zürn (1977; 1981) der biographischen Rekonstruktion einer
(Deleuze 1965, 45). labyrinthischen Wirklichkeit hinter der Sprache des Verbrechens und ver-
deutlicht das ihr inhärente "weibliche Veto gegen die männliche Öko-
Pur die Transkription wird ein lexikalisches Spiel mit Allosemen, Homonymen, nomie der reinen Form" (von Wysocki 1980, 47). Das Tatgeschehen
Homophonen, Synonymen und Anagrammen2 vorgenommen. Dieses Vorgehen selbst ist wie bei Millet (1990, 74) ein "auf eine seltsame Art sexueller
knüpft an die strukturalistischen Arbeiten von de Saussure an, der die Sprache Mord, aber ohne Sexualität; ... Verstümmelung statt Vergewaltigung".
(«langue») als Abstraktion von der Rede («discours»), dem Sprechakt («parole») Denn der Tat fehlt sogar bei der Zufügung klaffender Wunden eine
trennt und als konkretes Material i. S. einer «materia prima» behandelt (Starobinski phallische Potenz.
1971,9). Zugleich ver-weist sie Semiotik auf den Körper bzw. Leib (s.o.) und den
Trieb, da die Lust des Kindes am noch bedeutungslosen Laut dem Prozeß der
Sprache unterlagert bleibt (Morgenroth 1970,212). Das anagrammatische Sprach- Hinweise hierauf lassensich - sprachexperimentell - anhand der Implika-tionen der
spiel mit graphischen Zeichen versucht als " semiotisches Wurf elspiel" (M orgenroth), die Kränkungssituationen auslösenden Sachen erschließen, nämlich
die "verbale Latenz unter den Wörtern offenbar zumachen", d.h. alle unbewußten a) dem Stück Papier («baut de papier») als Anlaß des Kniefalls von Lea Papin
Elemente des thematischen Wortes bzw. Textes als Anathemen mitzulesen, die sowie
nicht das "schöpferische Subjekt", sondern das "leitende, verleitende Wort" be- b) den am Tatort herumliegenden zwei Brötchen («deuxpetitspains») als Auslöser
dingte (Starobinski 1971, 126). Es ist der Versuch, den Sprachkörper der Macht für die Schlagephantasie (Mitscherlich 1965) in der Übertragung vor der Tat.
in der anagrammatischen Dekonstruktion zu zersetzen (Rabain 1977, 186), da
Macht als "Residuum der Sprache" immer aus dem (wieder)entsteht, "was inner- «J'avais le couteau tres large qui ne coupepas beaucoup etje m 'en suis servipour
halb dieser Sprache nicht konsumiert wird" (Baudrillard 1976, 314). lafrapper» (Dupre 1984, 35): Die Tatwaffe, das große Messer, habe nicht gut
geschnitten und sie habe es zum Schlagen benutzt, äußert Christine, und an anderer
Nicht angebbar ist, wie der latente Inhalt oder die Tiefenstruktur der Gesamtheit Stelle (Dupre 1984, 73), daß das Messer nicht einmal ein Brot geschnitten hätte
der Rede bewiesen werden könnte, wann die dechiffrierte Bedeutung lediglich ein («n 'auraitpas coupe unpain»). Hier findet sich eine bemerkenswerte Koinzidenz
Phantom des Lesers oder nur zufälliges Resultat ist, denn "unter dem Gesetz des mit einer Anmerkung von Dupre zur signifikativen Potenz der Papins: Aus dem
Anagramms sind die Dinge bereit, sich tausendfältige Gesichter zuzulegen" (von «bout de papier» und den «deux petits pains» ergebe sich eine Konjektur, die im
Wysocki 1980, 48). Dennoch läßt sich das lexikalische Sprachspiel sinnvoll zur folgenden verdichteten Signifikanten sichtbar werde:
Erschließung dieses inexistenten Raums nutzen, "der unter der Oberfläche der PAPIER
Dinge das Innere ihrer sichtbaren Erscheinung und die Peripherie ihres unsichtba- PA IN
renKerns trennt" (Foucault 1963,141-142). Die Untersuchung auf das Sichtbare
und das Nicht-Sichtbare zeigt, daß diese "Aufspaltung des Selben der Sprache ihr PAPIN
Zeichen aufprägt" (Foucault 1963, 142), wenn man - im Widerspruch zu
Baudrillard (1976,299-325) - im Anagramm schlicht einen Aspekt des weder rein Liest man in der Bemerkung über das insuffiziente Tatwerkzeug «pain» phonetisch
zufälligen noch voll bewußten Prozesses der Rede sieht, der die nicht ausgespro- auf deutsch als 'Pein' bzw. englisch als "pain" (= Schmerz, Kummer, Mühe), so
chenen und zugleich dennoch nicht stummen Worte erschließt (Starobinski 1971, resultiert hieraus eine weitere Bestätigung des metaphorisierten und nun ana-
127). Denn das Wortspiel hebt die wortmagischc Identität von Begriff und Sache grammatisch erschließbaren "Gefühlsklimas" (Bellmer 1954, 223): Bei beiden
auf (Erckenbrecht 1974,76) und setzt "dem Zyklus der buchstäblichen Entsprechung Anlässen werden Metaphern des Niederkniens wie des Augenauskratzens wo rtlich
(Reversibilität und Dissemination)... die Ordnung der Diskursivität (Reversibilität genommen ausgeführt. Weder «pain» noch «papier» ergeben in der peinigenden
und Akkumulation)" entgegen (Baudrillard 1976, 314). Dieses diskursive Vorge- Realität einenpotenten NamenPapinund ihr deklinierender, sprich (knie)beugender
henmacht den Prozeß des Verstehens dadurch wieder dialektisch, daß ein speku- Übertrag, der ihn ergeben könnte, ist nicht von den Schwestern - erst dem un-
lativ-experimentelles Sprachdenken seine erstarrte Rationalität wieder belebt vollständigen Anagramm anderer entspringt "jählings" ein "in unerbitterlicher
(Erckenbrecht 1974, 77). Herrschaft gefangener Sinn" (Rabain 1977, 184).