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I. Begriffsgeschichtlicber Überblick
i Dictionnaire Politique, publ. par E. Duclerc et Pagnerre, Paris 1868 (7. éd.), 1839
(1. éd), art. »crise«, p. 298. Für alle folgenden Belege siehe meinen Artikel »Krise«
in: Geschichtliche Grundbegriffe, hg. v. Otto Brunner u. a., Bd. 3, Stuttgart 1982,
S. 617-650.
2.04 Teil II: Begriffe und ihre Geschichten
digt. Der Verweis auf den medizinischen Sinn wurde nun bewußt
als Metapher apostrophiert, wie von Rousseau. In Deutschland
ist z.B. von der Krise des Deutschen Reichssystems die Rede,
wobei auf die föderale Verfassungsstruktur abgehoben wurde,
deren interne Regeln nicht mehr ausreichten, um das Reich zu
stabilisieren. Deshalb sei ein zusätzlicher Fürstenbund zu stiften,
aus dessen Präambel 1785 die Formulierung stammt.
›Krise‹ legt insofern eine ähnliche Karriere zurück, wie Revo-
lution« oder Fortschritt«, die beide zu temporalen Begriffen wer-
den, deren räumliche oder naturale Vorbedeutung sich seit d e r
Aufklärung verflüchtigt, um zu primär geschichtlichen Begriffen
aufzurücken. Das zeigt sich z. B. bei Leibniz, der während des
nordischen Krieges mit dem Aufstieg des Russischen Reiches eine
neue W e l t k o n s t e l l a t i o n heraufziehen sah: » Momenta temporum
pretiosissima sunt in transitu rerum. Et l'Europe est maintenant
dans un état de changement et dans une crise où elle n'a jamais
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été depuis l'Empire de Charlemagne. « Der Begriff rückte in eine
geschichtsphilosophische Dimension ein, mehr noch, er erschloß
diese Dimension, die er im Laufe des 18. Jahrhunderts immer
mehr ausfüllen sollte. »Krise« rückt auf zu einem geschichtsphi-
losophischen Grundbegriff, der den Anspruch anmeldet, den g e -
samten Geschichtsverlauf aus der eigenen Zeitdiagnose heraus
deuten zu können. Es ist immer die jeweils eigene Zeit, die seit-
dem als Krise erfahren wird. Und die Reflexion auf die eigene
Zeitlage disponiert sowohl z u r Erkenntnis der ganzen Vergan-
genheit wie zur Prognose in die Zukunft.
Spätestens seit der Französischen Revolution wird ›Krise‹
zum zentralen Interpretament sowohl für die politische wie für
die Sozialgeschichte. Das gleiche gilt für die langfristige indu-
strielle Revolution, die von einer wissenschaftlich ausdifferen-
zierten Krisen- und Konjunkturlehre begleitet und beeinflußt
wird.
Im Unterschied zur Nationalökonomie fällt allerdings auf,
daß für die geschichtlichen Gesamtkonzeptionen im 19. Jahr-
2 Leibniz, Konzept eines Briefes an Schleiniz (23. 9. 1712), Leibniz' Rußland be-
treffender Briefwechsel, hg. v. Wladimir Iwanowitsch Guerrier, Petersburg und
Leipzig 1873, Tl. 2, S. 227L, zit. nach D. Groh, Rußland und das Selbstverständ-
nis Europas, Neuwied 1 9 6 1 , 8 . 3 9 .
Einige Fragen an die Begriffsgeschichte von ›Krise‹ 207
4 Richard Rothe, Die Anfänge der christlichen Kirche und ihre Verfassung (1837),
zit. nach: Peter Meinhold, Geschichte der kirchlichen Historiographie, München
und Freiburg 1967, Bd. 2, S. 221.
5 Karl Barth, Der Römerbrief (1918), 9. ND der 5. Aufl. (1926), Zollikon und
Zürich 1954, S. 57, 32.
ti Zit. n. Lothar Schäfer, Laßt Theorien sterben anstatt Menschen. Vor hundert
Jahren wurde Karl Popper geboren, in: Neue Züricher Zeitung, 27./28. Juli
2002.
Einige Fragen an die Begriffsgeschichte von ›Krise‹ 21 i
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higher decency, purer purpose.« Dies die Worte von Franklin
D. Roosevelt kurz vor seinem Tode. Von der semantischen Op-
tion her muß die Frage gestellt werden, ob -Fortschritt« der Leit-
begriff für ›Krise‹ ist oder ob der iterative Periodenbegriff von
›Krise‹ der wahre Leitbegriff ist, unter dem auch Tortschritt« zu
subsumieren ist. Wenn «Krise« als iterativer Periodenbegriff eine
größere Erklärungskraft beanspruchen darf, dann könnte der
Fortschritt, den es unbestreitbar gibt, in sein relatives Recht ein-
gewiesen werden.
3. Die Krise als Letztentscheidung. Daß die Krise, in der man
sich jeweils befinde, die letzte große und einmalige Entscheidung
sei, nach der die Geschichte in Zukunft ganz anders aussehen
werde - diese semantische Option wird immer häufiger ergriffen,
je weniger an das absolute Ende der Geschichte durch ein Jüng-
stes Gericht geglaubt wurde. Insofern handelt es sich um die Um-
besetzung eines theologischen Glaubenssatzes. Er wird der welt-
immanenten Geschichte selbst zugemutet. Einige Zeugen seien
aufgerufen. Robespierre sah sich als Vollstrecker einer morali-
schen Gerechtigkeit, die sich durch Gewalt wider Willen ihren
endgültigen Durchbruch verschafft. Thomas Paine glaubte ange-
sichts der Krisis der amerikanischen und der Französischen
Revolution ebenso, daß die Zukunft eine absolute Wende in sich
birgt. Auch ursprüngliche Partisanen der Französischen Revo-
lution, die zu erbitterten Gegnern ihrer bonapartistischen Folgen
wurden, konnten diese semantische Option durchhalten. Es
seien nur genannt: Friedrich Schlegel, Fichte oder Ernst Moritz
Arndt aus dem deutschen Sprachraum. Der absolute Tiefpunkt
der Geschichte verbürgt den Umschlag zur Erlösung. Für Frank-
reich sei auf die Geburt der Soziologie aus dem Geist der Revo-
lution (nicht nur der Restauration) verwiesen. St. Simon oder
Auguste Comte wußten sich in der »Grande Crise Finale«, die
durch wissenschaftliche Planung und industrielle Produktions-
steigerung ein für allemal durchschritten und überwunden wer-
den könne. Auch Lorenz von Stein ist hier zu nennen, der im
Ausgleich von Kapital und Arbeit die letzte Chance erblickte,
Europa vor dem Rückfall in Barbarei zu bewahren.
Es ist leicht, die jeweils als letzte Entscheidung erwartete Krise als
eine perspektivische Illusion zu enthüllen. Es gehört zur Endlich-
keit aller Menschen, daß sie ihre jeweils eigene Lage für wichtiger
ansehen und ernster nehmen, als alle vorangegangenen Lagen es
gewesen seien. Aber man sollte sich davor hüten - gerade im
Hinblick auf die Lehre vom Jüngsten Gericht -, diese überzogene
Selbsteinschätzung der Menschen nur als perspektivischen Irr-
tum abzutun. Gerade wenn es darauf ankommt, auch nur das
Überleben zu sichern, könnte es sein, daß sich viele Entscheidun-
gen als Letztentscheidungen herausstellen. ›Krisis‹ im griechi-
schen Sinne des Zwanges zum Urteilen und zum Handeln unter
dem Vorgebot der Zeitnot bleibt ein Begriff, der auch unter den
komplexen Bedingungen der modernen Gesellschaft unverzicht-
bar ist. Das möchte ich mit einem historischen Gedankenexpe-
riment erläutern.
Es gehört zur christlichen Lehre, daß Gott die Zeit verkürzen
werde, bevor das Weltende hereinbreche. Dahinter steht die kos-
mologische Vorstellung, daß Gott als Herr der Zeiten das vorge-
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Teil II: Begriffe und ihre Geschichten
sten Gericht vorausgehen sollte, hat den Begriff der Krisis nicht
um seinen Sinn gebracht. Auch die Beschleunigung der neuzeit-
lichen Welt, über deren Wirklichkeitsgehalt kein Zweifel besteht,
läßt sich als Krisis begreifen. Offenbar sind Entscheidungen fäl-
lig, die, wissenschaftlich oder nicht, gewollt oder ungewollt, dar-
über befinden, ob und wie das Überleben auf diesem Globus
möglich ist oder nicht. Die kosmische Zeitverkürzung, die ehe-
dem in mythischer Sprache dem Jüngsten Gericht vorangehen
sollte, läßt sich heute empirisch verifizieren als Beschleunigung
geschichtlicher Ereignissequenzen. In Jacob Burckhardts Wor-
ten: »Der Weltprozeß gerät plötzlich in furchtbare Schnelligkeit;
Entwicklungen, die sonst Jahrhunderte brauchen, scheinen in
Monaten und Wochen wie flüchtige Phantome vorüberzugehen
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und damit erledigt zu sein. « Der gemeinsame Oberbegriff für die
apokalyptische Zeitverkürzung, die dem Jüngsten Gericht vor-
ausgehen, und für die geschichtliche Beschleunigung ist ›Krise‹.
Sollte das nur ein sprachlicher Zufall sein? In christlicher und in
nichtchristlicher Bedeutung indiziert ›Krisis‹ in jedem Fall einen
anwachsenden Zeitdruck, dem die Menschheit auf diesem Glo-
bus nicht zu entrinnen scheint.
Deshalb sei zum Schluß eine temporale Hypothese angebo-
ten, die durchaus nicht neu ist. Betrachtet man von heute aus die
bisherige Geschichte der Menschheit, so läßt sie sich durch drei
exponentielle Zeitkurven darstellen. Gemessen an den fünf Mil-
liarden Jahren, seitdem unser Globus mit einer festen Erdrinde
überzogen wurde, ist die eine Milliarde Jahre organischen Le-
bens eine kurze Zeitspanne, aber noch viel kürzer ist die Zeit-
spanne der 10 Millionen Jahre des zu vermutenden menschenar-
tigen Wesens, von dem erst seit zwei Millionen Jahren selbstfa-
brizierte Werkzeuge nachweisbar sind.
Die zweite exponentielle Zeitkurve läßt sich in die 2 Millio-
nen Jahre einzeichnen, seitdem der Mensch sich durch selbstge-
fertigte Werkzeuge auszeichnet. Die ersten Dokumente gleich-
sam genuiner Kunst liegen 3 0 0 0 0 Jahre zurück, die Entstehung
von Ackerbau und Viehzucht rund 1 0 0 0 0 Jahre. Und gemessen