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Credo
Vorwort
1. Dieses Buch wurde nicht geschrieben für gute Christen, die in ihren Kirchen eine endgültige
Heimat gefunden haben. Diese werden das Buch vielleicht verärgert oder beunruhigt beiseite
legen. Sie werden möglicherweise sagen: Was da geschrieben steht, hat mit dem Christentum,
das wir im Religionsunterricht und von den Kanzeln kennen lernten, nichts oder sehr wenig zu
tun. Sollten Sie sich aber durch dieses Buch nicht verstören lassen, dann sind Sie der Leser, für
den es geschrieben wurde.
2. Es ist also geschrieben für Menschen, die sich selbst nicht oder nur unter Einschränkung für
Christen halten, wenn sie nur für nicht unmöglich halten, irgendwann einmal Christ zu werden.
Es ist aber auch geschrieben für Neugierige, um etwas über das Christentum zu erfahren, inso-
fern es sich nicht als angepaßt an institutionale Interessen (die ja immer auch Erkenntnis leiten)
versteht.
3. Christ kann man leichter werden, als viele meinen. Es ist keineswegs an erster Stelle eine Zu-
mutung an den Verstand, sondern sehr viel eher eine an die sittliche Persönlichkeit, ohne sich
als Sittenlehre zu gebärden. Unsere Gesellschaft und ihre Ordnungen haben eine Menge von
Fußangeln ausgelegt, die viele auf dem Weg ins Christentum vorzeitig in den Vorräumen ein-
halten lassen und hier gefangensetzen. Die ersten Schritte der Ablösung von liebgewordenen
Vorstellungen und Lebenspraktiken sind sicher nicht leicht in einer Welt der religiösen Neutra-
lität der Etablierten, die zu einer verharmlosten und institutionalisierten Form des Christentums
anraten.
4. In diesem Buch werde ich Sie relativ wenig mit einem unerklärten Gottesbegriff erschrecken -
und wenn er eingeführt wird, dann nahezu trivial selbstverständlich. Insoweit ist das Buch also
gedacht für Menschen, die das Wort »Gott« sorglichst meiden, weil es ihnen entweder zu viel
oder zu wenig sagt. Sollten Sie zu einer dieser beiden Gruppen gehören, dann wäre es gut,
wenn Sie diese Sprech- und Hörpraxis beibehielten, denn Religiosität kann im zu häufigen
Gebrauch dieses Wort verenden.
5. Christsein ist kein Zustand, sondern ein Programm. Das Programm eines Lebensentwurfs, einer
Lebensorientierung, die, wenn sie gelingt, Leben und Ereignissen Sinn und Bedeutung gibt.
6. Ich habe dieses Buch geschrieben auf Grund meiner Erfahrungen mit vielen Menschen, die Ori-
entierung suchten. Nicht wenige davon wurden Christen, wenn auch nur einzelne den Weg in
eine institutionalisierte Form des Christlichen fanden.
7. Ich bin sicher, daß es viele Wege ins Christentum gibt. Hier soll nur einer beschrieben werden.
Ich denke, daß ein Mensch nur den Weg beschreiben sollte, den er selbst gegangen ist oder
besser: geht. Und das ist Immer nur einer. Andere mögen über andere Wege schreiben. Sie
können ebenso gangbar sein, wie der hier gewiesene.
8. Nicht auf allen Wegen sind alle möglichen, nicht einmal alle dogmatisch-zentralen Aussagen
des Christentums von gleicher Bedeutung. Wenn in diesem Buch die eine oder andere fehlen
sollte, dann nicht, weil ich sie für falsch halte, sondern weil ich der Überzeugung bin, daß sie
auf einem anderen Weg ihre spezielle Rolle und Aufgabe hat.
9. Ich bitte den Leser zu bedenken, daß das Buch keinen Abriß einer christlichen Dogmatik geben
will. Es soll ein sorgsam ertasteter Weg ins Christentum vorgestellt werden. Da verbietet sich
aber auch die Methode, alles zu einem Thema auf einmal zu sagen. Die einzelnen Kapitel sind
inhaltlich miteinander verwoben und ergänzen sich mitunter inhaltlich und dialektisch-
methodisch. Dialektisch, weil mitunter eine These vorgestellt wird, die später durch eine Ge-
genthese relativiert und ansatzhaft zu einer Synthese geführt wird. Diese Methode empfiehlt
sich immer dann, wenn der Gegenstand wegen seiner historischen Nähe oder seiner spekulati-
ven Ferne nur inadäquat begriffen werden kann.
10.Wer den in diesem Buch beschriebenen Weg mit dem Autor zusammen gegangen ist, wird sich
kaum einbilden, er sei am Ziel von irgendetwas anderem als am Schluß der Lektüre dieses Bu-
ches. Der Weg ins Christentum hat kein Ende, das wir begreifen oder auch nur ahnen können.
Einleitung
Wenn jemand Christ werden möchte oder auch nur wissen will, was denn Christentum eigentlich
ist, wird er allen Formen organisierter Religiosität mit Scheu oder Skepsis begegnen. Christliche
Religiosität wird organisiert und als organisiert verwaltet von den christlichen Kirchen (obschon
sich deren Funktion keineswegs in solcher Tätigkeit erschöpft). Formen der institutionalisierten
Verwaltung des Religiösen manifestieren sich in Kult, Dogma, Recht. Nicht selten wird der Su-
chende Kirchen und diesen ihren Ausdrucksformen mit reichlichem Befremden gegenüberstehen.
Dieses Befremden wird um so heftiger, als er oft nur unter diesen institutionalisierten Gestalten
Christentum bemerkt (sieht man einmal von einigen wenigen Ausnahmen ab, da Menschen un-
übersehbar Christentum leben). Sehr oft ist der erkenntnismäßige, vor allem aber auch der emoti-
onale Weg zum Christlichen durch diese Institutionalisierung versperrt. Das hat seine guten Grün-
de. Institutionen sind zumeist »eingefrorene Geschichte“. In Kult, Dogma und Recht einerseits
und im Handeln der Institution aus diesen drei andererseits manifestiert sich die Geschichte der
Kirchen. Jede Zeit hinterließ hier ihre Spuren - und die sind nicht jederzeit verständlich. Damals
waren Probleme, Bedürfnisse, Interessen andere.
Es gab einmal eine Zeit - und sie lebt in ihren Spuren noch in unserer Mitte - da unterschied man
Wesentliches vom Unwesentlichen. Heute haben wir das Maß verloren, beides verbindlich oder
verpflichtend gar zu scheiden. Institutionen aber scheiden, denn - da sie nicht alles bewahren -
bewahren sie das Wesentliche. Oder besser: Einiges wird wesentlich, weil sie es bewahren. Und
anderes unwesentlich. Das ist das Ärgerliche: Es gibt Dinge, Ereignisse, Bedürfnisse, Wünsche,
Hoffnungen… die »von Amts wegen« unwesentlich gemacht werden. Und so protestiert das Le-
ben gegen das Amt, das manches unwesentlich macht - keineswegs aber sich selbst.
Und es gibt das Unbedingte, das Institutionen als den Horizont ausweisen, in dem das Bedingte
spielt. Eine solche Grenze ziehen heißt, Bedingtes auf Plätze zu verweisen, die unerheblich sind.
Mag sein, daß zwischen Bedingtem und Unbedingtem eine »wesentliche« Differenz besteht. Aber
das Unbedingte funktioniert, wird funktional nur als Bedingtes. Und nur das Funktionale wird er-
fahren. Das soll nicht heißen, daß Funktionen nicht ihren realen (gegenständlichen) Grund haben
könnten, doch ist ihr Grund zuerst einmal logisch, wie auch der Unterschied zwischen Bedingtheit
und seiner Negation zunächst einmal logisch ist.
Ich werde in manchen Kapiteln dieses Buches von Unbedingtem sprechen, aber nicht als vom Be-
dingten abgehoben, sondern als sich im Bedingten praktisch, erfahrbar, erheblich machend.
Das alles klingt ziemlich theoretisch. Der Eindruck täuscht, denn es geht darum, der Theorie den
Platz zuzuweisen, der ihr gebührt: den der unpraktischen Abstraktion von der konkreten Lebens-
welt. Sie hat keine inhaltliche Bedeutung an sich, sondern nur relative Bedeutung hin auf die Le-
benspraxis und die Lebenswahrheit.
Offensichtlich normieren die Institutionen Inhalte und Gehalte der Religiosität und machen sie
damit abstrakt und theoretisch. Sie sind somit von den Ansprüchen alltäglicher Anwendbarkeit
entschuldigt und mit einem widernatürlichen Eigenleben ausgestattet. Dogmen, die nicht mehr
alltäglich praktisch werden, sind funktionslos und (auf einer höheren als der semantischen Ebene)
bedeutungslos, weil abgelöst von konkreter Realität.
Daß auch Kult und Recht zum Selbstzweck entarten können, ist wohl unbestritten. Und dann tobt
sich die in ihnen präsentisch gebliebene Vergangenheit in der Gegenwart des Lebens aus - es gar
bedrohend.
Institutionen sind also immer konservativ. Das bedeutet, sie halten die Gegenwart für wichtiger
als sie ist und interpretieren sie ins Gute. Recht und Dogma wollen wohl stets bewahren (Institu-
tion und Lehre). Das ist solange ihr Recht als sie nicht im immer zu überholenden Gegenwärtig
den utopischen Anspruch des Christlichen morden. Denn sonst steht das Recht von Menschen
gegen das von Institutionen. Es ist kaum denkbar, daß solches beiden gut bekommt, es sei denn
Menschen degradieren die Institution zur Unerheblichkeit, befreien sich von ihrem Spruch: Das ist
zwar eine Lösung - aber keine ideale. Reformationen (das sind immer Ablösungen von geltendem
Recht und behauptetem Dogma) stehen niemals auf dem Programm einer Institution. Und man
kann nur hoffen, daß sie sie leiden, ohne zu zerbrechen.
Fehlt der Praxisbezug der Kirchen ins Außen, dann beschäftigen sie sich nötig um so intensiver
mit ihrem Innen. Das wird dem Außenstehenden oft seltsam erscheinen. Es kommt zu dogmati-
schen Diskussionen (mit Ketzerdenunziationen) und zur rigorosen Anwendung von Recht. Beide
werden als konservatives und besitzstandsicherndes Instrumentar ausgebaut oder doch ange-
wandt. Damit kann eine Perversion der Strukturen (Kult, Recht, Dogma) der kirchlichen Systeme
verbunden sein. Das aber bedeutet erhebliche Zerfallserscheinungen, denn die Systemfunktionen
(stets über Strukturen vermittelt und praktisch werdend) werden eigenartig steril und unerheblich.
Sie scheinen aus einer anderen Welt zu kommen. Christen beginnen mit Christen auf eine Art um-
zugehen, die Nichtchristen unverständlich ist, vor allem, wenn sie das Liebesgebot gelebt erwar-
ten.
Zudem wird eine Kirche mit überstarker Binnenorientierung ihre Herrschaftsfunktionen aktivieren.
Sie wird zu urteilen beginnen, wo sie nicht zu urteilen hat. Auch das wirkt befremdlich und ab-
stoßend auf den Suchenden. Das Wort von der politischen Kirche ist ein sehr böses Wort. Un-
bestritten hängt zwar jede politische Entscheidung mit ethischen Werten, Grundsätzen, Gefühlen...
zusammen. Politische Entscheidungen sind aber stets Entscheidungen unter Ungewißheit (d.h. sie
haben mehrere mögliche Ausgänge und komplexe Folgen auch auf Gebieten, die zunächst gar
nicht angesprochen erscheinen). Das aber bedeutet, daß politische Entscheidungen, die zweifels-
frei sittlich verwerflich sind, selten genannt werden können. Zu ausgesprochenen Raritäten dürften
sich solche Fälle auswachsen, in denen man sagen kann, eine politische Entscheidung sei sittlich
geboten. Sie kann sehr wohl politisch oder ökonomisch, praktisch oder theoretisch ... geboten er-
scheinen - aber eben nicht sittlich. Und hier wird die Grenze deutlich, innerhalb derer Kirchen
normativ nach außen tätig werden können. Sie sind außerordentlich gering, wenn es um sittliche
Wertungen von Entscheidungen oder das Einfordern von Entscheidungen um der Sittlichkeit wil-
len geht. Wird das nicht gesehen, degradiert sich Kirche zu einer gesellschaftlich relevanten Kraft
unter anderen. Daß sie das, wenn sie sich funktional auf ihre göttliche Herkunft beruft, nicht sein
kann, ist evident. So gilt es denn heute mehr als je, Kirche vor sich selbst in Schutz zu nehmen.
Das ist nur möglich, wenn man einige oder viele ihrer Funktionen kritisiert. Eine introvertierte
Kirche ist aber extrem sensibel gegenüber Kritik. Und das ist schlecht. Denn dann wird Kritik ab-
gewehrt und nicht verarbeitet. Diesen Prozeß nennt man gemeinhin neurotisch.
Das soll mich aber nicht hindern, Christentum unter dem Aspekt der Praxis (der Lebenspraxis und
nicht der Institutionspraxis) zu sehen, zu leben und zu lehren. Unter dieser Rücksicht sind die fol-
genden Kapitel geschrieben. Und deshalb nimmt das Schlußkapitel zu konkreten Fragen christli-
cher Sittlichkeit Stellung. Hier will ich orientierende Postulate vorstellen und nicht über Sittlich-
keit oder Unsittlichkeit konkreter Politik urteilen. Das ist mir als Christ verboten.
Sittlichkeit, das ist jene Instanz, die wir Menschen im Laufe unserer Stammesgeschichte - und der
immer wieder neuen Individualgeschichte - dem Unbewußten abgerungen haben. Denken und
Handeln sollen überwacht und gegen dunkle irrationale Instanzen (die man wohl einmal »Teufel«
nannte) abgeschottet werden. Sittlichkeit strebt - um dieses leisten zu können - nach einem tra-
genden und stützenden Skelett, das das Leben von immer neuen Entscheidungen entlastet. Die
Knochen dieses Skeletts nennen wir Normen.
Diese Normen können sich - durch Angst vor dem Dunkel, dem Unbeherrschbaren - von ihrer
Dienstfunktion ablösen und beginnen Menschen und Gruppen zu beherrschen. Hier gilt es einzu-
sehen, daß auch das Dunkle und Unheimliche ein legitimer Teil unseres Menschseins ist, den Hu-
manität niemals verleugnen wird. Und dennoch taucht immer wieder in der Geschichte der Religi-
osität eine Richtung auf, die das Ungenormte, das vor Sittlichkeit Unnormale als Bosheit oder In-
humanität denunziert. Ins Christentum hat solches Denken, vermittelt über die Lehren des Persers
Mani, einigen Einzug gehalten.
Doch wollen wir nicht vergessen, daß Normen, die Humanität beschränken und Leben mindern
oder gar löschen, daß solche Normen sich von ihrer Funktion ablösen und zum Selbstzweck wer-
den. Institutionen, ob profane oder sakrale, neigen nun dazu, Normen als handlungsleitende Vor-
gaben zu verkünden, festzumachen und über Bestrafungsmechanismen zu sichern. Die Zwänge
über Normen befreien das Kollektiv vor der Angst vor dem Dunkel im Leben des Einzelnen wie
der Gesellschaften. Doch oft ist dies die Befreiung durch die Vordergründigkeit der Gewalt - ohne
rechte Aufarbeitung. So gab das Christentum nahezu 2000 Jahre vor, das Böse zu verfolgen - und
erkannte kaum, daß es seine eigenen Möglichkeiten haßte, verfolgte, tötete.
Praktisches Christentum will nicht in diesem Sinn normieren. Es übt keine Zwänge aus. Seine
Normen sind Hinweise auf ein menschliches Leben. Sie verlieren also umgehend ihren Verpflich-
tungscharakter, wenn sie sich gegen dieses Leben wenden. Selbstentwirklichung durch individuel-
le oder kollektive Normen ist nicht selten unter uns. Normen, die das psychische und soziale Le-
ben mindern oder gar löschen, können vielleicht aus politischen oder ökonomischen Quellen
stammen (aus denen ja auch das Dunkel der unbewußten Motive bevorzugt sprudelt), niemals a-
ber aus christlichen. Ich verstehe Christentum also auch als Weg zum humanen Leben. Und ich
bitte Sie, diesen Weg mit mir zu gehen.
Der Weg ins Christentum scheint heute vielen schwer zu sein, weil sie dem Leben und der Lehre
Jesu im Horizont der Institutionen begegnen. Tatsächlich ist es leicht, Menschen zum Christentum
zu führen, schwer jedoch, sie eine konkrete Kirche akzeptieren zu lassen. Ja, die konkrete Kirche
wird für nicht wenige das Hindernis schlechthin auf dem Weg ins Christentum. Damit pervertiert
die Institution ganz offensichtlich ihren Auftrag und ihre Funktion: den Weg ins Christentum zu
erleichtern. Daraus folgt aber ebenso zwingend, daß die Kirche Jesu sich - zumindest in vielen
Ländern Europas - wird ändern müssen, wenn sie sich mit einiger Berechtigung als Kirche Jesu
verstehen will.
An dieser Stelle erscheint es sehr wohl angebracht, daß ich Ihnen sage, warum ich mein Christen-
tum in einer Kirche (der römisch-katholischen) zu leben versuche.
Da ist zunächst einmal die feste Überzeugung, daß Personsein sich gleichursprünglich in Individu-
alität und Sozialität realisiert. Das aber bedeutet für mich, daß ich mein Christsein als Ausdruck
personaler Entscheidung und Orientierung auch nicht in bloßer Individualisierung leben kann,
sondern daß diesen gleichrangig ein Leben in religiöser Gesellschaft zuzuordnen ist.
Zum zweiten bin ich davon überzeugt, daß die Identität des Christentums, die mehr ist als eine
bloße Identität der Lehre, sondern durchaus auch eine soziale, nur in einer Kirche gesichert wer-
den kann, in der sich über die Bewahrung von Tradition der individualistische Trend, in eine mehr
oder weniger willkürliche Pluralität mit Identitätsverlust der Jesusbotschaft zu zerfallen, wenigs-
tens über Ausmittlungsprozesse neutralisieren läßt. Und das ist notwendig, weil Christentum alles
andere als eine individualistische Sache ist. Sicherlich ist mit der Institutionalisierung einer leben-
digen Lehre die Gefahr verbunden, daß in ihr Wachsen und Entfalten gehindert werden. Instituti-
onen sind von Natur aus auf Erhaltung bedacht. Doch dieser unvermeidliche Konservatismus von
Systemen und Strukturen ist solange nicht schädlich, als die Strukturen fähig sind, sich von innen
her zu wandeln und sich an veränderte Lebens- und Glaubensprozesse anzupassen. Nur das, was
sich nicht anpassen kann, geht zugrunde, weil es lebenswidrig ist.
Drittens bin ich der Überzeugung, daß das Bekenntnis zu Jesus sich zwar an erster Stelle in einem
christlichen Leben konkret machen muß. Aber das ist nur ein Aspekt. Das Bekenntnis muß auch
über die individuelle menschliche Begegnung hinaus vermittelbar sein, um voll wirksam sein zu
können. Und hier kann die Kirche die Rolle »eines Zeichens unter den Nationen« spielen, wenn sie
als Kirche die Botschaft Jesu glaubhaft vorlebt. Wenn und wo sie das nicht tut, haben Christen
das Recht und die Pflicht, durch das Zeugnis ihres Lebens und ihres Wortes in das Innen der Kir-
che hinein reformierend zu wirken. Die Wandlung einer Struktur scheint nur möglich von innen,
von außen kann sie allenfalls vernichtet werden.
Endlich bin ich der Auffassung, daß die Kirche das wirkkräftige Zeichen eines universellen Rei-
ches der Liebe sein kann. Darüber aber werde ich weiter unten berichten.
Im Folgenden werde ich Kirche als Handlungsgemeinschaft einer Kirche als Kultgemeinschaft
entgegenstellen. Es bedarf wohl keiner näheren Erläuterung, daß es sich dabei um ideale Typen
handelt. In ihrer konkreten Praxis wird Kirche stets beides sein, jedoch immer eher das eine als
das andere. Und weil ich vermute, daß Jesus die Begründung einer Handlungsgemeinschaft mehr
bedeutete als die einer Kultgemeinschaft, kritisiere ich Kirche immer dann, wenn mir der Kult die
fehlende Handlung zu ersetzen scheint.
b) Jesus Christus
Wennschon uns der Weg zum Selbstverständnis Jesu nicht einfach ist, erscheint er doch verändert
durch den enthusiastischen Glauben der frühen Gemeinde, ist aber als ziemlich sicher auszuma-
chen, daß er sich als Gesandter Gottes verstand, der zu Gott, seinem Vater, ein spezifisches, von
allen Menschen unterschiedenes Verhältnis unterhielt. Verfolgt man die von der Urkirche ver-
wandten Würdetitel, die sie Jesus zusprach, wird man beobachten, daß sie im Laufe der Jahrzehn-
te nach Jesu Tod an Dichte und Menge zunehmen. Jesus dürfte vermutlich keinen Würdetitel für
sich selbst in Anspruch genommen haben - außer vielleicht: »Menschensohn«.
»Menschensohn« ist ursprünglich ein Hebraismus für »Mensch«. So wird er in den Psalmen oder
im Buch Ijob verwandt:
Die jüdische Apokalyptik, von der nur ein Text in den Kanon der Heiligen Schriften übernommen
wurde (das zur Makkabäerzeit verfaßte Buch Daniel), stellt den Menschensohn messianisch vor
[so das äthiopische Henochbuch (37-71) oder das 4. Buch Esra (13)]. Im Buch Daniel heißt es:
Die ersten drei Evangelien verwenden die Bezeichnung »Menschensohn« gänzlich unbefangen -
und zwar auch für den noch nicht gestorbenen Jesus. Erst das vierte Evangelium macht »Men-
schensohn« zu einem eindeutig messianischen Ehrennamen:
Wahrlich ich sage euch: Ihr werdet den Himmel geöffnet und die Engel Gottes auf-
und niedersteigen sehen über dem Menschensohn. 1, 51)
Folgen wir dem ältesten Evangelium (dem »Markusevangelium«), dann lassen sich drei Gruppen
von Menschensohnaussagen des vorösterlichen Jesus ausmachen: sie betreffen den wirkenden, den
leidenden und den zukünftigen Jesus.
Von jeder dieser drei Wortverwendungen soll eine Probe gegeben werden:
Ihr sollt aber erkennen, daß der Menschensohn die Vollmacht hat, hier auf Erden
Sünden zu vergeben. Und er (Jesus) sagte zu dem Gelähmten: Ich sage dir, stehe auf.
(2, 10-11a)
Dann begann Jesus sie darüber zu belehren, der Menschensohn müsse vieles erleiden
und von den Ältesten, den Hohepriestern und Schriftgelehrten verworfen werden; er
werde getötet, aber nach drei Tagen werde er auferstehen. (8, 31)
Wer sich vor dieser treulosen und sündigen Generation seiner und meiner Worte
schämt, dessen wird sich auch der Menschensohn schämen, wenn er mit den heiligen
Engeln in der Hoheit seines Vaters kommt. (8, 38)
Ganz offensichtlich wird also »Menschensohn« hier stets als Würdetitel für eine Person verwen-
det, die keineswegs nur Mensch ist, sondern zumindest in Vielem an der Gottheit funktional teil-
hat.
Der Würdetitel »Messias« (oder griechisch: »Christos«) kommt in den neutestamentlichen Schrif-
ten etwa 500mal vor, ist also der häufigste Titel, der Jesus von der frühen Gemeinde zugespro-
chen wurde. Mit ziemlicher Sicherheit hat Jesus den Titel niemals für sich in Anspruch genommen.
Das frühe Markusevangelium (unmittelbar nach der Zerstörung Jerusalems, wohl durch Titus ver-
faßt) läßt Jesus sprechen:
Da wandte sich der Hohepriester nochmals an Jesus und fragte: Bist du der Messias,
der Sohn des Hochgelobten? Jesus sagte: Ich bin es. Und ihr werdet den Menschen-
sohn zur Rechten der Macht sitzen und mit den Wolken des Himmels kommen sehen.
(14, 61b-62)
Aber immer wieder verbietet auch dieser Jesus selbst den Jüngern, ihn Messias (oder Gottes
Sohn) zu nennen:
(Jesus fragte seine Apostel:) Ihr aber, für wen haltet ihr mich? Simon Petrus antworte-
te ihm: Du bist der Messias! Doch er verbot ihnen, mit jemand über ihn zu sprechen.
(8, 29-30)
Wenn die von unreinen Geistern Besessenen ihn sahen, fielen sie vor ihm nieder und
schrien. Du bist der Sohn Gottes! Er aber verbot ihnen streng, bekannt zu machen,
wer er sei. (3, 11-12)
Doch schon Jahrzehnte vor der Niederschrift der Evangelien verwendete Paulus in seinen Briefen
ganz unbefangen messianische Würdetitel für Jesus. In dem bald nach 50 verfaßten Brief an die
Leute in Saloniki, dem ältesten uns erhaltenen schriftlichen Dokument christlichen Glaubens,
schreibt er:
Unablässig erinnern wir uns vor Gott, unserem Vater, an das Wort des Glaubens, an
die Opferbereitschaft unserer Liebe und an die Standhaftigkeit eurer Hoffnung auf Je-
sus Christus unseren Herrn. (1 Thess 1, 4)
Denn man erzählt sich überall, welche Aufnahme wir bei euch gefunden haben und
wie ihr euch von den Götzen zu Gott bekehrt habt, um dem lebendigen und wahren
Gott zu dienen und seinen Sohn vom Himmel her zu erwarten, Jesus, den er von den
Toten auferweckt hat und der uns dem kommenden Gericht Gottes entreißt. (1,9-10)
Denn Gott hat uns nicht für das Gericht seines Zornes bestimmt, sondern dafür, daß
wir durch Jesus Christus, unseren Herrn, das Heil erlangen. (5, 9)
»Christus« war also schon damals zu einer Art Eigennamen geworden, den heute noch viele
Christen gebrauchen.
Die frühe Gemeinde löste sich schon bald von dem jüdischen theozentrischen Hintergrund ab und
dachte christozentrisch. Jesus bekam in der Schöpfungs- und Heilstheologie göttliche Rollen zu-
geschrieben. So zitiert Paulus im Kollosserbrief, den er entweder kurz vor 60 in Cäsarea oder bald
nach 60 in Rom verfaßte, vermutlich einen liturgischen Hymnus der frühen Christengemeinde:
Offensichtlich konnten die Evangelisten in ihrer Christologie kaum hinter diesen Anspruch zu-
rückgehen. Sie rechtfertigten ihn in der literarischen Gattung der Biographie. Andererseits mag
man aber auch ermessen, wie sehr die Osterereignisse dynamisierend wirkten. Vermutlich war Je-
sus noch keine 30 Jahre tot, als man schon in diesem Hymnus liturgisch von ihm sprach.
Ganz sicher aber hat der praktische Glaube bald den sich historisch vorstellenden Bericht weit ü-
berflügelt. Die Dynamik der Christologie, einmal von Paulus in Gang gesetzt, läßt sich auch in den
kommenden Jahrhunderten nicht stoppen. Mitunter ist es nicht einfach, hinter dem, was manche
Theologen der folgenden Christengenerationen von Jesus ausmachen, auch nur noch Spuren des-
sen zu finden, der heilend und verkündend durch die Städte Israels zog, um in Jerusalem zu ster-
ben.
Da heute in den christlichen Großkirchen jedoch die theologische Reflexion auf das Jesusereignis
einen erheblichen Ort einnimmt und die dogmatischen Aussagen um Jesus viel zu deren Selbstbe-
wußtsein und Selbstverstehen beitragen, kirchliches Christentum also ohne sie nicht verständlich
ist, will ich Ihnen einige Entwicklungslinien der Christologie der ersten Jahrhunderte aufweisen.
(1) Der Monophysitismus entstand im afrikanischen Alexandrien. Terminologisch stützte man sich
vor allem auf die Schriften des gewalttätigen Cyrill, des Patriarchen von Alexandrien († [@?]), der
Lehre nach vor allem auf Eutyches († nach 451), der ziemlichen Einfluß am kaiserlichen Hofe hat-
te. Eutyches lehrte gegen Nestorius, der Mensch Jesu sei ganz in der Gottheit aufgegangen. Kai-
ser Theodosius II. († 450) berief - in der Tradition des Konstantin - ein allgemeines Konzil nach
Ephesus ein. Unter dem Patriarchen von Alexandrien, Dioskur, fand es 449 statt. Es stellte fest,
Eutyches sei rechtgläubig und die Zwei-Naturen-Lehre des Nestorius verdammenswert.
Nun hatte Papst Leo I. einen Lehrbrief und zwei Legaten zum Konzil geschickt. Diese aber kamen
nicht zu Wort, worüber der Papst erzürnt war. Durch eine Synode ließ er in Rom das Konzil ver-
werfen, das aber im Orient allgemein anerkannt wurde.
Der Nachfolger des Theodosius, Marcian († 457), verhandelte nun mit dem Papst. Das Ergebnis
war das vierte allgemeine Konzil zu Chalcedon (Oktober 451). Der Lehrbrief Leos wurde feierlich
bestätigt, Eutyches und Dioskur mit vielen anderen aus ihren Ämtern entfernt. In Gegenwart des
Kaisers proklamierte das Konzil auf seiner 6. Sitzung am 25. Oktober in aristotelischer Sprache
eine neue christologische Formel:
In Jesus seien zwei Naturen, die menschliche und die göttliche, unvermischt und ungetrennt in der
einen Person des göttlichen Logos vereinigt. Diese Formel schien zunächst vor allem den Mo-
nophysiten unrecht zu geben. Deshalb wurde sie von ihnen auch allgemein als nestorianisch abge-
lehnt.
(2) Der Nestorianismus entstand im kleinasiatischen Antiochia. Inhaltlich und terminologisch
stützte er sich auf die Lehren des Nestorius, der 428 durch kaiserliche Huld Bischof von Konstan-
tinopel geworden war. Er lehrte, in Jesus seien die zwei Naturen vollständig erhalten, und somit in
Jesus auch zwei Personen anwesend, die göttliche und die menschliche. Man könne also nicht sa-
gen, Gott sei Mensch geworden. Er wohne vielmehr nur im Menschen Jesus. Geboren, gelitten
und gestorben, gelte nur für die menschliche Person Jesu. In der Eucharistie sei nur der Mensch
Jesus gegenwärtig.
Wie gesagt, gingen gegen diese Ansicht Cyrill und Eutyches auf die Barrikaden. Sie schien ihnen
arianisch zu sein. 430 bannte Papst Cölestin I. den Nestorius, wenn er nicht widerrufe, woran die-
ser nicht dachte. Auch der kaiserliche Hof stellte sich auf die spekulativ wenig anspruchsvolle Po-
sition des Nestorius ein. 431 rief Kaiser Theodosius II. zum Konzil nach Ephesus, um die Einheit
der Kirche zu sichern. Aber es kam zu einer Spaltung des Konzils selbst in zwei Konzilien. Auf
der einen Seite standen die Afrikaner und die Römer, auf der anderen die Orientalen unter dem
Patriarchen Johannes von Antiochia. Das erste Konzil, das später von den Lateinern und Afrika-
nern zum 3. allgemeinen Konzil gemacht wurde, setzte den Nestorius ab, während das zweite, das
Gegenkonzil, den Cyrill absetzte. Der Kaiser war ziemlich erbost und entließ beide Synoden. Zwei
Jahre später kam es zu einer innerkirchlichen (nicht vom Kaiser über ein Konzil besorgten) Eini-
gung. Johannes hatte eine Glaubensformel entworfen, der Cyrill zustimmte (das »Symbolum von
Ephesus«). 435 wurden die Schriften des Nestorius verurteilt und verbrannt. Nestorius starb 439
im Exil in Ägypten. Die Nestorianer wurden von nun an im Römischen Reich nicht mehr geduldet.
Sie zogen nach Persien und gründeten hier 498 ihre eigene Kirche (»Chaldäische Christen«), mit
einer regen Missionstätigkeit von Indien, Tibet, China bis in die Mongolei.
Die Beschlüsse des Konzils von Chalcedon erschienen - wie gesagt - den meisten Orientalen, weil
sie die aristotelische Terminologie nicht kannten, als häretisch - nestorianisch nämlich. So kam es
zum Widerstand:
• In Palästina meuterten die Mönche. Ihr Aufstand wurde 453 mit Waffengewalt niedergewor-
fen.
• In Alexandrien konnte sich der Patriarch Proterius, der die Glaubensformel des Konzils an-
nahm, nur mit Hilfe von Truppen an der Macht halten. Nach dem Tode Kaiser Marcians wurde
er jedoch ermordet.
• In Antiochien wurde (um 468) Petrus Fullo Patriarch. Er verstand sich als Monophysit. Zwar
wurde er von 471-475 verbannt, konnte dann aber wieder zurückkehren.
Unbeeinträchtigt von diesem Streit blieb eigentlich nur die Kirche von Rom, die sich ziemlich
durchgesetzt hatte und zudem, weniger dem griechischen Geist verpflichtet, pragmatischer funkti-
onierte. Kaiser Basiliskos († 476) befahl, um endlich Ruhe zu haben, allen Bischöfen des oströmi-
schen Reiches, bald nach seinem Regierungsantritt, das Konzil von Chalcedon zu verdammen.
Nur zu gern folgten 500 Bischöfe dieser kaiserlichen Anregung. Doch Frieden war damit noch
lange nicht. Inzwischen waren die Beschlüsse des Konzils von zu vielen auch im Osten internali-
siert worden. Schon ein Jahr später hob der Kaiser das Verbot wieder auf.
Trotz dieses Schachzugs verlor er die Herrschaft über das Ostreich 476 an Zenon. Dieser begüns-
tigte, als er noch Legat war, den monophysitischen Patriarchen Petrus Fullo. Kaiser geworden,
suchte er den Frieden und die Einheit wieder herzustellen. Zunächst übersandte er dem Papst
Simplicius eine katholische Glaubensformel. Dann aber geriet er unter den Einfluß des Acacius
von Konstantinopel und begünstigte den Monophysitismus. 482 vermehrte er den Zwist durch ei-
ne neue Einigungsformel, das »Henotikon«, mit dem weder die strengen Monophysiten überein-
stimmten noch der Papst. In dieser Einigungsformel suchte Zenon, die dogmatische Entwicklung
auf die Beschlüsse des Konzils von Ephesus (431) zurückzudrehen. Durch die Ablehnung des He-
notikon durch den Papst und die Exkommunikation und Absetzung des Acacius kam es zu einem
35 Jahre währenden Schisma zwischen Rom und dem Osten.
Kaiser Justin I. betrieb seit 518 sehr energisch die Wiedervereinigung. Er entfernte viele mo-
nophysistischen Bischöfe in den alten Patriarchaten. Ein Teil von ihnen floh nach Ägypten, um
hier ihren Glauben leben zu können. Doch erst Kaiser Justin II. (565-567) verschärfte die Unter-
drückung der Monophysiten so, daß zumindest im Patriarchat von Konstantinopel eine Art von
orthodoxer Friedhofsruhe einzog.
Doch noch heute bekennen sich syrische, äthiopische, koptische, armenische… Christen zum Mo-
nophysitismus.
Das Tragische an dieser Entwicklung konnte erst eine moderne Dogmenhermeneutik aufweisen.
Es stellte sich heraus, daß die Formeln der Konzilien von Ephesus und Chalcedon Verbalkom-
promisse waren - und daß das Gemeinte kaum von irgendeinem der betroffenen Theologen ernst-
haft in Frage gestellt wurde, wennschon sie verschiedene Akzente setzten. Es war das zum guten
Teil ein Streit um philosophische Terminologien. Der zwischen der platonischen und der aristote-
lischen wurde leider von Nicht-Philosophen ausgetragen. Und so schlug man sich um wenig die
Köpfe wund, mitunter gar ein.
Heute nehmen wir mit guten Gründen an, daß das Konzil von Chalcedon dem Aristotelismus na-
hestand. Dann bedeutet »Natur« das innere Tätigkeitsprinzip eines Dinges und »Person« die In-
stanz, die alle Eigenschaften und Tätigkeiten der Natur auf sich als Subjekt (mit seinen Rechten
und Pflichten, seiner Selbstverantwortung…) zurückbindet. Hätte man das 451 schon gesagt, wä-
re der Kirche die große Trennung vieler Teilkirchen erspart geblieben - und der fade Geschmack,
daß die Rechtgläubigkeit einem Friedenskompromiß des Kaisers zuzuschreiben ist.
Der Streit der nach-arianischen Christologie konnte damals nicht als Streit um Aspekte und Worte
erkannt werden, da Worte sich mit Emotionen verbinden - und einander feindliche und unverein-
bare Emotionen noch niemals einen Kompromiß zuließen. Die Intoleranz der Sprache, in der sich
nicht nur semantische, sondern auch emotionale und soziale Bedeutungen bergen, ist verständlich
in Erkenntnis der Mühen um Identität religiöser Gemeinschaften - verzeihlich ist er für Christen
nicht. Doch mit Basiliskos war die Christologie keineswegs zur Ruhe gekommen.
• Der Monotheletismus behauptete, daß Jesus keinen menschlichen Aktiven Willen gehabt habe,
da dieser der Person und nicht der Natur zukomme. Sergius I., Patriarch zu Konstantinopel,
wollte mit dieser Formel die Einigung mit den Monophysiten erreichen. Aber diese Formel
wurde, obschon ihr auch Papst Honorius nahestand, vom 6. allgemeinen Konzil (680/81) ver-
worfen.
• Der Adoptianismus wurde im 8. Jahrhundert in Spanien wieder vertreten. Elipandus, Bischof
von Toledo, und Felix von Urgel nahmen zwei Sohnschaften an: die göttliche und die mensch-
liche. Als Mensch sei Jesus Adoptivsohn Gottes. Diese Position war nur möglich, weil die Be-
schlüsse des Konzils von Nikaia und Chalcedon funktional und nicht ontologisch interpretiert
wurden. Jetzt sorgte sich schon der fränkische König, der spätere Kaiser Karl der Große, um
die Einheit des Reichs. Er berief 792 ein Synode nach Regensburg und 794 eine nach Frankfurt
ein, die beide den neuen Adoptianismus verurteilten. Insofern die Beschlüsse von Frankfurt
durch Papst Hadrian I. bestätigt wurden, gelten sie für die lateinische Kirche als verbindlich.
• Petrus Abaelard († 1142) machte Jesus zu einer Art Misch-Person (Assumtionstheologie). Die
Habitustheorie nahm dagegen an, Jesus habe die menschliche Natur nur wie einen Mantel ange-
legt. Die Subsistenztheorie kompensiert in Jesus das Fehlen einer menschlichen Personalität,
indem sie die Summe der Merkmale, als im Logos subsistierend, Jesus zuspricht.
Ich habe diese verschiedenen Positionen skizziert, um deutlich zu machen, wie weit sich theologi-
sche Spekulation vom Glauben der frühen Kirche entfernen kann. Es steht kaum zu vermuten, daß
irgendeine dieser Spekulationen dem Selbstverständnis und der Eigendefinition Jesu auch nur ent-
fernt gerecht wird.
Dennoch aber ist der christologische Streit heute wieder entbrannt. Theologen wie H. Küng oder
Ed. Schillebeeckx werden von einigen ihrer Gegner des Arianismus verdächtigt.
Eine fruchtbare Entwicklung für die christliche Religiosität der Gegenwart scheint der Beitrag
Teilhards de Chardin († 1955) eingeleitet zu haben, der ganz unmittelbar anknüpft an den christo-
logischen Hymnus des Kollosserbriefs. Ich werde ihn an anderer Stelle weiter ausführen.
Fragen wir uns abschließend, wie es zu diesen unerquicklichen und praktischer Religiosität oft
fernen, eher im Spekulativen als im Rationalen angesiedelten Streitereien kommen konnte.
Da sind sicher als Konfliktfaktoren zu nennen:
• Die Christologie der Evangelien (und der paulinischen Briefe) entsprach nicht dem möglichen
Reflexionsstandard, der im Christentum nach die Begegnung mit der griechischen (platonischen
und aristotelischen) Philosophie auch über religiöse Inhalte möglich war.
• Die Sicherung des Monotheismus einerseits und des Göttlichen in Jesus von Nazaret anderer-
seits führte zu verschiedenen Versuchen, diesen Widerspruch als scheinbar zurückzuweisen -
ein Versuch, der allemal problematisch ist, als der Widerspruch nach kirchlicher Lehre nicht ra-
tional aufzulösen ist.
• Das Bemühen der politischen Macht um Einheit des Strukturelements Kirche im politischen
System führte zu Zwängen, Verbalkompromisse zu finden und Verstöße gegen solche Kom-
promisse auch kirchlich zu ahnden. Damit wurde manches Porzellan zerschlagen, noch ehe die
Fragen theologisch ausdiskutiert wurden.
• Schon bald nach der Konstantinischen Ursupation des Christentums wurde die Kirche von ei-
ner Handlungsgemeinschaft zu einer Kultgemeinde, dadurch, und weil Außenfeinde fehlten,
richtetete sich ihr Interesse vorwiegend nach Innen. Innenkonflikte bekamen eine überwälti-
gende Bedeutung. Zugleich entwickelte sich eine von konkreter religiöser Handlungs- (nicht
Kult-)praxis ziemlich abgelöste Theologie. Und auf dieser vom Konkreten emanzipierten Ebe-
ne, ließ sich heftig und verlustreich kämpfen. Das Christentum war in Gefahr, sich nicht mehr
an dem lebenden Jesus, seiner Lehre und seinem Beispiel zu orientieren, sondern zu einer Ideo-
logie, einem Ideensystem also, zu werden. Ideologien werden leicht abstrakt.
Ich denke, daß in jener neuen Christlichkeit, die der vierten Phase des Christentums entspricht,
solcher christologische Streit unerheblich werden könnte. Nicht, daß sich die alten »Dogmen« als
falsch erweisen. Aber viele sind nicht mehr erheblich für konkrete Religiosität. Ich denke, daß die-
se Entwicklung schon deutlich aufweisbar eingesetzt hat. Ich kenne nur sehr wenige Menschen
(und diese sind ausschließlich Theologieprofessoren), für die die frühen christologischen Dogmen
eine religiöse Bedeutung haben. Man mag diese Entwicklung bedauern - aber umkehren wird man
sie kaum.
4. Frühe Erwartungen
Religionen beantworten nicht nur - oft nicht einmal an erster Stelle - die rationalen Fragen von
Menschen. Religion ist also nicht zuerst ein rationales Geschäft, wennschon sie auch nicht wider-
vernünftig sein sollte. Religion setzt an der Stelle an, an der Bewußtes und seine Bedürfnisse noch
in eins sind mit dem Unbewußten. Sie wurzelt in tiefen archaischen Schichten der menschlichen
Psyche.
Religionen werden also den Bedürfnissen und Erwartungen eines Menschen entsprechen - selbst
da, wo er sich dieser Erwartungen nur unvollständig bewußt ist, und sich die Bedürfnisse nur un-
deutlich und in zeitbedingter Gestalt vorstellen und artikulieren. Das gilt auch für die Jesusbot-
schaft.
Sie traf auf Erwartungen, die zeitabhängig allgemeine menschliche Bedürfnisse darstellten. Wel-
ches waren die Erwartungen, in die hinein sich die Jesusbotschaft verkündete und in denen sie sich
zum ersten Male auslegte? Wenn wir den relativ schnellen Erfolg des frühen Christentums bemer-
ken, werden wir annehmen, daß die Jesusbotschaft eine hohe Affinität zu diesen Bedürfnissen hat-
te. Wir werden vermuten, daß sie auch in aller Ausdrücklichkeit die zeitgenössischen Erwartungen
aufnahm und ansprach.
Was sind nun die religiösen (das waren bei Juden auch immer politische) Erwartungen im jüdi-
schen Raum?
Dominant war damals im Judentum die Erwartung einer Zeitwende. Das Alte hatte sich als unge-
nügend, leidvoll erwiesen. Ein Neues sollte kommen und alles wandeln. Die prophetische Anspra-
che war seit Jahrhunderten verstummt in Israel. Pompejus eroberte 63 v. Chr. Jerusalem, nachdem
die Juden ihren eigenen Staat, seit 141 v. Chr. politisch unabhängig, durch innere Zwistigkeiten
selbst zugrunde gerichtet hatten. 37 v. Chr. etablierte sich Herodes der Große aus dem Volk der
wenige Jahrzehnte zuvor zwangsweise judaisierten Edomiter als römischer Vasallenkönig. Unter
seiner Herrschaft wurde Jesus geboren. 6 n. Chr. werden Judäa und Samaria römische Provinzen
unter einem Statthalter.
Die Erwartung einer religiös-politischen Revolution lag in der Luft. Sie artikulierte sich auf drei
verschiedenen Weisen:
1. Die Zeloten verwiesen auf die absolute Sonderstellung des israelischen Volkes und verboten ih-
ren Anhängern jede Kooperation mit den Römern. Sie lehrten, das messianische Reich werde über
politischen und militärischen Widerstand kommen. Eine radikale Gruppe machte sich 6 n. Chr. un-
ter Führung des Judas dem Galiläer (vgl. Apg 5, 37) selbständig. Sie zettelte zahlreiche Aufstände
an, um das Land von den Römern zu befreien und somit das Kommen des Gottesreiches (den An-
bruch der Gottesherrschaft) möglich zu machen. Im Jahre 66 n. Chr. führte das zum 1. jüdischen
Krieg, den die Römer nach einigen Mühen erst 70 mit der Zerstörung Jerusalems und des von He-
rodes erneuerten Tempels beenden konnten. Zwischen 115 und 117 erhoben sich die Juden Ägyp-
tens, der Cyrenaika, Cyperns, Sardiniens - und wurden fast vollständig aufgerieben.
Als 132 die Römer einen Jupitertempel in Jerusalem bauen wollten, kam es zu einem neuen Krieg
unter der Führung Bar Kochbas. Die Rabbinen und das Volk erkannten sehr bereitwillig dessen
messianischen Anspruch an. Nach kurzer Zeit fiel ihm Jerusalem mit Judäa zu. Wieder wurden in
Jerusalem Opfer dargebracht, die Thora (das »mosaische Gesetz«) rigoros durchgesetzt und ein
neuer Kalender eingeführt (von der »Erlösung Israels« an). Erst nachdem sie 50000 Soldaten zu-
sammengezogen hatten, konnten die Römer Jerusalem erobern und zerstören. Die meisten Juden
wurden hingerichtet, als Sklaven verkauft, nach Ägypten deportiert. An die Stelle Jerusalems trat
die römische Siedlung Aelia Capitolina, die von Juden nicht betreten werden durfte. Das war das
Geschick und die Geschichte des politischen Messianismus in Israel.
2. Der apokalyptische Messianismus erwartete alles Heil ausschließlich vom Handeln Jahves. Die-
se Welt müsse untergehen und gerichtet werden, damit die neue Welt, das Gottesreich, kommen
könne. Diese religiöse Strömung begann etwa 200 v. Chr. und reicht in die frühchristliche Zeit.
Sie löste das Prophetentum ab, wurde aber nur selten zum Glauben der Vielen. Religiöse Geheim-
nisse werden in Form von Weissagungen, Abschiedsreden, Testamenten, Träumen und Visionen
(mitunter von Deute-Engeln erläutert) verkündet. Nach apokalyptischer Vorstellung führt Jahve
die Geschichte mit unausweichlicher Konsequenz ihrer Erfüllung zu, ohne daß Menschen ernsthaft
daran Anteil hätten. In der jüdischen Apokalypse spielt entsprechend auch ein personaler Messias
keine Rolle (im Gegensatz zur christlichen). Messianisch ist die Endzeit und vor allem das kom-
mende Reich.
Die Gemeinde von Qumran scheint beide messianische Aspekte (den politischen und den apoka-
lyptisch-religiösen) miteinander verbunden zu haben. Diese Gemeinde bestand - mit Unterbre-
chungen - von 130 v. Chr. bis zur Vernichtung durch die Römer (73 n. Chr.). Vielleicht war sie
essenischer Herkunft. Die Essener bildeten eine ordensähnliche pazifistische Gemeinschaft. Sie
lebten auf dem Lande in Gütergemeinschaft. Ein Teil soll - um des Fortbestandes der Menschheit
willen - die Ehe zugelassen haben. Sonst aber erwarteten sie in Gebet (aber ohne Opfer) und
strenger Befolgung der Gebote das Kommen des Messias. Die religiösen Schriften der Qumran-
gemeinde sind uns zum guten Teil erhalten. Sie zeichnen das Bild eines gemeinschaftlichen Lebens
in treuer Gesetzeserfüllung bis hin zum Entscheidungskampf der Endzeit.
Die Gemeinde nahm an, daß das Reich zwar durch Jahves Initiative (gegen die Zeloten) komme,
aber verbunden sei mit dem Auftreten eines messianischen Priesters und Königs (gegen den apo-
kalyptischen Messianismus). Der Vernichtungskrieg gegen Rom spielte auch bei ihnen eine erheb-
liche Rolle.
3. Endlich ist hier ein prophetischer Messianismus zu nennen, der allerdings - wegen der allge-
meineren Überzeugung, nach der der Prophetismus tot sei in Israel - keine Massenbewegung war.
Als Repräsentant mag Johannes der Täufer gelten. Seine Botschaft ist ganz dem Heute zugewandt
- weil das Neue unmittelbar bevorstehe. Das Gottesreich komme keineswegs durch politische Ak-
tion, sondern durch Gerechtigkeit. Dieser Messianismus sprengt die Bande eines jüdischen Parti-
kularismus. Jesus selbst scheint die Taufe durch Johannes für ein wichtiges Ereignis seines Lebens
gehalten zu haben. In manchem mag er die Botschaft des Täufers aufgenommen und weitergeführt
haben.
Daß im Christentum auch erhebliche Elemente des apokalyptischen und essenischen Messianismus
bemerkbar sind, muß nicht unbedingt auf eine innere Abhängigkeit verweisen. Es genügt anzu-
nehmen, daß sich in den verschiedenen Richtungen der Geist der Zeit manifestiert und repräsen-
tiert. Der Täufer jedoch scheint der Gemeinde von Qumram nahegestanden zu haben (war viel-
leicht gar Mitglied?).
Doch ist für die erstaunliche Rezeption und Migration der Jesusbotschaft nicht nur der Bereich
jüdischer Erwartungen verantwortlich zu machen. In Rom gab es ähnliche geistige Haltungen, die
sich im ersten Jahrhundert zu Erwartungen verdichteten.
Untergangsfurcht und Befreiungshoffen bestimmte das religiöse Fühlen vieler in der großen Stadt.
Vergil († 19 v. Chr.) läßt in seinen Hirtengedichten ein göttliches Kind ein neues Zeitalter begin-
nen, das alle Menschen von »unaufhörlicher Furcht« und aller Sünde erlöst. Die astrologisch mo-
tivierte Erwartung des Vergil wird von Augustus († 14 n. Chr.) in politische Form gegossen. Der
Kaiser wird zum »Evangelium« der Welt. Mit ihm beginnt das »Reich des Friedens«. Doch schon
bald wird deutlich, daß die religiöse Erlösungserwartung nicht politisch eingelöst werden kann.
Zahlreiche Kulte erfahren in Rom ihre hohe Blüte.
So etwa der Midras-Kult, der lange Jahre in Rom praktisch zur Staatsreligion wurde. »Midras«
bezeichnet einen indo-iranischen Gott des Rechts und der Gerechtigkeit sowie der staatlichen
Ordnung (war also als Staatsgott durchaus geeignet). Schon im 14. Jahrhundert v. Chr. wird sein
Name in Verträgen erwähnt. Im Iran wandelt sich Midras zum göttlichen Herrn von Männerbün-
den (die übrigens von Zoroaster bekämpft wurden). Als der Midras-Kult im ersten vorchristlichen
Jahrhundert Rom erreicht, hat sich das Midras-Bild entsprechend den Bedürfnissen der Römer ge-
ändert: Midras ist ein mit der Sonne verbundener Erlösergott, dessen vorzüglichstes Fest am
25.12. gefeiert wird (das Fest des Sol invictus). Der Midras-Kult ist ein Kult ohne Frauen - vor al-
lem und zunächst ein Kult der Soldaten. Im Kult selbst wurde die Kult-Legende symbolisch ge-
genwärtig gesetzt: Die Tötung eines Stieres durch den jugendlichen Gott.
Daneben artikulierte sich die Heilserwartung in Mysterienkulten. Heil, das bedeutet Sicherheit auf
der Erde und Sicherheit für das Jenseitsgeschick nach dem Tode.
Nicht selten stellte der Kult dar, wie sich die Flucht aus dieser Zeit mit der Erwartung eines neuen
dauernden Lebens verbindet. Das gilt etwa für den Kult der Kybele, eines sterbenden und wieder-
auferstehenden (Vegetations-)Gottes, der von kastrierten Priestern gefeiert wurde. Hierher gehö-
ren aber auch die Eleusinischen Mysterien, deren kultisches Ziel es war, die Epiphanie der Gott-
heit und die Verheißung der Wiedergeburt zu verkünden und zu bewirken. Die Eumolpiden
(Priester dieses Kults) hatten nicht selten erhebliche politische und religiöse Macht in Rom (und
anderswo im Römischen Reich).
Das Christentum lehrt nun von der Erfahrung der Auferstehung Jesu her:
• daß mit Jesus der Tod endgültig überwunden sei, daß mit Jesus ein neuer Anfang, der des Rei-
ches des Friedens und der Gerechtigkeit, gemacht sei,
• daß die Wahrheitsrelativität der alten Religionen aufgehoben sei und sich in und durch Jesus
Gott endgültig offenbare.
Mit dieser Lehre kam das Christentum der Sehnsucht auch der Römer nach Sicherheit, Frieden
und Gerechtigkeit entgegen. Die einzige, von den Christen als verbindlich Glauben dar- und aus-
legenden große Apokalypse (eines Johannes), faßt die Jesusbotschaft gegen Ende der Regierungs-
zeit des Domitian († 96 n. Chr.) so zusammen:
Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde,
Denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen,
Auch das Meer ist nicht mehr.
Ich hörte eine laute Stimme vom Thron her rufen:
Seht die Wohnung Gottes unter den Menschen!
Er wird in ihrer Mitte wohnen und sie werden sein Volk sein.
Und er, Gott, wird bei ihnen sein.
Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen:
Der Tod wird nicht mehr sein,
Keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal.
Denn was früher war, ist vergangen.
Er, der auf dem Throne saß, sprach:
Seht, ich mache alles neu. (Offb 21, 1-5)
Das Christentum, wie es uns in seinen Heiligen Schriften begegnet, ist also eine Legierung von Je-
susbotschaft und Antwort auf menschliche Erwartung einer bestimmten Zeit. Es steht uns nicht
zu, diese beiden Elemente zu separieren - das ist unmöglich. Wohl aber gibt es in den frühchristli-
chen Schriften Antworten auf Fragen, die auch die unseren sind. Und hinter ihnen steht die Wahr-
haftigkeit, die Liebe und die Autorität des Jesus von Nazaret. Vergessen wir nicht: Das Christen-
tum ist keine Schriftreligion, sondern eine Stifterreligion. Die Heiligen Schriften sind ein Zeugnis
der legitimen Entwicklung christlicher Religiosität und christlicher Gläubigkeit zu einer bestimm-
ten Zeit. Aber Christentum ist als Stifterreligion nicht auf schriftliche Darlegungen fixiert, sondern
entwickelt und entfaltet sich weiter - wächst selbst über seine frühen Schriften hinaus gleichsam
durch sie hindurch. Und dennoch bleibt zu jeder Zeit Leben und Lehre des Stifters verbindliche
und nirgendwo überholbare Norm.
a) Die Propheten
Auch Israel verfiel nicht selten der Zufriedenheit und der Sicherheit des Habens. Es war eine der
Aufgaben der Propheten, es aus solchem Geist aufzuwecken. Nicht der Kult soll der Mittelpunkt
der Jahve-Verehrung sein, sondern das Leben in Gerechtigkeit und Frieden. Aber immer wieder
versuchte Israel den bequemen Weg des Kults, wenn es seinen Gott verehrte. Und immer wieder
traten Propheten auf, die ihm deutlich machten, daß das zuwenig sei. Nicht Gebete oder Opfer
sind der wahre Dienst vor Jahve, sondern sittliches Handeln.
Der Prophet Micha, aus dem Moreschet-Gat (südwestlich von Jerusalem) sprach um 700 v. Chr.:
Der Viehzüchter und Maulbeerfeigenpflanzer Amos aus Tekoa (südlich von Bethlehem) lehrte im
Nordreich um 750 v. Chr. so:
Hosea war wohl ein Angehöriger der Nordstämme und nahm um 750 v. Chr. seine Lehrtätigkeit
auf. Er bezeichnet als erster die Zuwendung Jahves zum Menschen als Liebe. Hosea läßt Jahve
sprechen:
Leicht ließe sich die Menge dieser Texte mehren. Sie machen alle deutlich, wie sehr schon im ach-
ten vorchristlichen Jahrhundert die kaum 300 Jahre zuvor zögernd etablierte Jahveverehrung kul-
tisch erstarrt war.
Jesus stellt sich bewußt in diese prophetische Tradition, die, nachdem sie für mehrere Jahrhunder-
te in Israel schwieg, erst wieder mit dem Täufer Johannes zur Sprache gekommen zu sein scheint.
Ausdrücklich nimmt der die Worte Hoseas auf und macht sie sich zu eigen:
Amazja, der Priester von Bet-El, ließ Jeroboam, dem König von Israel, melden - Mit-
ten im Haus Israel ruft Amos zum Aufruhr gegen dich auf; seine Worte sind unerträg-
lich für das Land… Zu Amos aber sagte Amazja: Geh Seher, flüchte in das Land Juda.
Iß dort dein Brot und tritt dort als Prophet auf. (7, 12-14)
Die Weisheit Gottes sagte: Ich werde Propheten und Apostel zu ihnen senden, und sie
werden einige von ihnen töten und andere verfolgen, damit das Blut aller Propheten,
das seit Erschaffung der Welt vergossen worden ist, an dieser Generation gerächt
wird, vom Blut Abels bis zum Blut des Zacharias, der im Vorhof zwischen Altar und
Tempel umgebracht wurde. Ja, ich sage euch: An dieser Generation wird es gerächt
werden. (II, 49-51)
Jerusalem, Jerusalem, du tötest die Propheten und steinigst die Boten, die zu dir ge-
sandt sind. Wie oft wollte ich deine Kinder um mich sammeln… aber ihr, habt nicht
gewollt. Darum wird euer Haus (von Gott) verlassen. (23, 27-38)
Die Gegner des frühchristlichen Prophetismus waren die Pharisäer. Diese religiös-politische
Gruppierung hatte sich in der zweiten Hälfte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts formiert.
Als gelehrte Laien standen sie in enger Beziehung zum Volke und im Gegensatz zur priesterlich-
aristokratischen Oberschicht der Sadduzäer. Sie vertraten die Verbindlichkeit nicht nur des ge-
schriebenen Gesetzes, sondern auch vieler Gebote und Verbote, die die Tradition hinzufügte. Sie
forderten unbedingte Gesetzestreue - ja, in der Beachtung des Gesetzes bestehe der eigentliche
Jahvekult, der deshalb nicht an den Opferkult des Tempels gebunden sei. Sie glaubten an die Auf-
erstehung der Toten, das Kommen des Messias und ein jenseitiges Gericht mit jenseitiger Gerech-
tigkeit.
Ganz offensichtlich stand das spätere Christentum dieser religiösen Position ziemlich nahe. Das
mag einer der Gründe für die heftigen Angriffe gewesen sein, die die Evangelien Jesus gegen die
Pharisäer richten lassen. Genauer wird man sagen: Die Pharisäer wurden für die Christen zum
Gegner gemacht, der alles verkörperte oder dem alles zugeschrieben wurde, was ihnen am meisten
verhaßt war. Das aber war:
• die Annahme, das mosaische Gesetz habe irgendeinen Selbstwert - es ist vielmehr um des Men-
schen willen da,
• die Annahme, daß die rituelle Befolgung eines Gesetzes den Menschen heilen und retten könne
- das geschehe aber nicht durch die Beachtung ritueller Bräuche oder Gesetze, sondern durch
Liebe im Horizont des Gottesreiches,
• die Annahme, daß der religiöse Mensch auch von den Menschen geachtet werden müsse -
vielmehr gehe religiöses Leben oft einher mit Verachtung und Niedrigkeit.
Ich will Ihnen einige Texte der Evangelien vorstellen, die die pharisäerische Position durch Jesus
verurteilen lassen. Unbestritten sei, daß Jesus die oben erwähnten drei Annahmen als religiöse
Fehlorientierung oder gar als Heuchelei ablehnte. Doch seine Worte dürften nicht so heftig gewe-
sen sein wie die uns überlieferten:
Sie (die Pharisäer) schnüren schwere Lasten zusammen und legen sie den Menschen
auf die Schultern, wollen selbst aber keinen Finger rühren, um die Lasten zu tragen.
Alles, was sie tun, tun sie, damit die Menschen es sehen… Auf den Straßen und Plät-
zen lassen sie sich gern grüßen und von den Leuten Meister (Rabbi) nennen. Ihr aber
sollt euch nicht Meister nennen lassen; denn nur einer ist euer Meister, ihr alle aber
seid Brüder. Weh euch, ihr Schriftgelehrter, und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr gebt den
Zehnten von Minze, Dill und Kümmel und laßt das Wichtigste im Gesetze außer acht:
Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue. Man muß das eine tun, ohne das andere zu
lassen.
Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr seid wie Gräber, die
außen weiß angestrichen sind und schön aussehen; innen aber seid ihr voll Knochen,
Schmutz und Verwesung. (Mt 23, 4-27)
Nehmt euch in acht vor den Schriftgelehrten! Sie gehen gern in langen Gewändern
einher, lieben es, wenn man sie auf den Straßen und Plätzen grüßt, und sie wollen in
der Synagoge die vordersten Sitze und bei jedem Festmahl die Ehrenplätze haben. Sie
bringen die Witwen um ihre Häuser und verrichten in ihrer Scheinheiligkeit lange Ge-
bete. Aber um so härter wird das Urteil sein, das sie erwartet. (Mk 12, 37b-40)
Auch das dritte Evangelium kennt ganz ähnliche Texte (Lk II, 39-54 und 20, 45-47). Wir dürfen
also davon ausgehen, daß Jesus etwas gegen die bloße Kultfrömmigkeit (Gebete, Opfer, Spenden,
Tempelsteuer…) hatte. Und diese Angriffe gegen eine selbstgerechte Kult-Religiosität machten
ihn - ähnlich den Propheten - denkbar unbeliebt. Man irrt wohl kaum, wenn man annimmt, daß es
diese Ablehnung war, die zur Tötung Jesu beitrug. Andererseits nahm Jesus diesen Streit um den
Primat der Sittlichkeit vor dem Kult so ernst, daß er bereit war, Todfeindschaft und Aggressivität
der Frommen in Kauf zu nehmen.
Um festzustellen, in welchem Umfang der Geist der Synagoge in der nachkonstantinischen Kirche
Einzug hielt, bitte ich den Leser, er möchte die Jesusworte gegen die Pharisäer und Schriftgelehr-
ten noch einmal in Ruhe nachlesen und sich dabei fragen, ob sie nicht auch heute gesprochen sein
könnten.
Das Auseinanderrücken von Kult und Sittlichkeit führt im Raum der Religionen sehr oft zu einer
kultischen Unsittlichkeit, wenn das Wort des Kults der Praxis des Lebens widerspricht. Dann
werden kultische Handlungen zu leeren Zeremonien und Religiosität entartet zu einem äußeren
sozialen Stützkorsett. Jesus betont mit den Propheten den absoluten Vorrang der Sittlichkeit vor
dem Kult. Der Kult steht im Dienst der Sittlichkeit. Kirche ist also kein Verein, dem jeder zugehö-
ren kann, der den äußeren Comment beachtet oder auch nur beherrscht - die Kirche Jesu jeden-
falls nicht.
Eine der zentralen Forderungen Jesu an alle, die ihm folgen wollen, besteht in der Umkehr aus
dem Kult in die sittliche Handlung.
Wir sind der Überzeugung, daß der Mensch gerecht wird durch den Glauben, unab-
hängig von Werken des Gesetzes. (3, 28)
Gerecht gemacht aus dem Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch Jesus Christus
unseren Herrn. (5, 1)
Damit ist jedoch noch keineswegs die Vermutung des Glaubens gesichert. Der reale Glaube unter-
scheidet sich von vermuteten dadurch, daß er sich durch Handeln darstellt, obschon er nicht
durchs Handeln bewirkt wird.
In einem Brief, der auf einen »Bruder« Jesu, den im Jahre 62 ermordeten Vorsteher der Gemeinde
zu Jerusalem, Jakobus, zurückzugehen scheint, heißt es denn auch:
Meine Brüder, was nützt es, wenn einer sagt, er habe den Glauben, aber es fehlen die
Werke? Kann etwa der Glaube ihn retten? Wenn ein Bruder oder eine Schwester ohne
Kleidung ist und ohne das tägliche Brot, und einer von euch sagt zu ihnen: Geht in
Frieden, wärmt und sättigt euch! Ihr gebt ihnen aber nicht, was sie zum Leben brau-
chen - was nützt das? So ist auch der Glaube für sich allein tot, wenn er nicht Werke
vorzuweisen hat. Nun könnte einer sagen: Du hast Glauben und ich kann Werke vor-
weisen; zeig mir deinen Glauben ohne Werke, und ich zeige dir meinen Glauben auf-
grund der Werke… Willst du also einsehen - du unvernünftiger Mensch -, daß der
Glaube ohne Werke nutzlos ist? (2, 14-20)
Damit faßt er mit etwas dürren Worten die Jesus-Praxis zusammen, der nahezu alle Menschen, die
ihm begegnen, auffordert, etwas zu tun - sich im Handeln auszudrücken. Und nur in sehr wenigen
Fällen ist es kultisches Tun, das Jesus verlangt oder erwartet. Jesus selbst hat offensichtlich der
Teilnahme an Kult-Handlungen nur begrenzte Bedeutung beigemessen. Die Taufe durch Johannes
und das letzte Pascha-Mahl mit seinen Aposteln sind, sieht man von einigen Predigten in Synago-
gen ab, die einzigen uns überlieferten kultischen Handlungen, die die Evangelien für so wesentlich
halten, um sie zu berichten.
Offensichtlich hat also die frühe Gemeinde außer aus den sakramentalen Riten, die sie aus diesen
beiden entwickelte (Initiationstaufe und Eucharistie), ihr Christsein aus dem sittlichen Handeln,
aus dem Glauben gelebt. So heißt es in der Apostelgeschichte, einer gegen Ende des ersten Jahr-
hunderts vom Verfasser des dritten Evangeliums abgefaßten idealisierten Missionsgeschichte der
frühen Christen:
Und alle, die gläubig geworden waren, bildeten eine Gemeinschaft und hatten alles
gemeinsam. Sie verkauften Hab und Gut und gaben davon allen, jedem so viel, wie er
nötig hatte. Tag um Tag verharrten sie einmütig im Tempel, brachen in ihren Häusern
das Brot und hielten miteinander Mahl in Freude und Einfalt des Herzens. Sie lobten
Gott und waren beim ganzen Volke beliebt. (Apg 2, 44-47a)
Wegen der zentralen Bedeutung des sittlichen Tuns und der sekundären Bedeutung des Kults in
der Botschaft des Lebens und der Lehre Jesu, will ich einige Passagen des ersten Evangeliums zi-
tieren, die dies deutlich machen mögen. Die beiden ersten sind Gleichnisse. Gleichnisreden schei-
nen die von Jesus bevorzugte Form der Lehrmitteilung gewesen zu sein.
Ein Sämann ging aufs Feld, um zu säen. Als er säte, fiel ein Teil der Körner auf den
Weg, und die Vögel kamen und fraßen sie. Ein anderer Teil fiel auf felsigen Bogen,
wo es nur wenig Erde gab, und ging sofort auf, weil das Erdreich nicht tief war; als
aber die Sonne hochstieg, wurde die Saat versengt und verdorrte, weil sie keine Wur-
zeln hatte. Wieder ein anderer Teil fiel unter die Dornen, und die Dornen wuchsen und
erstickten die Saat. Ein anderer Teil fiel schließlich auf guten Boden und brachte
Frucht, teils hundertfach, teils sechzigfach, teils dreißigfach. (13, 3b-8)
Hört, was das Gleichnis vom Sämann bedeutet. Immer wenn ein Mensch das Wort
vom Reich hört und es nicht versteht, kommt das Böse und nimmt alles weg, was die-
sem Menschen ins Herz gesät wurde; hier ist der Samen auf den Weg gefallen. Auf
den felsigen Boden ist der Samen bei dem gefallen, der das Wort hört und sofort freu-
dig aufnimmt, aber keine Wurzeln hat, sondern unbeständig ist; sobald er um des
Wortes willen bedrängt oder verfolgt wird, kommt er zu Fall. In die Dornen ist der
Samen bei dem gefallen, der das Wort zwar hört, aber dann ersticken es die Sorgen
dieser Welt und der trügerische Reichtum und es bringt keine Frucht. Auf guten Bo-
den ist der Samen bei dem gesät, der das Wort hört und es auch versteht; er bringt
dann Frucht, hundertfach oder sechzigfach oder dreißigfach. (13, 18-23)
Das Fruchtbringen ist in der agrarischen Welt Jesu und seiner Zuhörer ein eindeutiges Zeichen: Es
geht um das Tun des Guten.
Ein guter Mensch bringt Gutes hervor, weil er Gutes in sich hat, und ein böser
Mensch bringt Böses hervor, weil er Böses in sich hat. (12, 35)
Ein Mann hat zwei Söhne. Er ging zum ersten und sagte: Mein Sohn, geh und arbeite
heute im Weinberg! Er antwortete: Ja, Herr!, ging aber nicht. Da wandte er sich an
den zweiten Sohn und sagte zu ihm dasselbe. Dieser antwortete: Ich will nicht. Später
aber reute es ihn, und er ging doch. Wer von den beiden hat den Willen des Vaters er-
füllt? Sie antworteten: Der zweite. Da sagte Jesus zu ihnen: Amen, das sage ich euch:
Zöllner und Dirnen gelangen eher in das Reich Gottes als ihr. (21, 28-31)
Es kommt Jesus also nicht auf das Sagen an, sondern auf das Handeln. Die gesamte »Bergpre-
digt« enthält keine einzige Aufforderung, von irgendetwas überzeugt zu sein oder zu irgendeiner
kultischen Handlung, sondern fordert Haltungen und Handlungen ein, die keineswegs auf den ers-
ten Blick religiös zu sein scheinen. In dieser »Predigt« läßt das erste Evangelium Jesus sagen:
Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr!, wird in das Himmelreich kommen, sondern
nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt. Viele werden an jenem Tage zu
mir sagen: Herr, Herr, sind wir nicht in deinem Namen… aufgetreten?… Dann werde
ich ihnen antworten: ich kenne euch nicht. Weg von mir, ihr Übertreter des Gesetzes!
(7, 21-23)
Meister, was muß ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen? Er antwortete:
Was fragst du mich nach dem Guten? Nur einer ist »der Gute«. Wenn du aber das Le-
ben erlangen willst, halte die Gebote!… Wenn du vollkommen sein willst, geh und
verkaufe deinen Besitz und gib das Geld den Armen… dann komm und folge mir
nach. (19, 16b-21a)
Es geht hier also in jedem Fall um das Tun, nicht einmal um das Gutsein. Jesus legt seine Hand-
lungsanforderung nicht in einem moralischen Kontext vor (moralisieren liegt ihm nicht), sondern
er stellt einfach fest.
Was zu tun ist, das steht im Gesetze: »Du sollst den Herrn deinen Gott lieben mit
ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit allen deinen Gedanken« (nach Dtn 6, 5) und
»Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (nach Lev 19, 18).
Diese beiden Gebote Jahves galten auch den Pharisäern als die wichtigsten Gebote im »Gesetz des
Moses«. Jesus gibt ihnen eine konkrete Gestalt: Er läßt den Richter über alle Menschen sprechen:
Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das
seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist. Denn ich war hungrig, und ihr
habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich
war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt, und ihr
habt mir Kleidung gegeben; ich war krank, und ihr habt mich besucht; ich war im Ge-
fängnis, und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten:
Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben… Darauf wird
der König ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für meinen geringsten Bru-
der getan habt, das habt ihr mir getan. (25, 34b-40)
In keinem Text finden wir irgendeine Aufforderung zu liturgischem Tun, sondern Forderungen,
die Interaktionsmuster in ganz bestimmter Weise zu gestalten. Die unter uns herrschenden Regeln
lassen allenfalls fakultative Christlichkeit zu, die man beachten oder lassen kann. Im allgemeinen
aber nicht einmal dieses: Wer Erfolg haben will, wer Ansehen genießen will, wird gut daran tun,
als Agent eines sozio-ökonomischen Systems tätig zu werden - innerhalb oder außerhalb der Kir-
che.
Die zuletzt zitierte Rede des »Weltenrichters« setzt keineswegs voraus, daß nur Christen nach
dieser Regel ihr Leben richten werden. Sie trifft für alle Menschen zu.
Diese Einsicht ist insofern wichtig, als bewußtes Christsein, das sich vielleicht gar in einer organi-
sierten christlichen Gesellschaft darstellt, keineswegs sicher zur Erfüllung der Jesusverheißung
führt. Daß aber andererseits Menschen, die außerhalb des Christentums stehen, mögen sie es nicht
kennen oder mögen sie es - etwa wegen seiner scheinbar institutionalisierten Unchristlichkeit - ab-
lehnen, durchaus den Zuspruch des Gottesreiches erfahren. Jesus urteilt also nicht nach kirchli-
chen Zugehörigkeiten, nach Glaubensüberzeugungen, Riten oder Rechten, sondern ausschließlich
nach der Art und Weise, mit anderen Menschen umzugehen. Hierin weist sich aus, ob ein Mensch
glaubt - oder nur zu glauben glaubt. Der scheinbar Gläubige wird selten in Konflikt zu irgendei-
nem Glaubensbekenntnis oder irgendwelchen Dogmen stehen - er wird sie akzeptieren und auf ih-
nen seine Religiosität aufbauen. Aber er wird nicht aus seinem Glauben handeln. Er wird vielmehr
übel Nachreden, verleumden und verurteilen, beneiden, vielleicht gar andere ablehnen - ganz ähn-
lich wie manche Menschen, die sich bewußt gegen die Jesusbotschaft einrichten. Dabei ist es völ-
lig unerheblich, welchen kirchlichen Grad er besitzt. Ich kenne Marxisten, von denen ich vermute,
daß Jesus ihnen das Gottesreich zusprechen würde. Ich vermute, daß einige Vertreter kirchlicher
Hierarchie ihr Christentum mit viel Mühe illusorisch tarnen, um sich selbst als Christen akzeptie-
ren zu können.
Der Weg ins Christentum ist in jedem Fall nicht primär der Weg in eine Kultgemeinde, nicht ein-
mal in eine Glaubensgemeinde, sondern eine Neuorientierung des gesamten Interaktionsstils. Die
Zugehörigkeit zu einer Glaubens- und Kultgemeinschaft ist allenfalls erheblich, insofern und weil
sie eine solche Neuorientierung in Gang setzen und unterhalten kann. Da wir Menschen in Ein-
samkeit und Isolation meist sehr wenig ausdauernd sind, unsere Grundorientierungen zu realisie-
ren, kann (und ist sehr oft) die Zugehörigkeit zu einer kirchlichen Gemeinschaft die religiöse, so-
ziale und psychische Voraussetzung sein eines praktischen Christseins. Die Gefahr, die in der Zu-
gehörigkeit zu solcher Gemeinschaft liegt, ist die, daß sie die Verwechslung von realem Glauben
und vermeintlichem Glauben maskieren und verschleiern helfen kann.
Timotheus, bewahre was dir anvertraut ist. Halte dich fern von dem gottlosen Ge-
schwätz und den falschen Lehren der sogenannten Gnosis. Nicht wenige, die sich dar-
auf eingelassen haben, sind vom Weg des Glaubens abgekommen. (1 Tim, 6,20-21)
Nun sind viele Christen im Laufe der Jahrhunderte durchaus der Gefahr erlegen, die spekulative
Methode der Gnosis zu übernehmen. Sie haben sich auf diesem Niveau in endlose Streitereien
eingelassen. Dabei hätte sie die Erfahrung des Judentums Besseres lehren können. Israel war in
der Reflexion auf seine Geschichte zu seiner Jahve-Religiosität gekommen. Die aber verbot aus
einem schlichten und einfachen Grund jede Spekulation. Spekulieren kann man nicht über Jahve,
sondern allenfalls über ein Bild. Das aber ist niemals Gott so ähnlich, als daß man sagen könnte, es
sei ihm ähnlicher als unähnlich. Gottesbilder sind also immer eher Bilder von Nicht-Gott. Genau-
erhin sind sie Bilder, die der Mensch sich aus seinen großen und unbefriedigten Bedürfnissen und
Sehnsüchten konstruiert. Die Juden hatten schon früh erkannt, daß es keine legitimen Gottesbildet
geben könne, und daß die Verehrung eines Bildes zum Götzendienst entarten müsse. Deshalb lau-
tet das zweite »mosaische Gebot«:
Du sollst dir kein Gottesbild machen, das irgendetwas darstellt am Himmel droben,
auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde. (Dtn 5, 8)
In einer anderen Überlieferung wird gar als erstes Gebot ein totales Bildverbot ausgesprochen:
Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung am Himmel droben, auf
der Erde, unter oder im Wasser, unter der Erde. (Ex 20, 4)
Anfangs schien das Christentum gegen diese Gefahr gefeit zu sein. Denn eine spekulative Christo-
logie schien überflüssig, war doch seine Grundlage das Leben und die Lehre des Jesus von Naza-
ret. Doch schon ziemlich früh forderten Streitereien um den religiösen Status Jesu einerseits und
der Zwang, sich mit der Gnosis inhaltlich wie formal auseinanderzusetzen, andererseits eine Theo-
logie ein, die bald gleichberechtigt neben der Christologie stand. Zwar ist Jesus wesensgleich dem
christlichen Gott, doch forderte die Begegnung mit den Gegnern eine theologische Reflexion ein.
Dabei vergaßen manche Theologen bis zum heutigen Tag (nicht in der Theorie, aber in der Praxis
und im Anspruch ihres Denkens) oft, daß Theologie nicht über Gott, sondern stets über ein Got-
tesbild handelt. In den Gegenstand der Theologie gehen also viele Inhalte menschlichen Selbstver-
stehens mit ein - und das um so eher, als im Christentum ein Mensch Ausgang allen theologischen
Wissens ist, Jesus von Nazaret.
Es ist durchaus zutreffend und keineswegs das christliche Anliegen verratend, wenn etwa L. Feu-
erbach Theologie wieder auf Anthropologie reduziert und in ihr - unter verstellten Zeichen - die
Sehnsucht des Menschen nach sich selbst als Gottesbild wiederentdeckt. Er geht jedoch zu weit,
wenn er behauptet, daß »Gott« nichts sei als das verborgene Wesen des Menschen. Er handelt
vielmehr über das Objekt der spekulativen Theologie. Beides sollte man sorglichst auseinanderhal-
ten. Der Kampf der frühen Christen gegen die Gnosis sollte nicht heute noch verloren werden.
Von hierher ist die Relativität jeder Theologie wesentlich. Sie paßt sich an und ist teilweise Er-
gebnis der konkreten menschlichen (individuellen und sozialen) Situation, in der sich der konkrete
Theologe befindet. Theologie ist also eine außerordentlich zeitrelative Disziplin. Wie Menschen
von Menschen denken, so denken sie auch von und über ihren Gott. Das gilt auch für die Theolo-
gie. Wie die Menschen miteinander umgehen, so gehen sie auch mit ihrem Gott um. Das gilt für
die Menschen aller Zeiten. Theologie ist also als konkrete abhängig etwa von folgenden Faktoren:
• der subjektiven Religiosität des Theologen,
• den sozio-ökonomischen Bedingungen, unter denen er lebt, insofern sie die interpersonalen In-
teraktionsmuster weitgehend bestimmen und qualifizieren,
• den individuellen Erfahrungen, die ein Theologe mit Menschen gemacht hat, seinen sozialen
Bedürfnissen (vor allem den unbefriedigten), seinen Hoffnungen und Wünschen.
Und dennoch wäre es falsch, der Theologie völlige Willkür zu unterstellen. Insofern sie christlich
ist, ist sie immer auf eine zweifache Weise der Jesusbotschaft verpflichtet:
• Diese ist immer ihr Ausgang (also das Verhalten Jesu zu seinem Vater ist exemplarisch).
• Diese ist immer negative Norm (also darf nichts Erdachtes und Deduziertes der Jesusbotschaft
widersprechen).
Von hierher ist christliche Theologie auch immer Reflexion über konkrete, an der Jesusbotschaft
orientierte Religiosität. Von hierher hat ebenfalls die christlichen Gemeinde, etwa repräsentiert
durch die Kirche, das Recht über die Inhalte einer Theologie zu wachen, die sich als christlich be-
hauptet. Nicht selten bewegt sie der Zwang des Denkens aus dem von der Jesusbotschaft gezoge-
nen Rahmen hinaus. Solche Denkzwänge stellen sich als Selbstverständlichkeiten, Gewißheiten
und Sicherheiten von Menschen unter bestimmten sozio-ökonomischen Bedingungen vor, die es
unmöglich machen, ihre Bewußtseins-Inhalte ernsthaft in Frage zu stellen. Sicherlich unterstehen
auch die Amtsträger in der Kirche solchen Beschränkungen, doch - zumindest wenn sie nicht ähn-
licher sozialer Herkunft sind - sehr viel weniger dringend.
Wenn schon Theologie über Gottesbilder handelt, stellt sich die Frage, ob nicht durch die Jesus-
botschaft wesentlich neue Gesichtspunkte in das religiöse Denken eingebracht wurden, die es er-
lauben, das jüdische Bilderverbot zu relativieren. Mit anderen Worten: Kennt die Jesusbotschaft
Bilder, die eine gewisse allgemeine und überzeitliche Gültigkeit haben, so daß man sie legitim -
will heißen: ohne größere Gefährdung, Gott in der religiösen Intention zu verfehlen, ins Denken
und Sprechen einführen kann? Hier stellen sich zwei Bilder vor. Das erste ist der erfahrbare Je-
sus, der uns Gott selbst erfahrbar macht. Das zweite wird schon bald von der christlichen Ge-
meinde akzeptiert. Es ist am deutlichsten im 1. Johannesbrief gezeichnet. Dieser ist gegen das En-
de des ersten Jahrhunderts von einem Verfasser geschrieben worden, der dem Kreis nahestand,
der das vierte Evangelium (das »Johannesevangelium«) hervorbrachte. Es heißt da:
Jeder, der liebt, stammt aus Gott und erkennt Gott…, denn Gott ist die Liebe. (4, 7-8)
Hier ist die endgültige Antwort des Christen gegeben auf Gnosis und Theologie: Nicht im Denken
und Spekulieren wird Gott erkannt, sondern im Lieben.
»Jesus von Nazaret« und »Liebe« sind für den Christen die Symbole des Vater-Gottes, seine Er-
scheinung in einem ihm Anderen und doch Verbundenem, in dem er ganz und gar gegenwärtig ist
und sich so erfahrbar macht. Beide sind »Realsymbole« des unbegreiflichen und daher auch Spra-
che vollständig entzogenen Gottes. Sie sind gleichsam ER in irdischer Äußerung.
7. Vieles glauben?
Für nicht wenige Menschen, die sich auf dem Weg zum Christentum befinden, ist die Menge des
zu Glaubenden ein ernsthaftes Hindernis, das sie verschreckt einhalten läßt. Genügt es doch vie-
len, die über die Zugehörigkeit zu christlichem Glauben entscheiden - sei es zu Recht oder zu Un-
recht - keineswegs immer, daß ein Mensch auf dem Weg etwa die Inhalte des christlichen Glau-
bensbekenntnisses akzeptiert. Es wird nicht selten verlangt, daß die Fülle der Dogmen, in denen
sich christliche Kirchen im Laufe der Jahrhunderte um ihre Identität mühten, nicht nur akzeptiert,
sondern auch geglaubt werden. Es scheint mitunter so, als sei die Menge der geglaubten Sätze
proportional der Qualität eines Menschen als Christ. Daß dies alles wenig mit christlichem Geist
zu tun hat, ist ganz offensichtlich. Ich bin mir nicht einmal ganz sicher, ob Jesus heute die vielen
hundert dogmatischen Aussagen der katholischen Kirche zur Basis seiner Verkündigung machen
würde. Jedenfalls hat er recht eindeutig gesagt, was er von den Seinen erwartet: Nicht etwa die
Übernahme von irgendwelchen Sätzen, nicht den Vollzug irgendwelcher Riten, nicht die Beobach-
tung von Gesetzen und Geboten, sondern den ernsthaften Willen, ihm nachzufolgen in Selbstablö-
sung und Liebe bis zum Tod. Und das meint »Glauben«.
Ehe wir uns um die Menge des zu Glaubenden, die Größe des »Glaubenspakets« kümmern, müs-
sen wir uns zunächst fragen, was denn »Glauben« eigentlich bedeutet.
Der um das Jahr 90 von einem griechisch gebildeten Judenchristen geschriebene »Brief an die
Hebräer« versucht das christliche Glauben in die Tradition des Glaubens der Großen der Ge-
schichte Israels zu stellen. Ehe er 20mal mit der Formel: »Aufgrund des Glaubens…« eine gewal-
tige Aufzählung von Glaubensbeispielen beginnt, »definiert« er, was er mit »Glauben« meint:
Glaube aber ist: Feststehen in dem, was man erhofft, Überzeugtsein von Dingen, die
man nicht sieht. (11, 1)
Die Beispiele machen deutlich, was das im Einzelnen heißt: Es meint keinesfalls - wie gesagt - die
Übernahme bestimmter Sätze als unbezweifelbar wahre Aussagen, sondern schlicht und einfach
»den Willen dessen zu tun, den man nicht sieht, um seiner Verheißungen willen«.
Da heute zumeist das Glauben nicht als Nachfolge Jesu oder als Handeln aus der Hoffnung auf die
Treue Gottes verstanden wird, sondern als eine besondere Form des Für-wahr-Haltens, müssen
wir uns auch mit diesem Begriffsgebrauch auseinandersetzen.
Die Philosophie Platons verwendet »Glauben« als Überzeugtheit von Inhalten, die als wahr ge-
meint, nicht aber wissenschaftlich begründet werden. Diese Differenz zwischen Glauben (Meinen)
und Wissen wurde vor allem von der Gnosis als polarer Gegensatz entwickelt. Über griechisch-
philosophische und gnostisch-intellektualistische Einflüsse, gegen die sich der Verfasser des Heb-
räer-Briefs schon erheblich gewehrt zu haben scheint, insofern er den Begriff »Glaube« völlig aus
dem profanen platonischen Kontext ablöst, ist doch schon im dritten Jahrhundert das Wort
»Glauben« in seiner Bedeutung als semantischer Prädikator verbreitet. Es bezieht sich also auf das
Für-wahr-Halten eines Satzes. Meist wurde dieser Akt kausal und final gerechtfertigt: Kausal,
weil in der Botschaft Jesu begründet; final, weil zum Heil führend.
Als im 12. und 13. Jahrhundert der Islam und das Christentum der Religionskritik durch die aris-
totelische Philosophie ausgesetzt wurden, begannen die Theologen schon bald mit Immunisie-
rungsstrategien. Sätze mit religiöser und solche mit philosophischer Gewißheit galt es zu trennen.
Averroes führte im arabischen Raum die Lehre von der doppelten Wahrheit ein. Als diese nach
anfänglicher Übernahme durch christliche Philosophen ins Kreuzfeuer kirchlicher Kritik geriet,
baute man hier die Lehre von den zwei Erkenntnismodi aus (Vernunft und Glaube), die vom ers-
ten Vatikanischen Konzil (1870) für den katholischen Bereich dogmatisiert wurde. Johannes Duns
Scotus († 1308) und Wilhelm von Ockham († 1347) bestritten der Philosophie konsequent jede
Kompetenz in Glaubensfragen. Wir wollen unterscheiden
• Der Glaube als Handeln aus Hoffnung auf die Treue Gottes (von diesem Glauben spricht der
Hebräerbrief).
• Das Glauben als ein Für-wahr-Halten von Offenbarungsinhalten.
• Das Geglaubte als die Materie dieser Inhalte.
Extensionsprädikate (also Mengenangaben) betreffen allenfalls das Geglaubte. Es ist nun aber
ganz offensichtlich, daß diese Menge allenfalls erheblich ist, wenn sie Intensität des Handelns (et-
wa des Engagements) und des Für-wahr-Haltens ändert. Werden diese Intensitäten gestört, dürfte
es besser sein, weniger zu glauben. Ich vermute, daß es wichtiger und christlicher ist, weniger zu
glauben und nach dem Geglaubten Leben und Denken auszurichten, als mehr zu glauben und im
übrigen nichts zu ändern in den Grundinhalten des Bewußtseins und des Seins. Der erste Johan-
nesbrief hat dieses sehr schlicht und überzeugend formuliert:
Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott, aber seinen Bruder haßt, ist er ein Lügner. Denn
wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht.
(4, 20)
Von hier aus muß auch bestimmt werden, was »Unglaube« (das Gegenteil von Glaube) heißt.
Kann man ungläubig sein, wenn man irgendeine christliche Lehraussage leugnet? Oder ist ein
Mensch nicht gläubig, wenn er zwar alle Lehraussagen ganz und gar und ohne jede Beschränkung
akzeptiert, aber nicht den Willen Gottes tut im sittlichen Handeln? Die kirchliche Praxis ist hier
eindeutig. »Ungläubig« wird der genannt, der einen für wesentlich erachteten Satz christlicher
Doktrin nicht für außerhalb allen Zweifelns wahr hält. »Gläubig« ist dagegen der, der keinen die-
ser Sätze leugnet, unabhängig von seiner Weise, mit seinen Mitmenschen umzugehen. Ich vermute
lebhaft, daß diese Praxis nicht ganz identisch ist mit der Jesu und der frühen Gemeinde. Ich ver-
mute, daß nicht ausgeschlossen werden kann, daß hier ein intellektualistischer Glaubensbegriff
vorausgesetzt wird, der der Gnosis oder der aristotelischen Scholastik näher steht als der Jesus-
botschaft und der frühen Gemeindepraxis. So will ich hier zur besseren Entscheidung zwei Sätze
zu bedenken geben. Der erste stammt aus der Bergpredigt, der andere aus dem ersten Johannes-
brief:
Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten; wer aber
jemand tötet, soll dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch: jeder, der seinem
Bruder auch nur zürnt, soll dem Gerichte verfallen sein;… wer aber zu ihm sagt: Du
Gottloser!, soll dem Feuer der Hölle verfallen sein. (Mt 5, 21-22)
Die Liebe zu Gott besteht darin, daß wir seine Gebote halten. Seine Gebote sind nicht
schwer. (5, 3)
Doch noch ein Wort zur Menge des Geglaubten. Offensichtlich genügte es den christlichen Ge-
meinden des ersten Jahrhunderts, wenn ein Mensch annahm, daß Jesus der Christus sei, um ihn
zur christlichen Gemeinde zu zählen. Dafür sprechen nicht wenige Belege:
Jeder, der glaubt, daß Jesus der Christus ist, stammt von Gott, und jeder, der den Va-
ter liebt, liebt auch den, der von ihm stammt. (1 Joh 5, I)
Keiner kann sagen: Jesus ist der Herr!, wenn er nicht aus dem Heiligen Geist redet. (1
Kor 12, 3B)
Wenn du mit deinem Mund bekennst: »Jesus ist der Herr« und in deinem Herzen
glaubst: »Gott hat ihn von den Toten auferweckt«, so wirst du gerettet werden. (Röm
10, 10)
Das zweite Evangelium legt Jesus hier einen wiederum recht bedenkenswerten Satz in den Mund,
der ein Sprichwort umkehrt:
Wer nicht gegen uns ist, der ist für uns. (9, 40)
Und das kann doch wohl nichts anderes bedeuten (wie auch aus dem biblischen Zusammenhang
deutlich), daß zunächst einmal anzunehmen ist, daß Menschen nicht gegen Jesus sind, sondern -
bis zum Beweis des Gegenteils - für ihn.
Auch die frühkirchliche Praxis kennt keinerlei lange Listen von zu glaubenden Inhalten, wenn es
um die Aufnahme in die christliche Gemeinschaft geht. Die Apostelgeschichte berichtet, daß der
Kämmerer der äthiopischen Königin nach einem einzigen Gespräch in die Gemeinschaft aufge-
nommen wurde (Apg 8, 27b-39).
Wenn aber unsere kindlichen Bilder nicht mehr greifen, wie können wir dann an Gott glauben? Si-
cherlich müssen wir uns um ein zutreffenderes Gottesbild mühen. Das des Verfassers des ersten
Johannesbriefs dürfte dem Jesu recht nahe kommen. Es erschöpft sich in der lapidaren Feststel-
lung:
Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott, und Gott bleibt in
ihm. (4, 16b)
Jeder, der liebt, stammt von Gott und erkennt Gott… denn Gott ist die Liebe. (4, 7-8)
Diese Texte sind als Zeugnisse frühchristlichen Glaubens, der sich wie gesagt - in der Hauptsache
um die Person Jesu rankte, von ziemlicher Aussagekraft:
• Unsere Liebe zu Gott besteht darin, daß wir sittlich handeln (= die Gebote halten) (5, 3).
• Unsere Liebe zu den Menschen besteht darin, daß wir »nicht mit dem Wort oder der Zunge,
sondern in Tat und Wahrheit« (3, 18) Not lindern (3, 17), nicht hassen (4, 20), uns nicht fürch-
ten, sondern zuversichtlich sind (4, 17-18).
Das Wort »Liebe« ist nun eines der abgegriffensten unserer Sprache. Es sagt so viel, daß es schon
mehr verschweigt als bedeutet. »Was ist Liebe?« läßt Nietzsche die letzten Menschen fragen - und
dabei blinzeln. Nun gibt uns die Heilige Schrift der Christen keine kurze handliche Definition,
wohl aber eine sehr gute funktionale Beschreibung, die es uns erlaubt, in nahezu jedem konkreten
Fall zu entscheiden, ob Liebe eine zwischenmenschliche Situation beherrscht oder nicht. Paulus
hat uns diese Beschreibung im 1. Brief an die Leute in Korinth, kaum 25 Jahre nach Jesu Tod nie-
dergeschrieben:
Damit hat Paulus jedem Christen die entscheidende Zielvorgabe gegeben. Niemand kann sich ent-
schuldigen, er wisse nicht, was Liebe sei. Jedermann ist in der Lage, seine Schwachpunkte vor
dem Anspruch christlicher Sittlichkeit zu erkennen. Sicherlich polemisiert Paulus auch in diesem
»Hohelied der Liebe« gegen Menschen, die prophetisches Reden oder unverständliches Stammeln
zum Lobe Gottes in die Liturgie einführen wollen und jene, die meinen, Gott im Denken erkennen
zu können (Gnosis), doch ist der Grundgedanke dieses Hymnus nicht Polemik. Er stellt vielmehr
eine einzigartige Summe der Jesusbotschaft dar.
Versuchen wir nun, die wesentlichen Aussagen des 1. Johannesbriefes vor dieser Definition christ-
lichen Liebens auszumachen. Der Text sagt:
• Man kann Gott erkennen, wenn man liebt. Ja, wenn man liebt hat man Gott schon
erkannt.
Die weitaus meisten Menschen leiden irgendwann einmal in ihrem Leben an der Unerfahrbarkeit
Gottes - manche leiden zeitlebens darunter und kapitulieren in einen praktischen Atheismus hinein.
Das liegt nicht selten daran, daß sie die Wende von einem kindlichen zu einem reifen Gottesbild
nicht recht vollzogen, oft auch gar nicht - wegen mangelnder Hilfe - vollziehen konnten. Niemand
hatte ihnen gesagt, unter welchem Bild Gott erfahrbar ist.
Sicherlich ist es nicht leicht zu lieben (etwa im Sinne des paulinischen Hymnus), doch das Mühen,
das ernsthafte und niemals aufgebende reicht. Nicht das Vollenden ist in unser Vermögen gestellt,
aber das Wollen, das von unserer Seite unbedingte Wollen, das sich immer und immer wieder an
der Praxis probt. Und wenn es uns auch nicht - trotz allen Mühens gegeben sein sollte - zu lieben,
so können wir doch das Gegenteil meiden. Das ist allemal in unsere Kraft gegeben - wenn auch
oft erst nach einigem Training. Wir können meiden das Hassen, das Verurteilen oder Beurteilen
nach moralischen Qualifikationen, das Neiden und Kränken, das üble Nachreden und Verleumden,
das Beleidigen und Links-Liegen-Lassen, das Verachten und das Schneiden, das Nachtragen und
das Zürnen.
Wenn wir das alles tun, dann ist der Schritt in das Lieben meist nicht sehr groß - und mit dem Lie-
ben der zur Erkenntnis Gottes.
Was aber erkennt man da? Natürlich keinen Menschen oder irgendetwas, das bildhaft darstellbar
wäre. Dennoch aber wird alles anders: Farben werden leuchtender, Sorgen anderer Menschen er-
heblicher, Leben in Tieren und Pflanzen erfahrbarer, die Sonne strahlt heller und das Leben macht
Freude. Und in all dem leuchtet das Geheimnis einer unendlichen Liebe auf. Für einen Menschen,
der Gott erkannt hat unter dem Bild oder in der Gestalt der Liebe, ist alles neu und vieles wichtig
geworden, das vorher alt und abgegriffen, unnütz oder entbehrlich erschien.
Es ist keineswegs schwer, Gott zu erkennen, man muß sich nur bedingungslos der Liebe überlas-
sen. Das wollen wir alle, danach sehnen wir uns - mit jener Sehnsucht, die letztlich die nach dem
ist, was wir in unserer immer zu kurzen Sprache »Gott« nennen.
Aber diese Erkenntnis Gottes ist noch nicht das Ende. Wer Gott unter dem Bild der Liebe erkannt
hat, einer Liebe, die ja immer begrenzt ist durch die Enden menschlicher Erfahrungsfähigkeit von
Liebe, der kann eines Tages Gott in der völligen Bild- und Sprachlosigkeit erfahrend erkennen.
Diese Erfahrungserkenntnis Gottes scheint nur über die Liebeserfahrung vermittelt möglich zu
sein. Sie geht einher mit der Unfähigkeit, über Gott zu sprechen. Genauer: jetzt weiß ein Mensch
von einem Gott - aber sein Wissen muß sprachlos bleiben. Wenn er zu sprechen beginnt, weiß er,
daß er über etwas anderes spricht als über Gott. Und das ist ihm peinlich und unangenehm.
Diese Gotteserfahrungen (die im Bild der Liebe und die unvermittelte) setzten keineswegs voraus,
• daß ein Mensch besonderen Kulteifer zeigt,
• daß ein Mensch ein reiches Glaubenswissen hat,
• daß er sich kirchlich engagiert.
Alles dies scheint mitunter durchaus als störend. Wohl aber setzen beide voraus, den praktischen
Willen zur unbedingten Liebe in alltäglichen Interaktionen.
Dieses Wort steht der Botschaft Jesu vom Gottesreich nahe. Das Gottesreich ist der Bereich von
Welt, der in Gott ist, mit ihm in einer spezifischen Einheit zusammen. Dies im »Gottesreich-Sein«
wird nun im 1. Johannesbrief den Menschen zugesprochen, die lieben. Insofern die Botschaft vom
Gottesreich die zentrale Aussage Jesu ist, wird sie an anderer Stelle behandelt. Hier geht es um
die Bedeutung der Formel: »Ich glaube an Gott«, wenn sie im christlichen Lebensraum gebraucht
wird. Vor allem um die Frage, kann man Gott nicht lieben und dennoch sagen: ich glaube an ihn,
ohne zu lügen - wenn Gott die Liebe ist, und nur wer liebt, in Gott ist. Was also sind die Grenzen
des Gottesreichs? Sind es die Grenzen des Glaubens oder die der Liebe, oder sind beide eins?
Die kirchliche Theologie pflegt hier sorglichst zu scheiden zwischen dem bloßen Glauben und dem
durch die Liebe informierten Glauben. Nur letzterer rechtfertige den Menschen. Vermutlich liegt
hier das Mißverständnis vor, das ein Für-wahr-Halten (das Glauben) mit Handlungspraxis aus dem
Vertrauen auf Gott (der Glaube) miteinander vermengt. Das bloße Für-wahr-Halten reicht sicher-
lich nicht aus, um in Gott zu sein.
Was schreibt der erste Johannesbrief dazu:
Wer sagt: Ich liebe Gott!, aber seinen Bruder haßt, der ist ein Lügner. (4, 20)
Wir wissen, daß wir aus dem Tod ins Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brü-
der lieben. Wer nicht liebt, bleibt im Tod. (3, 14)
»Gott ist die Liebe«, erscheint zunächst als eine rein funktionale Bestimmung Gottes. Er ist das,
was er tut - unbedingt und unendlich lieben. Und hier stellt sich dann die für einen Christen zentra-
le Frage seines Lebens: Ist Liebe auch Gott? Besser und funktional gesprochen: Geschieht im Lie-
ben Gott? Wird er gegenwärtig? Ich meine, daß man diese Frage weder mit einem abdeckenden Ja
oder Nein beantworten kann. Liebe, menschliche Liebe - und zwar in allen ihren Formen und Ges-
talten, und mögen sie noch so sehr verzerrt sein, und von der Liebe, von der Paulus berichtet, weit
entfernt, wenn sie ihr nicht entgegen sind, dann geschieht in solchem Lieben Gott. Er wird ge-
genwärtig als reales Symbol, d.h. real ganz und gar - aber ohne sich in dieser Liebe zu erschöpfen
und in ihr auf- oder unterzugehen. Er ist in der Liebe, und zwar ganz real, aber er übersteigt alle
menschliche Liebe zugleich.
Von hierher wird deutlich, wie schwer es ist, von Gott in substanzontologischen Kategorien zu
sprechen.
Wer auf solches Denken verwiesen ist, denkt sich in Unaussprechliches hinein. Sicher kann man
von »Gott« gleichsam gegenstandsontologisch auch sprechen - dann ist er »der Grund der Liebe«,
das, worin Liebe gründet, ohne jedoch von ihr verschieden zu sein. Tatsächlich fallen in der
Selbstlosigkeit der Liebe Vollzug und Grund zusammen - sie hat keinen Grund außer sich. Wie ja
auch die theologische Spekulation von Gott ausmachen kann. Allerdings gebe ich zu, daß es an-
fangs nicht immer leicht ist, in allen Formen des Liebens Gott zu erkennen - in ihnen wird er je-
doch als Grund erfahrbar, von ihnen abgebildet. So kann man denn auch sagen, daß Liebe auf
Gott verweisen könne, ihn abbilde, darstelle, gegenwärtig setze…
Hier siedelt das rechtgläubige Christentum ganz in der Nähe eines christlichen Atheismus, für den
Gott nichts anders ist als die Liebe unter Menschen. Dieser christliche Atheismus ist einem geleb-
ten und lebendigen Christentum oft unendlich viel näher als ein christlicher Theismus, der Gott
ausschließlich unter substanz-ontologischen Kategorien vergegenständlicht und nicht im Lieben
real werden läßt, der nicht Liebe als Realsymbol Gottes begreift, der über Gott spricht wie über
eine Sache oder - bestenfalls - wie über einen Menschen.
Dazu noch einige Anmerkungen für die Praxis:
Da wir in aller Regel erzogen wurden, uns ein gegenständliches Bild von Gott zu machen und wir
nie gelernt haben, ihn in Funktionen zu begreifen, wird es für viele Menschen leichter sein, zu-
nächst im Lieben Gott wie in einem Bild oder einem Spiegel zu erfahren - ehe es bewußt wird,
daß Gott Liebe ist.
Es ist heute verbreitet, von der Gottunfähigkeit der Menschen zu sprechen (J. Ratzinger). Ich
vermute, das ist falsch. Vielen Menschen sind erfahrungstranszendente Ontologica sicherlich
fremd - nicht aber die Liebe. Liebe ist sicher nichts Erfahrungstranszendentes. Und ich weigere
mich, zusammen mit dem Verfasser des Johannesbriefes, Gott als erfahrungstranszendent zu be-
zeichnen. Dennoch ist die Behauptung von der Transzendenz Gottes nicht ganz und nur falsch. Er
ist zweifelsfrei sprachtranszendent, weil er sich nicht in Worten erfassen läßt. Er ist ebenfalls unse-
rem denkenden Erkennen transzendent, weil er sich nicht bedenken läßt - wie sich ja auch die Er-
fahrung von Liebe nur sehr inadäquat in Worten darstellen und im Denken einholen läßt, ohne daß
sie darunter erheblichen Schaden nimmt.
Das aber alles sagt nicht, daß wir Gott nicht erfahren können in einer Weise, die nicht ganz ent-
fernt ähnlich ist unserer Selbsterfahrung des Liebens. Wenn wir wieder lernen zu lieben und auf
Liebe menschlich zu reagieren, wird dieser Wall, den uns unsere Bilder und unsere Vorurteile vor
Gott aufgebaut haben, zerbrechen.
Manche Leser werden vielleicht fragen, ob das denn tatsächlich für alle Formen der Liebe gilt. Ja,
es gilt für alle Formen, die etwas von der paulinischen Beschreibung einfangen. Das kann (muß
nicht) sein:
• die Liebe der Eltern zu ihren Kindern und die der Kinder zu ihren Eltern,
• die erotische, aber auch die bloß-sexuelle Liebe,
• die Liebe, die mich anderen helfen läßt, für sie dasein läßt, ihnen zuhören läßt, mit ihnen Ge-
duld haben läßt…, in der Liebe also, die Paulus besingt.
Überall ist Gott als Liebe real anwesend und erfahrbar. Und das ohne sonderliche Mühe. Man
muß nur einmal auf ihn aufmerksam geworden sein.
Ich vermute, daß der »Kult der Liebe« in ihren verschiedenen Gestalten, der nicht selten den klas-
sischen religiösen Kult ersetzt, etwas ahnen läßt von der Allmacht Gottes - der Allmacht der Lie-
be. Aber auch von der grundsätzlichen Gottfähigkeit der meisten Menschen.
In der Praxis klagen mir immer wieder Menschen, ihre Unfähigkeit zu lieben. In der Psychologie
haben wir für solche Erfahrungen verschiedene Namen, die alle so hart und endgültig klingen -
und dennoch ist es das Ziel nahezu aller Psychotherapie (und, wie ich vermute, auch aller christli-
chen Seelsorge), das Lieben zu lehren.
Und dennoch gibt es Menschen, die scheinen dazu verdammt zu sein, nur sich selbst lieben zu
können, sie ersticken fast an sich selbst. Es gilt solches Leiden zu verstehen, nachzuleiden, um zu
helfen. Das Eingesperrtsein in sich selbst nannte man einmal »Hölle«. Alle Fenster zur Liebe, zu
Gott, scheinen verschlossen. Doch gelegentlich kann solches Gefängnis ganz plötzlich zerbrechen,
wenn solch Verdammte dieser Erde einem Christen begegnen, der weiß, wer Gott ist. Er kann ihn
manchmal an der Hand nehmen und ihm helfen, sich selbst zu verlassen, aus sich selbst auszuzie-
hen und sich einem anderen zu schenken. Wer das Lieben nie lernte, kann das mitunter nachholen
- aber wohl nur in der Liebe eines anderen Menschen, die unendlich behutsam seine Ängste, seine
Scham und Schüchternheit abbaut und einen oft unendlich scheinenden Weg der unerwiderten
Liebe geht.
Es fällt mir schwer, daran zu glauben, daß Menschen schon auf dieser Erde endgültig verdammt
sein sollen. Daß sie nicht wissen können, wie schön das Leben und die Welt sind. Ein unendlich
kleiner Funke der Sehnsucht nach Liebe ist wohl in jedem Menschen.
Die Unfähigkeit zu lieben - bedingungslos zu lieben - wird uns allen in bestimmten Situationen un-
seres Lebens erfahrbar. Hier gilt das Wort des Johannesbriefes, daß der Grund unserer Liebe nicht
in uns selbst ist, sondern in der unbedingten Liebe, die wir Gott nennen:
Nicht darin besteht die Liebe, daß wir Gott geliebt haben, sondern, daß er uns geliebt
und seinen Sohn… gesandt hat. (4, 10)
So wird die Liebe zum Geschenk und ist nicht etwa Leistung.
S. Freud verwies auf die Unerfüllbarkeit des Gebotes der Nächstenliebe, weil der Verzicht auf
Feindaggressivität unsere unbewußte Schuldgefühle unterdrücken und uns so in einen hohen Grad
von Konfliktappentenz führe, die liebende Menschen immer und immer wieder zu Zentren von
Konflikten werden lassen, die praktisch unauflösbar seien. Das Argument mag stimmen, doch ahnt
Freud nicht, wie erlösend die uns geschenkte und die uns damit ermöglichte unbedingte Liebe ist,
die Agressivität nicht vernichtet oder verbietet, sondern in ihren Ausdrucksformen reguliert.
Auch jene Menschen, die nur noch zögernd und verhalten lieben können, die zahllosen, deren Lie-
bessuchen enttäuscht wurde, die niemals recht erfuhren, was denn Liebe sei, die, von denen die
Psychoanalyse meint, sie seien urmißtrauisch und liebesunfähig, all die vielen, die also nur noch zu
bedingtem und maskiertem Lieben in der Lage sind, erfahren Liebe. Selbst, wenn sie vor ihr weg-
laufen möchten, selbst, wenn sie kaum etwas Sinnvolles damit anfangen können, auch in ihrem
Leben spielt das eine Rolle, das Paulus hymnisch beschreibt.
Gerade solche, in ihrer Liebe gebrochenen und fast zerstörten Menschen, sind oft hoch sensibel
für alles Religiöse. Empfindsam für Haß und Neid, für Rücksichtslosigkeit und Mißgunst, für Ver-
leumdung und Beleidigung, können sie diese sehr viel eher vermeiden, als die »Starken« - mit de-
nen Jesus - vielleicht wegen ihrer mangelnden Sensibilität - sehr wenig anfangen konnte. Eines der
wenigen, vom ersten Evangelium überlieferten Jesusgebete, heißt denn auch:
Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde,
Weil du das den Weisen und Klugen verborgen,
Den Unmündigen aber geoffenbart hast.
Ja, Vater, so hat es dir gefallen. (11, 25-26)
Für alle Formen der Liebe gilt, wie in einem Rätsel oder einem Spiegelbild (vielleicht eines Zerr-
spiegels), ist Gott erfahrbar in jeder Form menschlicher Liebe - und verschwindet in allen Formen
menschlicher Ablehnung.
Um aber in der Liebe Gott erkennen zu können, müssen wir uns sensibilisieren für die Grundhaf-
tigkeit der Liebe. Von Augustinus († 430) kommt die berühmte philosophische Bestimmung von
»Liebe«: »Liebe ist einen oder nach Einigung streben.« In dieser Universalisierung ist Liebe weit
abgelöst vom bloßen Fühlen, das vor allem die Liebe begleitet, die mit der physischen und sozia-
len Gründung neuen Lebens (Zeugen, Brutpflege…) verbunden ist, ohne sie aber auszuschließen.
Diese Liebe ist der Grund des Kosmos, in dem alles was wir kennen, nach Einigung, nach höherer
Komplexität zu streben scheint. Für Augustinus wurde denn auch konsequent die Liebe zum »cor
omnium rerum« - das Herz aller Dinge.
Dichterisch ist dieser Gedanke von G. Greene aufgenommen worden (the Heart of the Matter),
religiös reflektierend wurde er von P. Teilhard de Chardin entfaltet (Le coeur de la Matière). Auf
die kosmische Bedeutung der Liebe, auf die kosmische Funktion Jesu hat Paulus verschiedentlich
verwiesen.
Auch die Schöpfung soll von der Sklaverei und Verlorenheit befreit werden, zur Frei-
heit und Herrlichkeit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, daß die gesamte Schöpfung
bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt. (Röm 8, 21-22)
Gott hat beschlossen, die Fülle der Zeiten heraufzuführen, in Christus alles zu verei-
nen, alles, was im Himmel und auf Erden ist. (Eph 1, 10)
Besonders aber ist hier der Hymnus im Kolosserbrief zu nennen, der schon im dritten Kapitel vor-
gestellt wurde.
Doch ist hier auch zu fragen nach der »objektiven Gültigkeit« solcher Gotteserfahrung. Handelt es
sich nicht um bloße Projektionen oder um die Hypostasierung von Erfüllungwünschen all jener
Bedürfnisse, deren Befriedigung uns unter diesen konkreten sozio-kulturellen oder sozio-
ökonomischen Bedingungen - vielleicht gar unter allen möglichen Bedingungen unseres Lebens -
versagt bleibt? Diese Vermutung hat manches für sich. Nicht umsonst wurde sie - von K. Marx
und S. Freud einmal in wissenschaftlicher Form in die Welt gesetzt - von so vielen begeistert auf-
genommen. Was also sind die Kriterien für den »objektiven Wert«, die »objektive Gültigkeit« der
Aussage, daß der Mensch in der Erfahrung der Liebe Gott erfahren könne?
Dazu ist zunächst einmal eine Anmerkung zu machen: Wir alle interpretieren alle unsere Erfah-
rungen nach Maßgabe von Bezugsrahmen, die durch unsere individuelle und kollektive Lebens-
tradition gezogen sind. Das soll heißen: Ein und dieselbe materiale Erfahrung wird legitim zu sehr
verschiedenen subjektiven Erfahrungen, je nach der Art des Interpretationsrahmens, in den sie sich
hineinstellt. Ein Buddhist, ein Marxist, ein Christ, ein Muslim wird dieselbe »objektive Erfahrung«
ganz anders subjektiv erfahren - und also auch ganz anders deuten und auf Begriffe bringen. Das
aber bedeutet, daß auch die Erfahrung der Liebe als Erfahrung Gottes schon einen bestimmten der
Erfahrung selbst vorausliegenden Interpretationsrahmen anfordert. In diesem Rahmen muß Liebe
und die Möglichkeit Gottes schon eine Rolle spielen. Ist das aber der Fall, dann kann der objektive
Wert der Gotteserfahrung in der Liebe sichergestellt werden. Und das durch ein Kriterium:
Wächst die Identität des Menschen mit sich selbst, wächst das Leben mit und durch ihn, gelingt es
ihm zu leben, verletzt er nicht die Kräfte, die in ihm und anderen auf Entfaltung und Erhaltung
von Leben aus sind - dann ist seine Interpretation des Liebens als die des »lebendigen Gottes« zu-
treffend. Erfährt er sich also wie in einem Spiegel in seiner Gotteserfahrung selbst und ist diese
Selbsterfahrung lebensstiftend, dann ist ihr »objektiver Wert« gesichert. »Lebenstiften«, das aber
bedeutet auch immer »Liebe vermehren«. Zwischen christlicher Liebe und »Lebensstiften« (Leben
vermehren, erhalten, fördern…), zwischen christlicher Liebe und erschaffen (statt vernichten) und
erlösen (statt fesseln und versklaven) besteht eine Beziehung, die so eng ist, daß man an eine
Identität glauben möchte.
Nun könnte man an dieser Stelle eine Einführung ins Christentum abschließen. Das Wesentliche
ist gesagt. Doch es ist keineswegs so gesagt, daß die Umsetzung in Praxis schon immer möglich
wäre. Da aber der Weg ins Christentum ein Weg der Änderung, der Lebenspraxis zuerst, und erst
an zweiter Stelle eine Anreicherung des Vernunftwissens ist, muß noch in einigen weiteren Kapi-
teln der Weg ins Christentum ausgeschildert werden. Es ist das der von Jesus gewiesene Weg ins
Gottesreich.
Wir wissen nicht, worum wir in der rechten Weise beten sollen; der Geist selber tritt
jedoch für uns ein mit Seufzen, das wir nicht in Worte fassen können. Und Gott, der
die Herzen kennt, weiß, was die Absicht des Geistes ist. (8, 26b-28a)
Wir haben die Zuversicht, daß Gott uns erhört, wenn wir etwas erbitten, das seinem
Willen entspricht. Wenn wir wissen, daß er uns bei allem hört, was wir erbitten, dann
wissen wir auch, daß er unsere Bitten schon erfüllt hat. (1, 14-15)
Und in gleicher Tradition und aus gleicher Erfahrung läßt das erste Evangelium Jesus lehren:
Wenn ihr betet, sollt ihr nicht plappern wie die Heiden, wenn sie viele Worte machen.
Macht es nicht wie sie; denn euer Vater weiß, was ihr braucht, noch ehe ihr ihn bittet.
(6, 7-8)
Die Bitte um den Heiligen Geist ist also die Bitte, deren Erfüllung Jesus verheißt. Es ist das die
Bitte um das Reich, die Bitte, um das in Gott - (und seiner Liebe) - sein. Eine Fülle solcher Reich-
Bitten folgen im »Gebet Jesu«:
Alles das sind Bitten um die Ankunft des Reiches, in dem alles das geschehen wird. »Das Brot,
das wir brauchen«, ist ziemlich sicher nicht das alltägliche Brot - nicht zufällig spricht der Verfas-
ser dieses Evangeliums hier von »árton epioúsion«, ein Hapaxlegomenon, das in der griechisch-
sprachigen Literatur nur hier zu finden ist und so etwas wie »überweltliches Brot« (= die Liebe,
die wir brauchen?) bedeuten mag.
Die Bitte, die Jesus an den Vater richten läßt, ist also die Bitte um das Reich und sein Kommen.
Es ist kein Bitten um individuelles Heil. Ein »Ich« kommt nirgends vor. »Gottesreich« ist keines-
wegs an erster Stelle ein individuelles Ereignis, sondern etwas Kosmisches, an dem das Indivi-
duum allerdings teilhat.
Das Beten, das Jesus seine Jünger gelehrt zu haben scheint, ist also keineswegs ein Bitten um per-
sönliches Wohlergehen, nicht einmal ein Bitten um Befreiung von Unterdrückung und Entfrem-
dung, sondern das Gebet um das Kommen und Vollenden seines Reiches.
Beten zu Gott, in allen seinen legitimen Formen, ist aber auch Berührung mit dem eigenen Exis-
tenzgrund. Hier hat die griechische Sage von Antaios ihre objektive Bedeutung. Antaios bleibt
unüberwindlich, weil er bei jeder Berührung des Erdgrundes, seiner Mutter Gaia (= Erde), neue
Kraft erhält. Herakles überwindet ihn nur, weil es ihm gelingt, seine Beziehung zur Erde zu lösen:
er hebt ihn hoch und kann ihn erwürgen. So vermute ich auch den Menschen, der die Beziehung
zu seinem Grund und Ursprung nicht verliert, als unüberwindlich. Grund und Ursprung der Men-
schen aber ist die Liebe. Wenn sich aber ein Mensch aus Liebe entläßt in Haß und Mißgunst, in
Neiden und Nachreden, dann wird er von seinem Ursprung, seinem Grund, getrennt, Opfer aller
möglichen Sorgen, Ängste, Befürchtungen - und kann in ihnen psychisch und religiös untergehen.
Beten aber ist das Gegenwärtigsetzen der eigenen Begründetheit. Wer betet, weiß, daß er nicht in
sich selbst gründet, nicht aus sich selbst Fähigkeiten besitzt, nicht durch sich selbst Not und Elend
mindern kann - sondern daß das alles nur möglich ist, wenn er seinem Ursprung verbunden bleibt.
Der aber ist die Liebe - oder in religiöser Sprache: die Kraft Gottes oder sein Geist, den Christen
den Heiligen nennen.
Doch die Heiligen Schriften betonen immer wieder eine alte rabbinische Weisheit: Das Gebet ist
nicht eigentlich unser Sprechen. Gebet sind wir selbst und in unseren Worten kommt das Beten al-
lenfalls zu sich. Ich stehe mit meinen Nöten und Grenzen, mit meinen Freuden und Sorgen, mit
meinen Bedürfnissen und Erwartungen vor dem, zu dem ich bete - und der weiß um alles das, ob
ich es ihm sage oder nicht.
Und so gibt es denn eine andere Form des Betens, die der christlichen Tradition durchaus nicht
fremd ist: das Gebet der Tat. Ich erkenne mich an in meiner Hilfsbedürfigkeit und Schwäche und
beginne, aus diesen beiden heraus zu handeln.
Nicht irgendein Handeln ist gemeint, sondern das scheinbar paradoxe: der Verwandlung der Welt
in Gottesreich durch Mindern von Haß und Streit, Angst und Not, Krieg und Verachtung… Ich
weiß, daß ich auf mich gestellt erfolglos sein werde, und ich erwarte den Erfolg trotzdem. Das ist
das Geheimnis des Betens - eines Betens, das handelt. Beten darf uns also nicht davon abhalten,
mit vollem menschlichen und religiösen Einsatz Not, Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit, Hader,
Krieg und Feindschaft überall da tatkräftig zu mindern und zu bekämpfen, wo wir ihnen begegnen.
Und die Überfülle all dieser Nöte und die Hoffnungslosigkeit, das Meer der Leiden mit unseren
kleinen Händen ausschöpfen zu können, darf uns nicht lähmen. Das letztlich erfolgreiche Trotz-
dem ist das Gebet des christlichen Lebens.
Wer in Worten betet und sich dabei von dem Handeln aus Liebe entschuldigt, der betet zu allen
möglichen Instanzen, nur nicht zu Gott, der die Liebe ist.
Und wer betet und zugleich haßt und nicht verzeiht, übel nachredet und verleumdet, keinem Men-
schen hilft und neidet… wer eines von diesen Dingen tut und betet, der lästert die Liebe und Gott,
der die Liebe ist - und betrügt sich selbst. Das verlogene Beten, das Beten in Worten, das neben
dem des Handelns herläuft und es nicht ermöglicht, erfüllt, begeistert, solches Beten ist gefährlich.
Es ist psychisch gefährlich, weil es zu einer ganz persönlichen Abspaltung des Bewußtseins vom
Sein kommen wird (zu einem vermeintlichen Glauben nur). Und es ist religiös gefährlich, weil es
die Liebe verhöhnt. Nach dem Zeugnis der Bergpredigt geht Jesus gar noch einen Schritt weiter.
Nicht nur der Betende soll frei sein von allem, was seine Liebe hindert, sondern er soll, ehe er be-
tet, gar dafür sorgen, daß auch kein anderer Mensch etwas (Berechtigtes) gegen ihn hat:
Wenn du deine Gaben zum Altar bringst und dir dabei einfällt, daß dein Bruder etwas
gegen dich hat, so laß deine Gabe dort vor dem Altar liegen; geh und versöhne dich
zuerst mit deinem Bruder, dann komm und opfere deine Gabe. (5, 23-24)
Und wenn ihr beten wollt und ihr habt einem anderen etwas vorzuwerfen, dann ver-
geht ihm, damit auch euer Vater im Himmel euch eure Verfehlungen vergibt. (11, 25)
Das rechte Beten verbindet also zwingend Sein (Interaktionsmodi vor allem) und Bewußtsein
(Glaube). Fehlt eines, ist Beten leer. Zum anderen aber verstärkt es die Bindung zwischen Sein
und Bewußtsein, wie die Theoretiker und Praktiker der Meditation recht erkannten. Da wir alle in
der Gefahr stehen, unsere Praxis von unserer Theorie und die Ansprüche unseres Unbewußten
von denen des Bewußten abzulösen, und uns so in Lebenslügen hinein zu leben, ist auch von hier-
her das Beten wichtige und unaufgebbare Hilfe.
Dieses Argument mit einer »natürlichen« Begründung »übernatürlich erheblicher oder motivier-
ter« Handlungen wird oft gerade von »frommen Christen« (das sind im allgemeinen Sprach-
gebrauch die, deren Glaubensmenge weit überdurchschnittlich groß ist) als problematisch abge-
wiesen. Dieser Ablehnung liegt die falsche Ansicht zugrunde, die »natürliche Welt« stehe mit der
»übernatürlichen« im Gegensatz oder gar im Widerspruch. Diese Meinung ist keineswegs christ-
lich. Zwar gibt es eine »böse Welt« - doch das ist die Welt der Menschen, die sie böse machen
oder machten.
Die Jesusordnung ist nichts als die Vollendung der Schöpfungsordnung, und zwischen beiden gibt
es keine Widersprüche oder auch nur Gegensätze. So führt die Befolgung der Jesusbotschaft
Menschen ins Glück (und nicht ins Unglück), mindert ihre Leiden (und mehrt sie nicht etwa), för-
dert ihre Menschlichkeit (und manifestiert sich nicht in Unmenschlichkeit). Wege ins Unglück, in
vermehrtes Leiden und in Unmenschlichkeit (etwa in der Praxis von Gerechtigkeit) sind nicht
christlich. Und kein Mensch sollte behaupten, daß Gott Leiden sende, um Menschen zu prüfen.
Mag sein, daß Jahwe, ehe das Volk Israels ihn zu seinem Gott machte, ein Name für einen Berg-
dämon vom Sinai war. Den Vater Jesu Christi sollte man nicht solcher Barbarismen verdächtigen.
Er zog in ganz Galiläa umher, lehrte in den Synagogen, verkündete das Evangelium
vom Reich und heilte im Volk alle Krankheiten und Leiden. (4, 23; 9, 35)
Nun ist das Wort vom Gottesreich keineswegs eine Erfindung Jesu. Die Vorstellung, daß einmal
Gott die Herrschaft über die Welt antreten werde, entsteht in Israel unter der Herrschaft seiner
Könige. Zur Zeit Jesu gab es drei Haltungen gegenüber dem Reich:
• Die Zeloten wollten im aktiven Kampf gegen das (auch politisch) Böse zum Kommen des
Reichs beitragen.
• Die Vertreter jüdischer Eschatologie erwarteten alles von Gott und warteten auf die Ankunft
des Reiches. Allenfalls suchten sie nach Zeichen, die ihnen die Nähe des Kommenden künden
könnten.
• Die Vertreter der prophetischen Richtung wollten in möglichst vollständiger Beobachtung der
Gebote zum Kommen des Reichs beitragen.
• Dem Zeugnis des frühen Christentums nach hat Jesus eine Botschaft verkündet, die mitunter in
der Nähe der zweiten, manchmal auch in der Nähe der dritten Position stand. Wenn heute
manche Christen Jesus als politischen Revolutionär bezeichnen, müßten sie ihm eine zelotische
Botschaft vom Reich unterstellen. Dafür aber gibt es keine Belege (wenn auch die Evangelien
alle erst nach der Vernichtung Jerusalems Anno 70 geschrieben wurden, die die zelotische Po-
sition eklatant ins Unrecht setzte).
In der nachösterlichen Gemeinde verbindet sich nach dem Zeugnis des Paulus, die Botschaft vom
Reich
• mit kosmischen Vorstellungen (das Gottesreich nimmt kosmischen Umfang an) und
• mit Vorstellungen über die Wiederkunft Jesu.
Die eschatologischen Vorstellungen haben sich vor allem in der Begegnung mit der politischen
Macht Roms durchgesetzt, so daß es im Bewußtsein vieler Menschen zu einer Verbindung von
»Untergang der Welt« und »Ankunft des Reiches« kam, die für die Jesusbotschaft alles andere als
typisch ist. Eine solche Bindung läßt auch das Beten um das Reich sehr schwer werden, weil es
zugleich ein Gebet um den allgemeinen Untergang wäre, vor dem sich die meisten Menschen (zu
Recht) fürchten. Wir werden sehen, daß diese ausschließlich apokalyptische Deutung des Reichs
schwerlich zu halten ist.
Erst Augustinus stellte Kirche und Staat dem Gottesreich entgegen - im Untergang der beiden ers-
ten wird das zweite. Ich will hier nicht weiter den Spekulationen um den Untergang der Welt fol-
gen, die seit dem 10. Jahrhundert die Christen verwirren. Eines sei nur festgestellt: Alle christli-
chen Apokalypsen sind nicht historisch zu interpretieren, sondern metahistorisch. Im Gewand jü-
discher Apokalyptik berichten und verkünden sie die frohe Botschaft vom endgültigen Sieg des
Gottesreiches. Nicht Leid und Not, nicht Sünde und Versagen sind das letzte, sondern hinter al-
lem steht ein Sieg der Liebe.
Doch bedenken wir, was Jesus nach dem sicher nicht in allen Einzelheiten historischen Zeugnis
der Evangelien vom Reich Gottes sagt.
Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Senfkorn, das ein Mann auf seinen Acker
säte. Es ist das kleinste von allen Samenkörnern; sobald es aber hoch gewachsen ist,
ist es größer als die anderen Gewächse und wird zu einem Baum, so daß die Vögel
des Himmels kommen und in seinen Zweigen nisten. (13, 31b-32)
Im Eigengut des dritten Evangeliums ist uns ein Jesuswort an die Pharisäer überliefert, die - ähn-
lich wie Jesus - eine prophetische Vorstellung vom Gottesreich hatten.
Als Jesus von den Pharisäern gefragt wurde, wann das Reich Gottes komme, antwor-
tete er: Das Reich Gottes kommt nicht so, daß man es an äußeren Zeichen erkennen
könnte. Man kann auch nicht sagen: Seht, hier ist es!, oder: Dort ist es! Denn: Das
Reich Gottes ist schon mitten unter euch. (17, 20-21)
Es ist kaum zu bezweifeln, daß Jesus nach dem Zeugnis dieses Evangeliums das Reich mit sich
selbst beginnen läßt. Man kann sich lange darüber streiten, ob der historische Jesus in der Naher-
wartung des Reiches lebte oder ob das Zeugnis des Evangelisten der Sache näher kommt. Eines
scheint sicher: Gegen die Zeloten glaubt Jesus nicht an ein Kommen des Reichs »In Macht und
Herrlichkeit«, sondern an ein langsames Heranreifen in der Unscheinbarkeit des Alltäglichen.
Die Annahme des Reichs durch die Menschen geschieht ebenfalls keineswegs durch auffallende
Erscheinungen oder Handlungen, sondern in schlichter Selbstverständlichkeit.
Jesus aber rief die Kinder zu sich und sagte: Lasset die Kinder zu mir kommen; hin-
dert sie nicht daran! Denn Menschen wie ihnen gehört das Reich Gottes. Amen, das
sage ich euch: Wer das Reich Gottes nicht so annimmt wie ein Kind, der wird nicht
hineinkommen. (Lk 18, 16-17)
Wie aber soll diese Wachstumsperiode des Reiches gestaltet werden? Auch hierfür gibt Jesus
manche Hinweise, die vermuten lassen, daß er das Reich, wenn auch ohne das Zutun von Men-
schen begonnen, doch nicht ohne ihre Hilfe vollenden will. Einige wesentliche Verhaltenshinweise,
wie sie die Evangelien berichten, will ich hier wiedergeben.
• In dieser Phase steht es Menschen nicht zu, darüber zu befinden, wer dem Reiche zugehört und
wer nicht (vgl. das Gleichnis vom Unkraut im Weizen; Mt 13, 24-30 + 36-42).
• Um des Gottesreiches willen sollen Menschen bereit sein, alles aufzugeben (Gleichnis vom
Schatz und der Perle; Mt 13, 44-46).
• Jeder Mensch soll seine Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickeln, wie sehr es ihm möglich ist
(Gleichnis von den anvertrauten Talenten; Mt 25, 14-30).
• Menschen sollen nicht nach Leistung beurteilt werden, sondern sollen unabhängig davon das
erhalten, was sie brauchen (Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg; Mt 20, 1-15).
• Menschen sollen wachsam sein auf den Anspruch des Reiches in ihrem Leben (Gleichnisse vom
wachsamen Hausherrn; vom treuen und schlechten Knecht; von den zehn Jungfrauen; Mt 24,
43-25. 13).
Darüber hinaus ist der gesamte Handlungsappell der in der Bergpredigt gesammelten Jesusworte
bestimmt für die Zeit zwischen dem Beginn des Reiches (mit Jesus) und dessen Vollendung. Die
Vollendung des Reiches wurde sicherlich in den ersten Jahrzehnten nach Jesu Tod als unmittelbar
bevorstehend angenommen. So meint die älteste Schrift, die uns über das Leben der christlichen
Gemeinde Aufschluß gibt, der bald nach 50 in Korinth an die Christen in Saloniki geschriebene
Brief des Paulus über die Vollendung des Reiches und der damit verbundenen Wiederkunft Jesu:
Denn der Herr selbst wird vom Himmel herabkommen… dann werden zuerst die in
Christus Verstorbenen auferstehen; dann werden wir, die Lebenden, die noch übrig
sind, zugleich mit ihnen auf den Wolken in die Luft entrückt, dem Herrn entgegen.
Dann werden wir immer beim Herrn sein. (Thess 4, 16-17)
Und dreißig Jahre später schreibt der Verfasser des ersten Evangeliums immer noch recht hoff-
nungsvoll:
Amen, ich sage euch: Von denen, die hier stehen, werden einige den Tod nicht er-
leiden, bis sie den Menschensohn in seiner königlichen Macht kommen sehen. (16, 28)
Diese recht enthusiastische Naherwartung hinderte die frühen Christengemeinden, sich allzusehr
auf Dinge (wie Politik und Wirtschaft oder die übrigen Sorgenbringer) dieser Welt einzulassen
und für das bloße Morgen zu leben.
Das Reich Gottes ist das Reich der Verwirklichung und Vollendung des universellen und keinen
Menschen ausnehmenden Liebesgebots. Es ist zugleich das Reich dessen, der sich uns Menschen
in der Erfahrung von Liebe verständlich und erkennbar macht. Man kann das Gottesreich »Reich
der Liebe« nennen. Die prophetischen Entwürfe eines Friedensreichs oder eines Reichs der Ge-
rechtigkeit sind in diesem Reich aufgehoben.
Wegen der zentralen Stellung der Botschaft vom Reich will ich hier eine »theologische Reflexion«
anschließen, die sie einbindet in die Gesamttradition der Heiligen Schriften.
Moses sagte zu Gott: Die Israeliten werden mich fragen: Wie heißt er? Was soll ich
ihnen darauf sagen? Da antwortete Gott dem Moses: Ich bin der »Ich-bin-da«. Und
er fuhr fort: So sollst du zu den Israeliten sagen: Der »Ich-bin-da« hat mich zu euch
gesandt. Und weiter sagte Gott zu Mose: Jahwe der Gott eurer Väter, der Gott Abra-
hams, Isaaks und Jakobs, hat mich zu euch gesandt. Das ist mein Name für immer. so
wird man mich nennen in allen Generationen. (Ex 3, 13-15)
Jahwe (JHWH) wurde zum hebräischen Namen Gottes. Nach semitischem Sprachgefühl aber be-
zeichnet der Name das Wesen, ja ist Gott selbst. Und den Namen gebrauchen, bedeutet Gott zu
gebrauchen. Deshalb wird kein religiöser Jude den Namen »Jahwe« aussprechen.
Für Israel war das Wissen um den Namen Gottes so wichtig, daß sie seine Offenbarung an einen
uralten, schon lange vor Moses gebräuchlichen Wallfahrtsort verlegten. Vermutlich wurde »Jah-
we« hier schon zuvor von den Sinai besiedelnden Halbnomaden (Edomiter, Midianiter, Keniter)
als Namen des auf dem Berg Sinai wohnenden Gottes verwandt, doch bei den Juden erhielt das
Wort im Laufe der Jahrhundert die Bedeutung des Namens des einen Gottes.
Sicher ist, daß Jahwe eher ein Wort ist, das eine Funktion bezeichnet, denn eine »Substanz«. Auch
Jesus spricht von Gott stets funktional. Er nennt ihn »Abba« (im semitischen eine familiäre Anrede
für Vater; im aramäischen bedeutet das Wort: Vater, Herr, Lehrer). Das bezeichnet keine Sub-
stanz, sondern eine Funktion (wie auch die Bildworte »Licht«, »Wort«, »Liebe«): die des totalen
Verdanktseins. Den Informationszusammenhang zwischen Gott und Welt scheint auch das vierte
Evangelium nahezulegen, wenn es in terminologischer Anlehnung an griechisch-philosophische
Spekulationen schreibt:
Ich sage dir: Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und
die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen. Ich werde dir die Schlüssel
des Himmelreiches geben; was du auf Erden binden wirst, das wird auch im Himmel
gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird auch im Himmel gelöst
sein. (16, 18-19)
Dieser Text enthält eine recht kühne Mischung von Worten wie Gottesreich - Kirche - Himmel;
mag sein, daß hier eine Mehrzahl von Herrenworten miteinander verschmolzen wurde - doch ist
die Aussage über den Petrusprimat wohl eindeutig, und das etwa 15 Jahre nach dessen vermutli-
cher Hinrichtung in Rom (64 oder 67). Ziemlich sicher ist Petrus bis zum Apostelkonzil (um
48/49) Führer der christlichen Gemeinde in Jerusalem. Aus nicht geklärten Gründen wurde er spä-
ter vom Bruder Jesu, Jakobus, abgelöst. Dennoch wird seine Würde in allen, auch nach dem Kon-
zil verfaßten Schriften, betont:
• Alle Apostelkataloge nennen ihn an erster Stelle.
• Ihm wird die erste Auferstehungserfahrung zugeschrieben (1 Kor 15, 5)
• Er wird von Jesus mit der Gemeindeleitung beauftragt.
Wie diese geschehen soll, darüber berichtet das dritte Evangelium:
Simon, Simon, der Satan hat verlangt, daß er euch wie Weizen sieben darf. Ich aber
habe für dich gebetet, daß dein Glaube nicht erlischt. Und wenn du dich wieder be-
kehrt hast, dann stärke deine Brüder. (22, 31-32)
Bei aller Führungsfunktion des Petrus ist ihm die Interaktionsweise unbedingt vorgeschrieben: es
ist die der Koordination (die also zwischen Gleichgestellten, Brüdern) und nicht die der Subordi-
nation (der zwischen Vorgesetzten und Untergebenen). Diese Koordinationsinteraktion zwischen
allen seinen Jüngern scheint Jesus nach dem Zeugnis der Evangelien immer und immer wieder an-
gestrebt zu haben.
Daran ändert auch nichts, daß es um 80 schon eine verfaßte Gemeindeordnung gegeben zu haben
scheint. Das erste Evangelium berichtet darüber:
Wenn dein Bruder sündigt, dann geh zu ihm und weise ihn unter vier Augen zurecht.
Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder zurückgewonnen. Hört er aber nicht auf
dich, so nimm einen oder zwei Männer mit, denn jede Sache muß durch die Aussage
von zwei oder drei Zeugen entschieden werden (so bestimmt es das mosaische Gesetz
in Dtn 19, 15). Hört er auch auf sie nicht, dann sag es der Gemeinde. Hört er aber
auch auf die Gemeinde nicht, dann sei er für dich wie ein Heide oder Zöllner. (18, 15-
17)
Bei dem ausgesprochenen Zuwendungsverhältnis Jesu zu Heiden und Zöllnern, bedeutet das in
keiner Weise eine Aufforderung zum Haß oder zur Verachtung oder zu irgendeiner Bestrafung.
Aber der Betroffene ist nicht mehr eigentliches Gemeindemitglied.
Um 96 (zu einer Zeit also, als manche der Heiligen Schriften des Christentums noch nicht verfaßt
waren) schrieb die Gemeinde von Rom an die Gemeinde von Korinth einen angeblich von Kle-
mens I (nach altkirchlicher Überlieferung dem 3. Nachfolger des Petrus) verfaßten Brief, um einen
Streit im Gemeindeamt in Korinth zu schlichten. Hieraus kann man ableiten, daß schon gegen En-
de des ersten Jahrhunderts der römischen Gemeinde mit ihrem Vorsteher eine bevorzugte Stellung
unter den Christengemeinden eingeräumt wurde.
Doch folgen wir nicht weiter der Geschichte und den Anfängen einer übergemeindlichen Kirche.
Sie liegen in reichlichem Dunkel zahlreicher widerstreitender Theorien verborgen. Wichtiger ist,
wie sich heute Kirchen in ihrem Verhältnis zum Gottesreich verstehen. Die katholische Kirche be-
stimmt sich als »Sakrament des Gottesreiches« in einer Konstitution des 2. Vatikanischen Konzils.
Es heißt da:
Die Kirche ist nämlich in Christus gleichsam das Sakrament, d.h. Zeichen und Werk-
zeug für die innerste Vereinigung mit Gott wie für die Vereinigung der ganzen
Menschheit unter sich. (LG 1)
Von daher empfängt die Kirche, die… seine Gebote der Liebe, der Demut und der
Selbstverleugnung treulich hält, die Sendung, das Reich Christi und Gottes anzukün-
digen und in allen Völkern zu begründen. So stellt sie den anfanghaften Keim dieses
Reiches auf Erden dar. (LG 5)
Damit hat aber das Konzil auch ausgemacht, wann und unter welchen Umständen Kirche Sakra-
ment (= wirkkräftiges Zeichen) des Gottesreiches sein kann: Dann und nur dann, wenn sie die
Gebote der Liebe, der Demut und der Selbstverleugnung treulich hält. Damit ist ihr verboten.
• moralisch zu verurteilen, was Jesus stets als Ausdruck fehlender Liebe versteht,
• zu herrschen (in Subordinationsinteraktionen), was Jesus stets als Anmaßung zurückweist,
• in sich selbst einen Wert zu sehen, wo sie doch nur relativ hin auf Gottesreich werthaft ist.
Gegen alle diese drei Punkte ist Kirche immer wieder in Gefahr zu fehlen. Es ist dann Aufgabe al-
ler Christen, sie durch liebevolles Mahnen und durch Halten der Jesusgebote im eigenen Leben,
wieder auf den rechten Weg zu bringen. Denn nur dann kann sie ihre einzige erhebliche Aufgabe
erfüllen: Sakrament des Reichs der Liebe zusein.
Wenn aber die Kirche in ihrem Mühen (und zwar dem erkennbaren) den Jesusanspruch an seine
Nachfolge erfüllt, können Christen verpflichtet sein, auf diese Kirche zu hören, sich an ihren Wei-
sungen zu orientieren, in ihr den Hüter und Hort der Jesusbotschaft zu sehen. Es bedarf zwar oft
des durch die Liebe geschulten Auges, um solches Mühen in der Kirche zu erkennen. Dem umge-
schulten Auge scheint oft alles andere als Christlichkeit von konkreter Kirche auszugehen. Das ja
zur konkreten übergemeindlichen Kirche ist sicher auch ein Ja des Glaubens zum in der Sichtbar-
keit fortlebenden Jesus, ein Ja zu der Überzeugung, daß er auch in seine Gemeinden hinein aufer-
standen ist. Immerhin ist die Kirche eine Versammlung von Menschen »in Jesu Namen«.
Ihr gilt also die vom ersten Evangelium berichtete Verkündigung:
Weiter sage ich euch: Alles, was zwei von euch auf Erden gemeinsam erbitten, wer-
den sie von meinem himmlischen Vater erhalten. Denn wo zwei oder drei in meinem
Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen. (18, 1[g?]-20)
Als Sakrament ist die Kirche gleichsam die kultische Außenseite des Gottesreichs. Und in diesem
wesentlich kultischen Raum entwickeln sich konsequent institutionalisierte Formen:
• die institutionalisierte Form des Glaubens im Dogma,
• die institutionalisierte Form der Gottesreichgründung und -weitung in den Sakramenten (wie
Taufe, Abendmahl, Buße).
• die institutionalisierte Form christlicher Interaktionen im Recht.
Dogma, Recht und Sakramente sind, wie gesagt, institutionalisierte Formen kirchlichen Lebens.
Gegen Institutionen ist solange nichts einzuwenden, als sie sich ihrer relativen (auf Handlung be-
zogenen) Bedeutung bewußt bleiben und sich nicht als Eigenwert verstehen. Die Bedeutung der
Institution ist das konkrete Leben, die Bedeutung der kirchlichen Institutionen ist das Wachsen
des Gottesreiches. Sie haben also ihre Möglichkeiten und Grenzen da, wo sie Gottesreich (erfahr-
bar als unbedingte Liebe) zum Wachsen bringen. Sie haben kein Recht da, wo sie Liebe meucheln.
Das Töten der Liebe kann durchaus geschehen durch eine Überbetonung der Institution und durch
eine nicht mehr auf die kirchliche Funktion hin relativierte Aktivität (wenn etwa Recht gesprochen
wird um seiner selbst willen, oder Dogmen vertreten werden, als wären sie in sich von Bedeutung,
oder die Teilhabe am Kult die Christlichkeit eines Menschen bestimmt).
Es genügt nicht zu behaupten, daß in der Kirche der Geist Jesu (d.h. der Geist der Liebe, der Hei-
lige Geist) lebendig sei, wenn diese lebendige Gegenwart nicht für jeden Menschen auch erfahrbar
ist. Denn Liebe ist die Erfahrbarkeit Gottes und seines Reiches. Es gilt auch für Institutionen:
Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt. Denn Gott ist die Liebe. (1 Joh 4, 8)
11. Kurskorrektur
In jenen Tagen trat Johannes der Täufer auf und verkündete in der Wüste von Judäa:
Ändert euch! Denn das Himmelreich ist nahe… (Mt 3, 1-2) Als Jesus hörte, daß man
Johannes ins Gefängnis geworfen hatte, zog er sich nach Galiläa zurück. Er verließ
Nazaret, um in Karfanaum zu wohnen, das am See liegt. Von da begann Jesus zu ver-
kündigen: Ändert euch! Denn das Himmelreich ist nahe. (Mt 4, 12-13, 17)
Die Botschaft Jesu wird entsprechend zunächst von Menschen angenommen, denen auch die Bot-
schaft des Johannes etwas sagte:
Denn Johannes ist gekommen, um euch den Weg der Gerechtigkeit zu weisen, und ihr
(d. s. die Hohepriester und Ältesten) habt ihm nicht geglaubt; aber die Zöllner und
Dirnen haben ihm geglaubt. - Amen, das sage ich euch: Zöllner und Dirnen gelangen
eher in das Reich Gottes als ihr. (Mt 21, 32)
Fragen wir uns, warum sich die »Gerechten«, die »Reichen«, kurzum die Menschen, die auf sich
selbst vertrauen und Ansehen und Achtung genießen, so schwer tun in der Jesusnachfolge, im
Christsein also, schwerer jedenfalls als Diebe und Dirnen. Sicher fällt es ihnen schwer, die Struk-
turen ihres bisherigen Denkens und die Gewohnheiten ihres bisherigen Handelns, die ihnen doch
Erfolg und Anerkennung brachten, aufzugeben. Das aber verlangt Jesus. Einem Mann, der ihn um
vollkommene Nachfolge fragt, antwortet er:
Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den
Armen… dann komm und folge mir nach. Als der junge Mann das hörte, ging er trau-
rig weg; denn er hatte ein großes Vermögen. Da sagte Jesus zu seinen Jüngern: A-
men, das sage ich euch: Ein Reicher wird nur schwer in das Himmelreich kommen.
(Mt 19, 21-23)
Jesus sagte zu den Leuten: Gebt acht, hütet euch vor jeder Form von Habgier, denn
der Sinn des Lebens besteht nicht darin, daß der Mensch aufgrund seines großen
Vermögens im Überfluß lebt. Und er erzählte ihnen folgendes Beispiel. Auf den Fel-
dern eines reichen Mannes stand eine gute Ernte. Da überlegte er hin und her: Was
soll ich tun? Ich weiß nicht, wo ich meine Ernte unterbringen soll. Schließlich sagte er:
So will ich es machen: Ich werde meine Scheunen abreißen lassen und größere bauen;
dort werde ich mein ganzes Getreide und meine Vorräte unterbringen. Dann kann ich
zu mir selber sagen: Nun hast du einen großen Vorrat, der für viele Jahre reicht. Ruh
dich aus, iß und trink, und freu dich des Lebens! Da sprach Gott zu ihm: Du Narr!
Noch in dieser Nacht wird man dein Leben von dir zurückfordern. Wem wird dann all
das gehören, was du angehäuft hast? So geht es jedem, der nur für sich selbst Schätze
sammelt, aber vor Gott nicht reich ist. (Lk 12, 15-21)
• Doch Jesus fordert keineswegs nur die Aufgabe des materiellen Habens. Wichtiger ist noch das
soziale. »Soziales Haben«, das war vor 2000 Jahren vor allem das »Haben einer Familie« und
das Angesehensein.
Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig, und wer Sohn
und Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig. (Mt 10, 37)
Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Brüder und Schwestern, ja
sogar sein Leben gering achtet, dann kann er nicht mein Jünger sein. (Lk 14, 26)
Und immer wieder betont Jesus, daß Größe und Herrschenwollen einander widersprechen.
In jeder Stunde kamen Jünger zu Jesus und fragten: Wer ist im Himmelreich der
Größte? Da rief er ein Kind herbei, stellte es in ihre Mitte und sagte: Amen, ich sage
euch: wenn ihr euch nicht ändert und wie diese Kinder werdet, könnt ihr nicht in das
Himmelreich kommen. Wer so klein sein kann wie dieses Kind, der ist im Himmelreich
der Größte. (Mt 18, 1-4)
Als ich einmal durch die Wüste Samarias fuhr, sagte mir mein Führer, ein Jude, der einmal aus
Bessarabien nach Israel eingewandert war: »Nur große Menschen lieben die Wüste. Sie wollen
nicht herrschen.«
• Endlich fordert Jesus nicht nur die Aufgabe von Bindungen an materielles oder soziales Haben,
sondern auch die Aufgabe der Eigenliebe. Ein Landsknechtlied singt: »Und setzet ihr nicht euer
Leben ein, nie wird euch das Leben gewonnen sein.« Damit ist sicherlich gemeint, daß es für
Menschen Werte geben muß, die den Einsatz des Lebens wert sind, und für die er in der Le-
benspraxis sein Leben einsetzt. Für Jesus ist es das Evangelium, die frohe Botschaft, daß Gott
kein zürnender und strafender ist, sondern ein bedingungslos Liebender.
Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwil-
len verliert, wird es gewinnen. (Mt 16, 25)
Wer das Leben gewinnen will, wird es verlieren; wer aber das Leben um meinetwillen
verliert, wird es gewinnen. (Mt 10, 39)
Dem Evangelisten scheint dieser Text wichtig gewesen zu sein, sonst hätte er ihn wohl kaum
gleich zweimal niedergeschrieben.
• Das Aufgeben und Verlassen als Voraussetzung der Jesusnachfolge (d. h. des Christseins) und
als Praxis des Gesinnungswandels ist nun keineswegs Selbstzweck. Neben dem religiösen Sinn,
der Loslösung von einer Welt, die eben (noch) nicht Gottesreich ist und der Einstellung auf
Gottesreich durch eine neue Sittlichkeit, hat die von Jesus geforderte Ablösung auch psychisch
positive Bedeutung.
1. Ein Mensch, der vom Haben gehabt wird, ist unfrei. Er unterliegt einer Fülle von inneren (und
mitunter auch äußeren) Zwängen, um den perversen Zustand des von materiellen oder sozialen
Gütern Besessenwerdens aufrechtzuerhalten. Jesus meint durchaus besinnenswert:
Was nutzt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber seine See-
le (das ist seine Menschlichkeit) verliert? (Mt 16, 26)
Es ist recht nützlich, auf dem Wege ins Christentum, bei dieser Frage einmal einige Zeit beden-
kend zu verweilen und sie zu beantworten zu versuchen.
2. Die schizoide Doppeldefinition, nach der viele Menschen sich von einem Ideal her definieren,
das in Realität nirgends anders als in ihrem Kopf besteht, fällt fort. Das Zwei-Herrn-Dienen (dem
Ideal und der Realität) wird in der Jesusbotschaft zurückgewiesen: In der Bergpredigt heißt es:
Niemand kann zwei Herren dienen; er wird entweder den einen hassen oder den ande-
ren lieben, oder er wird zu dem einen halten und den anderen verachten. Ihr könnt
nicht beiden dienen, Gott und einem Götzen. (Mt 25, 24)
Das Leben in der Lebenslüge, das es scheinbar möglich macht, Christ zu sein und irgend etwas
anderem (der Eigenliebe, dem materiellen oder sozialen Besitz, dem Ansehen oder der Macht) zu
dienen, wird hier als unmöglich entlarvt. Zumindest unbewußt wird ein Doppeldiener Jesu Positi-
on ablehnen. Und da er das nicht wahrhaben will, wird er immer weiter den Weg in die Lebenslü-
ge gehen - bis hin zur Neurose oder gar zur Realitätsablösung.
3. Ganz allgemein bedeutet Umdenken Ablösen, Neuorientierung, Verzicht. Verzichtenkönnen ist
aber eine zwingende Voraussetzung, um in einer Kulturwelt psychisch gesund zu überleben. Wer
nicht verzichten lernte, wird durch alle möglichen Angebote, die er nicht wahrnehmen kann,
• sei es, daß die Wahrnehmung verboten oder verpönt ist,
• sei es, daß ihm die psychischen, physischen, intellektuellen, finanziellen… Mittel fehlen, das
Angebot wahrzunehmen,
dauernd frustriert sein und auf eine Fülle von Ersatzbefriedigungen ausweichen, die aber niemals
das Streben nach Befriedigung des ursprünglichen Bedürfnisses zur Ruhe kommen lassen.
Wir leben in einer Welt, die nur bestehen kann, wenn der Konsum an produzierter Ware dauernd
wächst. Mit mehr oder weniger raffinierten Methoden werden wir, um das sozio-ökonomische
System, das langfristig auf wachsenden Konsum zwingend angewiesen ist, nicht zu gefährden, da-
zu gebracht, unsere Bedürfnisse zu weiten und ihre Befriedigung zu intensivieren, vor allem, wenn
unsere primären nicht zu befriedigen sind. Früher war es einmal Mode, in diesem Zusammenhang
von Konsumterror zu sprechen. Und tatsächlich können die Konsumangebote einen Menschen,
der es nie lernte, freiwillig auf Konsum zu verzichten, in seiner inneren Freiheit so beschränken,
daß man von Terror sprechen kann. Das Jesusgebot von der Ablösung, vom Umdenken, von der
Neuorientierung fordert Verzicht in weit wesentlicheren Bereichen als denen des Warenkonsums.
Wer solchen Verzicht lernt, kann den leichteren gleich mitbeherrschen.
4. Der von Jesus eingeforderte Verzicht auf Herrschaft ist ebenfalls psychisch dringend wün-
schenswert. Das Herrschenwollen ist zumeist eine Reaktion des aktiv-oralen Charakters oder auf
gekränkten Narzißmus - und insofern oft schon pathologisches Symptom. Herrschaft verhindert
die Anerkennung eigener Mängel (etwa des Narzißmus) und macht so ein Aufarbeiten nicht mög-
lich. Der Herrschende neigt nicht selten dazu, seine eigenen Fehler zu verdrängen (oder anderswie
abzuwehren). Das macht ihn zu einem armen und kranken Menschen.
Ganz offensichtlich sind es nicht die Großen, die Reichen und Mächtigen, die dem Gottesreich na-
hestehen. Jesus wiederholt häufig, daß es die Dirnen und Diebe sind, die die Botschaft vom Reich
aufnehmen. Menschen also, die sich so akzeptieren wie sie sind und nicht nach außen eine Fassade
aufbauen müssen, hinter der sie sich in ihrer Unbedeutendheit und Leere verbergen. Solche Fassa-
de von Macht oder Reichtum will sorglichst gehütet werden. Endlich versteht sich ein Mensch
selbst von seiner Fassade her - und kann ohne sie nicht mehr leben. Dann ist Gesinnungswandel
nicht mehr möglich. So finden also die Reichen und die Mächtigen kaum ins Reich. Mich wundert
es nicht, daß Jesus nicht etwa seine Mutter oder irgendeinen der Apostel, erst recht nicht einen
Großen und Reichen des Landes zum ersten Mitbewohner seines Reiches macht, sondern einen
Terroristen. Mit Jesus zusammen wurden zwei Mörder aus vermutlich politischen Motiven ge-
kreuzigt (Zeloten?): Das dritte Evangelium berichtet:
Einer der Verbrecher, die neben ihm hingen, verhöhnte ihn: Bist du nicht der Messias?
Dann hilf dir selbst und auch uns! Der andere aber wies ihn zurecht und sagte: Nicht
einmal du fürchtest Gott? Dich hat doch das gleiche Unheil getroffen. Uns geschieht
recht, wir erhalten den Lohn für unsere Taten; dieser aber hat nichts Unrechtes getan.
Dann sagte er: Jesus, denk an mich, wenn du in dein Reich kommst. Jesus antwortete
ihm: Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein. (Lk 23, 39-43)
Nun wird man diesen Text nicht unbedingt für die Wiedergabe eines historischen Ereignisses hal-
ten müssen. Bemerkenswert aber ist, daß die Haltung und der Glaube der frühen Christengemein-
de sich in einer solchen Geschichte artikuliert. Hier wird mehr von der Jesusbotschaft ausgesagt
als die stockbraven Konzilien unter der Ägide römischer Kaiser von ihr aussagen konnten.
Es mag sein, daß Sie diesen Bericht über Jesus und den Terroristen für skandalös halten. Dann
haben Sie eine doppelte Möglichkeit: Sie können den Weg ins Christentum hier abbrechen - oder
sie kommen zu dem Ergebnis, daß offenbar Ihre Bewußtseinsänderung noch nicht weit genug ge-
gangen ist. Und ziehen daraus die praktische Konsequenz, keinen Menschen für wichtiger oder
besser, für christlicher oder weniger christlich zu halten - sich auf keinen Fall durch irgendwelchen
Augenschein oder öffentliche Meinung oder Vorurteile zum Urteil über andere Menschen bewe-
gen zu lassen: und seien sie Terroristen.
Doch damit stehen wir schon an der Schwelle des nächsten Kapitels, das über die von den Evan-
gelien ausgeführten Weisen der Liebe handeln soll. Bewußtseinsänderung ist die Voraussetzung
christlicher Liebe. Die Liebe ist der Zweck der Bewußtseinsänderung. Um zu lieben, muß ein
Mensch einen hohen Grad innerer Freiheit besitzen. Dazu aber ist in nahezu allen Fällen eine Be-
wußtseinsänderung, eine Neuorientierung im Wertbereich, eine Kurskorrektur zwingend notwen-
dig.
Sie sollten sich nun keineswegs aus der Nachfolge Jesu menschliche Anerkennung versprechen.
Ihr werdet um meines Namens willen von allen gehaßt werden; wer aber bis zum Ende
standhaft bleibt, der wird gerettet. (Mt 10, 22)
Sicherlich haben die frühen Christen unter dem Eindruck einer ihnen kaum verständlichen Verfol-
gung den »Verfolgungstexten« in den schriftlichen Überlieferungen der Jesusbotschaft besondere
Aufmerksamkeit geschenkt. Sicher scheint zu sein, daß Jesus von seinen Schülern den Verzicht
auf Anerkennung und Ehre unbedingt erwartete. Die beiden letzten Seligpreisungen der Bergpre-
digt lauten:
Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn ihnen gehört das Him-
melreich.
Selig seid ihr, wenn ihr um meinetwillen beschimpft und verfolgt und auf alle mögliche
Weise verleumdet werdet. Freut euch und jubelt: Euer Lohn im Himmel wird groß
sein. Denn so wurden vor euch schon die Propheten verfolgt. (Mt 5, 10-12)
Wundert euch nicht, wenn die Welt euch haßt. (3, 13)
Denn kaum etwas erzeugt mehr Haß und andere Formen der Abwehr, als wenn ein Mensch sich
nicht so verhält, wie man es von ihm erwartet. Ein Mensch, der sich nicht wehrt und verteidigt,
wenn er angegriffen wird, ein Mensch, der auch dann liebt, wenn er gehaßt wird, ein Mensch, der
nicht zurückschlägt, wenn man ihn verleumdet, wird »nach den Regeln dieser Welt« Haß und An-
griff, Verleumdung und Verachtung provozieren.
b) Das Sakrament der Umkehr
Die Kirchen, vor allem die katholischen, bewahren und betonen den sakramentalen Charakter der
Umkehr und geben ihr ein sakramentales Zeichen. Dieses Zeichen sagt, daß ein Mensch nicht oh-
ne Ende mit seiner eigenen Vergangenheit zusammenleben muß, daß er auch in den Augen der
Gemeinde und vor dem Anspruch der Selbstinterpretation die Chance eines neuen Anfangs hat.
Das Fehlverhalten gegenüber anderen Menschen und die Sünde gegenüber dem Anspruch der
Liebe werden vergeben und gelten nicht mehr. Diese Vergebung wird dem sich wahrhaft Wan-
delnden im Sakrament der Umkehr zugesprochen, das man wegen der alten Übersetzung von Me-
tanoia mit Buße auch »Sakrament der Buße « nennt.
Hier übernimmt die Kirche als Außenseite des Reichs eine ausgesprochene Funktion von Gottes-
reich - eine Funktion der Liebe. Und es kann diese Funktion nicht aus der Autorität einzelner Mit-
christen wahrgenommen werden, denn die Gemeinde ist es, die den Sinneswandel zur Kenntnis
nehmen muß und die verzeiht, weil auch sie es war, die unter dem Versagen des sich nun Ändern-
den litt. So spricht denn die Kirche bzw. in ihrem Auftrag der von ihr dazu Bestimmte die Aner-
kennung des Wandels aus, die von der Schuld der Vergangenheit befreit.
Dieses Handeln kann sich auf mancherlei Hinweise der Evangelien berufen, die die Praxis des »in-
stitutionalisierten Sinneswandels« (besser: der Akzeptation des Wandels durch die Institution)
schon gekannt haben müssen. So heißt es im ersten Evangelium als Spruch an die Gemeinde:
Alles, was ihr auf Erden binden werdet, das wird auch im Himmel gebunden sein, und
alles, was ihr auf Erden lösen werdet, das wird auch im Himmel gelöst sein. (18, 18)
Und in der Erfahrung des Auferstandenen erhalten die Apostel den Auftrag:
Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Nachdem er das gesagt hatte,
hauchte er sie an und sprach zu ihnen: Empfanget den Heiligen Geist! Wem ihr die
Sünden vergeht, dem sind sie vergeben; wem ihr die Vergebung verweigert, dem ist
sie verweigert. (Joh20, 21b-23)
Hier handelt es sich um eine Fortsetzung der Jesustätigkeit, die zum guten Teil darin bestand,
Sünden zu vergeben. So heißt es etwa im Heilungsbericht eines Gelähmten:
Man brachte auf einer Tragbahre einen Gelähmten zu Jesus. Als er ihren Glauben sah,
sagte er zu dem Gelähmten: Hab Vertrauen, mein Sohn, deine Sünden sind dir verge-
ben! Da dachten einige Schriftgelehrte: Er lästert Gott. Jesus wußte, was sie dachten,
und sagte: Warum habt ihr so böse Gedanken im Herzen? Was ist leichter zu sagen:
Deine Sünden sind dir vergeben!, oder zu sagen: Steh auf und geh umher?… Darauf
sagte er zu dem Gelähmten: Steh auf und nimm deine Tragbahre und geh nach Hause!
Und der Mann stand auf und ging heim. (Mt 9, 2-7)
Das Sündenvergeben ist eine ausgesprochen messianische Funktion, die die Evangelisten Jesus in
Anspruch nehmen lassen, sicher auch, um seine Messianität zu beweisen.
Das christliche Sakrament des Wandels ist keineswegs mit den Entsühnungsritualen anderer Reli-
gionen zu vergleichen, denn es fordert zwei sehr ungewöhnliche Bedingungen ein:
• es muß im Kontext einer inneren und äußeren Umkehr, einer Kurskorrektur, die das ganze Le-
ben betrifft, stehen und
• es muß durch die Gemeinde ausgesprochen werden.
Der Spruch von Menschen ist sicherlich auf den ersten Blick schwer verständlich, denn nicht
Menschen sollen verzeihen, sondern Gott. Doch hier wird wieder deutlich, wie wenig diesem Gott
ein Konzept gerecht wird, das ihn als lohnende und strafende Instanz interpretieren möchte. Und
somit verzeiht der Gott, der nicht zu beleidigen ist, weil er als unbedingte Liebe auch Verzeihung
ist, nicht wegen unserer Umkehr. So verzeihen kann nur die Gemeinde, die Kirche. Und in diesem
Spruch kann sich ein Mensch wieder unter den uneingeschränkten Strom unbedingter Liebe stel-
len. Im Sakrament geschieht nichts in oder mit Gott, sondern es geschieht etwas in und mit und
durch den Umkehrenden und die Kirche. Beide verändern sich und stellen sich unter den nur so
erträglich werdenden Anspruch unbedingten Liebens.
Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. (Mt 22, 39)
Doch in der Bergpredigt verschärft Jesus dieses Gebot für seine Jünger erheblich:
Ihr habt gehört, daß gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen
Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfol-
gen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet. (5, 43-45)
Die Liebe des mosaischen Gebots betraf den Nächsten - den Volksgenossen in der Terminologie
der Gesetze. Jesus aber löst das Gebot von seiner völkischen Begrenztheit und erweitert es auf al-
le Menschen - auch die Feinde. Hier sind nicht nur die Feinde des Volkes gemeint, sondern auch
die persönlichen. Sicher gibt es im mosaischen Gesetz kein Gebot, den Feind zu hassen, doch
scheint es unter den verschiedenen nationalistischen Bewegungen zu Jesu Zeiten (Zeloten etwa
oder auch Essener) manche gegeben zu haben, die den Feindeshaß (etwa den Römerhaß) religiös
forderten.
Daß Jesus das Liebesgebot universalisiert und individualisiert, also auf jeden Menschen ausdehnt
und auch auf den persönlichen (und nicht nur den nationalen) Feind, wird durch die Auslegung
des Wortes in andere Passagen der Bergpredigt erläutert und sichergestellt. Die Rabbinenfrage um
die Auslegung und Bedeutung des Wortes »Nächster« beantwortet Jesus denn auch bewußt anti-
national mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter, eines Mannes also, der einem Mischvolk
aus nach der assyrischen Eroberung (722/721) in Mittelpalästina verbleibenden Israeliten und den
Kolonisten angehörte und der religiös ein Schismatiker war, da er
• Jahwe nicht im Tempel zu Jerusalem verehrte, sondern auf dem Berg Garizim,
• nur die »fünf Bücher des Moses« (mit einigen Veränderungen zugunsten des eigenen Kults) als
Heilige Schriften akzeptierte,
• nicht die Reformen des Esra und des Nehimas nach der babylonischen Gefangenschaft (538)
anerkannte,
• im Gegensatz zu den Juden die althebräische Sprache in Wort und Schrift verwendete (und
nicht das Aramäische).
Kurzum die Samaritaner galten den Juden als ausgesprochen verachtenswert. Und von solch einer
Kreatur berichtet Jesus im Gleichnis:
Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen.
Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn
halbtot liegen. Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging
weiter. Auch ein Levit kam zu der Stelle; er sah ihn und ging weiter. Dann kam ein
Mann aus Samarien, der auf der Reise war! Als er ihn sah, hatte er Mitleid, ging zu
ihm hin, goß Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein
Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn. Am anderen Morgen holte
er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehr
für ihn brauchst, werde ich dir bezahlen, wenn ich wiederkomme.
Was meinst du: Wer von den dreien hat sich als Nächster dessen erwiesen, der von
den Räubern überfallen wurde?
Der Gesetzeslehrer antwortete: Der, der barmherzig an ihm gehandelt hat. Da sagte
Jesus zu ihm: Dann geh und handle genauso! (Lk 10, 30-37)
Darum lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer. Denn ich bin gekom-
men, um die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten. (Mt 9, 13)
Wenn ihr begriffen hättet, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer, dann
hättet ihr nicht Unschuldige verurteilt. (Mt 12, 7)
Im Folgenden will ich nun dieses Gebot der allgemeinen Liebe etwas entfalten. Daß sich Liebe
nicht im Fühlen, sondern im Handeln offenbart und realisiert, ist schon gesagt worden.
Ihr habt gehört, daß den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten; wer aber je-
mand tötet, soll dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch: jeder, der seinem Bru-
der auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein. (5, 21-22a)
Jeder, der seinen Bruder haßt, ist ein Mörder, und ihr wißt: Kein Mörder hat ewiges
Leben, das in ihm bleibt. (3, 15)
Nicht wenige scheinbare Christen pflegen diese Texte nachdrücklich zu verdrängen, indem sie et-
wa eine sie entlastende Definition vom Haß einführen. Dabei ist doch unbestritten, was »Haß«
meint. Das Wort bezeichnet die Stimmung oder die Emotion, die einen Menschen dazu bringt,
etwas zu tun oder zu wünschen, was einem anderen schaden könnte - also etwa den Wunsch, ihn
durch Worte zu verletzen.
Wie aber geschieht das Beleben durch Liebe? Sicher zum wichtigen Teil dadurch, daß die Liebe
Vorgaben und Hilfen anbietet, die eine aufbauende Eigeninterpretation erlauben.
Es ist wohl allgemein bekannt, daß wir in unseren Interaktionen eine erhebliche Verantwortung
für das Werden eines Menschen übernehmen. Sein Werden hängt weitgehend von seinem Selbst-
verständnis ab. Dieses Selbstverständnis aber von den für ihn merkbaren und erkannten Fremdbe-
stimmungen. Wenn ich also einem Menschen stets Mißtrauen entgegenbringe, dann werde ich in
meinen Interaktionen kaum hilfreich für seine Selbstbestimmung sein. Entweder wird er dieses
Angebot ablehnen und sich möglichst von solchen Szenen zurückziehen, die ihm nicht-akzeptable
Angebote des Selbstverstehens machen (das endet dann in Einsamkeit und Realitätsablösung, da
wir, um die Realitätsgründung nicht zu verlieren, der Sozialkontakte unbedingt bedürfen). Oder er
wird das Angebot meist unbewußt - akzeptieren und sich so verhalten, wie man es erwartet - er
wird des Vertrauens nicht würdig sein.
Unsere Erwartungen gegenüber einem Menschen, die sich in Interaktionen manifestieren, bilden
also den Menschen mit. Das ist die wohl fundamentalste Verantwortung, die wir füreinander ü-
bernehmen. Das gilt ganz besonders für Menschen, die in einer institutionalisierten Bindung mit-
einander leben, etwa in einer Ehe. Wer sich dieser Verantwortung nicht bewußt ist und bleibt,
vernichtet die Liebe in sich und in der Beziehung zum andern.
So kommt es dann, daß die Liebe lebendig macht und der Haß (aber auch Neid und Mißgunst,
Nachrede und Verleumdung…) töten. Die moderne Sozialpsychologie kann hier kaum anderes
sagen als die Heiligen Schriften der Christen.
Christsein heißt zunächst einmal Menschsein - Christwerden aber Menschwerden. Und dazu ge-
hört das Wissen (nicht das theoretische, sondern das in die Lebenspraxis konkreter Interaktionen
alltäglich übersetzte) von der radikalen Verantwortung füreinander.
Es gibt auch Formen einer scheinbaren Liebe, die der belebenden entgegen ist, einer Liebe, die
lähmt und unterdrückt. »Lähmende Liebe« will besitzen und beherrschen. Die Interaktionsmuster
in der lähmenden Liebe sind nicht umkehrbar, die Rollen sind fixiert und eingeschliffen, Sponta-
neität ist selten und wird eher als Störgröße empfunden.
Solche Liebe kennt Eifersuchtsszenen und Anklagen, kennt Streit und kleinliches Aufrechnen - sie
ist in institutionalisierten oder ritualisierten Rollen gestorben. Hier verbreitet Liebe nicht das Ge-
fühl von Freiheit, sondern das von Beschränkung und Zwang. Nicht selten suchen sich auch die
Partner durch innere und äußere Zwänge in Rituale zu flüchten, um auszuweichen. Sie verkennen,
daß sie die eigene und fremde Konfliktappetenz steigern, die neue Konfliktbereiche und -anläße
suchen läßt.
Hier ist das Gegenteil von Liebe am Werk. Oft werden sich die Partner noch als liebend verstehen
oder doch ausgeben, obschon die Interaktionen nach außen nicht mehr spontan und herzlich, nicht
mehr unmittelbar und froh, sondern bestenfalls routiniert erscheinen. Nach außen wird solche per-
vertierte Liebe etwa an der Unfähigkeit der Partner, aufmerksam einander zuzuhören, deutlich.
Sie leben nebeneinander und nicht miteinander.
Ein Problem dieser toten und tötenden Liebe ist es, daß ihr keine genau beschreibbare Emotion
entspricht. Eine Pluralität von als negativ empfundenen Stimmungen schöpft den emotionalen Be-
trag der Un-Liebe aus. Die Situation hat also keinen Namen. Das Namenlose erscheint uns Men-
schen aber als das Unbeherrschte. (Einer der Gründe, warum Menschen mit schwachem Glauben
ihrem Urgrund unbedingt einen Namen geben wollen.) So ist denn auch der Zustand der Un-Liebe
unbeherrscht, wird gar im Verlauf einer schlechten Gewöhnung als normal empfunden. Un-Liebe
kann für Christen niemals Normalität bedeuten und bezeugen.
Die letzte Stufe dieses Wegs in die Lieblosigkeit ist die Unterdrückung des anderen. Diese kann
sehr verschiedene Gestalten annehmen. Einige der verbreitetsten sind:
• Der Partner wird in irgendwelche Formen der Abhängigkeit gedrängt. (Er soll um Erlaubnis
fragen, er wird finanziell abhängig gehalten, er wird bedroht, wenn er nicht bestimmte Hand-
lungen unternimmt oder unterläßt - eventuell gar mit dem Richter…)
• Der Partner wird in Gesellschaft heruntergespielt, sein Selbstwertgefühl wird verletzt (dabei ist
nicht unbedingt wichtig, daß er selbst dabei ist - solches zu hören von Dritten kann sehr viel
kränkender sein).
• Der Partner wird durch ethische Ansprüche, die er nicht erfüllt, ständig in einem Gefühl von
Schuld oder Angst gehalten.
• Die dümmste Form der Unterdrückung ist die Anwendung physischer Gewalt. Aber sie ist
nicht gerade selten. Physische Gewalt können Eltern ihren Kindern, Partner einander, Gruppen
anderen Gruppen, Völker anderen Völkern zufügen in der Absicht, sie zu unterdrücken.
Ist einmal die Lieblosigkeit auf dieser Stufe angekommen, bestehen erhebliche Aussichten auf eine
Eskalation des Konflikts, der dann nur noch durch Katastrophen (persönlichen oder sozialen) lös-
bar zu sein scheint.
Das Christentum schließt mit seiner Liebesforderung jede Art von Unterdrückung als grundsätz-
lich unchristlich aus. Wer einen anderen Menschen unterdrückt oder auch nur unterdrücken will,
steht bestenfalls ganz fern vor den Toren des Christentums.
4. Liebe macht nicht traurig und niedergeschlagen, sondern froh. Das soll nicht heißen, daß Liebe
nicht mit Leiden verbunden sein kann (Jesus bindet in seinem Leiden beides miteinander), wohl
aber, daß Liebe niemals leiden machen läßt. Liebe wird vermeidbares Leiden niemals tolerieren,
sondern alles daran setzen, es zu beheben. Am gründlichsten wird Freude aber getötet (noch mehr
als durch Leid) durch Angst, Schuld, Scham und Mindergefühle. Im ersten Johannesbrief heißt es
zutreffend:
Furcht gibt es in der Liebe nicht, sondern die vollkommene Liebe vertreibt die Furcht.
Denn die Furcht rechnet mit Strafe, und wer sich fürchtet, dessen Liebe ist nicht voll-
endet. (4, 18)
Auch hier ist unser gesellschaftliches System oft recht unchristlich. Setzt es doch Vermeidungs-
techniken gegenüber Angst, Schuld, Scham und Mindergefühlen als entscheidende Erziehungshil-
fen ein.
Schon bald lernt das Kind, nur um solche Gefühle zu meiden, Handlungen zu tun oder zu unter-
lassen. Angst, Schuld, Scham und Mindergefühle sind oft die stärksten negativen Motivatoren, die
wir kennen. Das problematische an ihrer pädagogogischen Verwendung ist die Grundlegung einer
dauernden Bereitschaft zu solchen Gefühlen, das Wissen, ständig von ihnen bedroht zu sein. So
wird denn auch der Erwachsene so ziemlich alles tun, um solche Emotionen zu vermeiden - und
wird dadurch leicht manipulierbar. Sie werden neutralisiert oder gar aufgehoben erst durch Liebe.
Wer liebt,
• der ängstigt sich nicht, weil er das Wichtige, Unaufgebliche gefunden hat,
• der fühlt sich nicht schuldig, weil er um die Selbstverständlichkeit der Verzeihung weiß,
• der schämt sich nicht, weil er nichts zu verbergen hat und sich angenommen weiß, wie er ist
(und nicht in irgendeinem Ideal, gegen das er verstoßen könnte),
• der hat keine Minderwertgefühle mehr, weil er in und durch die Liebe seine hohe Werthaftig-
keit erfährt.
Es gehört nun zur Tragik mancher religiösen Entwicklung, daß irgendwelche Religionspädagogen
(die Eltern zumeist) Religiosität an solche Emotionen binden. Sie töten damit Liebe und machen
christliches Glauben nahezu unmöglich.
• Angst vor Gott soll einen Menschen davon abhalten zu sündigen.
• Scham vor dem Menschen sollen die religiöse Praxis der tradierten (über Erziehung vermittel-
ten) Normen sichern. Ebenso werden vor allem sexuelle Handlungen an Schamgefühle gebun-
den, um sie zu vermeiden oder doch nicht öffentlich werden zu lassen. So kann Heuchelei zu
einer gesellschaftskonstituierenden Haltung werden.
• Schuld soll Menschen sich abhängig fühlen lassen von Instanzen, die ihnen Sühne und Freiheit
von Schuld zusprechen können. Dieses sind zumeist institutionalisierte Formen religiöser Pra-
xis. Die Entsühnung wird dadurch von Umkehr und Neuorientierung zum Ritual entleert. Da-
mit wird ein Schuldgefühl kultiviert, das sich immer dann einstellt, wenn ein Mensch gegen tra-
dierte Normen (Überich) verstößt. Solches Gefühl aber ist keineswegs objektiv an Schuld ge-
bunden. Das Entsühnungsmühen wird sich also oft auf Überich-Ungehorsam (als Ungehorsam
gegenüber tradierten Normen) richten, obschon Schuld nur verbunden ist mit dem Ungehorsam
gegenüber dem verantwortet übernommenen Lebensentwurf (also gebunden an Ich-
Ungehorsam). Dieses verkehrte Schuldfühlen ist Ort zahlloser manipulierender Eingriffe politi-
scher, ökonomischer, kirchlicher Institutionen in die Persönlichkeitssphäre.
• Mindergefühle sollen Menschen dazu bringen, sich klein und unbedeutend gegenüber allen Au-
toritäten vorzukommen (etwa der Autorität Gottes oder der der Kirche oder auch der politi-
schen und ökonomischen Instanzen). Mindergefühle, gebrochenes oder nie entfaltetes Selbst-
wertgefühl führen zur Neigung, sich in formellen oder informellen autoritären Bindungen von
der Verantwortung für Eigenentscheidungen zu entlasten.
Zudem führen Mindergefühle nicht selten zu starkem kompensatorischen Mühen. Ein so verwun-
deter Mensch wird versuchen, durch Leistungen, Gehorsam, Treue… Zuwendung zu erhalten. Er
benötigt dies alles als Ersatzskelett, weil er in seiner eigenen Persönlichkeit keinen genügenden
Halt findet. Solche Menschen können in profaner oder religiöser Abhängigkeit geradezu aufopfe-
rungsvolle, aber kritiklose »wertvolle Mitarbeiter« werden. Daß hier ein Mensch in Fremdverwie-
senheit sich selbst verliert, wird oft nicht erkannt.
Alle diese Stimmungen und Emotionen töten ganz offensichtlich wirkliche Freude. Ihr Schein
kann allenfalls vorgegaukelt werden durch hektische Ausgelassenheit, durch gewollten Optimis-
mus, durch verdrängende Oberflächlichkeit… Aber Freude ist das alles nicht.
Es gibt sicherlich noch eine Reihe anderer Emotionen, die auf die Dauer Freude töten: Ärger,
Zorn, Haß, Niedergeschlagenheit, das Gefühl von Einsamkeit gehören hierher. Liebe vermeidet
solche Emotionen, sucht sie dem anderen und sich zu ersparen. Unliebe sucht sie geradezu. Wer
einem anderen Menschen Angst oder Trauer, Scham oder Schuld, Ärger oder Zorn induziert oder
diese Emotionen bzw. Stimmungen an konkrete Auslöser bindet, will ihn beherrschen, beeinflus-
sen, manipulieren - das alles aber ist mit Liebe nicht vereinbar.
Aber gibt es nicht auch einen Haß, der, wie E. Fromm vermutet, Leben schützt und damit Liebe
sichert, der immer dann auftritt, wo sich Leben und Liebe gefährdet sehen? Der sich richtet gegen
die gefährdenden Instanzen? Wer so denkt, hat die Identität von Gott und Liebe (als seinem Real-
symbol) nicht realisiert. Die Universalität und die Allmacht der Liebe bedürfen nicht unseres Has-
ses, um sich zu behaupten in uns und unter uns - sie verlangen nur das Handeln aus Liebe. Men-
schen hassen wird nur ein Mensch, dem das Leben nicht gelingt - und damit auch nicht das Lie-
ben.
Die folgenden Kapitel sollen Fragen praktischer Liebe, Fragen also konkreter christlicher Religio-
sität darstellen. Wir erinnern uns: Der Weg ins Christentum ist der Weg ins Gottesreich - das
Reich der Liebe. Gott ist die Liebe und der Weg zu ihm ist der Weg in die Liebe. Menschliche
Liebe ist der einzige Weg zu Gott - aber auch ein unfehlbarer.
Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebet einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt
auch ihr einander lieben. Daran werden sie erkennen, daß ihr meine Jünger seid: wenn
ihr einander liebt! (13, 34-35)
Die Eucharistie knüpft einerseits an die jüdische Bakara, den dankenden Lobpreis Gottes für Brot
und Wein, andererseits an das Pascha, das Auszugsmahl Israels, an. In einem Text, dessen erster
Teil aus der Feder des großen Geschichtsschreibers und Theologen, den wir den Jahwisten nen-
nen, kommt, und dessen zweiter Teil dem oft feierlich schreibenden Deuteronomisten zugerechnet
wird, heißt es:
Begeht das Fest der ungesäuerten Brote! Denn gerade an diesem Tag habe ich eure
Scharen aus Ägypten herausgeführt. Begeht diesen Tag in allen kommenden Genera-
tionen; das sei für euch eine feste Regel… Wenn ihr in das Land kommt, das euch der
Herr gibt, wie er gesagt hat, so begeht diese Feier. Und wenn euch eure Söhne fragen:
Was bedeutet diese Feier? Dann sagt: Es ist das Pascha-Opfer zur Ehre des Herrn, der
in Ägypten an den Häusern der Israeliten vorbeiging, als er die Ägypter mit Unheil
schlug, unsere Häuser aber verschonte. (Ex 12, 17, 25-27)
Es scheint, daß Jesus gegen Ende seines Lebens ein neues Gedächtnismahl für seine Jünger gestif-
tet hat. In dessen Mittelpunkt steht nicht mehr das Gedächtnis der Rettung, sondern das der unbe-
dingten Liebe, die sich, ohne zu fragen, hingibt in Leben und Sterben für die Brüder und Schwes-
tern.
Die nachösterliche Gemeinde glaubte schon sehr bald, daß unter den Gestalten der Bakara (von
Brot und Wein also) der auferstandene Herr gegenwärtig sei. Das »eucharistische Brotbrechen«
wurde zum geistigen und religiösen Zentrum der Gemeinde, der sich im Glauben an den Aufer-
standenen liebenden Menschen. Sie glaubte den Herrn in ihrer Mitte gegenwärtig.
Schon in den frühen 50er Jahren des 1. Jahrhunderts scheinen sich mancherlei Mißbräuche einge-
schlichen zu haben. Es wurde nötig, die Eucharistiefeier von einem Sättigungsmahl zu trennen.
Hier wird deutlich, daß schon die sehr frühe Christengemeinschaft sehr wohl die neue Bakara von
dem neuen Pascha unterschied.
Der früheste eucharistische Text im ersten Korintherbrief sagt:
Sooft ihr von diesem Brot eßt und aus diesem Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des
Herrn, bis er kommt. Wer also unwürdig von dem Brot ißt und aus dem Kelch des
Herrn trinkt, macht sich schuldig an Leib und Blut des Herrn. Jeder soll sich selbst
prüfen: Erst dann soll er von dem Brot essen und aus dem Kelch trinken. Denn wer
davon ißt und trinkt, ohne zu bedenken, daß es der Leib des Herrn ist, der zieht sich
das Gericht zu, indem er ißt und trinkt. (11, 26-29)
Zur Eucharistie soll sich also nur zulassen, wer würdig ist. Würdig sind nur die Getauften - ähn-
lich wie nur Beschnittene am Pascha teilnehmen dürfen. Unwürdig aber ist auch der, der nicht
weiß, was hier geschieht, nämlich daß er sich hier unter den Anspruch unbedingter Liebe stellt, die
unter den Gestalten von Brot und Wein im realen Symbol gegenwärtig ist. Unwürdig ist also je-
der, der haßt oder neidet, der Übel nachredet oder verleumdet… kurzum: jeder, der nicht Men-
schen liebt. Seine Liebe mag schwach sein und unvollkommen, mag verzerrt sein, deformiert gar
und unscheinbar - er soll an der Eucharistie teilnehmen, denn sie bestätigt nicht nur Liebe, sondern
macht sie auch wachsen. Aber sie löscht keinen Haß und keinen Neid, behebt keinen Hader oder
Streit - scheitert also an Unliebe und macht den, der sie zum Scheitern bringt, zum Verräter. Wer
also weiß, daß auf Grund seines Verschuldens ein Mensch etwas gegen ihn hat, muß sich erst ver-
söhnen, ehe er zur Eucharistie kommt. Die Evangelien fordern hier keineswegs »göttliche Verzei-
hung«, sondern die des Bruders. In der Bergpredigt heißt es:
Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringt (das war in den ersten Jahrhunderten ein
Brauch im Zusammenhang mit der Eucharistie) und dir dabei einfällt, daß dein Bruder
etwas gegen dich hat, so laß deine Gabe dort vor dem Altar liegen; geh und versöhne
dich zuerst mit deinem Bruder, dann komm und opfere deine Gabe. (5, 23-24)
Schon gegen Ende des ersten Jahrhunderts tauchte die Frage auf, ob man Jünger Jesu sein könne,
ohne an der Eucharistie teilzunehmen. Das vierte Evangelium bringt eine große Eucharistierede
Jesu, in der es ihn sagen läßt:
Ich bin das Brot des Lebens. Eure Väter haben in der Wüste das Manna gegessen und
sind gestorben. So aber ist es mit dem Brot, das vom Himmel herabkommt: Wenn je-
mand davon ißt, wird er nicht sterben. Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel
herabgekommen ist. Wer von diesem Brot ißt, wird in Ewigkeit leben. Das Brot, das
ich geben werde, ist mein Fleisch, ich gebe es hin für das Leben der Welt. (6, 48-51)
Hier begegnet uns also schon eine ausformulierte Theologie der Eucharistie. Jesus ist in einer
durchaus realen Form im eucharistischen Brot gegenwärtig. Die Identifikation von Jesus und Brot
ist kaum zu übersehen. Die Kirchen haben versucht, diese Lehre auf den Begriff zu bringen. Die
griechischen Kirchenväter des 5. und 6. Jahrhunderts nahmen die sakramentale Menschwerdung
Gottes in den Elementen an. Sie legten damit die Grundlage zu einer Theorie kosmischer Wand-
lung durch die Eucharistie - hier wird ein Teil der Welt in Gottesreich real verwandelt - um Men-
schen in der Begegnung mit so real gesetztem Gottesreich in den Horizont der Liebe und damit
des Reiches zu führen. Die Wandlung von Kosmos in Reich spielt vor allem in der Philosophie
Teilhards de Chardin eine erhebliche Rolle. Sie wird aus der relativ engen kirchlichen Bedeutung
in eine universelle kosmische überführt.
Es kommt das Ende, wenn er (Jesus) jede Macht, Gewalt und Kraft vernichtet hat und
seine Herrschaft, Gott dem Vater übergibt. (1 Kor 15, 24)
Gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern ändert eure Einstellung und euer Denken.
(Röm 12, 2)
Die vollkommene Ablösung von der alten Orientierung stellt er vor unter dem Zeichen des Todes.
Wer liebt und sich von seinen alten Wertungen und Haltungen befreit hat, der lebt in Jesus.
»Kreuz« steht in der Paulusbotschaft nicht für sich, so als wenn Leiden etwas Gutes oder Erstre-
benswertes sei. »Kreuz« bezeichnet vielmehr die vollständige Neuorientierung des Lebens (Meta-
noia).
Die Juden fordern Zeichen, die Griechen suchen Weisheit. Wir dagegen verkünden
Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine
Torheit. (1 Kor I, 22-23)
Dieser frühe christologische Hymnus ist uns überliefert im Brief des Paulus an die ostmakedoni-
sche Gemeinde Philippi. Er wurde um das Jahr 55 in Ephesus geschrieben, also etwa 25 Jahre
nach Jesu Tod. Wie alle christologischen Hymnen, die uns aus jenen Jahren überkommen sind, ist
auch dieser in sehr enthusiastischen Tönen gehalten und läßt deutlich werden, wie sehr in Ablö-
sung von der jüdischen Theologie die frühe Christologie das Denken und religiöse Fühlen der frü-
hen Gemeinden bestimmte. Jesus wird hier - reduziert man den Text auf seinen nüchternen Kern -
wieder als Urbildder totalen Ablösung vorgestellt. Und diese totale und radikale Ablösung vom
Alten, vom Gehabten, von jederlei Besitz ist die Voraussetzung für die Liebe, die Jesus lehrte und
lebte bis in ihre absolute Konsequenz. Nun will ich dieser von Jesus für seine Jünger geforderten
Liebe in einzelnen Schritten nachgehen. Wie gesagt: Wir dürfen sie nicht unbedingt in der kirchli-
chen Praxis oder auch der jener suchen, die sich im Besitz des Christentums wähnen. Aber es ist
möglich, daß ein Mensch im Außen oder an der Peripherie der Kirchen die Bergpredigt liest und
sein Leben neu orientiert und so ein lebendiges Zeugnis gibt für Jesus und das Christentum.
Ihr wißt, daß die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht
über die Menschen mißbrauchen. Bei euch soll es nicht so sein, sondern wer bei euch
groß sein will, der soll euer Diener sein. Und wer bei euch der Erste sein will, soll eu-
er aller Sklave sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich be-
dienen zu lassen, sondern um zu dienen. (20, 25b-28a)
Ihr sollt euch nicht Meister nennen lassen, denn nur einer ist euer Meister, ihr alle seid
Brüder. Auch sollt ihr niemand auf Erden euren Vater nennen; denn nur einer ist euer
Vater, der im Himmel. Auch sollt ihr euch nicht Lehrer nennen lassen; denn nur einer
ist euer Lehrer, Christus. Der Größte von euch, soll euer Diener sein. Denn wer sich
selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden. (23,
8-12)
Jesus bestimmt auch das Autoritätsverhältnis des Petrus zu den anderen Jüngern als das des Bru-
ders (Lk22, 32b).
Noch immer nennt sich der Papst »Servus servorum Dei« - doch kann man fragen, ob das Wort
Dienst oder als Dienst maskierte Herrschaft bedeutet.
Ich möchte hier zwei Formen von Herrschaft vorstellen, die mir besonders gefährlich zu sein
scheinen, vor allem, weil sie mitunter im Namen der Christlichkeit verübt werden: die Herrschaft
des Gläubigen (das ist nicht dasselbe wie der »Glaubende«, der diese Herrschaftsform ablehnen
würde) über den Ungläubigen und die Herrschaft des Helfenden über den Hilflosen.
Jeder (auch der andere) muß nach seiner Überzeugung handeln. Du behalte die Über-
zeugung, die du hast, für dich vor Gott. Wohl dem, der sich nicht selbst vor dem, was
er für recht hält, verurteilen muß… Alles, was nicht aus Überzeugung geschieht, ist
Sünde. (Röm 14, 5b-22; 23b)
Ihn (Jesus) hat Gott dazu bestimmt, Sühne zu leisten mit seinem Blut, Sühne wirksam
durch Glauben. (Röm 3, 25a)
Er (Gott) hat den, der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in
ihm Gerechtigkeit Gottes würden. (2 Kor 5,21)
Die Solidaritätsbegründung durch das Leben und Sterben Jesu wird dann von der frühen Gemein-
de konsequent ausgedehnt auf das Verhalten der Christen miteinander:
Das ist mein Gebot: Liebet einander, so wie ich euch geliebt habe. Es gibt keine grö-
ßere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt. (Joh 15, 13)
Einer trage des anderen Last; so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. (Gal 5, 2)
Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden. Seid untereinander eines
Sinnes. (Röm 12, 15-16a)
Keiner von uns lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. (Röm 14, 7)
Denn auch Christus hat nicht für sich selbst gelebt. (Röm 15, 3a)
Bekannt ist, daß die Jesusbotschaft die frühe Gemeinde zu einer Solidargemeinde machte, in der,
bis sie durch Verfolgungen zerstreut wurde, alles Materielle allen gemeinsam war. (Apg 2, 45)
Gegen die Tendenz, Parteien und Interessengruppen zu bilden, rief Paulus immer wieder zur Ein-
heit. Und er tat das mit einem klassischen Bild:
Die Gemeinde sei ein Leib, die einzelnen seien Glieder dieses Leibes.
Denn wie wir an dem einen Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder denselben
Dienst leisten, so sind wir, die vielen, ein Leib in Christus, als einzelne aber sind wir
Glieder, die zueinander gehören. (Röm 12, 4-5)
Denn wie der Leib eine Einheit ist, doch viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes a-
ber, obgleich es viele sind, einen einzigen Leib bilden: so ist es auch mit Christus…
Wenn darum ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit; wenn ein Glied geehrt wird,
freuen sich alle mit ihm. Ihr aber seid der Leib Christi, und jeder einzelne ist ein Glied
an ihm. (1 Kor 12,12; 26-27)
Wenn die christliche Solidargemeinde prinzipiell von sich aus zur Feindesliebe verpflichtet ist,
provoziert sie lebhaft durch ihr dem profanen und infantilen Denken und Streben nach Eigennutz
entgegengesetztes Verhalten erhebliche Widerstände.
Das erste Evangelium läßt Jesus sprechen:
Brüder werden einander dem Tod ausliefern und Väter ihre Kinder, und die Kinder
werden sich gegen die Eltern auflehnen und sie in den Tod schicken. Und ihr werdet
um meines Namens willen von allen gehaßt werden. (10, 21-22a)
Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen, sondern das
Schwert. Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und
die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter;
und die Hausgenossen eines Menschen werden seine Feinde sein. (10, 34-36)
Hier wird deutlich, daß Christentum sich nicht als Idylle des Glaubens und der Liebe verstehen
kann. Christen werden gehaßt werden - ja, bis zur Vollendung des Gottesreiches ist dieser Fremd-
haß Ausweis des Christen. Ich vermute, daß die Ablösung von liebgewordenen Vorstellungen und
scheinbar nötigenden Bedürfnissen fehlgeschlagen oder unvollständig gelungen ist, wenn ein
Mensch sich noch von möglichst vielen oder gar allen seinen Mitmenschen geliebt wissen will.
Dieses Relikt aus der Kindheit, das die kindliche Psyche produziert, um das Überleben des Kindes
(das psychische, physische und soziale) sicherzustellen, hat seine lebenserhaltende Funktion verlo-
ren, wenn ein Mensch psychisch und physisch und sozial herangereift ist. Das Ertragen von Haß
und Verfolgung wird als Selbstverständlichkeit akzeptiert werden müssen von einem Menschen,
der bereit ist, sich von den Unmenschlichkeiten (den individuellen wie kollektiven) seiner Mitwelt
nicht infizieren zu lassen.
Der Verfasser des Johannesevangeliums, der schon einige Erfahrungen der frühen christlichen
Gemeinde in dieser Sache verarbeitet hat, läßt Jesus zum Abschied sprechen:
Wenn die Welt euch haßt, dann wißt, daß sie mich schon vor euch gehaßt hat. Wenn
ihr von der Welt stammen würdet, würde euch die Welt als ihr Eigentum lieben. Aber
weil ihr nicht von der Welt stammt, sondern weil ich euch aus der Welt erwählt habe,
darum haßt euch die Welt. Denkt an das Wort, das ich euch gesagt habe: Der Sklave
ist nicht größer als sein Herr. Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch
verfolgen. (15, 18-20a)
Glücklich seid ihr, wenn ihr um meinetwillen beschimpft und verfolgt und auf alle
mögliche Weise verleumdet werdet. (5, 11)
Es ist vielleicht verständlich, wenn ein Mensch Verfolgung und Verleumdung zähneknirschend er-
trägt oder erduldet, weil er sich so als Held oder als Mitglied einer Elite vorkommen kann. Daß er
aber deshalb glücklich sein soll, scheint abwegig zu sein und eher von einer kranken Psyche zu
zeugen.
Nun bedeutet »Glück« im Christentum nicht Bedürfnislosigkeit, denn die ist ein sehr vergänglicher
und immer gefährdeter Zustand. »Glück« meint vielmehr die Befindlichkeit eines Menschen, dem
sein Leben, oder doch ein Teil davon, geglückt ist. Glücken aber kann ein Leben nur, wenn es
• getreu dem eigenen Lebensentwurf gelebt wird und
• von dem von außen kommenden mehr oder weniger problematischen Angebot an Eigendefini-
tionsmomenten ziemlich unabhängig ist.
Damit ein Leben glücken kann, muß es also relativ unbeeinflußbar sein von Faktoren, die drohen,
es mißlingen oder mißglücken zu lassen. Durch die extreme Außenabhängigkeit des »normalen«,
wie üblich in unsere Gesellschaft eingepaßten Menschen, fehlt diese elementare Fähigkeit zum
Glück weitgehend. Er kennt allenfalls vorübergehende Augenblicke des Glücks, wenn er seine
Bedürfnisse und Erwartungen erfüllt vermutet - aber wohl ahnend, daß solches Glück durch neue
und andere Erwartungen und Bedürfnisse gestört werden kann. Solches Glück ist ein extrem labi-
ler Zustand. Es kommt aber darauf an, ihn stabil zu machen.
Doch wieder zurück zur Solidarität. Solidarität muß nicht gegen Menschen oder Gruppen oder
Gesellschaften gerichtet sein. Aber eine sich solidarisch verhaltende Gruppe wird früher oder spä-
ter von nicht der Gruppe Zugehörigen mißtrauisch beobachtet und mit Aggressivität bedacht wer-
den. Sie wird Feinde haben, solange Liebe nicht zum herrschenden Grundprinzip aller menschli-
chen Interaktionen geworden ist. Über gruppenspezifische Reaktionen wird dieser Außenwider-
stand den Zusammenhalt der Gruppe noch fördern - das Solidarverhalten wird wachsen.
Aufs erste scheint solidarisches Verhalten der Forderung nach unbedingter Liebe gegenüber allen
Menschen zu widersprechen. Hier werden Bedingungen der Zuwendung gemacht. Das ist sicher
nicht richtig, solange der Solidarverband sich gegen niemanden abschließt und also gegen jeder-
mann offen bleibt. Christliche Solidarverbände müssen von dieser Art sein. Es ist also nicht leicht,
die Ansicht zu vertreten, daß etwa Gewerkschaften, die sich gegen eine Gruppe (Arbeitgeber) or-
ganisieren und aus diesem Entgegen primär ihren Zusammenhalt beziehen, christlich verstanden
werden dürfen. Da nun aber nicht wenige Gewerkschaften den Schritt vom Solidar- und Schutz-
verband zu einer Klassenkampf-Organisation gemacht haben (wobei es unerheblich ist, mit wel-
chen tatsächlichen oder potentiellen Mitteln dieser Kampf ausgefochten wird), könnte es sein, daß
Gewerkschaften (wie auch Arbeitgeberverbände) aus dem christlichen Verständnis von Solidarität
herausfallen.
Das ist jedoch nicht der Fall, wenn der Gegner keine Gruppe von Menschen ist, sondern ein so-
zio-ökonomisches System (als dessen Agenten vielleicht Gruppen oder Einzelne tätig werden).
Ein sozialer, politischer, ökonomischer Zustand kann, wenn er in wichtigen Aspekten unchristlich
oder widerchristlich wird, zum Feind christlicher Aktivitäten werden. Solidarität der Christen rich-
tete sich schon im ersten Jahrhundert gegen »diese Welt« - die Welt also, die nicht fähig war, sich
neu zu orientieren und damit unfähig zur Liebe blieb. Wir leben nun in einer Welt, die mit ihrer
Favorisierung von Egoismus und einer Form des Wettbewerbs, der eher Neid und Hader als
Wertschätzung und Friede mit sich hat, in weiten Teilen antichristlich ist. Sie ist - wie für die frü-
hen Christen - auch heute der gemeinsame Gegner aller Christen und der Raum, gegen den sich
Christen solidarisch zusammenschließen müssen, um als Christen überleben zu können. Denn Ver-
folgung und Hader kann nicht lange ein Einzelner in vollständiger Isolation ertragen. Er bedarf,
um glücklich zu sein, der Hilfe und der Zuwendung Gleichgesinnter also seines Solidarverbandes.
Das unbedingte Eintreten für den anderen Menschen, der Hilfe braucht - selbst unter Einsatz des
eigenen physischen, psychischen und sozialen Lebens scheint, von Jesus vorgelebt, ein Gebot des
Christlichen zu sein. Damit ist nicht gemeint ein großer heroischer Einsatz des eigenen Lebens,
sondern das alltägliche Für-andere-dasein. Dasein für die, die der Zuwendung oder Hilfe bedürfen.
Von hierher erhält das Jesuswort, das alle drei Evangelien im Zusammenhang mit der Voraussicht
Jesu auf das eigene Sterben zitieren, seine Bedeutung: »Wer sein Leben liebt, wird es verlieren;
wer aber nicht an seinem Leben hängt, der wird es gewinnen.«
Es ist zu vermuten, daß Jesus seine Jüngergemeinschaft, aus der sich zwanzig Jahre nach seinem
Tod Kirche zu organisieren begann, als solche Solidargemeinschaft verstanden hat.
Damit begegnen wir einer weiteren Bestimmung von Kirche:
Zunächst ist sie Gemeinschaft der Glaubenden (die etwa im Kult ihren Glauben stärken), dann ist
sie Gemeinschaft der sich Helfenden und der um ihres Christentums willen Verfolgten.
Es hieße nun aber christliche Solidarität gründlich mißzuverstehen, wenn man annähme, daß in ei-
ner christlichen Solidargemeinschaft keine Konflikte möglich seien - oder einfach durch ein religi-
öses Instrumentar behoben werden könnten. Konflikte zwischen Menschen sind (wie die Ge-
schichte der Konflikte zwischen den Aposteln und innerhalb der frühen christlichen Gemeinden
zeigt), nicht etwa zunächst etwas Negatives. Sie tauchen auf, wenn sich einzelne oder Gruppen
oder eine ganze Gemeinschaft von Realität entfernt. Die Konfliktlösung bietet die Chance der An-
näherung an Realität. Es gilt also, Konflikten nicht auszuweichen oder sie zu verdecken, sondern
in ihnen standzuhalten und sie aufzugreifen (das ist christliche Tapferkeit). Eine Solidargemein-
schaft ist nur dann stabil, wenn ihre Mitglieder und Gruppen konfliktfähig sind, d. h. ohne Verlet-
zung der Liebe Konflikte konstruktiv auflösen können - also in der Konfliktlösung größere Reali-
tätsdichte gewinnen.
Konflikte verschweigen, Konflikte »fortbeten«, Konflikte abwehren, Konflikte vernebeln… ist al-
so alles andere als christlich, weil der latente Konflikt, mehr oder minder unterschwellig, Liebe
zerstört.
Die Bildung zur Konfliktfähigkeit ist also hohes christliches Bildungsziel und Voraussetzung alles
solidarischen Verhaltens - auch in der Kirche.
Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Denn wie ihr richtet, so werdet ihr ge-
richtet werden, und nach dem Maß, mit dem ihr meßt und zuteilt, wird auch euch zu-
geteilt werden. (7, 1-2)
Und bei der Ordnung der Gemeinden schreibt schon Paulus in den 50er Jahren des ersten Jahr-
hunderts (also 20 bis 30 Jahre bevor die Bergpredigt in der uns bekannten Form niedergeschrieben
wurde):
Christus ist gestorben und lebendig geworden, um Herr zu sein über Lebende und To-
te. Wie kannst also du deinen Bruder richten? Und du, wie kannst du deinen Bruder
verachten? (Röm 14, 9-10)
Darum bist du unentschuldbar - wer du auch bist, Mensch wenn du richtest. Denn
worin du den anderen richtest, darin verurteilst du dich selber, da du, der Richtende,
dasselbe tust. (Röm 2, 1)
Richtet also nicht vor der Zeit; wartet bis der Herr kommt, der das im Dunklen Ver-
borgene ans Licht bringen und die Absichten der Herzen aufdecken wird. (1 Kor 4, 5)
Richten ist das vollständige Gegenteil von Solidarität. Richten ist die arroganteste Form, die Herr-
schaft annehmen kann. Und deshalb verbietet Paulus jedem das Richten über die Sittlichkeit frem-
der Handlung. Kein Mensch hat also das Recht, konkretes fremdes Verhalten sittlich zu bewerten.
Weder Eltern noch Lehrer, weder Gläubige noch Päpste, weder Christen noch Helden, weder
Reiche noch Arme, weder Glückliche noch Unglückliche, kurzum: niemand ohne jede Einschrän-
kung.
Wer richtet, und mag er noch so ehrenhafte Gründe zu nennen wissen, handelt lieblos und ver-
dunkelt Gottesreich in sich und andern.
Der erste Johannesbrief bringt dazu eine gute Ergänzung. Nicht einmal das Gericht des eigenen
Herzens ist der letzte Spruch über den Menschen:
Denn wenn das Herz uns auch verurteilt - Gott ist größer als unser Herz, und er weiß
alles. (3, 20)
Ich denke, wenn jemand den Weg ins Christentum gehen möchte, dann wird er die Anzeichen sei-
ner Neuorientierung relativ leicht feststellen können (gleichsam mit empirischer Genauigkeit) - ob
er es verlernt hat zu richten. Und wenn er noch richtet, steht er zweifelsfrei vor den Toren des
Christentums. Da gilt auch das Argument nichts, daß das Verbot zu richten, einen Menschen ü-
berfordere. Das stimmt nicht. Die Erfahrung zeigt, daß der ernsthafte und intensive Wille, das
Richten bleiben zu lassen, in aller Regel schon bald Erfolg hat.
Es gibt Theologen, von denen einige die fatale Neigung haben, über andere Menschen zu richten.
Sie sehen das Jesusverbot erst in der Fülle des Gottesreichs verwirklicht und versuchen so ihr un-
christliches Verhalten zu entschuldigen. Ihnen sei gesagt, daß das ein sachlicher Irrtum ist.
(1) Als eine Sünderin, die in der Stadt lebte, erfuhr, daß Jesus im Haus des Pharisäers
bei Tisch war, kam sie mit einem Alabastergefäß voll wohlriechendem Öl, trat… an
ihn heran… und salbte seine Füße mit Öl. Als der Pharisäer, der ihn eingeladen hatte,
das sah, dachte er: Wenn er (Jesus) wirklich ein Prophet wäre, müßte er wissen, was
das für eine Frau ist, von der er sich berühren läßt; er wüßte, daß sie eine Sünderin ist.
Da wandte sich Jesus an ihn und sagte: … Ihr sind ihre vielen Sünden vergeben, weil
sie soviel Liebe gezeigt hat. Wem aber nur wenig vergeben wird, der zeigt auch nur
wenig Liebe. (Lk 7, 37-40; 47)
(2) Am frühen Morgen begab sich Jesus wieder in den Tempel. Alles Volk kam zu
ihm. Er setzte sich und lehrte es. Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer
eine Frau, die beim Ehebruch ertappt worden war. Sie stellten sie in die Mitte und
sagten zu ihm: Meister, diese Frau wurde beim Ehebruch auf frischer Tat ertappt.
Moses hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen. Nun, was sagst
du?… Jesus aber bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie hartnä-
ckig weiterfragten, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: Wer von euch ohne Sünde
ist, werfe als erster einen Stein auf sie. Und er bückte sich wieder und schrieb auf die
Erde. Als sie seine Antwort gehört hatten, ging einer nach dem anderen fort, zuerst
die Ältesten. Jesus blieb allein zurück mit der Frau, die noch in der Mitte stand. Er
richtete sich auf und sagte: Frau, wo sind sie geblieben? Hat dich keiner verurteilt? Sie
antwortete: Keiner, Herr! Da sagte Jesus zu ihr: Auch ich verurteile dich nicht. Geh
und sündige von jetzt an nicht mehr. (Joh 8, 2-11)
3) Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Gutsbesitzer, der früh am Morgen sein
Haus verließ, um Arbeiter für seinen Weinberg anzuwerben. Er einigte sich mit den
Arbeitern auf einen Denar für den Tag und schickte sie in den Weinberg. Um neun
Uhr ging er wieder auf den Markt und sah andere dastehen, die keine Arbeit hatten.
Er sagte zu ihnen: Geht auch ihr in meinen Weinberg! Ich werde euch geben, was
recht ist. Und sie gingen. Um 12 Uhr und um 15 Uhr ging der Gutsherr wieder auf
den Markt und machte es ebenso. Als er um 17 Uhr noch einmal hinging, traf er wie-
der einige, die dort herumstanden. Er sagte zu ihnen: Was steht ihr hier den ganzen
Tag untätig herum? Sie antworteten ihm: Niemand hat uns angeworben. Da sagte er
zu ihnen: Geht auch ihr in meinen Weinberg. Als es nun Abend geworden war, sagte
der Besitzer des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter und zahl ihnen den
Lohn aus, angefangen von den letzten bis hin zu den ersten. Da kamen die Männer,
die er um 17 Uhr angeworben hatte, und jeder erhielt einen Denar. Als dann die ersten
an die Reihe kamen, vermuteten sie, mehr zu bekommen. Aber auch sie erhielten einen
Denar. Da begannen sie über den Gutsherrn zu murren und sagten: Diese letzten ha-
ben nur eine Stunde gearbeitet, und du hast sie uns gleichgestellt; wir aber haben den
ganzen Tag über die Last der Arbeit und der Hitze ertragen. Da erwiderte er einem
von ihnen: Mein Freund, dir geschieht kein Unrecht. Hast du nicht einen Denar mit
mir vereinbart?… Oder bist du neidisch, weil ich gütig bin? (Mt 20, 2-15)
Diese drei Erzählungen der Evangelien gehören sicherlich zu den bekanntesten. Wie andere be-
kannte Szenen aus dem Leben Jesu [etwa im Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15, 11-32), kün-
den sie eine neue Gerechtigkeit, die die alte des Gesetzes ergänzt und ablöst. Ich will nun versu-
chen, einige Merkmale dieser neuen Gerechtigkeit auszumachen - Merkmale, die die frühe Jesus-
gemeinde dazu gebracht haben, diese Erzählungen in die Evangelien aufzunehmen und zum Ka-
non der Geschichten über Jesus zu rechnen.
(1) »Ihr wird viel vergeben, weil sie viel Liebe zeigte.« In der Spannung zwischen legaler Gerech-
tigkeit und Liebe entscheidet sich Jesus unbedingt für Liebe. Die Vergebung für die Übertretung
des Gesetzes hängt nicht von irgendwelchen Sühnehandlungen oder von der Übernahme irgendei-
ner Strafe ab, sondern von der praktischen Liebe. Das ist eine der wichtigen Inhalte der Jesusbot-
schaft: Nicht kultische Handlungen befreien von religiöser und sozialer Schuld, sondern die Neu-
organisation des Lebens nach Maßgabe der Liebe.
(2) »Wem wenig vergeben wird, der zeigt auch nur wenig Liebe.« Dieser Satz ist eine erhebliche
Weiterung des vorhergehenden. Nicht nur sühnt Liebe Schuld, sondern die Vergebung ist einer
der Gründe der Liebe. Ohne Liebe keine Vergebung - aber auch ohne Vergebung keine Liebe. An
den ersten Teil dieser Feststellung haben wir uns inzwischen gewöhnt, kaum aber an den zweiten.
Christliche Liebe ist nicht etwas, was ein Mensch aus sich produzieren könnte. Damit er lieben
lernt, kommt es auch auf seine Umgebung (und auf Gott) an: Er muß Verzeihung erfahren. Denn
nur in dem Umfang, wie er sie erfährt, wird er lieben können. Verzeihung erfahren, das hat we-
nigstens zwei Voraussetzungen:
• Erkenntnis der eigenen Schuld, denn wer sich selbst für schuldlos hält, wird nicht erkennen,
daß er der Verzeihung seiner Schuld durch andere bedarf.
• Verzeihung muß deutlich geschehen und muß bewußt werden, denn wenn Verzeihung sich
nicht nach außen ausdrückt, bleibt sie unerkannt.
Um Lieben zu lernen ist also vonnöten:
• Die Fähigkeit, Schuld bei sich selbst zu erkennen und anzuerkennen. Das meint nicht, daß ich
mich bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit schuldig fühlen sollte. »Schuld« meint
hier nicht das Gefühl, das sich einstellt, wenn ein Mensch vor dem Spruch seines Über-Ich ver-
sagt. Nicht vor dem Über-Ich kann ich schuldig werden, sondern nur an konkreten Personen.
Schuldig aber wird der, der dem anderen nicht gibt, was ihm rechtens zu geben ist, wer also
ungerecht ist.
Es gibt Menschen, die jede Schuld abwehren, weil ihre (narzißtische) Selbstachtung ihnen das
Eingeständnis von Schuld nahezu unmöglich macht. Mitunter nimmt diese Abwehr die Gestalt
der Projektion an. Schuldig oder doch der Hauptschuldige, das ist immer der andere. Ich kenne
Ehen, in denen diese Projektionen beider Partner furiose Ausmaße annehmen. Beide waren na-
hezu schuldlos - in ihren eigenen Augen.
• Die Fähigkeit, zu vergeben und Vergebung zu empfangen. Diese Fähigkeit setzt die Erkenntnis
und Anerkenntnis einer tiefen sozialen Verwiesenheit eines Menschen voraus. Sehr viel mehr
als unser neuzeitliches Selbstgefühl es wahrhaben will, sind wir Sozialwesen und radikal ab-
hängig von Zu- oder Abwendung durch andere Menschen.
Diese Abhängigkeit kann soweit gehen, daß ein einziges gutes Wort einen Menschen buchstäblich
heilen kann - und ein böses kann ihn krankmachen. Wenn wir Menschen also eine Art sozialen
Organismus bilden, dann ist es wichtig, daß wir - bei allen Konflikten doch die Fähigkeit bewah-
ren, wieder die Einheit dieses Organismus herzustellen - um unserer und fremder Gesundheit wil-
len (in religiöser Sprache nennt man religiöse Gesundheit »Heil«). Das aber geschieht nur dann,
wenn wir alle Leistungsgerechtigkeit (darunter auch die Gesetzesgerechtigkeit) hintanstellen, so-
bald deren Vollzug der Menschheit, wie sie sich in konkreten Menschen repräsentiert, eher scha-
det denn nutzt. Jesus hat das so formuliert: Das Gesetz ist um des Menschen willen da - und nicht
der Mensch um des Gesetzes willen (vgl. Mk 2, 27). Wo Gesetze und Gesetzesgerechtigkeit nicht
dem Menschen dienen, werden sie unmenschlich und verlieren ihre normative Verpflichtung.
(3) »Hat dich keiner verurteilt, so verurteile ich dich auch nicht.« Dieser Satz aus der Szene mit
der Ehebrecherin ist ebenfalls bedenkenswert. Hier macht Jesus sein Urteil von dem der Menschen
abhängig. Wieder schreibt das Gesetz eine bestimmte Strafe vor (Steinigung). Und nach den Re-
geln der Leistungsgerechtigkeit hat der Kriminelle ein strenges Recht auf »seine« Strafe (wie I.
Kant deutlich betonte). Aber solche gerechte Zuteilung eines verdienten Lohns wird von Jesus
verweigert. Wieder wird die legale Gerechtigkeit außer Kraft gesetzt, um zentralerer Normen wil-
len. Weil der Vollzug der Gerechtigkeit niemandem nützt, Jesus aber alle Formen der Bestrafung,
die nicht der Liebe dienen (wie Generalprävention, Rache, Sühne) ablehnt, bleibt also nur Frei-
spruch.
Doch dieser Freispruch wird abhängig gemacht von der Vergebung der Mitmenschen. Offensicht-
lich handelt es sich also bei der religiösen Schuldaufhebung nicht um irgendeinen magischen Vor-
gang, sondern um die Bestätigung der menschlichen Schuldaufhebung. Das hat mancherlei Kon-
sequenzen für christliches Verhalten:
• Es folgt daraus die unbedingte Nötigung, dem anderen Menschen zu verzeihen. Wer nicht ver-
zeiht, der beläßt den anderen in Schuld (auch der religiösen).
• Konsequent spielt denn auch das Verzeihen eine wichtige Rolle in der christlichen Sittlichkeit.
Im Gebet, das die Bergpredigt als exemplarisch für das Beten der Christen vorstellt, heißt es:
Und erlaß uns unsere Schulden, wie auch wir sie unseren Schuldnern erlassen haben.
(Mt 6, 12)
Herr, wie oft muß ich meinem Bruder vergeben, wenn er sich gegen mich versündigt?
Siebenmal? antwortete Jesus: Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal. (Mt 18,
21-22)
• Daraus aber folgt ebenfalls die unbedingte Pflicht, um Verzeihung zu bitten, wenn sie sonst nur
schwer oder gar nicht gewährt werden könnte. Die erbetene Verzeihung nicht zu gewähren, ist
eine solche Verletzung der Liebesgebote, daß sie den Evangelisten gar nicht erst in den Blick
kommt.
Der Verfasser des dritten Evangeliums läßt im Gleichnis den verlorenen Sohn bitten:
Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt, ich bin nicht mehr
wert dein Sohn zu sein. (15, 21)
Und ihm wird - trotz der recht unvollständigen Bitte - Verzeihung zuteil.
Mitunter wird es dem Stolzen schwerfallen, selbst wenn er seine Schuldhaftigkeit akzeptiert, um
Verzeihung zu bitten. Doch dieser Stolz ist der Stolz eines »lonely wolf« der meint, auf keinen
Menschen angewiesen zu sein. Er ist ein Opfer des Individualfetischismus der Neuzeit. der Per-
son auf Individuum reduziert.
• Von hierher erhält das Verbot, andere Menschen zu verurteilen (selbst wenn es als Beurteilen
kaschiert wird), eine neue Dimension - es wird zum Gebot christlicher Gerechtigkeit. Selbst
wenn die Leistungsgerechtigkeit scheinbar ein sittliches Verurteilen einfordern sollte - es bleibt
dem Christen untersagt.
(4) »Bist du neidisch, weil ich gütig bin?« Nicht selten maskiert sich der blanke Neid mit der For-
derung nach Leistungsgerechtigkeit. Ich denke, das Gleichnis denunziert diese Haltung zur Genü-
ge. Das, was Jesus hier als Zustand des Gottesreiches beschreibt, darf nicht als schlechthin kom-
mend betrachtet werden. Gottesreich ist schon mitten unter uns - und wir sind mitverantwortlich
für sein Wachsen.
Die hier postulierte Gerechtigkeit ist zweifellos die Bedürfnisgerechtigkeit, nach der jeder Mensch
die Chance haben muß, soviel zu erhalten, wie er zum täglichen Unterhalt seiner Familie benötigt.
Das war damals ein Denar (etwa 3 Gramm Silber, das sind heute rund 20.- DM). Nicht die Leis-
tung, sondern allein das Bedürfnis wird Maß der Belohnung, die Leistung ist allein der Beloh-
nungsanlaß. Diese völlig unkapitalistische Weise, Gerechtigkeit zu sehen, wurde von K. Marx für
die kommunistische Phase der gesellschaftlichen Entwicklung postuliert. In seiner Kritik am Go-
thaer Programm der SPD (1875) (MEW 19, 21) läßt Marx im Sozialismus das Leistungsprinzip
(»jedem nach seinen Fähigkeiten - jedem nach seiner Leistung«), das das kapitalistische Markt-
wertprinzip ablösen soll, gelten. Damit sei aber noch faktische Ungleichheit, eine bürgerliche
Rechtsordnung und ein funktionierender Staat vonnöten. Diese alle mache die Gerechtigkeit aus
dem Bedürfnisbefriedigungsprinzip (»jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnis-
sen«) überflüssig. Im Reich der Freiheit von Entfremdungen herrsche eben dieses Bedürfnisbefrie-
digungsprinzip. Christliche Gedanken haben hier, vermittelt über die Utopiker des 17. und 18.
Jahrhunderts, offensichtlich Pate gestanden.
Es mag sein, daß die objektiven Zwänge, die von der Verfassung des sozio-ökonomischen Sys-
tems ausgehen, im Bereich des Politischen und Ökonomischen die Realisation der Bedürfnisge-
rechtigkeit unmöglich machen. Das sagt aber nichts über die Qualität und Praktikabilität dieser
Gerechtigkeitsform im allgemeinen aus. Es fordert von uns nur Mühen ein, die Beschränkungen
unseres Systems zu überwinden und in den Bereichen, die von der Systemherrschaft ausgespart
sind, nach den Regeln der Bedürfnisgerechtigkeit leben zu lernen.
Da trat Jesus auf sie zu und sagte zu ihnen: Mir ist alle Gewalt gegeben im Himmel
und auf der Erde. Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen
Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes,
und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe. Seid gewiß: Ich bin bei
euch bis zum Ende der Welt. (Mt 28,18-20)
Es läßt sich jedoch erheben, daß sie, an einen Gott glaubend, »unterscheiden zwischen dem Vater,
dem Sohn (Jesus) und dem Heiligen Geist (dem von beiden Gesandten) und zwar alle drei »Gott«
nennend.
(6) Das Konzil von Nikaia (125) stellte verbindlich klar, daß Jesus Gott sei. Das 1. Konzil von
Konstantinopel (381) tat dasselbe für den Heiligen Geist. In den Auseinandersetzungen vor und
während des Konzils (die der Sache nach bis heute nicht abgeschlossen sind) entwickelten sich
zwei Positionen, die zurückgewiesen wurden:
• Der Subordinatianismus lehrte, daß Sohn und Geist zwar göttlich seien, aber dem Vater unter-
geordnet. In ihm vereinen sich hellenistische Ideen mit Textstellen der Evangelien:
Als Jesus sich auf den Weg machte, lief ein Mann auf ihn zu, fiel vor ihm auf die Knie
und fragte ihn - Guter Meister, was muß ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?
Jesus antwortete: Warum nennst du mich gut? Niemand ist gut außer Gott, dem Ei-
nen. (Mk 10, 17-18)
Der Subordinatianismus beherrschte vor dem Konzil von Nikaia das Denken nahezu aller Theolo-
gen der frühen Christenheit (Augustin, Hippolyt, Tertullian), obschon er von Papst Dionysios
(†267) verurteilt worden war.
• Der Modalismus lehrt, daß Vater, Sohn und Geist drei Erscheinungsformen (oder auch Seins-
weisen) des einen Gottes seien. Der Modalismus wurde im 2. Jahrhundert vor allem von Noe-
tus von Smyrna entwickelt. Ab 215 galt Sabelius von Rom als Haupt der Modalisten. Seine
Lehre war im Orient, vor allem aber in Ägypten sehr verbreitet. Die Christologie des Ägypter-
evangeliums ist rein modalistisch. Dieses vermutlich im zweiten Jahrhundert verfaßte Evangeli-
um, das bruchstückhaft durch Zitate erhalten ist, wurde von der Gesamtkirche aber niemals an-
erkannt.
Durchgesetzt hat sich auf dem Konzil von Konstantinopel die Lehre der »drei großen Kappado-
kier«: Basilius, Metropolit von Kayseri (†379), Gregor von Nyssa († um 394) und Gregor von A-
rianz († 390).
Alles was Gott ist, sei schlechthin eines, undifferenziert, undifferenzierbare Einheit. Doch diese
Einheit realisiert sich in drei »Personen«, die real voneinander unterschieden sind, obschon alle
Realität in Gott eine bleibt. »Person« meint hier nicht einen modernen Personenbegriff (als Sub-
jektivität, Aktzentrum, Ich), denn in Gott gibt es nur ein Aktzentrum und eine Subjektivität (und
also nur ein »Ich«).
(7) Heute läßt sich die kirchliche Trinitätslehre nicht mißverständlich etwa so beschreiben:
Der im strengen Sinne eine und unveränderliche Gott hat sich im Verlauf der Heilsgeschichte auf
dreifache Weise den Menschen offenbar gemacht:
• als ursprungsloser Grund und nicht einholbares Ziel der menschlichen Geschichte (»Vater«),
• in Leben und Wort Jesu von Nazaret (»Sohn«) und
• in den Menschen, die in der Nachfolge Jesu lebend, seine Gebote (vor allem das der unbeding-
ten Liebe) halten (»Geist«).
Dieser dreifachen Selbstoffenbarung entspricht eine triadische Struktur Gottes, über die wir nichts
wissen noch wissen können, außer, daß sie der Grund für die triadische Form der Offenbarung ist.
In unserem Kontext interessiert vor allem die Rolle und die Funktion dessen, den die Heiligen
Schriften in Anlehnung an jüdische (»Geist Jahwes«) und griechische (Nous) Benennung den Hei-
ligen Geist nennen. Und das nicht aus Neugier, um die Aussagen des Konzils von Konstantinopel
»vernünftig« oder gar verständlich zu machen, sondern um dem näherzukommen, was es heißt,
wenn jemand sagt: »Gott ist die Liebe«.
Zunächst einige paulinische Texte:
Gott hat uns enthüllt durch den Geist (was Gott denen bereitet, die ihn lieben). Der
Geist ergründet nämlich alles, auch die Tiefen Gottes. Wer von den Menschen kennt
den Menschen, wenn nicht der Geist des Menschen, der in ihm ist? So erkennt auch
keiner Gott - nur der Geist Gottes. (1 Kor 2, 10-11)
So nimmt sich auch der Geist unserer Schwachheit an. Denn wir wissen nicht, worum
wir in rechter Weise beten sollen; Der Geist selber tritt jedoch für uns ein mit Seufzen,
das wir nicht in Worte fassen können. Und Gott, der die Herzen erforscht, weiß, was
die Absicht des Geistes ist: Er tritt so, wie Gott es will, für die Glaubenden ein. (Röm
8, 26-27)
Der Herr aber ist der Geist, und wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit. (2 Kor
3, 17)
Die Frucht des Geistes aber ist Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte,
Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung. (Gal 5, 22-23)
Gut vierzig Jahre später schreibt der Verfasser des Johannesevangeliums schon sehr viel reflek-
tierter und aus Funktionen auf etwas Subjekthaftes schließend:
Ich werde den Vater bitten, und er wird euch einen anderen Beistand geben, der für
immer bei euch bleiben soll. Es ist der Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfan-
gen kann, weil sie ihn nicht sieht und nicht kennt! Ihr aber kennt ihn, weil er bei euch
bleibt und in euch sein wird… Der Beistand aber, der Heilige Geist, den der Vater in
meinem Namen senden wird, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern,
was ich euch gesagt habe. (14, 17;26)
Wenn aber der Beistand kommt, den ich euch vom Vater senden werde, der Geist der
Wahrheit, der vom Vater ausgeht, dann wird er Zeugnis für mich ablegen. (15,26)
Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in die ganze Wahrheit
führen. Denn er wird nicht aus sich selbst heraus reden, sondern er wird sagen, was er
hört, und euch verkünden, was kommen wird. Er wird mich verherrlichen, denn er
wird von dem, was mein ist, nehmen und euch verkünden. (16, 13-14)
Man wird diesen Text aus den »Abschiedsreden Jesu« (einer apokalyptischen Darstellungsweise
also) auf seine logischen Implikate untersuchen müssen, um zu einer Theologie des Geistes zu
kommen. Die Ostkirche, deren Theologie sich immer wieder neu und unmittelbar an den Heiligen
Schriften orientiert und weniger ein Ergebnis einer Jahrhunderte währenden Reflexionsgeschichte
ist, hat denn auch so ihre Geist-Theologie sehr beeindruckend entfaltet, während sie im Westen
weitgehend in Trinitätsspekulationen unterging, so daß es noch vor wenigen Jahren möglich war,
vom Geist als dem »unbekannten Gott« zu sprechen.
In der Westkirche wurde die Lehre vom Geist meist zu einem Teil der Lehre vom Einfluß Gottes
auf die Menschen (der Gnadenlehre also). So setzt Petrus Lombardus († 1160) Geist und Gnade
gleich. Erst mit Joachim von Fiore († 1204) erneuert sich der Geist-Enthusiasmus mancher früher
Gemeinden. Joachim erwartet auf das Reich des Vaters (Zeit Jahwes) und des Sohnes (Zeit Jesu
und der Kirche), die Zeit des Heiligen Geistes als drittes Reich. Nach seinen Berechnungen sollte
es 1280 anbrechen. Der Geist-Enthusiasmus des Joachim hat dieses Jahr - und die wieder einmal
enttäuschte Naherwartung - um einige Jahrhunderte überlebt. Noch bis ins Heute lassen sich
Geist- bzw. Pfingstbewegungen aufweisen, die keineswegs ausschließlich auf die Freikirchen be-
schränkt sind. Als »Charismatische Bewegungen« rücken sie die Bedeutung des Heiligen Geistes
in Lehre, Amt, Organisation und Glaubenszeugnis wieder in den Mittelpunkt des allgemeinen
theologischen Interesses, aus dem er in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts verschwand.
Dafür wurde der Joachimismus durch Cola di Rienzo († 1354) ins Politische umgedeutet und be-
reitete so den politischen Messianismus der Neuzeit (Hitlerismus, Marxismus…) vor. Es läßt sich
eine ungebrochene wirkungsgeschichtliche Einheit vom Geist-Enthusiasmus Joachims über Hegel
und Schelling bis in die Gegenwart aufweisen, wo sie sich in allen möglichen Ausbrüchen ideolo-
gisch-politischer Intoleranz darstellt. Diese Einsicht sollte uns warnen, religiöse Einsichten unkri-
tisch in politische Forderungen umzusetzen. Sehr wohl aber ist gefordert, daß ein Politiker oder
Wirtschaftler, ein Arbeiter oder Arzt… seine christliche Überzeugung im politischen, ökonomi-
schen, sozialen Handeln realisiert. Christlich handeln heißt also nicht nach christlich-politischen
Maximen handeln (die gibt es nicht), sondern aus christlichem Geist nach politischem Maximen zu
handeln, wobei diese an christlicher Sittlichkeit ihre verbietende (also negative) Normierung erhal-
ten. Das soll bedeuten, daß eine politische Maxime (und ähnliches gilt auch für ökonomische…),
wenn sie ins praktische Handeln übersetzt, sich mit christlicher Sittlichkeit als unvereinbar erweist,
für einen Christen nicht akzeptabel ist (darüber mehr im Schlußkapitel).
Was hat das mit »Heiligem Geist« zu tun? Der Geist Jesu ist gleichsam die Außenseite des Göttli-
chen, das was von Gott, als dem allgegenwärtigen Weltgrund und Weltziel unter uns erfahrbar ist.
Das aber ist die Liebe, die Menschen einander geben.
Teilhard de Chardin versuchte in moderner Sprache von dem Ansatz »Gott ist die Liebe« her nicht
nur eine funktionale, sondern auch eine ontologische Theologie zu entwerfen. Dabei argumentiert
er etwa so:
Wenn Gott Liebe ist und Gott nicht unbedingt auf Welt hin orientiert ist, dann muß auch in Gott
das Prädikat »Liebe« gültig sein. Das aber bedeutet, daß wir in Gott eine Pluralität annehmen
müssen. Hier nun verwendet er eine der arabischen Mystik bekannte Metapher: Es muß in Gott
etwas geben, das liebt, etwas, das geliebt wird, und etwas, das die Verbindung zwischen beiden ist
(die Liebe). Das erste bezeichnen wir als »Vater«, das zweite als »Sohn« und das dritte als
»Geist«. Insofern dieser Liebesbezug nicht nur nach innen weisen kann (jede Liebe weist über den
Bezug Liebender - Geliebter hinaus), besteht für Gott die »Nötigung aus Liebe« zu schaffen. Die
Welt ist also eine Fortsetzung göttlicher Liebe ins Nicht-Göttliche - jedoch mit dem Ziel, in die
Gottheit heimzukehren (ohne ihren Eigenstand zu verlieren), denn Lieben ist Einigen. Dieses si-
cherlich hochspekulative Modell mag jedoch, da es in seinen Grundgedanken keineswegs auf
christliche Theologie beschränkt ist, als spekulative Darstellung der Trinitätslehre akzeptabel sein.
Ich denke jedoch, man sollte das Spekulieren über Gott bleiben lassen. (Es ist allenfalls aus apolo-
getischen Gründen gegenüber dem formulierten Dogma nötig.) Alles Reden über christliches
Sprechen von Gott geht in aller Regel modalistisch oder subordinatianistisch aus.
In der Vordergründigkeit der Erfahrung wird man durchaus modalistisch sprechen dürfen. Wir er-
fahren Gott als Liebe. Und diese Liebe hat verschiedene Weisen:
• Sie ist unser Grund, dem wir unsere Existenz, unser Leben, unsere Kraft verdanken. Sie ist un-
ser Ziel, auf das wir hin leben, ohne sie in ihrer völligen Unbedingtheit einholen (oder gar besit-
zen) zu können.
• Sie ist uns in Leben und Wort Jesu in ihrer Bedeutung erfahrbar und lebbar geworden. Jesus
hat uns den Weg gewiesen, um lieben zu können - und hat uns gezeigt, was »Liebe« bedeutet.
• Sie ist uns erfahrbar in zwischenmenschlichen Bezügen, in Zuwendung, Dankbarkeit, Verzei-
hung, Achtung, Zuvorkommenheit, Bescheidenheit… kurzum wir erfahren sie im Geist Jesu.
Insofern wir auch hier unbedingte Liebe als Grund, der bedingte Liebe trägt, und als Sehnsucht,
die uns in allem Lieben und Geliebtwerden begleitet, erfahren, begegnen wir auch hier Gott. Das
Erfahrbarste an Gott ist also das, was wir Geist nennen, den Entwurf der unbedingten Liebe in al-
ler bedingten. Hier erfahren auch Menschen Gott, die das Wort nicht schätzen und die die Jesus-
botschaft nicht akzeptieren oder nicht kennen. Der Weg über den Geist ist der zuverlässigste zu
Gott, wenngleich er auch kaum zu reflektierter Theologie führt. Diesen Weg zu zeigen und gang-
bar zu machen, ist das Ziel des Lebens und der Botschaft Jesu.
Schafft den alten Sauerteig weg, damit ihr neuer Teig seid. Ihr seid ja schon ungesäu-
ertes Brot; denn als unser Paschalamm ist Christus geopfert worden. (1 Kor 5, 7)
Christus wurde ein einziges Mal geopfert, um die Sünden vieler hinwegzunehmen;
beim zweitenmal wird er nicht wegen der Sünde erscheinen, sondern um die zu retten,
die ihn erwarten. (Hebr. 9, 28)
Das Christentum kennt also nur dieses eine Opfer. Ihm entspricht der Glaube in tätiger Liebe.
Selbst wenn nach katholischer Auffassung das Opfer Jesu seine kultische Vergegenwärtigung in
der Eucharistie findet, gibt es nach dem Opfer Jesu keine anderen Opfer mehr, die wir Gott
darbringen könnten. Diese deutliche Lehre der Heiligen Schriften hat sich jedoch - unter manichäi-
schem Einfluß? - keineswegs allgemein herumgesprochen. Noch immer »opfern« Menschen ihre
Leiden auf, ohne etwas dagegen zu tun, noch immer werden Kinder dazu erzogen, »Opfer zu
bringen«.
Wie aber soll der Christ fertig werden mit Leid, wenn ihm nicht der Trost bleibt, es »zusammen
mit Jesus als Sühne für die Sünden zu tragen« (so heißt eine klassische Formulierung christlicher
Volksfrömmigkeit)?
Ich denke, wir sollten lernen, Leiden und Schmerzen, physische und psychische in allen ihren Dar-
stellungen - von Schlaflosigkeit angefangen bis zu heftigsten Nervenschmerzen, von Lieblosigkeit
bis zur Enttäuschung, von Angst und Sorge bis hin zur Verzweiflung und Einsamkeit als Bedin-
gungen zu ertragen, unter denen Menschsein überhaupt nur möglich ist. Leidlosigkeit ist uns nicht
gegeben. Unsere Leidensfähigkeit liegt in unserer Menschlichkeit begründet und unser Leiden in
der Tatsache, daß wir in einer Welt leben, die ihre Entwicklung noch nicht zuende gebracht hat,
sondern unvollkommen und feindlich sein kann. Das sind zunächst keine religiösen Gründe - sie
sollten deshalb auch nicht religiös überhöht werden. Religiös sind die Leidensursachen allenfalls,
insofern diese Welt nicht als vollkommene, sondern vielleicht auf Vollkommenheit hin geschaffen
wurde. Leid ist ein Implikat von Weltlichkeit. Insofern wir in Welt leben, müssen wir leiden. Es
kann nur nützlich sein, wenn wir diesen Sachverhalt ohne jede Verbrämung akzeptieren. Das Le-
ben mit Lebenslügen (auch mit religiösen) ist auf die Dauer keineswegs leichter als ein Leben in
fundamentaler Ehrlichkeit gegenüber den eigenen Grenzen. Der durch Leiden beleidigte Narziß in
uns wird diese Unbill noch ins Große - ins Religiöse - zu steigern versuchen, um die eigene Größe
selbst noch im Leiden zu sichern und daraus herzuleiten. Das aber ist Lebenslüge.
Das soll jedoch keineswegs heißen, daß wir nicht dem Leiden auch eine positive Funktion abge-
winnen können. Diese aber hat es nicht in Sich, sondern sie wird ihn allenfalls durch uns gegeben.
So kann denn Leiden hilfreich werden, den Prozeß einer Neuorientierung des Lebensentwurfs zu
beginnen, die eigenen Werte kritisch zu überprüfen, eventuelle Kurskorrekturen zu planen, zu er-
kennen, was wesentlich ist und was unwesentlich.
Auch das, was mitunter ungut »Opfer« genannt wird, kann, wenn das Wort »Verzicht« bedeutet,
von erheblicher Wichtigkeit sein. Alle Umkehr setzt die Fähigkeit voraus, zu verzichten. Ja, alles
glückende Leben in dieser Welt ist nur möglich, wenn wir auf Konsum oder Anerkennung, auf Er-
folg oder Reichtum… verzichten können.
Über die christliche Haltung zum Leiden schreibt Paulus im 2. Brief an die Korinther:
Von allen Seiten werden wir in die Enge getrieben und finden doch noch Raum.
Wir wissen weder aus noch ein und verzweifeln dennoch nicht.
Wir werden gehetzt und sind doch nicht verlassen.
Wir werden niedergestreckt und doch nicht vernichtet.
Denn immer werden wir, obgleich wir leben, um Jesu willen dem Tod ausgeliefert,
damit auch das Leiden Jesu an unserem sterblichen Fleisch offenbar wird. (4, 5-11)
Dann sprach Gott: Laßt uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie sol-
len herrschen über die ganze Erde. Gott schuf also den Menschen als sein Abbild…
Und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehret euch, bevölkert die Erde, un-
terwerft sie euch. (Gen 1, 26-28)
In der jüdischen und christlichen Praxis wurde dieses Wort meist so verstanden, als seien Men-
schen von Gott zum absoluten Herrn der Erde bestellt worden. Diese Herrschaft wurde nach Art
der Herrschaft des Herrn über den Sklaven verstanden - selbst als es schon lange keine Sklaven
mehr gab. Das war ein arges Mißverständnis, denn eine deutlich ältere Tradition sagt, daß der
Mensch die Erde zu bebauen und zu hüten habe (Gen 2, 15). Entsprechend versteht denn auch der
Islam den Menschen als Verwalter und Hüter der Schöpfung. Doch im europäischen Denken
wandelte sich - sicherlich unter religiösem Einfluß - das innere Verhältnis zur Natur in ein brutales
Ausbeuten, das vermutlich zuerst die moderne Industrie ermöglichte. Das eigentümliche Verhält-
nis, das viele in der Aura des Christlichen Aufgewachsenen zur Natur haben, ist bestimmt von
dem Nebeneinander sentimentaler Nähe und brutaler Distanz, wobei sich in einigen Menschen e-
her die eine, in anderen die andere Fehlhaltung manifestiert.
Im Horizont christlicher Ethik scheinen die Grundprinzipien im Umgang des Menschen mit Natur
festgelegt:
• Menschen sind nicht Herren der Schöpfung. (Sie sind also nicht - wie sie in infantilem Narziß-
mus zu vermuten scheinen - gottähnliche Wesen, die über ihre Mitgeschöpfe nach Belieben
verfügen können, sondern ihre Hüter und Verwalter.)
• Sie dürfen sie nur benutzen, um ihre primären und sekundären Bedürfnisse zu befriedigen. Die
Befriedigung tertiärer muß ohne Mißhandlung der Natur erfolgen, um sittlich vertretbar sein zu
können.
• Im Konflikt zwischen Wirtschaftswachstum und Erhaltung der Natur ist letzterer der Vorrang
einzuräumen.
• Ein Wirtschaftswachstum, das durch die Übervölkerung der Erde erzwungen wird, ist nicht mit
dem Hinweis auf »Gottes Willen« zu rechtfertigen, da die Überbevölkerung der Erde ein physi-
sches und soziales Übel ist.
Sollte ein politisches oder ökonomisches System sich grundsätzlich diesen Vorstellungen versa-
gen, wäre es als unchristlich zu kritisieren und könnte insoweit von Christen nicht mitgetragen
werden.
Vor allem aber ist darauf zu achten, daß Menschen in dem Vermögen konkreter Sittlichkeit wach-
sen, um die von ihnen beherrschten technischen Möglichkeiten auch verantwortet verwenden zu
können.
Die heute noch vorwiegende Art der Erziehung begünstigt einen engstirnigen Indivi-
dualismus. Ein Großteil der Menschen versinkt geradezu in maßloser Übertreibung
des Besitzes. Schule und Massenmedien stehen nun einmal im Bann des etablierten
Systems und können daher nur einen Menschen formen wie dieses System ihn
braucht, einen Menschen, nach dessen Bild keinen neuen Menschen, sondern nur eine
Reproduktion des herkömmlichen Typs. (51)
Ganz offensichtlich muß also der Teufelskreis der Normen unkritisch tradierenden Erziehung
durchbrochen werden, wollen Christen ihr Ziel einer humaneren Gesellschaftsordnung erreichen.
Und so seien denn im Folgenden einige Gedanken zu einer solchen Neuorientierung vorgestellt.