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Frühgestörten*
Einleitung
Der Titel dieses Referats umreißt die Charakteristika wie die Proble-
matik des frühgestörten Patienten und seines Therapeuten: beide be-
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finden sich - zumindest zeitweilig - im Zwiespalt .
Zunächst bleibt kurz zu definieren, um welche Patienten es hier geht;
gemeint sind Patienten mit Borderline-Störungen im Sinne Kernbergs (17)
und Rohde-Dachsers(34; 35), Patienten mit pathologischem Narzißmus (17;
19), mit Charakterneurosen im Sinne klassisch-psychiatrischer Termino-
logie, mit einer Grundstörung im Sinne Balints (2), mit sogenannten
strukturellen Ich-Störungen im Sinne Fürstenaus (11) .
Das z.Z. (ein-) gängige aber (ebenso) anspruchsvolle theoretische
Erklärungs- und Entwicklungsmodell dieser frühen Persönlichkeitsstö-
rungen ist nach wie vor die Objektbeziehungstheorie von Kernberg (16;
18), die hier nun gerade nicht erörtert oder dargelegt werden soll
(45, 340-344). Vielmehr geht es um die konkreten Erfahrungen im Umgang
mit diesen Patienten, um das eigene Erleben, die Gegenübertragung, das
praktische therapeutische Handeln und das therapeutische Dilemma.
wollen, was denn zu behandeln sei, bleibt nur allzu häufig unklar,
ungeklärt. Einerseits wirkt es, als werde ein Symptom, ein Leiden,
eine Krankheit angeboten; andererseits werden Versuche einer systema-
tischen Differentialdiagnostik, werden Einkreisungen der Persönlich-
keits- wie Alltagsproblematik vermieden bis verhindert.
Und dennoch kehren diese Patienten immer wieder zurück, machen sie
ernsthafte Versuche sich zu öffnen und sich auf den anderen einzulas-
sen, erzählen sie lange, differenziert und anschaulich von sich, von
ihrem intrapsychischen Leid, ihren Ohnmachtsgefühlen und Allmachts-
phantasien, ihren Bedürfnissen, besser Sehnsüchten nach symbiotisch-
nahen Beziehungen und panischen Ängsten vor intensiveren persönlicheren
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Kontakten zugleich . So wird der Behandler u.U. zum Zuhörer, zum mit-
fühlend-verwirrten Anderen, zur "sprechenden Attrappe" (28) ebenso wie
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zum "hellhörigen Gesprächsteilnehmer" (12) . Im therapeutischen Handeln,
d.h. Nachfragen, versuchsweisen Strukturieren des Gesprächs, Herstellen
von Sinnzusammenhängen oder gar Interpretationen, erlahmen die meisten
Kollegen recht schnell, gehen sie den Vorgaben dieser Patienten nach,
sehen sie nur hierin eine Möglichkeit, den Spannungsbogen zwischen
Patient und sich selbst weder einbrechen noch zerreißen zu lassen.
Zugleich 'schützt1 auch dies uns nicht: frühgestörte Patienten belasten
uns mit noch undifferenzierten und um so schwerer erträglichen effek-
tiven Ausbrüchen, impulsiven Handlungen und im Augenblick unverständ-
lichen Projektionen. Heftigste aggressive Gefühle wechseln mit insi-
stierend-aufforderndem Nachfragen; hilflos-schutzsuchendes Anrufen
außerhalb der vereinbarten Termine wechselt mit wütend-enttäuschten
Gesprächsabbrüchen in der nächsten Stunde; plastische, sich kaskaden-
artig umstürzende Imaginationen (44) wechseln mit lähmend-leerem Schwei-
gen 6.
Masterson beschreibt diese Phänomene sehr anschaulich: "Die sechs
psychischen Reiter der Apokalypse - Depression, Wut, Angst, Schuld,
Passivität und Hilflosigkeit sowie Leere und Nichtigkeit - wetteifern
in ihrer emotionalen Wucht und Destruktivität mit der sozialen Gewalt
und Destruktivität der ursprünglichen vier Reiter - Hungersnot, Krieg,
Überschwemmung und Pestilenz. Technische Begriffe sind zu abstrakt,
um die Intensität und Unmittelbarkeit dieser Gefühle und damit die
Herrschaft zum Ausdruck zu bringen, die sie über das gesamte Leben
des Patienten haben. Die Funktionsfähigkeit des Patienten in der Welt,
seine Beziehungen zu anderen Menschen und selbst einige seiner physio-
logischen Funktionen sind der Abwehr dieser Gefühle untergeordnet" (26, 46)
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out (Teil I)
Ganz gleich was von dem soeben Beschriebenen herausgegriffen wird:
es handelt sich um das Regredieren, um das Agieren des Patienten,
der es lernt, "ausdrücklich und oft mit primitiver Intensität zu
sagen, was er denkt und fühlt; bald erkennt er, daß die objektive
Beschreibung der Ereignisse nicht genügt, daß auch die sie begleiten-
den Affekte ausgedrückt werden sollen. Er beginnt, lauter und ein-
dringlicher zu sprechen, Gesten und Bewegungen zu machen; mitunter
überwältigen ihn seine Gefühle und er agiert in der Übertragung"
(2, 97-98) oder in der Situation statt zu sprechen. Balint beschreibt
diese Situation sehr plastisch weiter, so daß er sowohl bezüglich der
Haltung des Therapeuten wie der Phantasien und des Erlebens der Patien-
ten zitiert werden muß. Er schreibt:
"Der Druck dieser hochgeladenen Emotionen erzeugt eine merkwürdige
Ungleichheit in der Beziehung zwischen Analytiker und Patient. Der
Analytiker wird als mächtige, lebenswichtige Gestalt erlebt, aber
nur soweit er imstande und willens ist, die Erwartungen, Hoffnungen,
Wünsche und Bedürfnisse des Patienten zu befriedigen oder zu enttäuschen;
außerhalb dieser Sphäre, in der Wirklichkeit, existiert der Analytiker
kaum für ihn. Natürlich hegt der Patient alle möglichen Phantasievor-
stellungen über seinen Analytiker, aber sie haben in der Regel mehr
mit den inneren Bedürfnissen des Patienten als mit dem wirklichen Leben
und der wirklichen Persönlichkeit des Analytikers zu tun. Obwohl sich
der Patient im Vergleich zum Analytiker meist als der Schwächere erlebt,
ist es doch immer nur er, der Patient, um den es geht; nur seine Wünsche,
Triebimpulse und Bedürfnisse zählen, nur um seine Interessen muß dauernd
alle Aufmerksamkeit kreisen.
Diese Konstellation gilt für alle Patienten; immerhin gibt es aber Grad-
unterschiede in der Intensität und Dauer" (2, 104). Bei schwerer ge-
störten Patienten verliert das Wort "seine Verbindlichkeit als gemein-
sames Verständigungsmittel zwischen Patient und Arzt; besonders die
Deutungen bekommen für den Patienten eine Erlebnisqualität entweder
von Feindseligkeit und Aggression oder von Zuneigung. Der Patient be-
ginnt, zuviel über seinen Analytiker zu wissen; so geschieht es recht
häufig, daß er die Stimmung des Analytikers eher spürt als dieser selbst.
Gleichzeitig zieht der Patient sein Interesse scheinbar mehr und mehr
von den eigenen Problemen und Leiden, die ihn ursprünglich zur Analyse
geführt hatten, ab und konzentriert es zunehmend darauf, was wohl die
'wahren Gründe' sein mögen, die den Analytiker veranlaßten, dies oder
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jenes zu sagen, dies oder jenes zu tun, in dieser oder jener Stimmung
zu sein. Das absorbiert einen erheblichen Teil seine Libido, und es ist
vielleicht der Grund, weshalb der Patient in diesen Zustand scheinbar
nicht mehr den Drang hat, gesund zu werden, und den Wunsch, wenn nicht
sogar die Fähigkeit verliert, sich zu ändern. Zugleich nehmen seine Er-
wartungen an den Analytiker ein alles menschenmögliche übersteigendes
Ausmaß an, sei es im positiven Sinne in Gestalt von Sympathie, Verständ-
nis, Fürsorge, kleinen Geschenken und anderen Zeichen seiner Zuneigung,
sei es im negativen Sinne in Gestalt wütender Angriffe, gnadenloser Ver-
geltung, eiskalter Gleichgültigkeit usw. Kurz, die Vergangenheit hat
fast alle Bedeutung für den Patienten verloren, und nur noch die analyti-
sche Gegenwart existiert" (2, 104-105).
Auch der Therapeut kann auf die unterschiedlichsten Weisen auf die z.T.
subtilen Reaktionen seiner Patienten reagierten: "Seine Reaktion kann
gleichbedeutend mit Indifferenz, Mißbilligung, vielleicht nur einem
Schwimmer von Verdruß sein; er mag das Agieren tolerant behandeln, aber
unmittelbar darauf mit einer korrekten, zeitlich wohl überlegten Deutung
antworten, die den Patienten im Erlernen der Sprache des Analytikers
einige Schritte weiter fördern wird und weiteres Agieren verhindert;
vielleicht erlaubt er das Agieren auch eine Art von Sicherheitsventil;
oder er behandelt es in aller Ruhe als eine Selbstverständlichkeit,
ohne eine Deutung für notwendig zu halten, also ohne es anders zu be-
handeln als sonstige Mitteilungsformen" (2, 103).
So pendelt der Therapeut emotional zwischen Zuneigung und Ablehnung,
zwischen einfühlsamen Verstehen und ratlosem Unverständnis, zwischen
innigem Rapport und distanziertem Kontakt, zwischen - wenn auch skepti-
scher - Hoffnung und verärgerter Aufgabe oder Abbruch der Beziehung,
zwischen befremdetem Idealisiertwerden und schwer erträglichem Ent-
wertetwerden. Es geht bei diesen Patienten um Ja oder Nein , um Tod
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oder Leben , um alles Alles oder Nichts .
"Diese archaische Ambivalenz dem Objekt gegenüber konstelliert aber
ein- für allemal unser Verhältnis zu solchen Menschen und Dingen, die
wir in unserem Leben mit Interesse, Liebe, mit Leidenschaft besetzt
halten und die infolgedessen eine entscheidende Rolle in unserem Erleben
besitzen. Im Lerngehorsam werden wir gezwungen, einen großen Teil der
ambivalenten Regungen zu unterdrücken, seien es Regungen libidinöser,
seien es solche aggressiver Art. Die sozialen Rollen, die uns die Ge-
sellschaft anbietet, haben dementsprechend nicht Raum für das volle
Ausleben der Ambivalenz. Unsere Fähigkeit, ambivalente Gefühle in uns
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Das Therapeuten-Dilemma
In welchem therapeutischen Setting man auch immer mit diesen Patienten
zu tun haben mag, ob ambulant, teilstationär oder stationär, in jedem
Fall muß der Therapeut Zugang haben zu dem extremen Erleben des Patien-
ten, zu seinen heftigen Affekten, seinem exzessiv-willkürlich erschei-
nenden Verhalten. Anders ausgedrückt: wie 'gestört1 muß und darf der
Therapeut selbst sein, um derartig archaische Mechanismen sowohl an-
nehmen und einfühlen wie auch ertragen und durchhalten zu können? 10
Margarete Mitscherlich beschreibt sehr klar, die Tätigkeit des Therapeu-
ten setze voraus, "daß seine Ich-Funktionen es ihm erlauben, flexibel
und kritisch mit seinen Abwehrmechanismen umzugehen. Die 'Ich-Spaltung',
die vom Analytiker verlangt, gleichzeitig zu fühlen, zu erleben, zu
denken und sich dabei zu beobachten, setzt voraus, daß er ein ziemlich
intaktes Ich haben muß. Ernst Kris unterscheidet dabei zwei Ebenen der
Ich-Tätigkeit: zur Selbstbeobachtung des Ich kommt noch die Beobachtung
der Art seiner Funktionsweise hinzu. Um diese analytischen Ich-Fähigkei-
ten zu entwickeln und sich in das primär-prozeßhafte Denken des Patien-
ten einfühlen zu können, dabei gleichzeitig aber dem sekundär-prozeß-
haften Denken verpflichtet zu bleiben, darf die Ich-Störung eines Be-
werbers also nicht tiefgehend sein" (30, 220) .
Hiermit wird bereits eine Grundhaltung angesprochen, die im therapeuti-
schen Umgang mit strukturell Ich-Gestörten wesentlich erscheint: auf-
merksame Geduld mit sich und dem anderen, Klarheit und Eindeutigkeit
im Gespräch ebenso wie konsequente, überdauernde Verläßlichkeit im Ver-
halten 11 . Masterson beschreibt, der Therapeut müsse "eine wirkliche
Person sein, die eine konsequente, ausdrücklich unterstützende Haltung
bewahrt" (26, 92). So verweist auch Rosenfeld darauf, daß diese Arbeit
"absolute Offenheit und Aufnahmebereitschaft erfordert, da diese Patien-
ten gerade auf dem Feld früher, primitiver Objektbeziehungen ihr wesent-
liches Trauma erlitten haben" (36, 352) .
Mit Unterstützung meint Masterson "zwei äußerst wichtige Dinge: einmal
muß der Therapeut gegenüber der Individuation des Patienten eine posi-
tive Haltung beibehalten. Dies hat die ständige und stetige Erwartung
zur Folge, daß der Patient in realistischer, gesunder und reifer Weise
handeln wird, und ist mit einer Haltung der Neugier, Anteilnahme und
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Anmerkungen
1 Knaurs Wörterbuch der Synonyme präzisiert 'zwiespältig1 als:
zerrissen, gespalten, zweifelnd, widerstrebend, widerstreitend,
entscheidungsunfähig, unentschieden, unentschlossen, uneins, un-
einig, unschlüssig, mit sich zerfallen, unausgeglichen, labil,
disharmonisch, diskrepant (33, 559).
2 Alexander Mitscherlich spricht von der "schroffen Ambivalenz der
Gefühlsäußerungen" (29, 129), von der "Archaischen Ambivalenz"
(29, 214) und schreibt weiter: "Da der Ausdruck der Sympathie und
Antipathie so eindrucksvoll mit Sinneswahrnehmungen belegt wird
(man kann jemanden nicht riechen, sehen, seine Stimme nicht hören,
man schreckt voreiner Berührung mit ihm zurück, weil sie widerlich
ist), ist anzunehmen, daß das affektive Gestaltsschema, das später
die Gefühlsregungen der Sympathie und Antipathie erweckt, sehr früh
in den ersten zwischenmenschlichen Erfahrungen gebildet wird, in
einer Lebenszeit intensivster Sinneseindrücke bei noch mangelhaften
Ich-Leistungen und dem Vorherrschen magischer Konstruktionen zwischen
den einzelnen Erfahrungen" (29, 131).
S. auch 49, 250-252.
3 Eine Situation, die Ciompi mit der des "berühmten Reiters auf dem
Eis des Bodensees" (5, 209) anschaulich beschreibt.
4 Vgl. Gottschalchs Formulierung der "heillosen Dreieinigkeit von
Aggression, Ambivalenz und Narzißmus" (13, 17-30).
5 S. auch Lacan (21, 206-207).
6 Rigide Konzepte in der Psychotherapie, die "methodengläubige Sterili-
tät eines idealisierten Standard-Verfahrens" mit diesen Patienten
führen "häufig zu einem Ausagieren außerhalb der Analyse oder zu
Impulshandlungen in ihr - oder wiederum zu einer von heftigen, aber
leeren Affekten oder tötlicher Monotonie begleiteten analytischen
Behandlung, deren Sitzungen immer weitergehen, aber zu nichts mehr
führen" (28, 13-14).
7 So überschreibt Spitz (40) seine Zusammenfassung von Einzelunter-
suchungen zur Ontogenese des Ichs, zur Entfaltung und Gestaltung
der Objektbeziehungen, zur Grundlegung und Festigung der Persön-
lichkeitsstruktur innerhalb der ersten beiden Lebensjahre mit dem
Buchtitel 'Nein und Ja', keineswegs Nein oder Ja.
8 Vgl. Henseler (14); s. auch Ferenczi (7).
9 Knaurs Wörterbuch der Synonyme verweist unter 'Zwiespalt' folge-
richtig auf 'Zweifel' und ersetzt dies u.a. mit "Wenn und Aber,
Für und Wider, Hin und Her, entweder-oder" (33, 5bb)) .
S. auch 47, 344-347.
10 Kernberg beschreibt diesbezüglich ausführlich Qualifikation und
Persönlichkeit des Therapeuten (17, 173-177); s. auch Lacan (21,
204-205).
11 S. hierzu Laing (23, 30-31).
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