Vous êtes sur la page 1sur 124

Rupert Lay:

Credo

Vorwort
1. Dieses Buch wurde nicht geschrieben für gute Christen, die in ihren Kirchen eine endgültige
Heimat gefunden haben. Diese werden das Buch vielleicht verärgert oder beunruhigt beiseite
legen. Sie werden möglicherweise sagen: Was da geschrieben steht, hat mit dem Christentum,
das wir im Religionsunterricht und von den Kanzeln kennen lernten, nichts oder sehr wenig zu
tun. Sollten Sie sich aber durch dieses Buch nicht verstören lassen, dann sind Sie der Leser, für
den es geschrieben wurde.
2. Es ist also geschrieben für Menschen, die sich selbst nicht oder nur unter Einschränkung für
Christen halten, wenn sie nur für nicht unmöglich halten, irgendwann einmal Christ zu werden.
Es ist aber auch geschrieben für Neugierige, um etwas über das Christentum zu erfahren, inso-
fern es sich nicht als angepaßt an institutionale Interessen (die ja immer auch Erkenntnis leiten)
versteht.
3. Christ kann man leichter werden, als viele meinen. Es ist keineswegs an erster Stelle eine Zu-
mutung an den Verstand, sondern sehr viel eher eine an die sittliche Persönlichkeit, ohne sich
als Sittenlehre zu gebärden. Unsere Gesellschaft und ihre Ordnungen haben eine Menge von
Fußangeln ausgelegt, die viele auf dem Weg ins Christentum vorzeitig in den Vorräumen ein-
halten lassen und hier gefangensetzen. Die ersten Schritte der Ablösung von liebgewordenen
Vorstellungen und Lebenspraktiken sind sicher nicht leicht in einer Welt der religiösen Neutra-
lität der Etablierten, die zu einer verharmlosten und institutionalisierten Form des Christentums
anraten.
4. In diesem Buch werde ich Sie relativ wenig mit einem unerklärten Gottesbegriff erschrecken -
und wenn er eingeführt wird, dann nahezu trivial selbstverständlich. Insoweit ist das Buch also
gedacht für Menschen, die das Wort »Gott« sorglichst meiden, weil es ihnen entweder zu viel
oder zu wenig sagt. Sollten Sie zu einer dieser beiden Gruppen gehören, dann wäre es gut,
wenn Sie diese Sprech- und Hörpraxis beibehielten, denn Religiosität kann im zu häufigen
Gebrauch dieses Wort verenden.
5. Christsein ist kein Zustand, sondern ein Programm. Das Programm eines Lebensentwurfs, einer
Lebensorientierung, die, wenn sie gelingt, Leben und Ereignissen Sinn und Bedeutung gibt.
6. Ich habe dieses Buch geschrieben auf Grund meiner Erfahrungen mit vielen Menschen, die Ori-
entierung suchten. Nicht wenige davon wurden Christen, wenn auch nur einzelne den Weg in
eine institutionalisierte Form des Christlichen fanden.
7. Ich bin sicher, daß es viele Wege ins Christentum gibt. Hier soll nur einer beschrieben werden.
Ich denke, daß ein Mensch nur den Weg beschreiben sollte, den er selbst gegangen ist oder
besser: geht. Und das ist Immer nur einer. Andere mögen über andere Wege schreiben. Sie
können ebenso gangbar sein, wie der hier gewiesene.
8. Nicht auf allen Wegen sind alle möglichen, nicht einmal alle dogmatisch-zentralen Aussagen
des Christentums von gleicher Bedeutung. Wenn in diesem Buch die eine oder andere fehlen
sollte, dann nicht, weil ich sie für falsch halte, sondern weil ich der Überzeugung bin, daß sie
auf einem anderen Weg ihre spezielle Rolle und Aufgabe hat.
9. Ich bitte den Leser zu bedenken, daß das Buch keinen Abriß einer christlichen Dogmatik geben
will. Es soll ein sorgsam ertasteter Weg ins Christentum vorgestellt werden. Da verbietet sich
aber auch die Methode, alles zu einem Thema auf einmal zu sagen. Die einzelnen Kapitel sind
inhaltlich miteinander verwoben und ergänzen sich mitunter inhaltlich und dialektisch-
methodisch. Dialektisch, weil mitunter eine These vorgestellt wird, die später durch eine Ge-
genthese relativiert und ansatzhaft zu einer Synthese geführt wird. Diese Methode empfiehlt
sich immer dann, wenn der Gegenstand wegen seiner historischen Nähe oder seiner spekulati-
ven Ferne nur inadäquat begriffen werden kann.
10.Wer den in diesem Buch beschriebenen Weg mit dem Autor zusammen gegangen ist, wird sich
kaum einbilden, er sei am Ziel von irgendetwas anderem als am Schluß der Lektüre dieses Bu-
ches. Der Weg ins Christentum hat kein Ende, das wir begreifen oder auch nur ahnen können.

Einleitung
Wenn jemand Christ werden möchte oder auch nur wissen will, was denn Christentum eigentlich
ist, wird er allen Formen organisierter Religiosität mit Scheu oder Skepsis begegnen. Christliche
Religiosität wird organisiert und als organisiert verwaltet von den christlichen Kirchen (obschon
sich deren Funktion keineswegs in solcher Tätigkeit erschöpft). Formen der institutionalisierten
Verwaltung des Religiösen manifestieren sich in Kult, Dogma, Recht. Nicht selten wird der Su-
chende Kirchen und diesen ihren Ausdrucksformen mit reichlichem Befremden gegenüberstehen.
Dieses Befremden wird um so heftiger, als er oft nur unter diesen institutionalisierten Gestalten
Christentum bemerkt (sieht man einmal von einigen wenigen Ausnahmen ab, da Menschen un-
übersehbar Christentum leben). Sehr oft ist der erkenntnismäßige, vor allem aber auch der emoti-
onale Weg zum Christlichen durch diese Institutionalisierung versperrt. Das hat seine guten Grün-
de. Institutionen sind zumeist »eingefrorene Geschichte“. In Kult, Dogma und Recht einerseits
und im Handeln der Institution aus diesen drei andererseits manifestiert sich die Geschichte der
Kirchen. Jede Zeit hinterließ hier ihre Spuren - und die sind nicht jederzeit verständlich. Damals
waren Probleme, Bedürfnisse, Interessen andere.
Es gab einmal eine Zeit - und sie lebt in ihren Spuren noch in unserer Mitte - da unterschied man
Wesentliches vom Unwesentlichen. Heute haben wir das Maß verloren, beides verbindlich oder
verpflichtend gar zu scheiden. Institutionen aber scheiden, denn - da sie nicht alles bewahren -
bewahren sie das Wesentliche. Oder besser: Einiges wird wesentlich, weil sie es bewahren. Und
anderes unwesentlich. Das ist das Ärgerliche: Es gibt Dinge, Ereignisse, Bedürfnisse, Wünsche,
Hoffnungen… die »von Amts wegen« unwesentlich gemacht werden. Und so protestiert das Le-
ben gegen das Amt, das manches unwesentlich macht - keineswegs aber sich selbst.
Und es gibt das Unbedingte, das Institutionen als den Horizont ausweisen, in dem das Bedingte
spielt. Eine solche Grenze ziehen heißt, Bedingtes auf Plätze zu verweisen, die unerheblich sind.
Mag sein, daß zwischen Bedingtem und Unbedingtem eine »wesentliche« Differenz besteht. Aber
das Unbedingte funktioniert, wird funktional nur als Bedingtes. Und nur das Funktionale wird er-
fahren. Das soll nicht heißen, daß Funktionen nicht ihren realen (gegenständlichen) Grund haben
könnten, doch ist ihr Grund zuerst einmal logisch, wie auch der Unterschied zwischen Bedingtheit
und seiner Negation zunächst einmal logisch ist.
Ich werde in manchen Kapiteln dieses Buches von Unbedingtem sprechen, aber nicht als vom Be-
dingten abgehoben, sondern als sich im Bedingten praktisch, erfahrbar, erheblich machend.
Das alles klingt ziemlich theoretisch. Der Eindruck täuscht, denn es geht darum, der Theorie den
Platz zuzuweisen, der ihr gebührt: den der unpraktischen Abstraktion von der konkreten Lebens-
welt. Sie hat keine inhaltliche Bedeutung an sich, sondern nur relative Bedeutung hin auf die Le-
benspraxis und die Lebenswahrheit.
Offensichtlich normieren die Institutionen Inhalte und Gehalte der Religiosität und machen sie
damit abstrakt und theoretisch. Sie sind somit von den Ansprüchen alltäglicher Anwendbarkeit
entschuldigt und mit einem widernatürlichen Eigenleben ausgestattet. Dogmen, die nicht mehr
alltäglich praktisch werden, sind funktionslos und (auf einer höheren als der semantischen Ebene)
bedeutungslos, weil abgelöst von konkreter Realität.
Daß auch Kult und Recht zum Selbstzweck entarten können, ist wohl unbestritten. Und dann tobt
sich die in ihnen präsentisch gebliebene Vergangenheit in der Gegenwart des Lebens aus - es gar
bedrohend.
Institutionen sind also immer konservativ. Das bedeutet, sie halten die Gegenwart für wichtiger
als sie ist und interpretieren sie ins Gute. Recht und Dogma wollen wohl stets bewahren (Institu-
tion und Lehre). Das ist solange ihr Recht als sie nicht im immer zu überholenden Gegenwärtig
den utopischen Anspruch des Christlichen morden. Denn sonst steht das Recht von Menschen
gegen das von Institutionen. Es ist kaum denkbar, daß solches beiden gut bekommt, es sei denn
Menschen degradieren die Institution zur Unerheblichkeit, befreien sich von ihrem Spruch: Das ist
zwar eine Lösung - aber keine ideale. Reformationen (das sind immer Ablösungen von geltendem
Recht und behauptetem Dogma) stehen niemals auf dem Programm einer Institution. Und man
kann nur hoffen, daß sie sie leiden, ohne zu zerbrechen.
Fehlt der Praxisbezug der Kirchen ins Außen, dann beschäftigen sie sich nötig um so intensiver
mit ihrem Innen. Das wird dem Außenstehenden oft seltsam erscheinen. Es kommt zu dogmati-
schen Diskussionen (mit Ketzerdenunziationen) und zur rigorosen Anwendung von Recht. Beide
werden als konservatives und besitzstandsicherndes Instrumentar ausgebaut oder doch ange-
wandt. Damit kann eine Perversion der Strukturen (Kult, Recht, Dogma) der kirchlichen Systeme
verbunden sein. Das aber bedeutet erhebliche Zerfallserscheinungen, denn die Systemfunktionen
(stets über Strukturen vermittelt und praktisch werdend) werden eigenartig steril und unerheblich.
Sie scheinen aus einer anderen Welt zu kommen. Christen beginnen mit Christen auf eine Art um-
zugehen, die Nichtchristen unverständlich ist, vor allem, wenn sie das Liebesgebot gelebt erwar-
ten.
Zudem wird eine Kirche mit überstarker Binnenorientierung ihre Herrschaftsfunktionen aktivieren.
Sie wird zu urteilen beginnen, wo sie nicht zu urteilen hat. Auch das wirkt befremdlich und ab-
stoßend auf den Suchenden. Das Wort von der politischen Kirche ist ein sehr böses Wort. Un-
bestritten hängt zwar jede politische Entscheidung mit ethischen Werten, Grundsätzen, Gefühlen...
zusammen. Politische Entscheidungen sind aber stets Entscheidungen unter Ungewißheit (d.h. sie
haben mehrere mögliche Ausgänge und komplexe Folgen auch auf Gebieten, die zunächst gar
nicht angesprochen erscheinen). Das aber bedeutet, daß politische Entscheidungen, die zweifels-
frei sittlich verwerflich sind, selten genannt werden können. Zu ausgesprochenen Raritäten dürften
sich solche Fälle auswachsen, in denen man sagen kann, eine politische Entscheidung sei sittlich
geboten. Sie kann sehr wohl politisch oder ökonomisch, praktisch oder theoretisch ... geboten er-
scheinen - aber eben nicht sittlich. Und hier wird die Grenze deutlich, innerhalb derer Kirchen
normativ nach außen tätig werden können. Sie sind außerordentlich gering, wenn es um sittliche
Wertungen von Entscheidungen oder das Einfordern von Entscheidungen um der Sittlichkeit wil-
len geht. Wird das nicht gesehen, degradiert sich Kirche zu einer gesellschaftlich relevanten Kraft
unter anderen. Daß sie das, wenn sie sich funktional auf ihre göttliche Herkunft beruft, nicht sein
kann, ist evident. So gilt es denn heute mehr als je, Kirche vor sich selbst in Schutz zu nehmen.
Das ist nur möglich, wenn man einige oder viele ihrer Funktionen kritisiert. Eine introvertierte
Kirche ist aber extrem sensibel gegenüber Kritik. Und das ist schlecht. Denn dann wird Kritik ab-
gewehrt und nicht verarbeitet. Diesen Prozeß nennt man gemeinhin neurotisch.
Das soll mich aber nicht hindern, Christentum unter dem Aspekt der Praxis (der Lebenspraxis und
nicht der Institutionspraxis) zu sehen, zu leben und zu lehren. Unter dieser Rücksicht sind die fol-
genden Kapitel geschrieben. Und deshalb nimmt das Schlußkapitel zu konkreten Fragen christli-
cher Sittlichkeit Stellung. Hier will ich orientierende Postulate vorstellen und nicht über Sittlich-
keit oder Unsittlichkeit konkreter Politik urteilen. Das ist mir als Christ verboten.
Sittlichkeit, das ist jene Instanz, die wir Menschen im Laufe unserer Stammesgeschichte - und der
immer wieder neuen Individualgeschichte - dem Unbewußten abgerungen haben. Denken und
Handeln sollen überwacht und gegen dunkle irrationale Instanzen (die man wohl einmal »Teufel«
nannte) abgeschottet werden. Sittlichkeit strebt - um dieses leisten zu können - nach einem tra-
genden und stützenden Skelett, das das Leben von immer neuen Entscheidungen entlastet. Die
Knochen dieses Skeletts nennen wir Normen.
Diese Normen können sich - durch Angst vor dem Dunkel, dem Unbeherrschbaren - von ihrer
Dienstfunktion ablösen und beginnen Menschen und Gruppen zu beherrschen. Hier gilt es einzu-
sehen, daß auch das Dunkle und Unheimliche ein legitimer Teil unseres Menschseins ist, den Hu-
manität niemals verleugnen wird. Und dennoch taucht immer wieder in der Geschichte der Religi-
osität eine Richtung auf, die das Ungenormte, das vor Sittlichkeit Unnormale als Bosheit oder In-
humanität denunziert. Ins Christentum hat solches Denken, vermittelt über die Lehren des Persers
Mani, einigen Einzug gehalten.
Doch wollen wir nicht vergessen, daß Normen, die Humanität beschränken und Leben mindern
oder gar löschen, daß solche Normen sich von ihrer Funktion ablösen und zum Selbstzweck wer-
den. Institutionen, ob profane oder sakrale, neigen nun dazu, Normen als handlungsleitende Vor-
gaben zu verkünden, festzumachen und über Bestrafungsmechanismen zu sichern. Die Zwänge
über Normen befreien das Kollektiv vor der Angst vor dem Dunkel im Leben des Einzelnen wie
der Gesellschaften. Doch oft ist dies die Befreiung durch die Vordergründigkeit der Gewalt - ohne
rechte Aufarbeitung. So gab das Christentum nahezu 2000 Jahre vor, das Böse zu verfolgen - und
erkannte kaum, daß es seine eigenen Möglichkeiten haßte, verfolgte, tötete.
Praktisches Christentum will nicht in diesem Sinn normieren. Es übt keine Zwänge aus. Seine
Normen sind Hinweise auf ein menschliches Leben. Sie verlieren also umgehend ihren Verpflich-
tungscharakter, wenn sie sich gegen dieses Leben wenden. Selbstentwirklichung durch individuel-
le oder kollektive Normen ist nicht selten unter uns. Normen, die das psychische und soziale Le-
ben mindern oder gar löschen, können vielleicht aus politischen oder ökonomischen Quellen
stammen (aus denen ja auch das Dunkel der unbewußten Motive bevorzugt sprudelt), niemals a-
ber aus christlichen. Ich verstehe Christentum also auch als Weg zum humanen Leben. Und ich
bitte Sie, diesen Weg mit mir zu gehen.
Der Weg ins Christentum scheint heute vielen schwer zu sein, weil sie dem Leben und der Lehre
Jesu im Horizont der Institutionen begegnen. Tatsächlich ist es leicht, Menschen zum Christentum
zu führen, schwer jedoch, sie eine konkrete Kirche akzeptieren zu lassen. Ja, die konkrete Kirche
wird für nicht wenige das Hindernis schlechthin auf dem Weg ins Christentum. Damit pervertiert
die Institution ganz offensichtlich ihren Auftrag und ihre Funktion: den Weg ins Christentum zu
erleichtern. Daraus folgt aber ebenso zwingend, daß die Kirche Jesu sich - zumindest in vielen
Ländern Europas - wird ändern müssen, wenn sie sich mit einiger Berechtigung als Kirche Jesu
verstehen will.
An dieser Stelle erscheint es sehr wohl angebracht, daß ich Ihnen sage, warum ich mein Christen-
tum in einer Kirche (der römisch-katholischen) zu leben versuche.
Da ist zunächst einmal die feste Überzeugung, daß Personsein sich gleichursprünglich in Individu-
alität und Sozialität realisiert. Das aber bedeutet für mich, daß ich mein Christsein als Ausdruck
personaler Entscheidung und Orientierung auch nicht in bloßer Individualisierung leben kann,
sondern daß diesen gleichrangig ein Leben in religiöser Gesellschaft zuzuordnen ist.
Zum zweiten bin ich davon überzeugt, daß die Identität des Christentums, die mehr ist als eine
bloße Identität der Lehre, sondern durchaus auch eine soziale, nur in einer Kirche gesichert wer-
den kann, in der sich über die Bewahrung von Tradition der individualistische Trend, in eine mehr
oder weniger willkürliche Pluralität mit Identitätsverlust der Jesusbotschaft zu zerfallen, wenigs-
tens über Ausmittlungsprozesse neutralisieren läßt. Und das ist notwendig, weil Christentum alles
andere als eine individualistische Sache ist. Sicherlich ist mit der Institutionalisierung einer leben-
digen Lehre die Gefahr verbunden, daß in ihr Wachsen und Entfalten gehindert werden. Instituti-
onen sind von Natur aus auf Erhaltung bedacht. Doch dieser unvermeidliche Konservatismus von
Systemen und Strukturen ist solange nicht schädlich, als die Strukturen fähig sind, sich von innen
her zu wandeln und sich an veränderte Lebens- und Glaubensprozesse anzupassen. Nur das, was
sich nicht anpassen kann, geht zugrunde, weil es lebenswidrig ist.
Drittens bin ich der Überzeugung, daß das Bekenntnis zu Jesus sich zwar an erster Stelle in einem
christlichen Leben konkret machen muß. Aber das ist nur ein Aspekt. Das Bekenntnis muß auch
über die individuelle menschliche Begegnung hinaus vermittelbar sein, um voll wirksam sein zu
können. Und hier kann die Kirche die Rolle »eines Zeichens unter den Nationen« spielen, wenn sie
als Kirche die Botschaft Jesu glaubhaft vorlebt. Wenn und wo sie das nicht tut, haben Christen
das Recht und die Pflicht, durch das Zeugnis ihres Lebens und ihres Wortes in das Innen der Kir-
che hinein reformierend zu wirken. Die Wandlung einer Struktur scheint nur möglich von innen,
von außen kann sie allenfalls vernichtet werden.
Endlich bin ich der Auffassung, daß die Kirche das wirkkräftige Zeichen eines universellen Rei-
ches der Liebe sein kann. Darüber aber werde ich weiter unten berichten.
Im Folgenden werde ich Kirche als Handlungsgemeinschaft einer Kirche als Kultgemeinschaft
entgegenstellen. Es bedarf wohl keiner näheren Erläuterung, daß es sich dabei um ideale Typen
handelt. In ihrer konkreten Praxis wird Kirche stets beides sein, jedoch immer eher das eine als
das andere. Und weil ich vermute, daß Jesus die Begründung einer Handlungsgemeinschaft mehr
bedeutete als die einer Kultgemeinschaft, kritisiere ich Kirche immer dann, wenn mir der Kult die
fehlende Handlung zu ersetzen scheint.

1. Weg ins Christentum


Die Geschichte Europas ist seit dem 18. Jahrhundert auch eine Geschichte der Wege aus dem
Christentum heraus. Individuen, ganze Gruppen, Klassen und Gesellschaften, Politik und Ökono-
mie machten sich auf den gewaltigsten Exodus des Geistes, den europäische Geschichte kennt,
den Auszug aus dem Christentum. Und so erscheint heute vielen das Christentum als eine alte,
veraltete Sache gar, die eng verbunden ist mit einem Geist, der in der Aufklärung zugrunde ging,
ohne es selbst zu bemerken. Das geistig aufbrechende Europa sprengte die Fesseln der Tradition -
und zum Traditionsverein erstarrt erschien und erscheint nicht wenigen damals wie heute Chris-
tentum.
Besser sprechen wir nicht von Christentum, sondern von jener Institution, die es zu verwalten und
zu erhalten verspricht: von der Kirche. Denn das Christentum selbst, als gelebte Realität einzelner
Menschen, erstarrt wohl selten in den Fängen der Tradition zu bedeutungslosem Schweigen vor
der Welt, die ihren Fortschritt fand außerhalb und gegen alle Traditionen. Fragen wir uns, wie
konnte es zu diesem Auszug aus dem Christentum kommen, das für viele durch die Kirchen reprä-
sentiert wurde? Wie konnte es dazu kommen, daß selbst viele Menschen in der Kirche aus dem
Christentum auszogen, um anderswo ihr Heil und ihre Heimat zu finden?
Ich will Sie an dieser Stelle zurück in die Geschichte des Christentums führen. Geschichte kann
man sicherlich auf verschiedene Weise machen. Zwei sind die hauptsächlichen: Entweder ge-
schieht sie erzählend, d.h. geschehene Ereignisse berichtend und in ihren mittelbaren und unmit-
telbaren Zusammenhängen referierend (narrative Geschichte). Oder aber man versucht, sie als Ge-
schichte von Systemen und Strukturen zu begreifen (Systemgeschichte). Menschen gehen in der
Produktion ihres gesellschaftlichen Lebens bestimmte Interaktionsmuster ein, die durch den objek-
tiven Stand ihres Umgangs mit der kosmischen (und wohl auch sozialen Umwelt) bestimmt und
früher oder später so institutionalisiert werden, daß diese Institutionalisierung ein soziales System
definiert. Da das konkrete Christentum von Menschen gelebt und die konkrete Kirche zu allen
Zeiten aus konkreten Menschen bestand, die ihre profanen Interaktionsmuster zunächst einmal
recht unkorrigiert in den Raum ihrer religiösen Vollzüge übernahmen, dürfen wir annehmen, daß
auch die Geschichte der Kirche als Strukturgeschichte zu schreiben ist. Die Geschichtchen, Episo-
den über Personen und Ereignisse sind dann Indizien für eine zutreffende Theorie über das Wesen
der Struktur - und erläutern sie. In diesem Sinne will ich in diesem Buch denn auch geschichtliche
Erzählungen verstanden wissen.
Idealtypisch kann man die Geschichte, in Europa gesellschaftliches Leben zu produzieren, auf die
vereinfachte Formel bringen: Sklavenhaltergesellschaft, Feudalgesellschaft, kapitalistische Gesell-
schaft. Für alle drei Gesellschaftstypen gelten repräsentativ und ideal verschiedene institutionali-
sierte Interaktionsmuster, die sich auch in der Kirche und ihrer konkreten Organisation nieder-
schlugen und alle bis ins Heute gegenwärtig sind, weil Kirche keine Revolutionen kennt.
Im Sinne einer solchen idealtypischen Klassifikation kann man den drei europäischen Gesell-
schaftstypen drei »Kirchentypen« zuordnen, die bei aller Kontinuität der wesentlichen Lehrinhalte
doch nicht unerheblich voneinander unterschieden sind. Etwas grobrastrig mag man unterschei-
den:
• Kirche als Gemeinschaft von Hoffenden, die in ihrer aktiven Hoffnung auf einen qualitativen
Wandel der gesellschaftlichen Ordnung aus waren.
• Kirche als Ordnungsfaktor, die als Systemelement Ordnungsfunktionen im System (also auch
politische und ökonomische) übernahm.
• Kirche als bewahrende Institution, die das Überkommene gegen den Anspruch von Verände-
rung und Wandel zu bewahren sucht.
Sicher ist in Kirche immer alles drei lebendig: Hoffnung, Ordnung und Tradition - aber es gibt
Zeiten, in denen eines von diesen drei in besonderer Weise dazu dient, die Identität der Struktur
Kirche mit sich selbst zu sichern.
In den ersten drei Jahrhunderten war das Christentum, sozial gesehen, eine religiös motivierte und
sich selbst religiös definierende transformistische Bewegung. Von gesellschaftlicher Transformati-
on sprechen wir, wenn die konkreten Problemlösungen außer dem Aspekt, das Problem zum
Schwinden zu bringen, zugleich den Aspekt berücksichtigen, eine zukünftige bessere Gesell-
schaftsordnung hervorzubringen. Die Passivität vor dem Anspruch des Zukünftig, wie er vom
meist konservativen Evolutionismus verlangt wird, und die Aktivität, die nicht mehr hoffen kann,
sondern das Ziel der Erwartungen gewaltsam herbeizwingt, die den revolutionären Geist kenn-
zeichnen, sind von solchem christlichen Transformismus gleich weit entfernt. Der Evolutionismus,
weil er nicht aktiv hofft, und der Revolutionismus, weil er nicht aktiv hofft, sondern ungeduldig
und gewalttätig handelt.
Die frühe Kirche des Hoffens entwarf sich auf die kommende Herrschaft der Liebe, die alle Men-
schen umgreift. Die Gegenwart des allmächtigen und allgegenwärtigen römischen Staats wurde
als Manifestation des Widerchristlichen empfunden. Und ihn galt es zu transformieren - nach Be-
wußtsein und Sein zu überwinden. Das Christentum verhieß und bewirkte das Ende einer als be-
drängend empfundenen Periode und wollte einen neuen Anfang setzen. Ein Zeitalter, das, zumin-
dest in der Metropole des römischen Weltreiches, durch politische und ökonomische Saturiertheit
von Langeweile und Überdruß, von Aufklärung und Aberglaube, von Furcht (Vergil: »perpetua
formido«) und Lust heimgesucht wurde, befand sich in einer radikalen Identitätskrise. An der Pe-
ripherie des Reichs träumten manche Völker von Eigenständigkeit - so auch die Juden. Das geisti-
ge Klima war hier ausgesprochen vorrevolutionär. Und da kam das Christentum und verkündigte
die Loslösung von der Gegenwart zugunsten eines großen Hoffens auf Glück und Frieden, lehrte
die universelle Liebe jenseits alles Hassens und jeder Verachtung, behauptete den elitären Charak-
ter der Armen und Schwachen, der Verachteten und Ausgebeuteten und verkündete ein Reich der
Freiheit.
Das transformistische Bewußtsein der frühen Christen scheint erst in Rom voll aufgewacht zu sein
- obschon die Lehre Jesu eine Menge transformierenden Materials bereit hält.
Immerhin brauchte die christliche Kirche etwa 100 Jahre, um ihre Identifikationsproblematik zu
lösen (Kanon eigener heiliger Schriften; eigenes Glaubensbekenntnis). Bis dahin blieb sie oft in der
Synagoge aufgehoben. Nicht ohne manche Eigenheiten der Synagoge (etwa die Rolle des Kults
oder der »Schriftgelehrten und Pharisäer«) übernommen zu haben. Immerhin waren die Jahre von
70 (Zerstörung Jerusalems) bis 313 (Zirkularreskript Konstantins) Jahre des Wegs ins Christen-
tum.
311 (Toleranzedikt Konstantins, das dem Christentum eine gleichberechtigte Rolle im Reich ga-
rantierte) machte der Kaiser diese revolutionäre Bewegung als revolutionäre unerheblich. Er insti-
tutionalisierte sie.
Damit begann die zweite Epoche der Geschichte des Christentums. Und auch sie war eine Phase
der Wege ins Christentum hinein. Das Christentum wandelte sich von einer transformistischen
Handlungsgemeinschaft zu einer Kultgemeinschaft, in deren Mittelpunkt die Kirche mit ihren reli-
giösen (etwa Sakramenten), aber auch politischen Aktivitäten stand. Es gelang ihr, im römischen
Reich ihr Gottesgnadentum allgemein überzeugend darzulegen und eventuellen Widerspruch der
auftauchenden Ketzer und Ketzereien durch religiöse und politische Maßnahmen niederzuhalten.
Christentum wurde zu etwas Selbstverständlichem - ein religiöses und politisches Apriori Europas
(und später auch Amerikas). Sicher gab es Krisen um Einheit und rechte Lehre - aber die waren
selten so radikal, daß sie die Chancen des kirchlichen Christentums ernsthaft gefährdeten. Das
Christentum war zu dem Ordnungsfaktor schlechthin geworden. Und Menschen waren mit großer
Selbstverständlichkeit Christen - nicht im Handeln unbedingt - wohl aber in ihrem Zugehörigkeits-
bewußtsein zu einer der Kirchen.
Erst der 30-jährige Krieg (1618-1648)zerstörte nachhaltig und endgültig die großen politischen
und religiösen Ordnungsfaktoren des europäischen Mittelalters. Als gut 140 Jahre nach Ende des
großen Krieges (1789) die Französische Revolution ausbrach, wurde bewußt, daß Aufklärung und
Hunger, Kriege und Individualismus dem Christentum seine Ordnungsfunktion genommen hatten
- nach Sein und Bewußtsein.
Damit beginnt die dritte Epoche in der Geschichte des Christentums, die der Tradition. Die Kir-
chen verstehen sich nicht mehr primär als Ordnungsfaktoren (obschon sie auch heute noch gele-
gentlich davon träumen), sondern als Institute zur Bewahrung christlicher Tradition. Sie sollen die
Einheit mit dem Ursprung wahren. Von der Zukunft (im Zeitalter der Revolution) richtet die Kir-
che ihren Blick vornehmlich in die Vergangenheit (Zeitalter der Tradition). Diese Rückwendung
hat geistesgeschichtlich keineswegs nur negative Folgen. Das lebhafte Interesse für die Heiligen
Schriften etwa ist heute zur Grundlage eines lebendigen Christentums geworden. Doch allgemein
gesehen ist dieser Trend zur Tradition nicht unproblematisch. Er impliziert unter anderem folgen-
de Gefahren:
• Rückzug der Kirche aus dem konkreten politischen und ökonomischen Leben und damit ver-
bunden - Ablösung religiöser Praxis von politischer, ökonomischer…
• Ungleichzeitigkeit kirchlicher Aktivität, die die Kirche Fragen beantworten und Probleme lösen
läßt, die niemand hat.
• Überschlagen des kirchlichen Traditionalismus auf den individuellen, so daß sich etwa Traditi-
onalisten als Hüter der Jesusbotschaft wähnen.
• Anbiederung von politischen konservativen Richtungen an die Kirche (Übernahme von »Christ-
lich« in Parteinamen konservativer Parteien).
• Übertragung von Traditionalismus auf Konservatismus im offiziellen Denken der Kirche.
Diese Gefahren sind keineswegs abstrakt. Und weil es so ist, kam es seit den Tagen der Französi-
schen Revolution zu einem gewaltigen Auszug aus Kirche und Christentum. Dabei ist sehr zu be-
denken, daß beide Auszüge keineswegs parallel laufen. Es gibt heute erhebliche Strömungen au-
ßerkirchlichen Christentums (Auszug also aus den Kirchen) und außerchristlicher Kirchlichkeit
(Auszug aus dem Christentum).
In den letzten Jahrzehnten - in der katholischen Kirche offenbar geworden durch das 2. Vatikani-
sche Konzil - scheint eine vierte Epoche des Christentums zu beginnen - wenn uns die Gegenwart
dieses Prozesses nicht historisch blind macht. Es ist das eine gewisse Renaissance der ersten Pha-
se, der religiös revolutionären also. Christentum beginnt sich oft selbst wieder als Hoffnung
auszulegen. Mit der Französischen Revolution wurde (ganz außerchristlich) ein jüdischer
säkularisierter Messianismus wach (der sich u. a. im frühen Marxismus deutlich artikulierte). Von
hierher erhielt auch das Christentum neue Fruchtbarkeit. Aber viele Fragen sind noch nicht zu
beantworten. Hierher gehören:
• Wird das neue Christentum zu einer Massenbewegung werden, die die Menschheit vom Rand
des Abgrundes wegreißen kann?
• Welche Rollen werden die Kirchen in diesem und für dieses neue Christentum spielen?
• Wird dieses neue Christentum sich historisch (wenn auch nicht institutionell) konfliktfrei in die
Geschicke und die Geschichte des Christentums einfügen?
Doch soll hier vor einem Mißverständnis gewarnt werden: »Neu« meint hier nicht ein »anderes«
Christentum, ein Christentum, das seine Tradition verrät. »Neu« meint ein Christentum, das seine
Tradition weiterführt in eine vierte Epoche seiner Geschichte.
Ich vermute, daß dieses Christentum eines ist, in das wieder Wege hineinführen - und nicht bloß
eines, aus dem, in einer Art Einbahnstraßenverkehr, Menschen Wege ins Außen finden. Wie wird
dieses Christentum aussehen müssen?
• Es wird Fragen gegenwärtiger Menschen beantworten, die die Fragen, die sie stellen dürfen,
nicht von einer Kirche vorgesprochen erhalten.
• Es wird eine Sprache sprechen müssen, die sich von der der Theologie überkommener (vor al-
lem auch der dritten) Epochen vollständig ablöst.
• Es wird intensiv auf die Jesusbotschaft reflektieren.
• Es wird wieder das Hoffen und nicht das Haben, das Lieben und nicht das Besitzen, den Frie-
den und nicht den Schutz in den Mittelpunkt seines Interesses stellen.
• Es wird sich nicht primär kultisch-kirchlich, sondern als Handlungsgemeinschaft verstehen (das
impliziert vielleicht ein neues Reflektieren über Kirchlichkeit).
• Es wird sich den Verstoßenen der Gesellschaft zuwenden, ohne sich von bestehenden Gesell-
schaften (seien sie soziale, kulturelle, politische, ökonomische) absorbieren zu lassen und in
dieser Negation der Negation (= der Kampf gegen das Übel) politisch werden.
Über dieses Christentum werde ich in Folgendem handeln. Es ist vielleicht recht unansehnlich -
verglichen mit den großen theologischen Entwürfen eines K. Rahner oder G. Ebeling, eines H.
Küng oder E. Jüngel. Immerhin mag es in seiner relativen Bescheidenheit einen Weg ins Christen-
tum zeigen, der auch für Menschen gangbar ist, die weniger etwas mit Theologie als mit der Ver-
wirklichung der Jesusbotschaft im Sinne haben.

2. Quellen des europäischen Christentums


Das Christentum, wie es uns heute begegnet, hat sehr verschiedene Quellen. Sicherlich begründet
es seinen Ursprung in Jesus von Nazaret, der gekreuzigt wurde und nach dem Glauben seiner
Jünger auferstanden ist (wennschon uns die historischen Ereignisse, die sie zu solchem Glauben
brachten, dunkel und mehrdeutig sein mögen). Zudem gab es Elemente in Jesu Wort und Leben,
die seine Apostel dazu brachten, ihn spätestens 20 Jahre nach seinem Sterben als Gottes Sohn zu
ehren - und das in einer Weise, die durchaus verschieden war von den Ehrungen, die im religiösen
Umfeld Gottessöhnen zuteil wurde.
Dieses Christentum entwickelte seine Dogmatik in der Begegnung mit der antiken Philosophie. Es
war sicherlich kein leichtes Unterfangen, die für hellenische Ohren horrende Botschaft vom ge-
storbenen und auferstandenen Judengott in profane Begriffe zu bringen. Und es darf nicht wun-
dern, daß dabei die Jesusbotschaft eine etwas einseitige Ausrichtung erfuhr, denn keineswegs ist
in allen Sprachen und allen Philosophien alles ausdrückbar, selbst wenn die Christen im Griechi-
schen sprachdehnend und sprachschöpferisch tätig wurden. Besonders hilfreich erwies sich die
Philosophie des Aristoteles, der einen für unsere Vorstellungen merkwürdigen und überflüssigen,
aber historisch recht fruchtbaren Gedanken hatte: Er erfand die »metaphysischen Seinsprinzipien«,
das sind reale Strukturelemente, aus denen sich ein Existierendes »metaphysisch« aber real auf-
baut. Heute könnte man solche Strukturbeschreibungen für ausgesprochen modern halten, wenn
die Strukturelemente nicht metaphysisch, also jeder Erfahrung unzugänglich wären. Sie sind nach
Aristoteles die »inneren Ursachen« eines Dings.
Mit diesem Instrumentar konnte die Theologie der ersten fünf Jahrhunderte auf der einen Seite
monotheistisch bleiben und auf der anderen Seite Jesus wahre Göttlichkeit zusprechen. Begriffe
wie »Wesen«, »Natur«, bezeichnen solche aristotelische metaphysische Prinzipien. Und ihre
sprachliche Beherrschung erlaubte es zu sagen, Jesus sei »eines Wesens mit dem Vater« - und in
seiner Person seien zwei Naturen unvermischt, aber untrennbar miteinander geeint. Da die Plato-
niker unter den frühen Christen nichts mit solchen merkwürdigen Gebilden wie metaphysischen
Prinzipien anfangen konnten, nahmen sie Worte wie »Wesen« oder »Natur« als Worte für reale
physische Gegebenheiten. Und so kam es denn notwendig zum Krach - der übrigens auch heute
noch nicht beigelegt ist.
Daß die Christen beim Übergang in den hellenischen Kulturraum ihr Christentum in den Denkka-
tegorien der griechischen Philosophie reflektierten und zur Sprache brachten, zeugt von der Le-
benstüchtigkeit der christlichen Lehre. Solche Reflexion ist nicht etwa zu verwechseln mit »Helle-
nisierung«. Das Christentum ist kein Geschöpf, das der griechische Geist in der Begegnung mit
den Jesusberichten zeugte. Ein Beispiel für die Sperrigkeit des Christentums, für die Unmöglich-
keit, es vollständig in griechisch-philosophischen Kategorien zu reflektieren, ist die schon erwähn-
te Bildung neuer Begriffe. So wurde der Begriff »hypóstasis« (»Person«) eigens neu definiert, um
Christentum griechisch verständlich machen zu können. Aber damit sind zugleich zwei wichtige
Fragen gestellt:
• Gelang dem Christentum wirklich eine Inkulturation in das griechische Denken, oder kam es
bei dem Transfer vom Semitischen ins Indoeuropäische letztlich nur zu einer Übernahme von
Dogma, Recht und Kult? Ist das Christentum nicht letztlich doch ein Fremdkörper geblieben,
so daß ein Wesentliches des Christlichen: eine Neuorientierung des Handelns, des Umgehens
mit anderen Menschen, im Transfer verlorenging? Wäre eine vollständigere Hellenisierung
nicht wünschenswert gewesen?
• Ist es heute noch erlaubt, Christentum in Kategorien zu reflektieren, die den heutigen Men-
schen extrem fremd sind? Bedeutet heute Inkulturation des Christentums nicht unbedingten
Verzicht auf Reflexionsmuster, die unverständlich sind, und die Mühe, neue Begriffe zu finden
und eine neue Sprache zu entwickeln, in deren Horizont Christentum leben und sich entfalten
kann?
Weil sie uns noch verschiedentlich beschäftigen wird, sei hier eine Unterscheidung etwas ausge-
führt, die mir für eine rechte Interpretation des Christentums wichtig zu sein scheint: die Unter-
scheidung zwischen ontologisch und funktional. Sicher ist diese Scheidung nicht ganz adäquat,
denn man kann sich sehr wohl eine funktionale Ontologie vorstellen - doch ich will hier die beiden
Begriffe eher in ihrem klassischen Verständnis übernehmen:
Ontologisch wird dann bedeuten, daß etwas recht wesentlich verstanden wird - etwa aus (ontolo-
gischen) Prinzipien aufgebaut (Sein und Wesen, Substanz und Akzidenz). Die Ontologie betrach-
tet das Sein des Seienden. Der Funktionalismus dagegen sieht die Funktion des Seienden. Er ver-
steht es von seinen Funktionen, seinem Funktionieren her. Oft gar wird er es mit seinen Funktio-
nen gleichsetzen (also ohne »ontologischen Rest« verstehen).
Die funktionale Betrachtung hat den Vorteil, konkretes Geschehen beschreiben und erfassen zu
können. Da Christentum nicht eigentlich der Versuch ist, der Ontologie des Göttlichen auf die
Spur zu kommen, sondern das Geschehen zwischen Gott und Mensch und Mensch und Gott und
Mensch und Mensch zu erfassen und - gegebenenfalls - zu ändern, scheint eine funktionale Be-
trachtung einer ontologischen vorzuziehen zu sein. Ich werde sie jedenfalls bevorzugen.
Das bedeutet, daß ich »klassische« theologische Darstellungen in diesem Buch im allgemeinen
vermeiden werde, da sie nicht selten auf der Ebene einer entwickelten Ontologie geschehen. Ganz
davon abzusehen, erscheint jedoch kaum möglich, da bestimmte theologische Denkmuster ins all-
gemeine christliche Bewußtsein eingingen und sein Selbstverständnis prägten und prägen.
Doch nun zurück zu einer zweiten Quelle des konkret verfaßten Christentums.
Mehr noch als die Begegnung mit der griechischen Philosophie wurde das Christentum geprägt in
seinem bis ins Heute reichenden Selbstverständnis durch die durchaus gutgemeinten Praktiken ei-
nes Mannes, der Kaiser war: Konstantin. Weil diese Konstantinsche Ära eine der erheblichsten
Weichenstellungen für das Christentum wurde, müssen ihr einige Worte gewidmet werden.
Es begann im Herbst 312. Konstantin verließ mit einem mittelstarken Heer Germanien, das er mit
Mühe und Not befriedet hatte, und zog über die Alpen. Maxentius, Sohn des Maximinian, des
Mitkaisers des Diokletian, machte ihm den Weg recht beschwerlich. Ein Scharmützel folgte dem
andern. Doch Konstantin ließ sich auf dem Weg nach Rom nicht aufhalten. Irgendwo auf diesem
kriegerischen Zug geschah dann etwas, das den Kaiser stark prägte. Er hatte eine Vision. Das war
nun dem Konstantin nichts Neues, so war ihm ein paar Jahre zuvor der Sonnengott Apollo er-
schienen. Doch diese neue Vision hatte es in sich. Der griechische Kirchenschriftsteller Eusebius
(† 339) berichtet:
Er rief zu Gott mit ernsten Gebeten, er möge ihm offenbaren, wer er sei; er möge ihm seine hel-
fende Hand zu dem gefährlichen Unternehmen leihen. Während er noch betete, erschien ihm ein
außerordentlich wunderbares Zeichen am Himmel. Er versicherte, er habe gegen Mittag mit eige-
nen Augen am Himmel ein Kreuz aus Licht gesehen, das über der Sonne schwebte, und es habe
die Inschrift getragen: »In diesem Zeichen siege!« Über diese göttliche Erscheinung habe ihn und
das ganze Heer, das ebenfalls Zeuge des Wunders gewesen sei, Staunen ergriffen.
In der folgenden Nacht, so behauptete Konstantin, sei ihm Jesus erschienen und habe ihm aufge-
tragen, das geschaute Emblem nachzuahmen und in der kommenden Entscheidungsschlacht als
Standarte mitzuführen. Konstantin tat jedenfalls eben dieses. Kaiser und Heer standen nun - sicht-
bar für alle - unter dem Schutz des Christengottes.
Ungefähr drei Kilometer nördlich der römischen Stadtmauern, überquert die Via Flamina den Ti-
ber über die Milvische Brücke. Am 28. Oktober 312 kam Konstantin hier an. Sofort eröffnete er
den Kampf gegen das Heer des Maxentius, das völlig besiegt wurde. Maxentius selbst ertrank im
Tiber. Am nächsten Tag zog Konstantin als unbestrittener Herrscher über das Westreich durch die
Porta Flamina in Rom ein, von Volk und Senat jubelnd begrüßt.
Konstantin war der Überzeugung, er verdanke diesen Sieg über ein überlegenes Heer dem Chris-
tengott. So kam es dann dazu, daß er zusammen mit Licinius, dem Cäsar über die Balkanprovin-
zen des Reichs, 313 zu Mailand dekretierte:
Wir haben uns entschlossen, den Christen und allen anderen die Freiheit zu geben, der Religion zu
folgen, die sie wünschen, damit auf dem himmlischen Throne das göttliche Wesen - welches es
auch sein mag - Uns und allen Menschen, die Unserer Herrschaft unterstehen, gnädig und gewo-
gen sein möge.
Damit war das Christentum zur gleichen Würde aufgerückt wie der Midras-Kult und die Vereh-
rung der Unbesiegten Sonne (»Sol invictus«). Doch praktisch wurde die juristische Gleichstellung
durch das Toleranzedikt von Mailand durch die Praxis Konstantins weit übertroffen.
• Die Kirchen wurden als juristische Personen anerkannt, durften Stiftungen erhalten und ihr Ei-
gentum selbständig verwalten.
• Die Entscheidungen der Bischöfe hatten im profanen Rechtsbereich die dieselbe Rechtskraft
wie die staatlicher Gerichte.
• Die Freiheit zu »heidnischen Opfern« wurde beschränkt, manche heidnischen Tempel wurden
geschlossen, ihr Vermögen eingezogen.
• Konstantin und die kaiserliche Familie unterstützten die Kirchen im ganzen Reich sehr großzü-
gig.
• Konstantin setzte seine mit dem Kaisertum verbundene Position des Pontifex maximus (des
obersten Priesters) ein, massiv auch in inneren Angelegenheiten der Kirche tätig zu werden: Er
schlichtete den Streit mit den Donatisten (314), berief ein Konzil und präsidierte ihm. An-
schließend setzte er mit seinen Machtmitteln die ihm genehmen Beschlüsse durch.
Und das alles tat er, ohne getaufter Christ zu sein. Erst unmittelbar vor seinem Tod empfing er die
Taufe. Es wäre aber falsch, diese Favorisierung des Christentums als bloßen politischen Schach-
zug zu werten. Man wird sehr wohl annehmen müssen, daß er mit dem Herzen, wenn auch nicht
immer mit der Hand oder dem Hirn, Christ war. So gründete er das alte Byzanz als Konstantino-
pel (330) neu - und zwar als erste christliche Stadt mit vielen Kirchen und ohne Tempel. Als Kon-
stantin Pfingsten 337 frisch getauft starb, war er der Überzeugung, im Reich eine tragfähige
Struktur aufgebaut zu haben - und ihm eine neue Hauptstadt sowie eine neue Religion gegeben zu
haben.
Konstantin wies die Kirche auf den Weg zur Macht. Ohne die Kirche als Machtfaktor ist die Ge-
schichte Europas nicht zu denken, ist aber auch heute Kirche nicht zu verstehen. Aus einer ver-
folgten Minorität meist sozial Schwacher, wurde eine selbstbewußte und starke Majorität, in der
die sozial Starken das Sagen hatten. Die Bischöfe wurden zu führenden Bürgern - Adeligen im
Rang gleich. Reichtum, Macht und ein umfassendes Kommunikationsnetz standen zur Verfügung.
Der für die Religionspolitik des Römischen Reichs so wichtige Titel des Pontifex maximus ging
zunehmend auf den römischen Bischof über, der sich dieses Ordnungsamtes nicht selten in der
Manier der Kaiser bediente. Schon gegen Ende des vierten Jahrhunderts predigte Ambrosius, Bi-
schof von Mailand, daß der Kaiser in der Kirche, nicht aber über ihr stehe. Er zwang den Kaiser
Theodosius, von ihm in der Kathedrale zu Mailand öffentlich die Absolution zu erbitten.
Die weltliche Macht der Päpste war unter Gregor I. († 604) fest etabliert. Sie machten große Poli-
tik. Und es war ein jahrhundertelanger Zwist, wer denn über wem stehe. Nicht selten setzten sich
Päpste gegen Kaiser durch.
Nun könnte man meinen, dieser Sieg der Kirche liege in der Dynamik des Christentums und seiner
alle überzeugenden Wahrheit begründet. Daß diese Meinung irrig ist, lehrt ein kurzer Blick auf die
Landkarte. Überall wo das Christentum nicht unter dem kaiserlichen Schutz gedieh, blieb es bis
heute die Religion einer kleinen bescheidenen Gruppe sozial Unterprivilegierter. Etwa in Persien
oder Indien.
Wir wollen also nicht vergessen: Das Christentum, wie es uns heute begegnet, ist - zumindest in
den Formen, in denen es durch Kirchen repräsentiert wird - weitgehend von griechischem Geist
und römischem politischen Bewußtsein geprägt. Darüber könnte man mitunter den Gründer ver-
gessen, jenen bescheidenen Mann, der da einmal im Judenreich lebte, predigte und heilte, vermut-
lich nie den Namen des Aristoteles gehört hat und der römischen Gewaltpolitik eher skeptisch ge-
genüberstand, keinesfalls aber mit beiden - mit Philosophie und Politik - gemeinsame Sache mach-
te.

3. Jesus von Nazaret


Jesus von Nazaret ist der Begründer des Christentums, wenngleich keineswegs alles, dem wir heu-
te unter dem Etikett »christlich« begegnen, auf ihn zurückgeht oder auch nur entfernt auf ihn zu-
rückführbar wäre. Das Wort »christlich« kann auf mancherlei Weise ge- und mißbraucht werden,
ohne daß man dafür jenen Mann aus Nazaret in Anspruch nehmen kann, der vor gut 1950 Jahren
von den Römern in Jerusalem hingerichtet wurde, dann aber unter verschiedenen Gestalten seinen
Jüngern das Wissen vermittelte, er lebe.
Die Geschichte Jesu kennt konsequent also zwei Phasen - einmal die des allen seinen Zeitgenossen
eindeutig und zweifelsfrei erfahrbaren Jesus von Nazaret und zum anderen die des nach seinem
Tod von seinen Jüngern als lebend Erfahrenen. Die Geschichte des Auferstandenen ist die Ge-
schichte des Christentums - aus Jesus von Nazaret wurde der Christus einer Glaubensgemein-
schaft. Deren Glauben selektierte die Ereignisse und Worte des historischen Jesus und ließ, von
speziellem Interesse gelenkt, neue erkennen. Alle Schreiben der frühen Christen sind Darstellun-
gen über den auferstandenen Jesus, aus denen nur mit Mühe und unter Gefahr des Irrens das Ge-
sicht des historischen Jesus erkennbar ist. Wie bei allen großen Menschen rief auch das Leben Je-
su, seine Taten und Worte eine Menge von Leuten auf den Plan, die sie ausschmückte und weiter-
führte. Einer solchen frühen Weiterführung begegnen wir etwa im vierten Evangelium (dem »Jo-
hannes-Evangelium«), das, nur 20 oder 30 Jahre nach den anderen Evangelien komponiert, doch
ein sehr gewandeltes Jesusbild vorstellt, welches aber von der Gemeinde akzeptiert wurde. Offen-
sichtlich brachten auch die mehr als 40 Jahre, die zwischen dem Tod Jesu und den frühen Evange-
lien liegen, eine erhebliche Wandlung des Jesusbildes. Trotz dieser durch kommunikative Phan-
tombildung schwierigen Quellenlage will ich beginnen mit einer Darstellung des Jesus von Naza-
ret, ihr soll folgen eine Darstellung der Entwicklung der Christologie der frühen Christen.

a) Jesus von Nazaret


Das Christentum ist keine Schriftreligion wie das Judentum oder der Islam, die ihre Identität aus
dem Bekenntnis zum geschriebenen Wort beziehen. Das Christentum gründet seine Identität, sein
Selbstbewußtsein aus der Orientierung an seinem Stifter, Jesus von Nazaret. In seine frühen
schriftlichen Zeugnisse gehen ein sowohl Leben und Lehre des Stifters, als auch die Sehnsucht der
Menschen ihrer Zeit.
Sieht man einmal von den Briefen des Paulus von Tarsus ab, der zwischen 50 und 56 vor allem
von Ephesus aus eine rege briefschriftstellerische Tätigkeit entwickelte, begannen Christen erst in
Zusammenhang mit der Zerstörung Jerusalems (70), wohl auch wegen der Enttäuschung, daß Je-
sus nicht wiederkam, umfassende schriftliche Fassungen der Botschaft von Leben und Lehre Je-
sus: In Rom erschien (um 70) das Markusevangelium, in Syrien das Matthäusevangelium (um 80)
und etwas später das Lukasevangelium in Großgriechenland. Diese Evangelien lösten die mündli-
che und erste schriftliche Tradition der christlichen Gemeinden (vor allem der jerusalemischen) ab.
Zweifelsfrei sind es aber keine Geschichtsbücher. Ihr Interesse ist nicht eine historische oder auch
nur historisch einwandfreie Darstellung des Lebens und der Lehre Jesu, sondern der Versuch, ihn
als Messias, ja als den von den Toten auferstandenen Gottessohn darzustellen und den Gemeinden
zu vermitteln.
Dennoch sind diese Evangelien die wichtigste Quelle für die historische Erkenntnis über Jesus.
Zeitgenössische Quellen gibt es nicht. Erstmalig wird sein Name schriftlich überliefert im paulini-
schen 1. Thessalonicherbrief (bald nach 50). In den zwanzig Jahren, die dieses Schreiben vom To-
de Jesu trennt, ist offenbar einiges geschehen mit dem Christentum:
• in Mazedonien und Achaia entstanden Heidenchristen-Gemeinden (das Christentum hatte sich
also aus der jerusalemischen Enge gelöst),
• der Glaube an die Auferstehung Jesu und die Erwartung seiner Wiederkunft zum Gericht sind
zentrale Glaubensaussagen der Gemeinde geworden,
• die Botschaft von Jesus wurde als Gotteswort verstanden,
• die »Juden« werden abgelehnt. [»Die Juden haben sogar Jesus den Herrn, und die Propheten
getötet; auch uns haben sie verfolgt. Sie mißfallen Gott und sind Feinde aller Menschen.«
(2.15)]
• Unzucht und Betrug des Glaubensbruders werden als unchristliches Verhalten und die Bruder-
liebe als Kern christlichen Lebens verstanden,
• der Glaube an die persönliche Auferstehung wird schon in Spezifikationen diskutiert (ob die
bereits Verstorbenen an der nahe erwarteten Widerkunft Jesus teilhaben werden),
• die Überzeugung war allgemein verbreitet, die Wiederkunft Jesu noch zu erleben.
Dieser Naherwartung (des kommenden Jesus) wegen, erschien auch den frühen Christen eine
schriftliche Fixierung ihrer religiösen Tradition unnötig. Erst als sich herausstellte, daß mit dem
Schleifen Jerusalems immer noch nicht das Ende dieser Welt gekommen war, mußte die Tradition
in ihrem Entwicklungs- und Reflexionsstand der Jahre 70 bis 80 schriftlich fixiert werden.
So ist denn das historisch einwandfreie Zeugnis vom Leben und Lehren Jesu so dürftig, daß si-
cherlich keine von kommunikativen Phantomen freie Biographie verfaßt werden kann.
Erst recht gilt das für die nichtchristlichen Quellen. Im Werk des jüdischen Historikers Flavius
Joesephus findet sich eine Passage über den Messias Jesus und seine Auferstehung (Antiquitates
18, 63f). Doch diese ist wahrscheinlich ein späterer (christlicher) Einschub. Eine Namenserwäh-
nung (ebd. 20, 200) »Jesus der sogenannte Christus« scheint dagegen echt zu sein. Tacitus fügt in
seinem Bericht vom Brand Roms (64) zur Beschuldigung der Chrestianer hinzu: »Der Urheber ih-
res Namens, Christus, war unter Kaiser Tiberius durch den Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet
worden« (Annalen 15, 44). Er gibt damit die zu Beginn des 2. Jahrhunderts in Rom verbreitete
Überzeugung wieder. Selten erwähnt auch der Talmud Jesus. Er setzt die Hinrichtung des »Zau-
berers« voraus.
Kehren wir also zu den synoptischen Evangelien zurück. Ihnen liegen vorliterarische Einheiten
zugrunde (Herrenworte, Apophtegmata), die jedoch schon in einer nicht-kontrollierbaren und
nicht reproduzierbaren Weise einem gemeindlichen Formungsprozeß unterworfen wurden, der
durchaus auch den Erzählstoff erreicht. Die Gemeinde sah Jesus nicht primär im Lichte der histo-
rischen Erfahrung, sondern der nach-österlichen Eigenerfahrung, in der die »Begegnungen mit
dem Auferstandenen« offenbar eine wichtige Rolle gespielt haben. Die Überzeugung, daß Jesus
lebe, war wichtiger als die Kenntnis des Jesus, der einmal gelebt hatte. Jesus war nicht erststellig
ein geschichtliches (= vergangenes) Ereignis, sondern existentielle Gegenwart [in Gemeinde, in
seinem Wort und Kult (vor allem der Eucharistie)]. Aus diesem Erleben wurden die Evangelien
gestaltet. Dennoch wird man einige Fakten des Lebens und der Lehre Jesu erheben können, die
kaum bestreitbar sind:
• Jesus stammt vermutlich aus dem kleinen galiläischen Ort Nazaret.
• Seine Familie rechnete sich zum »Hause Davids«.
• Sein Vater (Pflegevater) war Zimmermann.
• Seine Mutter Maria und seine »Brüder« lehnten sein öffentliches Auftreten ab, gehörten aber
nach Ostern zu seiner Gemeinde.
• Jesus war vermutlich nicht Zimmermann. Er besaß rabbinische Bildung, ohne Rabbinenschüler
zu sein.
• Ließ sich von Johannes, einem der Wahrscheinlich ließ er sich durch Johannes, einem vermut-
lich der Gemeinde von Qumran nahestehender Bußprediger, taufen.
• Während seiner öffentlichen Tätigkeit zog Jesus ohne festen Wohnsitz hauptsächlich in Galiläa
herum.
• Er scharte eine Gruppe von Jüngern um sich.
• Er lehrte nicht nur, sondern heilte auch Kranke.
• Er suchte Gemeinschaft mit Menschen, die von anderen verachtet wurden.
• Vermutlich wurde er vom Sanhedrin, das unter erheblichem Druck der Priesterhierarchie stand,
als politisch gefährlich den Römern zur Hinrichtung übergeben.
• Pilatus verurteilte ihn zur römischen Kreuzigungsstrafe.
• Schon bald nach seinem Tode setzte sich bei seinen Jüngern (und einigen anderen) die uner-
schütterliche Überzeugung durch, Jesus sei von den Toten auferstanden und ihnen unter verän-
derten Gestalten erschienen und lebe als Herrscher der Endzeit bei Gott. Welche historischen
Ereignisse dieser Überzeugung zugrunde liegen, ist nicht mehr mit letzter Sicherheit auszuma-
chen.
Die geschichtliche Frage nach dem Selbstverständnis Jesu ist außerordentlich umstritten. Die
christliche Gemeinde legt ihm, nach Zeugnis der Evangelien, Eigenattribute wie »Gottessohn«,
»Messias«, »Menschensohn« nahe. Es ist aber unwahrscheinlich, daß Jesus sich selbst Gottessohn
nannte. Den Messiastitel hat er bestenfalls unter Vorbehalten akzeptiert. Den im Aramäischen
nicht eindeutigen Titel »Menschensohn« hat Jesus vermutlich für sich in Anspruch genommen.
Mit dieser verhallenden Würdebezeichnung verstand er sich wohl als Gesandten Gottes und wollte
sich als dieser zu erkennen geben.

b) Jesus Christus
Wennschon uns der Weg zum Selbstverständnis Jesu nicht einfach ist, erscheint er doch verändert
durch den enthusiastischen Glauben der frühen Gemeinde, ist aber als ziemlich sicher auszuma-
chen, daß er sich als Gesandter Gottes verstand, der zu Gott, seinem Vater, ein spezifisches, von
allen Menschen unterschiedenes Verhältnis unterhielt. Verfolgt man die von der Urkirche ver-
wandten Würdetitel, die sie Jesus zusprach, wird man beobachten, daß sie im Laufe der Jahrzehn-
te nach Jesu Tod an Dichte und Menge zunehmen. Jesus dürfte vermutlich keinen Würdetitel für
sich selbst in Anspruch genommen haben - außer vielleicht: »Menschensohn«.
»Menschensohn« ist ursprünglich ein Hebraismus für »Mensch«. So wird er in den Psalmen oder
im Buch Ijob verwandt:

Was ist der Mensch, daß du an ihn denkst,


Des Menschen Sohn, daß du dich seiner annimmst?
Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott,
Hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt. (Ps 8, 5-6)

Wie wäre ein Mensch gerecht vor Gott,


Wie wäre rein der vom Weib Geborene?
Siehe, selbst der Mond glänzt nicht hell,
Die Sterne sind nicht rein in seinen Augen,
Geschweige denn der Mensch, die Made,
Der Menschensohn, der Wurm. (Ijob 25, 4-6)

Die jüdische Apokalyptik, von der nur ein Text in den Kanon der Heiligen Schriften übernommen
wurde (das zur Makkabäerzeit verfaßte Buch Daniel), stellt den Menschensohn messianisch vor
[so das äthiopische Henochbuch (37-71) oder das 4. Buch Esra (13)]. Im Buch Daniel heißt es:

Immer noch hatte ich die nächtlichen Visionen:


Da kam mit den Wolken des Himmels
Einer wie ein Menschensohn.
Er gelangte bis zu dem Hochbetagten
Und wurde vor ihn geführt.
Ihm wurden Herrschaft, Würde und Königtum gegeben.
Alle Völker, Nationen und Sprachen
Müssen ihm dienen.
Seine Herrschaft ist eine ewige, unvergängliche Herrschaft.
Sein Reich geht niemals unter. (7, 13-14)

Die ersten drei Evangelien verwenden die Bezeichnung »Menschensohn« gänzlich unbefangen -
und zwar auch für den noch nicht gestorbenen Jesus. Erst das vierte Evangelium macht »Men-
schensohn« zu einem eindeutig messianischen Ehrennamen:

Wahrlich ich sage euch: Ihr werdet den Himmel geöffnet und die Engel Gottes auf-
und niedersteigen sehen über dem Menschensohn. 1, 51)

Folgen wir dem ältesten Evangelium (dem »Markusevangelium«), dann lassen sich drei Gruppen
von Menschensohnaussagen des vorösterlichen Jesus ausmachen: sie betreffen den wirkenden, den
leidenden und den zukünftigen Jesus.
Von jeder dieser drei Wortverwendungen soll eine Probe gegeben werden:

Ihr sollt aber erkennen, daß der Menschensohn die Vollmacht hat, hier auf Erden
Sünden zu vergeben. Und er (Jesus) sagte zu dem Gelähmten: Ich sage dir, stehe auf.
(2, 10-11a)
Dann begann Jesus sie darüber zu belehren, der Menschensohn müsse vieles erleiden
und von den Ältesten, den Hohepriestern und Schriftgelehrten verworfen werden; er
werde getötet, aber nach drei Tagen werde er auferstehen. (8, 31)

Wer sich vor dieser treulosen und sündigen Generation seiner und meiner Worte
schämt, dessen wird sich auch der Menschensohn schämen, wenn er mit den heiligen
Engeln in der Hoheit seines Vaters kommt. (8, 38)

Ganz offensichtlich wird also »Menschensohn« hier stets als Würdetitel für eine Person verwen-
det, die keineswegs nur Mensch ist, sondern zumindest in Vielem an der Gottheit funktional teil-
hat.
Der Würdetitel »Messias« (oder griechisch: »Christos«) kommt in den neutestamentlichen Schrif-
ten etwa 500mal vor, ist also der häufigste Titel, der Jesus von der frühen Gemeinde zugespro-
chen wurde. Mit ziemlicher Sicherheit hat Jesus den Titel niemals für sich in Anspruch genommen.
Das frühe Markusevangelium (unmittelbar nach der Zerstörung Jerusalems, wohl durch Titus ver-
faßt) läßt Jesus sprechen:

Da wandte sich der Hohepriester nochmals an Jesus und fragte: Bist du der Messias,
der Sohn des Hochgelobten? Jesus sagte: Ich bin es. Und ihr werdet den Menschen-
sohn zur Rechten der Macht sitzen und mit den Wolken des Himmels kommen sehen.
(14, 61b-62)

Aber immer wieder verbietet auch dieser Jesus selbst den Jüngern, ihn Messias (oder Gottes
Sohn) zu nennen:

(Jesus fragte seine Apostel:) Ihr aber, für wen haltet ihr mich? Simon Petrus antworte-
te ihm: Du bist der Messias! Doch er verbot ihnen, mit jemand über ihn zu sprechen.
(8, 29-30)

Wenn die von unreinen Geistern Besessenen ihn sahen, fielen sie vor ihm nieder und
schrien. Du bist der Sohn Gottes! Er aber verbot ihnen streng, bekannt zu machen,
wer er sei. (3, 11-12)

Doch schon Jahrzehnte vor der Niederschrift der Evangelien verwendete Paulus in seinen Briefen
ganz unbefangen messianische Würdetitel für Jesus. In dem bald nach 50 verfaßten Brief an die
Leute in Saloniki, dem ältesten uns erhaltenen schriftlichen Dokument christlichen Glaubens,
schreibt er:

Unablässig erinnern wir uns vor Gott, unserem Vater, an das Wort des Glaubens, an
die Opferbereitschaft unserer Liebe und an die Standhaftigkeit eurer Hoffnung auf Je-
sus Christus unseren Herrn. (1 Thess 1, 4)

Denn man erzählt sich überall, welche Aufnahme wir bei euch gefunden haben und
wie ihr euch von den Götzen zu Gott bekehrt habt, um dem lebendigen und wahren
Gott zu dienen und seinen Sohn vom Himmel her zu erwarten, Jesus, den er von den
Toten auferweckt hat und der uns dem kommenden Gericht Gottes entreißt. (1,9-10)

Denn Gott hat uns nicht für das Gericht seines Zornes bestimmt, sondern dafür, daß
wir durch Jesus Christus, unseren Herrn, das Heil erlangen. (5, 9)
»Christus« war also schon damals zu einer Art Eigennamen geworden, den heute noch viele
Christen gebrauchen.
Die frühe Gemeinde löste sich schon bald von dem jüdischen theozentrischen Hintergrund ab und
dachte christozentrisch. Jesus bekam in der Schöpfungs- und Heilstheologie göttliche Rollen zu-
geschrieben. So zitiert Paulus im Kollosserbrief, den er entweder kurz vor 60 in Cäsarea oder bald
nach 60 in Rom verfaßte, vermutlich einen liturgischen Hymnus der frühen Christengemeinde:

Christus ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes,


Der Erstgeborene der ganzen Schöpfung.
Denn in ihm wurde alles erschaffen
Im Himmel und auf Erden,
Das Sichtbare und das Unsichtbare,
Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten;
Alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen.
Er ist vor aller Schöpfung,
In ihm hat alles Bestand.
Er ist das Haupt des Leibes,
Der Leib aber ist die Kirche.
Er ist der Ursprung,
Der Erstgeborene der Toten,
So hat er in allem den Vorrang.
Denn Gott wollte in seiner ganzen Fülle
In ihm wohnen,
Um durch ihn alles zu versöhnen.
Alles im Himmel und auf Erden
Wollte er zu Christus führen,
Der Friede gestiftet hat am Kreuz durch sein Blut. (1, 15-20)

Offensichtlich konnten die Evangelisten in ihrer Christologie kaum hinter diesen Anspruch zu-
rückgehen. Sie rechtfertigten ihn in der literarischen Gattung der Biographie. Andererseits mag
man aber auch ermessen, wie sehr die Osterereignisse dynamisierend wirkten. Vermutlich war Je-
sus noch keine 30 Jahre tot, als man schon in diesem Hymnus liturgisch von ihm sprach.
Ganz sicher aber hat der praktische Glaube bald den sich historisch vorstellenden Bericht weit ü-
berflügelt. Die Dynamik der Christologie, einmal von Paulus in Gang gesetzt, läßt sich auch in den
kommenden Jahrhunderten nicht stoppen. Mitunter ist es nicht einfach, hinter dem, was manche
Theologen der folgenden Christengenerationen von Jesus ausmachen, auch nur noch Spuren des-
sen zu finden, der heilend und verkündend durch die Städte Israels zog, um in Jerusalem zu ster-
ben.
Da heute in den christlichen Großkirchen jedoch die theologische Reflexion auf das Jesusereignis
einen erheblichen Ort einnimmt und die dogmatischen Aussagen um Jesus viel zu deren Selbstbe-
wußtsein und Selbstverstehen beitragen, kirchliches Christentum also ohne sie nicht verständlich
ist, will ich Ihnen einige Entwicklungslinien der Christologie der ersten Jahrhunderte aufweisen.

c) Jesus, Gottes Sohn


Vielleicht sind manche Christen, als die erste religiöse Begeisterung vorüber war, erschrocken ü-
ber das, was sie aus Jesus gemacht hatten. Jedenfalls meldeten sich bald Gegner an, die in der frü-
hen Christologie einen Abfall vom Monotheismus befürchteten, der sich nach der Rückkehr aus
Babylon doch auch bei den Vielen im Judenreich durchgesetzt hatte. So ging man mitunter vor-
sichtig hinter die paulinische Position zurück. Um eines klaren und offensichtlichen Monotheismus
willen denken gegen Ende des 2. Jahrhunderts manche nicht mehr christologisch, sondern wieder
theologisch. Sie verstehen nicht Gott von Christus her (etwa als seinen Vater), sondern Christus
von Gott her - und ersetzen konsequent ihre christozentrische Religiosität durch eine theozentri-
sche.
• Im 2. Jahrhundert lehrten die Ebioniten Jesus als bloßen Menschen, der, mit himmlischer Kraft
ausgestattet, als Sohn von Gott adoptiert wurde.
• Paulus von Samosata († nach 272) ersetzt die menschliche Seele Jesu durch einen geschaffenen
Logos.
• Arius († 336) lehrt Jesus als Geschöpf, das der Vatergott zum Zweck der Welterschaffung
(und -erlösung) hervorbrachte.
Diese Deutung des Arius wurde in nicht wenigen christlichen Bereichen allgemein akzeptierte
Lehre. Es bedurfte zweier Konzilien, um ihn auf das Christentum einiger germanischer Völker zu-
rückzudrängen. Erst 587 trat der Westgotenkönig Rekkard I. in Toledo vom arianischen zum a-
thansianischen Bekenntnis über.
Athanasios von Alexandria († 373) konnte sich mit seiner Auffassung auf dem 1. allgemeinen
Konzil der christlichen Kirche (325), das Kaiser Konstantin einberief, um die Einheit der christli-
chen Staatsreligion zu sichern, gegen Arius und seinen Anhang durchsetzen. In den Verhandlun-
gen dieses Konzils, dem der Kaiser als Pontifex maximus präsidierte, ging es vor allem um die
Menschheit und Gottheit Jesu. Die Teilnehmer des Konzils einigten sich auf die Aussage, daß Je-
sus Gott wesensgleich (homoousios) und nicht etwa nur wesensähnlich (homoiousios) sei. Was
aber das Wort »Wesen« bedeutet, blieb unklar und wurde von verschiedenen philosophischen
Schulen eher ontologisch oder eher funktional interpretiert. Ein extremer Funktionalismus könnte
etwa behaupten, Jesu Wesen (d. h. jetzt: so wie er sich verhält) ist ganz göttlich: Er liebt etwa
Menschen bedingungslos.
Der Kaiser war mit diesem Resultat keineswegs zufrieden. Den Athanasios, der hartnäckig seine
und des Konzils Auffassung vertrat, schickte er mehrmals in die Verbannung.
Aber auch christologisch war mit dem Beschluß von Nikaia keineswegs alles klar. Vor allem war
nicht das Zusammen und Auseinander des Menschlichen und des Göttlichen in Jesus erklärt. Heu-
te würde uns für solche Probleme des Zusammens und Auseinanders das Instrumentar einer dia-
lektischen Philosophie zur Verfügung stehen. Das war damals nicht so. Obschon Platon im vierten
vorchristlichen Jahrhundert die Grundzüge einer solchen Philosophie dargestellt hatte, war sie
doch methodisch durch den substanz-ontologisch denkenden Aristotelismus überwunden worden.
So galt es denn, eine substanz-ontologische Lösung des Problems zu finden. Da bildeten sich nun
zwei platonisierende Hauptschulen heraus:
• die der Monophysiten, die annahmen, in Jesus sei nur eine Natur, nämlich die göttliche, und
• die der Nestorianer, die annahmen, in Jesus seien zwei Naturen, eine menschliche und eine
göttliche, die substanz-ontologisch nicht miteinander verbunden seien, sondern allenfalls mora-
lisch (etwa nach Würde und Sohnschaft), wie etwa Gatte und Gattin eine Einheit bilden.
Ich will sie, um ihnen gerecht zu werden, getrennt darstellen:

(1) Der Monophysitismus entstand im afrikanischen Alexandrien. Terminologisch stützte man sich
vor allem auf die Schriften des gewalttätigen Cyrill, des Patriarchen von Alexandrien († [@?]), der
Lehre nach vor allem auf Eutyches († nach 451), der ziemlichen Einfluß am kaiserlichen Hofe hat-
te. Eutyches lehrte gegen Nestorius, der Mensch Jesu sei ganz in der Gottheit aufgegangen. Kai-
ser Theodosius II. († 450) berief - in der Tradition des Konstantin - ein allgemeines Konzil nach
Ephesus ein. Unter dem Patriarchen von Alexandrien, Dioskur, fand es 449 statt. Es stellte fest,
Eutyches sei rechtgläubig und die Zwei-Naturen-Lehre des Nestorius verdammenswert.
Nun hatte Papst Leo I. einen Lehrbrief und zwei Legaten zum Konzil geschickt. Diese aber kamen
nicht zu Wort, worüber der Papst erzürnt war. Durch eine Synode ließ er in Rom das Konzil ver-
werfen, das aber im Orient allgemein anerkannt wurde.
Der Nachfolger des Theodosius, Marcian († 457), verhandelte nun mit dem Papst. Das Ergebnis
war das vierte allgemeine Konzil zu Chalcedon (Oktober 451). Der Lehrbrief Leos wurde feierlich
bestätigt, Eutyches und Dioskur mit vielen anderen aus ihren Ämtern entfernt. In Gegenwart des
Kaisers proklamierte das Konzil auf seiner 6. Sitzung am 25. Oktober in aristotelischer Sprache
eine neue christologische Formel:
In Jesus seien zwei Naturen, die menschliche und die göttliche, unvermischt und ungetrennt in der
einen Person des göttlichen Logos vereinigt. Diese Formel schien zunächst vor allem den Mo-
nophysiten unrecht zu geben. Deshalb wurde sie von ihnen auch allgemein als nestorianisch abge-
lehnt.
(2) Der Nestorianismus entstand im kleinasiatischen Antiochia. Inhaltlich und terminologisch
stützte er sich auf die Lehren des Nestorius, der 428 durch kaiserliche Huld Bischof von Konstan-
tinopel geworden war. Er lehrte, in Jesus seien die zwei Naturen vollständig erhalten, und somit in
Jesus auch zwei Personen anwesend, die göttliche und die menschliche. Man könne also nicht sa-
gen, Gott sei Mensch geworden. Er wohne vielmehr nur im Menschen Jesus. Geboren, gelitten
und gestorben, gelte nur für die menschliche Person Jesu. In der Eucharistie sei nur der Mensch
Jesus gegenwärtig.
Wie gesagt, gingen gegen diese Ansicht Cyrill und Eutyches auf die Barrikaden. Sie schien ihnen
arianisch zu sein. 430 bannte Papst Cölestin I. den Nestorius, wenn er nicht widerrufe, woran die-
ser nicht dachte. Auch der kaiserliche Hof stellte sich auf die spekulativ wenig anspruchsvolle Po-
sition des Nestorius ein. 431 rief Kaiser Theodosius II. zum Konzil nach Ephesus, um die Einheit
der Kirche zu sichern. Aber es kam zu einer Spaltung des Konzils selbst in zwei Konzilien. Auf
der einen Seite standen die Afrikaner und die Römer, auf der anderen die Orientalen unter dem
Patriarchen Johannes von Antiochia. Das erste Konzil, das später von den Lateinern und Afrika-
nern zum 3. allgemeinen Konzil gemacht wurde, setzte den Nestorius ab, während das zweite, das
Gegenkonzil, den Cyrill absetzte. Der Kaiser war ziemlich erbost und entließ beide Synoden. Zwei
Jahre später kam es zu einer innerkirchlichen (nicht vom Kaiser über ein Konzil besorgten) Eini-
gung. Johannes hatte eine Glaubensformel entworfen, der Cyrill zustimmte (das »Symbolum von
Ephesus«). 435 wurden die Schriften des Nestorius verurteilt und verbrannt. Nestorius starb 439
im Exil in Ägypten. Die Nestorianer wurden von nun an im Römischen Reich nicht mehr geduldet.
Sie zogen nach Persien und gründeten hier 498 ihre eigene Kirche (»Chaldäische Christen«), mit
einer regen Missionstätigkeit von Indien, Tibet, China bis in die Mongolei.
Die Beschlüsse des Konzils von Chalcedon erschienen - wie gesagt - den meisten Orientalen, weil
sie die aristotelische Terminologie nicht kannten, als häretisch - nestorianisch nämlich. So kam es
zum Widerstand:
• In Palästina meuterten die Mönche. Ihr Aufstand wurde 453 mit Waffengewalt niedergewor-
fen.
• In Alexandrien konnte sich der Patriarch Proterius, der die Glaubensformel des Konzils an-
nahm, nur mit Hilfe von Truppen an der Macht halten. Nach dem Tode Kaiser Marcians wurde
er jedoch ermordet.
• In Antiochien wurde (um 468) Petrus Fullo Patriarch. Er verstand sich als Monophysit. Zwar
wurde er von 471-475 verbannt, konnte dann aber wieder zurückkehren.
Unbeeinträchtigt von diesem Streit blieb eigentlich nur die Kirche von Rom, die sich ziemlich
durchgesetzt hatte und zudem, weniger dem griechischen Geist verpflichtet, pragmatischer funkti-
onierte. Kaiser Basiliskos († 476) befahl, um endlich Ruhe zu haben, allen Bischöfen des oströmi-
schen Reiches, bald nach seinem Regierungsantritt, das Konzil von Chalcedon zu verdammen.
Nur zu gern folgten 500 Bischöfe dieser kaiserlichen Anregung. Doch Frieden war damit noch
lange nicht. Inzwischen waren die Beschlüsse des Konzils von zu vielen auch im Osten internali-
siert worden. Schon ein Jahr später hob der Kaiser das Verbot wieder auf.
Trotz dieses Schachzugs verlor er die Herrschaft über das Ostreich 476 an Zenon. Dieser begüns-
tigte, als er noch Legat war, den monophysitischen Patriarchen Petrus Fullo. Kaiser geworden,
suchte er den Frieden und die Einheit wieder herzustellen. Zunächst übersandte er dem Papst
Simplicius eine katholische Glaubensformel. Dann aber geriet er unter den Einfluß des Acacius
von Konstantinopel und begünstigte den Monophysitismus. 482 vermehrte er den Zwist durch ei-
ne neue Einigungsformel, das »Henotikon«, mit dem weder die strengen Monophysiten überein-
stimmten noch der Papst. In dieser Einigungsformel suchte Zenon, die dogmatische Entwicklung
auf die Beschlüsse des Konzils von Ephesus (431) zurückzudrehen. Durch die Ablehnung des He-
notikon durch den Papst und die Exkommunikation und Absetzung des Acacius kam es zu einem
35 Jahre währenden Schisma zwischen Rom und dem Osten.
Kaiser Justin I. betrieb seit 518 sehr energisch die Wiedervereinigung. Er entfernte viele mo-
nophysistischen Bischöfe in den alten Patriarchaten. Ein Teil von ihnen floh nach Ägypten, um
hier ihren Glauben leben zu können. Doch erst Kaiser Justin II. (565-567) verschärfte die Unter-
drückung der Monophysiten so, daß zumindest im Patriarchat von Konstantinopel eine Art von
orthodoxer Friedhofsruhe einzog.
Doch noch heute bekennen sich syrische, äthiopische, koptische, armenische… Christen zum Mo-
nophysitismus.
Das Tragische an dieser Entwicklung konnte erst eine moderne Dogmenhermeneutik aufweisen.
Es stellte sich heraus, daß die Formeln der Konzilien von Ephesus und Chalcedon Verbalkom-
promisse waren - und daß das Gemeinte kaum von irgendeinem der betroffenen Theologen ernst-
haft in Frage gestellt wurde, wennschon sie verschiedene Akzente setzten. Es war das zum guten
Teil ein Streit um philosophische Terminologien. Der zwischen der platonischen und der aristote-
lischen wurde leider von Nicht-Philosophen ausgetragen. Und so schlug man sich um wenig die
Köpfe wund, mitunter gar ein.
Heute nehmen wir mit guten Gründen an, daß das Konzil von Chalcedon dem Aristotelismus na-
hestand. Dann bedeutet »Natur« das innere Tätigkeitsprinzip eines Dinges und »Person« die In-
stanz, die alle Eigenschaften und Tätigkeiten der Natur auf sich als Subjekt (mit seinen Rechten
und Pflichten, seiner Selbstverantwortung…) zurückbindet. Hätte man das 451 schon gesagt, wä-
re der Kirche die große Trennung vieler Teilkirchen erspart geblieben - und der fade Geschmack,
daß die Rechtgläubigkeit einem Friedenskompromiß des Kaisers zuzuschreiben ist.
Der Streit der nach-arianischen Christologie konnte damals nicht als Streit um Aspekte und Worte
erkannt werden, da Worte sich mit Emotionen verbinden - und einander feindliche und unverein-
bare Emotionen noch niemals einen Kompromiß zuließen. Die Intoleranz der Sprache, in der sich
nicht nur semantische, sondern auch emotionale und soziale Bedeutungen bergen, ist verständlich
in Erkenntnis der Mühen um Identität religiöser Gemeinschaften - verzeihlich ist er für Christen
nicht. Doch mit Basiliskos war die Christologie keineswegs zur Ruhe gekommen.
• Der Monotheletismus behauptete, daß Jesus keinen menschlichen Aktiven Willen gehabt habe,
da dieser der Person und nicht der Natur zukomme. Sergius I., Patriarch zu Konstantinopel,
wollte mit dieser Formel die Einigung mit den Monophysiten erreichen. Aber diese Formel
wurde, obschon ihr auch Papst Honorius nahestand, vom 6. allgemeinen Konzil (680/81) ver-
worfen.
• Der Adoptianismus wurde im 8. Jahrhundert in Spanien wieder vertreten. Elipandus, Bischof
von Toledo, und Felix von Urgel nahmen zwei Sohnschaften an: die göttliche und die mensch-
liche. Als Mensch sei Jesus Adoptivsohn Gottes. Diese Position war nur möglich, weil die Be-
schlüsse des Konzils von Nikaia und Chalcedon funktional und nicht ontologisch interpretiert
wurden. Jetzt sorgte sich schon der fränkische König, der spätere Kaiser Karl der Große, um
die Einheit des Reichs. Er berief 792 ein Synode nach Regensburg und 794 eine nach Frankfurt
ein, die beide den neuen Adoptianismus verurteilten. Insofern die Beschlüsse von Frankfurt
durch Papst Hadrian I. bestätigt wurden, gelten sie für die lateinische Kirche als verbindlich.
• Petrus Abaelard († 1142) machte Jesus zu einer Art Misch-Person (Assumtionstheologie). Die
Habitustheorie nahm dagegen an, Jesus habe die menschliche Natur nur wie einen Mantel ange-
legt. Die Subsistenztheorie kompensiert in Jesus das Fehlen einer menschlichen Personalität,
indem sie die Summe der Merkmale, als im Logos subsistierend, Jesus zuspricht.
Ich habe diese verschiedenen Positionen skizziert, um deutlich zu machen, wie weit sich theologi-
sche Spekulation vom Glauben der frühen Kirche entfernen kann. Es steht kaum zu vermuten, daß
irgendeine dieser Spekulationen dem Selbstverständnis und der Eigendefinition Jesu auch nur ent-
fernt gerecht wird.
Dennoch aber ist der christologische Streit heute wieder entbrannt. Theologen wie H. Küng oder
Ed. Schillebeeckx werden von einigen ihrer Gegner des Arianismus verdächtigt.
Eine fruchtbare Entwicklung für die christliche Religiosität der Gegenwart scheint der Beitrag
Teilhards de Chardin († 1955) eingeleitet zu haben, der ganz unmittelbar anknüpft an den christo-
logischen Hymnus des Kollosserbriefs. Ich werde ihn an anderer Stelle weiter ausführen.
Fragen wir uns abschließend, wie es zu diesen unerquicklichen und praktischer Religiosität oft
fernen, eher im Spekulativen als im Rationalen angesiedelten Streitereien kommen konnte.
Da sind sicher als Konfliktfaktoren zu nennen:
• Die Christologie der Evangelien (und der paulinischen Briefe) entsprach nicht dem möglichen
Reflexionsstandard, der im Christentum nach die Begegnung mit der griechischen (platonischen
und aristotelischen) Philosophie auch über religiöse Inhalte möglich war.
• Die Sicherung des Monotheismus einerseits und des Göttlichen in Jesus von Nazaret anderer-
seits führte zu verschiedenen Versuchen, diesen Widerspruch als scheinbar zurückzuweisen -
ein Versuch, der allemal problematisch ist, als der Widerspruch nach kirchlicher Lehre nicht ra-
tional aufzulösen ist.
• Das Bemühen der politischen Macht um Einheit des Strukturelements Kirche im politischen
System führte zu Zwängen, Verbalkompromisse zu finden und Verstöße gegen solche Kom-
promisse auch kirchlich zu ahnden. Damit wurde manches Porzellan zerschlagen, noch ehe die
Fragen theologisch ausdiskutiert wurden.
• Schon bald nach der Konstantinischen Ursupation des Christentums wurde die Kirche von ei-
ner Handlungsgemeinschaft zu einer Kultgemeinde, dadurch, und weil Außenfeinde fehlten,
richtetete sich ihr Interesse vorwiegend nach Innen. Innenkonflikte bekamen eine überwälti-
gende Bedeutung. Zugleich entwickelte sich eine von konkreter religiöser Handlungs- (nicht
Kult-)praxis ziemlich abgelöste Theologie. Und auf dieser vom Konkreten emanzipierten Ebe-
ne, ließ sich heftig und verlustreich kämpfen. Das Christentum war in Gefahr, sich nicht mehr
an dem lebenden Jesus, seiner Lehre und seinem Beispiel zu orientieren, sondern zu einer Ideo-
logie, einem Ideensystem also, zu werden. Ideologien werden leicht abstrakt.
Ich denke, daß in jener neuen Christlichkeit, die der vierten Phase des Christentums entspricht,
solcher christologische Streit unerheblich werden könnte. Nicht, daß sich die alten »Dogmen« als
falsch erweisen. Aber viele sind nicht mehr erheblich für konkrete Religiosität. Ich denke, daß die-
se Entwicklung schon deutlich aufweisbar eingesetzt hat. Ich kenne nur sehr wenige Menschen
(und diese sind ausschließlich Theologieprofessoren), für die die frühen christologischen Dogmen
eine religiöse Bedeutung haben. Man mag diese Entwicklung bedauern - aber umkehren wird man
sie kaum.

4. Frühe Erwartungen
Religionen beantworten nicht nur - oft nicht einmal an erster Stelle - die rationalen Fragen von
Menschen. Religion ist also nicht zuerst ein rationales Geschäft, wennschon sie auch nicht wider-
vernünftig sein sollte. Religion setzt an der Stelle an, an der Bewußtes und seine Bedürfnisse noch
in eins sind mit dem Unbewußten. Sie wurzelt in tiefen archaischen Schichten der menschlichen
Psyche.
Religionen werden also den Bedürfnissen und Erwartungen eines Menschen entsprechen - selbst
da, wo er sich dieser Erwartungen nur unvollständig bewußt ist, und sich die Bedürfnisse nur un-
deutlich und in zeitbedingter Gestalt vorstellen und artikulieren. Das gilt auch für die Jesusbot-
schaft.
Sie traf auf Erwartungen, die zeitabhängig allgemeine menschliche Bedürfnisse darstellten. Wel-
ches waren die Erwartungen, in die hinein sich die Jesusbotschaft verkündete und in denen sie sich
zum ersten Male auslegte? Wenn wir den relativ schnellen Erfolg des frühen Christentums bemer-
ken, werden wir annehmen, daß die Jesusbotschaft eine hohe Affinität zu diesen Bedürfnissen hat-
te. Wir werden vermuten, daß sie auch in aller Ausdrücklichkeit die zeitgenössischen Erwartungen
aufnahm und ansprach.
Was sind nun die religiösen (das waren bei Juden auch immer politische) Erwartungen im jüdi-
schen Raum?
Dominant war damals im Judentum die Erwartung einer Zeitwende. Das Alte hatte sich als unge-
nügend, leidvoll erwiesen. Ein Neues sollte kommen und alles wandeln. Die prophetische Anspra-
che war seit Jahrhunderten verstummt in Israel. Pompejus eroberte 63 v. Chr. Jerusalem, nachdem
die Juden ihren eigenen Staat, seit 141 v. Chr. politisch unabhängig, durch innere Zwistigkeiten
selbst zugrunde gerichtet hatten. 37 v. Chr. etablierte sich Herodes der Große aus dem Volk der
wenige Jahrzehnte zuvor zwangsweise judaisierten Edomiter als römischer Vasallenkönig. Unter
seiner Herrschaft wurde Jesus geboren. 6 n. Chr. werden Judäa und Samaria römische Provinzen
unter einem Statthalter.
Die Erwartung einer religiös-politischen Revolution lag in der Luft. Sie artikulierte sich auf drei
verschiedenen Weisen:
1. Die Zeloten verwiesen auf die absolute Sonderstellung des israelischen Volkes und verboten ih-
ren Anhängern jede Kooperation mit den Römern. Sie lehrten, das messianische Reich werde über
politischen und militärischen Widerstand kommen. Eine radikale Gruppe machte sich 6 n. Chr. un-
ter Führung des Judas dem Galiläer (vgl. Apg 5, 37) selbständig. Sie zettelte zahlreiche Aufstände
an, um das Land von den Römern zu befreien und somit das Kommen des Gottesreiches (den An-
bruch der Gottesherrschaft) möglich zu machen. Im Jahre 66 n. Chr. führte das zum 1. jüdischen
Krieg, den die Römer nach einigen Mühen erst 70 mit der Zerstörung Jerusalems und des von He-
rodes erneuerten Tempels beenden konnten. Zwischen 115 und 117 erhoben sich die Juden Ägyp-
tens, der Cyrenaika, Cyperns, Sardiniens - und wurden fast vollständig aufgerieben.
Als 132 die Römer einen Jupitertempel in Jerusalem bauen wollten, kam es zu einem neuen Krieg
unter der Führung Bar Kochbas. Die Rabbinen und das Volk erkannten sehr bereitwillig dessen
messianischen Anspruch an. Nach kurzer Zeit fiel ihm Jerusalem mit Judäa zu. Wieder wurden in
Jerusalem Opfer dargebracht, die Thora (das »mosaische Gesetz«) rigoros durchgesetzt und ein
neuer Kalender eingeführt (von der »Erlösung Israels« an). Erst nachdem sie 50000 Soldaten zu-
sammengezogen hatten, konnten die Römer Jerusalem erobern und zerstören. Die meisten Juden
wurden hingerichtet, als Sklaven verkauft, nach Ägypten deportiert. An die Stelle Jerusalems trat
die römische Siedlung Aelia Capitolina, die von Juden nicht betreten werden durfte. Das war das
Geschick und die Geschichte des politischen Messianismus in Israel.
2. Der apokalyptische Messianismus erwartete alles Heil ausschließlich vom Handeln Jahves. Die-
se Welt müsse untergehen und gerichtet werden, damit die neue Welt, das Gottesreich, kommen
könne. Diese religiöse Strömung begann etwa 200 v. Chr. und reicht in die frühchristliche Zeit.
Sie löste das Prophetentum ab, wurde aber nur selten zum Glauben der Vielen. Religiöse Geheim-
nisse werden in Form von Weissagungen, Abschiedsreden, Testamenten, Träumen und Visionen
(mitunter von Deute-Engeln erläutert) verkündet. Nach apokalyptischer Vorstellung führt Jahve
die Geschichte mit unausweichlicher Konsequenz ihrer Erfüllung zu, ohne daß Menschen ernsthaft
daran Anteil hätten. In der jüdischen Apokalypse spielt entsprechend auch ein personaler Messias
keine Rolle (im Gegensatz zur christlichen). Messianisch ist die Endzeit und vor allem das kom-
mende Reich.
Die Gemeinde von Qumran scheint beide messianische Aspekte (den politischen und den apoka-
lyptisch-religiösen) miteinander verbunden zu haben. Diese Gemeinde bestand - mit Unterbre-
chungen - von 130 v. Chr. bis zur Vernichtung durch die Römer (73 n. Chr.). Vielleicht war sie
essenischer Herkunft. Die Essener bildeten eine ordensähnliche pazifistische Gemeinschaft. Sie
lebten auf dem Lande in Gütergemeinschaft. Ein Teil soll - um des Fortbestandes der Menschheit
willen - die Ehe zugelassen haben. Sonst aber erwarteten sie in Gebet (aber ohne Opfer) und
strenger Befolgung der Gebote das Kommen des Messias. Die religiösen Schriften der Qumran-
gemeinde sind uns zum guten Teil erhalten. Sie zeichnen das Bild eines gemeinschaftlichen Lebens
in treuer Gesetzeserfüllung bis hin zum Entscheidungskampf der Endzeit.
Die Gemeinde nahm an, daß das Reich zwar durch Jahves Initiative (gegen die Zeloten) komme,
aber verbunden sei mit dem Auftreten eines messianischen Priesters und Königs (gegen den apo-
kalyptischen Messianismus). Der Vernichtungskrieg gegen Rom spielte auch bei ihnen eine erheb-
liche Rolle.
3. Endlich ist hier ein prophetischer Messianismus zu nennen, der allerdings - wegen der allge-
meineren Überzeugung, nach der der Prophetismus tot sei in Israel - keine Massenbewegung war.
Als Repräsentant mag Johannes der Täufer gelten. Seine Botschaft ist ganz dem Heute zugewandt
- weil das Neue unmittelbar bevorstehe. Das Gottesreich komme keineswegs durch politische Ak-
tion, sondern durch Gerechtigkeit. Dieser Messianismus sprengt die Bande eines jüdischen Parti-
kularismus. Jesus selbst scheint die Taufe durch Johannes für ein wichtiges Ereignis seines Lebens
gehalten zu haben. In manchem mag er die Botschaft des Täufers aufgenommen und weitergeführt
haben.
Daß im Christentum auch erhebliche Elemente des apokalyptischen und essenischen Messianismus
bemerkbar sind, muß nicht unbedingt auf eine innere Abhängigkeit verweisen. Es genügt anzu-
nehmen, daß sich in den verschiedenen Richtungen der Geist der Zeit manifestiert und repräsen-
tiert. Der Täufer jedoch scheint der Gemeinde von Qumram nahegestanden zu haben (war viel-
leicht gar Mitglied?).
Doch ist für die erstaunliche Rezeption und Migration der Jesusbotschaft nicht nur der Bereich
jüdischer Erwartungen verantwortlich zu machen. In Rom gab es ähnliche geistige Haltungen, die
sich im ersten Jahrhundert zu Erwartungen verdichteten.
Untergangsfurcht und Befreiungshoffen bestimmte das religiöse Fühlen vieler in der großen Stadt.
Vergil († 19 v. Chr.) läßt in seinen Hirtengedichten ein göttliches Kind ein neues Zeitalter begin-
nen, das alle Menschen von »unaufhörlicher Furcht« und aller Sünde erlöst. Die astrologisch mo-
tivierte Erwartung des Vergil wird von Augustus († 14 n. Chr.) in politische Form gegossen. Der
Kaiser wird zum »Evangelium« der Welt. Mit ihm beginnt das »Reich des Friedens«. Doch schon
bald wird deutlich, daß die religiöse Erlösungserwartung nicht politisch eingelöst werden kann.
Zahlreiche Kulte erfahren in Rom ihre hohe Blüte.
So etwa der Midras-Kult, der lange Jahre in Rom praktisch zur Staatsreligion wurde. »Midras«
bezeichnet einen indo-iranischen Gott des Rechts und der Gerechtigkeit sowie der staatlichen
Ordnung (war also als Staatsgott durchaus geeignet). Schon im 14. Jahrhundert v. Chr. wird sein
Name in Verträgen erwähnt. Im Iran wandelt sich Midras zum göttlichen Herrn von Männerbün-
den (die übrigens von Zoroaster bekämpft wurden). Als der Midras-Kult im ersten vorchristlichen
Jahrhundert Rom erreicht, hat sich das Midras-Bild entsprechend den Bedürfnissen der Römer ge-
ändert: Midras ist ein mit der Sonne verbundener Erlösergott, dessen vorzüglichstes Fest am
25.12. gefeiert wird (das Fest des Sol invictus). Der Midras-Kult ist ein Kult ohne Frauen - vor al-
lem und zunächst ein Kult der Soldaten. Im Kult selbst wurde die Kult-Legende symbolisch ge-
genwärtig gesetzt: Die Tötung eines Stieres durch den jugendlichen Gott.
Daneben artikulierte sich die Heilserwartung in Mysterienkulten. Heil, das bedeutet Sicherheit auf
der Erde und Sicherheit für das Jenseitsgeschick nach dem Tode.
Nicht selten stellte der Kult dar, wie sich die Flucht aus dieser Zeit mit der Erwartung eines neuen
dauernden Lebens verbindet. Das gilt etwa für den Kult der Kybele, eines sterbenden und wieder-
auferstehenden (Vegetations-)Gottes, der von kastrierten Priestern gefeiert wurde. Hierher gehö-
ren aber auch die Eleusinischen Mysterien, deren kultisches Ziel es war, die Epiphanie der Gott-
heit und die Verheißung der Wiedergeburt zu verkünden und zu bewirken. Die Eumolpiden
(Priester dieses Kults) hatten nicht selten erhebliche politische und religiöse Macht in Rom (und
anderswo im Römischen Reich).
Das Christentum lehrt nun von der Erfahrung der Auferstehung Jesu her:
• daß mit Jesus der Tod endgültig überwunden sei, daß mit Jesus ein neuer Anfang, der des Rei-
ches des Friedens und der Gerechtigkeit, gemacht sei,
• daß die Wahrheitsrelativität der alten Religionen aufgehoben sei und sich in und durch Jesus
Gott endgültig offenbare.
Mit dieser Lehre kam das Christentum der Sehnsucht auch der Römer nach Sicherheit, Frieden
und Gerechtigkeit entgegen. Die einzige, von den Christen als verbindlich Glauben dar- und aus-
legenden große Apokalypse (eines Johannes), faßt die Jesusbotschaft gegen Ende der Regierungs-
zeit des Domitian († 96 n. Chr.) so zusammen:

Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde,
Denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen,
Auch das Meer ist nicht mehr.
Ich hörte eine laute Stimme vom Thron her rufen:
Seht die Wohnung Gottes unter den Menschen!
Er wird in ihrer Mitte wohnen und sie werden sein Volk sein.
Und er, Gott, wird bei ihnen sein.
Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen:
Der Tod wird nicht mehr sein,
Keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal.
Denn was früher war, ist vergangen.
Er, der auf dem Throne saß, sprach:
Seht, ich mache alles neu. (Offb 21, 1-5)

Das Christentum, wie es uns in seinen Heiligen Schriften begegnet, ist also eine Legierung von Je-
susbotschaft und Antwort auf menschliche Erwartung einer bestimmten Zeit. Es steht uns nicht
zu, diese beiden Elemente zu separieren - das ist unmöglich. Wohl aber gibt es in den frühchristli-
chen Schriften Antworten auf Fragen, die auch die unseren sind. Und hinter ihnen steht die Wahr-
haftigkeit, die Liebe und die Autorität des Jesus von Nazaret. Vergessen wir nicht: Das Christen-
tum ist keine Schriftreligion, sondern eine Stifterreligion. Die Heiligen Schriften sind ein Zeugnis
der legitimen Entwicklung christlicher Religiosität und christlicher Gläubigkeit zu einer bestimm-
ten Zeit. Aber Christentum ist als Stifterreligion nicht auf schriftliche Darlegungen fixiert, sondern
entwickelt und entfaltet sich weiter - wächst selbst über seine frühen Schriften hinaus gleichsam
durch sie hindurch. Und dennoch bleibt zu jeder Zeit Leben und Lehre des Stifters verbindliche
und nirgendwo überholbare Norm.

5. Zwischen Kult und Sittlichkeit


Kultchristentum und Tatchristentum sind meist nicht so scharf getrennt, daß ein Entweder-Oder
zulässig wäre. Dennoch aber wird es erlaubt sein, Positionen im Christentum näher hin zum einen
oder anderen Pol zu orten. Mit solcher Ortung soll kein Urteil über Menschen gesprochen wer-
den, wohl aber über Positionen. Denn Jesu Wort richtete sich verurteilend gegen jede Religiosität,
die sich zum Wesentlichen und Hauptsächlichen im kultischen Handeln erschöpft. »Kult« bezeich-
net eine durch Regeln festgemachte und institutionalisierte Form der unmittelbaren Verehrung
Gottes oder einer Gottheit. Das Kultische kann sich in mannigfacher Weise weiterführen - stets
aber steht das Institutionalisierte und das Institution Bewahrende im Mittelpunkt. Kult wird also
zum religiösen Ausdruck einer religiösen Struktur, die sich in ihm funktional darstellt und defi-
niert. Kultreligionen beziehen ihre Identität weitgehend aus der Identifikation mit ihrem Kult.
Kultformen im Christlichen sind vor allem:
• Gottesdienstliche Handlungen (Sakramente, Gottesdienst, Liturgie…),
• Dogma, das keineswegs als bloße Sammlung und Interpretation von als wahr geglaubten Sät-
zen zu verstehen ist, sondern durchaus primär als eine Form des institutionalisierten religiösen
Vollzugs,
• Kirchenrecht, das ebenfalls nicht primär als Satzung einer Gruppe oder Gesellschaft verstanden
werden darf, sondern ebenfalls als Instrument zur kultischen Wahrung der christlichen Identi-
tät.
Zweifelsfrei können alle drei Ausdrucksformen des christlichen Kults entarten, indem sie sich von
ihrer kultischen Herkunft ablösen und ein recht unchristliches Eigenleben beginnen. Es kann zu ei-
nem Kult um den Kult kommen, wenn der Kult seine Beziehung zum religiösen Ziel verliert.
Kultziele sind, neben der Verehrung Gottes, das Heil der Menschen und die Abwehr des Bösen.
Kulthandlungen sind Handlungen, die im Rahmen des Kults und mit dem Kultziel getätigt werden.
In welchem Umfang kann man nun Christentum legitim vom Kultischen her definieren?
Nach der Adoption der Kirche durch Konstantin wurde sie in oft unguter Weise von einer Lebens-
und Handlungsgemeinschaft zur Kultgemeinschaft, die sich in Kultgemeinden, Gemeinden also,
die sich in kultischen Vollzügen begründen und aussagen, darstellt. Nicht, daß der Kult auch zu-
vor schon eine erhebliche Rolle gespielt hätte, doch war er nicht das, worin sich christliches Leben
zuerst erwies. Nicht, daß christliches Handeln in der Konstantinischen Kirche bedeutungslos ge-
worden wäre - nur war es nicht mehr das Element, das die Kirche zusammenhielt. Und diese Kir-
che mit Sakramenten und Dogmen, die sie auf sich hinordnete und aus sich herleitete, diese Kirche
mit eigener Rechtsordnung und eigener Herrschaftsstruktur mit Subordinationsrelationen, das war
die Kirche als Kultgemeinschaft. Lebensgemeinschaften brauchen das alles kaum. Geeignet kann
man in gewisser Anlehnung an E. Fromm unterscheiden zwischen dem Geist des Seins und dem
des Habens. In der weitgehenden Reduktion des Christlichen auf die Feier des Kults und die Be-
tonung der Teilhabe an Erlösung durch Übernahme kultischen Handelns, entwickelte sich in der
Christenheit ein Geist des Habens, wie ihn vor allem die Schule der Pharisäer im Judentum entfal-
tete: »Wir haben Moses und die Propheten.« »Wir haben die Erlösung, wir haben die Kirche und
ihr Recht und ihre Sakramente, wir haben die Wahrheit…«. Im Geist des Seins gesprochen, müß-
te das lauten: »Ich bin erlöst, ich bin Kirche, ich lebe für Wahrhaftigkeit…«. Das ist mehr als eine
Akzentverlagerung. Es ist nicht eine Sache des Sprechens, sondern zuerst eine Sache der religiö-
sen Haltung.
Der Geist des Habens weiß sich im Besitz von allem möglichen. Der Geist des Seins lebt sich im
Handeln. Der Geist des Habens ist konservativ, der Geist des Seins will weiterschreiten. Der Geist
des Habens ist zufrieden, der des Seins ist stets auf dem Weg. Der Geist des Habens will belehren
und bekehren, der Geist des Seins will ein Stück Wegs zusammengehen.

a) Die Propheten
Auch Israel verfiel nicht selten der Zufriedenheit und der Sicherheit des Habens. Es war eine der
Aufgaben der Propheten, es aus solchem Geist aufzuwecken. Nicht der Kult soll der Mittelpunkt
der Jahve-Verehrung sein, sondern das Leben in Gerechtigkeit und Frieden. Aber immer wieder
versuchte Israel den bequemen Weg des Kults, wenn es seinen Gott verehrte. Und immer wieder
traten Propheten auf, die ihm deutlich machten, daß das zuwenig sei. Nicht Gebete oder Opfer
sind der wahre Dienst vor Jahve, sondern sittliches Handeln.
Der Prophet Micha, aus dem Moreschet-Gat (südwestlich von Jerusalem) sprach um 700 v. Chr.:

Womit soll ich vor den Herrn treten,


Wie mich beugen vor Gott in der Höhe?
Soll ich mit Brandopfern vor ihn treten,
Mit einjährigen Kälbern?
Hat der Herr Gefallen an Tausenden von Widdern,
An zehntausenden Bächen von Öl?
Soll ich meinen Erstgeborenen hingeben für meine Vergehen,
Die Frucht meines Leibes für meine Sünde?
Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist
Und was der Herr von dir erwartet:
Nichts anderes als dies: Recht tun, Güte und Treue lieben,
In Ehrfurcht den Weg gehen mit deinem Gott. (6, 6-8)

Der Viehzüchter und Maulbeerfeigenpflanzer Amos aus Tekoa (südlich von Bethlehem) lehrte im
Nordreich um 750 v. Chr. so:

(Es spricht der Herr der Heere:)


Ich hasse eure Feste, ich verabscheue sie,
Und kann eure Feiern nicht riechen.
Wenn ihr mir Brandopfer darbringt,
Ich habe kein Gefallen an euren Gaben,
Und eure fetten Heilsopfer will ich nicht sehen.
Weg mit dem Lärm deiner Lieder!
Dein Harfenspiel will ich nicht hören,
Sondern das Recht ströme wie Wasser,
Die Gerechtigkeit wie ein nie verströmender Bach. (5, 21-24)

Hosea war wohl ein Angehöriger der Nordstämme und nahm um 750 v. Chr. seine Lehrtätigkeit
auf. Er bezeichnet als erster die Zuwendung Jahves zum Menschen als Liebe. Hosea läßt Jahve
sprechen:

Was soll ich tun mit dir, Ephraim?


Was soll ich tun mit dir, Juda?
Eure Liebe ist wie eine Wolke am Morgen
Und wie der Tau, der bald vergeht.
Darum schlage ich drein durch die Propheten,
Ich töte beide durch die Worte meines Mundes.
Dann leuchtet mein Recht auf wie das Licht.
Liebe will ich, nicht Schlachtopfer,
Gotteserkenntnis statt Brandopfer. (6, 4-6)

Leicht ließe sich die Menge dieser Texte mehren. Sie machen alle deutlich, wie sehr schon im ach-
ten vorchristlichen Jahrhundert die kaum 300 Jahre zuvor zögernd etablierte Jahveverehrung kul-
tisch erstarrt war.
Jesus stellt sich bewußt in diese prophetische Tradition, die, nachdem sie für mehrere Jahrhunder-
te in Israel schwieg, erst wieder mit dem Täufer Johannes zur Sprache gekommen zu sein scheint.
Ausdrücklich nimmt der die Worte Hoseas auf und macht sie sich zu eigen:

Darum lernt was es heißt:


Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer.
Denn ich bin gekommen, um die Sünder zu rufen,
Nicht die Gerechten. (Mt 9, 13)
Das Schicksal der Propheten war meist nicht Anerkennung und Ehre. Zwar scheint Micha in Jeru-
salem und beim König Ezechias in einigem Ansehen gestanden zu haben (Jer 26, 18-19), Amos
jedoch sollte seine Mahnung übel bekommen. Er wurde des Landes verwiesen:

Amazja, der Priester von Bet-El, ließ Jeroboam, dem König von Israel, melden - Mit-
ten im Haus Israel ruft Amos zum Aufruhr gegen dich auf; seine Worte sind unerträg-
lich für das Land… Zu Amos aber sagte Amazja: Geh Seher, flüchte in das Land Juda.
Iß dort dein Brot und tritt dort als Prophet auf. (7, 12-14)

Das dritte Evangelium legt Jesus folgende Worte in den Mund:

Die Weisheit Gottes sagte: Ich werde Propheten und Apostel zu ihnen senden, und sie
werden einige von ihnen töten und andere verfolgen, damit das Blut aller Propheten,
das seit Erschaffung der Welt vergossen worden ist, an dieser Generation gerächt
wird, vom Blut Abels bis zum Blut des Zacharias, der im Vorhof zwischen Altar und
Tempel umgebracht wurde. Ja, ich sage euch: An dieser Generation wird es gerächt
werden. (II, 49-51)

Und das erste Evangelium läßt Jesus sprechen:

Jerusalem, Jerusalem, du tötest die Propheten und steinigst die Boten, die zu dir ge-
sandt sind. Wie oft wollte ich deine Kinder um mich sammeln… aber ihr, habt nicht
gewollt. Darum wird euer Haus (von Gott) verlassen. (23, 27-38)

Die Gegner des frühchristlichen Prophetismus waren die Pharisäer. Diese religiös-politische
Gruppierung hatte sich in der zweiten Hälfte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts formiert.
Als gelehrte Laien standen sie in enger Beziehung zum Volke und im Gegensatz zur priesterlich-
aristokratischen Oberschicht der Sadduzäer. Sie vertraten die Verbindlichkeit nicht nur des ge-
schriebenen Gesetzes, sondern auch vieler Gebote und Verbote, die die Tradition hinzufügte. Sie
forderten unbedingte Gesetzestreue - ja, in der Beachtung des Gesetzes bestehe der eigentliche
Jahvekult, der deshalb nicht an den Opferkult des Tempels gebunden sei. Sie glaubten an die Auf-
erstehung der Toten, das Kommen des Messias und ein jenseitiges Gericht mit jenseitiger Gerech-
tigkeit.
Ganz offensichtlich stand das spätere Christentum dieser religiösen Position ziemlich nahe. Das
mag einer der Gründe für die heftigen Angriffe gewesen sein, die die Evangelien Jesus gegen die
Pharisäer richten lassen. Genauer wird man sagen: Die Pharisäer wurden für die Christen zum
Gegner gemacht, der alles verkörperte oder dem alles zugeschrieben wurde, was ihnen am meisten
verhaßt war. Das aber war:
• die Annahme, das mosaische Gesetz habe irgendeinen Selbstwert - es ist vielmehr um des Men-
schen willen da,
• die Annahme, daß die rituelle Befolgung eines Gesetzes den Menschen heilen und retten könne
- das geschehe aber nicht durch die Beachtung ritueller Bräuche oder Gesetze, sondern durch
Liebe im Horizont des Gottesreiches,
• die Annahme, daß der religiöse Mensch auch von den Menschen geachtet werden müsse -
vielmehr gehe religiöses Leben oft einher mit Verachtung und Niedrigkeit.
Ich will Ihnen einige Texte der Evangelien vorstellen, die die pharisäerische Position durch Jesus
verurteilen lassen. Unbestritten sei, daß Jesus die oben erwähnten drei Annahmen als religiöse
Fehlorientierung oder gar als Heuchelei ablehnte. Doch seine Worte dürften nicht so heftig gewe-
sen sein wie die uns überlieferten:
Sie (die Pharisäer) schnüren schwere Lasten zusammen und legen sie den Menschen
auf die Schultern, wollen selbst aber keinen Finger rühren, um die Lasten zu tragen.
Alles, was sie tun, tun sie, damit die Menschen es sehen… Auf den Straßen und Plät-
zen lassen sie sich gern grüßen und von den Leuten Meister (Rabbi) nennen. Ihr aber
sollt euch nicht Meister nennen lassen; denn nur einer ist euer Meister, ihr alle aber
seid Brüder. Weh euch, ihr Schriftgelehrter, und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr gebt den
Zehnten von Minze, Dill und Kümmel und laßt das Wichtigste im Gesetze außer acht:
Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue. Man muß das eine tun, ohne das andere zu
lassen.
Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr seid wie Gräber, die
außen weiß angestrichen sind und schön aussehen; innen aber seid ihr voll Knochen,
Schmutz und Verwesung. (Mt 23, 4-27)

Nehmt euch in acht vor den Schriftgelehrten! Sie gehen gern in langen Gewändern
einher, lieben es, wenn man sie auf den Straßen und Plätzen grüßt, und sie wollen in
der Synagoge die vordersten Sitze und bei jedem Festmahl die Ehrenplätze haben. Sie
bringen die Witwen um ihre Häuser und verrichten in ihrer Scheinheiligkeit lange Ge-
bete. Aber um so härter wird das Urteil sein, das sie erwartet. (Mk 12, 37b-40)

Auch das dritte Evangelium kennt ganz ähnliche Texte (Lk II, 39-54 und 20, 45-47). Wir dürfen
also davon ausgehen, daß Jesus etwas gegen die bloße Kultfrömmigkeit (Gebete, Opfer, Spenden,
Tempelsteuer…) hatte. Und diese Angriffe gegen eine selbstgerechte Kult-Religiosität machten
ihn - ähnlich den Propheten - denkbar unbeliebt. Man irrt wohl kaum, wenn man annimmt, daß es
diese Ablehnung war, die zur Tötung Jesu beitrug. Andererseits nahm Jesus diesen Streit um den
Primat der Sittlichkeit vor dem Kult so ernst, daß er bereit war, Todfeindschaft und Aggressivität
der Frommen in Kauf zu nehmen.
Um festzustellen, in welchem Umfang der Geist der Synagoge in der nachkonstantinischen Kirche
Einzug hielt, bitte ich den Leser, er möchte die Jesusworte gegen die Pharisäer und Schriftgelehr-
ten noch einmal in Ruhe nachlesen und sich dabei fragen, ob sie nicht auch heute gesprochen sein
könnten.
Das Auseinanderrücken von Kult und Sittlichkeit führt im Raum der Religionen sehr oft zu einer
kultischen Unsittlichkeit, wenn das Wort des Kults der Praxis des Lebens widerspricht. Dann
werden kultische Handlungen zu leeren Zeremonien und Religiosität entartet zu einem äußeren
sozialen Stützkorsett. Jesus betont mit den Propheten den absoluten Vorrang der Sittlichkeit vor
dem Kult. Der Kult steht im Dienst der Sittlichkeit. Kirche ist also kein Verein, dem jeder zugehö-
ren kann, der den äußeren Comment beachtet oder auch nur beherrscht - die Kirche Jesu jeden-
falls nicht.
Eine der zentralen Forderungen Jesu an alle, die ihm folgen wollen, besteht in der Umkehr aus
dem Kult in die sittliche Handlung.

b) Kirche als Kultgemeinschaft?


Ich denke, es ist schon zureichend deutlich geworden, daß die von Jesus gestiftete Religion in ih-
ren sozialen Folgen keine Kirche primär als Kultgemeinschaft zuläßt. Dennoch aber gibt es Be-
strebungen in den Kirchen, die die christliche Gemeinde von kultischem Tun her bestimmt sein
lassen. Daß eine Christengemeinde sich als Solidargemeinschaft auch im Kult zusammenfinden
soll und muß, um in Gemeinschaft Jesus in seinem Leben und Wort gegenwärtig zu machen, ist
unbestritten - doch diese Vergegenwärtigung muß sich in Lebensorientierung, im konkretem Han-
deln ausdrücken, sonst ist sie Heuchelei - ähnlich der von Jesus verurteilten. Das aber bedeutet,
daß die christliche Gemeinde sich messen lassen muß an dem Maß ihrer tätigen Christlichkeit,
nicht am Maß ihrer kultischen Aktivitäten.
Sittliche Praxis ist nicht unmittelbar zu messen, obschon es gewisse Indikatoren gibt. So weist et-
wa die Kriminalstatistik aus, daß es keinen statistisch erhebbaren Unterschied gibt zwischen den
Verbrechen und Vergehen von Kirchenangehörigen und solchen, die dies nicht sind. Allenfalls gibt
es leichte Tendenzen einer für die Kirchenmitglieder ungünstigen Korrelation (unterhalb der Signi-
fikanzgrenze). Es ist tatsächlich so, daß die weitaus meisten Christen ihr religiöses Selbstver-
ständnis von der kultischen Praxis her beziehen. Regelmäßiger Kirchgang, regelmäßige Teilhabe
an den Sakramenten, Aktivität in kirchlichen Organisationen und Vereinen, Beachten von Recht
und Dogma… gelten noch immer als Ausweis qualifizierter Christlichkeit. Wer sich in einer religi-
ösen Gemeinschaft auf kultisches Handeln nur insoweit einläßt, als er es in der Lebenspraxis reali-
sieren kann, wird bald als Randexistenz betrachtet, als Ungläubiger gar. Wer dagegen aktiv mit-
spielt und möglichst frei ist von solchen Skrupeln, wird bald integriert sein.
Ist eine solche Handlungs- und Lebensgemeinschaft christlich? Ihrem Anspruch nach vielleicht -
kaum aber ihre Praxis. Sie trifft unbedingt das Verdikt Jesu.
Das soll nicht heißen, daß in jedem Fall ein Mensch persönlich schuldig geworden sein muß.
Schuld ist sehr viel mehr ein kirchliches Ambiente, das solch fatale Fehlinterpretation des Christli-
chen ermöglicht. Man kann vermuten, daß die nachkonstantinische Kirche mit allen ihren Missio-
nen eher eine Kultgemeinschaft propagierte, denn eine christliche Handlungsgemeinschaft. Der
Primat des Kultischen ist also wesentlich verbunden mit der Übernahme des Christentums. Sehr
oft kam es nicht zu einer Einlagerung christlicher Gedanken in das gesamte Kulturverhalten des
Menschen (darunter auch sein sittliches), sondern nur zur Übernahme von Kulthandlungen, denen
dann bestenfalls Sühnefunktion für das praktische Versagen zugesprochen wurde. Statt Inkultura-
tion kam es zu einer Inkultation.
Es soll nicht geleugnet werden, daß viele verantwortet Christentum lebenden Menschen unter die-
ser Situation leiden. Nicht wenige Amtsträger der Kirchen wissen um die Gefahr eines Rückfalls
in das Verhalten der Schriftgelehrten und Pharisäer. Und die besten von ihnen tun vieles, um der
Gefahr zu entgehen. Aber die besten sind nicht unbedingt die meisten. Sicherlich vermag kein
Mensch einen anderen Menschen zu richten - so steht es uns Menschen auch nicht an, einen ande-
ren Pharisäer zu nennen oder Heuchler, doch kann man sehr wohl von Illusionen sprechen. Die Il-
lusion, Christ zu sein, ohne die sittlichen Gebote des Christseins übernehmen zu müssen - etwa in-
dem man »einfach« das Dogma und die Sakramente unbeanstandet übernimmt.
• Solcher Illusion verfallen alle, die Liebe in der Kirche künden, selbst aber hassen (d.h. bereit
sind, einem anderen Menschen durch Taten oder Worte Leid zuzufügen).
• Solcher Illusion verfallen alle, die an das Geheimnis der Armut, der Kleinheit, der Demut… in
der Kirche glauben, aber sich in Ämtern und Stellungen wohl fühlen oder sie auch anstreben,
die Herrschaft und Reichtum, Ansehen und Größe versprechen.
• Solcher Illusion verfallen alle, die zwar wissen, daß die Kirche nicht von dieser Welt ist, aber
sehr wohl, ähnlich den Mächtigen dieser Erde, Einfluß, Diplomatie, Politik… einsetzen, um ih-
re Meinungen zu verbreiten oder kirchliche Moral durchzusetzen oder das Evangelium zu ver-
künden.
• Solcher Illusion verfallen alle, die zwar annehmen, daß Jesus, das Zentrum ihrer Religiosität,
zwar wahrer Mensch sei, aber unfähig sind, andere Menschen zu dulden, ihnen zuzuhören, ih-
ren Wegen zu folgen, ihr Suchen und ihr Zögern zu achten (†h. Mertens - J. Frisque).
Ist also die konkrete Kirche, mit der wir leben, die Kirche, die Jesus als Gemeinschaft seiner Jün-
ger wollte? Diese Frage ist nicht mit einem einfachen Ja oder Nein zu beantworten. Eines ist si-
cher, es scheint heute unvergleichlich viel einfacher zu sein, Menschen zum Christentum zu füh-
ren, als in eine konkrete kirchliche Gemeinde.
Das liegt sicher daran, daß Menschen, die auf Grund existentieller Entscheidung (nicht auf Grund
tradierter Gewohnheit) Christen werden, an erster Stelle eine Handlungs- und Lebensgemeinschaft
suchen, die christliche Sittlichkeit zu verwirklichen ernsthaft trachtet. In der Haß und Neid, Miß-
gunst und Hader, Eifersucht und Lüge… nicht als mögliche Formen des normalen Umgangs tole-
riert, sondern mit aller möglichen Mühe überwunden werden. Eine solche Gemeinschaft ist nun im
Rahmen der etablierten kirchlichen Religiosität unbekannt. Nicht einmal in Ordenshäusern ist sie
zu finden. Hier sind sehr wohl oft - durchaus toleriert - Mißgunst, üble Nachrede, Verleumdung
und Verdächtigung zu Hause.
Ich denke, daß es einige Kriterien für Gemeinschaften gibt, die das Prädikat »christlich« verdie-
nen. Ich will sie an moralischen Qualifikationen verdeutlichen. Christlich wäre es, wenn
• Neid als schlimmere Verfehlung gelte als Unkeuschheit;
• Heuchelei strenger bestraft würde als verbaler Ungehorsam;
• Haß sozial heftiger befehdet würde als Gewalttat;
• Mißgunst strenger geahndet würde als Diebstahl.
Immerhin sind dies Qualifikationen, die das Evangelium der Praxis Jesu zuschreiben. Und es sollte
sich nicht leicht jemand Christ nennen, der die Jesusethik verachtet oder für unerfüllbar erklärt.
Noch einmal: Kult ist kein Ersatz für Sittlichkeit.
Doch kehren wir zurück zu unserer Frage an die konkrete Kirche. Ist sie so von Jesus gewollt -
gar gestiftet? So - mit all ihren Unchristlichkeiten, ja Widerchristlichem sicher nicht. Dennoch aber
ist sie der Hort, der bewahrende und nicht nur der verwaltende, der Jesusbotschaft. Dennoch setzt
sie in ihrer Mitte Leben und Lehre Jesu gegenwärtig und schafft damit zuerst die Voraussetzun-
gen für eine nicht bloß historisierende christliche Sittlichkeit. Dennoch versucht sie, die Lehre Jesu
allen Menschen verständlich zu machen. Kurzum: Ohne die Kirchen gäbe es kein Christentum
mehr - nicht einmal als Anspruch. So ist denn die Kirche (sind die Kirchen) in gewisser Hinsicht
der unter uns lebende Christus. Sie halten ihn in der Gegenwärtigkeit. Daß sie dies alles nicht op-
timal tun, sondern angekränkelt von mancherlei Beschwer und indem sie ihn Tag um Tag immer
wieder kreuzigen, sollte uns nicht irre machen. Sicher ist es der Skandal des Christentums, daß
zwischen Anspruch und realem Leben so vieler Christen, auch der führenden in den Kirchen, so
erhebliche Differenz besteht. Und dieser Skandal darf durch nichts aus der Welt geschaffen wer-
den, außer durch die Besserung der Betroffenen. Aber dieser Skandal darf uns nicht dazu verfüh-
ren, mit ihm zusammen auch die Kirche grundsätzlich ins Abseits der unglaubwürdigen Überflüs-
sigkeit zu stellen, mit dem uneingeschränkten Jesusverdikt über die Honoratioren der Synagoge
zu belegen.
Es entspricht einer sehr alten christlichen Erfahrung, daß Christentum nicht lebbar ist ohne fremde
Hilfe - zumindest nicht in allen gegenwärtigen menschlichen Gesellschaftsformen. So bleibt denn
noch die Frage: Tun denn Christen alles, um diese Hilfe zu erhalten? Lehrt die Kirche sie das?
Lehrt die Kirche sie noch die Jesusbotschaft? Fordert sie von ihren Mitgliedern eher Sittlichkeit
denn Kult?
Sicher tut sie alles dies nicht (immer) - in jedem Fall viel zu selten. Aber kann sie sich nicht än-
dern? Mit solcher Änderung begänne dann eine neue Epoche der Christenheit - von Kirche beglei-
tet.

c) Die Spaltung von Sein und Bewußtsein


Im Raum des Christentums haben sich viele an eine Erscheinung gewöhnt, die - heute allgemein
geworden - den Bestand der Menschheit bedroht: die Spaltung von Bewußtsein und Sein. Die In-
halte des Glaubens sind zunächst Bewußtseinsinhalte - sie werden geglaubt. In langen Jahrhunder-
ten christlicher Ineffizienz (seit Konstantins Zeiten hat Christentum kaum mehr zur Humanisie-
rung von Welt beigetragen als Judentum oder Hinduismus) haben sich viele Christen daran ge-
wöhnt, die Jesusbotschaft in der Gegenwartswelt prinzipiell für unerfüllbar zu halten. Die von Je-
sus gelebte und gelehrte Sittlichkeit sei die eines zukünftigen Gottesreiches. Vor allem die Berg-
predigt sei kein sittliches Postulat, das in dieser Welt realisierbar sei. Wer es zu verwirklichen
trachte, sei zwar zu bewundern, sei aber nicht nachzuahmen. Diese bewundernde Nicht-
Nachahmung ist eine der Grundhaltungen vieler Christen gegenüber denen, die versuchen, Chris-
ten zu sein, wie zum Beispiel Albert Schweitzer oder Mutter Theresa von Kalkutta.
Diese für den Außenstehenden skandalöse Entschuldigung, man sei zwar Christ, aber nicht fana-
tisch - soll heißen: man kümmere sich um christliche Sittlichkeit nur insoweit, als das durch die
soziale Umwelt nahegelegt oder gefordert sei, - scheint eng zusammenzuhängen mit dem Über-
gang des Christentums von einer (gegen Widerstand sich behauptenden) Bekenntnisreligion zu ei-
nem staats- und gesellschaftstragenden Systemelement.
Dieser Übergang fand in Europa zur Zeit Konstantins statt. In manchen Ländern der dritten Welt
hat er noch nicht stattgefunden und wird dort hoffentlich nie stattfinden, obschon es immer einige
kirchliche Vertreter gibt, die die staatliche Anerkennung und den staatlichen Schutz suchen, selbst
um den Preis, eine wesentliche Aufgabe des Christentums gegenüber politischen und ökonomi-
schen Gebilden nicht mehr frei wahrnehmen zu können: nämlich Gewissen dieser Gebilde zu sein.
Und ein Gewissen sollte unabhängig von politischen und ökonomischen Rücksichtnahmen mahnen
dürfen. In vielen Ländern ist die Kirche - oft ohne es recht zu bemerken - käuflich geworden in ih-
rer Kritik.
Die außerkultische Ineffizienz der christlichen Botschaft reicht also recht lange zurück. Heute ste-
hen wir vor der Erscheinung der universellen Ineffizienz des Geistigen, des Bewußten vor den
Ansprüchen des Seins. Die konkreten Interaktionsformen, die Menschen miteinander eingehen,
sind kaum durch irgendwelche Überzeugungen, sittliche Vorstellungen oder religiöse Glaubensin-
halte geprägt, sondern durch die vermeintlichen Notwendigkeiten des Seins, soll heißen, den kon-
kreten politischen und ökonomischen Bedingungen unter denen Menschen Waren, Dienstleistun-
gen, immaterielle Güter (wie individuelle und kollektive Sicherheit) produzieren. Die Strukturen
des sozio-ökonomischen Systems geben die Rahmenbedingungen der Verkehrsformen vor. Und
innerhalb dieses Rahmens sind christliche Interaktionsmodi kaum möglich.
In diesem Rahmen werden die Interaktionen bestimmt durch folgende Prinzipien:
• Das Konkurrenzprinzip: Im Wettbewerb zwischen Menschen und Institutionen siegt der Stär-
kere.
• Das Leistungsprinzip: Im Produktionsprozeß wird der bevorzugt, der mehr gesellschaftlich an-
erkannte Leistung erbringt.
• Das Prinzip der Tauschgerechtigkeit: Die menschlichen Interaktionen werden nach dem Prinzip
des »ich gebe, damit du gibst« (do, ut des) versachlicht.
• Das Egoismusprinzip: Wenn jeder seinen eigenen Nutzen sucht, dann wird das auch dem all-
gemeinen Nutzen dienen.
• Das Rationalitätsprinzip: Die Interaktionen müssen vernünftig deutbar sein - Emotionen sind
Störgrößen.
• Das Pragmatismusprinzip: Problemlösungen erfolgen optimal, wenn sie das Problem zum Ver-
schwinden bringen.
Diese Prinzipien sind für Christen sicherlich nicht akzeptabel - wie noch gezeigt werden soll. An-
dererseits sind Christen aber auch nicht in der Lage, das sozio-ökonomische System so zu ändern,
daß in ihm grundsätzlich christliche oder doch christlich verantwortbare Interaktionsmuster insti-
tutionalisiert werden. Daß diese erst ins Gottesreich gehörten, ist meist eine eher faule Schutzbe-
hauptung.
Nun sind wir also in einer Lage, in der wir unter dem Anspruch der »normativen Kraft des Fakti-
schen« kaum mehr nach Maßgabe von Bewußtseinsinhalten (etwa ethischen) handeln können. Die
Probleme, die wir lösen müssen, sind zumeist derart, daß wir die technisch optimale Lösung
(meist im Sinne des Pragmatismusprinzips) anstreben, wenn wir gesellschaftlich überleben wollen.
Das gesellschaftliche Sein hat in nahezu allen seinen Dimensionen Formen angenommen, die es
übermächtig werden lassen, so daß vor seinen Ansprüchen und Zwängen Bewußtsein oft in Ohn-
macht wird kapitulieren müssen.
Das führt natürlich zur institutionalisierten Ohnmacht aller »Bewußtseinssysteme« wie Religionen
oder universellen Weltbildgestalten (wie etwa dem Marxismus). Wir haben uns in Europa und
Nordamerika auf Grund ökonomischer Zwänge sozio-ökonomische Systeme geschaffen, die sich
verhalten wie der Besen in Goethes Zauberlehrling: Sie schleppen Dinge heran, die wir nicht wol-
len und in dieser Menge auch nicht brauchen - aber wir beherrschen keine Formel, die Systemak-
tivitäten an den Grenzen des Humanen zu stoppen.
Die Ineffizienz des Christentums ist also weniger moralisch verschuldet als schicksalhaft. Unser
Geschick läuft nicht mehr nach ethischen Regeln ab, nachdem soziale Systeme die Herrschaft über
uns übernahmen. Und Systeme können nicht moralisch sein. Moral ist eine Eigenschaft individuel-
ler Handlungen.
Man kann sich natürlich fragen, wie es zu einer solchen Ohnmacht des Geistes kommen konnte.
Hier ist sicher ein Christentum mitschuldig, das - in der Akzeptation seiner eigenen Impotenz - gar
nicht erst den Anfängen des immerhin langen Marsches in die Unmenschlichkeit der Systemherr-
schaft zu wehren trachtete. Bedenkt man das Verhältnis des etablierten und institutionalisierten
Christentums der Kirchen zur sozialen Gewalt der Ökonomie und des Staates, wird man kaum ir-
gendwelche Ansätze bemerken, die der wachsenden Systemherrschaft entgegen sind.
Sicherlich gibt es Versuche, der wachsenden Säkularisierung, dem nach 1848 wachsenden demo-
kratischen Bewußtsein und der um sich greifenden Toleranz in der zweiten Hälfte des vergange-
nen Jahrhunderts Einhalt zu gebieten - doch waren das Kämpfe an den falschen Fronten. Es wurde
nicht bemerkt, wo der eigentliche Gegner der Humanität stand. K. Marx war das immerhin schon
bald klar: Er entschuldigte den Individualkapitalisten, der nichts anderes tun könne, als sich sys-
temgerecht zu verhalten - wie auch die Arbeiter. Urheber der Misere beider sei vielmehr der ge-
sellschaftliche Gesamtkapitalist, das »kapitalistische System« - wie wir heute sagen würden. Zu
dieser Zeit kümmerten sich die Kirchen ausschließlich um die Individualmoral.
In diesem Zusammenhang mag auch deutlich werden, wo heute die christliche Kritik ökonomi-
scher und politischer Prozesse einsetzen muß: Sie kann nicht bloß Individuen angehen, die kaum
anders denn als Agenten eines Systems funktionieren. Sie muß das System, wo es unmenschlich
ist oder unmenschlich zu werden droht, selbst ansprechen - mit dem Ziel, es zu wandeln. Von
hierher wird jedes Christentum problematisch, das sich nicht seiner auch systemkritischen und da-
her politischen Aufgabe bewußt ist.
Doch dazu bedarf es eines neuen Bewußtseins im Christentum, das es ihm ermöglicht, aus der Be-
schränkung auf den Kult universell auszubrechen und die Bildung christlicher Ethik gehorchender
Interaktionsmuster auf gesellschaftlicher Ebene zu begründen. Sehr wohl: zu begründen, nicht zu
fordern. Ein Christentum, das fordert, ist ein pseudomächtiges, will meinen: ein recht ohnmächti-
ges Christentum. Nur ein Christentum, das die Wandlung von Zuständen von und durch sich
selbst und seinen Geist erwartet und nicht durch Appell an politische oder ökonomische Systeme,
wird auf die Dauer effizient sein. Die politische Kompetenz des Christentums ist also nicht die
mittelbare Einflußnahme auf systembedingte unchristliche Interaktionsformen mit Hilfe fremder
Instanzen (Staat und Wirtschaft etwa), sondern die der unmittelbaren Beeinflussung der Interakti-
onen. Die Systemkritik geschieht in der Aufforderung, im Ungehorsam zu den unchristlichen Pos-
tulaten des Systems zu leben.
Es gibt nun nicht wenige Moraltheologen, die eine spezifisch christliche Ethik nicht zulassen.
Wenn sie damit meinen, daß sich die Ethik eines Christen nach den Normen irgendeines anderen
Ideensystems richten dürfe, dann irren sie vermutlich sehr. Wenn damit aber gemeint ist, daß die
christliche Ethik zu einer optimalen Entfaltung des Humanum führe und daher eigentlich eher als
»menschliche Ethik« bezeichnet werden müsse, kommen sie der Wahrheit nahe. Zumindest kann
christliche Ethik nicht Humanität entgegen sein - und wo sie es ist, wird sie falsch verstanden oder
löst sich von der Jesus-Botschaft ab. Ich kenne nicht wenige Marxisten, die der Auffassung sind,
daß gelebtes (und nicht nur »geglaubtes«) Christentum zu einem Optimum an Humanität führe -
sie vermissen allerdings solches gelebtes Christentum in den Kirchen und wohl auch außerhalb.
Die Ineffizienz der Verkündigung der Jesusbotschaft heute hat sicherlich einen ihrer Gründe in der
allgemein zu beobachtenden Impotenz des Geistes. Das Sein herrscht über das Bewußtsein in ei-
ner beeindruckenden Weise - so daß Marxens ungute Generalisierung nahezu treffen dürfte, nach
der die Inhalte des Bewußtseins (Ethik, Recht, Politik, Religion…) und die durch sie begründeten
Institute (wie Staat und Kirche) keine andere Funktion haben als die Sicherung des Systems. Dann
allerdings würden Staat und Kirche zu Instituten, die einer Entwicklung humaner
Interaktionsmuster entgegenstehen.
Doch auch für die Substanz des Christlichen kann diese Situation in Europa und Nordamerika
tödlich werden. Ein Glauben, das sich nicht durchs Handeln ausweist oder ausweisen kann, stirbt
sehr bald. Es kommt zu Gruppierungen von Menschen, die glauben zu glauben - und ihren ver-
meintlichen Glauben sich und anderen in ihrer Teilhabe an Kulthandlungen bestätigen.

d) Der Glaube zu glauben


Die Unterscheidung zwischen Glauben und dem Glauben zu glauben, dem realen also und dem
vermeintlichen Glauben, ist sicherlich dann schicksalhaft für einen Menschen, wenn er davon ü-
berzeugt ist, daß sein Glaube allein ihn in die befreiende Verbindung zu Gott bringt. Diese Über-
zeugung ist seit Paulus recht verbreitet. In seinem, in der zweiten Hälfte der 50er Jahre in Korinth
verfaßten Brief an die Römer schreibt er:

Wir sind der Überzeugung, daß der Mensch gerecht wird durch den Glauben, unab-
hängig von Werken des Gesetzes. (3, 28)

Gerecht gemacht aus dem Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch Jesus Christus
unseren Herrn. (5, 1)

Damit ist jedoch noch keineswegs die Vermutung des Glaubens gesichert. Der reale Glaube unter-
scheidet sich von vermuteten dadurch, daß er sich durch Handeln darstellt, obschon er nicht
durchs Handeln bewirkt wird.
In einem Brief, der auf einen »Bruder« Jesu, den im Jahre 62 ermordeten Vorsteher der Gemeinde
zu Jerusalem, Jakobus, zurückzugehen scheint, heißt es denn auch:

Meine Brüder, was nützt es, wenn einer sagt, er habe den Glauben, aber es fehlen die
Werke? Kann etwa der Glaube ihn retten? Wenn ein Bruder oder eine Schwester ohne
Kleidung ist und ohne das tägliche Brot, und einer von euch sagt zu ihnen: Geht in
Frieden, wärmt und sättigt euch! Ihr gebt ihnen aber nicht, was sie zum Leben brau-
chen - was nützt das? So ist auch der Glaube für sich allein tot, wenn er nicht Werke
vorzuweisen hat. Nun könnte einer sagen: Du hast Glauben und ich kann Werke vor-
weisen; zeig mir deinen Glauben ohne Werke, und ich zeige dir meinen Glauben auf-
grund der Werke… Willst du also einsehen - du unvernünftiger Mensch -, daß der
Glaube ohne Werke nutzlos ist? (2, 14-20)

Damit faßt er mit etwas dürren Worten die Jesus-Praxis zusammen, der nahezu alle Menschen, die
ihm begegnen, auffordert, etwas zu tun - sich im Handeln auszudrücken. Und nur in sehr wenigen
Fällen ist es kultisches Tun, das Jesus verlangt oder erwartet. Jesus selbst hat offensichtlich der
Teilnahme an Kult-Handlungen nur begrenzte Bedeutung beigemessen. Die Taufe durch Johannes
und das letzte Pascha-Mahl mit seinen Aposteln sind, sieht man von einigen Predigten in Synago-
gen ab, die einzigen uns überlieferten kultischen Handlungen, die die Evangelien für so wesentlich
halten, um sie zu berichten.
Offensichtlich hat also die frühe Gemeinde außer aus den sakramentalen Riten, die sie aus diesen
beiden entwickelte (Initiationstaufe und Eucharistie), ihr Christsein aus dem sittlichen Handeln,
aus dem Glauben gelebt. So heißt es in der Apostelgeschichte, einer gegen Ende des ersten Jahr-
hunderts vom Verfasser des dritten Evangeliums abgefaßten idealisierten Missionsgeschichte der
frühen Christen:
Und alle, die gläubig geworden waren, bildeten eine Gemeinschaft und hatten alles
gemeinsam. Sie verkauften Hab und Gut und gaben davon allen, jedem so viel, wie er
nötig hatte. Tag um Tag verharrten sie einmütig im Tempel, brachen in ihren Häusern
das Brot und hielten miteinander Mahl in Freude und Einfalt des Herzens. Sie lobten
Gott und waren beim ganzen Volke beliebt. (Apg 2, 44-47a)

Wegen der zentralen Bedeutung des sittlichen Tuns und der sekundären Bedeutung des Kults in
der Botschaft des Lebens und der Lehre Jesu, will ich einige Passagen des ersten Evangeliums zi-
tieren, die dies deutlich machen mögen. Die beiden ersten sind Gleichnisse. Gleichnisreden schei-
nen die von Jesus bevorzugte Form der Lehrmitteilung gewesen zu sein.

Ein Sämann ging aufs Feld, um zu säen. Als er säte, fiel ein Teil der Körner auf den
Weg, und die Vögel kamen und fraßen sie. Ein anderer Teil fiel auf felsigen Bogen,
wo es nur wenig Erde gab, und ging sofort auf, weil das Erdreich nicht tief war; als
aber die Sonne hochstieg, wurde die Saat versengt und verdorrte, weil sie keine Wur-
zeln hatte. Wieder ein anderer Teil fiel unter die Dornen, und die Dornen wuchsen und
erstickten die Saat. Ein anderer Teil fiel schließlich auf guten Boden und brachte
Frucht, teils hundertfach, teils sechzigfach, teils dreißigfach. (13, 3b-8)
Hört, was das Gleichnis vom Sämann bedeutet. Immer wenn ein Mensch das Wort
vom Reich hört und es nicht versteht, kommt das Böse und nimmt alles weg, was die-
sem Menschen ins Herz gesät wurde; hier ist der Samen auf den Weg gefallen. Auf
den felsigen Boden ist der Samen bei dem gefallen, der das Wort hört und sofort freu-
dig aufnimmt, aber keine Wurzeln hat, sondern unbeständig ist; sobald er um des
Wortes willen bedrängt oder verfolgt wird, kommt er zu Fall. In die Dornen ist der
Samen bei dem gefallen, der das Wort zwar hört, aber dann ersticken es die Sorgen
dieser Welt und der trügerische Reichtum und es bringt keine Frucht. Auf guten Bo-
den ist der Samen bei dem gesät, der das Wort hört und es auch versteht; er bringt
dann Frucht, hundertfach oder sechzigfach oder dreißigfach. (13, 18-23)

Das Fruchtbringen ist in der agrarischen Welt Jesu und seiner Zuhörer ein eindeutiges Zeichen: Es
geht um das Tun des Guten.

Ein guter Mensch bringt Gutes hervor, weil er Gutes in sich hat, und ein böser
Mensch bringt Böses hervor, weil er Böses in sich hat. (12, 35)

In einem anderen Gleichnis heißt es:

Ein Mann hat zwei Söhne. Er ging zum ersten und sagte: Mein Sohn, geh und arbeite
heute im Weinberg! Er antwortete: Ja, Herr!, ging aber nicht. Da wandte er sich an
den zweiten Sohn und sagte zu ihm dasselbe. Dieser antwortete: Ich will nicht. Später
aber reute es ihn, und er ging doch. Wer von den beiden hat den Willen des Vaters er-
füllt? Sie antworteten: Der zweite. Da sagte Jesus zu ihnen: Amen, das sage ich euch:
Zöllner und Dirnen gelangen eher in das Reich Gottes als ihr. (21, 28-31)

Es kommt Jesus also nicht auf das Sagen an, sondern auf das Handeln. Die gesamte »Bergpre-
digt« enthält keine einzige Aufforderung, von irgendetwas überzeugt zu sein oder zu irgendeiner
kultischen Handlung, sondern fordert Haltungen und Handlungen ein, die keineswegs auf den ers-
ten Blick religiös zu sein scheinen. In dieser »Predigt« läßt das erste Evangelium Jesus sagen:
Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr!, wird in das Himmelreich kommen, sondern
nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt. Viele werden an jenem Tage zu
mir sagen: Herr, Herr, sind wir nicht in deinem Namen… aufgetreten?… Dann werde
ich ihnen antworten: ich kenne euch nicht. Weg von mir, ihr Übertreter des Gesetzes!
(7, 21-23)

Entsprechend läßt der Evangelist Jesus antworten:

Meister, was muß ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen? Er antwortete:
Was fragst du mich nach dem Guten? Nur einer ist »der Gute«. Wenn du aber das Le-
ben erlangen willst, halte die Gebote!… Wenn du vollkommen sein willst, geh und
verkaufe deinen Besitz und gib das Geld den Armen… dann komm und folge mir
nach. (19, 16b-21a)

Es geht hier also in jedem Fall um das Tun, nicht einmal um das Gutsein. Jesus legt seine Hand-
lungsanforderung nicht in einem moralischen Kontext vor (moralisieren liegt ihm nicht), sondern
er stellt einfach fest.

Was zu tun ist, das steht im Gesetze: »Du sollst den Herrn deinen Gott lieben mit
ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit allen deinen Gedanken« (nach Dtn 6, 5) und
»Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (nach Lev 19, 18).

Diese beiden Gebote Jahves galten auch den Pharisäern als die wichtigsten Gebote im »Gesetz des
Moses«. Jesus gibt ihnen eine konkrete Gestalt: Er läßt den Richter über alle Menschen sprechen:

Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das
seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist. Denn ich war hungrig, und ihr
habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich
war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt, und ihr
habt mir Kleidung gegeben; ich war krank, und ihr habt mich besucht; ich war im Ge-
fängnis, und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten:
Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben… Darauf wird
der König ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für meinen geringsten Bru-
der getan habt, das habt ihr mir getan. (25, 34b-40)

In keinem Text finden wir irgendeine Aufforderung zu liturgischem Tun, sondern Forderungen,
die Interaktionsmuster in ganz bestimmter Weise zu gestalten. Die unter uns herrschenden Regeln
lassen allenfalls fakultative Christlichkeit zu, die man beachten oder lassen kann. Im allgemeinen
aber nicht einmal dieses: Wer Erfolg haben will, wer Ansehen genießen will, wird gut daran tun,
als Agent eines sozio-ökonomischen Systems tätig zu werden - innerhalb oder außerhalb der Kir-
che.
Die zuletzt zitierte Rede des »Weltenrichters« setzt keineswegs voraus, daß nur Christen nach
dieser Regel ihr Leben richten werden. Sie trifft für alle Menschen zu.
Diese Einsicht ist insofern wichtig, als bewußtes Christsein, das sich vielleicht gar in einer organi-
sierten christlichen Gesellschaft darstellt, keineswegs sicher zur Erfüllung der Jesusverheißung
führt. Daß aber andererseits Menschen, die außerhalb des Christentums stehen, mögen sie es nicht
kennen oder mögen sie es - etwa wegen seiner scheinbar institutionalisierten Unchristlichkeit - ab-
lehnen, durchaus den Zuspruch des Gottesreiches erfahren. Jesus urteilt also nicht nach kirchli-
chen Zugehörigkeiten, nach Glaubensüberzeugungen, Riten oder Rechten, sondern ausschließlich
nach der Art und Weise, mit anderen Menschen umzugehen. Hierin weist sich aus, ob ein Mensch
glaubt - oder nur zu glauben glaubt. Der scheinbar Gläubige wird selten in Konflikt zu irgendei-
nem Glaubensbekenntnis oder irgendwelchen Dogmen stehen - er wird sie akzeptieren und auf ih-
nen seine Religiosität aufbauen. Aber er wird nicht aus seinem Glauben handeln. Er wird vielmehr
übel Nachreden, verleumden und verurteilen, beneiden, vielleicht gar andere ablehnen - ganz ähn-
lich wie manche Menschen, die sich bewußt gegen die Jesusbotschaft einrichten. Dabei ist es völ-
lig unerheblich, welchen kirchlichen Grad er besitzt. Ich kenne Marxisten, von denen ich vermute,
daß Jesus ihnen das Gottesreich zusprechen würde. Ich vermute, daß einige Vertreter kirchlicher
Hierarchie ihr Christentum mit viel Mühe illusorisch tarnen, um sich selbst als Christen akzeptie-
ren zu können.
Der Weg ins Christentum ist in jedem Fall nicht primär der Weg in eine Kultgemeinde, nicht ein-
mal in eine Glaubensgemeinde, sondern eine Neuorientierung des gesamten Interaktionsstils. Die
Zugehörigkeit zu einer Glaubens- und Kultgemeinschaft ist allenfalls erheblich, insofern und weil
sie eine solche Neuorientierung in Gang setzen und unterhalten kann. Da wir Menschen in Ein-
samkeit und Isolation meist sehr wenig ausdauernd sind, unsere Grundorientierungen zu realisie-
ren, kann (und ist sehr oft) die Zugehörigkeit zu einer kirchlichen Gemeinschaft die religiöse, so-
ziale und psychische Voraussetzung sein eines praktischen Christseins. Die Gefahr, die in der Zu-
gehörigkeit zu solcher Gemeinschaft liegt, ist die, daß sie die Verwechslung von realem Glauben
und vermeintlichem Glauben maskieren und verschleiern helfen kann.

e) Zwei Typen des Christseins


Nicht wenige empirische Untersuchungen [etwa die von J. Wittkowski (1977 und 1978)] machen
zureichend sicher, daß es zwei Formen praktischer Religiosität gibt, die Menschen sehr viel radi-
kaler und folgenschwerer unterscheiden als die Zugehörigkeit zu bestimmten christlichen Kirchen
oder Konfessionen. Diese Differenz ist so grundlegend, daß dahinter die zwischen den verschie-
denen christlichen Bekenntnissen als unerheblich verschwindet. Ich komme deshalb in diesem
Buch auch nicht auf dogmatische Meinungsverschiedenheiten zwischen den christlichen Denomi-
nationen zu sprechen.
Die erste Gruppe von Menschen versteht Religion vor allem verhaltensnormierend. (G.W. Allport
spricht hier zutreffend von »extrinsischer Religiosität«). In diesem Fall induziert Religion zweifels-
frei Angst (vor Strafe, Verdammnis…). Die Einstellung zu Tod und Sterben reicht von panischer
und irrationaler Angst (thanatophobie) bis hin zu raffinierten Abwehrtechniken. Diese Menschen
versuchen oft, sich selbst von allen möglichen Formen des Habens her (Materielles, Güter, Erfolg,
Bildung, Anerkennung, Freunde, Dogmen…) zu verstehen. Nahezu alle religiösen Neurotiker ent-
stammen dieser Gruppe.
Die zweite Gruppe von Menschen versteht Religion intrinsisch als sinngebende, emotionale und
erkenntnismäßige Zugehörigkeit vermittelnde Instanz. Die vielen »Gebote« des Christentums
werden unter den Primat des Liebesgebots gestellt. Religiöse oder religiös begründete Ängste sind
selten - seltener noch als bei Menschen, die sich selbst nicht für religiös halten. Die Einstellung zu
Tod und Sterben ist funktional. Das heißt, das eigene Sterben ist als Notwendigkeit emotional und
rational in das Persönlichkeitskonzept integriert.
Während für die erste Gruppe Gott eine gebietende und bestrafende Instanz ist, ist er den Men-
schen der zweiten der Gnädige und Liebende, dem man sich ohne jede Angst überlassen kann, wer
man auch immer sei, und was man auch immer getan habe.
Ich vermute, daß die erste Gruppe eine sehr infantile Form des Religiösen fixiert - mitunter unter-
stützt durch eine ungute christliche Verkündigung. Ganz sicher aber findet sich in ihrer Religiosi-
tät eher Ritus (Dogma, Sakramente, Recht) als praktische Liebe. Daß dies sehr wenig mit der Je-
susbotschaft zu tun hat, ist ganz offensichtlich. Die Jesusbotschaft will gelebt werden. Sie betrifft
das Sein des Menschen, nicht sein Haben.
Ein interessantes Merkmal der statistischen Erhebungen ist, daß Mischformen zwischen intrinsi-
scher und extrinsischer Religiosität recht selten sind. Das bedeutet, daß der Wunsch des religiösen
Konservatismus, beide Aspekte zu einen, vermutlich unerfüllbar ist. Angst induzierend und von
Angst befreiend sind nicht miteinander vereinbare Merkmale konkreter Religiösität.

6. Das Christentum und seine Theologie


Vorchristlich bei Platon meint »Theologie« das Bemühen, den Wahrheitsgehalt der von allen
Dunkelheiten gereinigten religiösen Mythen zu finden. Aristoteles bezeichnet dagegen die My-
thenerzähler selbst als Theologen (und unterscheidet sie so von den Philosophen). Wegen seiner
Verwurzelung in der kultisch-mythischen Tradition der Griechen wurde das Wort recht zögernd
in den christlichen Sprachgebrauch übernommen. Erst das vierte und fünfte Jahrhundert meint
damit die Lehre von Gott und Christus, ohne daß die aristotelische Bedeutung im profanen Spre-
chen jemals verloren gegangen wäre. Seit dem beginnenden 12. Jahrhundert versteht man unter
»Theologie« die systematische Reflexion über alle Gegenstände der christlichen Tradition.
Ich will hier das Wort in einem etwas engeren Sinne gebrauchen: »Theologie« bezeichnet das spe-
kulative Entfalten der Lehre von Gott.
Die frühe christliche Verweigerung, das Wort zu verwenden, darf nicht unbedingt als Verweige-
rung in der Sache gesehen werden. Zwar lehnt das Judentum jede spekulative Beschäftigung mit
Jahve ab, auch in den Heiligen Schriften der Christen finden sich bloß theologische Ansätze, doch
die Auseinandersetzungen mit »Irrlehrern« forderte schon bald spekulatives Bedenken über das
Zusammen und Auseinander von Jesus und Gott an. Dieses spezifisch christliche Problem, von
dessen Lösung her das Christentum in seinen verschiedenen Ausdrucksformen sein Selbstver-
ständnis bezog, wurde in den Kategorien des griechischen philosophischen Denkens bewältigt -
wie eingangs berichtet.
Genauerhin scheint sich eine christliche Theologie ausgebildet zu haben in der Auseinanderset-
zung mit der Gnosis. Bis 1945 (den Funden von Nag Hamadi) kannte man die Gnosis ausschließ-
lich aus ihren Widerlegungen etwa durch Irenäus († nach 200), durch den Gegenpapst Hyppolyt
(† 235), durch Epiphanius († 403). Die Gnosis wollte durch spekulative philosophisch-
theologische Überlegungen ihre religiöse Überzeugung verbreiten. Die christliche Gnosis suchte
christliches Denken und Glauben in gnostische, kosmologische und theologische Spekulationen
einzubauen. Vermutlich hat sie religiösen Glauben, in geistreiche Spekulation aufgelöst, verkün-
det. Dagegen wehrt sich etwa Irenäus mit der Feststellung, daß nur das Gegenstand des Glaubens
sei, was unvermindert und unverändert seit der Zeit der Apostel als christliche Lehre von einer zur
anderen Generation weitergegeben werde.
Doch schon im frühen zweiten christlichen Jahrhundert finden wir aus dem Geist und der Schule
des Paulus geschriebene Abweisungen der Gnosis. So heißt es im 1. Timotheusbrief:

Timotheus, bewahre was dir anvertraut ist. Halte dich fern von dem gottlosen Ge-
schwätz und den falschen Lehren der sogenannten Gnosis. Nicht wenige, die sich dar-
auf eingelassen haben, sind vom Weg des Glaubens abgekommen. (1 Tim, 6,20-21)

Nun sind viele Christen im Laufe der Jahrhunderte durchaus der Gefahr erlegen, die spekulative
Methode der Gnosis zu übernehmen. Sie haben sich auf diesem Niveau in endlose Streitereien
eingelassen. Dabei hätte sie die Erfahrung des Judentums Besseres lehren können. Israel war in
der Reflexion auf seine Geschichte zu seiner Jahve-Religiosität gekommen. Die aber verbot aus
einem schlichten und einfachen Grund jede Spekulation. Spekulieren kann man nicht über Jahve,
sondern allenfalls über ein Bild. Das aber ist niemals Gott so ähnlich, als daß man sagen könnte, es
sei ihm ähnlicher als unähnlich. Gottesbilder sind also immer eher Bilder von Nicht-Gott. Genau-
erhin sind sie Bilder, die der Mensch sich aus seinen großen und unbefriedigten Bedürfnissen und
Sehnsüchten konstruiert. Die Juden hatten schon früh erkannt, daß es keine legitimen Gottesbildet
geben könne, und daß die Verehrung eines Bildes zum Götzendienst entarten müsse. Deshalb lau-
tet das zweite »mosaische Gebot«:
Du sollst dir kein Gottesbild machen, das irgendetwas darstellt am Himmel droben,
auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde. (Dtn 5, 8)

In einer anderen Überlieferung wird gar als erstes Gebot ein totales Bildverbot ausgesprochen:

Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung am Himmel droben, auf
der Erde, unter oder im Wasser, unter der Erde. (Ex 20, 4)

Anfangs schien das Christentum gegen diese Gefahr gefeit zu sein. Denn eine spekulative Christo-
logie schien überflüssig, war doch seine Grundlage das Leben und die Lehre des Jesus von Naza-
ret. Doch schon ziemlich früh forderten Streitereien um den religiösen Status Jesu einerseits und
der Zwang, sich mit der Gnosis inhaltlich wie formal auseinanderzusetzen, andererseits eine Theo-
logie ein, die bald gleichberechtigt neben der Christologie stand. Zwar ist Jesus wesensgleich dem
christlichen Gott, doch forderte die Begegnung mit den Gegnern eine theologische Reflexion ein.
Dabei vergaßen manche Theologen bis zum heutigen Tag (nicht in der Theorie, aber in der Praxis
und im Anspruch ihres Denkens) oft, daß Theologie nicht über Gott, sondern stets über ein Got-
tesbild handelt. In den Gegenstand der Theologie gehen also viele Inhalte menschlichen Selbstver-
stehens mit ein - und das um so eher, als im Christentum ein Mensch Ausgang allen theologischen
Wissens ist, Jesus von Nazaret.
Es ist durchaus zutreffend und keineswegs das christliche Anliegen verratend, wenn etwa L. Feu-
erbach Theologie wieder auf Anthropologie reduziert und in ihr - unter verstellten Zeichen - die
Sehnsucht des Menschen nach sich selbst als Gottesbild wiederentdeckt. Er geht jedoch zu weit,
wenn er behauptet, daß »Gott« nichts sei als das verborgene Wesen des Menschen. Er handelt
vielmehr über das Objekt der spekulativen Theologie. Beides sollte man sorglichst auseinanderhal-
ten. Der Kampf der frühen Christen gegen die Gnosis sollte nicht heute noch verloren werden.
Von hierher ist die Relativität jeder Theologie wesentlich. Sie paßt sich an und ist teilweise Er-
gebnis der konkreten menschlichen (individuellen und sozialen) Situation, in der sich der konkrete
Theologe befindet. Theologie ist also eine außerordentlich zeitrelative Disziplin. Wie Menschen
von Menschen denken, so denken sie auch von und über ihren Gott. Das gilt auch für die Theolo-
gie. Wie die Menschen miteinander umgehen, so gehen sie auch mit ihrem Gott um. Das gilt für
die Menschen aller Zeiten. Theologie ist also als konkrete abhängig etwa von folgenden Faktoren:
• der subjektiven Religiosität des Theologen,
• den sozio-ökonomischen Bedingungen, unter denen er lebt, insofern sie die interpersonalen In-
teraktionsmuster weitgehend bestimmen und qualifizieren,
• den individuellen Erfahrungen, die ein Theologe mit Menschen gemacht hat, seinen sozialen
Bedürfnissen (vor allem den unbefriedigten), seinen Hoffnungen und Wünschen.
Und dennoch wäre es falsch, der Theologie völlige Willkür zu unterstellen. Insofern sie christlich
ist, ist sie immer auf eine zweifache Weise der Jesusbotschaft verpflichtet:
• Diese ist immer ihr Ausgang (also das Verhalten Jesu zu seinem Vater ist exemplarisch).
• Diese ist immer negative Norm (also darf nichts Erdachtes und Deduziertes der Jesusbotschaft
widersprechen).
Von hierher ist christliche Theologie auch immer Reflexion über konkrete, an der Jesusbotschaft
orientierte Religiosität. Von hierher hat ebenfalls die christlichen Gemeinde, etwa repräsentiert
durch die Kirche, das Recht über die Inhalte einer Theologie zu wachen, die sich als christlich be-
hauptet. Nicht selten bewegt sie der Zwang des Denkens aus dem von der Jesusbotschaft gezoge-
nen Rahmen hinaus. Solche Denkzwänge stellen sich als Selbstverständlichkeiten, Gewißheiten
und Sicherheiten von Menschen unter bestimmten sozio-ökonomischen Bedingungen vor, die es
unmöglich machen, ihre Bewußtseins-Inhalte ernsthaft in Frage zu stellen. Sicherlich unterstehen
auch die Amtsträger in der Kirche solchen Beschränkungen, doch - zumindest wenn sie nicht ähn-
licher sozialer Herkunft sind - sehr viel weniger dringend.
Wenn schon Theologie über Gottesbilder handelt, stellt sich die Frage, ob nicht durch die Jesus-
botschaft wesentlich neue Gesichtspunkte in das religiöse Denken eingebracht wurden, die es er-
lauben, das jüdische Bilderverbot zu relativieren. Mit anderen Worten: Kennt die Jesusbotschaft
Bilder, die eine gewisse allgemeine und überzeitliche Gültigkeit haben, so daß man sie legitim -
will heißen: ohne größere Gefährdung, Gott in der religiösen Intention zu verfehlen, ins Denken
und Sprechen einführen kann? Hier stellen sich zwei Bilder vor. Das erste ist der erfahrbare Je-
sus, der uns Gott selbst erfahrbar macht. Das zweite wird schon bald von der christlichen Ge-
meinde akzeptiert. Es ist am deutlichsten im 1. Johannesbrief gezeichnet. Dieser ist gegen das En-
de des ersten Jahrhunderts von einem Verfasser geschrieben worden, der dem Kreis nahestand,
der das vierte Evangelium (das »Johannesevangelium«) hervorbrachte. Es heißt da:

Jeder, der liebt, stammt aus Gott und erkennt Gott…, denn Gott ist die Liebe. (4, 7-8)

Hier ist die endgültige Antwort des Christen gegeben auf Gnosis und Theologie: Nicht im Denken
und Spekulieren wird Gott erkannt, sondern im Lieben.
»Jesus von Nazaret« und »Liebe« sind für den Christen die Symbole des Vater-Gottes, seine Er-
scheinung in einem ihm Anderen und doch Verbundenem, in dem er ganz und gar gegenwärtig ist
und sich so erfahrbar macht. Beide sind »Realsymbole« des unbegreiflichen und daher auch Spra-
che vollständig entzogenen Gottes. Sie sind gleichsam ER in irdischer Äußerung.

7. Vieles glauben?
Für nicht wenige Menschen, die sich auf dem Weg zum Christentum befinden, ist die Menge des
zu Glaubenden ein ernsthaftes Hindernis, das sie verschreckt einhalten läßt. Genügt es doch vie-
len, die über die Zugehörigkeit zu christlichem Glauben entscheiden - sei es zu Recht oder zu Un-
recht - keineswegs immer, daß ein Mensch auf dem Weg etwa die Inhalte des christlichen Glau-
bensbekenntnisses akzeptiert. Es wird nicht selten verlangt, daß die Fülle der Dogmen, in denen
sich christliche Kirchen im Laufe der Jahrhunderte um ihre Identität mühten, nicht nur akzeptiert,
sondern auch geglaubt werden. Es scheint mitunter so, als sei die Menge der geglaubten Sätze
proportional der Qualität eines Menschen als Christ. Daß dies alles wenig mit christlichem Geist
zu tun hat, ist ganz offensichtlich. Ich bin mir nicht einmal ganz sicher, ob Jesus heute die vielen
hundert dogmatischen Aussagen der katholischen Kirche zur Basis seiner Verkündigung machen
würde. Jedenfalls hat er recht eindeutig gesagt, was er von den Seinen erwartet: Nicht etwa die
Übernahme von irgendwelchen Sätzen, nicht den Vollzug irgendwelcher Riten, nicht die Beobach-
tung von Gesetzen und Geboten, sondern den ernsthaften Willen, ihm nachzufolgen in Selbstablö-
sung und Liebe bis zum Tod. Und das meint »Glauben«.
Ehe wir uns um die Menge des zu Glaubenden, die Größe des »Glaubenspakets« kümmern, müs-
sen wir uns zunächst fragen, was denn »Glauben« eigentlich bedeutet.
Der um das Jahr 90 von einem griechisch gebildeten Judenchristen geschriebene »Brief an die
Hebräer« versucht das christliche Glauben in die Tradition des Glaubens der Großen der Ge-
schichte Israels zu stellen. Ehe er 20mal mit der Formel: »Aufgrund des Glaubens…« eine gewal-
tige Aufzählung von Glaubensbeispielen beginnt, »definiert« er, was er mit »Glauben« meint:

Glaube aber ist: Feststehen in dem, was man erhofft, Überzeugtsein von Dingen, die
man nicht sieht. (11, 1)

Die Beispiele machen deutlich, was das im Einzelnen heißt: Es meint keinesfalls - wie gesagt - die
Übernahme bestimmter Sätze als unbezweifelbar wahre Aussagen, sondern schlicht und einfach
»den Willen dessen zu tun, den man nicht sieht, um seiner Verheißungen willen«.
Da heute zumeist das Glauben nicht als Nachfolge Jesu oder als Handeln aus der Hoffnung auf die
Treue Gottes verstanden wird, sondern als eine besondere Form des Für-wahr-Haltens, müssen
wir uns auch mit diesem Begriffsgebrauch auseinandersetzen.
Die Philosophie Platons verwendet »Glauben« als Überzeugtheit von Inhalten, die als wahr ge-
meint, nicht aber wissenschaftlich begründet werden. Diese Differenz zwischen Glauben (Meinen)
und Wissen wurde vor allem von der Gnosis als polarer Gegensatz entwickelt. Über griechisch-
philosophische und gnostisch-intellektualistische Einflüsse, gegen die sich der Verfasser des Heb-
räer-Briefs schon erheblich gewehrt zu haben scheint, insofern er den Begriff »Glaube« völlig aus
dem profanen platonischen Kontext ablöst, ist doch schon im dritten Jahrhundert das Wort
»Glauben« in seiner Bedeutung als semantischer Prädikator verbreitet. Es bezieht sich also auf das
Für-wahr-Halten eines Satzes. Meist wurde dieser Akt kausal und final gerechtfertigt: Kausal,
weil in der Botschaft Jesu begründet; final, weil zum Heil führend.
Als im 12. und 13. Jahrhundert der Islam und das Christentum der Religionskritik durch die aris-
totelische Philosophie ausgesetzt wurden, begannen die Theologen schon bald mit Immunisie-
rungsstrategien. Sätze mit religiöser und solche mit philosophischer Gewißheit galt es zu trennen.
Averroes führte im arabischen Raum die Lehre von der doppelten Wahrheit ein. Als diese nach
anfänglicher Übernahme durch christliche Philosophen ins Kreuzfeuer kirchlicher Kritik geriet,
baute man hier die Lehre von den zwei Erkenntnismodi aus (Vernunft und Glaube), die vom ers-
ten Vatikanischen Konzil (1870) für den katholischen Bereich dogmatisiert wurde. Johannes Duns
Scotus († 1308) und Wilhelm von Ockham († 1347) bestritten der Philosophie konsequent jede
Kompetenz in Glaubensfragen. Wir wollen unterscheiden
• Der Glaube als Handeln aus Hoffnung auf die Treue Gottes (von diesem Glauben spricht der
Hebräerbrief).
• Das Glauben als ein Für-wahr-Halten von Offenbarungsinhalten.
• Das Geglaubte als die Materie dieser Inhalte.
Extensionsprädikate (also Mengenangaben) betreffen allenfalls das Geglaubte. Es ist nun aber
ganz offensichtlich, daß diese Menge allenfalls erheblich ist, wenn sie Intensität des Handelns (et-
wa des Engagements) und des Für-wahr-Haltens ändert. Werden diese Intensitäten gestört, dürfte
es besser sein, weniger zu glauben. Ich vermute, daß es wichtiger und christlicher ist, weniger zu
glauben und nach dem Geglaubten Leben und Denken auszurichten, als mehr zu glauben und im
übrigen nichts zu ändern in den Grundinhalten des Bewußtseins und des Seins. Der erste Johan-
nesbrief hat dieses sehr schlicht und überzeugend formuliert:

Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott, aber seinen Bruder haßt, ist er ein Lügner. Denn
wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht.
(4, 20)

Von hier aus muß auch bestimmt werden, was »Unglaube« (das Gegenteil von Glaube) heißt.
Kann man ungläubig sein, wenn man irgendeine christliche Lehraussage leugnet? Oder ist ein
Mensch nicht gläubig, wenn er zwar alle Lehraussagen ganz und gar und ohne jede Beschränkung
akzeptiert, aber nicht den Willen Gottes tut im sittlichen Handeln? Die kirchliche Praxis ist hier
eindeutig. »Ungläubig« wird der genannt, der einen für wesentlich erachteten Satz christlicher
Doktrin nicht für außerhalb allen Zweifelns wahr hält. »Gläubig« ist dagegen der, der keinen die-
ser Sätze leugnet, unabhängig von seiner Weise, mit seinen Mitmenschen umzugehen. Ich vermute
lebhaft, daß diese Praxis nicht ganz identisch ist mit der Jesu und der frühen Gemeinde. Ich ver-
mute, daß nicht ausgeschlossen werden kann, daß hier ein intellektualistischer Glaubensbegriff
vorausgesetzt wird, der der Gnosis oder der aristotelischen Scholastik näher steht als der Jesus-
botschaft und der frühen Gemeindepraxis. So will ich hier zur besseren Entscheidung zwei Sätze
zu bedenken geben. Der erste stammt aus der Bergpredigt, der andere aus dem ersten Johannes-
brief:
Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten; wer aber
jemand tötet, soll dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch: jeder, der seinem
Bruder auch nur zürnt, soll dem Gerichte verfallen sein;… wer aber zu ihm sagt: Du
Gottloser!, soll dem Feuer der Hölle verfallen sein. (Mt 5, 21-22)

Die Liebe zu Gott besteht darin, daß wir seine Gebote halten. Seine Gebote sind nicht
schwer. (5, 3)

Doch noch ein Wort zur Menge des Geglaubten. Offensichtlich genügte es den christlichen Ge-
meinden des ersten Jahrhunderts, wenn ein Mensch annahm, daß Jesus der Christus sei, um ihn
zur christlichen Gemeinde zu zählen. Dafür sprechen nicht wenige Belege:

Jeder, der glaubt, daß Jesus der Christus ist, stammt von Gott, und jeder, der den Va-
ter liebt, liebt auch den, der von ihm stammt. (1 Joh 5, I)

Keiner kann sagen: Jesus ist der Herr!, wenn er nicht aus dem Heiligen Geist redet. (1
Kor 12, 3B)

Wenn du mit deinem Mund bekennst: »Jesus ist der Herr« und in deinem Herzen
glaubst: »Gott hat ihn von den Toten auferweckt«, so wirst du gerettet werden. (Röm
10, 10)

Das zweite Evangelium legt Jesus hier einen wiederum recht bedenkenswerten Satz in den Mund,
der ein Sprichwort umkehrt:

Wer nicht gegen uns ist, der ist für uns. (9, 40)

Und das kann doch wohl nichts anderes bedeuten (wie auch aus dem biblischen Zusammenhang
deutlich), daß zunächst einmal anzunehmen ist, daß Menschen nicht gegen Jesus sind, sondern -
bis zum Beweis des Gegenteils - für ihn.
Auch die frühkirchliche Praxis kennt keinerlei lange Listen von zu glaubenden Inhalten, wenn es
um die Aufnahme in die christliche Gemeinschaft geht. Die Apostelgeschichte berichtet, daß der
Kämmerer der äthiopischen Königin nach einem einzigen Gespräch in die Gemeinschaft aufge-
nommen wurde (Apg 8, 27b-39).

8. Ich glaube an Gott


Der Gottesglaube war für die frühen Christen ganz unproblematisch. Gott war für sie vor allem
der »Vater Jesu Christi«. Spekulationen über das »Wesen Gottes« lagen ihnen so fern, wie sie der
Gnosis nahe lagen. Der relativ unproblematische Gottesglauben verweigerte aber heftig den Glau-
ben an »fremde Götter«. Nicht zufällig wurden die Christen in Rom verfolgt unter der Anklage
des Atheismus, da sie nicht die Götter verehrten, die der Staat verehrt.
Heute verstehen wir unter »Atheismus« eine ganze Reihe von praktischen Einstellungen oder the-
oretischen Positionen, die sich etwa so sammeln lassen:
• Der praktische Atheismus verzichtet bewußt auf die Annahme eines erfahrungsübersteigenden
höchsten Wesens als einer Instanz, Ereignisse zu erklären, Handlungen zu verstehen, Normen
zu begründen oder Wandel zu bewirken.
• Der theoretische Atheismus begründet dagegen seine Ablehnung, die Existenz eines solchen
Wesens zu behaupten (etwa durch erkenntnistheoretische oder theologiekritische Argumente).
Eine Sonderform dieses Atheismus ist der dogmatische, der - ähnlich dem dogmatischen
Theismus - »Gott« für etwas hält, das man einem Existenz- oder Nicht-Existenz-Beweis un-
terstellen könne.
Der theoretische Atheismus wurde vermutlich zuerst von den französischen Materialisten um die
Mitte des 18. Jahrhunderts ganz offen vertreten. So behauptete Dietrich Baron von Holbach in
seinem Werk »Système de la nature« (1770), der Mensch sei als Teil der Welt ein im Sinne der
Newtonschen Partikelmechanik voll bestimmbares Wesen, und seine Moral gründe utilitaristisch
auf einer (bestenfalls aufgeklärten) Selbstliebe. Die Erkenntnis, vor allem die der gesellschaftlichen
Verhältnisse, werden Menschen von ihrer Religion befreien.
Doch ist der Atheismus keineswegs als Ausdruck der wissenschaftlichen Revolution des 17. und
18. Jahrhunderts zu verstehen. Er war und ist eine Möglichkeit aller Menschen aller Zeiten. Gott
ist niemals selbstverständlich, wenn man ihn an einem wie auch immer gezeichneten Bild anspricht
und zu begreifen versucht, weil jedes Bild auch falsch ist - nicht identisch mit dem Abgebildeten.
Ich will hier auf nur zwei sehr verbreitete Bilder eingehen, die von einem Gott handeln, den es
nicht geben kann, wenn man in sich Widersprüchliches ausschließt.
Da ist zunächst einmal die Vorstellung von einem manipulierbaren Gott. In der kollektiven Kind-
heitsgeschichte der Menschheit, aber auch in der individuellen vieler Menschen, scheint eine Phase
erheblich zu sein, während der die Erfahrungen im Umgang mit Menschen auf das projiziert wer-
den, was man in der kindlichen Bedeutungswelt »Gott« nennt. Und eine der Erfahrungen ist die
Beeinflußbarkeit jedes Menschen. Ein Kind erfährt meist sehr dramatisch, daß es durch Wohlver-
halten gegenüber den Eltern zwei Dinge erreichen kann:
• Freiheit von Angst, Schuld, Scham und Mindergefühlen und
• Zuwendung und sozialen Aufstieg.
Ungehorsam aber wird mit dem Gegenteil bestraft. Nun ist der kindliche Mensch nicht selten der
Meinung, daß er
• durch Wohlverhalten Gottes Zuneigung erwerben und widerwärtige Emotionen vermeiden
könne, und
• durch fehlendes Wohlverhalten (»sündigen«) Gott erzürnen werde.
Gott wird also in ziemlicher Analogie zu den natürlichen Autoritäten interpretiert. Daß diese In-
terpretation ganz offensichtlich falsch ist, geht aus der prinzipiellen Unveränderbarkeit Gottes
durch geschöpfliche Aktivitäten hervor. Das soll heißen: Wenn es einen substanzartigen (und nicht
bloß funktionalen) Gott »gibt«, dann muß er als Ursache des Geschöpflichen von Geschöpfen un-
beeinflußbar sein. Der reife Monotheismus ist denn auch von solcher Unbeeinflußbarkeit über-
zeugt. Das Christentum ist, wenn es in Bildern von Gott spricht, nach denen er ein substanzartigen
Wesen ist, der Auffassung, daß Gott, völlig unabhängig davon, was, wer und wie ein Mensch ist,
alle seine Geschöpfe unbedingt (= ohne jede Bedingung) liebt. Weil er aber bedingungslos liebt
(wie er selber auch bedingungslos ist), so kann der Mensch nicht positive oder negative Bedin-
gungen göttlicher Zuwendung setzen.
Ein anderes kindliches Bild von Gott entsteht aus der Erfahrung vieler Kinder, daß jede zuhande-
ne Autorität fehlbar, ungerecht, willkürlich… ist, und daß darum die höchste Autorität nicht auf
dieser Erde spielt, sondern irgendwo in einem fernen Himmel, von wo aus sie die Geschicke dieser
Welt leitet. Aber auch diese Position ist, weil widersprüchlich, unvertretbar. Wenn Gott »exis-
tiert«, ist er nicht endlich (weder räumlich, zeitlich, noch in den Vollzügen von Freiheit, Macht,
Güte…). Wenn man also schon von Gott in räumlichen oder zeitlichen Metaphern sprechen will,
dann wird man von »Allgegenwart« sprechen müssen. Das meint: Gott ist in allen Dingen, Ereig-
nissen, Situationen… gegenwärtig - und kann prinzipiell auch in ihnen erfahren werden. Das meint
keineswegs, daß Gott mit allen Dingen, Ereignissen, Situationen… identisch ist - aber er ist in ih-
nen anwesend. Daß Christen dieser Meinung sind, mag die Predigt des Paulus auf dem Areopag in
Athen deutlich machen. Hier verkündete er - nach dem vermutlich sehr geglätteten Bericht der
Apostelgeschichte:
Gott, der die Welt erschaffen hat und alles in ihr, er, der Herr über Himmel und Erde,
Wohnt nicht in Tempeln, die von Menschenhand gemacht sind. Er läßt sich auch nicht
von Menschen bedienen, als brauche er etwas:
Er, der allen das Leben, den Atem und alles gibt…
Die Menschen sollten Gott suchen, ob sie ihn ertasten und finden könnten;
Denn keinem von uns ist er fern.
Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir. (17, 24-28)

Wenn aber unsere kindlichen Bilder nicht mehr greifen, wie können wir dann an Gott glauben? Si-
cherlich müssen wir uns um ein zutreffenderes Gottesbild mühen. Das des Verfassers des ersten
Johannesbriefs dürfte dem Jesu recht nahe kommen. Es erschöpft sich in der lapidaren Feststel-
lung:

Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott, und Gott bleibt in
ihm. (4, 16b)

Jeder, der liebt, stammt von Gott und erkennt Gott… denn Gott ist die Liebe. (4, 7-8)

Diese Texte sind als Zeugnisse frühchristlichen Glaubens, der sich wie gesagt - in der Hauptsache
um die Person Jesu rankte, von ziemlicher Aussagekraft:
• Unsere Liebe zu Gott besteht darin, daß wir sittlich handeln (= die Gebote halten) (5, 3).
• Unsere Liebe zu den Menschen besteht darin, daß wir »nicht mit dem Wort oder der Zunge,
sondern in Tat und Wahrheit« (3, 18) Not lindern (3, 17), nicht hassen (4, 20), uns nicht fürch-
ten, sondern zuversichtlich sind (4, 17-18).

Das Wort »Liebe« ist nun eines der abgegriffensten unserer Sprache. Es sagt so viel, daß es schon
mehr verschweigt als bedeutet. »Was ist Liebe?« läßt Nietzsche die letzten Menschen fragen - und
dabei blinzeln. Nun gibt uns die Heilige Schrift der Christen keine kurze handliche Definition,
wohl aber eine sehr gute funktionale Beschreibung, die es uns erlaubt, in nahezu jedem konkreten
Fall zu entscheiden, ob Liebe eine zwischenmenschliche Situation beherrscht oder nicht. Paulus
hat uns diese Beschreibung im 1. Brief an die Leute in Korinth, kaum 25 Jahre nach Jesu Tod nie-
dergeschrieben:

Wenn ich die Sprache der Menschen und Engel redete,


Hätte aber die Liebe nicht,
Wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke.
Und wenn ich prophetisch reden könnte
Und alle Geheimnisse wüßte
Und alle Erkenntnis hätte;
Wenn ich alle Glaubenskraft besäße
Und Berge damit versetzen könnte,
Hätte aber die Liebe nicht,
Wäre ich nichts.
Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte,
Und wenn ich meinen Leib dem Feuer übergäbe,
Hätte aber die Liebe nicht,
Nütze es mir nichts.
Die Liebe ist langmütig,
Die Liebe ist gütig,
Sie ereifert sich nicht,
Sie prahlt nicht.
Sie bläht sich nicht auf.
Sie handelt nicht ungehörig,
Sucht nicht ihren Vorteil,
Läßt sich nicht zum Zorn reizen,
Trägt das Böse nicht nach.
Sie freut sich nicht über das Unrecht,
Sondern freut sich an der Wahrheit.
Sie erträgt alles,
Glaubt alles,
Hofft alles,
Hält allem stand.
Die Liebe hört niemals auf.
Prophetisches Reden hat ein Ende,
Zungenrede verstummt,
Erkenntnis vergeht.
Denn Stückwerk ist unser Erkennen,
Stückwerk unser prophetisches Reden;
Wenn aber das Vollendete kommt,
Vergeht alles Stückwerk.
Als ich ein Kind war,
Redete ich wie ein Kind
Dachte wie ein Kind
Und urteilte wie ein Kind.
Als ich ein Mann wurde,
Legte ich ab, was Kind an mir war.
Jetzt schauen wir in einen Spiegel
Und sehen nur rätselhafte Umrisse,
Dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht.
Jetzt erkenne ich unvollkommen,
Dann aber werde ich durch und durch erkennen,
So wie auch ich durch und durch erkannt worden bin.
Für Jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei;
Doch am größten unter ihnen ist die Liebe. (13, 1-13)

Damit hat Paulus jedem Christen die entscheidende Zielvorgabe gegeben. Niemand kann sich ent-
schuldigen, er wisse nicht, was Liebe sei. Jedermann ist in der Lage, seine Schwachpunkte vor
dem Anspruch christlicher Sittlichkeit zu erkennen. Sicherlich polemisiert Paulus auch in diesem
»Hohelied der Liebe« gegen Menschen, die prophetisches Reden oder unverständliches Stammeln
zum Lobe Gottes in die Liturgie einführen wollen und jene, die meinen, Gott im Denken erkennen
zu können (Gnosis), doch ist der Grundgedanke dieses Hymnus nicht Polemik. Er stellt vielmehr
eine einzigartige Summe der Jesusbotschaft dar.
Versuchen wir nun, die wesentlichen Aussagen des 1. Johannesbriefes vor dieser Definition christ-
lichen Liebens auszumachen. Der Text sagt:

• Man kann Gott erkennen, wenn man liebt. Ja, wenn man liebt hat man Gott schon
erkannt.

Die weitaus meisten Menschen leiden irgendwann einmal in ihrem Leben an der Unerfahrbarkeit
Gottes - manche leiden zeitlebens darunter und kapitulieren in einen praktischen Atheismus hinein.
Das liegt nicht selten daran, daß sie die Wende von einem kindlichen zu einem reifen Gottesbild
nicht recht vollzogen, oft auch gar nicht - wegen mangelnder Hilfe - vollziehen konnten. Niemand
hatte ihnen gesagt, unter welchem Bild Gott erfahrbar ist.
Sicherlich ist es nicht leicht zu lieben (etwa im Sinne des paulinischen Hymnus), doch das Mühen,
das ernsthafte und niemals aufgebende reicht. Nicht das Vollenden ist in unser Vermögen gestellt,
aber das Wollen, das von unserer Seite unbedingte Wollen, das sich immer und immer wieder an
der Praxis probt. Und wenn es uns auch nicht - trotz allen Mühens gegeben sein sollte - zu lieben,
so können wir doch das Gegenteil meiden. Das ist allemal in unsere Kraft gegeben - wenn auch
oft erst nach einigem Training. Wir können meiden das Hassen, das Verurteilen oder Beurteilen
nach moralischen Qualifikationen, das Neiden und Kränken, das üble Nachreden und Verleumden,
das Beleidigen und Links-Liegen-Lassen, das Verachten und das Schneiden, das Nachtragen und
das Zürnen.
Wenn wir das alles tun, dann ist der Schritt in das Lieben meist nicht sehr groß - und mit dem Lie-
ben der zur Erkenntnis Gottes.
Was aber erkennt man da? Natürlich keinen Menschen oder irgendetwas, das bildhaft darstellbar
wäre. Dennoch aber wird alles anders: Farben werden leuchtender, Sorgen anderer Menschen er-
heblicher, Leben in Tieren und Pflanzen erfahrbarer, die Sonne strahlt heller und das Leben macht
Freude. Und in all dem leuchtet das Geheimnis einer unendlichen Liebe auf. Für einen Menschen,
der Gott erkannt hat unter dem Bild oder in der Gestalt der Liebe, ist alles neu und vieles wichtig
geworden, das vorher alt und abgegriffen, unnütz oder entbehrlich erschien.
Es ist keineswegs schwer, Gott zu erkennen, man muß sich nur bedingungslos der Liebe überlas-
sen. Das wollen wir alle, danach sehnen wir uns - mit jener Sehnsucht, die letztlich die nach dem
ist, was wir in unserer immer zu kurzen Sprache »Gott« nennen.
Aber diese Erkenntnis Gottes ist noch nicht das Ende. Wer Gott unter dem Bild der Liebe erkannt
hat, einer Liebe, die ja immer begrenzt ist durch die Enden menschlicher Erfahrungsfähigkeit von
Liebe, der kann eines Tages Gott in der völligen Bild- und Sprachlosigkeit erfahrend erkennen.
Diese Erfahrungserkenntnis Gottes scheint nur über die Liebeserfahrung vermittelt möglich zu
sein. Sie geht einher mit der Unfähigkeit, über Gott zu sprechen. Genauer: jetzt weiß ein Mensch
von einem Gott - aber sein Wissen muß sprachlos bleiben. Wenn er zu sprechen beginnt, weiß er,
daß er über etwas anderes spricht als über Gott. Und das ist ihm peinlich und unangenehm.
Diese Gotteserfahrungen (die im Bild der Liebe und die unvermittelte) setzten keineswegs voraus,
• daß ein Mensch besonderen Kulteifer zeigt,
• daß ein Mensch ein reiches Glaubenswissen hat,
• daß er sich kirchlich engagiert.
Alles dies scheint mitunter durchaus als störend. Wohl aber setzen beide voraus, den praktischen
Willen zur unbedingten Liebe in alltäglichen Interaktionen.

• Wer liebt, ist in Gott.

Dieses Wort steht der Botschaft Jesu vom Gottesreich nahe. Das Gottesreich ist der Bereich von
Welt, der in Gott ist, mit ihm in einer spezifischen Einheit zusammen. Dies im »Gottesreich-Sein«
wird nun im 1. Johannesbrief den Menschen zugesprochen, die lieben. Insofern die Botschaft vom
Gottesreich die zentrale Aussage Jesu ist, wird sie an anderer Stelle behandelt. Hier geht es um
die Bedeutung der Formel: »Ich glaube an Gott«, wenn sie im christlichen Lebensraum gebraucht
wird. Vor allem um die Frage, kann man Gott nicht lieben und dennoch sagen: ich glaube an ihn,
ohne zu lügen - wenn Gott die Liebe ist, und nur wer liebt, in Gott ist. Was also sind die Grenzen
des Gottesreichs? Sind es die Grenzen des Glaubens oder die der Liebe, oder sind beide eins?
Die kirchliche Theologie pflegt hier sorglichst zu scheiden zwischen dem bloßen Glauben und dem
durch die Liebe informierten Glauben. Nur letzterer rechtfertige den Menschen. Vermutlich liegt
hier das Mißverständnis vor, das ein Für-wahr-Halten (das Glauben) mit Handlungspraxis aus dem
Vertrauen auf Gott (der Glaube) miteinander vermengt. Das bloße Für-wahr-Halten reicht sicher-
lich nicht aus, um in Gott zu sein.
Was schreibt der erste Johannesbrief dazu:

Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt. (4, 8)

Wer sagt: Ich liebe Gott!, aber seinen Bruder haßt, der ist ein Lügner. (4, 20)

Wir wissen, daß wir aus dem Tod ins Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brü-
der lieben. Wer nicht liebt, bleibt im Tod. (3, 14)

»Gott ist die Liebe«, erscheint zunächst als eine rein funktionale Bestimmung Gottes. Er ist das,
was er tut - unbedingt und unendlich lieben. Und hier stellt sich dann die für einen Christen zentra-
le Frage seines Lebens: Ist Liebe auch Gott? Besser und funktional gesprochen: Geschieht im Lie-
ben Gott? Wird er gegenwärtig? Ich meine, daß man diese Frage weder mit einem abdeckenden Ja
oder Nein beantworten kann. Liebe, menschliche Liebe - und zwar in allen ihren Formen und Ges-
talten, und mögen sie noch so sehr verzerrt sein, und von der Liebe, von der Paulus berichtet, weit
entfernt, wenn sie ihr nicht entgegen sind, dann geschieht in solchem Lieben Gott. Er wird ge-
genwärtig als reales Symbol, d.h. real ganz und gar - aber ohne sich in dieser Liebe zu erschöpfen
und in ihr auf- oder unterzugehen. Er ist in der Liebe, und zwar ganz real, aber er übersteigt alle
menschliche Liebe zugleich.
Von hierher wird deutlich, wie schwer es ist, von Gott in substanzontologischen Kategorien zu
sprechen.
Wer auf solches Denken verwiesen ist, denkt sich in Unaussprechliches hinein. Sicher kann man
von »Gott« gleichsam gegenstandsontologisch auch sprechen - dann ist er »der Grund der Liebe«,
das, worin Liebe gründet, ohne jedoch von ihr verschieden zu sein. Tatsächlich fallen in der
Selbstlosigkeit der Liebe Vollzug und Grund zusammen - sie hat keinen Grund außer sich. Wie ja
auch die theologische Spekulation von Gott ausmachen kann. Allerdings gebe ich zu, daß es an-
fangs nicht immer leicht ist, in allen Formen des Liebens Gott zu erkennen - in ihnen wird er je-
doch als Grund erfahrbar, von ihnen abgebildet. So kann man denn auch sagen, daß Liebe auf
Gott verweisen könne, ihn abbilde, darstelle, gegenwärtig setze…
Hier siedelt das rechtgläubige Christentum ganz in der Nähe eines christlichen Atheismus, für den
Gott nichts anders ist als die Liebe unter Menschen. Dieser christliche Atheismus ist einem geleb-
ten und lebendigen Christentum oft unendlich viel näher als ein christlicher Theismus, der Gott
ausschließlich unter substanz-ontologischen Kategorien vergegenständlicht und nicht im Lieben
real werden läßt, der nicht Liebe als Realsymbol Gottes begreift, der über Gott spricht wie über
eine Sache oder - bestenfalls - wie über einen Menschen.
Dazu noch einige Anmerkungen für die Praxis:
Da wir in aller Regel erzogen wurden, uns ein gegenständliches Bild von Gott zu machen und wir
nie gelernt haben, ihn in Funktionen zu begreifen, wird es für viele Menschen leichter sein, zu-
nächst im Lieben Gott wie in einem Bild oder einem Spiegel zu erfahren - ehe es bewußt wird,
daß Gott Liebe ist.
Es ist heute verbreitet, von der Gottunfähigkeit der Menschen zu sprechen (J. Ratzinger). Ich
vermute, das ist falsch. Vielen Menschen sind erfahrungstranszendente Ontologica sicherlich
fremd - nicht aber die Liebe. Liebe ist sicher nichts Erfahrungstranszendentes. Und ich weigere
mich, zusammen mit dem Verfasser des Johannesbriefes, Gott als erfahrungstranszendent zu be-
zeichnen. Dennoch ist die Behauptung von der Transzendenz Gottes nicht ganz und nur falsch. Er
ist zweifelsfrei sprachtranszendent, weil er sich nicht in Worten erfassen läßt. Er ist ebenfalls unse-
rem denkenden Erkennen transzendent, weil er sich nicht bedenken läßt - wie sich ja auch die Er-
fahrung von Liebe nur sehr inadäquat in Worten darstellen und im Denken einholen läßt, ohne daß
sie darunter erheblichen Schaden nimmt.
Das aber alles sagt nicht, daß wir Gott nicht erfahren können in einer Weise, die nicht ganz ent-
fernt ähnlich ist unserer Selbsterfahrung des Liebens. Wenn wir wieder lernen zu lieben und auf
Liebe menschlich zu reagieren, wird dieser Wall, den uns unsere Bilder und unsere Vorurteile vor
Gott aufgebaut haben, zerbrechen.
Manche Leser werden vielleicht fragen, ob das denn tatsächlich für alle Formen der Liebe gilt. Ja,
es gilt für alle Formen, die etwas von der paulinischen Beschreibung einfangen. Das kann (muß
nicht) sein:
• die Liebe der Eltern zu ihren Kindern und die der Kinder zu ihren Eltern,
• die erotische, aber auch die bloß-sexuelle Liebe,
• die Liebe, die mich anderen helfen läßt, für sie dasein läßt, ihnen zuhören läßt, mit ihnen Ge-
duld haben läßt…, in der Liebe also, die Paulus besingt.
Überall ist Gott als Liebe real anwesend und erfahrbar. Und das ohne sonderliche Mühe. Man
muß nur einmal auf ihn aufmerksam geworden sein.
Ich vermute, daß der »Kult der Liebe« in ihren verschiedenen Gestalten, der nicht selten den klas-
sischen religiösen Kult ersetzt, etwas ahnen läßt von der Allmacht Gottes - der Allmacht der Lie-
be. Aber auch von der grundsätzlichen Gottfähigkeit der meisten Menschen.
In der Praxis klagen mir immer wieder Menschen, ihre Unfähigkeit zu lieben. In der Psychologie
haben wir für solche Erfahrungen verschiedene Namen, die alle so hart und endgültig klingen -
und dennoch ist es das Ziel nahezu aller Psychotherapie (und, wie ich vermute, auch aller christli-
chen Seelsorge), das Lieben zu lehren.
Und dennoch gibt es Menschen, die scheinen dazu verdammt zu sein, nur sich selbst lieben zu
können, sie ersticken fast an sich selbst. Es gilt solches Leiden zu verstehen, nachzuleiden, um zu
helfen. Das Eingesperrtsein in sich selbst nannte man einmal »Hölle«. Alle Fenster zur Liebe, zu
Gott, scheinen verschlossen. Doch gelegentlich kann solches Gefängnis ganz plötzlich zerbrechen,
wenn solch Verdammte dieser Erde einem Christen begegnen, der weiß, wer Gott ist. Er kann ihn
manchmal an der Hand nehmen und ihm helfen, sich selbst zu verlassen, aus sich selbst auszuzie-
hen und sich einem anderen zu schenken. Wer das Lieben nie lernte, kann das mitunter nachholen
- aber wohl nur in der Liebe eines anderen Menschen, die unendlich behutsam seine Ängste, seine
Scham und Schüchternheit abbaut und einen oft unendlich scheinenden Weg der unerwiderten
Liebe geht.
Es fällt mir schwer, daran zu glauben, daß Menschen schon auf dieser Erde endgültig verdammt
sein sollen. Daß sie nicht wissen können, wie schön das Leben und die Welt sind. Ein unendlich
kleiner Funke der Sehnsucht nach Liebe ist wohl in jedem Menschen.
Die Unfähigkeit zu lieben - bedingungslos zu lieben - wird uns allen in bestimmten Situationen un-
seres Lebens erfahrbar. Hier gilt das Wort des Johannesbriefes, daß der Grund unserer Liebe nicht
in uns selbst ist, sondern in der unbedingten Liebe, die wir Gott nennen:

Nicht darin besteht die Liebe, daß wir Gott geliebt haben, sondern, daß er uns geliebt
und seinen Sohn… gesandt hat. (4, 10)

So wird die Liebe zum Geschenk und ist nicht etwa Leistung.
S. Freud verwies auf die Unerfüllbarkeit des Gebotes der Nächstenliebe, weil der Verzicht auf
Feindaggressivität unsere unbewußte Schuldgefühle unterdrücken und uns so in einen hohen Grad
von Konfliktappentenz führe, die liebende Menschen immer und immer wieder zu Zentren von
Konflikten werden lassen, die praktisch unauflösbar seien. Das Argument mag stimmen, doch ahnt
Freud nicht, wie erlösend die uns geschenkte und die uns damit ermöglichte unbedingte Liebe ist,
die Agressivität nicht vernichtet oder verbietet, sondern in ihren Ausdrucksformen reguliert.
Auch jene Menschen, die nur noch zögernd und verhalten lieben können, die zahllosen, deren Lie-
bessuchen enttäuscht wurde, die niemals recht erfuhren, was denn Liebe sei, die, von denen die
Psychoanalyse meint, sie seien urmißtrauisch und liebesunfähig, all die vielen, die also nur noch zu
bedingtem und maskiertem Lieben in der Lage sind, erfahren Liebe. Selbst, wenn sie vor ihr weg-
laufen möchten, selbst, wenn sie kaum etwas Sinnvolles damit anfangen können, auch in ihrem
Leben spielt das eine Rolle, das Paulus hymnisch beschreibt.
Gerade solche, in ihrer Liebe gebrochenen und fast zerstörten Menschen, sind oft hoch sensibel
für alles Religiöse. Empfindsam für Haß und Neid, für Rücksichtslosigkeit und Mißgunst, für Ver-
leumdung und Beleidigung, können sie diese sehr viel eher vermeiden, als die »Starken« - mit de-
nen Jesus - vielleicht wegen ihrer mangelnden Sensibilität - sehr wenig anfangen konnte. Eines der
wenigen, vom ersten Evangelium überlieferten Jesusgebete, heißt denn auch:

Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde,
Weil du das den Weisen und Klugen verborgen,
Den Unmündigen aber geoffenbart hast.
Ja, Vater, so hat es dir gefallen. (11, 25-26)

Für alle Formen der Liebe gilt, wie in einem Rätsel oder einem Spiegelbild (vielleicht eines Zerr-
spiegels), ist Gott erfahrbar in jeder Form menschlicher Liebe - und verschwindet in allen Formen
menschlicher Ablehnung.
Um aber in der Liebe Gott erkennen zu können, müssen wir uns sensibilisieren für die Grundhaf-
tigkeit der Liebe. Von Augustinus († 430) kommt die berühmte philosophische Bestimmung von
»Liebe«: »Liebe ist einen oder nach Einigung streben.« In dieser Universalisierung ist Liebe weit
abgelöst vom bloßen Fühlen, das vor allem die Liebe begleitet, die mit der physischen und sozia-
len Gründung neuen Lebens (Zeugen, Brutpflege…) verbunden ist, ohne sie aber auszuschließen.
Diese Liebe ist der Grund des Kosmos, in dem alles was wir kennen, nach Einigung, nach höherer
Komplexität zu streben scheint. Für Augustinus wurde denn auch konsequent die Liebe zum »cor
omnium rerum« - das Herz aller Dinge.
Dichterisch ist dieser Gedanke von G. Greene aufgenommen worden (the Heart of the Matter),
religiös reflektierend wurde er von P. Teilhard de Chardin entfaltet (Le coeur de la Matière). Auf
die kosmische Bedeutung der Liebe, auf die kosmische Funktion Jesu hat Paulus verschiedentlich
verwiesen.

Auch die Schöpfung soll von der Sklaverei und Verlorenheit befreit werden, zur Frei-
heit und Herrlichkeit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, daß die gesamte Schöpfung
bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt. (Röm 8, 21-22)

Gott hat beschlossen, die Fülle der Zeiten heraufzuführen, in Christus alles zu verei-
nen, alles, was im Himmel und auf Erden ist. (Eph 1, 10)

Besonders aber ist hier der Hymnus im Kolosserbrief zu nennen, der schon im dritten Kapitel vor-
gestellt wurde.
Doch ist hier auch zu fragen nach der »objektiven Gültigkeit« solcher Gotteserfahrung. Handelt es
sich nicht um bloße Projektionen oder um die Hypostasierung von Erfüllungwünschen all jener
Bedürfnisse, deren Befriedigung uns unter diesen konkreten sozio-kulturellen oder sozio-
ökonomischen Bedingungen - vielleicht gar unter allen möglichen Bedingungen unseres Lebens -
versagt bleibt? Diese Vermutung hat manches für sich. Nicht umsonst wurde sie - von K. Marx
und S. Freud einmal in wissenschaftlicher Form in die Welt gesetzt - von so vielen begeistert auf-
genommen. Was also sind die Kriterien für den »objektiven Wert«, die »objektive Gültigkeit« der
Aussage, daß der Mensch in der Erfahrung der Liebe Gott erfahren könne?
Dazu ist zunächst einmal eine Anmerkung zu machen: Wir alle interpretieren alle unsere Erfah-
rungen nach Maßgabe von Bezugsrahmen, die durch unsere individuelle und kollektive Lebens-
tradition gezogen sind. Das soll heißen: Ein und dieselbe materiale Erfahrung wird legitim zu sehr
verschiedenen subjektiven Erfahrungen, je nach der Art des Interpretationsrahmens, in den sie sich
hineinstellt. Ein Buddhist, ein Marxist, ein Christ, ein Muslim wird dieselbe »objektive Erfahrung«
ganz anders subjektiv erfahren - und also auch ganz anders deuten und auf Begriffe bringen. Das
aber bedeutet, daß auch die Erfahrung der Liebe als Erfahrung Gottes schon einen bestimmten der
Erfahrung selbst vorausliegenden Interpretationsrahmen anfordert. In diesem Rahmen muß Liebe
und die Möglichkeit Gottes schon eine Rolle spielen. Ist das aber der Fall, dann kann der objektive
Wert der Gotteserfahrung in der Liebe sichergestellt werden. Und das durch ein Kriterium:
Wächst die Identität des Menschen mit sich selbst, wächst das Leben mit und durch ihn, gelingt es
ihm zu leben, verletzt er nicht die Kräfte, die in ihm und anderen auf Entfaltung und Erhaltung
von Leben aus sind - dann ist seine Interpretation des Liebens als die des »lebendigen Gottes« zu-
treffend. Erfährt er sich also wie in einem Spiegel in seiner Gotteserfahrung selbst und ist diese
Selbsterfahrung lebensstiftend, dann ist ihr »objektiver Wert« gesichert. »Lebenstiften«, das aber
bedeutet auch immer »Liebe vermehren«. Zwischen christlicher Liebe und »Lebensstiften« (Leben
vermehren, erhalten, fördern…), zwischen christlicher Liebe und erschaffen (statt vernichten) und
erlösen (statt fesseln und versklaven) besteht eine Beziehung, die so eng ist, daß man an eine
Identität glauben möchte.
Nun könnte man an dieser Stelle eine Einführung ins Christentum abschließen. Das Wesentliche
ist gesagt. Doch es ist keineswegs so gesagt, daß die Umsetzung in Praxis schon immer möglich
wäre. Da aber der Weg ins Christentum ein Weg der Änderung, der Lebenspraxis zuerst, und erst
an zweiter Stelle eine Anreicherung des Vernunftwissens ist, muß noch in einigen weiteren Kapi-
teln der Weg ins Christentum ausgeschildert werden. Es ist das der von Jesus gewiesene Weg ins
Gottesreich.

9. Über das Beten


Den meisten von uns wurde das Beten ziemlich verleidet. Entweder hatten wir den Eindruck, es
nutze doch nichts, oder aber wir waren gezwungen worden, etwas zu tun, das keineswegs unserer
Haltung entsprach. Wir vermuteten, die angewandte Methode sei inadäquat, konkrete Probleme
und drängende Krisen zu beheben. Vermutung und Eindruck waren wahrscheinlich richtig. Ähn-
lich wie es erwachsene und kindliche Gottesbilder gibt, gibt es auch ein erwachsenes und kindli-
ches Beten. Ja, das Beten hängt geradezu vom Gottesbild (oder jenseits aller Bilder von der un-
mittelbaren Gotteserfahrung nach Art und Gehalt) ab. Ein Mensch, der sich Gott als manipulierba-
re Instanz vorstellt, wird beten in der Absicht, mit der er die Gebote hält oder Opfer darbringt,
nämlich Gott zu manipulieren. Sein Beten wird nicht erhörbar sein, weil Gott nicht manipulierbar
ist.
Heute gibt es zahlreiche Einwände gegen das Beten, die jedoch zumeist verfehlte Gebetsformen
betreffen. So wird gesagt:
• Beten kann allenfalls ein Nachdenken des Christen in der Welt sein über seine Aufgaben, seine
Verantwortung.
• Beten geschieht allenfalls im brüderlichen Gespräch mit Notleidenden und in der helfenden Tat
der Liebe.
• Beten sollte Gott nicht anreden, sondern dient - etwa in der Form der Meditation - der Samm-
lung, um Energie zu gewinnen, die christlichen Aufgaben in der Welt zu meistern.
• Beten ist eine Ersatzhandlung, die es dem Menschen ermöglicht, sich als Christ zu fühlen, ohne
einer zu sein. Es bindet Kräfte, die dem Werk der Liebe abgehen.
Alle diese Einwände verkennen das Engagement des Christen in der Welt. Es geht nicht bloß dar-
um, Welt zum Besseren zu wenden (also um innerweltliche Aktivität), sondern darum, Welt in
Gottesreich zu wandeln. Das aber setzt durchaus eine starke religiöse Bindung voraus, die nur
durch regelmäßiges Gebet erworben und aufrecht erhalten werden kann.
Wenn aber das Bittgebet nicht auf Gott einwirkt, ist es dann nicht sinnlos? Nein - denn es wandelt
den Betenden. Wer seine eigene Ohnmacht im Angesicht von Krisen und Konflikten, von Nöten
und Kriegen, von Haß und Leid eingestellt, löst sich von seinem Machtwahn ab. Dieser Macht-
wahn, meist ein Versuch, narzißtische Beleidigungen zu kompensieren, kann sich aber gerade in
infantilen Gebetsformen manifestieren. Vor allem dann, wenn man vermutet, durch das Gebet teil-
zuhaben an der göttlichen Machtfülle, indem man die inhaltliche Erfüllung seiner Gebete voraus-
setzt oder doch annimmt. Solches Bitten pervertiert also gerade den Sinn des Bittgebets, das als
Eingeständnis der eigenen Ohnmacht den Betenden wandelt, ihn von sich selbst ablöst und so zur
Liebe fähig macht. Wer darum bittet, Gott möge eine Not lindern, wird kaum erfahren, daß solche
Not objektiv gelindert wurde - wohl aber, daß er sich selbst wandelte, so daß er die Not tragen
oder aufzuheben lernte.
Beten - auch das bittende - ist also alles andere als sinnlos. In seinem Brief an die Römer schreibt
Paulus:

Wir wissen nicht, worum wir in der rechten Weise beten sollen; der Geist selber tritt
jedoch für uns ein mit Seufzen, das wir nicht in Worte fassen können. Und Gott, der
die Herzen kennt, weiß, was die Absicht des Geistes ist. (8, 26b-28a)

Und im ersten Johannesbrief lesen wir:

Wir haben die Zuversicht, daß Gott uns erhört, wenn wir etwas erbitten, das seinem
Willen entspricht. Wenn wir wissen, daß er uns bei allem hört, was wir erbitten, dann
wissen wir auch, daß er unsere Bitten schon erfüllt hat. (1, 14-15)

Und in gleicher Tradition und aus gleicher Erfahrung läßt das erste Evangelium Jesus lehren:

Wenn ihr betet, sollt ihr nicht plappern wie die Heiden, wenn sie viele Worte machen.
Macht es nicht wie sie; denn euer Vater weiß, was ihr braucht, noch ehe ihr ihn bittet.
(6, 7-8)

Und das dritte Evangelium bringt folgende Belehrung:

Darum sage ich: Bittet, dann wird euch gegeben;


Sucht, dann werdet ihr finden;
Klopft an, dann wird euch geöffnet.
Denn wer bittet, der empfängt; wer sucht, der findet; und wer anklopft, dem wird ge-
öffnet. Oder ist unter euch ein Vater, der seinem Sohn eine Schlange gibt, wenn er um
einen Fisch bittet, oder einen Skorpion, wenn er um ein Ei bittet? Wenn nun schon ihr,
die ihr böse seid, euren Kindern gebt was gut ist, wieviel mehr wird der Vater im
Himmel den Heiligen Geist denen geben, die ihn bitten. (11, 9-13)

Die Bitte um den Heiligen Geist ist also die Bitte, deren Erfüllung Jesus verheißt. Es ist das die
Bitte um das Reich, die Bitte, um das in Gott - (und seiner Liebe) - sein. Eine Fülle solcher Reich-
Bitten folgen im »Gebet Jesu«:

So sollt ihr beten.


Unser Vater im Himmel, dein Name werde geheiligt,
Dein Reich komme,
Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf der Erde.
Gib uns heute das Brot, das wir brauchen.
Und erlaß uns unsere Schulden, wie auch wir unseren Schuldnern erlassen haben.
Und führe uns nicht in Versuchung.
Sondern rette uns vor dem Bösen. (Mt 6, 9-13)

Alles das sind Bitten um die Ankunft des Reiches, in dem alles das geschehen wird. »Das Brot,
das wir brauchen«, ist ziemlich sicher nicht das alltägliche Brot - nicht zufällig spricht der Verfas-
ser dieses Evangeliums hier von »árton epioúsion«, ein Hapaxlegomenon, das in der griechisch-
sprachigen Literatur nur hier zu finden ist und so etwas wie »überweltliches Brot« (= die Liebe,
die wir brauchen?) bedeuten mag.
Die Bitte, die Jesus an den Vater richten läßt, ist also die Bitte um das Reich und sein Kommen.
Es ist kein Bitten um individuelles Heil. Ein »Ich« kommt nirgends vor. »Gottesreich« ist keines-
wegs an erster Stelle ein individuelles Ereignis, sondern etwas Kosmisches, an dem das Indivi-
duum allerdings teilhat.
Das Beten, das Jesus seine Jünger gelehrt zu haben scheint, ist also keineswegs ein Bitten um per-
sönliches Wohlergehen, nicht einmal ein Bitten um Befreiung von Unterdrückung und Entfrem-
dung, sondern das Gebet um das Kommen und Vollenden seines Reiches.
Beten zu Gott, in allen seinen legitimen Formen, ist aber auch Berührung mit dem eigenen Exis-
tenzgrund. Hier hat die griechische Sage von Antaios ihre objektive Bedeutung. Antaios bleibt
unüberwindlich, weil er bei jeder Berührung des Erdgrundes, seiner Mutter Gaia (= Erde), neue
Kraft erhält. Herakles überwindet ihn nur, weil es ihm gelingt, seine Beziehung zur Erde zu lösen:
er hebt ihn hoch und kann ihn erwürgen. So vermute ich auch den Menschen, der die Beziehung
zu seinem Grund und Ursprung nicht verliert, als unüberwindlich. Grund und Ursprung der Men-
schen aber ist die Liebe. Wenn sich aber ein Mensch aus Liebe entläßt in Haß und Mißgunst, in
Neiden und Nachreden, dann wird er von seinem Ursprung, seinem Grund, getrennt, Opfer aller
möglichen Sorgen, Ängste, Befürchtungen - und kann in ihnen psychisch und religiös untergehen.
Beten aber ist das Gegenwärtigsetzen der eigenen Begründetheit. Wer betet, weiß, daß er nicht in
sich selbst gründet, nicht aus sich selbst Fähigkeiten besitzt, nicht durch sich selbst Not und Elend
mindern kann - sondern daß das alles nur möglich ist, wenn er seinem Ursprung verbunden bleibt.
Der aber ist die Liebe - oder in religiöser Sprache: die Kraft Gottes oder sein Geist, den Christen
den Heiligen nennen.
Doch die Heiligen Schriften betonen immer wieder eine alte rabbinische Weisheit: Das Gebet ist
nicht eigentlich unser Sprechen. Gebet sind wir selbst und in unseren Worten kommt das Beten al-
lenfalls zu sich. Ich stehe mit meinen Nöten und Grenzen, mit meinen Freuden und Sorgen, mit
meinen Bedürfnissen und Erwartungen vor dem, zu dem ich bete - und der weiß um alles das, ob
ich es ihm sage oder nicht.
Und so gibt es denn eine andere Form des Betens, die der christlichen Tradition durchaus nicht
fremd ist: das Gebet der Tat. Ich erkenne mich an in meiner Hilfsbedürfigkeit und Schwäche und
beginne, aus diesen beiden heraus zu handeln.
Nicht irgendein Handeln ist gemeint, sondern das scheinbar paradoxe: der Verwandlung der Welt
in Gottesreich durch Mindern von Haß und Streit, Angst und Not, Krieg und Verachtung… Ich
weiß, daß ich auf mich gestellt erfolglos sein werde, und ich erwarte den Erfolg trotzdem. Das ist
das Geheimnis des Betens - eines Betens, das handelt. Beten darf uns also nicht davon abhalten,
mit vollem menschlichen und religiösen Einsatz Not, Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit, Hader,
Krieg und Feindschaft überall da tatkräftig zu mindern und zu bekämpfen, wo wir ihnen begegnen.
Und die Überfülle all dieser Nöte und die Hoffnungslosigkeit, das Meer der Leiden mit unseren
kleinen Händen ausschöpfen zu können, darf uns nicht lähmen. Das letztlich erfolgreiche Trotz-
dem ist das Gebet des christlichen Lebens.
Wer in Worten betet und sich dabei von dem Handeln aus Liebe entschuldigt, der betet zu allen
möglichen Instanzen, nur nicht zu Gott, der die Liebe ist.
Und wer betet und zugleich haßt und nicht verzeiht, übel nachredet und verleumdet, keinem Men-
schen hilft und neidet… wer eines von diesen Dingen tut und betet, der lästert die Liebe und Gott,
der die Liebe ist - und betrügt sich selbst. Das verlogene Beten, das Beten in Worten, das neben
dem des Handelns herläuft und es nicht ermöglicht, erfüllt, begeistert, solches Beten ist gefährlich.
Es ist psychisch gefährlich, weil es zu einer ganz persönlichen Abspaltung des Bewußtseins vom
Sein kommen wird (zu einem vermeintlichen Glauben nur). Und es ist religiös gefährlich, weil es
die Liebe verhöhnt. Nach dem Zeugnis der Bergpredigt geht Jesus gar noch einen Schritt weiter.
Nicht nur der Betende soll frei sein von allem, was seine Liebe hindert, sondern er soll, ehe er be-
tet, gar dafür sorgen, daß auch kein anderer Mensch etwas (Berechtigtes) gegen ihn hat:

Wenn du deine Gaben zum Altar bringst und dir dabei einfällt, daß dein Bruder etwas
gegen dich hat, so laß deine Gabe dort vor dem Altar liegen; geh und versöhne dich
zuerst mit deinem Bruder, dann komm und opfere deine Gabe. (5, 23-24)

Im zweiten Evangelium heißt es analog:

Und wenn ihr beten wollt und ihr habt einem anderen etwas vorzuwerfen, dann ver-
geht ihm, damit auch euer Vater im Himmel euch eure Verfehlungen vergibt. (11, 25)

Das rechte Beten verbindet also zwingend Sein (Interaktionsmodi vor allem) und Bewußtsein
(Glaube). Fehlt eines, ist Beten leer. Zum anderen aber verstärkt es die Bindung zwischen Sein
und Bewußtsein, wie die Theoretiker und Praktiker der Meditation recht erkannten. Da wir alle in
der Gefahr stehen, unsere Praxis von unserer Theorie und die Ansprüche unseres Unbewußten
von denen des Bewußten abzulösen, und uns so in Lebenslügen hinein zu leben, ist auch von hier-
her das Beten wichtige und unaufgebbare Hilfe.
Dieses Argument mit einer »natürlichen« Begründung »übernatürlich erheblicher oder motivier-
ter« Handlungen wird oft gerade von »frommen Christen« (das sind im allgemeinen Sprach-
gebrauch die, deren Glaubensmenge weit überdurchschnittlich groß ist) als problematisch abge-
wiesen. Dieser Ablehnung liegt die falsche Ansicht zugrunde, die »natürliche Welt« stehe mit der
»übernatürlichen« im Gegensatz oder gar im Widerspruch. Diese Meinung ist keineswegs christ-
lich. Zwar gibt es eine »böse Welt« - doch das ist die Welt der Menschen, die sie böse machen
oder machten.
Die Jesusordnung ist nichts als die Vollendung der Schöpfungsordnung, und zwischen beiden gibt
es keine Widersprüche oder auch nur Gegensätze. So führt die Befolgung der Jesusbotschaft
Menschen ins Glück (und nicht ins Unglück), mindert ihre Leiden (und mehrt sie nicht etwa), för-
dert ihre Menschlichkeit (und manifestiert sich nicht in Unmenschlichkeit). Wege ins Unglück, in
vermehrtes Leiden und in Unmenschlichkeit (etwa in der Praxis von Gerechtigkeit) sind nicht
christlich. Und kein Mensch sollte behaupten, daß Gott Leiden sende, um Menschen zu prüfen.
Mag sein, daß Jahwe, ehe das Volk Israels ihn zu seinem Gott machte, ein Name für einen Berg-
dämon vom Sinai war. Den Vater Jesu Christi sollte man nicht solcher Barbarismen verdächtigen.

10. Das Gottesreich


Die Predigt vom Gottesreich ist das Zentrum der Jesuspredigt. Es ist das die Botschaft vom Reich
der Liebe. Und da wir Menschen oft nicht Liebe im Herzen haben, müssen wir unseren Kurs kor-
rigieren und, durch bedingungslose Liebe gefordert, Liebe lernen. Damit ist ein Wesentliches ge-
sagt von der Jesusbotschaft. Worte Jesu, die nicht in diesen Rahmen gestellt werden können, sind
ausgesprochen selten. Die Predigt Jesu vom Gottesreich (oder wie das erste Evangelium in aller
Regel sagt: vom Himmelreich, weil sein Verfasser den Namen »Gott« nicht aussprechen will) ist
nicht immer leicht verständlich. Wenn uns schon das Wort »Gott« nicht stört, dann das Wort vom
Reich. Es ist dies ein altes kultisches Wort - und die Lehre vom kommenden Gottesreich war
schon weltwandelnd unter Menschen, ehe das Wort in seine verschiedenen politischen Bedeutun-
gen entartete. Die Lehre vom dritten Reich, die im 12. Jahrhundert das christliche Denken be-
herrschte, war die Lehre vom kommenden Reich des Geistes, das die Herrschaft des ersten (den
Bund Gottes mit den Juden) und des zweiten (der Kirche) enden sollte. Erst in unserem Jahrhun-
dert entartete die Lehre vom dritten Reich politisch-unmenschlich.
Und dennoch kann das Wort leicht in unsere Sprache übertragen werden: Es ist gemeint die uni-
verselle Herrschaft der unbedingten Liebe. Das erste Evangelium berichtet wiederholt in lakoni-
scher Kürze über das Wirken Jesu, ehe er nach Jersusalem zog, um zu sterben:

Er zog in ganz Galiläa umher, lehrte in den Synagogen, verkündete das Evangelium
vom Reich und heilte im Volk alle Krankheiten und Leiden. (4, 23; 9, 35)

Und das zweite Evangelium schreibt:

Er verkündete das Evangelium Gottes und sprach:


Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe.
Kehrt um und glaubt an das Evangelium. (1, 14b-15)

Nun ist das Wort vom Gottesreich keineswegs eine Erfindung Jesu. Die Vorstellung, daß einmal
Gott die Herrschaft über die Welt antreten werde, entsteht in Israel unter der Herrschaft seiner
Könige. Zur Zeit Jesu gab es drei Haltungen gegenüber dem Reich:
• Die Zeloten wollten im aktiven Kampf gegen das (auch politisch) Böse zum Kommen des
Reichs beitragen.
• Die Vertreter jüdischer Eschatologie erwarteten alles von Gott und warteten auf die Ankunft
des Reiches. Allenfalls suchten sie nach Zeichen, die ihnen die Nähe des Kommenden künden
könnten.
• Die Vertreter der prophetischen Richtung wollten in möglichst vollständiger Beobachtung der
Gebote zum Kommen des Reichs beitragen.
• Dem Zeugnis des frühen Christentums nach hat Jesus eine Botschaft verkündet, die mitunter in
der Nähe der zweiten, manchmal auch in der Nähe der dritten Position stand. Wenn heute
manche Christen Jesus als politischen Revolutionär bezeichnen, müßten sie ihm eine zelotische
Botschaft vom Reich unterstellen. Dafür aber gibt es keine Belege (wenn auch die Evangelien
alle erst nach der Vernichtung Jerusalems Anno 70 geschrieben wurden, die die zelotische Po-
sition eklatant ins Unrecht setzte).
In der nachösterlichen Gemeinde verbindet sich nach dem Zeugnis des Paulus, die Botschaft vom
Reich
• mit kosmischen Vorstellungen (das Gottesreich nimmt kosmischen Umfang an) und
• mit Vorstellungen über die Wiederkunft Jesu.
Die eschatologischen Vorstellungen haben sich vor allem in der Begegnung mit der politischen
Macht Roms durchgesetzt, so daß es im Bewußtsein vieler Menschen zu einer Verbindung von
»Untergang der Welt« und »Ankunft des Reiches« kam, die für die Jesusbotschaft alles andere als
typisch ist. Eine solche Bindung läßt auch das Beten um das Reich sehr schwer werden, weil es
zugleich ein Gebet um den allgemeinen Untergang wäre, vor dem sich die meisten Menschen (zu
Recht) fürchten. Wir werden sehen, daß diese ausschließlich apokalyptische Deutung des Reichs
schwerlich zu halten ist.
Erst Augustinus stellte Kirche und Staat dem Gottesreich entgegen - im Untergang der beiden ers-
ten wird das zweite. Ich will hier nicht weiter den Spekulationen um den Untergang der Welt fol-
gen, die seit dem 10. Jahrhundert die Christen verwirren. Eines sei nur festgestellt: Alle christli-
chen Apokalypsen sind nicht historisch zu interpretieren, sondern metahistorisch. Im Gewand jü-
discher Apokalyptik berichten und verkünden sie die frohe Botschaft vom endgültigen Sieg des
Gottesreiches. Nicht Leid und Not, nicht Sünde und Versagen sind das letzte, sondern hinter al-
lem steht ein Sieg der Liebe.
Doch bedenken wir, was Jesus nach dem sicher nicht in allen Einzelheiten historischen Zeugnis
der Evangelien vom Reich Gottes sagt.

a) Jesu Botschaft vom Reich


Nach dem Zeugnis der Evangelien versteht Jesus das Gottesreich keineswegs als etwas, das
schicksalhaft und weltvernichtend über uns hereinbricht. Zumeist scheint er seinen Jüngern und
Schülern die Botschaft vom Reich in Gleichnissen nahegebracht zu haben. Allein das erste Evan-
gelium nennt 12 Gleichnisse vom Reich bzw. von Verhältnissen im Reich. Nicht wenige dieser
Gleichnisse veranschaulichen ausdrücklich das Wachsen des Gottesreiches. Etwa das vom Senf-
korn:

Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Senfkorn, das ein Mann auf seinen Acker
säte. Es ist das kleinste von allen Samenkörnern; sobald es aber hoch gewachsen ist,
ist es größer als die anderen Gewächse und wird zu einem Baum, so daß die Vögel
des Himmels kommen und in seinen Zweigen nisten. (13, 31b-32)

Im Eigengut des dritten Evangeliums ist uns ein Jesuswort an die Pharisäer überliefert, die - ähn-
lich wie Jesus - eine prophetische Vorstellung vom Gottesreich hatten.

Als Jesus von den Pharisäern gefragt wurde, wann das Reich Gottes komme, antwor-
tete er: Das Reich Gottes kommt nicht so, daß man es an äußeren Zeichen erkennen
könnte. Man kann auch nicht sagen: Seht, hier ist es!, oder: Dort ist es! Denn: Das
Reich Gottes ist schon mitten unter euch. (17, 20-21)

Es ist kaum zu bezweifeln, daß Jesus nach dem Zeugnis dieses Evangeliums das Reich mit sich
selbst beginnen läßt. Man kann sich lange darüber streiten, ob der historische Jesus in der Naher-
wartung des Reiches lebte oder ob das Zeugnis des Evangelisten der Sache näher kommt. Eines
scheint sicher: Gegen die Zeloten glaubt Jesus nicht an ein Kommen des Reichs »In Macht und
Herrlichkeit«, sondern an ein langsames Heranreifen in der Unscheinbarkeit des Alltäglichen.
Die Annahme des Reichs durch die Menschen geschieht ebenfalls keineswegs durch auffallende
Erscheinungen oder Handlungen, sondern in schlichter Selbstverständlichkeit.

Jesus aber rief die Kinder zu sich und sagte: Lasset die Kinder zu mir kommen; hin-
dert sie nicht daran! Denn Menschen wie ihnen gehört das Reich Gottes. Amen, das
sage ich euch: Wer das Reich Gottes nicht so annimmt wie ein Kind, der wird nicht
hineinkommen. (Lk 18, 16-17)

Wie aber soll diese Wachstumsperiode des Reiches gestaltet werden? Auch hierfür gibt Jesus
manche Hinweise, die vermuten lassen, daß er das Reich, wenn auch ohne das Zutun von Men-
schen begonnen, doch nicht ohne ihre Hilfe vollenden will. Einige wesentliche Verhaltenshinweise,
wie sie die Evangelien berichten, will ich hier wiedergeben.
• In dieser Phase steht es Menschen nicht zu, darüber zu befinden, wer dem Reiche zugehört und
wer nicht (vgl. das Gleichnis vom Unkraut im Weizen; Mt 13, 24-30 + 36-42).
• Um des Gottesreiches willen sollen Menschen bereit sein, alles aufzugeben (Gleichnis vom
Schatz und der Perle; Mt 13, 44-46).
• Jeder Mensch soll seine Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickeln, wie sehr es ihm möglich ist
(Gleichnis von den anvertrauten Talenten; Mt 25, 14-30).
• Menschen sollen nicht nach Leistung beurteilt werden, sondern sollen unabhängig davon das
erhalten, was sie brauchen (Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg; Mt 20, 1-15).
• Menschen sollen wachsam sein auf den Anspruch des Reiches in ihrem Leben (Gleichnisse vom
wachsamen Hausherrn; vom treuen und schlechten Knecht; von den zehn Jungfrauen; Mt 24,
43-25. 13).
Darüber hinaus ist der gesamte Handlungsappell der in der Bergpredigt gesammelten Jesusworte
bestimmt für die Zeit zwischen dem Beginn des Reiches (mit Jesus) und dessen Vollendung. Die
Vollendung des Reiches wurde sicherlich in den ersten Jahrzehnten nach Jesu Tod als unmittelbar
bevorstehend angenommen. So meint die älteste Schrift, die uns über das Leben der christlichen
Gemeinde Aufschluß gibt, der bald nach 50 in Korinth an die Christen in Saloniki geschriebene
Brief des Paulus über die Vollendung des Reiches und der damit verbundenen Wiederkunft Jesu:

Denn der Herr selbst wird vom Himmel herabkommen… dann werden zuerst die in
Christus Verstorbenen auferstehen; dann werden wir, die Lebenden, die noch übrig
sind, zugleich mit ihnen auf den Wolken in die Luft entrückt, dem Herrn entgegen.
Dann werden wir immer beim Herrn sein. (Thess 4, 16-17)

Und dreißig Jahre später schreibt der Verfasser des ersten Evangeliums immer noch recht hoff-
nungsvoll:

Amen, ich sage euch: Von denen, die hier stehen, werden einige den Tod nicht er-
leiden, bis sie den Menschensohn in seiner königlichen Macht kommen sehen. (16, 28)

Diese recht enthusiastische Naherwartung hinderte die frühen Christengemeinden, sich allzusehr
auf Dinge (wie Politik und Wirtschaft oder die übrigen Sorgenbringer) dieser Welt einzulassen
und für das bloße Morgen zu leben.
Das Reich Gottes ist das Reich der Verwirklichung und Vollendung des universellen und keinen
Menschen ausnehmenden Liebesgebots. Es ist zugleich das Reich dessen, der sich uns Menschen
in der Erfahrung von Liebe verständlich und erkennbar macht. Man kann das Gottesreich »Reich
der Liebe« nennen. Die prophetischen Entwürfe eines Friedensreichs oder eines Reichs der Ge-
rechtigkeit sind in diesem Reich aufgehoben.
Wegen der zentralen Stellung der Botschaft vom Reich will ich hier eine »theologische Reflexion«
anschließen, die sie einbindet in die Gesamttradition der Heiligen Schriften.

b) Jesus und das Gottesreich


Das soll nicht geschehen in ausführlichen theologischen Darlegungen, sondern eher thesenhaft.
Dabei folge ich mitunter den Reflexionen P. Teilhards de Chardin.
. Eine stark substanz-ontologische Fixierung des Gottesbildes führte dazu, Gott primär als
Wirkursache der Welt zu betrachten. Diese Sichtweise dürfte vor allem durch die sogenannte
»Priesterschrift« in die Heiligen Schriften eingebracht worden sein. Sie wurde während des Ba-
bylonischen Exils um 550 v. Chr. von indischen Priestern niedergeschrieben. Ihnen ging es vor
allem um die Sicherung des Jahwekultes. Diese Schrift ging in die nachexilische Komposition
der sog. »Fünf Bücher des Mose« zu erheblichen Anteilen ein. Die Priesterschrift läßt Gott
»schaffen«, obgleich sie dafür ein Wort (bara) verwendet, das für menschliches Schaffen nie
benutzt wird. Nach der Begegnung mit der griechischen Philosophie wird Gott dann zur Wirk-
ursache (d.h. als Ursache, die durch ihr Handeln etwas hervorbringt) der Welt gemacht.
Diese Darstellung scheint nicht unbedingt optimal zu sein. Zwar bedeutet »Schöpfung«, daß Welt
nicht ohne Gott sein kann. Doch wenn Gott die Liebe ist, dann wird man ihn eher funktional be-
denken müssen. Dann aber liegt es nahe, nicht von ihm als Wirkursache, sondern als Formursache
(Ursache, die durch Information etwas hervorbringt) zu sprechen. »Information« meint hier nicht
einen kommunikativen Aspekt verbalen Sprechens, sondern eine »innere Ursache«, die den End-
zustand eines Werdenden aus dessen Struktur selbst (= von innen) hervorbringt. So galt der aris-
totelischen Philosophie die (menschliche oder tierische) Seele als die Formursache des Lebewe-
sens, insofern sie »von innen«, als Strukturelement des Ganzen die Entwicklung des Lebewesens
bis zu seiner Vollendung steuert. Wir würden heute diese Funktion partiell von der DNS (durch
die genetische Information also) übernommen sehen.
Gott als Formursache der Welt wäre also ein der Welt gleichsam Innerliches, das die Entwicklung
der Welt zu dessen Erfüllung (der endgültigen Form) leitet.
Sicher ist dieses »Bild« von Gott auszufahren, denn Gott ist keineswegs ein kosmisches Prinzip,
sondern drückt sich als solches aus, wenn man Gott in ontologischen Kategorien zu fassen ver-
sucht. oder anders: Die Liebe ist kein kosmisches Prinzip, wohl aber drückt sie sich als »Vermö-
gen zu einen und Einung anzustreben« kosmisch aus.
Ein ähnlich funktionales Gottesbild finden wir in der berühmten Gottesoffenbarung am Horeb. Im
Bericht überlagern sich zwei Quellen: Die elohistische, die erstmals um 720 niedergeschrieben
wurde, und, in sie eingelagert, vermutlich von Priestern konserviertes Sondergut (hier kursiv ge-
setzt). Wichtig für uns ist, daß beide kein ontologisches Bild von Gott vermitteln, sondern ein
funktionales. Einmal wird Gott als der Gott der Väter, ein andermal als der, der da ist (Jahwe),
benannt.

Moses sagte zu Gott: Die Israeliten werden mich fragen: Wie heißt er? Was soll ich
ihnen darauf sagen? Da antwortete Gott dem Moses: Ich bin der »Ich-bin-da«. Und
er fuhr fort: So sollst du zu den Israeliten sagen: Der »Ich-bin-da« hat mich zu euch
gesandt. Und weiter sagte Gott zu Mose: Jahwe der Gott eurer Väter, der Gott Abra-
hams, Isaaks und Jakobs, hat mich zu euch gesandt. Das ist mein Name für immer. so
wird man mich nennen in allen Generationen. (Ex 3, 13-15)

Jahwe (JHWH) wurde zum hebräischen Namen Gottes. Nach semitischem Sprachgefühl aber be-
zeichnet der Name das Wesen, ja ist Gott selbst. Und den Namen gebrauchen, bedeutet Gott zu
gebrauchen. Deshalb wird kein religiöser Jude den Namen »Jahwe« aussprechen.
Für Israel war das Wissen um den Namen Gottes so wichtig, daß sie seine Offenbarung an einen
uralten, schon lange vor Moses gebräuchlichen Wallfahrtsort verlegten. Vermutlich wurde »Jah-
we« hier schon zuvor von den Sinai besiedelnden Halbnomaden (Edomiter, Midianiter, Keniter)
als Namen des auf dem Berg Sinai wohnenden Gottes verwandt, doch bei den Juden erhielt das
Wort im Laufe der Jahrhundert die Bedeutung des Namens des einen Gottes.
Sicher ist, daß Jahwe eher ein Wort ist, das eine Funktion bezeichnet, denn eine »Substanz«. Auch
Jesus spricht von Gott stets funktional. Er nennt ihn »Abba« (im semitischen eine familiäre Anrede
für Vater; im aramäischen bedeutet das Wort: Vater, Herr, Lehrer). Das bezeichnet keine Sub-
stanz, sondern eine Funktion (wie auch die Bildworte »Licht«, »Wort«, »Liebe«): die des totalen
Verdanktseins. Den Informationszusammenhang zwischen Gott und Welt scheint auch das vierte
Evangelium nahezulegen, wenn es in terminologischer Anlehnung an griechisch-philosophische
Spekulationen schreibt:

Im Anfang war das Wort,


Und das Wort war bei Gott,
Und das Wort war Gott.
Im Anfang war es bei Gott.
Alles ist durch das Wort geworden,
Und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist. (1, 1-3)
Dieses »Wort« (eine Informationstransfer charakterisierende Metapher) wurde nach dem Evange-
listen als Jesus von Nazaret Mensch (1, 14).
• Das Gottesreich ist wohl als eine strukturelle Bindung zwischen Gott und Schöpfung (das Zu-
sammen von Welt und Liebe) zu verstehen, bei denen beide untrennlich und unvermischt zu-
sammen sind. Da das Gottesreich eine geschichtliche Erscheinung (Erfahrung) ist, stellt sich die
Frage, was denn vorher war. Ich schlage vor, das Zusammen und Auseinander von Gott und
Welt unabhängig von Gottesreich als funktionale Informationseinheit zu betrachten (während
es sich im Gottesreich um eine strukturelle Funktionseinheit handeln würde).
Das funktionale Miteinander strebt, wenn einer der Anteile dieses Miteinander formursächlich
bestimmt werden kann, dahin, die Form als Endzustand des Werdenden zu erlangen. Das aber
heißt, daß Welt in einer Weise mit Gott geeint ist, daß man sie einmal »Gott« nennen könnte
(in einer Art Idiomenkommunikation).
• Jesus von Nazaret ist der erste Weltteil, mit dem Gott eine Struktureinheit einging. Er kann
entsprechend »Gott« genannt werden. Mit ihm beginnt die wachsende Struktureinheit von Gott
und Welt, die man geeignet als »Gottesreich« bezeichnen kann. Gottesreich ist also die mit
Gott strukturgeeinte Welt - anfangs partieller Weltteil, wird sie wachsend alles Weltliche um-
greifen.
• Nach Jesus von Nazaret ist es Menschen möglich, sich in Gottesreich hineinzuleben (also in die
Struktureinheit mit Gott). Sie müssen sich mühen, die Jesusbotschaft (also etwa und vor allem
das unbedingte - von keiner Bedingung abhängige - Liebesgebot) zu befolgen. Für viele Men-
schen wird diese Struktureinheit mit Gott Lebensziel sein, das sie erst in ihrem Sterben errei-
chen können. Sterben bedeutet dann: Hineinsterben in die Christushaftigkeit (in die unauflösli-
che Struktureinheit mit der Liebe).
• Obschon das Werden der Gott-Welt-Einheit ein in der Logik der Schöpfung liegender Vorgang
ist, können Menschen diese Einheit für sich verweigern und so die Einigung verzögern. Hand-
lungen und Haltungen, durch die dies geschieht, nennt man »Sünde«. Sünde ist also alles, was
schuldhaft unmittelbar oder mittelbar der Liebe entgegen ist oder die Liebesfähigkeit reduziert.
»Erbsünde« bezeichnet die menschliche Grundbefindlichkeit, sich (sündigend) gegen den kos-
mischen Trend zur Einigung und schließlichen Einheit auflehnen zu können. In ihr verdichtet
sich das »Geheimnis des Bösen«, das alle Menschen erfahren, wenn sie erleben, daß sie Böses
tun (etwa hassen oder neiden), obschon sie lieben wollen. »Erbsünde« meint die fatale Chance
eines jeden Menschen, sich für sich gegen Gottesreich entscheiden zu können, sich somit von
der Realität konkreter Welt abzulösen. Diese Erfahrung war der Sache nach schon sehr früh
bewußt. Sie fand nach Methode der mythischen Deutung (es wurde unter dem Bild eines histo-
rischen Ereignisses die metahistorische Erfahrung erklärt) in den heiligen Schriften vieler Völ-
ker ihren Niederschlag.
• »Erlösung« bedeutet dann die durch Jesus eingebrachte Chance, sich mit Gottesreich struktu-
rell zu einigen und damit »Sünde« endgültig zu überwinden. Jesus erlöst also die Menschen
von der Unmöglichkeit, ihren geschöpflichen Lebenssinn zu vollenden. Dieser Lebenssinn be-
steht darin, im Erlernen von Liebe einmal zum Anspruch unbedingter Liebe (also zu Gott) »ja«
sagen zu können. Daß dies nicht ganz einfach ist, weiß jeder, der schon einmal versuchte, den
Ansprüchen bedingter Liebe voll zu genügen. Aber Jesus sagt, daß dieses möglich ist und er
verkündet, wie es möglich ist: »Haltet meine Gebote« - das heißt: »Übt euch im Lieben«.

c) Das Sakrament des Gottesreiches


Gottesreich ist also zweifellos keine Organisation, keine Kultgemeinschaft, auch nicht eine Glau-
bensgemeinschaft, die die Jesusbotschaft bewahrt und verbreitet. Es ist nicht einmal eine Instanz,
die in der Lage wäre, die sozialen Bedürfnisse, die vor allem ungeliebte oder an Liebe enttäuschte
Menschen entfalten, zu befriedigen. Andererseits scheint Jesus durchaus eine Gemeinschaft seiner
Jünger gewollt zu haben. Jedenfalls organisierte sich schon bald die Menge der an Jesus Glauben-
den zu Gemeinden, sicher in einiger Anlehnung an die jüdischen Gemeinden, die sich um Synago-
gen bildeten. Das bedeutet, daß die frühen christlichen Assoziationen Gemeinschaften des Gebets
und der Vermittlung der Jesusbotschaft waren.
Ihre Organisation zu übergemeindlichen Einheiten dürfte kaum vor der Zerstörung Jerusalems
durch Titus begonnen haben. In den Paulusbriefen begegnen wir relativ autonomen christlichen
Gemeinden mit einer gewissen Führung der Gemeinde zu Jerusalem, deren Würdevorrang nach
dem ersten jüdischen Krieg bald auf die Gemeinde in Rom übergegangen zu sein scheint.
Daß aus Kirchen die Kirche wurde, dürfte auf einen solchen zunächst eher informellen Würdepri-
mat zurückgehen, einen Primat also, der zuerst bestimmt war durch den Ort, an dem die ersten
Ostererfahrungen geschahen, dann durch den Ort, an dem der Kaiser residierte. Die Würde Roms
scheint jedoch erst nach der faktischen Erhebung des Christentums zu einer Staatsreligion durch
Konstantin für Christen allgemein akzeptabel geworden zu sein. Noch am Ende des ersten christli-
chen Jahrhunderts, schon nach der Zerstörung Jerusalems, galt das profane Rom den Christenge-
meinden als Neuauflage der »Hure Babylon«.
Alles dies ist kaum bestritten. Umstritten ist jedoch die Funktion der Herrschaft in der Kirche
(nicht in den frühen Gemeinden, da scheint es Vorsteher gegeben zu haben, die allein oder in Ge-
meinschaft gemeindliche Ordnungsfunktionen ausgeübt haben).
Fest steht, daß das erste Evangelium (das »Syrische«), anders als das zweite, das zehn Jahre zuvor
in Rom, und das dritte, das knapp zehn Jahre später in Griechenland oder dem griechischen Klein-
asien geschrieben wurde, schon um das Jahr 80 den Primat des Petrus auf ein Herrenwort zurück-
führt: Jesus spricht da zu Petrus:

Ich sage dir: Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und
die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen. Ich werde dir die Schlüssel
des Himmelreiches geben; was du auf Erden binden wirst, das wird auch im Himmel
gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird auch im Himmel gelöst
sein. (16, 18-19)

Dieser Text enthält eine recht kühne Mischung von Worten wie Gottesreich - Kirche - Himmel;
mag sein, daß hier eine Mehrzahl von Herrenworten miteinander verschmolzen wurde - doch ist
die Aussage über den Petrusprimat wohl eindeutig, und das etwa 15 Jahre nach dessen vermutli-
cher Hinrichtung in Rom (64 oder 67). Ziemlich sicher ist Petrus bis zum Apostelkonzil (um
48/49) Führer der christlichen Gemeinde in Jerusalem. Aus nicht geklärten Gründen wurde er spä-
ter vom Bruder Jesu, Jakobus, abgelöst. Dennoch wird seine Würde in allen, auch nach dem Kon-
zil verfaßten Schriften, betont:
• Alle Apostelkataloge nennen ihn an erster Stelle.
• Ihm wird die erste Auferstehungserfahrung zugeschrieben (1 Kor 15, 5)
• Er wird von Jesus mit der Gemeindeleitung beauftragt.
Wie diese geschehen soll, darüber berichtet das dritte Evangelium:

Simon, Simon, der Satan hat verlangt, daß er euch wie Weizen sieben darf. Ich aber
habe für dich gebetet, daß dein Glaube nicht erlischt. Und wenn du dich wieder be-
kehrt hast, dann stärke deine Brüder. (22, 31-32)

Bei aller Führungsfunktion des Petrus ist ihm die Interaktionsweise unbedingt vorgeschrieben: es
ist die der Koordination (die also zwischen Gleichgestellten, Brüdern) und nicht die der Subordi-
nation (der zwischen Vorgesetzten und Untergebenen). Diese Koordinationsinteraktion zwischen
allen seinen Jüngern scheint Jesus nach dem Zeugnis der Evangelien immer und immer wieder an-
gestrebt zu haben.
Daran ändert auch nichts, daß es um 80 schon eine verfaßte Gemeindeordnung gegeben zu haben
scheint. Das erste Evangelium berichtet darüber:

Wenn dein Bruder sündigt, dann geh zu ihm und weise ihn unter vier Augen zurecht.
Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder zurückgewonnen. Hört er aber nicht auf
dich, so nimm einen oder zwei Männer mit, denn jede Sache muß durch die Aussage
von zwei oder drei Zeugen entschieden werden (so bestimmt es das mosaische Gesetz
in Dtn 19, 15). Hört er auch auf sie nicht, dann sag es der Gemeinde. Hört er aber
auch auf die Gemeinde nicht, dann sei er für dich wie ein Heide oder Zöllner. (18, 15-
17)

Bei dem ausgesprochenen Zuwendungsverhältnis Jesu zu Heiden und Zöllnern, bedeutet das in
keiner Weise eine Aufforderung zum Haß oder zur Verachtung oder zu irgendeiner Bestrafung.
Aber der Betroffene ist nicht mehr eigentliches Gemeindemitglied.
Um 96 (zu einer Zeit also, als manche der Heiligen Schriften des Christentums noch nicht verfaßt
waren) schrieb die Gemeinde von Rom an die Gemeinde von Korinth einen angeblich von Kle-
mens I (nach altkirchlicher Überlieferung dem 3. Nachfolger des Petrus) verfaßten Brief, um einen
Streit im Gemeindeamt in Korinth zu schlichten. Hieraus kann man ableiten, daß schon gegen En-
de des ersten Jahrhunderts der römischen Gemeinde mit ihrem Vorsteher eine bevorzugte Stellung
unter den Christengemeinden eingeräumt wurde.
Doch folgen wir nicht weiter der Geschichte und den Anfängen einer übergemeindlichen Kirche.
Sie liegen in reichlichem Dunkel zahlreicher widerstreitender Theorien verborgen. Wichtiger ist,
wie sich heute Kirchen in ihrem Verhältnis zum Gottesreich verstehen. Die katholische Kirche be-
stimmt sich als »Sakrament des Gottesreiches« in einer Konstitution des 2. Vatikanischen Konzils.
Es heißt da:

Die Kirche ist nämlich in Christus gleichsam das Sakrament, d.h. Zeichen und Werk-
zeug für die innerste Vereinigung mit Gott wie für die Vereinigung der ganzen
Menschheit unter sich. (LG 1)
Von daher empfängt die Kirche, die… seine Gebote der Liebe, der Demut und der
Selbstverleugnung treulich hält, die Sendung, das Reich Christi und Gottes anzukün-
digen und in allen Völkern zu begründen. So stellt sie den anfanghaften Keim dieses
Reiches auf Erden dar. (LG 5)

Damit hat aber das Konzil auch ausgemacht, wann und unter welchen Umständen Kirche Sakra-
ment (= wirkkräftiges Zeichen) des Gottesreiches sein kann: Dann und nur dann, wenn sie die
Gebote der Liebe, der Demut und der Selbstverleugnung treulich hält. Damit ist ihr verboten.
• moralisch zu verurteilen, was Jesus stets als Ausdruck fehlender Liebe versteht,
• zu herrschen (in Subordinationsinteraktionen), was Jesus stets als Anmaßung zurückweist,
• in sich selbst einen Wert zu sehen, wo sie doch nur relativ hin auf Gottesreich werthaft ist.
Gegen alle diese drei Punkte ist Kirche immer wieder in Gefahr zu fehlen. Es ist dann Aufgabe al-
ler Christen, sie durch liebevolles Mahnen und durch Halten der Jesusgebote im eigenen Leben,
wieder auf den rechten Weg zu bringen. Denn nur dann kann sie ihre einzige erhebliche Aufgabe
erfüllen: Sakrament des Reichs der Liebe zusein.
Wenn aber die Kirche in ihrem Mühen (und zwar dem erkennbaren) den Jesusanspruch an seine
Nachfolge erfüllt, können Christen verpflichtet sein, auf diese Kirche zu hören, sich an ihren Wei-
sungen zu orientieren, in ihr den Hüter und Hort der Jesusbotschaft zu sehen. Es bedarf zwar oft
des durch die Liebe geschulten Auges, um solches Mühen in der Kirche zu erkennen. Dem umge-
schulten Auge scheint oft alles andere als Christlichkeit von konkreter Kirche auszugehen. Das ja
zur konkreten übergemeindlichen Kirche ist sicher auch ein Ja des Glaubens zum in der Sichtbar-
keit fortlebenden Jesus, ein Ja zu der Überzeugung, daß er auch in seine Gemeinden hinein aufer-
standen ist. Immerhin ist die Kirche eine Versammlung von Menschen »in Jesu Namen«.
Ihr gilt also die vom ersten Evangelium berichtete Verkündigung:

Weiter sage ich euch: Alles, was zwei von euch auf Erden gemeinsam erbitten, wer-
den sie von meinem himmlischen Vater erhalten. Denn wo zwei oder drei in meinem
Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen. (18, 1[g?]-20)

Als Sakrament ist die Kirche gleichsam die kultische Außenseite des Gottesreichs. Und in diesem
wesentlich kultischen Raum entwickeln sich konsequent institutionalisierte Formen:
• die institutionalisierte Form des Glaubens im Dogma,
• die institutionalisierte Form der Gottesreichgründung und -weitung in den Sakramenten (wie
Taufe, Abendmahl, Buße).
• die institutionalisierte Form christlicher Interaktionen im Recht.
Dogma, Recht und Sakramente sind, wie gesagt, institutionalisierte Formen kirchlichen Lebens.
Gegen Institutionen ist solange nichts einzuwenden, als sie sich ihrer relativen (auf Handlung be-
zogenen) Bedeutung bewußt bleiben und sich nicht als Eigenwert verstehen. Die Bedeutung der
Institution ist das konkrete Leben, die Bedeutung der kirchlichen Institutionen ist das Wachsen
des Gottesreiches. Sie haben also ihre Möglichkeiten und Grenzen da, wo sie Gottesreich (erfahr-
bar als unbedingte Liebe) zum Wachsen bringen. Sie haben kein Recht da, wo sie Liebe meucheln.
Das Töten der Liebe kann durchaus geschehen durch eine Überbetonung der Institution und durch
eine nicht mehr auf die kirchliche Funktion hin relativierte Aktivität (wenn etwa Recht gesprochen
wird um seiner selbst willen, oder Dogmen vertreten werden, als wären sie in sich von Bedeutung,
oder die Teilhabe am Kult die Christlichkeit eines Menschen bestimmt).
Es genügt nicht zu behaupten, daß in der Kirche der Geist Jesu (d.h. der Geist der Liebe, der Hei-
lige Geist) lebendig sei, wenn diese lebendige Gegenwart nicht für jeden Menschen auch erfahrbar
ist. Denn Liebe ist die Erfahrbarkeit Gottes und seines Reiches. Es gilt auch für Institutionen:

Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt. Denn Gott ist die Liebe. (1 Joh 4, 8)

11. Kurskorrektur

a) Die Lehre Jesu


Um Liebe zu lernen, ist es - nach der Lehre der Evangelien - nötig, zunächst einmal den eigenen
Lebenskurs zu ändern. Das »Metanoeite« [kehrt (eueren Sinn) um] ist die erste Forderung Jesu an
die Menschen, die seine Jünger werden wollen. Metanoia ist das entscheidende Stichwort, das Je-
sus von der Johannespredigt übernimmt. Metanoia heißt Umdenken, Änderung der Lebensweise,
der Lebenseinstellung. Früher wurde es häufig übersetzt mit: »Tuet Buße«. Das kann man ma-
chen, wenn man dieses Tun nicht als eine Abfolge singulärer Bußhandlungen versteht, sondern als
Kurskorrektur. »Umkehr«, das war für die Propheten vor allem die Rückkehr zur Bundestreue mit
Gott, zum Glauben der Väter. Bei Jesus erhält dieses Wort eine projektive Bedeutung. Nicht mehr
Rückkehr ist gemeint, sondern Wandel. Wandel betrifft Gesinnung, Haltung, Einstellung. Das
Sich-ändern, das Neuorientieren ist für Jesus identisch mit Ihm nachzufolgen - mit Christsein also.
Jesus beschreibt nach dem Zeugnis aller Evangelisten als Voraussetzung dieser Nachfolge ein
Verlassen und ein Aufgeben. Neuorientierung ist also keineswegs an erster Stelle eine Neuorien-
tierung des Denkens oder des Glaubens, sondern eine Wandlung des Handelns.
Im folgenden will ich nun einige Grundzüge dieser Jesusnachfolge darstellen.
• Die Forderung nach Kurskorrektur schließt Jesus offensichtlich unmittelbar an die entspre-
chende Johannespredigt an.

In jenen Tagen trat Johannes der Täufer auf und verkündete in der Wüste von Judäa:
Ändert euch! Denn das Himmelreich ist nahe… (Mt 3, 1-2) Als Jesus hörte, daß man
Johannes ins Gefängnis geworfen hatte, zog er sich nach Galiläa zurück. Er verließ
Nazaret, um in Karfanaum zu wohnen, das am See liegt. Von da begann Jesus zu ver-
kündigen: Ändert euch! Denn das Himmelreich ist nahe. (Mt 4, 12-13, 17)

Die Botschaft Jesu wird entsprechend zunächst von Menschen angenommen, denen auch die Bot-
schaft des Johannes etwas sagte:

Denn Johannes ist gekommen, um euch den Weg der Gerechtigkeit zu weisen, und ihr
(d. s. die Hohepriester und Ältesten) habt ihm nicht geglaubt; aber die Zöllner und
Dirnen haben ihm geglaubt. - Amen, das sage ich euch: Zöllner und Dirnen gelangen
eher in das Reich Gottes als ihr. (Mt 21, 32)

Fragen wir uns, warum sich die »Gerechten«, die »Reichen«, kurzum die Menschen, die auf sich
selbst vertrauen und Ansehen und Achtung genießen, so schwer tun in der Jesusnachfolge, im
Christsein also, schwerer jedenfalls als Diebe und Dirnen. Sicher fällt es ihnen schwer, die Struk-
turen ihres bisherigen Denkens und die Gewohnheiten ihres bisherigen Handelns, die ihnen doch
Erfolg und Anerkennung brachten, aufzugeben. Das aber verlangt Jesus. Einem Mann, der ihn um
vollkommene Nachfolge fragt, antwortet er:

Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den
Armen… dann komm und folge mir nach. Als der junge Mann das hörte, ging er trau-
rig weg; denn er hatte ein großes Vermögen. Da sagte Jesus zu seinen Jüngern: A-
men, das sage ich euch: Ein Reicher wird nur schwer in das Himmelreich kommen.
(Mt 19, 21-23)

Das dritte Evangelium berichtet in der Form eines Gleichnisses:

Jesus sagte zu den Leuten: Gebt acht, hütet euch vor jeder Form von Habgier, denn
der Sinn des Lebens besteht nicht darin, daß der Mensch aufgrund seines großen
Vermögens im Überfluß lebt. Und er erzählte ihnen folgendes Beispiel. Auf den Fel-
dern eines reichen Mannes stand eine gute Ernte. Da überlegte er hin und her: Was
soll ich tun? Ich weiß nicht, wo ich meine Ernte unterbringen soll. Schließlich sagte er:
So will ich es machen: Ich werde meine Scheunen abreißen lassen und größere bauen;
dort werde ich mein ganzes Getreide und meine Vorräte unterbringen. Dann kann ich
zu mir selber sagen: Nun hast du einen großen Vorrat, der für viele Jahre reicht. Ruh
dich aus, iß und trink, und freu dich des Lebens! Da sprach Gott zu ihm: Du Narr!
Noch in dieser Nacht wird man dein Leben von dir zurückfordern. Wem wird dann all
das gehören, was du angehäuft hast? So geht es jedem, der nur für sich selbst Schätze
sammelt, aber vor Gott nicht reich ist. (Lk 12, 15-21)

• Doch Jesus fordert keineswegs nur die Aufgabe des materiellen Habens. Wichtiger ist noch das
soziale. »Soziales Haben«, das war vor 2000 Jahren vor allem das »Haben einer Familie« und
das Angesehensein.
Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig, und wer Sohn
und Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig. (Mt 10, 37)

Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Brüder und Schwestern, ja
sogar sein Leben gering achtet, dann kann er nicht mein Jünger sein. (Lk 14, 26)

Und immer wieder betont Jesus, daß Größe und Herrschenwollen einander widersprechen.

In jeder Stunde kamen Jünger zu Jesus und fragten: Wer ist im Himmelreich der
Größte? Da rief er ein Kind herbei, stellte es in ihre Mitte und sagte: Amen, ich sage
euch: wenn ihr euch nicht ändert und wie diese Kinder werdet, könnt ihr nicht in das
Himmelreich kommen. Wer so klein sein kann wie dieses Kind, der ist im Himmelreich
der Größte. (Mt 18, 1-4)

Als ich einmal durch die Wüste Samarias fuhr, sagte mir mein Führer, ein Jude, der einmal aus
Bessarabien nach Israel eingewandert war: »Nur große Menschen lieben die Wüste. Sie wollen
nicht herrschen.«

• Endlich fordert Jesus nicht nur die Aufgabe von Bindungen an materielles oder soziales Haben,
sondern auch die Aufgabe der Eigenliebe. Ein Landsknechtlied singt: »Und setzet ihr nicht euer
Leben ein, nie wird euch das Leben gewonnen sein.« Damit ist sicherlich gemeint, daß es für
Menschen Werte geben muß, die den Einsatz des Lebens wert sind, und für die er in der Le-
benspraxis sein Leben einsetzt. Für Jesus ist es das Evangelium, die frohe Botschaft, daß Gott
kein zürnender und strafender ist, sondern ein bedingungslos Liebender.

In der Sprache des ersten Evangeliums heißt das:

Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwil-
len verliert, wird es gewinnen. (Mt 16, 25)
Wer das Leben gewinnen will, wird es verlieren; wer aber das Leben um meinetwillen
verliert, wird es gewinnen. (Mt 10, 39)

Dem Evangelisten scheint dieser Text wichtig gewesen zu sein, sonst hätte er ihn wohl kaum
gleich zweimal niedergeschrieben.

• Das Aufgeben und Verlassen als Voraussetzung der Jesusnachfolge (d. h. des Christseins) und
als Praxis des Gesinnungswandels ist nun keineswegs Selbstzweck. Neben dem religiösen Sinn,
der Loslösung von einer Welt, die eben (noch) nicht Gottesreich ist und der Einstellung auf
Gottesreich durch eine neue Sittlichkeit, hat die von Jesus geforderte Ablösung auch psychisch
positive Bedeutung.

1. Ein Mensch, der vom Haben gehabt wird, ist unfrei. Er unterliegt einer Fülle von inneren (und
mitunter auch äußeren) Zwängen, um den perversen Zustand des von materiellen oder sozialen
Gütern Besessenwerdens aufrechtzuerhalten. Jesus meint durchaus besinnenswert:

Was nutzt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber seine See-
le (das ist seine Menschlichkeit) verliert? (Mt 16, 26)

Es ist recht nützlich, auf dem Wege ins Christentum, bei dieser Frage einmal einige Zeit beden-
kend zu verweilen und sie zu beantworten zu versuchen.
2. Die schizoide Doppeldefinition, nach der viele Menschen sich von einem Ideal her definieren,
das in Realität nirgends anders als in ihrem Kopf besteht, fällt fort. Das Zwei-Herrn-Dienen (dem
Ideal und der Realität) wird in der Jesusbotschaft zurückgewiesen: In der Bergpredigt heißt es:

Niemand kann zwei Herren dienen; er wird entweder den einen hassen oder den ande-
ren lieben, oder er wird zu dem einen halten und den anderen verachten. Ihr könnt
nicht beiden dienen, Gott und einem Götzen. (Mt 25, 24)

Das Leben in der Lebenslüge, das es scheinbar möglich macht, Christ zu sein und irgend etwas
anderem (der Eigenliebe, dem materiellen oder sozialen Besitz, dem Ansehen oder der Macht) zu
dienen, wird hier als unmöglich entlarvt. Zumindest unbewußt wird ein Doppeldiener Jesu Positi-
on ablehnen. Und da er das nicht wahrhaben will, wird er immer weiter den Weg in die Lebenslü-
ge gehen - bis hin zur Neurose oder gar zur Realitätsablösung.
3. Ganz allgemein bedeutet Umdenken Ablösen, Neuorientierung, Verzicht. Verzichtenkönnen ist
aber eine zwingende Voraussetzung, um in einer Kulturwelt psychisch gesund zu überleben. Wer
nicht verzichten lernte, wird durch alle möglichen Angebote, die er nicht wahrnehmen kann,
• sei es, daß die Wahrnehmung verboten oder verpönt ist,
• sei es, daß ihm die psychischen, physischen, intellektuellen, finanziellen… Mittel fehlen, das
Angebot wahrzunehmen,
dauernd frustriert sein und auf eine Fülle von Ersatzbefriedigungen ausweichen, die aber niemals
das Streben nach Befriedigung des ursprünglichen Bedürfnisses zur Ruhe kommen lassen.
Wir leben in einer Welt, die nur bestehen kann, wenn der Konsum an produzierter Ware dauernd
wächst. Mit mehr oder weniger raffinierten Methoden werden wir, um das sozio-ökonomische
System, das langfristig auf wachsenden Konsum zwingend angewiesen ist, nicht zu gefährden, da-
zu gebracht, unsere Bedürfnisse zu weiten und ihre Befriedigung zu intensivieren, vor allem, wenn
unsere primären nicht zu befriedigen sind. Früher war es einmal Mode, in diesem Zusammenhang
von Konsumterror zu sprechen. Und tatsächlich können die Konsumangebote einen Menschen,
der es nie lernte, freiwillig auf Konsum zu verzichten, in seiner inneren Freiheit so beschränken,
daß man von Terror sprechen kann. Das Jesusgebot von der Ablösung, vom Umdenken, von der
Neuorientierung fordert Verzicht in weit wesentlicheren Bereichen als denen des Warenkonsums.
Wer solchen Verzicht lernt, kann den leichteren gleich mitbeherrschen.
4. Der von Jesus eingeforderte Verzicht auf Herrschaft ist ebenfalls psychisch dringend wün-
schenswert. Das Herrschenwollen ist zumeist eine Reaktion des aktiv-oralen Charakters oder auf
gekränkten Narzißmus - und insofern oft schon pathologisches Symptom. Herrschaft verhindert
die Anerkennung eigener Mängel (etwa des Narzißmus) und macht so ein Aufarbeiten nicht mög-
lich. Der Herrschende neigt nicht selten dazu, seine eigenen Fehler zu verdrängen (oder anderswie
abzuwehren). Das macht ihn zu einem armen und kranken Menschen.
Ganz offensichtlich sind es nicht die Großen, die Reichen und Mächtigen, die dem Gottesreich na-
hestehen. Jesus wiederholt häufig, daß es die Dirnen und Diebe sind, die die Botschaft vom Reich
aufnehmen. Menschen also, die sich so akzeptieren wie sie sind und nicht nach außen eine Fassade
aufbauen müssen, hinter der sie sich in ihrer Unbedeutendheit und Leere verbergen. Solche Fassa-
de von Macht oder Reichtum will sorglichst gehütet werden. Endlich versteht sich ein Mensch
selbst von seiner Fassade her - und kann ohne sie nicht mehr leben. Dann ist Gesinnungswandel
nicht mehr möglich. So finden also die Reichen und die Mächtigen kaum ins Reich. Mich wundert
es nicht, daß Jesus nicht etwa seine Mutter oder irgendeinen der Apostel, erst recht nicht einen
Großen und Reichen des Landes zum ersten Mitbewohner seines Reiches macht, sondern einen
Terroristen. Mit Jesus zusammen wurden zwei Mörder aus vermutlich politischen Motiven ge-
kreuzigt (Zeloten?): Das dritte Evangelium berichtet:
Einer der Verbrecher, die neben ihm hingen, verhöhnte ihn: Bist du nicht der Messias?
Dann hilf dir selbst und auch uns! Der andere aber wies ihn zurecht und sagte: Nicht
einmal du fürchtest Gott? Dich hat doch das gleiche Unheil getroffen. Uns geschieht
recht, wir erhalten den Lohn für unsere Taten; dieser aber hat nichts Unrechtes getan.
Dann sagte er: Jesus, denk an mich, wenn du in dein Reich kommst. Jesus antwortete
ihm: Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein. (Lk 23, 39-43)

Nun wird man diesen Text nicht unbedingt für die Wiedergabe eines historischen Ereignisses hal-
ten müssen. Bemerkenswert aber ist, daß die Haltung und der Glaube der frühen Christengemein-
de sich in einer solchen Geschichte artikuliert. Hier wird mehr von der Jesusbotschaft ausgesagt
als die stockbraven Konzilien unter der Ägide römischer Kaiser von ihr aussagen konnten.
Es mag sein, daß Sie diesen Bericht über Jesus und den Terroristen für skandalös halten. Dann
haben Sie eine doppelte Möglichkeit: Sie können den Weg ins Christentum hier abbrechen - oder
sie kommen zu dem Ergebnis, daß offenbar Ihre Bewußtseinsänderung noch nicht weit genug ge-
gangen ist. Und ziehen daraus die praktische Konsequenz, keinen Menschen für wichtiger oder
besser, für christlicher oder weniger christlich zu halten - sich auf keinen Fall durch irgendwelchen
Augenschein oder öffentliche Meinung oder Vorurteile zum Urteil über andere Menschen bewe-
gen zu lassen: und seien sie Terroristen.
Doch damit stehen wir schon an der Schwelle des nächsten Kapitels, das über die von den Evan-
gelien ausgeführten Weisen der Liebe handeln soll. Bewußtseinsänderung ist die Voraussetzung
christlicher Liebe. Die Liebe ist der Zweck der Bewußtseinsänderung. Um zu lieben, muß ein
Mensch einen hohen Grad innerer Freiheit besitzen. Dazu aber ist in nahezu allen Fällen eine Be-
wußtseinsänderung, eine Neuorientierung im Wertbereich, eine Kurskorrektur zwingend notwen-
dig.
Sie sollten sich nun keineswegs aus der Nachfolge Jesu menschliche Anerkennung versprechen.

Ihr werdet um meines Namens willen von allen gehaßt werden; wer aber bis zum Ende
standhaft bleibt, der wird gerettet. (Mt 10, 22)

Sicherlich haben die frühen Christen unter dem Eindruck einer ihnen kaum verständlichen Verfol-
gung den »Verfolgungstexten« in den schriftlichen Überlieferungen der Jesusbotschaft besondere
Aufmerksamkeit geschenkt. Sicher scheint zu sein, daß Jesus von seinen Schülern den Verzicht
auf Anerkennung und Ehre unbedingt erwartete. Die beiden letzten Seligpreisungen der Bergpre-
digt lauten:

Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn ihnen gehört das Him-
melreich.
Selig seid ihr, wenn ihr um meinetwillen beschimpft und verfolgt und auf alle mögliche
Weise verleumdet werdet. Freut euch und jubelt: Euer Lohn im Himmel wird groß
sein. Denn so wurden vor euch schon die Propheten verfolgt. (Mt 5, 10-12)

Und der 1. Johannesbrief stellt lakonisch im Zusammenhang der Nächstenliebe fest:

Wundert euch nicht, wenn die Welt euch haßt. (3, 13)

Denn kaum etwas erzeugt mehr Haß und andere Formen der Abwehr, als wenn ein Mensch sich
nicht so verhält, wie man es von ihm erwartet. Ein Mensch, der sich nicht wehrt und verteidigt,
wenn er angegriffen wird, ein Mensch, der auch dann liebt, wenn er gehaßt wird, ein Mensch, der
nicht zurückschlägt, wenn man ihn verleumdet, wird »nach den Regeln dieser Welt« Haß und An-
griff, Verleumdung und Verachtung provozieren.
b) Das Sakrament der Umkehr
Die Kirchen, vor allem die katholischen, bewahren und betonen den sakramentalen Charakter der
Umkehr und geben ihr ein sakramentales Zeichen. Dieses Zeichen sagt, daß ein Mensch nicht oh-
ne Ende mit seiner eigenen Vergangenheit zusammenleben muß, daß er auch in den Augen der
Gemeinde und vor dem Anspruch der Selbstinterpretation die Chance eines neuen Anfangs hat.
Das Fehlverhalten gegenüber anderen Menschen und die Sünde gegenüber dem Anspruch der
Liebe werden vergeben und gelten nicht mehr. Diese Vergebung wird dem sich wahrhaft Wan-
delnden im Sakrament der Umkehr zugesprochen, das man wegen der alten Übersetzung von Me-
tanoia mit Buße auch »Sakrament der Buße « nennt.
Hier übernimmt die Kirche als Außenseite des Reichs eine ausgesprochene Funktion von Gottes-
reich - eine Funktion der Liebe. Und es kann diese Funktion nicht aus der Autorität einzelner Mit-
christen wahrgenommen werden, denn die Gemeinde ist es, die den Sinneswandel zur Kenntnis
nehmen muß und die verzeiht, weil auch sie es war, die unter dem Versagen des sich nun Ändern-
den litt. So spricht denn die Kirche bzw. in ihrem Auftrag der von ihr dazu Bestimmte die Aner-
kennung des Wandels aus, die von der Schuld der Vergangenheit befreit.
Dieses Handeln kann sich auf mancherlei Hinweise der Evangelien berufen, die die Praxis des »in-
stitutionalisierten Sinneswandels« (besser: der Akzeptation des Wandels durch die Institution)
schon gekannt haben müssen. So heißt es im ersten Evangelium als Spruch an die Gemeinde:

Alles, was ihr auf Erden binden werdet, das wird auch im Himmel gebunden sein, und
alles, was ihr auf Erden lösen werdet, das wird auch im Himmel gelöst sein. (18, 18)

Und in der Erfahrung des Auferstandenen erhalten die Apostel den Auftrag:

Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Nachdem er das gesagt hatte,
hauchte er sie an und sprach zu ihnen: Empfanget den Heiligen Geist! Wem ihr die
Sünden vergeht, dem sind sie vergeben; wem ihr die Vergebung verweigert, dem ist
sie verweigert. (Joh20, 21b-23)

Hier handelt es sich um eine Fortsetzung der Jesustätigkeit, die zum guten Teil darin bestand,
Sünden zu vergeben. So heißt es etwa im Heilungsbericht eines Gelähmten:

Man brachte auf einer Tragbahre einen Gelähmten zu Jesus. Als er ihren Glauben sah,
sagte er zu dem Gelähmten: Hab Vertrauen, mein Sohn, deine Sünden sind dir verge-
ben! Da dachten einige Schriftgelehrte: Er lästert Gott. Jesus wußte, was sie dachten,
und sagte: Warum habt ihr so böse Gedanken im Herzen? Was ist leichter zu sagen:
Deine Sünden sind dir vergeben!, oder zu sagen: Steh auf und geh umher?… Darauf
sagte er zu dem Gelähmten: Steh auf und nimm deine Tragbahre und geh nach Hause!
Und der Mann stand auf und ging heim. (Mt 9, 2-7)

Das Sündenvergeben ist eine ausgesprochen messianische Funktion, die die Evangelisten Jesus in
Anspruch nehmen lassen, sicher auch, um seine Messianität zu beweisen.
Das christliche Sakrament des Wandels ist keineswegs mit den Entsühnungsritualen anderer Reli-
gionen zu vergleichen, denn es fordert zwei sehr ungewöhnliche Bedingungen ein:
• es muß im Kontext einer inneren und äußeren Umkehr, einer Kurskorrektur, die das ganze Le-
ben betrifft, stehen und
• es muß durch die Gemeinde ausgesprochen werden.
Der Spruch von Menschen ist sicherlich auf den ersten Blick schwer verständlich, denn nicht
Menschen sollen verzeihen, sondern Gott. Doch hier wird wieder deutlich, wie wenig diesem Gott
ein Konzept gerecht wird, das ihn als lohnende und strafende Instanz interpretieren möchte. Und
somit verzeiht der Gott, der nicht zu beleidigen ist, weil er als unbedingte Liebe auch Verzeihung
ist, nicht wegen unserer Umkehr. So verzeihen kann nur die Gemeinde, die Kirche. Und in diesem
Spruch kann sich ein Mensch wieder unter den uneingeschränkten Strom unbedingter Liebe stel-
len. Im Sakrament geschieht nichts in oder mit Gott, sondern es geschieht etwas in und mit und
durch den Umkehrenden und die Kirche. Beide verändern sich und stellen sich unter den nur so
erträglich werdenden Anspruch unbedingten Liebens.

12. Über die Liebe

a) Die Botschaft Jesu


Das Gebot der Nächstenliebe ist vielen Menschen das zentrale und typische Gebot der christlichen
Sittlichkeit. Das ist nur recht bedingt richtig. Die Nächstenliebe ist nämlich das zentrale Gebot der
jüdischen Religiosität (vor allem in der Ausprägung, die sie durch die Propheten erhielt). Zur Zeit
Jesu vertraten vor allem die Pharisäer diese Lehre. Darum stellt ein Gesetzeslehrer aus der Schule
der Pharisäer Jesus auf die Probe mit der Frage nach dem »wichtigsten Gebot im Gesetze« des
Moses. Und Jesus zitiert hier denn auch das »3. Buch des Moses« (19,20):

Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. (Mt 22, 39)

Doch in der Bergpredigt verschärft Jesus dieses Gebot für seine Jünger erheblich:

Ihr habt gehört, daß gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen
Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfol-
gen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet. (5, 43-45)

Die Liebe des mosaischen Gebots betraf den Nächsten - den Volksgenossen in der Terminologie
der Gesetze. Jesus aber löst das Gebot von seiner völkischen Begrenztheit und erweitert es auf al-
le Menschen - auch die Feinde. Hier sind nicht nur die Feinde des Volkes gemeint, sondern auch
die persönlichen. Sicher gibt es im mosaischen Gesetz kein Gebot, den Feind zu hassen, doch
scheint es unter den verschiedenen nationalistischen Bewegungen zu Jesu Zeiten (Zeloten etwa
oder auch Essener) manche gegeben zu haben, die den Feindeshaß (etwa den Römerhaß) religiös
forderten.
Daß Jesus das Liebesgebot universalisiert und individualisiert, also auf jeden Menschen ausdehnt
und auch auf den persönlichen (und nicht nur den nationalen) Feind, wird durch die Auslegung
des Wortes in andere Passagen der Bergpredigt erläutert und sichergestellt. Die Rabbinenfrage um
die Auslegung und Bedeutung des Wortes »Nächster« beantwortet Jesus denn auch bewußt anti-
national mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter, eines Mannes also, der einem Mischvolk
aus nach der assyrischen Eroberung (722/721) in Mittelpalästina verbleibenden Israeliten und den
Kolonisten angehörte und der religiös ein Schismatiker war, da er
• Jahwe nicht im Tempel zu Jerusalem verehrte, sondern auf dem Berg Garizim,
• nur die »fünf Bücher des Moses« (mit einigen Veränderungen zugunsten des eigenen Kults) als
Heilige Schriften akzeptierte,
• nicht die Reformen des Esra und des Nehimas nach der babylonischen Gefangenschaft (538)
anerkannte,
• im Gegensatz zu den Juden die althebräische Sprache in Wort und Schrift verwendete (und
nicht das Aramäische).
Kurzum die Samaritaner galten den Juden als ausgesprochen verachtenswert. Und von solch einer
Kreatur berichtet Jesus im Gleichnis:
Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen.
Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn
halbtot liegen. Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging
weiter. Auch ein Levit kam zu der Stelle; er sah ihn und ging weiter. Dann kam ein
Mann aus Samarien, der auf der Reise war! Als er ihn sah, hatte er Mitleid, ging zu
ihm hin, goß Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein
Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn. Am anderen Morgen holte
er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehr
für ihn brauchst, werde ich dir bezahlen, wenn ich wiederkomme.
Was meinst du: Wer von den dreien hat sich als Nächster dessen erwiesen, der von
den Räubern überfallen wurde?
Der Gesetzeslehrer antwortete: Der, der barmherzig an ihm gehandelt hat. Da sagte
Jesus zu ihm: Dann geh und handle genauso! (Lk 10, 30-37)

Und immer und immer wieder betont Jesus:

Darum lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer. Denn ich bin gekom-
men, um die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten. (Mt 9, 13)

Wenn ihr begriffen hättet, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer, dann
hättet ihr nicht Unschuldige verurteilt. (Mt 12, 7)

Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist. (Lk 3, 36)

Im Folgenden will ich nun dieses Gebot der allgemeinen Liebe etwas entfalten. Daß sich Liebe
nicht im Fühlen, sondern im Handeln offenbart und realisiert, ist schon gesagt worden.

b) Formen der Liebe


Einen Menschen lieben, heißt nicht ihn besitzen, ihn haben wollen. Wer einen Menschen haben
will, sucht sich selbst - durch den anderen. Seine Liebe ist letztlich infantil-narzißtisch. Liebe will
Freiheit geben und Freiheit empfangen. Liebe, die versklavt, ist in ihr Gegenteil umgeschlagen.
Liebe stellt sich vor in folgenden Interaktionsweisen:
1. Sie sorgt sich für den anderen Menschen, müht sich also um seine Sorgen. Sorgen meint die
Folge des Sich-hinein-Denkens und -Fühlens, das nicht sich selbst sucht, sondern den anderen. Es
gibt sicher zahlreiche Fehlformen des Sorgens. So kenne ich Eltern, die »sorgen« sich um ihre
Kinder, weil deren Versagen ihrem Ansehen schaden könnte. Dann handelt es sich nicht um Sor-
gen. Dem Sorgen entgegen ist das Einmischen und die Gleichgültigkeit. Wenn ich mich in die An-
gelegenheiten eines anderen einmische, dann nicht um ihn, sondern um mir zu helfen. Dieses Ein-
mischen kann sehr verschiedene Formen haben. Zum Beispiel: Ratschläge geben, ohne tatsächlich
dazu befugt zu sein. Solche Ratgeber wollen oft über das Instrument des Rates herrschen, wollen
sich groß sehen, und den anderen klein und hilfsbedürftig. Einmischen kennt zahllose Formen -
und alle sind widerchristlich, weil wider die Liebe. Es gibt Eltern, die sich in die Angelegenheit ih-
rer Kinder mischen, Ehepartner, die sich wechselseitig in die Angelegenheiten des anderen mi-
schen, Vorgesetzte, die sich um die Sachen der Mitarbeiter kümmern… Solches Einmischen ist
stets begleitet von einem Schwund an Ehrfurcht vor der Personenwürde des andern und tötet Lie-
be recht nachhaltig. Das Sorgen aber aus Ehrfurcht ist hier gemeint und gefordert als Ausdruck
der Liebe.
Eine andere der Liebe entgegengesetzte Haltung ist die der Gleichgültigkeit. Wem der andere
nichts oder wenig gilt, wer sich selbst für das eigentlich einzig Interessante hält, wer also mehr
oder weniger offen im Egoismus seine Religion fand, der wird g66ichgültig sein gegenüber der
Person und dem Geschick anderer Menschen. Oft ist die Gleichgültigkeit mit radikaler emotiona-
ler Kälte verbunden und kann dann ein Symptom psychischer Störung sein.
2. Liebe interessiert sich für den anderen Menschen. Interesse meint keineswegs Neugier. Wäh-
rend die Neugier das Eigene sucht, richtet das Interesse, der Wunsch zu erkennen, zu verstehen,
sich aus auf den anderen Menschen. Auch dem Interesse sind zahlreiche Haltungen und Handlun-
gen entgegen, die alle mehr oder weniger offene Formen des Herrschens repräsentieren. Wer
herrscht, ist Besitzer von Macht, Einfluß… und will sie im Regelfall behalten, d. h. er ist von sei-
ner Position beherrscht. Herrschen ist meist eine Interaktionsform, die hervorgeht aus dem Haben
oder Haben-wollen. Herrschaft entmenschlicht oft den, der herrscht, und tendiert dazu, auch den
zu entmenschlichen, der beherrscht wird. Solche Herrschaft ist also der Liebe entgegen.
Die Grundlage des Interesses ist ein gutes Maß an Alterozentriertheit. Nur, wer nicht um sein ei-
genes Ich kreist als den Mittelpunkt seines Interesses, kann im anderen Menschen einen zweiten
Pol finden, um den herum er sein Leben organisiert - das aber ist Liebe. Unsere Gesellschaftsord-
nung macht es nun auf mancherlei Weise schwer, sich alterozentriert zu organisieren. Positiv se-
lektiert werden vielmehr Egoismus und Egozentrik - zwei Positionen, die der Liebe vollständig
entgegen sind und weitgehend zur Liebe unfähig machen. Für Christen sind sie deshalb der Kern
aller Sünde und können nicht akzeptiert werden. Akzeptiert werden kann ebenfalls nicht ein ge-
sellschaftliches System, das den Egoismus, das Streben primär nach Eigennutz zur Grundlage et-
wa seiner ökonomischen oder politischen Interaktionsmuster macht. Christentum und kapitalisti-
sche Ordnungsstruktur sind miteinander nicht nur unvereinbar, sondern einander entgegengesetzt,
wenn und insoweit Egoismus zur Antriebsfeder wirtschaftlicher Prozesse (ideologisch kann man
hier auch von »wirtschaftlichem Fortschritt« sprechen) gemacht wird. In der Theorie von A.
Smith, die keineswegs praxisfremd ist, nimmt der Egoismus für die Konstitution des kapitalisti-
schen Wirtschaftssystem eine zentrale Rolle ein. Über einen nicht gesetzmäßig und kausal voll
auszuerklärenden Mechanismus führe der Egoismus der vielen zum höchsten Nutzen aller und des
Systems. Daß diese Position völlig unbeweisbar ist, wird jeder einsehen, der erkennt, daß das e-
goistische Streben der vielen durchaus zum Untergang aller und von Systemen führen kann - etwa
in einer gigantischen Selbstvernichtung der Menschen.
Der Egoismus ist als gefährliche Chance in uns allen angelegt. Das liegt auch darin, daß in unserer
Erziehung der Narzißmus (eine kindliche Selbstliebe mit ihren Allmachtsträumen) nicht überwun-
den wird. Narzißtische Menschen haben - wie schon angedeutet - durchaus soziale Vorteile in un-
serer Gesellschaft, so daß eine Erziehung, die den frühkindlichen Narzißmus überwinden läßt, eine
Erziehung zu ökonomischem Mißerfolg sein könnte. Im Erziehungsrepertoire stehen somit auch
keine Methoden bereit, christlich-optimale Bildung zu ermöglichen.
Egozentrik hat viele Gesichter. Oft wird Menschen ihr fundamentaler Egoismus nicht bewußt -
vor allem Berufschristen wehren nicht selten ihren Egoismus so weit ab (durch Verdrängung oder
Projektion), daß sie ihn gar nicht mehr wahrnehmen können. Für diesen Fall seien hier eine Reihe
von Indikatoren genannt, die deutlich die Herrschaft des Ego in Interaktionen erkennen lassen:
• Die Unfähigkeit, genau hinzuhören, ist oft verbunden mit dem Desinteresse am anderen Men-
schen. Interesse wird allenfalls geheuchelt. Wer sich tatsächlich für den anderen interessiert,
läßt ihn sich selbst darstellen und hilft dabei durch geeignetes Fragen. Der eigene Selbstdarstel-
lungswille macht vielen jedoch genaues Hinhören unmöglich. Das Gehörte ist für den folgen-
den Eigenbeitrag keineswegs Ursache, sondern Anlaß. Der Egoist spricht das, was ihm aus An-
laß des Zuhörens eingefallen ist, ohne tatsächlich auf den anderen Menschen einzugehen.
Die Unfähigkeit, genau hinzuhören, kann mitunter eigenartige Formen annehmen. Das Unterbre-
chen des Partners ist eine davon. Die Abgabe von scheinbaren Aufmerksamkeitssignalen (ni-
cken, brummen…) eine andere. Mitunter kommt es auch zu hörerinadäquatem Verhalten, bei
dem der scheinbar Zuhörende beginnt, mit Gegenständen (Knopf, Kugelschreiber, Papier…) zu
spielen, zu gähnen, umher zu schauen… Ich denke, daß solche Unhöflichkeiten arge Verlet-
zungen der Liebe sind, weil sie dem Partner großes Desinteresse signalisieren.
• Die Unfähigkeit, fremde Bedürfnisse und Wünsche zu erkennen. Wir alle haben es schon erlebt,
daß sich Liebe darin äußert, daß der Liebende den Wünschen des anderen durch sein Handeln
zuvorkommt, ein Bedürfnis erkennt, ehe es dem Partner (voll) bewußt geworden wäre. Das
Desinteresse, der Egoismus verfährt gerne umgekehrt: Für ihn ist die Interaktion mit dem Mit-
menschen die große Chance, die eigenen Bedürfnisse und Wünsche (etwa nach Anerkennung,
Zuwendung, Interesse, Sicherheit, Leistungen…) zu erfüllen. Was im Partner vorgeht, wird
kaum bemerkt. Die Partnerwünsche werden allenfalls in dem Umfange wahrgenommen und re-
alisiert, als sie eigene Interessen stören oder in an sich davon eigenen Nutzen verspricht.
• Der Egoist kann sehr wohl des Mitleids scheinbar fähig sein und dann durchaus hilfreich wir-
ken. Dabei projiziert er unbewußt oder halbbewußt die Möglichkeit eigenen Leidens in den
Partner und sieht sich selbst leiden. Seine Hilfe will nicht primär das Leiden des anderen enden,
sondern das eigene, das im fremden erfahren wird. Doch nicht wenige Egoisten sind auch so
weit abgestumpft gegen fremdes und zugleich hochsensibilisiert gegen eigenes Leid, daß sie
selbst zu projektivem Mitleid nicht mehr fähig sind.
Für die Liebe ist charakteristisch die Haltung der Mitfreude. Liebe freut sich am Erfolg, am
Glück, am Aussehen des anderen. Der Egoist wird jedoch in solchen Situationen wenigstens
ansatzhaft Neid empfinden oder - wenn er diese Haltung als minderwertig abgewehrt hat - un-
definierbare Unlustgefühle bis hin zu Ansätzen von Niedergeschlagenheit.
Egoistisch sind alle Interaktionen, die andere zu einem Verhalten bringen wollen, das vor allem
dem Egoisten nutzt. Solche manipulativen Interaktionen sind außerordentlich verbreitet. Viele
Formen des Lügens, des Werbens, des Bittens… sind oft solche mehr oder weniger verkappten
Manipulationsversuche. Ein liebender Mensch (im Gegensatz zum verliebten) wird solche Mani-
pulation nicht einsetzen, und zwar aus Achtung vor dem anderen, die es ihm verbietet, ihn zum
Instrument der Befriedigung eigener Wünsche und Bedürfnisse zu machen. Der manipulierende
Mensch interessiert sich letztlich nur für sich selbst und seinen Nutzen.
3. Die Liebe belebt beide: den Liebenden und den Geliebten. Auch dieser Sachverhalt ist uns aus
unserer eigenen Erfahrung bekannt. Das Beleben ist ein Kriterium recht gelebter Liebe. Das inten-
sivere und extensivere Leben, das Liebe vermittelt, kann sich in mancherlei Haltungen und Erfah-
rungen ausdrücken: die somatische Motorik scheint lockerer, beschwingter, die Augen leuchten,
die Haltung ist gestraffter, Sinneseindrücke werden intensiver erlebt (Farben, Töne, Klänge, Ge-
rüche…), der Wunsch nach körperlicher Isolierung schwindet, Zeitdauern werden von einem phy-
sikalischen (mit Uhren zu messenden) auf einen biologischen Erlebnisrhythmus hin neu erfahren,
Menschen erscheinen gut, glaubwürdig und hilfsbereit… Diese Erfahrungen begleiten aber nicht
nur die erotische Liebe, sondern jede Liebe.
Interaktionen, die nicht von Liebe bestimmt sind, töten dagegen. Das muß nicht (kann aber sehr
wohl) ein schleichender Mord an dem Menschen sein, der zum Gegenstand allgemeinen Hassens
oder Verachtens gemacht wird. Das erste Evangelium läßt Jesus in der Bergpredigt sagen:

Ihr habt gehört, daß den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten; wer aber je-
mand tötet, soll dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch: jeder, der seinem Bru-
der auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein. (5, 21-22a)

Und der 1. Johannesbrief schreibt noch schlichter:

Jeder, der seinen Bruder haßt, ist ein Mörder, und ihr wißt: Kein Mörder hat ewiges
Leben, das in ihm bleibt. (3, 15)

Nicht wenige scheinbare Christen pflegen diese Texte nachdrücklich zu verdrängen, indem sie et-
wa eine sie entlastende Definition vom Haß einführen. Dabei ist doch unbestritten, was »Haß«
meint. Das Wort bezeichnet die Stimmung oder die Emotion, die einen Menschen dazu bringt,
etwas zu tun oder zu wünschen, was einem anderen schaden könnte - also etwa den Wunsch, ihn
durch Worte zu verletzen.
Wie aber geschieht das Beleben durch Liebe? Sicher zum wichtigen Teil dadurch, daß die Liebe
Vorgaben und Hilfen anbietet, die eine aufbauende Eigeninterpretation erlauben.
Es ist wohl allgemein bekannt, daß wir in unseren Interaktionen eine erhebliche Verantwortung
für das Werden eines Menschen übernehmen. Sein Werden hängt weitgehend von seinem Selbst-
verständnis ab. Dieses Selbstverständnis aber von den für ihn merkbaren und erkannten Fremdbe-
stimmungen. Wenn ich also einem Menschen stets Mißtrauen entgegenbringe, dann werde ich in
meinen Interaktionen kaum hilfreich für seine Selbstbestimmung sein. Entweder wird er dieses
Angebot ablehnen und sich möglichst von solchen Szenen zurückziehen, die ihm nicht-akzeptable
Angebote des Selbstverstehens machen (das endet dann in Einsamkeit und Realitätsablösung, da
wir, um die Realitätsgründung nicht zu verlieren, der Sozialkontakte unbedingt bedürfen). Oder er
wird das Angebot meist unbewußt - akzeptieren und sich so verhalten, wie man es erwartet - er
wird des Vertrauens nicht würdig sein.
Unsere Erwartungen gegenüber einem Menschen, die sich in Interaktionen manifestieren, bilden
also den Menschen mit. Das ist die wohl fundamentalste Verantwortung, die wir füreinander ü-
bernehmen. Das gilt ganz besonders für Menschen, die in einer institutionalisierten Bindung mit-
einander leben, etwa in einer Ehe. Wer sich dieser Verantwortung nicht bewußt ist und bleibt,
vernichtet die Liebe in sich und in der Beziehung zum andern.
So kommt es dann, daß die Liebe lebendig macht und der Haß (aber auch Neid und Mißgunst,
Nachrede und Verleumdung…) töten. Die moderne Sozialpsychologie kann hier kaum anderes
sagen als die Heiligen Schriften der Christen.
Christsein heißt zunächst einmal Menschsein - Christwerden aber Menschwerden. Und dazu ge-
hört das Wissen (nicht das theoretische, sondern das in die Lebenspraxis konkreter Interaktionen
alltäglich übersetzte) von der radikalen Verantwortung füreinander.
Es gibt auch Formen einer scheinbaren Liebe, die der belebenden entgegen ist, einer Liebe, die
lähmt und unterdrückt. »Lähmende Liebe« will besitzen und beherrschen. Die Interaktionsmuster
in der lähmenden Liebe sind nicht umkehrbar, die Rollen sind fixiert und eingeschliffen, Sponta-
neität ist selten und wird eher als Störgröße empfunden.
Solche Liebe kennt Eifersuchtsszenen und Anklagen, kennt Streit und kleinliches Aufrechnen - sie
ist in institutionalisierten oder ritualisierten Rollen gestorben. Hier verbreitet Liebe nicht das Ge-
fühl von Freiheit, sondern das von Beschränkung und Zwang. Nicht selten suchen sich auch die
Partner durch innere und äußere Zwänge in Rituale zu flüchten, um auszuweichen. Sie verkennen,
daß sie die eigene und fremde Konfliktappetenz steigern, die neue Konfliktbereiche und -anläße
suchen läßt.
Hier ist das Gegenteil von Liebe am Werk. Oft werden sich die Partner noch als liebend verstehen
oder doch ausgeben, obschon die Interaktionen nach außen nicht mehr spontan und herzlich, nicht
mehr unmittelbar und froh, sondern bestenfalls routiniert erscheinen. Nach außen wird solche per-
vertierte Liebe etwa an der Unfähigkeit der Partner, aufmerksam einander zuzuhören, deutlich.
Sie leben nebeneinander und nicht miteinander.
Ein Problem dieser toten und tötenden Liebe ist es, daß ihr keine genau beschreibbare Emotion
entspricht. Eine Pluralität von als negativ empfundenen Stimmungen schöpft den emotionalen Be-
trag der Un-Liebe aus. Die Situation hat also keinen Namen. Das Namenlose erscheint uns Men-
schen aber als das Unbeherrschte. (Einer der Gründe, warum Menschen mit schwachem Glauben
ihrem Urgrund unbedingt einen Namen geben wollen.) So ist denn auch der Zustand der Un-Liebe
unbeherrscht, wird gar im Verlauf einer schlechten Gewöhnung als normal empfunden. Un-Liebe
kann für Christen niemals Normalität bedeuten und bezeugen.
Die letzte Stufe dieses Wegs in die Lieblosigkeit ist die Unterdrückung des anderen. Diese kann
sehr verschiedene Gestalten annehmen. Einige der verbreitetsten sind:
• Der Partner wird in irgendwelche Formen der Abhängigkeit gedrängt. (Er soll um Erlaubnis
fragen, er wird finanziell abhängig gehalten, er wird bedroht, wenn er nicht bestimmte Hand-
lungen unternimmt oder unterläßt - eventuell gar mit dem Richter…)
• Der Partner wird in Gesellschaft heruntergespielt, sein Selbstwertgefühl wird verletzt (dabei ist
nicht unbedingt wichtig, daß er selbst dabei ist - solches zu hören von Dritten kann sehr viel
kränkender sein).
• Der Partner wird durch ethische Ansprüche, die er nicht erfüllt, ständig in einem Gefühl von
Schuld oder Angst gehalten.
• Die dümmste Form der Unterdrückung ist die Anwendung physischer Gewalt. Aber sie ist
nicht gerade selten. Physische Gewalt können Eltern ihren Kindern, Partner einander, Gruppen
anderen Gruppen, Völker anderen Völkern zufügen in der Absicht, sie zu unterdrücken.
Ist einmal die Lieblosigkeit auf dieser Stufe angekommen, bestehen erhebliche Aussichten auf eine
Eskalation des Konflikts, der dann nur noch durch Katastrophen (persönlichen oder sozialen) lös-
bar zu sein scheint.
Das Christentum schließt mit seiner Liebesforderung jede Art von Unterdrückung als grundsätz-
lich unchristlich aus. Wer einen anderen Menschen unterdrückt oder auch nur unterdrücken will,
steht bestenfalls ganz fern vor den Toren des Christentums.
4. Liebe macht nicht traurig und niedergeschlagen, sondern froh. Das soll nicht heißen, daß Liebe
nicht mit Leiden verbunden sein kann (Jesus bindet in seinem Leiden beides miteinander), wohl
aber, daß Liebe niemals leiden machen läßt. Liebe wird vermeidbares Leiden niemals tolerieren,
sondern alles daran setzen, es zu beheben. Am gründlichsten wird Freude aber getötet (noch mehr
als durch Leid) durch Angst, Schuld, Scham und Mindergefühle. Im ersten Johannesbrief heißt es
zutreffend:

Furcht gibt es in der Liebe nicht, sondern die vollkommene Liebe vertreibt die Furcht.
Denn die Furcht rechnet mit Strafe, und wer sich fürchtet, dessen Liebe ist nicht voll-
endet. (4, 18)

Auch hier ist unser gesellschaftliches System oft recht unchristlich. Setzt es doch Vermeidungs-
techniken gegenüber Angst, Schuld, Scham und Mindergefühlen als entscheidende Erziehungshil-
fen ein.
Schon bald lernt das Kind, nur um solche Gefühle zu meiden, Handlungen zu tun oder zu unter-
lassen. Angst, Schuld, Scham und Mindergefühle sind oft die stärksten negativen Motivatoren, die
wir kennen. Das problematische an ihrer pädagogogischen Verwendung ist die Grundlegung einer
dauernden Bereitschaft zu solchen Gefühlen, das Wissen, ständig von ihnen bedroht zu sein. So
wird denn auch der Erwachsene so ziemlich alles tun, um solche Emotionen zu vermeiden - und
wird dadurch leicht manipulierbar. Sie werden neutralisiert oder gar aufgehoben erst durch Liebe.
Wer liebt,
• der ängstigt sich nicht, weil er das Wichtige, Unaufgebliche gefunden hat,
• der fühlt sich nicht schuldig, weil er um die Selbstverständlichkeit der Verzeihung weiß,
• der schämt sich nicht, weil er nichts zu verbergen hat und sich angenommen weiß, wie er ist
(und nicht in irgendeinem Ideal, gegen das er verstoßen könnte),
• der hat keine Minderwertgefühle mehr, weil er in und durch die Liebe seine hohe Werthaftig-
keit erfährt.
Es gehört nun zur Tragik mancher religiösen Entwicklung, daß irgendwelche Religionspädagogen
(die Eltern zumeist) Religiosität an solche Emotionen binden. Sie töten damit Liebe und machen
christliches Glauben nahezu unmöglich.
• Angst vor Gott soll einen Menschen davon abhalten zu sündigen.
• Scham vor dem Menschen sollen die religiöse Praxis der tradierten (über Erziehung vermittel-
ten) Normen sichern. Ebenso werden vor allem sexuelle Handlungen an Schamgefühle gebun-
den, um sie zu vermeiden oder doch nicht öffentlich werden zu lassen. So kann Heuchelei zu
einer gesellschaftskonstituierenden Haltung werden.
• Schuld soll Menschen sich abhängig fühlen lassen von Instanzen, die ihnen Sühne und Freiheit
von Schuld zusprechen können. Dieses sind zumeist institutionalisierte Formen religiöser Pra-
xis. Die Entsühnung wird dadurch von Umkehr und Neuorientierung zum Ritual entleert. Da-
mit wird ein Schuldgefühl kultiviert, das sich immer dann einstellt, wenn ein Mensch gegen tra-
dierte Normen (Überich) verstößt. Solches Gefühl aber ist keineswegs objektiv an Schuld ge-
bunden. Das Entsühnungsmühen wird sich also oft auf Überich-Ungehorsam (als Ungehorsam
gegenüber tradierten Normen) richten, obschon Schuld nur verbunden ist mit dem Ungehorsam
gegenüber dem verantwortet übernommenen Lebensentwurf (also gebunden an Ich-
Ungehorsam). Dieses verkehrte Schuldfühlen ist Ort zahlloser manipulierender Eingriffe politi-
scher, ökonomischer, kirchlicher Institutionen in die Persönlichkeitssphäre.
• Mindergefühle sollen Menschen dazu bringen, sich klein und unbedeutend gegenüber allen Au-
toritäten vorzukommen (etwa der Autorität Gottes oder der der Kirche oder auch der politi-
schen und ökonomischen Instanzen). Mindergefühle, gebrochenes oder nie entfaltetes Selbst-
wertgefühl führen zur Neigung, sich in formellen oder informellen autoritären Bindungen von
der Verantwortung für Eigenentscheidungen zu entlasten.
Zudem führen Mindergefühle nicht selten zu starkem kompensatorischen Mühen. Ein so verwun-
deter Mensch wird versuchen, durch Leistungen, Gehorsam, Treue… Zuwendung zu erhalten. Er
benötigt dies alles als Ersatzskelett, weil er in seiner eigenen Persönlichkeit keinen genügenden
Halt findet. Solche Menschen können in profaner oder religiöser Abhängigkeit geradezu aufopfe-
rungsvolle, aber kritiklose »wertvolle Mitarbeiter« werden. Daß hier ein Mensch in Fremdverwie-
senheit sich selbst verliert, wird oft nicht erkannt.
Alle diese Stimmungen und Emotionen töten ganz offensichtlich wirkliche Freude. Ihr Schein
kann allenfalls vorgegaukelt werden durch hektische Ausgelassenheit, durch gewollten Optimis-
mus, durch verdrängende Oberflächlichkeit… Aber Freude ist das alles nicht.
Es gibt sicherlich noch eine Reihe anderer Emotionen, die auf die Dauer Freude töten: Ärger,
Zorn, Haß, Niedergeschlagenheit, das Gefühl von Einsamkeit gehören hierher. Liebe vermeidet
solche Emotionen, sucht sie dem anderen und sich zu ersparen. Unliebe sucht sie geradezu. Wer
einem anderen Menschen Angst oder Trauer, Scham oder Schuld, Ärger oder Zorn induziert oder
diese Emotionen bzw. Stimmungen an konkrete Auslöser bindet, will ihn beherrschen, beeinflus-
sen, manipulieren - das alles aber ist mit Liebe nicht vereinbar.
Aber gibt es nicht auch einen Haß, der, wie E. Fromm vermutet, Leben schützt und damit Liebe
sichert, der immer dann auftritt, wo sich Leben und Liebe gefährdet sehen? Der sich richtet gegen
die gefährdenden Instanzen? Wer so denkt, hat die Identität von Gott und Liebe (als seinem Real-
symbol) nicht realisiert. Die Universalität und die Allmacht der Liebe bedürfen nicht unseres Has-
ses, um sich zu behaupten in uns und unter uns - sie verlangen nur das Handeln aus Liebe. Men-
schen hassen wird nur ein Mensch, dem das Leben nicht gelingt - und damit auch nicht das Lie-
ben.
Die folgenden Kapitel sollen Fragen praktischer Liebe, Fragen also konkreter christlicher Religio-
sität darstellen. Wir erinnern uns: Der Weg ins Christentum ist der Weg ins Gottesreich - das
Reich der Liebe. Gott ist die Liebe und der Weg zu ihm ist der Weg in die Liebe. Menschliche
Liebe ist der einzige Weg zu Gott - aber auch ein unfehlbarer.

c) Das Sakrament der Liebe


Liebe ist wirkkräftiges Zeichen des Gottesreiches. Sie bewirkt Gottesreich und zeigt es vor. Im
Gegensatz zu anderen weltanschaulichen Positionen, kennt das Christentum keine Differenz zwi-
schen Strategie auf das Ziel hin und dem Ziel selbst. Insofern besteht kein Zweifel, daß die Strate-
gie zum Ziel führt.
Es ist eines der ungelösten Probleme des Marxismus, daß er nicht aufweisen kann, daß die Ver-
wendung seiner Strategien (Solidarität als profanes Gegenstück zur Liebe und Klassenkampf als
ebensolches Widerbild von Neuorientierung des Lebens) zum Ziel (dem Reich der Freiheit von
durch Menschen besorgten Entfremdungen) führt. Revolution und klassenkämpferische Solidarität
können durchaus, wie die Geschichte lehrt, ganz wo anders auskommen als in einem Reich, das
sich das der Freiheit nennen könnte.
Beim Christentum ist das also nicht so. Die Strategie ist - vollendet - das Ziel. Die Strategie wird
zum Sakrament des Zieles.
Nun haben die frühen Christen ihre Liebesgemeinschaft auch in sakramentalen Vollzügen, in Voll-
zügen also, die Liebe bewirken soll, in Gemeinschaft dargestellt. Sie nannten sie »Eucharistie«.
Seit dem ausgehenden ersten Jahrhundert bezeichnet das Wort das »Abendmahl der Kirche«, das
nach Ausweis des 1. Briefes des Paulus an die Bewohner von Korinth (geschrieben zwischen 53
und 55 in Ephesus) und den ersten drei Evangelien als Wiederholung des Abendmahls Jesu ver-
standen wird. Das vierte Evangelium setzt an dieser Stelle eine große betende Ansprache Jesu, in
der die Worte stehen:

Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebet einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt
auch ihr einander lieben. Daran werden sie erkennen, daß ihr meine Jünger seid: wenn
ihr einander liebt! (13, 34-35)

Die Eucharistie knüpft einerseits an die jüdische Bakara, den dankenden Lobpreis Gottes für Brot
und Wein, andererseits an das Pascha, das Auszugsmahl Israels, an. In einem Text, dessen erster
Teil aus der Feder des großen Geschichtsschreibers und Theologen, den wir den Jahwisten nen-
nen, kommt, und dessen zweiter Teil dem oft feierlich schreibenden Deuteronomisten zugerechnet
wird, heißt es:

Begeht das Fest der ungesäuerten Brote! Denn gerade an diesem Tag habe ich eure
Scharen aus Ägypten herausgeführt. Begeht diesen Tag in allen kommenden Genera-
tionen; das sei für euch eine feste Regel… Wenn ihr in das Land kommt, das euch der
Herr gibt, wie er gesagt hat, so begeht diese Feier. Und wenn euch eure Söhne fragen:
Was bedeutet diese Feier? Dann sagt: Es ist das Pascha-Opfer zur Ehre des Herrn, der
in Ägypten an den Häusern der Israeliten vorbeiging, als er die Ägypter mit Unheil
schlug, unsere Häuser aber verschonte. (Ex 12, 17, 25-27)

Es scheint, daß Jesus gegen Ende seines Lebens ein neues Gedächtnismahl für seine Jünger gestif-
tet hat. In dessen Mittelpunkt steht nicht mehr das Gedächtnis der Rettung, sondern das der unbe-
dingten Liebe, die sich, ohne zu fragen, hingibt in Leben und Sterben für die Brüder und Schwes-
tern.
Die nachösterliche Gemeinde glaubte schon sehr bald, daß unter den Gestalten der Bakara (von
Brot und Wein also) der auferstandene Herr gegenwärtig sei. Das »eucharistische Brotbrechen«
wurde zum geistigen und religiösen Zentrum der Gemeinde, der sich im Glauben an den Aufer-
standenen liebenden Menschen. Sie glaubte den Herrn in ihrer Mitte gegenwärtig.
Schon in den frühen 50er Jahren des 1. Jahrhunderts scheinen sich mancherlei Mißbräuche einge-
schlichen zu haben. Es wurde nötig, die Eucharistiefeier von einem Sättigungsmahl zu trennen.
Hier wird deutlich, daß schon die sehr frühe Christengemeinschaft sehr wohl die neue Bakara von
dem neuen Pascha unterschied.
Der früheste eucharistische Text im ersten Korintherbrief sagt:
Sooft ihr von diesem Brot eßt und aus diesem Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des
Herrn, bis er kommt. Wer also unwürdig von dem Brot ißt und aus dem Kelch des
Herrn trinkt, macht sich schuldig an Leib und Blut des Herrn. Jeder soll sich selbst
prüfen: Erst dann soll er von dem Brot essen und aus dem Kelch trinken. Denn wer
davon ißt und trinkt, ohne zu bedenken, daß es der Leib des Herrn ist, der zieht sich
das Gericht zu, indem er ißt und trinkt. (11, 26-29)

Zur Eucharistie soll sich also nur zulassen, wer würdig ist. Würdig sind nur die Getauften - ähn-
lich wie nur Beschnittene am Pascha teilnehmen dürfen. Unwürdig aber ist auch der, der nicht
weiß, was hier geschieht, nämlich daß er sich hier unter den Anspruch unbedingter Liebe stellt, die
unter den Gestalten von Brot und Wein im realen Symbol gegenwärtig ist. Unwürdig ist also je-
der, der haßt oder neidet, der Übel nachredet oder verleumdet… kurzum: jeder, der nicht Men-
schen liebt. Seine Liebe mag schwach sein und unvollkommen, mag verzerrt sein, deformiert gar
und unscheinbar - er soll an der Eucharistie teilnehmen, denn sie bestätigt nicht nur Liebe, sondern
macht sie auch wachsen. Aber sie löscht keinen Haß und keinen Neid, behebt keinen Hader oder
Streit - scheitert also an Unliebe und macht den, der sie zum Scheitern bringt, zum Verräter. Wer
also weiß, daß auf Grund seines Verschuldens ein Mensch etwas gegen ihn hat, muß sich erst ver-
söhnen, ehe er zur Eucharistie kommt. Die Evangelien fordern hier keineswegs »göttliche Verzei-
hung«, sondern die des Bruders. In der Bergpredigt heißt es:

Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringt (das war in den ersten Jahrhunderten ein
Brauch im Zusammenhang mit der Eucharistie) und dir dabei einfällt, daß dein Bruder
etwas gegen dich hat, so laß deine Gabe dort vor dem Altar liegen; geh und versöhne
dich zuerst mit deinem Bruder, dann komm und opfere deine Gabe. (5, 23-24)

Schon gegen Ende des ersten Jahrhunderts tauchte die Frage auf, ob man Jünger Jesu sein könne,
ohne an der Eucharistie teilzunehmen. Das vierte Evangelium bringt eine große Eucharistierede
Jesu, in der es ihn sagen läßt:

Ich bin das Brot des Lebens. Eure Väter haben in der Wüste das Manna gegessen und
sind gestorben. So aber ist es mit dem Brot, das vom Himmel herabkommt: Wenn je-
mand davon ißt, wird er nicht sterben. Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel
herabgekommen ist. Wer von diesem Brot ißt, wird in Ewigkeit leben. Das Brot, das
ich geben werde, ist mein Fleisch, ich gebe es hin für das Leben der Welt. (6, 48-51)

Hier begegnet uns also schon eine ausformulierte Theologie der Eucharistie. Jesus ist in einer
durchaus realen Form im eucharistischen Brot gegenwärtig. Die Identifikation von Jesus und Brot
ist kaum zu übersehen. Die Kirchen haben versucht, diese Lehre auf den Begriff zu bringen. Die
griechischen Kirchenväter des 5. und 6. Jahrhunderts nahmen die sakramentale Menschwerdung
Gottes in den Elementen an. Sie legten damit die Grundlage zu einer Theorie kosmischer Wand-
lung durch die Eucharistie - hier wird ein Teil der Welt in Gottesreich real verwandelt - um Men-
schen in der Begegnung mit so real gesetztem Gottesreich in den Horizont der Liebe und damit
des Reiches zu führen. Die Wandlung von Kosmos in Reich spielt vor allem in der Philosophie
Teilhards de Chardin eine erhebliche Rolle. Sie wird aus der relativ engen kirchlichen Bedeutung
in eine universelle kosmische überführt.

13. Über die Liebe II


Im vorherigen Kapitel wurde eher Grundsätzliches über christliche Liebe dargestellt, nun soll das,
was »Liebe« konkret meint, in verschiedenen Stufen entfaltet werden. Es ist das zugleich die Ent-
faltung der Möglichkeiten und Chancen von Gottesreich, das nirgendwo anders wirksam und er-
fahrbar wird als unter uns. Die Botschaft von der Liebe, wie sie vor allem in der Bergpredigt dar-
gestellt ist, bestimmt keineswegs in der Regel die Praxis des institutionalisierten Christentums. Es
wäre deshalb falsch, auf Institutionen zu warten, um an ihrem Verhalten die Praxis der Liebe, die
des Christentums, ablesen zu können.
Institutionen haben den Nachteil, daß sie entweder im Untergrund leben müssen (wie die Kirche
der drei ersten Jahrhunderte) oder aber sich - notgedrungen - der Praxis anderer Institutionen an-
passen. Sie müssen Partner werden - und Partner werden ähnliche Ideale haben. So kam es dann
dazu, daß in bezug auf Macht und Einfluß, in bezug auf Reichtum und Herrschaft, in bezug auf
Lohnen und Strafen die Kirchen ganz ähnliche Praktiken entwickelten wie ihre sozio-
ökonomische und politische Umwelt. In diesen Anpassungen werden sie zweifellos dem Auftrag
Jesu nicht gerecht, der, weil er sich nicht anpassen durfte, wenn er seinen Lebensentwurf nicht
verraten wollte, diesem Entwurf gehorsam war bis zum Tod am Kreuz und, in der Vordergrün-
digkeit menschlicher Bewertung, scheiterte. Schon Paulus hatte gegen solche Tendenzen zu
kämpfen. Gemeinden fanden an Weltklugheit Gefallen und machten sich dieser Welt und ihren In-
teraktionsmustern gemein.
Verschiedentlich betont er:

Es kommt das Ende, wenn er (Jesus) jede Macht, Gewalt und Kraft vernichtet hat und
seine Herrschaft, Gott dem Vater übergibt. (1 Kor 15, 24)

Gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern ändert eure Einstellung und euer Denken.
(Röm 12, 2)

Die vollkommene Ablösung von der alten Orientierung stellt er vor unter dem Zeichen des Todes.
Wer liebt und sich von seinen alten Wertungen und Haltungen befreit hat, der lebt in Jesus.
»Kreuz« steht in der Paulusbotschaft nicht für sich, so als wenn Leiden etwas Gutes oder Erstre-
benswertes sei. »Kreuz« bezeichnet vielmehr die vollständige Neuorientierung des Lebens (Meta-
noia).

Die Juden fordern Zeichen, die Griechen suchen Weisheit. Wir dagegen verkünden
Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine
Torheit. (1 Kor I, 22-23)

Er (Jesus) war Gott gleich,


Hielt aber nicht daran fest,
wie Gott zu sein,
Sondern er entäußerte sich
Und wurde wie ein Sklave
Und den Menschen gleich.
Sein Leben war das eines Menschen;
Er erniedrigte sich
Und war gehorsam bis zum Tod,
Bis zum Tod am Kreuz.
Darum hat ihn Gott über alle erhöht
Und ihm den Namen verliehen,
Der größer ist als alle Namen,
Damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde
Ihr Knie beugen vor dem Namen Jesu
Und jeder Mund bekennt:
Jesus Christus ist der Herr
Zur Ehre Gottes des Vaters. (Phil 2, 6-11)

Dieser frühe christologische Hymnus ist uns überliefert im Brief des Paulus an die ostmakedoni-
sche Gemeinde Philippi. Er wurde um das Jahr 55 in Ephesus geschrieben, also etwa 25 Jahre
nach Jesu Tod. Wie alle christologischen Hymnen, die uns aus jenen Jahren überkommen sind, ist
auch dieser in sehr enthusiastischen Tönen gehalten und läßt deutlich werden, wie sehr in Ablö-
sung von der jüdischen Theologie die frühe Christologie das Denken und religiöse Fühlen der frü-
hen Gemeinden bestimmte. Jesus wird hier - reduziert man den Text auf seinen nüchternen Kern -
wieder als Urbildder totalen Ablösung vorgestellt. Und diese totale und radikale Ablösung vom
Alten, vom Gehabten, von jederlei Besitz ist die Voraussetzung für die Liebe, die Jesus lehrte und
lebte bis in ihre absolute Konsequenz. Nun will ich dieser von Jesus für seine Jünger geforderten
Liebe in einzelnen Schritten nachgehen. Wie gesagt: Wir dürfen sie nicht unbedingt in der kirchli-
chen Praxis oder auch der jener suchen, die sich im Besitz des Christentums wähnen. Aber es ist
möglich, daß ein Mensch im Außen oder an der Peripherie der Kirchen die Bergpredigt liest und
sein Leben neu orientiert und so ein lebendiges Zeugnis gibt für Jesus und das Christentum.

a) Liebe und Herrschaft


Ich will hier nicht über die offensichtliche Herrschaft sprechen, die allen Beteiligten bewußt ist.
Hier wird institutionalisiert (legitim oder nicht) Macht ausgeübt, die es dem Herrschenden erlaubt,
seinen Willen gegen den des Beherrschten durchzusetzen - notfalls mit Gewalt. Solche Herrschaft
ist unter Christen kaum tolerabel. Das soll nicht heißen, daß Christentum nicht Autorität kennt,
auch institutionalisierte. Aber sie darf sich nicht als Herrschaft darstellen. Die Darstellung christli-
cher Autorität geschieht stets in der Koordination der Brüderlichkeit. Geschieht sie in der Subor-
dination der ausgeübten Gewalt, wird sie unchristlich. Es gibt unter Christen nur einen Herrscher -
und das ist Gott. Nur einen Mächtigen - und das ist die unbedingte Liebe.
Es geht mir also in diesem Abschnitt nicht über den in Macht pervertierten Anspruch von Autori-
tät im Christentum, sondern an erster Stelle um die versteckten Formen von Herrschaftsausübung,
die oft allen Beteiligten unbewußt bleibt. Oder sie ist nur dem Herrschenden bewußt - und er
maskiert sie, um nicht die gegen Herrschaft gerichteten Abwehrmechanismen der Beherrschten zu
aktivieren. Gegen solche Herrschaft möchte ich argumentieren, weil auch sie (fast noch eindeuti-
ger als die offene, unkaschierte) christlicher Liebe widerspricht.
Solche Herrschaft ist keineswegs anonym, wie die kultureller oder sozio-ökonomischer Systeme,
die allen Beteiligten Zwänge auferlegen, denen nur auszuweichen ist durch Beseitigung des Sys-
tems oder durch Ausweichen in Nischen, die das System nicht erreicht. Hier handelt es sich
durchaus um offene, aber nicht Personen zuzusprechende Herrschaftsformen.
Persönliche Herrschaft wird ausgeübt als
• Herrschaft des Vorgesetzten über den Untergebenen (Befehlsherrschaft),
• Herrschaft des Vaters über das Kind (Sorgeherrschaft),
• Herrschaft des Helfers über den Hilflosen (Helferherrschaft),
• Herrschaft des Lehrers über den Schüler (Informationsherrschaft),
• Herrschaft des Habenden über den Besitzlosen (Eigentumsherrschaft),
• Herrschaft der Einflußreichen über den Einflußarmen (Einflußherrschaft
• Herrschaft der Führenden über den Geführten (Leitungsherrschaft),
• Herrschaft des Starken über den Schwachen, des Intelligenten über den Dummen, des Gesun-
den über den Behinderten, des Tüchtigen über den Untüchtigen, des Mannes über die Frau, des
Richters über den Missetäter.
Besonders unchristlich sind alle die Formen von Herrschaft, die von Menschen ausgeübt wird, die,
nach der Kundschaft der Bergpredigt, unglücklich sind. Es sind das
• die Herrschaft der Reichen über die Armen,
• die Herrschaft der Lachenden über die Trauernden,
• die Herrschaft der Gewalttätigen über die Gewaltlosen,
• die Herrschaft derer, die Gerechtigkeit verwalten, über die, die sie suchen,
• die Herrschaft der Unbarmherzigen über die Barmherzigen,
• die Herrschaft der Verschlagenen über die, die ein reines Herz haben,
• die Herrschaft der Krieger über die, die den Frieden lieben,
• die Herrschaft der Verfolger über die Verfolgten und
• die Herrschaft der Verleumder über die Verleumdeten.
Jesus spricht den so ohnmächtig Beherrschten nicht nur Glück zu, sondern stellt sie in eine Reihe
mit den Propheten. Da er selbst ein in diesem Sinn zutiefst Ohnmächtiger war, bedeutet Christsein
auch ein Ohnmächtig-sein gegenüber der Tyrannei der Herrschaft.
Es gibt also nahezu zahllose Methoden, die Menschen entwickelten, um Herrschaft über andere
auszuüben. Sie alle sind aus einem recht trivialen Grund nichtchristlich: Jesus verbot Herrschafts-
Interaktionen jeder Art zwischen seinen Jüngern: Nach der Auskunft des ersten Evangeliums rief
Jesus seine Jünger zu sich und redete so:

Ihr wißt, daß die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht
über die Menschen mißbrauchen. Bei euch soll es nicht so sein, sondern wer bei euch
groß sein will, der soll euer Diener sein. Und wer bei euch der Erste sein will, soll eu-
er aller Sklave sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich be-
dienen zu lassen, sondern um zu dienen. (20, 25b-28a)

Ihr sollt euch nicht Meister nennen lassen, denn nur einer ist euer Meister, ihr alle seid
Brüder. Auch sollt ihr niemand auf Erden euren Vater nennen; denn nur einer ist euer
Vater, der im Himmel. Auch sollt ihr euch nicht Lehrer nennen lassen; denn nur einer
ist euer Lehrer, Christus. Der Größte von euch, soll euer Diener sein. Denn wer sich
selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden. (23,
8-12)

Jesus bestimmt auch das Autoritätsverhältnis des Petrus zu den anderen Jüngern als das des Bru-
ders (Lk22, 32b).
Noch immer nennt sich der Papst »Servus servorum Dei« - doch kann man fragen, ob das Wort
Dienst oder als Dienst maskierte Herrschaft bedeutet.
Ich möchte hier zwei Formen von Herrschaft vorstellen, die mir besonders gefährlich zu sein
scheinen, vor allem, weil sie mitunter im Namen der Christlichkeit verübt werden: die Herrschaft
des Gläubigen (das ist nicht dasselbe wie der »Glaubende«, der diese Herrschaftsform ablehnen
würde) über den Ungläubigen und die Herrschaft des Helfenden über den Hilflosen.

1. Die Herrschaft des Gläubigen über den Ungläubigen.


Nicht wenige Gläubige fühlen sich im Besitz ewiger und unvergänglicher und allgemein verbindli-
cher Wahrheiten, die deshalb auch vor dem Horizont absoluten Geltens verbreitet werden müssen.
Sie versuchen aus diesem Bewußtsein der Überlegenheit, missionarisch auf ihren Mitmenschen
einzuwirken und legitimieren das mit dessen Unglauben. Daß solche Herrschaft durchaus auch zu
Gewaltmitteln greifen kann, demonstrierten nicht nur die Kriege und Foltern von Inquisition,
Kreuzzügen, Konquistadoren. Häufiger sind noch die Gewaltmittel der finanziellen oder sozialen
Repression.
Wer nicht glaubt oder vom Glauben abweicht, wird bestraft. Solche Bestrafung kann recht ver-
schieden aussehen. Vom Links-liegen-Lassen bis zur Amtsenthebung, vom Bedrohen bis zum Ex-
kommunizieren reichen dichte Sanktionsinstrumentarien, um die Herrschaft der Gläubigen zu si-
chern.
Ich vermute, daß dieses nicht unbedingt christlicher Weisheit letzter Schluß ist. Vor allem aber
sollte man sich davor hüten, die physische Gewalt (Tötung, Kerker, Folter…) abzulehnen, die
psychische und soziale aber zuzulassen, denn der Unterschied zwischen beiden ist für den Betrof-
fenen relativ unerheblich. Es gibt neben dem physischen Mord auch einen psychischen und sozia-
len.
Nur weil das politische Bewußtsein der Vielen das eine mehr ächtet als das andere, kann man aus
christlicher Sicht keinen erheblichen Trennungsstrich ziehen. Und man wird die, die psychische
oder soziale Gewalt anwenden, fragen dürfen, warum sie eigentlich keine physische anwenden.
Daß im Vorgang der Bestrafung (vor allem in der massivsten Form, die zwischen Menschen mög-
lich ist) Herrschaft ausgeübt wird, ist von keiner Seite bestritten. Daß Jesus alle Herrschaftsinter-
aktionen verbot und Koordinationsinteraktionen forderte, wird man nur dann leugnen können,
wenn man die Evangelien nicht als authentische Quelle der Jesusbotschaft akzeptiert.
Die Herrschaft des Gläubigen über den Ungläubigen ist nicht ohne Pikanterie: Die Qualität »gläu-
big« wird nämlich durch soziale Systeme festgestellt (Parteien, Kirchen…). Sie ist also eine gesell-
schaftliche, nicht aber religiöse Eigenschaft. Das Verurteilen geschieht aber meist nicht im Namen
einer gesellschaftlichen Organisation, sondern im Namen der Rechtgläubigkeit. Die äußere Zu-
stimmung (Internalisierung ist nicht erfordert) zur kollektiven Überzeugung bestimmt die Intensi-
tät des Gläubigseins und legitimiert zur Feststellung, wer warum als ungläubig zu gelten habe.
Ich vermute hier Tendenzen am Werk, die schon die Pharisäer und Schriftgelehrten nicht unbe-
dingt zu den Menschen machten, mit denen Christen es am leichtesten hatten. Beide besaßen die
üble Angewohnheit festzustellen, wer warum rechtgläubig oder unrechtgläubig sei. Da sie Jesus
auf Grund ihrer Kriterien für weniger rechtgläubig hielten, sorgten sie dafür, daß er umgebracht
wurde. Nun sind auch die frühen Christen in nicht weniger Zahl wegen ihrer mangelnden Recht-
gläubigkeit getötet worden. Das aber legitimiert ihre Nachfolger im Christentum nicht, gleiches
mit ihren Gegnern zu machen.
Die Herrschaft des Gläubigen über den Ungläubigen stammt aus einem gefährdeten Überlegen-
heitsgefühl. Die Anfrage des Ungläubigen (je näher er sozial dem Gläubigen steht, um so heftiger)
wird als religiöse und soziale Bedrohung empfunden. Und sie wird von dem schwach-glaubenden
Gläubigen mit Gewalt zurückgewiesen. Was soll er denn auch anderes tun? Das von Jesus ge-
nannte Instrumentar des Glaubenden steht ihm kaum zur Verfügung: Geduld zu haben, bis sich in
der Herrschaft des Gottesreiches die Spreu vom Weizen scheidet.
Der Glaubende ist niemals fanatisch, wohl aber der Gläubige, der seinen Glauben oder den ande-
rer von Ansprüchen des als Bedrohung erfahrenen eigenen Unglaubens gefährdet sieht. Und erhält
dieser eigene Unglaube die Chance, im Wort eines anderen Menschen zu sich zu kommen, wird er
abgewehrt - und wenn es nicht anders geht - mit Gewalt. Hassenswerter Gegner ist oft nur eine
Instanz in uns selbst. So erregt niemanden eine Form des Unglaubens, die für ihn nicht in Frage
kommt. Moderne Christen können sich gegen den Unglauben wehren, der in der Inquisition zuta-
ge tritt, aber den Unglauben der im Reformmarxismus in China gelebt wird, mit interessierter
Neutralität betrachten.
Ich vermute, daß Inquisitoren sich recht schämen würden, wenn sie die gesicherten Einsichten der
Psychoanalyse nicht abwehren würden (und das mitunter gewalttätig). Die Psychoanalyse aber
tritt vermutlich nur dann auf den Plan, wenn Menschen vor dem Anspruch, sich und ihre Mitwelt
zu humanisieren, versagen. Sie stopft also nicht selten mühselig die Löcher, die die organisierte
Religiosität nicht stopfen kann oder gar erst gerissen hat.
Das soll zweifelsfrei nicht so sein. Aber Subordinations-Interaktionen zwischen Gläubigen und
Ungläubigen sind solange nicht zu beheben, als wir in der Unchristlichkeit von Herrschaftsaus-
übung weiterleben und hier nicht den wichtigen Schritt der Ablösung von uns selbst (der Meta-
noia) schaffen.
Christentum verbietet keineswegs Autorität. Autorität, in Koordinations-Interaktionen (also denen
zwischen »Brüdern«) setzt jedoch nur ihr größeres Wissen, ihre erheblichere Erfahrung und ihren
engagierteren Einsatz ein, um zu korrigieren. Und sie korrigiert nicht über das Instrumentar der
Herrschaft, sondern über das des Überzeugens, wobei die letzte Autorität die des besseren Argu-
ments ist. Autorität im Christentum darf keineswegs zur Herrschaft eines Apparats entarten. Sie
muß ein menschliches Gesicht haben und muß fähig und willens sein zum Dialog. Nicht selten be-
gegnen wir unter Christen Menschen von hoher Dialogwilligkeit, verbunden mit erheblicher Dia-
logunfähigkeit. Solange ich mich im Besitz einer höheren und letztlich nicht mitteilbaren »Wahr-
heit« weiß, ist zumindest für den Bereich solcher »Wahrheit« jeder Dialog ausgeschlossen. Es
wird mich dann aber auch nicht stören, wenn die Psychoanalyse auf Zwangsneurose diagnosti-
ziert, weil ich sie für inkompetent halte. Dialogische Technik ist nur mühsam zu lernen. Oft lehrt
man uns zwar das Sprechen, nicht aber das rechte Hören. So fehlt uns das Instrumentar, die innere
Haltung der Brüderlichkeit als hohes Gebot praktischer Liebe wirklich zu machen. Es ist die Vor-
aussetzung, um mit Menschen anderer Überzeugungen sinnvoll umgehen zu können - selbst mit
denen unserer eigenen Religionsgemeinschaft oder Partei.

2) Die Herrschaft des Helfers über den Hilflosen.


Dem Notleidenden zu helfen ist notwendiger Ausdruck christlicher Liebe. Doch solche Hilfe ent-
artet nicht selten zu Herrschaft. Diese kann verschiedene Masken tragen:
• Der Helfer benutzt seine Hilfsbereitschaft, um soziales Ansehen zu erwerben.
• Der Helfer übernimmt ungebeten seine Rolle, in der er ungefragt und unerbeten rät oder gar
befiehlt (und so den Hilflosen entmündigt).
• Der Helfer bezieht Selbstachtung aus der Hilfe und will sie so einrichten, daß die Hilfsbedürf-
tigkeit nicht bald endet, sondern möglichst lange andauert.
• Der Helfer erwartet oder fordert gar Dankbarkeit.
Alle diese Formen der Herrschaft dienen nicht dem Hilflosen, sondern dem Helfer. Ganz offen-
sichtlich sind diese Perversionen des Helfens auch im christlichen Raum nicht immer selten. Des-
halb will ich sie an jeweils einem Beispiel erläutern.
• Es gibt soziale Gruppen, denen zu helfen, soziales Ansehen besorgt (Kranke, Arme, Behinder-
te… gehören dazu). Anderen zu helfen, obschon sie in Not sind, bringt dagegen soziale Ver-
achtung (z. B. Terroristen, Anhängern einer anderen politischen Information…). Hier wird sich
das Motiv des Helfenden offenbaren können. Hilft er bedingungslos, wo Hilfe gefordert ist? Ist
das nicht der Fall, dürften seine Motive kaum christlich sein.
• In manchen Krankenhäusern übernehmen Schwestern geradezu kasernenhofähnliche Interakti-
onsmuster - sie kommandieren die Kranken. Das ist nicht selten Ausdruck von Herrschsucht.
• In einigen »Suchtgruppen«, das sind Gruppen, in denen sich um einen Süchtigen verschiedene
Helfer (Angehörige, Freunde, Pfarrer, Arzt) scharen, sind nach einiger Zeit die Rollen so ver-
teilt, daß sich alle wohlfühlen und sich bestätigt finden - einschließlich des Süchtigen. Will man
ihm tatsächlich helfen, muß in aller Regel erst dieser Kreis von rollendefinierten Helfern zer-
stört werden.
• Nicht wenige Eltern verlangen von ihren Kindern ausdrücklich Dankbarkeit für die Hilfe, die
sie ihnen zukommen lassen. Das gilt vor allem für Eltern, die ihren Kindern eher durch Geld als
durch Zuwendung helfen. Auch hier ist die Elternliebe aus ihrer Unbedingtheit in die oft schä-
bige Abhängigkeit von kleinlichen Bedingungen geraten und kaum mehr christlich.
Nun scheinen Menschen nicht unbedingt von Natur aus zur selbstlosen Liebe fähig zu sein. Sie
stehen - z.T. abhängig von den soziokulturellen Bedingungen, unter denen sie aufwuchsen - unter
den Forderungen des Egoismus. Und Herrschaft ist oft kaum etwas anderes als Ausfluß von E-
goismus und insofern dem Jesusgebot schlechterdings entgegen. Insofern wir aber unter dem An-
spruch des kollektiven wie individuellen Egoismus stehen, ein Anspruch von dem uns und unsere
Mitmenschen erst das in uns realisierte Gottesreich erlöst, werden wir notwendig versuchen zu
herrschen. Und wenn uns anderes nicht übrigbleibt - über unsere Hilfsbedürftigkeit. Die Psycho-
analyse kennt eine Menge von psychischen und psychosomatischen Symptomen, die ein Mensch
zeigen kann, um über die Mitwelt zu herrschen, ja sie zu tyrannisieren. Krankheit als Herrschafts-
instrument ist ein verbreiteter Ausweg für Menschen, deren Herrschaftsbedürfnisse langanhaltend
und gründlich frustriert oder enttäuscht wurden.
Das mag uns zeigen, wie wenig wir selbst gegen dieses Herrschaftsstreben, diese Forderung der
Unliebe in uns, machen können.
Aber hier gibt es einen vorläufigen Kompromiß. Wenn wir schon in den Vorhöfen des Christlichen
nicht auf Herrschaft verzichten können - es sei denn um den Preis von Störungen, dann sollten wir
Interaktionsmuster wählen, die uns ein und derselben Person gegenüber - je nach Rolle und Situa-
tion - einmal Herrschender und das andere mal Beherrschter sein lassen.

b) Liebe und Toleranz


»Toleranz« bezeichnet eine Handlungsregel für das Geltenlassen der Überzeugungen, Werte,
Normen und Normensysteme sowie der ihnen entsprechenden Handlungen anderer. Im engeren
Sinne bedeutet das Wort auch die Duldsamkeit gegenüber anderen Glaubensüberzeugungen. To-
leranz wurde vor allem von der Aufklärungsphilosophie gefordert, um die freie und öffentliche
Entfaltung der kritischen Vernunft zu ermöglichen und so zur Überwindung von Vorurteilen bei-
zutragen. Ihre Unabdingbarkeit folgert aus der Unmöglichkeit des Vollbesitzes unvergänglicher
Wahrheit. Toleranz bewahrt den Andersdenkenden und - innerhalb bestimmter Grenzen auch den
Andershandelnden - vor Repressionen durch die Menge und ist daher Grundlage jeder Humanität.
Als Glaubens- und Gewissensfreiheit, Bekenntnis-, Kult- und Religionsfreiheit hat sie Eingang ge-
funden in die Verfassungen der meisten zivilisierten Staaten und zählt (in dieser Darstellungsform)
zu den menschlichen Grundrechten.
Denen entsprechen Grundpflichten. Es ist also eine Grundpflicht, den Anders-Denkenden
und/oder Handelnden zu tolerieren.
Die formale Toleranz respektiert nur die Überzeugungen und Handlungen anderer (das führt zu
den formalen, rechtlich absicherbaren »Freiheiten«), die inhaltliche Toleranz erkennt der anderen
Position auch positive Bedeutungen zu.
Religiöse Toleranz wurde bis ins 19. Jahrhundert von der katholischen Kirche abgelehnt. Dahinter
stand die Überzeugung, daß Glauben vor allem ein Für-wahr-Halten von Sätzen sei. Mit der Ü-
berwindung des scholastisch-rationalistischen Glaubensverständnisses durch ein eher existentielles
wurde deutlich, daß Glauben wachsen kann und daß in diesem Wachstum sich auch das Glau-
benswissen (das eben keineswegs bloß rationales Akzeptieren ist) erheblich ändern wird. Das vom
Glauben eingeholte Wissen ist also durchaus abhängig von der konkreten Lebenspraxis eines
Menschen und auf sie hin bezogen. Auch rational verändern Glaubensaussagen ihre Bedeutung,
wenn ein Mensch in den Horizont des Gottesreichs eintritt und hier das unbedingte Lieben lernt.
Die objektive Wahrheitsqualität wird durch eine subjektive Geltensqualität ergänzt und diese wie-
derum wechselt im Verlauf der personalen Orientierung. Dieser Sachverhalt ist die objektive
Grundlage der religiösen Toleranz. Die subjektive besteht in der auf Selbsterkenntnis folgenden
Selbstannahme. Darüber wird nun zu handeln sein.
1) Selbsterkenntnis
Früher sprach man mitunter von »Demut«, wenn man Selbsterkenntnis meinte. Auf jeden Fall be-
deutet das Wort: Sich-selbst-so-Erkennen, wie man in Realität ist. Das ist keineswegs leicht, denn
unsere Psyche zieht gewaltige Vorhänge auf, läßt uns Masken tragen, aktiviert gigantische Ab-
wehrprozesse, um sich in ihren »minderwertigen Aspekten« vor der rationalen Erfassung und Ent-
larvung zu verbergen.
Was »minderwertig« ist, liegt nun weitgehend an Wertungen, die wir in unserer Kindheit erlernten
und an deren Ende internalisierten, d.h. zu unseren machten, derart, daß kein vernünftiger Zweifel
an ihrem Gelten möglich oder angebracht zu sein schien. Nun besitzen wir Eigenschaften, die
durch entgegenstehende Wertungen unserer Erziehungsinstanz als minderwertig, schlecht, sünd-
haft… abgewertet werden. Um mit diesen Inhalten leben zu können, entwickeln wir eine Reihe
von Techniken:
Die der Abwehr sind vielleicht die schillerndsten und erfolgreichsten. Das Wissen um diese Eigen-
schaften, die wir zwar haben, deren Besitz wir uns aber nicht zugestehen können, weil das unser
Ich-Ideal beleidigte und unser Selbstverständnis und unsere mühsam gesicherte Selbstdefinition in
Frage stellen würde, wehren wir auf mancherlei Weisen ab. Einige sollen hier vorgestellt werden.
• Da ist zunächst einmal die Verdrängung. In der Verdrängung wird der inhaltliche Teil einer
peinlichen Vorstellung von dem emotionalen abgetrennt, die Vorstellung so (emotional) uner-
heblich und damit vergeßbar gemacht.
• In der Projektion werden die Vorstellungen über Charaktereigenschaften, die für die eigene
Person nicht tolerabel sind, auf andere Menschen verlagert und dort nicht selten intolerant ge-
haßt und abgelehnt.
• In der Rationalisierung werden für das Versagen nachträgliche Gründe gefunden, die es ent-
weder entschuldbar machen oder den Anteil der Fremdschuld hervorheben.
• In der Aggression (die oft mit der auf das beschämende Versagenserlebnis verbundenen Frust-
ration verbunden ist) reagiert das gekränkte Ich, indem es um sich Destruktion verbreitet - et-
wa durch Haß, Kränkung anderer, Kleinmachen anderer, um selbst groß bleiben zu können…
Bleibt die Abwehr ein Dauerzustand des gekränkten Ich, können psychoneurotische Symptome
bemerkt werden. Die häufigsten sind:
• Funktionsstörungen von Organen ohne organischen Befund (etwa Konversionshysterie).
• Häufig und oft stereotyp wiederkehrende Gedanken, Vorstellungen, Assoziationen, Redewen-
dungen… (Zwangsneurose)
• Regelmäßige und andauernde Niedergeschlagenheit ohne akuten Anlaß (Depressive Neurose).
• Übermäßige und die Lebensfreude anhaltend mindernde Sorgen, Befürchtungen, Ängste
(Angstneurose).
Offensichtlich sind alle diese Strategien der Lebenslüge, mit denen Menschen versuchen, durch
Verleugnung von Realität das Leben mit sich selbst erträglicher zu machen, keineswegs sonderlich
human (d.h. sie mindern Humanität: individuelle wie soziale). Selbsterkenntnis ist also die unbe-
dingte Voraussetzung eines unverlogenen Lebens. Das aber ist wiederum eine Voraussetzung für
ein religiös orientiertes Leben.
Es gibt sehr wohl pseudoreligiöse Orientierungen:
Ein Mensch flieht in ein religiöses Reservat, das es ihm erlaubt, seine Ideale von sich selbst und
der Welt zu konservieren. Ich habe nicht wenige Menschen kennengelernt, für die Religiosität eine
Form der Abwehr geworden ist. Sie verweigerten die Selbsterkenntnis mit einer Fülle religiöser
oder pseudoreligiöser Argumente wie
• Gott hat mich halt geschaffen wie ich bin.
• Gott liebt mich wie ich bin.
• Gott schickt mir das Leiden.
• Auch Jesus wurde gehaßt und verkannt.
Diese Argumente können in sich (außer dem dritten) durchaus zutreffend sein - nur dürfen sie
niemals dazu führen, daß sich ein Mensch mit sich selbst abfindet. Die Metanoia, die Ablösung
von sich selbst, als Grundlage jedes christlichen Lebens, setzt zwingend voraus, daß ich zunächst
einmal meinen Standpunkt bestimme. Der aber darf nicht durch religiöse oder profane Techniken
verschleiert werden. Die Flucht ist keine Form der Neuorientierung (des Denkens und des Han-
delns).
2) Ist diese Selbsterkenntnis gelungen, kann ein zweiter Schritt getan werden: der der Selbstan-
nahme. Ich muß lernen mich so anzunehmen, wie ich bin und ohne verklärende Lebenslügen. Ich
muß erkennen, daß ich nicht der bin, der ich sein möchte. Ich muß wissen um die Inhalte meines
Ich-Ideals und meiner Ich-Realität. In welchen Merkmalen fallen beide zusammen, in welchen
nicht? Wenn ich mich dann mit allen meinen Fehlern und Schwächen annehme, ohne mich in sie zu
verlieben (ein solch masochistisches Verliebtsein in die eigenen Mängel ist eine beliebte Abwehr
bei Menschen, die an sozial tolerablen Defekten leiden), beginnt der Weg der Selbstannahme.
Diese Selbstannahme ist die grundsätzliche Überwindung des Narzißmus, der zwanghaften Selbst-
liebe, die in allen möglichen Formen des Egoismus und der Egozentrik ihren Ausdruck findet.
Die narzißtische Religiosität kreist um sich selbst. Dieses um sich selbst kreisende Lieben und
Handeln, dieses Interesse für letztlich ausschließlich die eigenen Bedürfnisse und Erwartungen, ist
für ein Kind normal. In einer Welt, die keinerlei Anregungen gibt, den Forderungen dieses kindli-
chen Narzißmus zu entwachsen, ja bestimmte narzißtische Ausdrucksformen noch kultiviert (etwa
im Streben nach Gewinn, Erfolg und Konsum), haben nicht wenige Menschen erhebliche narzißti-
sche Reste in sich. Die auf realitätsorientierter Selbsterkenntnis beruhende Selbstannahme aber
bringt das Ich in seinen Orientierungen und Wertungen auf das rechte Maß. Es wird aus seinen
Allmachtssehnsüchten entlassen, es kann auf Herrschaft verzichten und beginnen zu lieben.
Die eigentliche Neuorientierung (auch die christliche) setzt also die Überwindung des Narzißmus
voraus - ist oft mit ihr identisch. Und dies geschieht - wie gesagt - in der Akzeptation auch der ei-
genen Mängel, da wo sie das Ich-Ideal kränken und beleidigen und einfachhin nicht tolerabel zu
sein scheinen. Diese Entgötzung des Ich nannte schon das vorchristliche Judentum »Demut«. De-
mut reduziert das Ich auf seine tatsächlichen Eigenschaften und Möglichkeiten, seine realen Fä-
higkeiten und Grenzen. Die narzißtische Selbstvergottung des Menschen (als Person oder als Kol-
lektiv) ist vermutlich die entscheidende Voraussetzung für jeden praktischen und theoretischen
Atheismus. In vielen Formen des Atheismus sind offensichtlich Reste infantilen Narzißmus kon-
serviert. Der real orientierte Mensch will nicht wie Gott sein, will auch nicht sein Gott sein.
Ist also die Selbstannahme Grundlage jeder reifen und christlichen Religiosität, ist sie zugleich
auch Basis jeder Toleranz. Ein Mensch, der sich angenommen hat als der, der er ist, kann auch ei-
nen anderen als den annehmen, der er ist. Nur ein solcher Mensch ist tolerant. Hier zeigt sich et-
was vom Wesen der Toleranz. Sie besagt keineswegs ein Gutheißen alles dessen, was ein Mensch
meint oder tut. Ebensowenig wie Selbstannahme die eigenen Defekte gutheißt, sondern sie nur
akzeptiert. So lähmt Toleranz durchaus nicht den Willen, etwas zu ändern. Toleranz impliziert
kein passives Laissez-faire, sondern setzt - in der unverstellten Erkenntnis von Realität - die Fä-
higkeiten frei, effektiv Zustände zu ändern, die an sich (und nicht vor dem eventuell täuschenden
Maßstab eines Ideals) negativ sind, weil sie Leben mindern, stören, zerstören.
Man mag nun einwenden, daß die christliche Praxis keineswegs tolerant (gewesen) sei. Man wird
zu Recht darauf verweisen, daß der Hinduismus (vor allem in seiner buddhistisch reformierten Va-
riante) oder der Islam in Theorie und Praxis dem Ideal der Toleranz sehr viel näher stehe als die
christlichen Kirchen (und zwar nahezu alle). Dieses Phänomen ist nur zu deuten aus dem für das
Christentum in dieser Strenge charakteristischen Alleinvertretungsanspruch des Menschen vor
Gott. Es währte immerhin bis zum Jahre 1953, daß ein Papst (Pius XII) einen Jesuiten (P. Feeney)
exkommunizierte und aus seinem Orden ausschloß, weil er standhaft behauptete, daß niemand ge-
rettet werden könne, er sei denn Katholik. Auch die christlichen Missionen wurden lange Jahr-
hunderte getragen von ähnlichem Alleinvertretungsanspruch. Heute ist er stark relativiert und muß
nicht mehr schrecken.
In seiner Forderung nach Selbstablösung, die Liebe möglich macht, sollte das Christentum gerade
die Ablösung auch vom geistigen Haben, wie es sich in intoleranten Glaubensüberzeugungen äu-
ßert, lehren. Das ist oft nicht geschehen - obschon Toleranz die notwendige Voraussetzung christ-
licher Liebe ist. Ein intoleranter Mensch kann nicht lieben - er wird hassen, verurteilen, kränken,
verleumden kurzum alles das tun, was Jesus verbot.
Ich will hier nun nicht eine Theorie entwickeln, die erklärt, warum Toleranz im Christentum oft
sehr viel weniger gelebt wurde als in manchen anderen Religionen, die, weil sie Toleranz vermit-
telten, auch ihre Anhänger zu mehr Liebe befähigten. Sicherlich ist einer der Gründe dafür die frü-
he Akzeptation der griechischen Philosophie - vor allem in ihrer platonisch-aristotelischen (also
unkritischen) Gestalt. Sie gründete (etwas vereinfachend dargestellt) ihre Philosophie auf dem A-
xiom: »Was unbestreitbar einsichtig ist, ist wahr«. So bestand dann auch im Christentum oft die
Gefahr, das Geglaubte auch für das Wahre zu halten und so das eigene Meinen - vor allem, wenn
es nicht mehr bezweifelt werden konnte - als Realität erreichend und sich in wahren Sätzen aus-
drückend zu vermuten. Zwar hatte schon Sokrates auf die Absurdität solcher Methoden verwie-
sen, doch waren es gerade Platon und Aristoteles, die diesen ersten großen Versuch in der abend-
ländischen Philosophie, Vorurteile nicht mit Wahrheitsanspruch auftreten zu lassen, als unanstän-
dig und kontraproduktiv verschwinden lassen wollten.
Zusammenfassend sei festgestellt: Voraussetzungen für Toleranz sind:
• die auf realitätsgerechter Selbsterkenntnis beruhende Selbstakzeptation (als zentraler Akt
christlicher Neuorientierung und der Ablösung von infantilem Narzißmus) und
• die Überwindung des ebenfalls infantilen Sicherheitsmühens, das sich in der Identifizierung von
Gewißheit und Wahrheit ausdrückt. In seinem Brief an die Römer fordert Paulus die Gemeinde
sehr nachdrücklich zur Toleranz auf:

Jeder (auch der andere) muß nach seiner Überzeugung handeln. Du behalte die Über-
zeugung, die du hast, für dich vor Gott. Wohl dem, der sich nicht selbst vor dem, was
er für recht hält, verurteilen muß… Alles, was nicht aus Überzeugung geschieht, ist
Sünde. (Röm 14, 5b-22; 23b)

c) Liebe und Solidarität


»Solidarität« meint eine Haltung oder einen Zustand, in dem sich eine Vielheit als Einheit verhält -
wobei dieses Verhalten nicht seiten durch äußere (störende) Einflüsse bedingt ist.
Zu unterscheiden sind sorglichst:
• Interessensolidarität, die Solidarität, die Menschen mit gleichen oder ähnlichen partiellen Inte-
ressen miteinander verbindet. Das Bewußtsein gemeinsamer Interessenlage (oder in marxisti-
scher Terminologie: ein entwickeltes Klassenbewußtsein) ist Voraussetzung solcher Solidarität.
• Gesinnungssolidarität, die Solidarität, die, emotional begründet, durch ein Einheitsbewußtsein
entsteht. So kann das Einheitsfühlen (etwa mit allen Menschen oder mit allen Unterdrückten
oder Ausgebeuteten oder allen Kranken…) ein solches Einheitsbewußtsein mit Gesinnungsso-
lidarität wachrufen. Diese setzt keineswegs Organisation oder Aktionsgemeinschaften voraus.
• Handlungssolidarität meint gegenseitige Hilfeleistung, sei es nun in einem institutionalisierten
Rahmen (etwa: Sozialversicherungen, Gewerkschaften) oder ohne diesen (Nachbarschaftshil-
fe…).
Alle im bundesdeutschen Parlament vertretenen Parteien behaupten heute Solidarität als Grund-
wert (und folgen damit den von der katholischen Sozialphilosophie entwickelten und vom Godes-
berger Programm der SPD formulierten Vorlagen). Daß sie dabei etwas Verschiedenes meinen,
dürfte unbestreitbar sein. Im Sinne des christlichen Verständnisses von Liebe, in dem diese sich
weniger durch Fühlen als durch Tun ausdrückt, werden wir hier vor allem von Handlungssolidari-
tät sprechen (für die Gesinnungssolidarität und Interessensolidarität ausgesprochen hilfreich sein
können).
Handlungssolidarität ist Handeln nach dem Solidarprinzip: »Einer für alle, alle für einen«. Das
Prinzip ist eine unmittelbare Konsequenz der christlichen Auffassung von menschlicher Person.
Person ist, in gleicher Ursprünglichkeit und in gleicher grundsätzlicher Dichte, Individuum und
Sozialwesen.
Handlungssolidarität verdichtet sich nach dem Zeugnis der Evangelien im Leben und Wort Jesu -
und ist daher genauhin christlich. Schon relativ früh (vor 60) stellt Paulus die Einstellung Jesu als
Grundlage aller Solidarität vor: Jesus sei für die Menschen gestorben. Und solche Solidarität sei
auch von Menschen für Menschen gefordert.
Wie es also durch die Übertretung eines einzigen (Adam) für alle Menschen zur Verurteilung kam,
so wird es auch durch die gerechte Tat eines einzigen für alle Menschen zur Gerechtsprechung
kommen, die Leben gibt. (Röm 5, 18)

Ihn (Jesus) hat Gott dazu bestimmt, Sühne zu leisten mit seinem Blut, Sühne wirksam
durch Glauben. (Röm 3, 25a)

Er (Gott) hat den, der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in
ihm Gerechtigkeit Gottes würden. (2 Kor 5,21)

Die Solidaritätsbegründung durch das Leben und Sterben Jesu wird dann von der frühen Gemein-
de konsequent ausgedehnt auf das Verhalten der Christen miteinander:

Das ist mein Gebot: Liebet einander, so wie ich euch geliebt habe. Es gibt keine grö-
ßere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt. (Joh 15, 13)

Im einzelnen nennt Paulus etwa folgende Solidargebote:

Einer trage des anderen Last; so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. (Gal 5, 2)

Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden. Seid untereinander eines
Sinnes. (Röm 12, 15-16a)

Keiner von uns lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. (Röm 14, 7)
Denn auch Christus hat nicht für sich selbst gelebt. (Röm 15, 3a)

Bekannt ist, daß die Jesusbotschaft die frühe Gemeinde zu einer Solidargemeinde machte, in der,
bis sie durch Verfolgungen zerstreut wurde, alles Materielle allen gemeinsam war. (Apg 2, 45)
Gegen die Tendenz, Parteien und Interessengruppen zu bilden, rief Paulus immer wieder zur Ein-
heit. Und er tat das mit einem klassischen Bild:

Die Gemeinde sei ein Leib, die einzelnen seien Glieder dieses Leibes.
Denn wie wir an dem einen Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder denselben
Dienst leisten, so sind wir, die vielen, ein Leib in Christus, als einzelne aber sind wir
Glieder, die zueinander gehören. (Röm 12, 4-5)
Denn wie der Leib eine Einheit ist, doch viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes a-
ber, obgleich es viele sind, einen einzigen Leib bilden: so ist es auch mit Christus…
Wenn darum ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit; wenn ein Glied geehrt wird,
freuen sich alle mit ihm. Ihr aber seid der Leib Christi, und jeder einzelne ist ein Glied
an ihm. (1 Kor 12,12; 26-27)

Wenn die christliche Solidargemeinde prinzipiell von sich aus zur Feindesliebe verpflichtet ist,
provoziert sie lebhaft durch ihr dem profanen und infantilen Denken und Streben nach Eigennutz
entgegengesetztes Verhalten erhebliche Widerstände.
Das erste Evangelium läßt Jesus sprechen:
Brüder werden einander dem Tod ausliefern und Väter ihre Kinder, und die Kinder
werden sich gegen die Eltern auflehnen und sie in den Tod schicken. Und ihr werdet
um meines Namens willen von allen gehaßt werden. (10, 21-22a)

Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen, sondern das
Schwert. Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und
die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter;
und die Hausgenossen eines Menschen werden seine Feinde sein. (10, 34-36)

Hier wird deutlich, daß Christentum sich nicht als Idylle des Glaubens und der Liebe verstehen
kann. Christen werden gehaßt werden - ja, bis zur Vollendung des Gottesreiches ist dieser Fremd-
haß Ausweis des Christen. Ich vermute, daß die Ablösung von liebgewordenen Vorstellungen und
scheinbar nötigenden Bedürfnissen fehlgeschlagen oder unvollständig gelungen ist, wenn ein
Mensch sich noch von möglichst vielen oder gar allen seinen Mitmenschen geliebt wissen will.
Dieses Relikt aus der Kindheit, das die kindliche Psyche produziert, um das Überleben des Kindes
(das psychische, physische und soziale) sicherzustellen, hat seine lebenserhaltende Funktion verlo-
ren, wenn ein Mensch psychisch und physisch und sozial herangereift ist. Das Ertragen von Haß
und Verfolgung wird als Selbstverständlichkeit akzeptiert werden müssen von einem Menschen,
der bereit ist, sich von den Unmenschlichkeiten (den individuellen wie kollektiven) seiner Mitwelt
nicht infizieren zu lassen.
Der Verfasser des Johannesevangeliums, der schon einige Erfahrungen der frühen christlichen
Gemeinde in dieser Sache verarbeitet hat, läßt Jesus zum Abschied sprechen:

Wenn die Welt euch haßt, dann wißt, daß sie mich schon vor euch gehaßt hat. Wenn
ihr von der Welt stammen würdet, würde euch die Welt als ihr Eigentum lieben. Aber
weil ihr nicht von der Welt stammt, sondern weil ich euch aus der Welt erwählt habe,
darum haßt euch die Welt. Denkt an das Wort, das ich euch gesagt habe: Der Sklave
ist nicht größer als sein Herr. Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch
verfolgen. (15, 18-20a)

Und die Bergpredigt stellt in gewohnt lakonischer Kürze fest:

Glücklich seid ihr, wenn ihr um meinetwillen beschimpft und verfolgt und auf alle
mögliche Weise verleumdet werdet. (5, 11)

Es ist vielleicht verständlich, wenn ein Mensch Verfolgung und Verleumdung zähneknirschend er-
trägt oder erduldet, weil er sich so als Held oder als Mitglied einer Elite vorkommen kann. Daß er
aber deshalb glücklich sein soll, scheint abwegig zu sein und eher von einer kranken Psyche zu
zeugen.
Nun bedeutet »Glück« im Christentum nicht Bedürfnislosigkeit, denn die ist ein sehr vergänglicher
und immer gefährdeter Zustand. »Glück« meint vielmehr die Befindlichkeit eines Menschen, dem
sein Leben, oder doch ein Teil davon, geglückt ist. Glücken aber kann ein Leben nur, wenn es
• getreu dem eigenen Lebensentwurf gelebt wird und
• von dem von außen kommenden mehr oder weniger problematischen Angebot an Eigendefini-
tionsmomenten ziemlich unabhängig ist.
Damit ein Leben glücken kann, muß es also relativ unbeeinflußbar sein von Faktoren, die drohen,
es mißlingen oder mißglücken zu lassen. Durch die extreme Außenabhängigkeit des »normalen«,
wie üblich in unsere Gesellschaft eingepaßten Menschen, fehlt diese elementare Fähigkeit zum
Glück weitgehend. Er kennt allenfalls vorübergehende Augenblicke des Glücks, wenn er seine
Bedürfnisse und Erwartungen erfüllt vermutet - aber wohl ahnend, daß solches Glück durch neue
und andere Erwartungen und Bedürfnisse gestört werden kann. Solches Glück ist ein extrem labi-
ler Zustand. Es kommt aber darauf an, ihn stabil zu machen.
Doch wieder zurück zur Solidarität. Solidarität muß nicht gegen Menschen oder Gruppen oder
Gesellschaften gerichtet sein. Aber eine sich solidarisch verhaltende Gruppe wird früher oder spä-
ter von nicht der Gruppe Zugehörigen mißtrauisch beobachtet und mit Aggressivität bedacht wer-
den. Sie wird Feinde haben, solange Liebe nicht zum herrschenden Grundprinzip aller menschli-
chen Interaktionen geworden ist. Über gruppenspezifische Reaktionen wird dieser Außenwider-
stand den Zusammenhalt der Gruppe noch fördern - das Solidarverhalten wird wachsen.
Aufs erste scheint solidarisches Verhalten der Forderung nach unbedingter Liebe gegenüber allen
Menschen zu widersprechen. Hier werden Bedingungen der Zuwendung gemacht. Das ist sicher
nicht richtig, solange der Solidarverband sich gegen niemanden abschließt und also gegen jeder-
mann offen bleibt. Christliche Solidarverbände müssen von dieser Art sein. Es ist also nicht leicht,
die Ansicht zu vertreten, daß etwa Gewerkschaften, die sich gegen eine Gruppe (Arbeitgeber) or-
ganisieren und aus diesem Entgegen primär ihren Zusammenhalt beziehen, christlich verstanden
werden dürfen. Da nun aber nicht wenige Gewerkschaften den Schritt vom Solidar- und Schutz-
verband zu einer Klassenkampf-Organisation gemacht haben (wobei es unerheblich ist, mit wel-
chen tatsächlichen oder potentiellen Mitteln dieser Kampf ausgefochten wird), könnte es sein, daß
Gewerkschaften (wie auch Arbeitgeberverbände) aus dem christlichen Verständnis von Solidarität
herausfallen.
Das ist jedoch nicht der Fall, wenn der Gegner keine Gruppe von Menschen ist, sondern ein so-
zio-ökonomisches System (als dessen Agenten vielleicht Gruppen oder Einzelne tätig werden).
Ein sozialer, politischer, ökonomischer Zustand kann, wenn er in wichtigen Aspekten unchristlich
oder widerchristlich wird, zum Feind christlicher Aktivitäten werden. Solidarität der Christen rich-
tete sich schon im ersten Jahrhundert gegen »diese Welt« - die Welt also, die nicht fähig war, sich
neu zu orientieren und damit unfähig zur Liebe blieb. Wir leben nun in einer Welt, die mit ihrer
Favorisierung von Egoismus und einer Form des Wettbewerbs, der eher Neid und Hader als
Wertschätzung und Friede mit sich hat, in weiten Teilen antichristlich ist. Sie ist - wie für die frü-
hen Christen - auch heute der gemeinsame Gegner aller Christen und der Raum, gegen den sich
Christen solidarisch zusammenschließen müssen, um als Christen überleben zu können. Denn Ver-
folgung und Hader kann nicht lange ein Einzelner in vollständiger Isolation ertragen. Er bedarf,
um glücklich zu sein, der Hilfe und der Zuwendung Gleichgesinnter also seines Solidarverbandes.
Das unbedingte Eintreten für den anderen Menschen, der Hilfe braucht - selbst unter Einsatz des
eigenen physischen, psychischen und sozialen Lebens scheint, von Jesus vorgelebt, ein Gebot des
Christlichen zu sein. Damit ist nicht gemeint ein großer heroischer Einsatz des eigenen Lebens,
sondern das alltägliche Für-andere-dasein. Dasein für die, die der Zuwendung oder Hilfe bedürfen.
Von hierher erhält das Jesuswort, das alle drei Evangelien im Zusammenhang mit der Voraussicht
Jesu auf das eigene Sterben zitieren, seine Bedeutung: »Wer sein Leben liebt, wird es verlieren;
wer aber nicht an seinem Leben hängt, der wird es gewinnen.«
Es ist zu vermuten, daß Jesus seine Jüngergemeinschaft, aus der sich zwanzig Jahre nach seinem
Tod Kirche zu organisieren begann, als solche Solidargemeinschaft verstanden hat.
Damit begegnen wir einer weiteren Bestimmung von Kirche:
Zunächst ist sie Gemeinschaft der Glaubenden (die etwa im Kult ihren Glauben stärken), dann ist
sie Gemeinschaft der sich Helfenden und der um ihres Christentums willen Verfolgten.
Es hieße nun aber christliche Solidarität gründlich mißzuverstehen, wenn man annähme, daß in ei-
ner christlichen Solidargemeinschaft keine Konflikte möglich seien - oder einfach durch ein religi-
öses Instrumentar behoben werden könnten. Konflikte zwischen Menschen sind (wie die Ge-
schichte der Konflikte zwischen den Aposteln und innerhalb der frühen christlichen Gemeinden
zeigt), nicht etwa zunächst etwas Negatives. Sie tauchen auf, wenn sich einzelne oder Gruppen
oder eine ganze Gemeinschaft von Realität entfernt. Die Konfliktlösung bietet die Chance der An-
näherung an Realität. Es gilt also, Konflikten nicht auszuweichen oder sie zu verdecken, sondern
in ihnen standzuhalten und sie aufzugreifen (das ist christliche Tapferkeit). Eine Solidargemein-
schaft ist nur dann stabil, wenn ihre Mitglieder und Gruppen konfliktfähig sind, d. h. ohne Verlet-
zung der Liebe Konflikte konstruktiv auflösen können - also in der Konfliktlösung größere Reali-
tätsdichte gewinnen.
Konflikte verschweigen, Konflikte »fortbeten«, Konflikte abwehren, Konflikte vernebeln… ist al-
so alles andere als christlich, weil der latente Konflikt, mehr oder minder unterschwellig, Liebe
zerstört.
Die Bildung zur Konfliktfähigkeit ist also hohes christliches Bildungsziel und Voraussetzung alles
solidarischen Verhaltens - auch in der Kirche.

d) Lieben und Richten


»Richten« meint hier ein Urteilen über das sittliche Verhalten eines Menschen. Nicht gemeint ist
die Feststellung, ob ein Verhalten sachgerecht gewesen ist oder nicht. Wenn ein Mitmensch etwas
technisch falsch macht (falsch Auto fährt oder falsch rechnet, falsch ißt oder falsch spricht) und
ich stelle das fest, dann ist das zwar ein Urteilen, nicht aber ein Richten. Wenn die Heiligen Schrif-
ten der Christen über das Urteilen sprechen, ist das Richten gemeint.
Wer richtet, erhebt sich über den anderen, übt Herrschaft aus mit der Absicht, den anderen von
seiner Skala her zu bewerten und unter Umständen gar zu bestrafen. Solche Herrschaft über unse-
ren Mitmenschen steht uns nicht zu.
Sicherlich gibt es sehr verschiedene Gründe, die Menschen dazu bringen, über andere Gericht zu
halten:
• Die Kompensation eigener Minderwertigkeit.
• Der Wunsch, den anderen klein zu machen, zu demütigen.
• Ein falsches Selbstverständnis von Herrschaft und damit verbundene Überlegenheitsgefühle.
• Narzißtische Allmachtsmutungen.
• Der Wunsch, sich zu profilieren und die hohe Qualität des eigenen Ethos deutlich zu machen.
• Sich im gemeinsamen Verurteilen zu solidarisieren.
Nun sind ganz offensichtlich alle diese Motive aus christlicher Sicht nicht sonderlich schätzens-
wert, wie auch die Gelegenheiten, bei denen gerichtet wird, nicht unbedingt fördernswert zu sein
scheinen:
• Situationen der üblen Nachrede (oder gar der Verleumdung).
• Situationen der unbeherrschten Aggressivität.
• Situationen der Solidarisierung in der Ablehnung eines Menschen.
• Situationen, in denen der höhere soziale Status demonstriert werden soll.
Es ist leicht verständlich, daß Jesus von allen Lieblosigkeiten das Richten besonders gründlich
verabscheute.
In der Bergpredigt heißt es:

Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Denn wie ihr richtet, so werdet ihr ge-
richtet werden, und nach dem Maß, mit dem ihr meßt und zuteilt, wird auch euch zu-
geteilt werden. (7, 1-2)

Und bei der Ordnung der Gemeinden schreibt schon Paulus in den 50er Jahren des ersten Jahr-
hunderts (also 20 bis 30 Jahre bevor die Bergpredigt in der uns bekannten Form niedergeschrieben
wurde):

Christus ist gestorben und lebendig geworden, um Herr zu sein über Lebende und To-
te. Wie kannst also du deinen Bruder richten? Und du, wie kannst du deinen Bruder
verachten? (Röm 14, 9-10)
Darum bist du unentschuldbar - wer du auch bist, Mensch wenn du richtest. Denn
worin du den anderen richtest, darin verurteilst du dich selber, da du, der Richtende,
dasselbe tust. (Röm 2, 1)

Richtet also nicht vor der Zeit; wartet bis der Herr kommt, der das im Dunklen Ver-
borgene ans Licht bringen und die Absichten der Herzen aufdecken wird. (1 Kor 4, 5)

Richten ist das vollständige Gegenteil von Solidarität. Richten ist die arroganteste Form, die Herr-
schaft annehmen kann. Und deshalb verbietet Paulus jedem das Richten über die Sittlichkeit frem-
der Handlung. Kein Mensch hat also das Recht, konkretes fremdes Verhalten sittlich zu bewerten.
Weder Eltern noch Lehrer, weder Gläubige noch Päpste, weder Christen noch Helden, weder
Reiche noch Arme, weder Glückliche noch Unglückliche, kurzum: niemand ohne jede Einschrän-
kung.
Wer richtet, und mag er noch so ehrenhafte Gründe zu nennen wissen, handelt lieblos und ver-
dunkelt Gottesreich in sich und andern.
Der erste Johannesbrief bringt dazu eine gute Ergänzung. Nicht einmal das Gericht des eigenen
Herzens ist der letzte Spruch über den Menschen:

Denn wenn das Herz uns auch verurteilt - Gott ist größer als unser Herz, und er weiß
alles. (3, 20)

Ich denke, wenn jemand den Weg ins Christentum gehen möchte, dann wird er die Anzeichen sei-
ner Neuorientierung relativ leicht feststellen können (gleichsam mit empirischer Genauigkeit) - ob
er es verlernt hat zu richten. Und wenn er noch richtet, steht er zweifelsfrei vor den Toren des
Christentums. Da gilt auch das Argument nichts, daß das Verbot zu richten, einen Menschen ü-
berfordere. Das stimmt nicht. Die Erfahrung zeigt, daß der ernsthafte und intensive Wille, das
Richten bleiben zu lassen, in aller Regel schon bald Erfolg hat.
Es gibt Theologen, von denen einige die fatale Neigung haben, über andere Menschen zu richten.
Sie sehen das Jesusverbot erst in der Fülle des Gottesreichs verwirklicht und versuchen so ihr un-
christliches Verhalten zu entschuldigen. Ihnen sei gesagt, daß das ein sachlicher Irrtum ist.

e) Liebe und Gerechtigkeit


Die berühmte Definition von Gerechtigkeit gab Domitius Ulpianus († 223): Gerechtigkeit ist der
feste und beständige Wille, jedem sein Recht zu gewähren. Seit Aristoteles war es in Europa üb-
lich, »Gerechtigkeit« auf soziale Beziehungen anzuwenden. Er unterscheidet die Gerechtigkeit,
die in Koordinationsinteraktionen (etwa zwischen Personen) und solche, die in Subordinationsin-
teraktionen (etwa zwischen Staat und Bürger) spielt (justitia commutativa et distributiva). In bei-
den Fällen ist von der Gleichberechtigung aller beteiligten Personen auszugehen (Gleichheitsprin-
zip). Die Gleichheit vor dem Anspruch der Gerechtigkeit ist also eine sehr alte sittliche Forderung.
Seit dem Mittelalter versuchte man Gerechtigkeit als Forderung zu begründen. Es wurden u.a.
genannt:
• die Ordnung der göttlichen Vernunft (Thomas von Aquin),
• der göttliche Wille (Johannes Duns Skotus),
• die Existenzsicherung der Menschen (Th. Hobbes),
• die Maximierung des Glücks der größten Zahl (J. Bentham),
• die gesellschaftliche Organisation des menschlichen Lebens (G.W.F. Hegel),
• die gesellschaftliche Organisation der menschlichen Bedürfnisse (K. Marx).
In allen entwickelten sozio-kulturellen Systemen von einiger Größe begegnen wir der Vorstellung,
daß Gerechtigkeit ein zwingendes Regulativ von Herrschaft sei. Der Pflicht des Herrschenden zur
Gerechtigkeit entspricht das Widerstandsrecht des Beherrschten gegen ungerechte Herrschaft.
Insofern Gerechtigkeit vom kodifizierten Recht her verstanden wird, ist sie konservativ. Wird sie
jedoch verstanden von den Rechten, die sich aus den Bedürfnissen (den durchaus wechselnden)
der Menschen ergeben, ist sie oft progressiv. In demokratischen Rechtsstaaten spielt sie zwischen
diesen beiden Polen wie zwischen Geschichte und Vernunft.
In religiöser Bedeutung bezeichnet »Gerechtigkeit« im Judentum das rechte Verhältnis des Men-
schen zum Menschen und zu Jahwe. Es drückt sich vor allem aus in der Treue zum Bund Gottes
mit den Menschen. Im Christentum bezeichnet das Wort das heilende Handeln Gottes und die aus
dem Glauben resultierende Grundbefindlichkeit des Menschen (gerecht, gerechtfertigt).
Ich will das Wort in diesem Abschnitt ziemlich profan verstehen im Sinne der Bestimmung des
Ulpian.
Dann aber stellt sich eine klassische Konfliktfrage: Entweder handele ich gerecht und verletze die
Liebe oder aber ich handele aus Liebe und bin ungerecht. So kann ich gerecht sein und einen Stu-
denten durchs Examen fallenlassen - und so Liebe verletzen. Oder ich kann ihn bestehen lassen
und so anderen, die fleißiger waren, Unrecht tun. Doch bei näherem Hinsehen entpuppt sich das
Dilemma als Trugschluß.
Offensichtlich unauflöslich bleibt es nur, wenn man quantifizierbare Leistungen (bzw. Leistungs-
folgen) als einzige Quelle betrachtet, Rechte zu erwerben. Die Leistungsgerechtigkeit wäre also
die einzige Form von Gerechtigkeit. Das aber ist ganz offensichtlich falsch, wennschon in einer
Leistungsgesellschaft die Tendenz besteht, so zu denken und zu handeln. Es gibt fundamentalere
Formen des Erwerbs von Rechten und damit auch der Gerechtigkeit.
Zunächst besitzt ein Mensch Rechte, insofern er Mensch ist. Hierher gehören das Recht auf Le-
ben, auf Eigentum, auf Bildung, auf Fehlen unnötiger äußerer Zwänge (= das »Recht auf Frei-
heit«), das Recht auf Informationsnahme und -gabe, das Recht, sich einen Beruf, einen Partner,
eine Glaubensgemeinschaft, eine politische Partei, eine Nationalität… zu wählen.
Wir sprechen hier von sozialen, politischen, ökonomischen Grundrechten. Diese Rechte sind die
Grundlage des menschlichen Beisammenseins. Kein Mensch kann auf diese Rechte verzichten - al-
lenfalls auf den Gebrauch der Rechte. Aber auch dazu kann ihn niemand, weder ein Staat noch ei-
ne Kirche, weder Einzelne noch Gruppen, zwingen. Werden diese Rechte eingeschränkt, spricht
man von ungerechter Gewalt. Wird der Gebrauch der Rechte ohne zwingenden Grund beschränkt,
spricht man von Machtmißbrauch.
Der Staat hat in seinen Funktionen und Gewalten die Aufgabe, diese Rechte zu schützen und ihre
Anwendbarkeit zu sichern. Tut er das nicht, wenn er sich selbst etwa als höchstes zu schätzendes
Rechtsgut betrachtet, darf er von den so in ihren Rechten oder deren Gebrauch Behinderten besei-
tigt werden.
Dann aber besitzt ein Mensch Rechte durch seine allgemeinen und besonderen Bedürfnisse. Es ist
zwar nicht so, daß die Existenz eines Bedürfnisses schon ein Recht auf Bedürfnisbefriedigung be-
gründet, wohl aber besteht ein Recht auf die Chance, primäre (Erhaltungs-) und sekundäre (Ent-
faltungs-) Bedürfnisse menschlich zu befriedigen. Hierher gehören:
• die physiologischen Bedürfnisse (Hunger, Durst, Sex, Ruhe, Schlaf, Atmen, Wärme, Schutz
vor Witterung, Bewegung, Freude…),
• die sozialen Bedürfnisse (Gemeinschaft, Angenommenwerden, Gehörtwerden, Sicherheit, An-
erkennung, Achtung, Interaktionen, Freundschaft, Arbeit, Bildung, Religion…),
• die Selbstbedürfnisse (Selbstachtung, Selbstverwirklichung…)
Keinem Menschen darf die Chance genommen werden, diese Bedürfnisse zu realisieren. Ganz be-
sonders aber gilt das für das Persönlichkeitsbedürfnis schlechthin: Das Bedürfnis, den eigenen Le-
bensentwurf zu verwirklichen (= Selbstverwirklichung). Eine gesellschaftliche Organisation, die
solche Chancen nicht soweit als möglich bereitstellt oder gar mindert oder beseitigt, ist inhuman -
und muß reformiert werden (insofern dieses möglich ist). Das Recht auf die Chance, primäre und
sekundäre Bedürfnisse zu befriedigen, ist also ein Gebot von Gerechtigkeit (der Bedürfnisgerech-
tigkeit).
Endlich gibt es auch die Leistungsgerechtigkeit. Nicht selten liegen ihr ausdrückliche oder unaus-
drückliche Verträge oder Absprachen zugrunde, nach denen eine bestimmte Handlung eine be-
stimmte soziale Reaktion (Belohnung oder Bestrafung) zur Folge hat. Diese Leistungsgerechtig-
keit fordert etwa
• die Zahlung eines leistungsgerechten Lohns,
• die Bewertung einer Arbeit im sozialen Vergleich,
• die Bestrafung eines Rechtsbrechers.
In unserem sozio-ökonomischen System geschieht die betriebliche Entlohnung nicht leistungsge-
recht. Der Lohn ist vielmehr durch den Marktwert der Arbeit bestimmt (also durch den Wert, den
die Arbeit auf dem Arbeitsmarkt hat). Allenfalls können Zusatzleistungen durch Zusatzentlohnun-
gen belohnt werden oder es kann durch den Anreiz von Zusatzentlohnungen ein Mehr an Leistung
erreicht werden. Das geschieht jedoch nur, wenn sich dadurch der Nutzwert der Arbeit vermehrt.
Wie K. Marx richtig feststellte, ist diese Form der marktgerechten Entlohnung nicht ungerecht,
obschon Marx den - seiner Ansicht nach - gerechteren Leistungslohn forderte. Gerechtigkeit wird
in der kapitalistischen Entlohnungsweise dadurch realisiert, daß (wenigstens in der Rechtsfiktion)
ein gerechter Tausch (Arbeit gegen Lohn) zustande kommt.
Das macht aber noch nicht das Gesamtkonzept kapitalistischer Wirtschaft gerecht. Es kann sehr
wohl sein, daß es vor dem Anspruch der Bedürfnisgerechtigkeit ungerecht ist.
• Wenn etwa einem Arbeiter nicht die Chance gegeben wird, sich in seinen Sozialkontakten in
der Arbeit sicher und anerkannt zu fühlen,
• wenn er nicht die Möglichkeit erhält, in einem Maximum an Initiative und Selbstverantwortung
seine Arbeit zu gestalten,
• oder den sozialen Nutzen seiner Arbeit zu begreifen.
Kehren wir aber zurück zum Beispiel des Studenten, der sein Examen nicht bestand. Zweifellos
verstößt es nicht gegen die Leistungsgerechtigkeit, wenn er durchs Examen fällt. Sehr wohl kann
das aber gegen die Bedürfnisgerechtigkeit sein, dann nämlich, wenn das Durchfallen (und seine
unmittelbaren Folgen) dazu führen, daß sich seine Chancen, primäre und sekundäre Bedürfnisse
zu realisieren (etwa Selbstverwirklichung oder soziale Achtung), mindern oder gar ausfallen (etwa
bei Suizidgefahr oder der Gefahr einer Flucht in psychische Krankheiten).
Das also bedeutet, daß ein Prüfer stets auch menschliche, außerhalb des Leistungsbereichs liegen-
de Aspekte mit berücksichtigen muß. Tut er das nicht, handelt er in gleicher Weise ungerecht wie
lieblos. Ich vermute, daß mit diesem Hinweis die scheinbare Diskrepanz zwischen Gerechtigkeit
und Liebe entschärft ist. Eine Herrschaft bloßer Leistungsgerechtigkeit in unseren Interaktionen
würde menschliches Zusammensein zur Hölle machen. Allgemein gilt die Regel: Steht eine Forde-
rung aus Leistungsgerechtigkeit gegen eine Forderung aus Bedürfnisgerechtigkeit, dann hat diese
den absoluten Vorrang, wenn ihr ein primäres Bedürfnis (ein Bedürfnis also, daß die physische,
die psychische oder soziale Erhaltung sichert) zugrunde liegt.
Schauen wir nun, was uns die Jesusbotschaft über Gerechtigkeit sagt. Es sei noch einmal erwähnt,
daß hier das Wort »Gerechtigkeit« im Sinne der römischen Rechtsphilosophie verwendet wird.
Ich will hier drei Szenen aus dem Leben und der Lehre Jesu vorstellen, in der Weise, wie sie uns
die Evangelisten überlieferten:

(1) Als eine Sünderin, die in der Stadt lebte, erfuhr, daß Jesus im Haus des Pharisäers
bei Tisch war, kam sie mit einem Alabastergefäß voll wohlriechendem Öl, trat… an
ihn heran… und salbte seine Füße mit Öl. Als der Pharisäer, der ihn eingeladen hatte,
das sah, dachte er: Wenn er (Jesus) wirklich ein Prophet wäre, müßte er wissen, was
das für eine Frau ist, von der er sich berühren läßt; er wüßte, daß sie eine Sünderin ist.
Da wandte sich Jesus an ihn und sagte: … Ihr sind ihre vielen Sünden vergeben, weil
sie soviel Liebe gezeigt hat. Wem aber nur wenig vergeben wird, der zeigt auch nur
wenig Liebe. (Lk 7, 37-40; 47)

(2) Am frühen Morgen begab sich Jesus wieder in den Tempel. Alles Volk kam zu
ihm. Er setzte sich und lehrte es. Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer
eine Frau, die beim Ehebruch ertappt worden war. Sie stellten sie in die Mitte und
sagten zu ihm: Meister, diese Frau wurde beim Ehebruch auf frischer Tat ertappt.
Moses hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen. Nun, was sagst
du?… Jesus aber bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie hartnä-
ckig weiterfragten, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: Wer von euch ohne Sünde
ist, werfe als erster einen Stein auf sie. Und er bückte sich wieder und schrieb auf die
Erde. Als sie seine Antwort gehört hatten, ging einer nach dem anderen fort, zuerst
die Ältesten. Jesus blieb allein zurück mit der Frau, die noch in der Mitte stand. Er
richtete sich auf und sagte: Frau, wo sind sie geblieben? Hat dich keiner verurteilt? Sie
antwortete: Keiner, Herr! Da sagte Jesus zu ihr: Auch ich verurteile dich nicht. Geh
und sündige von jetzt an nicht mehr. (Joh 8, 2-11)

3) Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Gutsbesitzer, der früh am Morgen sein
Haus verließ, um Arbeiter für seinen Weinberg anzuwerben. Er einigte sich mit den
Arbeitern auf einen Denar für den Tag und schickte sie in den Weinberg. Um neun
Uhr ging er wieder auf den Markt und sah andere dastehen, die keine Arbeit hatten.
Er sagte zu ihnen: Geht auch ihr in meinen Weinberg! Ich werde euch geben, was
recht ist. Und sie gingen. Um 12 Uhr und um 15 Uhr ging der Gutsherr wieder auf
den Markt und machte es ebenso. Als er um 17 Uhr noch einmal hinging, traf er wie-
der einige, die dort herumstanden. Er sagte zu ihnen: Was steht ihr hier den ganzen
Tag untätig herum? Sie antworteten ihm: Niemand hat uns angeworben. Da sagte er
zu ihnen: Geht auch ihr in meinen Weinberg. Als es nun Abend geworden war, sagte
der Besitzer des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter und zahl ihnen den
Lohn aus, angefangen von den letzten bis hin zu den ersten. Da kamen die Männer,
die er um 17 Uhr angeworben hatte, und jeder erhielt einen Denar. Als dann die ersten
an die Reihe kamen, vermuteten sie, mehr zu bekommen. Aber auch sie erhielten einen
Denar. Da begannen sie über den Gutsherrn zu murren und sagten: Diese letzten ha-
ben nur eine Stunde gearbeitet, und du hast sie uns gleichgestellt; wir aber haben den
ganzen Tag über die Last der Arbeit und der Hitze ertragen. Da erwiderte er einem
von ihnen: Mein Freund, dir geschieht kein Unrecht. Hast du nicht einen Denar mit
mir vereinbart?… Oder bist du neidisch, weil ich gütig bin? (Mt 20, 2-15)

Diese drei Erzählungen der Evangelien gehören sicherlich zu den bekanntesten. Wie andere be-
kannte Szenen aus dem Leben Jesu [etwa im Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15, 11-32), kün-
den sie eine neue Gerechtigkeit, die die alte des Gesetzes ergänzt und ablöst. Ich will nun versu-
chen, einige Merkmale dieser neuen Gerechtigkeit auszumachen - Merkmale, die die frühe Jesus-
gemeinde dazu gebracht haben, diese Erzählungen in die Evangelien aufzunehmen und zum Ka-
non der Geschichten über Jesus zu rechnen.
(1) »Ihr wird viel vergeben, weil sie viel Liebe zeigte.« In der Spannung zwischen legaler Gerech-
tigkeit und Liebe entscheidet sich Jesus unbedingt für Liebe. Die Vergebung für die Übertretung
des Gesetzes hängt nicht von irgendwelchen Sühnehandlungen oder von der Übernahme irgendei-
ner Strafe ab, sondern von der praktischen Liebe. Das ist eine der wichtigen Inhalte der Jesusbot-
schaft: Nicht kultische Handlungen befreien von religiöser und sozialer Schuld, sondern die Neu-
organisation des Lebens nach Maßgabe der Liebe.
(2) »Wem wenig vergeben wird, der zeigt auch nur wenig Liebe.« Dieser Satz ist eine erhebliche
Weiterung des vorhergehenden. Nicht nur sühnt Liebe Schuld, sondern die Vergebung ist einer
der Gründe der Liebe. Ohne Liebe keine Vergebung - aber auch ohne Vergebung keine Liebe. An
den ersten Teil dieser Feststellung haben wir uns inzwischen gewöhnt, kaum aber an den zweiten.
Christliche Liebe ist nicht etwas, was ein Mensch aus sich produzieren könnte. Damit er lieben
lernt, kommt es auch auf seine Umgebung (und auf Gott) an: Er muß Verzeihung erfahren. Denn
nur in dem Umfang, wie er sie erfährt, wird er lieben können. Verzeihung erfahren, das hat we-
nigstens zwei Voraussetzungen:
• Erkenntnis der eigenen Schuld, denn wer sich selbst für schuldlos hält, wird nicht erkennen,
daß er der Verzeihung seiner Schuld durch andere bedarf.
• Verzeihung muß deutlich geschehen und muß bewußt werden, denn wenn Verzeihung sich
nicht nach außen ausdrückt, bleibt sie unerkannt.
Um Lieben zu lernen ist also vonnöten:
• Die Fähigkeit, Schuld bei sich selbst zu erkennen und anzuerkennen. Das meint nicht, daß ich
mich bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit schuldig fühlen sollte. »Schuld« meint
hier nicht das Gefühl, das sich einstellt, wenn ein Mensch vor dem Spruch seines Über-Ich ver-
sagt. Nicht vor dem Über-Ich kann ich schuldig werden, sondern nur an konkreten Personen.
Schuldig aber wird der, der dem anderen nicht gibt, was ihm rechtens zu geben ist, wer also
ungerecht ist.
Es gibt Menschen, die jede Schuld abwehren, weil ihre (narzißtische) Selbstachtung ihnen das
Eingeständnis von Schuld nahezu unmöglich macht. Mitunter nimmt diese Abwehr die Gestalt
der Projektion an. Schuldig oder doch der Hauptschuldige, das ist immer der andere. Ich kenne
Ehen, in denen diese Projektionen beider Partner furiose Ausmaße annehmen. Beide waren na-
hezu schuldlos - in ihren eigenen Augen.
• Die Fähigkeit, zu vergeben und Vergebung zu empfangen. Diese Fähigkeit setzt die Erkenntnis
und Anerkenntnis einer tiefen sozialen Verwiesenheit eines Menschen voraus. Sehr viel mehr
als unser neuzeitliches Selbstgefühl es wahrhaben will, sind wir Sozialwesen und radikal ab-
hängig von Zu- oder Abwendung durch andere Menschen.
Diese Abhängigkeit kann soweit gehen, daß ein einziges gutes Wort einen Menschen buchstäblich
heilen kann - und ein böses kann ihn krankmachen. Wenn wir Menschen also eine Art sozialen
Organismus bilden, dann ist es wichtig, daß wir - bei allen Konflikten doch die Fähigkeit bewah-
ren, wieder die Einheit dieses Organismus herzustellen - um unserer und fremder Gesundheit wil-
len (in religiöser Sprache nennt man religiöse Gesundheit »Heil«). Das aber geschieht nur dann,
wenn wir alle Leistungsgerechtigkeit (darunter auch die Gesetzesgerechtigkeit) hintanstellen, so-
bald deren Vollzug der Menschheit, wie sie sich in konkreten Menschen repräsentiert, eher scha-
det denn nutzt. Jesus hat das so formuliert: Das Gesetz ist um des Menschen willen da - und nicht
der Mensch um des Gesetzes willen (vgl. Mk 2, 27). Wo Gesetze und Gesetzesgerechtigkeit nicht
dem Menschen dienen, werden sie unmenschlich und verlieren ihre normative Verpflichtung.
(3) »Hat dich keiner verurteilt, so verurteile ich dich auch nicht.« Dieser Satz aus der Szene mit
der Ehebrecherin ist ebenfalls bedenkenswert. Hier macht Jesus sein Urteil von dem der Menschen
abhängig. Wieder schreibt das Gesetz eine bestimmte Strafe vor (Steinigung). Und nach den Re-
geln der Leistungsgerechtigkeit hat der Kriminelle ein strenges Recht auf »seine« Strafe (wie I.
Kant deutlich betonte). Aber solche gerechte Zuteilung eines verdienten Lohns wird von Jesus
verweigert. Wieder wird die legale Gerechtigkeit außer Kraft gesetzt, um zentralerer Normen wil-
len. Weil der Vollzug der Gerechtigkeit niemandem nützt, Jesus aber alle Formen der Bestrafung,
die nicht der Liebe dienen (wie Generalprävention, Rache, Sühne) ablehnt, bleibt also nur Frei-
spruch.
Doch dieser Freispruch wird abhängig gemacht von der Vergebung der Mitmenschen. Offensicht-
lich handelt es sich also bei der religiösen Schuldaufhebung nicht um irgendeinen magischen Vor-
gang, sondern um die Bestätigung der menschlichen Schuldaufhebung. Das hat mancherlei Kon-
sequenzen für christliches Verhalten:
• Es folgt daraus die unbedingte Nötigung, dem anderen Menschen zu verzeihen. Wer nicht ver-
zeiht, der beläßt den anderen in Schuld (auch der religiösen).
• Konsequent spielt denn auch das Verzeihen eine wichtige Rolle in der christlichen Sittlichkeit.
Im Gebet, das die Bergpredigt als exemplarisch für das Beten der Christen vorstellt, heißt es:

Und erlaß uns unsere Schulden, wie auch wir sie unseren Schuldnern erlassen haben.
(Mt 6, 12)

Und auf die Frage des Petrus:

Herr, wie oft muß ich meinem Bruder vergeben, wenn er sich gegen mich versündigt?
Siebenmal? antwortete Jesus: Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal. (Mt 18,
21-22)

• Daraus aber folgt ebenfalls die unbedingte Pflicht, um Verzeihung zu bitten, wenn sie sonst nur
schwer oder gar nicht gewährt werden könnte. Die erbetene Verzeihung nicht zu gewähren, ist
eine solche Verletzung der Liebesgebote, daß sie den Evangelisten gar nicht erst in den Blick
kommt.
Der Verfasser des dritten Evangeliums läßt im Gleichnis den verlorenen Sohn bitten:

Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt, ich bin nicht mehr
wert dein Sohn zu sein. (15, 21)

Und ihm wird - trotz der recht unvollständigen Bitte - Verzeihung zuteil.
Mitunter wird es dem Stolzen schwerfallen, selbst wenn er seine Schuldhaftigkeit akzeptiert, um
Verzeihung zu bitten. Doch dieser Stolz ist der Stolz eines »lonely wolf« der meint, auf keinen
Menschen angewiesen zu sein. Er ist ein Opfer des Individualfetischismus der Neuzeit. der Per-
son auf Individuum reduziert.
• Von hierher erhält das Verbot, andere Menschen zu verurteilen (selbst wenn es als Beurteilen
kaschiert wird), eine neue Dimension - es wird zum Gebot christlicher Gerechtigkeit. Selbst
wenn die Leistungsgerechtigkeit scheinbar ein sittliches Verurteilen einfordern sollte - es bleibt
dem Christen untersagt.
(4) »Bist du neidisch, weil ich gütig bin?« Nicht selten maskiert sich der blanke Neid mit der For-
derung nach Leistungsgerechtigkeit. Ich denke, das Gleichnis denunziert diese Haltung zur Genü-
ge. Das, was Jesus hier als Zustand des Gottesreiches beschreibt, darf nicht als schlechthin kom-
mend betrachtet werden. Gottesreich ist schon mitten unter uns - und wir sind mitverantwortlich
für sein Wachsen.
Die hier postulierte Gerechtigkeit ist zweifellos die Bedürfnisgerechtigkeit, nach der jeder Mensch
die Chance haben muß, soviel zu erhalten, wie er zum täglichen Unterhalt seiner Familie benötigt.
Das war damals ein Denar (etwa 3 Gramm Silber, das sind heute rund 20.- DM). Nicht die Leis-
tung, sondern allein das Bedürfnis wird Maß der Belohnung, die Leistung ist allein der Beloh-
nungsanlaß. Diese völlig unkapitalistische Weise, Gerechtigkeit zu sehen, wurde von K. Marx für
die kommunistische Phase der gesellschaftlichen Entwicklung postuliert. In seiner Kritik am Go-
thaer Programm der SPD (1875) (MEW 19, 21) läßt Marx im Sozialismus das Leistungsprinzip
(»jedem nach seinen Fähigkeiten - jedem nach seiner Leistung«), das das kapitalistische Markt-
wertprinzip ablösen soll, gelten. Damit sei aber noch faktische Ungleichheit, eine bürgerliche
Rechtsordnung und ein funktionierender Staat vonnöten. Diese alle mache die Gerechtigkeit aus
dem Bedürfnisbefriedigungsprinzip (»jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnis-
sen«) überflüssig. Im Reich der Freiheit von Entfremdungen herrsche eben dieses Bedürfnisbefrie-
digungsprinzip. Christliche Gedanken haben hier, vermittelt über die Utopiker des 17. und 18.
Jahrhunderts, offensichtlich Pate gestanden.
Es mag sein, daß die objektiven Zwänge, die von der Verfassung des sozio-ökonomischen Sys-
tems ausgehen, im Bereich des Politischen und Ökonomischen die Realisation der Bedürfnisge-
rechtigkeit unmöglich machen. Das sagt aber nichts über die Qualität und Praktikabilität dieser
Gerechtigkeitsform im allgemeinen aus. Es fordert von uns nur Mühen ein, die Beschränkungen
unseres Systems zu überwinden und in den Bereichen, die von der Systemherrschaft ausgespart
sind, nach den Regeln der Bedürfnisgerechtigkeit leben zu lernen.

14. Über die Liebe III


Als die Christen die Theologie wiederentdeckten, standen sie vor einer Mehrzahl von Problemen:
• Was bedeutet: »Jesus ist Gottes Sohn«?
• Welche Rolle spielte der von Jesus verheißene Geist (Gottes), der an Jesu Statt die Jünger trös-
ten, belehren, begleiten sollte?
• Welche Folgen hat das für ein eher »gegenständliches« Gotteskonzept, wenn man sagt, Gott ist
die Liebe?
Die erste Frage habe ich schon behandelt - bleiben noch die beiden anderen zu entfalten. Um die
Antwort vorwegzunehmen: Das Ergebnis der theologischen Spekulation über diese Fragen ist die
Lehre vom dreifaltigen Gott, die schon gegen Ende des ersten Jahrhunderts ihre ersten Konturen
annimmt. Da kein Weg ins Christentum an diesem spekulativ anspruchsvollen Brocken vorbei-
geht, müssen wir uns mit ihm beschäftigen.
Die Lehre vom dreifaltigen Gott hätte sich vermutlich so niemals entwickelt, wenn sie nicht in An-
sätzen des jüdischen und griechischen Denkens angelegt gewesen wäre.
(1)Die alttestamentliche Tradition kennt schon eine gewisse Differenzierung zwischen Jahwe und
seinen Funktionen (Wort Jahwes, Geist Jahwes, Weisheit Jahwes), die notwendig wurde, als
sich das Jahwe-Bild von dem eines sehr hautnahen Gottes (etwa während des Auszugs aus Ä-
gypten) zu dem eines welt- und geschichtstranszendenten wandelte. Es wurde schwierig, ihn in
Welt und Geschichte handelnd zu sehen. So stellte er sich handelnd dar in den Funktionen von
»Wort«, »Geist« (und gelegentlich »Engel«).
(2)Den Griechen geschah ganz Ähnliches mit ihrem Gottesbild. Je mehr Gott als Ursache der Welt
reflektiert wurde, um so mehr entzog er sich dieser Welt. Er wurde als einfach, unveränderlich
gesehen. Diese Eigenschaften ließen keine Aktivitäten nach außen zu. Dazu bedurfte man eines
zweiten Prinzips, selbst göttlich, aber niederen Ranges (Demiurg = Weltschöpfer, Logos =
Wort und Nous = Geist). Im Neuplatonismus wurde selbst dieses zweite Prinzip verschiedent-
lich für noch zu weltentfernt gedacht, so daß ein der Welt innewohnendes Prinzip allein die
Weltabläufe regeln könne: die Weltseele.
(3)In den hellenistischen Schriften des Alten Testaments kommen gelegentlich Gegenständlichset-
zungen von göttlichen Funktionen vor. Vor allem »Weisheit Jahwes« wird oft wie ein eigenes
Subjekt behandelt (sie sprach etwa). Nachchristlich finden sich im Judentum diese Vergegens-
tändlichungen göttlicher Eigenschaften oder Funktionen ziemlich häufig etwa in den Werken
des Philon von Alexandrien oder in der »spätjüdischen Engellehre«.
(4)Jesus wird schon in vorpaulinischen hellenistischen Schriften in einer besonderen Weise als
»Gottes Sohn« und »göttlicher Herr« bezeichnet. Es bildet sich eine hellenistische Christologie
aus, die Jesus als »göttlich« bekannte. Daneben entstand in frühchristlichen Gemeinden eine
Geisttheologie, von der uns in den Heiligen Schriften zahlreiche Hinweise erhalten sind. Der
Heilige Geist ist in den Gemeinden und in jedem einzelnen am Werk und vollendet das Werk
der Erlösung.
(5)Die Schriften des Neuen Testaments kennen noch keine Trinitätslehre, obschon einige trinitari-
sche Formeln erhebbar sind. So etwa die in einem Anhang zum ersten Evangelium auftauchen-
de Taufformel:

Da trat Jesus auf sie zu und sagte zu ihnen: Mir ist alle Gewalt gegeben im Himmel
und auf der Erde. Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen
Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes,
und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe. Seid gewiß: Ich bin bei
euch bis zum Ende der Welt. (Mt 28,18-20)

Es läßt sich jedoch erheben, daß sie, an einen Gott glaubend, »unterscheiden zwischen dem Vater,
dem Sohn (Jesus) und dem Heiligen Geist (dem von beiden Gesandten) und zwar alle drei »Gott«
nennend.
(6) Das Konzil von Nikaia (125) stellte verbindlich klar, daß Jesus Gott sei. Das 1. Konzil von
Konstantinopel (381) tat dasselbe für den Heiligen Geist. In den Auseinandersetzungen vor und
während des Konzils (die der Sache nach bis heute nicht abgeschlossen sind) entwickelten sich
zwei Positionen, die zurückgewiesen wurden:
• Der Subordinatianismus lehrte, daß Sohn und Geist zwar göttlich seien, aber dem Vater unter-
geordnet. In ihm vereinen sich hellenistische Ideen mit Textstellen der Evangelien:

Als Jesus sich auf den Weg machte, lief ein Mann auf ihn zu, fiel vor ihm auf die Knie
und fragte ihn - Guter Meister, was muß ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?
Jesus antwortete: Warum nennst du mich gut? Niemand ist gut außer Gott, dem Ei-
nen. (Mk 10, 17-18)

Der Subordinatianismus beherrschte vor dem Konzil von Nikaia das Denken nahezu aller Theolo-
gen der frühen Christenheit (Augustin, Hippolyt, Tertullian), obschon er von Papst Dionysios
(†267) verurteilt worden war.
• Der Modalismus lehrt, daß Vater, Sohn und Geist drei Erscheinungsformen (oder auch Seins-
weisen) des einen Gottes seien. Der Modalismus wurde im 2. Jahrhundert vor allem von Noe-
tus von Smyrna entwickelt. Ab 215 galt Sabelius von Rom als Haupt der Modalisten. Seine
Lehre war im Orient, vor allem aber in Ägypten sehr verbreitet. Die Christologie des Ägypter-
evangeliums ist rein modalistisch. Dieses vermutlich im zweiten Jahrhundert verfaßte Evangeli-
um, das bruchstückhaft durch Zitate erhalten ist, wurde von der Gesamtkirche aber niemals an-
erkannt.
Durchgesetzt hat sich auf dem Konzil von Konstantinopel die Lehre der »drei großen Kappado-
kier«: Basilius, Metropolit von Kayseri (†379), Gregor von Nyssa († um 394) und Gregor von A-
rianz († 390).
Alles was Gott ist, sei schlechthin eines, undifferenziert, undifferenzierbare Einheit. Doch diese
Einheit realisiert sich in drei »Personen«, die real voneinander unterschieden sind, obschon alle
Realität in Gott eine bleibt. »Person« meint hier nicht einen modernen Personenbegriff (als Sub-
jektivität, Aktzentrum, Ich), denn in Gott gibt es nur ein Aktzentrum und eine Subjektivität (und
also nur ein »Ich«).
(7) Heute läßt sich die kirchliche Trinitätslehre nicht mißverständlich etwa so beschreiben:
Der im strengen Sinne eine und unveränderliche Gott hat sich im Verlauf der Heilsgeschichte auf
dreifache Weise den Menschen offenbar gemacht:
• als ursprungsloser Grund und nicht einholbares Ziel der menschlichen Geschichte (»Vater«),
• in Leben und Wort Jesu von Nazaret (»Sohn«) und
• in den Menschen, die in der Nachfolge Jesu lebend, seine Gebote (vor allem das der unbeding-
ten Liebe) halten (»Geist«).
Dieser dreifachen Selbstoffenbarung entspricht eine triadische Struktur Gottes, über die wir nichts
wissen noch wissen können, außer, daß sie der Grund für die triadische Form der Offenbarung ist.
In unserem Kontext interessiert vor allem die Rolle und die Funktion dessen, den die Heiligen
Schriften in Anlehnung an jüdische (»Geist Jahwes«) und griechische (Nous) Benennung den Hei-
ligen Geist nennen. Und das nicht aus Neugier, um die Aussagen des Konzils von Konstantinopel
»vernünftig« oder gar verständlich zu machen, sondern um dem näherzukommen, was es heißt,
wenn jemand sagt: »Gott ist die Liebe«.
Zunächst einige paulinische Texte:

Gott hat uns enthüllt durch den Geist (was Gott denen bereitet, die ihn lieben). Der
Geist ergründet nämlich alles, auch die Tiefen Gottes. Wer von den Menschen kennt
den Menschen, wenn nicht der Geist des Menschen, der in ihm ist? So erkennt auch
keiner Gott - nur der Geist Gottes. (1 Kor 2, 10-11)

So nimmt sich auch der Geist unserer Schwachheit an. Denn wir wissen nicht, worum
wir in rechter Weise beten sollen; Der Geist selber tritt jedoch für uns ein mit Seufzen,
das wir nicht in Worte fassen können. Und Gott, der die Herzen erforscht, weiß, was
die Absicht des Geistes ist: Er tritt so, wie Gott es will, für die Glaubenden ein. (Röm
8, 26-27)

Der Herr aber ist der Geist, und wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit. (2 Kor
3, 17)

Die Frucht des Geistes aber ist Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte,
Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung. (Gal 5, 22-23)

Gut vierzig Jahre später schreibt der Verfasser des Johannesevangeliums schon sehr viel reflek-
tierter und aus Funktionen auf etwas Subjekthaftes schließend:

Ich werde den Vater bitten, und er wird euch einen anderen Beistand geben, der für
immer bei euch bleiben soll. Es ist der Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfan-
gen kann, weil sie ihn nicht sieht und nicht kennt! Ihr aber kennt ihn, weil er bei euch
bleibt und in euch sein wird… Der Beistand aber, der Heilige Geist, den der Vater in
meinem Namen senden wird, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern,
was ich euch gesagt habe. (14, 17;26)

Wenn aber der Beistand kommt, den ich euch vom Vater senden werde, der Geist der
Wahrheit, der vom Vater ausgeht, dann wird er Zeugnis für mich ablegen. (15,26)

Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in die ganze Wahrheit
führen. Denn er wird nicht aus sich selbst heraus reden, sondern er wird sagen, was er
hört, und euch verkünden, was kommen wird. Er wird mich verherrlichen, denn er
wird von dem, was mein ist, nehmen und euch verkünden. (16, 13-14)

Man wird diesen Text aus den »Abschiedsreden Jesu« (einer apokalyptischen Darstellungsweise
also) auf seine logischen Implikate untersuchen müssen, um zu einer Theologie des Geistes zu
kommen. Die Ostkirche, deren Theologie sich immer wieder neu und unmittelbar an den Heiligen
Schriften orientiert und weniger ein Ergebnis einer Jahrhunderte währenden Reflexionsgeschichte
ist, hat denn auch so ihre Geist-Theologie sehr beeindruckend entfaltet, während sie im Westen
weitgehend in Trinitätsspekulationen unterging, so daß es noch vor wenigen Jahren möglich war,
vom Geist als dem »unbekannten Gott« zu sprechen.
In der Westkirche wurde die Lehre vom Geist meist zu einem Teil der Lehre vom Einfluß Gottes
auf die Menschen (der Gnadenlehre also). So setzt Petrus Lombardus († 1160) Geist und Gnade
gleich. Erst mit Joachim von Fiore († 1204) erneuert sich der Geist-Enthusiasmus mancher früher
Gemeinden. Joachim erwartet auf das Reich des Vaters (Zeit Jahwes) und des Sohnes (Zeit Jesu
und der Kirche), die Zeit des Heiligen Geistes als drittes Reich. Nach seinen Berechnungen sollte
es 1280 anbrechen. Der Geist-Enthusiasmus des Joachim hat dieses Jahr - und die wieder einmal
enttäuschte Naherwartung - um einige Jahrhunderte überlebt. Noch bis ins Heute lassen sich
Geist- bzw. Pfingstbewegungen aufweisen, die keineswegs ausschließlich auf die Freikirchen be-
schränkt sind. Als »Charismatische Bewegungen« rücken sie die Bedeutung des Heiligen Geistes
in Lehre, Amt, Organisation und Glaubenszeugnis wieder in den Mittelpunkt des allgemeinen
theologischen Interesses, aus dem er in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts verschwand.
Dafür wurde der Joachimismus durch Cola di Rienzo († 1354) ins Politische umgedeutet und be-
reitete so den politischen Messianismus der Neuzeit (Hitlerismus, Marxismus…) vor. Es läßt sich
eine ungebrochene wirkungsgeschichtliche Einheit vom Geist-Enthusiasmus Joachims über Hegel
und Schelling bis in die Gegenwart aufweisen, wo sie sich in allen möglichen Ausbrüchen ideolo-
gisch-politischer Intoleranz darstellt. Diese Einsicht sollte uns warnen, religiöse Einsichten unkri-
tisch in politische Forderungen umzusetzen. Sehr wohl aber ist gefordert, daß ein Politiker oder
Wirtschaftler, ein Arbeiter oder Arzt… seine christliche Überzeugung im politischen, ökonomi-
schen, sozialen Handeln realisiert. Christlich handeln heißt also nicht nach christlich-politischen
Maximen handeln (die gibt es nicht), sondern aus christlichem Geist nach politischem Maximen zu
handeln, wobei diese an christlicher Sittlichkeit ihre verbietende (also negative) Normierung erhal-
ten. Das soll bedeuten, daß eine politische Maxime (und ähnliches gilt auch für ökonomische…),
wenn sie ins praktische Handeln übersetzt, sich mit christlicher Sittlichkeit als unvereinbar erweist,
für einen Christen nicht akzeptabel ist (darüber mehr im Schlußkapitel).
Was hat das mit »Heiligem Geist« zu tun? Der Geist Jesu ist gleichsam die Außenseite des Göttli-
chen, das was von Gott, als dem allgegenwärtigen Weltgrund und Weltziel unter uns erfahrbar ist.
Das aber ist die Liebe, die Menschen einander geben.
Teilhard de Chardin versuchte in moderner Sprache von dem Ansatz »Gott ist die Liebe« her nicht
nur eine funktionale, sondern auch eine ontologische Theologie zu entwerfen. Dabei argumentiert
er etwa so:
Wenn Gott Liebe ist und Gott nicht unbedingt auf Welt hin orientiert ist, dann muß auch in Gott
das Prädikat »Liebe« gültig sein. Das aber bedeutet, daß wir in Gott eine Pluralität annehmen
müssen. Hier nun verwendet er eine der arabischen Mystik bekannte Metapher: Es muß in Gott
etwas geben, das liebt, etwas, das geliebt wird, und etwas, das die Verbindung zwischen beiden ist
(die Liebe). Das erste bezeichnen wir als »Vater«, das zweite als »Sohn« und das dritte als
»Geist«. Insofern dieser Liebesbezug nicht nur nach innen weisen kann (jede Liebe weist über den
Bezug Liebender - Geliebter hinaus), besteht für Gott die »Nötigung aus Liebe« zu schaffen. Die
Welt ist also eine Fortsetzung göttlicher Liebe ins Nicht-Göttliche - jedoch mit dem Ziel, in die
Gottheit heimzukehren (ohne ihren Eigenstand zu verlieren), denn Lieben ist Einigen. Dieses si-
cherlich hochspekulative Modell mag jedoch, da es in seinen Grundgedanken keineswegs auf
christliche Theologie beschränkt ist, als spekulative Darstellung der Trinitätslehre akzeptabel sein.
Ich denke jedoch, man sollte das Spekulieren über Gott bleiben lassen. (Es ist allenfalls aus apolo-
getischen Gründen gegenüber dem formulierten Dogma nötig.) Alles Reden über christliches
Sprechen von Gott geht in aller Regel modalistisch oder subordinatianistisch aus.
In der Vordergründigkeit der Erfahrung wird man durchaus modalistisch sprechen dürfen. Wir er-
fahren Gott als Liebe. Und diese Liebe hat verschiedene Weisen:
• Sie ist unser Grund, dem wir unsere Existenz, unser Leben, unsere Kraft verdanken. Sie ist un-
ser Ziel, auf das wir hin leben, ohne sie in ihrer völligen Unbedingtheit einholen (oder gar besit-
zen) zu können.
• Sie ist uns in Leben und Wort Jesu in ihrer Bedeutung erfahrbar und lebbar geworden. Jesus
hat uns den Weg gewiesen, um lieben zu können - und hat uns gezeigt, was »Liebe« bedeutet.
• Sie ist uns erfahrbar in zwischenmenschlichen Bezügen, in Zuwendung, Dankbarkeit, Verzei-
hung, Achtung, Zuvorkommenheit, Bescheidenheit… kurzum wir erfahren sie im Geist Jesu.
Insofern wir auch hier unbedingte Liebe als Grund, der bedingte Liebe trägt, und als Sehnsucht,
die uns in allem Lieben und Geliebtwerden begleitet, erfahren, begegnen wir auch hier Gott. Das
Erfahrbarste an Gott ist also das, was wir Geist nennen, den Entwurf der unbedingten Liebe in al-
ler bedingten. Hier erfahren auch Menschen Gott, die das Wort nicht schätzen und die die Jesus-
botschaft nicht akzeptieren oder nicht kennen. Der Weg über den Geist ist der zuverlässigste zu
Gott, wenngleich er auch kaum zu reflektierter Theologie führt. Diesen Weg zu zeigen und gang-
bar zu machen, ist das Ziel des Lebens und der Botschaft Jesu.

15. Kreuz und Leid


Bei aller paulinischen Kreuzesfrömmigkeit, sah Paulus doch im Tod Jesu am Kreuz das Urbild al-
ler christlichen Metanoia (Ablösung von sich selbst…), wäre das Christentum vermutlich niemals
zu einer Kreuzesreligion geworden, wenn Kaiser Konstantin es nicht dazu gemacht hätte. Seiner
Frömmigkeit war das Kreuz als Zeichen des Sieges an der Milvischen Brücke besonders nahe.
Und die Frömmigkeit der für die Kirche wichtigen Menschen hat zu allen Zeiten in sie hineinge-
strahlt.
Da die frühen Christen keineswegs sonderlich aufmerksam mit dem Kreuz Jesu umgegangen wa-
ren und es als verschollen galt (wenn sich jemand für seine Existenz interessiert hätte), schickte -
der Sage nach - Konstantin seine Mutter Helena nach Jerusalem, das Kreuz Jesu zu suchen. Er-
wartungsgemäß fand sie es. Über dem Ort, an dem das Grab Jesu vermutet wurde, ließ Konstantin
335 eine Basilika bauen, in der am 14. September, dem Tag der Kirchweihe, dem Volk zum ersten
Mal das Kreuz vorgestellt wurde. Mehrmals ging es inzwischen verloren. So etwa in einem Krieg
an die Perser, denen es Kaiser Heraklius 628 jedoch wieder abnahm und nach Jerusalem zurück-
brachte.
Da für die frühen Christen der Kreuztod Jesu durchaus eine erhebliche Bedeutung als Zeichen der
vollendeten Ablösung (metanoia) und Liebe (agape) hatte und damit als Grund und Urbild aller
Erlösung galt, könnte man meinen, sie hätten das Kreuz als Kultsymbol gewählt. Daran dachten
sie aber nicht auch nur im entferntesten. Es ist uns aus der Zeit vor Konstantin kein einziger Fall
bekannt, daß Christen das Kreuz als Jesussymbol oder als Symbol für irgendeine christliche Idee
verwandt hätten. Vermutlich sahen sie in der Jesusbotschaft die Erlösung vom Leiden und nicht
eine Verherrlichung des Leidens. Und das völlig zurecht.
Was Konstantin bewogen haben mag, das Kreuz zunächst als militärisches Siegeszeichen und
dann als Kultsymbol einzufahren, läßt sich allenfalls erraten.
35 Jahre vor dem Sieg an der Milvischen Brücke starb in Gundischahpur der große babylonische
Religionsstifter (iranischer Herkunft) Mani. Die von ihm begründete (heute ausgestorbene) Welt-
religion wurde im Babylonischen Reich (unter König Schapur I) zur Staatsreligion erhoben. Schon
bald dehnte sie sich von Spanien bis zur chinesischen Mauer aus - und zwar mit einer Anhänger-
dichte, von der die Christen nur träumen konnten. Diese Religion ließ den Menschen von einer
bösen Macht geschaffen sein, der, von Jesus über seine wahre Lage aufgeklärt, das Spiel des Bö-
sen durchkreuzen konnte. Die Ethik des Manichäismus ist außerordentlich rigoros und leibfeind-
lich (ja selbst weltfeindlich, da die Welt mit Ausnahme weniger Lichtelemente böse sei). Das Leid
erhielt eine positive Läuterungsfunktion.
Da die Anhänger nicht über eine solche negative Deutung ihrer Existenz zusammengehalten wer-
den konnten (die Destrudo ist auf die Dauer kein einigendes Band), stiftete Mani in seine Kirche
eine straff gegliederte Hierarchie ein.
Der Manichäismus konnte, obschon ihn die Christen seit dem 5. Jahrhundert meist lebhaft be-
kämpften, etwa im Uigurenreich (in NW China) im 8. Jahrhundert Staatsreligion werden, bis er
unter den anstürmenden Mongolen im 13. Jahrhundert auch hier sein Ende fand. Recht aktiv war
er auch unter der sehr toleranten Herrschaft des Islam bis etwa zur Jahrtausendwende, obschon er
im byzantinischen Reich selbst früh verschwunden sein mag.
Man kann nun durchaus annehmen, daß der sehr auf die Reichs-Einheit bedachte Kaiser in einem
mehr oder weniger bewußten Synkretismus manichäische Elemente in seine Vorstellungen vom
Christentum aufnahm, die er - als oberster Priester und als »Bischof für die äußeren Angelegen-
heiten der Kirche«, zu dem er sich selbst ernannte - auch in das Kircheninnen durchsetzte. Es ist
jedenfalls nur schwer erklärlich, wie sonst der Kreuzeskult so schnell und erfolgreich hätte einge-
führt werden können. Er ging eindeutig von Rom aus und nicht etwa von Jerusalem, wo das
Kreuz keineswegs in ähnlicher Weise als Schandmal galt wie im Herzen des römischen Reiches,
so daß es hier »eigentlich« leicht hätte Kultsymbol werden können.
Die Christen der ersten drei Jahrhunderte hatten durchaus Zeichen und Symbole ihres Glaubens:
den Fisch, den Hirten, Brot und Wein - aber niemals das Kreuz. Sie bildeteten Jesus ab als jungen
Mann, als guten Hirten mit einem Schaf auf den Schultern - Jesus am Kreuz, das war Blasphemie.
Erst nach der von Konstantin in Jerusalem geforderten Kreuzverehrung scheint es hier zu ersten
Nachbildungen (als Devotionale) gekommen zu sein. Konstantin starb 337 - aber erst um 350 fin-
den wir auf einem Sarkophag (dem heute im Lateranmuseum verwahrten Brüder-Sarkophag) ei-
nen fast schüchternen, ersten künstlerischen Hinweis auf die Passion Christi. Ab 400 erst wurde
das Kreuz langsam zum Kultsymbol und hielt Einzug in die Kirchen, nachdem es im Osten unter
Kaiser Theodosius um 390 als christliches Siegeszeichen etabliert worden war.
Wir dürfen durchaus annehmen, daß der Widerstand der frühen Christengemeinden gegen das
Kreuz als Symbol des Christentums oder gar als Symbol, unter dem Christus verehrt werden kann,
keineswegs in bloß praktischen Erwägungen gründete, sondern in religiösen. Widerstand und
Verachtung waren sie durchaus gewohnt. Jedenfalls so sehr, daß kaum anzunehmen ist, daß sie
auf Kult und Verehrung eines Symbols verzichtet hätten, wenn es ihnen wichtig gewesen wäre.
Es scheint, daß das Christentum mit oder durch die Adoption durch die Staatsmacht unter Kon-
stantin sich auch inhaltlich erheblich gewandelt haben muß. Dieser Wandel läßt sich nicht nur dar-
auf zurückführen, daß sich die Autorität in der Kirche in Analogie zu der des römischen Staates
zu organisieren begann. Das ist sicher durch die freundschaftliche Umarmung durch Konstantin
und der wachsenden Überzeugung von der eigenen politischen, staatstragenden und -erhaltenden
Bedeutung einerseits und den Einfluß der manichäischen Kirchenhierarchie andererseits erklärlich.
Sicher verändert ein solch radikaler Wandel der Autoritätsstruktur und des Verhältnisses zum so-
zio-ökonomischen Umfeld auch inhaltlich die Überzeugungen konkreter Christlichkeit, doch hier
geschah etwas Radikaleres: Die Christen begannen (durch die Übernahme manichäischer Leidens-
ideale?) Leiden - also auch das durch das sozioökonomische System verursachte - positiv als
Nachfolge Christi zu werten und sich nicht dagegen aufzulehnen.
Leid hat an sich keine positive Funktion, sondern ist Ausdruck des Übels, des Ungöttlichen, des
Lebens- und Liebewidrigen, des Unerlösten in Welt. Das Leiden Jesu ist Folge seines für alle
Christen exemplarischen Lebens der Selbstablösung und der Liebe. Wer Jesus in Selbstablösung
und Liebe folgt, der wird zwar »alltäglich sein Kreuz auf sich nehmen« müssen, aber er wird sich
niemals ins Leiden verlieben und in ihm selbst irgendeine Positivität erkennen. In dieser Weltzeit
scheint es unvermeidlich zu sein, daß ein Mensch in der Nachfolge Jesu Leiden erfährt, denn seine
Selbstablösung und seine Liebe werden mißverstanden, mißbraucht werden. Er wird gehaßt wer-
den, um seiner Liebe willen, die ihn anders sein läßt, als man von einem Menschen erwartet. Ja, in
dieser Weltzeit scheint es unvermeidlich zu sein, daß wir Menschen uns gegenseitig ungewollt
Leid zufügen. Leid wird zu einer Bedingung, unter der allein Menschsein möglich ist.
Aber man darf darüber niemals verlernen, Leid als Teil der Unerlöstheit zu sehen und es - soweit
als möglich - für sich und andere zu überwinden. Die »Welt des Leidens« ist der »Welt der Lie-
be«, dem Gottesreich also, völlig entgegen. Leid ist nicht an sich liebenswert und lebenswert, son-
dern der Liebe und dem Leben feindlich. Doch ein manichäistisches Ideal, nach dem alles Körper-
liche und Weltliche schlecht, und das Leiden eine positive religiöse Sache sei, ist noch immer nicht
ganz erloschen unter Christen. Sicherlich protestierten schon bald christliche Theologen gegen
diese Übernahme manichäistischen Denkens, doch oft wenig erfolgreich.
Im Abendland war es vor allem Augustinus, der in späteren Jahren mit dem Manichäismus hart
abrechnete und ihn zurückzuweisen suchte. Aber durchgreifenden Erfolg hatte auch er nicht. Mit
ihm beginnt vielmehr die Kluft zwischen Theologenreligion und Volksreligion im Westen erheb-
lich zu werden.
Die Einsichten der Theologie betrafen nicht mehr das allgemeine Bewußtsein. In der Volksreligion
und in ihrer praktischen Ausformung in der Volksfrömmigkeit finden sich bis ins Heute keines-
wegs nur versprengte manichäische Gedanken. Unter anderem auch der von der positiven Qualität
des Leidens - von dem mitunter gar gesagt wird, daß Gott es schicke.
Nur eine Ideologisierung des Leidens kann übersehen, daß es nur in seltenen Fällen zu einer Neu-
orientierung (metanoia) führt - worin allenfalls seine relative positive Bedeutung gesehen werden
kann. In den meisten Fällen führt Leiden zur Verzweiflung, zur Niedergeschlagenheit, zur Inakti-
vität - und vor allem: zum Tod der Liebe. Man kann kaum Christ sein, wenn man dies alles be-
grüßt. Ich hörte schon mitunter selbst von »frommen Christen« das Wort: »Der muß einmal sehr
auf die Nase fallen!« Ich denke, solches Wünschen entspringt dem Haß - als der Emotion, die das
Leiden des anderen will. Das aber ist lieblos und radikal unchristlich, selbst wenn der Wunsch ra-
tionalisiert wird mit der Notiz: »Ich will damit ja nur sein Bestes!«
Die Psychoanalyse bemerkte schon relativ früh (mit S. Freud), daß nicht wenige Christen die le-
benswidrige Einstellung von der Positivität des Leidens haben. Sie führte es in den weitaus meis-
ten Fällen zurück auf die Tendenz neurotischer Symptome, sich selbst zu erhalten. Neurosen sind
solche Situationen, in denen ein Mensch unter sich selbst (oder an sich selbst) leidet. Mir ist noch
niemals ein psychisch halbwegs Gesunder begegnet, der zum Leiden eine positive Einstellung hat-
te - also sein Vorhandensein begrüßte.
Selbstverständlich gibt es zahlreiche Angebote, Leidensfreude religiös zu rationalisieren. »Nach-
folge Jesu« ist eines davon. Ich denke, wir sollten lernen, alles Leid auf dieser Welt zu hassen und
mit allen unseren Kräften versuchen, es aufzuheben. Dabei werden wir an Grenzen stoßen. Nur
Weltteile, die Gottesreich entgegen sind, verbreiten Leid, ohne daß wir daran etwas ändern kön-
nen.
Unliebe und alles, was daraus hervorgeht, sind die wichtigsten Gründe des Leidens. Es wäre
falsch, das psychische und soziale Leid für geringer zu halten als das physische. Gerade das psy-
chische Leid mit seinen sozialen Komponenten verbannt Menschen in Verzweiflung, Einsamkeit,
Unfähigkeit zu lieben.
Mitunter wird Leid aber auch religiös rationalisiert durch das Argument: »Ich bringe mein Leid
zum Opfer dar«! Hier muß einiges Wenige zur christlichen Lehre vom Opfer gesagt werden.
Religionsgeschichtlich ist das Opfer eine der ältesten und wichtigsten Kultformen. Es werden
Pflanzen, Tiere, Menschen geopfert. Die römische Religiosität kannte sogar das Selbstopfer (de-
votio).
Das Judentum praktizierte zahlreiche Opferformen, doch war das Menschenopfer relativ selten (Ri
II, 39). Aus ähnlichen Gründen wie heute der Buddhismus oder der Dschainismus, lehnten viele
Propheten das Opfer ab und forderten die menschliche Tat (Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Ge-
horsam gegen Jahwes Gebote). Jesus folgte ihrem Beispiel. In keiner uns überlieferten Situation
fordert er Opfer, statt dessen ermahnt er zur Neuorientierung (metanoia) und Liebe.
Das schließt jedoch nicht aus, daß das Zeugnis der Heiligen Schriften stimmig ist, nach denen er
seinen eigenen Tod als Selbstopfer für die Erlösung der Menschen aus der Knechtschaft des Geis-
tes dieser an sich lieblosen Welt verstand. Es heißt da:

Schafft den alten Sauerteig weg, damit ihr neuer Teig seid. Ihr seid ja schon ungesäu-
ertes Brot; denn als unser Paschalamm ist Christus geopfert worden. (1 Kor 5, 7)

Christus wurde ein einziges Mal geopfert, um die Sünden vieler hinwegzunehmen;
beim zweitenmal wird er nicht wegen der Sünde erscheinen, sondern um die zu retten,
die ihn erwarten. (Hebr. 9, 28)

Das Christentum kennt also nur dieses eine Opfer. Ihm entspricht der Glaube in tätiger Liebe.
Selbst wenn nach katholischer Auffassung das Opfer Jesu seine kultische Vergegenwärtigung in
der Eucharistie findet, gibt es nach dem Opfer Jesu keine anderen Opfer mehr, die wir Gott
darbringen könnten. Diese deutliche Lehre der Heiligen Schriften hat sich jedoch - unter manichäi-
schem Einfluß? - keineswegs allgemein herumgesprochen. Noch immer »opfern« Menschen ihre
Leiden auf, ohne etwas dagegen zu tun, noch immer werden Kinder dazu erzogen, »Opfer zu
bringen«.
Wie aber soll der Christ fertig werden mit Leid, wenn ihm nicht der Trost bleibt, es »zusammen
mit Jesus als Sühne für die Sünden zu tragen« (so heißt eine klassische Formulierung christlicher
Volksfrömmigkeit)?
Ich denke, wir sollten lernen, Leiden und Schmerzen, physische und psychische in allen ihren Dar-
stellungen - von Schlaflosigkeit angefangen bis zu heftigsten Nervenschmerzen, von Lieblosigkeit
bis zur Enttäuschung, von Angst und Sorge bis hin zur Verzweiflung und Einsamkeit als Bedin-
gungen zu ertragen, unter denen Menschsein überhaupt nur möglich ist. Leidlosigkeit ist uns nicht
gegeben. Unsere Leidensfähigkeit liegt in unserer Menschlichkeit begründet und unser Leiden in
der Tatsache, daß wir in einer Welt leben, die ihre Entwicklung noch nicht zuende gebracht hat,
sondern unvollkommen und feindlich sein kann. Das sind zunächst keine religiösen Gründe - sie
sollten deshalb auch nicht religiös überhöht werden. Religiös sind die Leidensursachen allenfalls,
insofern diese Welt nicht als vollkommene, sondern vielleicht auf Vollkommenheit hin geschaffen
wurde. Leid ist ein Implikat von Weltlichkeit. Insofern wir in Welt leben, müssen wir leiden. Es
kann nur nützlich sein, wenn wir diesen Sachverhalt ohne jede Verbrämung akzeptieren. Das Le-
ben mit Lebenslügen (auch mit religiösen) ist auf die Dauer keineswegs leichter als ein Leben in
fundamentaler Ehrlichkeit gegenüber den eigenen Grenzen. Der durch Leiden beleidigte Narziß in
uns wird diese Unbill noch ins Große - ins Religiöse - zu steigern versuchen, um die eigene Größe
selbst noch im Leiden zu sichern und daraus herzuleiten. Das aber ist Lebenslüge.
Das soll jedoch keineswegs heißen, daß wir nicht dem Leiden auch eine positive Funktion abge-
winnen können. Diese aber hat es nicht in Sich, sondern sie wird ihn allenfalls durch uns gegeben.
So kann denn Leiden hilfreich werden, den Prozeß einer Neuorientierung des Lebensentwurfs zu
beginnen, die eigenen Werte kritisch zu überprüfen, eventuelle Kurskorrekturen zu planen, zu er-
kennen, was wesentlich ist und was unwesentlich.
Auch das, was mitunter ungut »Opfer« genannt wird, kann, wenn das Wort »Verzicht« bedeutet,
von erheblicher Wichtigkeit sein. Alle Umkehr setzt die Fähigkeit voraus, zu verzichten. Ja, alles
glückende Leben in dieser Welt ist nur möglich, wenn wir auf Konsum oder Anerkennung, auf Er-
folg oder Reichtum… verzichten können.
Über die christliche Haltung zum Leiden schreibt Paulus im 2. Brief an die Korinther:

Von allen Seiten werden wir in die Enge getrieben und finden doch noch Raum.
Wir wissen weder aus noch ein und verzweifeln dennoch nicht.
Wir werden gehetzt und sind doch nicht verlassen.
Wir werden niedergestreckt und doch nicht vernichtet.
Denn immer werden wir, obgleich wir leben, um Jesu willen dem Tod ausgeliefert,
damit auch das Leiden Jesu an unserem sterblichen Fleisch offenbar wird. (4, 5-11)

16. Einige Gedanken zu christlicher Praxis


Wie schon erwähnt, ist es nicht Aufgabe christlicher Moral, politische oder ökonomische Ent-
scheidungen zu kritisieren. Das hat den einfachen Grund: Politik ist ein Geschäft, das ähnlichen
Sachverstand einfordert wie alle anderen - ein Sachverstand, der nicht jedem Menschen gegeben
ist. Wohl aber kann christliche Moral Zielvorgaben nennen, die mit politischem, ökonomischem,
pädagogischem… Instrumentar erreicht werden sollen.
Das ist auch der Grund, warum die in diesem Kapitel dargestellten Gedanken eher aphoristisch
denn einzelwissenschaftlich begründet entwickelt werden. Was die Theorie und die theoretisch
begründete Praxis daraus machen, indem sie zu konkreten Entscheidungen führen, ist nicht Sache
eines Buches, dessen Anspruch und Interesse ausschließlich religiös ist. Dieses Interesse legt es
jedoch nahe, nicht nur positive Zielvorgaben zu nennen, sondern auch negative. Das formale Ziel
aller dieser Verweise ist das Wachsen des Gottesreiches. Wenn etwas mittelbar oder unmittelbar
nichts damit zu tun hat, kann ein Christ sich nach Maßgabe seines Gewissens ohne Vorgaben
durch seine Religiosität so oder anders entscheiden.
Ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit oder Unbedingtheit will ich einige grundsätzliche Über-
legungen aus den Bereichen Politik, Wirtschaft und Pädagogik vorlegen, die aus christlich sittli-
chen Erwägungen hergeleitet sind. Dabei wird nicht immer der formale Bezug auf ein christliches
Menschenbild vorgestellt werden - in aller Regel ist er evident.
Die Auswahl der drei Gebiete erfolgte nach dem Gesichtspunkt der verbreiteten Hilflosigkeit des
Einzelnen vor den konkreten Ansprüchen aus Politik, Wirtschaft und Erziehung. Sie sind für die
meisten von uns Vorgaben, die nicht oder nur beschränkt in Frage gestellt werden können. In ih-
nen manifestiert sich das sozio-ökonomische (und das sozio-kulturelle) System, das in aller Regel
eine unabweisliche Vorgabe jeder singulären Entscheidung ist. Humanität ist aber nur lebbar,
wenn die Agenten dieser Systemfunktionen (Politik, Wirtschaft, Erziehung) ihre Tätigkeit (nicht
selten also den Transfer von Systemzwängen in individuelles Leben) human gestalten. Ist das auf
die Dauer nicht möglich, müßte das System geändert werden. Ich gehe hier aber einmal von der
durchaus bestreitbaren Annahme aus, daß ein humanes Leben innerhalb des bestehenden Systems
mit einiger Mühe möglich ist.
Oberflächliches Hinschauen mag vermuten lassen, es sollten hier Grundzüge einer christlichen E-
thik entworfen werden. Das ist nicht der Fall. Isolierter Moralismus ist wirkungslos. Sittliche
Normen sind nur dann praktikabel, wenn sie eingebettet sind in einer allgemeinen und umgreifen-
den Erklärung von Ich, Welt, Gesellschaft wenn sie also Teil eines Weltbildes sind. Normentrans-
fer ist ganz sicher kaum möglich, wenn dieser Transfer nicht im Kontext einer religiösen (oder
quasireligiösen) Weltsicht vonstatten geht. Ich werde mich also fragen müssen, ob meine Vor-
schläge zu christlichem Handeln im Kontext konkreter europäischer Weltbilder ihren Ort haben.
In einer Welt, die sich nicht christlich interpretiert, scheinen christlich-sittliche Normen anachro-
nistisch, in jedem Fall aber nicht praktikabel zu sein.
Für uns Europäer gilt jedoch, daß unser Weltbild, unsere ursprünglichen und selbstverständlichen
Einstellungen zur Welt, Geschichte, Gesellschaft und uns selbst von christlichem Denken geprägt
sind, so daß christliche Normen greifen können.
Zum anderen zeigt sich, daß das Bild von Humanität, das Philosophen, Psychologen, Sozialwis-
senschaftler… im europäischen Kulturraum entwickeln, christlichen Vorstellungen vom Menschen
oft sehr nahe kommt. Humanität ist also, wo auch immer sie sich in diesem Kulturkreis zur Spra-
che bringt, christlich verständlich und kann im christlichen Vorstellungsrahmen diskutiert werden.
Zudem bitte ich den Leser zu beachten, daß die im folgenden gegebenen Hinweise keinerlei nor-
mative Kraft für sich beanspruchen, sondern nur als in moderne Sprache gebrachte Weiterführun-
gen des Vorhergehenden sein wollen.

a) Zu Fragen der Politik


»Politik« bezeichnet die Menge der Maßnahmen der öffentlichen Gewalt mit dem Ziel, über die
Gestaltung des öffentlichen Lebens die Grundrechte der Bürger zu schützen, ihre Grundpflichten
einzumahnen und die Stabilität des sozio-ökonomischen Systems zu sichern (von dem aus sich in
aller Regel Rechte und Pflichten der Bürger definieren). Politische Entscheidungen und Handlun-
gen haben also stets der Mehrzahl der Menschen in einem politischen Sozialgebilde zu dienen, oh-
ne daß Minderheiten in ihren Rechten beeinträchtigt werden. Diesen Anspruch zu erfüllen setzt
ein hohes Maß sittlicher Urteilskraft und Kenntnisse über politische, ökonomische, soziale, psy-
chische… Zusammenhänge voraus.
Besonders problematisch kann die dritte der genannten politischen Funktionen (Stabilisierung des
sozio-ökonomischen Systems) werden. Hier versucht nicht selten ein sozio-ökonomisches System
mit den Mitteln der Politik Zwänge auszuüben, die den objektiven Interessen (Bedürfnissen,
Rechten…) der Menschen und Gruppen innerhalb des Systems zuwider sind. Das gilt sowohl für
den Schutz des Systems nach Innen wie nach Außen. Von Außen kann ein System gefährdet sein
durch »fremde« Politik (etwa eines anderen Staatsgebildes) aber auch durch »fremde« Ideen (etwa
Ideologien, die Strukturen des bestehenden Systems [etwa die der Herrschaft oder die des Eigen-
tums) gefährden. In diesen Situationen kann es zu Güterabwägungen kommen, die eine Mehrzahl
alternativen Entscheidungen sittlich vertretbar erscheinen lassen.

(1) Über den Faschismus


»Politischer Faschismus« bezeichnet hier eine sich in Entscheidungstendenzen der führenden Poli-
tiker niederschlagende Neigung eines sozialen Systems, sich selbst zum höchsten zu schützenden
Rechtsgut zu machen. Im Grundgesetz der BR Deutschland erscheint die Würde des Menschen
(des immer einzelnen) als höchstes zu schützendes Rechtsgut. Wenn ein Staat durch seine Organe,
um seines eigenen Bestands willen, die Würde von Menschen grundsätzlich (etwa durch seine Ge-
setze oder seine gewöhnliche Rechtssprechung) verletzt, ist er faschistisch. Ein faschistischer
Staat (oder auch nur ein faschistoider, der bei Bedrängnis dazu tendiert, faschistische Strategien
zu verwenden) ist christlich-sittlich nicht akzeptabel, weil hier eine Institution, die für Menschen
da ist, sich gegen Menschen stellt und für sich dazusein beginnt.

(2) Über die Bürokratie


Als 1745 V. Seigneus de Gournay diesen Begriff prägte, meinte er damit ein Verwaltungssystem
mit strenger Funktionsbegrenzung der Funktionsinhaber und der Tendenz der Verselbständigung
der Funktion. Diesen Begriff führen wir heute zumeist weiter, insofern unter »Bürokratie« die e-
xekutive Funktion im politischen, ökonomischen, militärischen, kirchlichen… Bereich verstanden
wird, die Systeminteressen wahrnimmt und durchsetzt. Die Mitglieder der Bürokratie orientieren
sich in aller Regel an einem möglichst vollständigen Netz von Gesetzen, Verordnungen, Anord-
nungen… und suchen sie - als Agenten eines Systems ohne erhebliche Ermessensspielräume -
durchzusetzen. Bürokraten sind also die Exekutivorgane eines Systems, das durch sie seine ano-
nyme Herrschaft zwanghaft ausübt. Der Bürger erfährt im bürokratischen Apparat die anonyme
Gewalt des Systems, gegen die er sich nicht wehren kann, weil sie keinen Namen und kein Gesicht
hat. Der Agent ist unschuldig an den Zwängen, die er ausübt. Er ist selbst erheblichen Zwängen
ausgesetztes Vollzugsorgan des Systems.
Eine solche Bürokratie ist aus mancherlei Gründen einer christlichen Sittlichkeit zuwider:
• Hier stehen nicht personale Interessen, Bedürfnisse, Erwartungen im Mittelpunkt, sondern die
Herrschaft eines gesichtslosen Systems über den Bürger. Es ist nicht mehr deutlich, daß es für
den Bürger da ist - und nicht etwa der Bürger um seinetwillen.
• Die Interaktionsmuster zwischen Menschen werden oft inhuman versachlicht.
• Die Angst des Individuums vor einem nahezu allmächtigen Apparat wird zum Instrument der
Ausübung von Herrschaft.
• Diese Form der Herrschaftsausübung korrumpiert beide: den so Herrschenden (den Bürokra-
ten, der seine infantilen Allmachtsträume realisiert), wie den Beherrschten (der in der Instituti-
on seinen natürlichen Feind zu sehen beginnt).

(3) Über Feinde


»Feindschaft« bezeichnet eine soziale Beziehung, die durch Feindaggressivität bestimmt wird.
Feindaggressivität ist in aller Regel eine Form der Vernichtungsaggressivität. Das Den-Feind-
vernichten-Wollen kann sehr verschieden aussehen. Stets aber wird es bewußt, als Wunsch oder
gar als Aktivität (Handeln, Sprechen…), dem anderen physisch, psychisch, materiell, sozial… zu
schaden. Haß ist also wichtige Ausdrucksform der Feindaggressivität. Ganz offensichtlich kann
ein Christ weder private noch - als Mitglied einer Gruppe oder Gesellschaft - kollektive Feinde
haben (mögen das nun Personen oder soziale Gebilde sein). Das Jesusverbot des Hassens ist völlig
eindeutig und kennt keinerlei Ausnahmen oder beschränkende Bedingungen. Wer sich seinem Haß
überläßt oder aus seinem Hassen heraus handelt oder auch nur denkt, versagt sich dem zentralen
Anspruch der Christlichkeit. Zugegeben: Es kann durchaus sein, daß wir in unserer Kindheit lern-
ten, auf bestimmte Erfahrungen mit Haß zu reagieren. Diese Reaktion ist nun autonom geworden
- untersteht also nicht mehr unserer Einsicht oder unserem Wollen. Wohl aber können wir selbst
dann verhindern, aus solchem Hassen heraus zu denken, zu planen, zu sprechen, zu handeln.
Christlich nicht akzeptabel sind nun alle politischen Aktivitäten, die dazu führen, daß Menschen
andere Menschen (aus gleich welchen Gründen) hassen. Jede Form kollektiver Verhetzung kann
nicht geduldet werden, selbst wenn sie Staatsfeinde (früher einmal Juden und Kommunisten, heute
etwa Terroristen oder Anarchisten) betrifft. Christliche Sittlichkeit fordert zudem, über das Ver-
bot des Hassens hinaus, positiv bedingungsloses Verzeihen. Ein so großes individuelles oder kol-
lektives Unrecht kann es nicht geben, daß das Verweigern der Verzeihung gerechtfertigt wäre.
Das soll nun keineswegs heißen, daß wir Menschen keine Konflikte miteinander haben und aus-
tragen sollten. Gerade lang niedergehaltene und nicht ausgetragene Konflikte führen in erhebliche
Dispositionen zur Feindaggressivität und steigern die allgemeine Konfliktappetenz. Aber wir müs-
sen unsere Konflikte als Gegner austragen. »Gegner« ist ein Partner in sozialen Interaktionen, der
nicht mit negativen Emotionen (Neid, Haß, Wut…) bedacht ist. Ein Konfliktpartner wird immer
Gegner sein. Diese Form der Konfliktfähigkeit muß unbedingt vermittelt werden - und hier geht
eine Aufforderung an das bei uns politisch mitbestimmte Ausbildungssystem. Die Bildung zur
Konfliktfähigkeit ist ein dringender Anspruch humaner Christlichkeit, den Christen einfordern
müssen. Das Überleber der Menschheit - zumindest aber einer humanen Menscheit - hängt davon
ab, ob es uns gelingt, Feindaggressivität auszumerzen und Konfliktfähigkeit zu bilden.

(4) Über den Frieden


Der Frieden als ein durch Rechtsverhältnisse in, von und zwischen Staaten geregelter Zustand ist
eine ursprünglich von I. Kant formulierte Vorstellung des 19. und 20. Jahrhunderts. Im AT meint
»Frieden« das intakte Funktionieren einer Gemeinschaft als Gabe Gottes. Das NT nennt die Je-
susbotschaft Grund des Friedens, ihn zu bringen ist Jesus in die Welt gekommen.
Ganz offensichtlich ist Voraussetzung des großen politischen und sozialen Friedens der kleine
Friede; der Friede des Menschen mit sich selbst und seiner unmittelbaren Mitwelt. Daß das kein
»fauler Friede« ist, hat Jesus immer wieder betont: Den faulen Frieden zu zerstören, sei er ge-
kommen. Aber es gibt einen Frieden des Menschen, der in seinem Grund mit sich eins ist - viel-
leicht gar eins ist mit seinem Grund. Es ist das der Friede dessen, der unbedingt lieben lernt und
sich schon unbedingt geliebt weiß. Diesen Frieden kann ihm niemand nehmen.
Es scheint ein Irrtum zu sein, daß in einer Welt voll inneren (psychischen und mikrosozialen) Un-
friedens der große möglich sein könnte. Den Frieden lernen können wir Menschen nur in unserer
unmittelbaren Erfahrung mit uns selbst und den Menschen um uns. Lernen wir hier sinnvoll mit
Konflikten zu leben und sie im Sinne einer Realitätsannäherung (konstruktiv also) aufzulösen,
werden wir zunehmend unfähiger, den Sinn irgendwelchen großer Formen des Unfriedens zu ver-
stehen. Wir werden lernen, daß wir Systemerhaltungszwängen, die uns in Kriege führen, wider-
stehen müssen, wenn wir den Frieden, den großen wie den kleinen, bewahren wollen.
Die Bildung zum Frieden ist zwingende Voraussetzung dafür, daß keine politische Aktion in den
Unfrieden oder gar in Kriege führt.
Nicht die Kunst der Politiker wird uns endlich den Frieden geben und den Krieg meiden lassen,
sondern die Unfähigkeit der vielen zu hassen. Solange Menschen hassen, sind sie letztlich bereit
auch zum Krieg. Es gilt dann nur den Haß zu kollektivieren, d.h. ihn auf ein Objekt hin zu bün-
deln.
Daß dies niemals geschehen darf in einem Staat, der sich irgendwie christlicher Sittlichkeit ver-
pflichtet weiß, ist offensichtlich. Ein Staat, der das Hassen lehrt oder gar fordert, ist radikal un-
christlich und kann von einem Christen nicht akzeptiert werden.

(5) Über den Schutz des Hilflosen


Es gibt zahlreiche Formen der Hilflosigkeit, Zustände also, bei denen Menschen anderen Men-
schen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. Ganz offensichtlich ist es einer der wesentlichen
Staatsfunktionen, dafür zu sorgen, daß die Hilflosen vor Ansprüchen geschützt werden, welche
die Wahrnehmung ihrer Grundrechte mindern.
Formen der Hilflosigkeit mögen sein:
• das embryonale menschliche Leben, das - weil noch nicht sozial integriert - schutzlos der physi-
schen Vernichtung ausgeliefert sein könnte,
• das physische und soziale Leben des Kleinkindes, das von unerfahrenen Erziehern irreparabel
geschädigt werden kann,
• das physische und soziale Leben von Kindern und Jugendlichen, das ideologisch manipuliert
werden und so nachhaltig geschädigt werden kann,
• das (physische, psychische und soziale) Leben der Armen, Alten und Kranken, das durch Ver-
einsamung und Verwahrlosung, durch Verzweiflung und Sinnlosigkeitserfahren gefährden oder
gestört sein kann,
• die des Arbeitnehmers vor der ausbeutenden Willkür dessen, den ein sozio-ökonomisches Sys-
tem zwingt, maximale Gewinne zu erwirtschaften,
• die des Soldaten, der dem Ehrgeiz (auch dem kriegerischen) seiner Vorgesetzten ausgeliefert
sein kann…
Die Liste der Hilflosigkeit und Hilfsbedürftigkeit ist nahezu beliebig zu verlängern. Hier ist der
Staat immer dann gefordert, wenn familiäre Strukturen oder solche freier Assoziationen (etwa der
Gewerkschaften) versagen.
Nicht selten kann man hier einem erheblichen Denkfehler begegnen:
Der Schutz des durch die politischen und ökonomischen Aktivitäten unseres sozio-ökonomischen
Systems produzierten »Ausschusses« (es sind immerhin mehr als 20% der Menschen, die vor den
Systemansprüchen physisch, psychisch, sozial, moralisch… versagen und nicht voll integrierbar
sind), obliegt keineswegs etwa den Kirchen. Primär und zunächst ist der Staat verpflichtet,
• die Strukturen so zu ändern, daß möglichst wenig Menschen ausgeschlossen werden,
• den Ausgeschlossenen aber mit allen seinen Machtmitteln und Ressourcen zu helfen.
Ein Staat, der hier versagt, entspricht wiederum nicht christlicher Sittlichkeit, denn er nimmt ganz
offensichtlich irgendwelche sekundären Formen seiner Funktionen wichtiger als die primären.
Ein anderes Mißverständnis beschränkt die Hilfe des Staates nahezu ausschließlich auf den Schutz
des physischen Lebens. Im Sinne einer christlichen Lehre vom Menschen ist aber diesem physi-
schen Lebensaspekt durchaus gleichgeordnet der soziale und psychische, wennschon mit dem En-
de des physischen Lebens auch das soziale und psychische endet.

(6) Über die Freiheit


Politische (und ökonomische) Freiheit sind bestimmt durch das Fehlen von inneren und äußeren
Zwängen, die zur Disposition von Menschen oder Systemen stehen. Sicherlich gibt es notwendige
und unvermeidbare Zwänge, die mit der Einbindung der meisten Menschen in Geschichte, Welt,
Gesellschaft, Zeit… gegeben sind. Aber es gibt auch eine Fülle von überflüssigen. Und hier hat
der Staat die größtmögliche Freiheit der meisten zu schaffen, ohne daß die Freiheit der Minderheit
mehr als zulässig und zwingend nötig eingeschränkt würde. Freiheit ist eine unmittelbare Folge
der Würde, die zu schützen höchste Aufgabe aller staatlichen Gewalten ist.
Mitunter wird Freiheit als Fehlen oder Mindern äußerer Zwänge verstanden. Und viele Menschen
fallen auf ein Staatswesen herein, das ihnen durch vergleichsweise geringe äußere Zwänge das Ge-
fühl von Freiheit gibt. Dieses Gefühl aber ist nicht tatsächliche Freiheit, das Vermögen also, sich
selbst zu verwirklichen. Sehr viel häufiger sind der menschlichen Würde und ihrem Anspruch auf
Selbstverwirklichung innere Zwänge entgegen. Ich vermute, daß solche inneren Zwänge auf die
Dauer mehr entmenschlichend wirken als bloß äußere.
Die Minimalisierung äußerer Zwänge kann durch eine liberale Gesetzgebung, Rechtsprechung und
Verwaltung erreicht werden. Die der inneren Zwänge aber nur durch Schaffung positiver Räume
der Entfaltung von Spontaneität, Initiative, Autonomie. Insofern solche Freiräume nur beschränkt
von Gruppen und Gesellschaften angeboten werden, wird der Staat dafür sorgen müssen,
• daß Institutionalisierungen und Ritualisierungen möglichst gering bleiben und
• Institute, die über innere Zwänge Menschen zu institutionsgerechtem Verhalten nötigen wol-
len, beaufsichtigt und gegebenenfalls korrigiert werden.
Der Schutz der Menschenwürde, die durch innere Zwänge, von wem auch immer sie ausgehen
mögen, gefährdet ist, ist Sache des Staats, wenn sie anders nicht gewährleistet werden kann.
Wenn in Parteien, Kirchen, Gewerkschaften oder anderen gesellschaftsrelevanten Organisationen
innere Zwänge vermittelt werden, kann Humanität ernsthaft gefährdet sein - und niemand schützt
den Betroffenen - er selbst kann sich nicht schützen, da er oft nicht die innere Freiheit hat, den
zwangausübenden Gesellschaften den Rücken zu kehren.
So sehr in den letzten Jahrzehnten in vielen OECD-Ländern die äußeren und inneren Zwänge zu-
genommen haben, mit denen der Staat seine Bürger diszipliniert, so sehr ist er der Inhumanität
verdächtig. Die Staatszwänge sollten sich in Zukunft mehr auf Gruppen und Organisationen rich-
ten, die über ihre Mitglieder Herrschaft ausüben. So wenig Staat wie möglich gegenüber Individu-
en, soviel Staat als nötig gegenüber Organisationen. Nicht Individuen bedrohen heute den Staat in
seinem humanen Auftrag, sondern Gruppen, Organisationen, Gesellschaften. Die Freiheit des Ein-
zelnen zu sichern, enthält nicht nur einen Unterlassungsauftrag an den Staat, sondern auch ein po-
sitives Gebot, das notfalls durch Beschränkung von Freiheiten etwa juristischer Personen oder von
Interessenverbänden gleich welcher Zielrichtung und Absicht durchgesetzt werden muß.

(7) Über den Fortschritt


»Fortschritt« ist in den Sozialwissenschaften ein verpöntes Wort. Wer es verwendet, ist des Dar-
winismus verdächtig - also einer biologischen Theorie, nach der die Natur ihre Probleme so löst,
daß schließlich immer »fortschrittlichere« Organisationen entstehen. Diese Übertragung darwinis-
tischer Vorstellungen in den Raum des Politischen und Sozialen ist sicher unangemessen.
Immerhin ist der darwinistische »Fortschritt« nicht final. Er bedeutet kein Fortschreiten auf ir-
gendein Ziel hin (es sei denn das einer allgemeinen Steigerung der Komplexität). Nun gibt es Fort-
schrittstheoretiker, die an ein politisch machbares Ziel der humanen Evolution glauben und andere
Menschen zwingen wollen, ihren Vorstellungen zu folgen. Der Missionarismus der Marxismen
mag hierher gehören. Dieser finale Fortschritt ist nicht identisch mit dem liberalen Fortschrittsver-
stehen (das dem darwinistischen nahe steht). Deshalb aber keineswegs unbedingt besser.
Wir können heute nicht sagen, wo der sich selbst überlassene »Fortschritt« der Menschen endet.
Es scheint gute Chancen zu geben, daß eine Menschheit, die das ABC des Todes nicht nur stam-
melt, sondern perfekt beherrscht, in infantiler Aggressivität sich einmal selbst vernichten wird. Um
das zu verhüten, bietet das Christentum Strategien an, die - wie ich vermute - die einzigen sind,
die uns zur Verfügung stehen: Durch das Vermeiden von Lebenslügen in der Ablösung und von
Feindaggressivität in der Liebe wählt es zwei Strategien, deren Vollendung auch schon das Ziel
sind: Gottesreich ist - wie gesagt - nichts anderes als die totale Verwirklichung dieser Strategien.
Evolution von Gesellschaft oder Menschheit ist also vor dem Anspruch christlicher Sittlichkeit
sehr wohl final. Aber diese Finalität ergibt sich unmittelbar aus der Anwendung von Strategien,
deren Humanität niemand bestreitet.
Unsere westlichen Staatsgebilde agieren erschreckend afinal. Sie ähneln in ihrem Fortschreiten
Schlafwandlern, die zwar einzelne Widerstände überwinden, nicht aber um das Ziel wissen, wohin
das Fortschreiten führen soll. Das scheint mir arational zu sein. Die Arationalität des Systems (das
niemals ein Großhirn hat, und von dem nur sehr fromm-naive Menschen annehmen können, daß es
göttlichen Willen offenbare) scheint Verhaltensmuster nahezulegen, die afinal sind. Politik wird
zum Liebesdienst an einem System, dessen Mechanismen wir nicht durchschauen und dessen
Herrschaft wir uns zunehmend hilfloser ausliefern. Das ist nicht sonderlich vernünftig und erst
recht nicht christlich.

(8) Über die Wirtschaft


Daß in unserem sozio-ökonomischen System Wirtschaft und Politik existentiell aufeinander ver-
wiesen sind, kann kaum bezweifelt werden. Ein ökonomischer Kollaps gefährdet den Bestand die-
ses Staates und der Bestand des Staates sichert der Ökonomie sichere Abläufe im Bereich von
Herrschaft und Eigentum. Eine marktwirtschaftliche Ordnung auf der Grundlage von Privateigen-
tum an Produktionsmitteln ist heute nur lebensfähig durch massive Interventionen des Staates
(etwa im Bereich der Kartellgesetzgebung, der Finanz- und Geldpolitik, der Subventionspoli-
tik…). Wegen dieser Abhängigkeit hat der Staat durchaus ein (wenn auch beschränktes) Auf-
sichtsrecht über mikro- und makro-ökonomische Prozesse und Entscheidungen. Alle Entschei-
dungen, auch aus bloß ökonomischen Gründen, haben Folgen im Bereich des Nicht-
Ökonomischen (etwa des Politischen, des Sozialen, des Ökologischen…). Deshalb kann das Auf-
sichtsrecht des Staats erheblich werden. Es wird um so erheblicher und dringlicher sein müssen,
als unser sozio-ökonomisches System sich zuerst und zunächst über ökonomische Abläufe dar-
stellt und somit also Systemzwänge sehr ungehindert auf ökonomische Entscheidungen (im Sinne
der Systemerhaltung im Mikro- oder Makrobereich) durchschlagen können. Die Systemarationali-
tät ist im Marktgeschehen evident größer als im politischen Entscheidungsgeschehen, obschon
auch hier die arationalen Zwänge wachsen.
Seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gibt es in den USA eine starke Anbindung der
Politik an ökonomische Bedürfnisse, so daß Sittlichkeit allenfalls außenpolitisch oder sozialpoli-
tisch (wenn nicht ökonomische Interessen berührend) dargestellt werden kann. Viele staatliche
Aktivitäten sind solche von Agenten des sozio-ökonomischen Systems. Diese »amerikanische
Krankheit«, die den Staat in weiten Bereichen zum Büttel national-ökonomischer Interessen
macht, droht sich auch in Europa auszubreiten - auch in der BR Deutschland.
Hier kommt es darauf an, daß sich die staatlichen Gewalten von den ökonomischen Zwängen ab-
lösen und nach politischen und ethischen Gesichtspunkten - auch gegen ökonomische Interessen
entscheiden können. Hier werden in der Umweltpolitik Emanzipationsversuche des Politischen
vom ökonomischen Anspruch deutlich und erheblich.
(9) Über das Gewissen
Obschon das Wort »Gewissen« (synéidesis) in den Evangelien nicht vorkommt, wird es doch häu-
figer (30 mal) in der Apostelgeschichte und den Briefen verwendet. Es bezeichnet hier das einer
Handlung (oder auch die Vorstellung einer Handlung) begleitende Bewußtsein über deren sittliche
Qualität. Diesem Gewissen ist unbedingt zu folgen. Der Christ ist frei, nach seinem Gewissen zu
handeln, selbst wenn es im Gegensatz zu dem anderer steht (1 Kor 10, 29). Offensichtlich begrün-
det also das Urteil des Gewissens die sittliche Verpflichtung.
Heute unterscheidet man zumeist einen doppelten Aspekt im Gewissen:
• Die Vermittlung sittlicher Normen, die es selbst nicht schafft. Sie sind ihm vielmehr auf Grund
persönlicher Entscheidungen (sittliches Gewissen) oder durch erziehende Vermittlung (konven-
tionelles Gewissen) vorgegeben (norma normata).
• Die Motivation, der Handlungsbewertung auch zu folgen (norma normans).
In der BR Deutschland ist die Freiheit des Gewissens als unverletzliches Grundrecht garantiert
(GG 4, 1). Dieses Grundrecht wird in zwei Kontexten ausdrücklich genannt:
• Bei der Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe (GG 4, 3 und 12a).
• Bei der Gewissenbindung der Bundestagsabgeordneten bei Entscheidungen (GG 38)
Im ersten Fall sucht der Staat so gut als möglich seinem Verfassungsauftrag gerecht zu werden,
wenngleich er sich zweifelsfrei zuviel zumutet, wenn er durch seine Instanzen feststellen will, ob
sich ein Mensch zurecht oder zu Unrecht auf sein Gewissen beruft. Im zweiten Fall versagt er je-
doch vollständig und untergräbt damit die Grundlagen der Parlamentarischen Demokratie. Nicht
selten werden, von Verfassungsgerichten durchaus toleriert, auf Abgeordnete offene und ver-
steckte Zwänge ausgeübt, die praktisch einem Fraktionszwang gleichkommen. Das ist verfas-
sungswidrig. So wird unsere Grundrechtsordnung mehr gefährdet und gestört als durch Aktivitä-
ten etwa von Terroristen oder anderen offenen Staatsfeinden. Die wesentlichen Entscheidungen
werden heute außerparlamentarisch vorbereitet (in Ausschüssen, Parteien, Fraktionen, Kabinett).
Das Parlament wird oft zu einem bloßen Ratifizierungsorgan dieser Gremien degradiert. Es ist so-
gar möglich, daß ein Bundestagsabgeordneter offen getadelt wird, wenn er, unter Berufung auf
sein Gewissen, entgegen einem Fraktionsbeschluß abstimmt. Da keine der tatsächlich über das
Schicksal von Gesetzesvorlagen entscheidenden Gremien eine unmittelbare demokratische Legi-
timation besitzt, und zudem es auch mit der innerparteilichen Demokratie eher schlecht als recht
bestellt ist, wird der Bürger das Gefühl haben müssen, in seinen Wahlaktivitäten genasführt zu
werden.
Daß die konkrete legislative Praxis unseres Bundestages oft zutiefst verfassungswidrig ist, mag
noch hingehen (denn jeder Staat hat das Recht, sich selbst durch seine Organe zugrunde zu rich-
ten). Nicht aber tolerabel ist der Gewissenszwang, der auf Abgeordnete mittelbar oder unmittelbar
ausgeübt wird. Hier denunziert sich unsere Demokratie als unsittlich.
Somit wird also ein Christ die Forderung an das demokratische System unserer Republik stellen,
daß eine Bundesregierung mit wechselnden Mehrheiten aus verschiedenen Parteien regieren kön-
nen muß. Daß damit das Regieren schwieriger wird, ist unvermeidlich. Aber es ist nicht die Auf-
gabe des Parlaments oder des Verfassungsgerichts, Regierungen das Regieren zu erleichtern. Es
gibt durchaus Länder (etwa der Schweiz), in denen ein Regieren mit nicht parteifixierten Mehrhei-
ten durchaus funktioniert.
Gelänge es, die parlamentarische Demokratie in der BR Deutschland einzuführen, dann hätte das
durchaus zur Folge, daß die fatale Parteienkonkurrenz, wie sie etwa in Wahlversprechungen und
Wahlbeleidigungen deutlich wird (die durchaus beredtes Zeugnis vom inneren Zustand unserer
Demokratie ablegen) verschwende. Zugleich würden im wesentlichen ideologisch begründete Be-
schlüsse zugunsten realpolitisch verantworteter zurückgedrängt werden. Kurz: Der mehrheitliche
Wille des Volkes würde auch in der einzelnen Gesetzesentscheidung erheblich werden können.
Damit soll nicht gesagt werden, daß die parlamentarische Demokratie die einzige für einen Chris-
ten tolerable Regierungsform sei. Nicht tolerabel ist aber eine Verfassung, die nicht in Praxis die
Gewissensfreiheit des einzelnen Bürgers sichert. Für die Staatsform gilt durchaus Entsprechendes,
wie das zum Thema Wirtschaftsform zu Sagende: Sie muß den objektiven politischen und öko-
nomischen Bedingungen und Bedingtheiten eines Staatsvolkes entsprechen. Tut sie das nicht,
werden unnötige Zwänge auf Bürger ausgeübt, oder das Staatswesen ist instabil. Beides erscheint
nicht wünschenswert und kann christlicher Sittlichkeit entgegen sein.
Im Folgenden werde ich einige Postulate christlicher Sittlichkeit an die Wirtschaft vorstellen. In-
sofern sie sehr oft nicht in der Lage sein wird, gegen Systemzwänge solchen Postulaten zu folgen,
wird ein Christ seinen Staat zu bewegen versuchen, auch gegen Systemzwänge ökonomischen
Abläufen den Weg in die Sittlichkeit zu ermöglichen. Somit wird auch den Entscheidenden selbst
ein größerer Freiheitsraum geschaffen, der es ihnen möglich macht, sittlich zu entscheiden, d. h.
die Entscheidung zu treffen, die vor dem Hintergrund Sittlichkeit eingefordert zu sein scheint -
selbst wenn sie ökonomisch keineswegs optimal ist.
Unsere Republik scheint hier an einer Wende zu stehen. Emanzipationsversuche der Politik ge-
genüber ökonomischen Gruppen (Unternehmen, Unternehmensverbänden, Gewerkschaften…)
gibt es nicht nur bei uns, sondern auch etwa in den USA und in Großbritannien. Die marxistische
Stamokap-Theorie könnte also noch falsifiziert werden. Es ist noch nicht zu spät zu beweisen, daß
der Staat nicht nur Ordnungsorgan ökonomischer Interessen ist, sondern daß er fähig und willens
ist, den Schutz der vielen Einzelnen gegen solche Interessen durchzusetzen. Eine optimal funktio-
nierende Wirtschaft ist nicht unter allen Umständen und für alle Zeiten der Garant eines Maxi-
mums an Humanität in einem Land.

b) Fragen zur Ökonomie


In ökonomische Abläufe sind wir alle in mannigfacher Weise eingespannt. Ökonomische Abläufe
bestimmen uns in unserem Verhalten als arbeitende und als konsumierende Menschen. Die Folgen
solcher Abläufe sind uns so gegenwärtig und nahe, daß wir sie eigentlich nur noch in Störungsfäl-
len (etwa Arbeitslosigkeit oder Versorgungsengpässen) wahrnehmen. Die Teilhabe am ökonomi-
schen System befriedigt eine Fülle unserer Bedürfnisse:
• physiologische (Hunger, Durst, Wärme, Wohnung…)
• soziale (Sicherheit, Anerkennung, Zuwendung…),
• personale (Selbstverwirklichung, Sinngabe, Bildung…)
Sicher werden solche Bedürfnisse nicht unmittelbar durch ökonomische Abläufe befriedigt, wohl
aber ist ihre Befriedigung nicht selten abhängig von Funktionen und der Art ökonomischer Abläu-
fe und Entscheidungen. Sie bedürfen also unseres Interesses. Wenn hier Ökonomie im Zusam-
menhang von Bedürfnissen genannt wird, dann deshalb, weil die Befriedigung solcher Bedürfnisse
Grund und Ziel ökonomischer Abläufe sein muß. Doch hier gilt es schon, Verglichst Bedürfnisty-
pen zu unterscheiden (vgl. S. 173):
• Primäre Bedürfnisse sind solche, ohne deren Befriedigung wir nicht physisch, psychisch oder
sozial (gesund) überleben können,
• sekundäre Bedürfnisse sind solche, deren Befriedigung die optimale persönliche Entfaltung er-
leichtert (mitunter gar erst ermöglicht),
• tertiäre Bedürfnisse zielen auf die Befriedigung primärer (und zum Teil auch sekundärer) Be-
dürfnisse auf eine besondere Weise (etwa Kola-Trinken, um den Durst zu löschen), oder aber
sie sind Ersatzbedürfnisse, die sich einstellen, wenn primäre oder sekundäre nicht befriedigt
werden (so kann unbefriedigter Sex etwa Sammlerbedürfnisse auslösen).
Wir werden also sehr genau zusehen müssen, welche Bedürfnisse durch welche ökonomischen
Aktivitäten wie befriedigt werden.
Denn nur wenn beides human erfolgt, ist Ökonomie prinzipiell legitimiert, auch Forderungen an
Menschen zu stellen.
Da heutzutage das Verhalten in ökonomischen Interaktionsformen (Arbeit, Kauf-Verkauf, Kon-
kurrenz…) weitgehend auch das private Verhalten von Menschen prägt, ökonomische Ansprüche
aber auch unmittelbar allgegenwärtig zu werden drohen, wird der Anspruch christlicher Sittlich-
keit an ökonomische Abläufe und Entscheidungen besonders dringlich sein. Es wird zunehmend
schwerer, in einer ökonomisch unsittlichen Welt privat sittlich zu leben. Es sei denn, man ziehe
sich zurück in ein »alternatives Leben«.
Das aber ist nicht christlich. Weder Flucht (in ein alternatives Leben etwa) noch Sich-totstellen
(die Augen verschließen und abwarten, was wohl geschieht) sind christliche Möglichkeiten, son-
dern allein der Wille, Sauerteig zu sein in einer Gesellschaft, mit dem Ziel, sie hin auf Menschlich-
keit zu wandeln. Ausflippen oder Sich-verweigern können vorübergehend individuelle Befreiung
bringen - verkennen aber die personale Konstitution, die stets auch gesellschaftlich ist. Wir kön-
nen auf die Dauer in einer unmenschlichen Umgebung nicht als Menschen überleben - also müssen
wir die Umgebung ändern.
Das bedeutet keineswegs Revolution im Sinne eines gewalttätigen Umsturzes. Solche Revolutio-
nen sind in aller Regel nichts anderes als gewalttätige Formen des Machtwechsels ohne grundle-
gende Veränderung des Bewußtseins der Vielen. Dieses aber ist vonnöten, wenn Menschheit
menschlich will überleben können. Versteht man also unter Revolution eine massenhafte Verände-
rung von Bewußtsein und eine nachfolgende Anpassung des gesellschaftlichen Seins an solches
Bewußtsein - dann ist Christentum revolutionär.
Christentum ist also niemals konservativ - denn »konservativ« bedeutet stets ein Gutheißen oder
ein Sich-Abfinden mit dem Gegenwärtigen. Das aber ist dem Christen nicht möglich. Das Gegen-
wärtige ist immer auch schlecht, immer unvollkommmener als es sein könnte, immer zur Un-
menschlichkeit disponiert. Sauerteig hat es nicht an sich, den Teig, unter den er gemischt ist, in
seinem augenblicklichen Zustand zu belassen. Der Christ ist also nicht gerufen,
• sich konkreter Ökonomie und ihren Ansprüchen zu verweigern,
• konkrete ökonomische Verhältnisse als optimal zu akzeptieren, sondern sie durch aktives Mit-
tun zu verändern.
In diesem Sinne seien folgende Hinweise verstanden:

(1) Über die Marktwirtschaft


»Marktwirtschaft« bezeichnet eine Wirtschaftsordnung, in der Art und Umfang der Produktion
und die Verteilung der produzierten Güter primär über den Markt und die dort erfolgende Preis-
bildung gesteuert werden. In einer (von staatlichen Interventionen) freien Marktwirtschaft ist das
individuelle Streben nach Vorteil gegen ähnliche Ansprüche von Konkurrenten unter bestimmten
Umständen auch Garant des optimalen gesellschaftlichen Wohlstandes. Da sich aber eine solche
Marktwirtschaft bald über Konzentrationsmechanismen selbst vernichten würde, muß der Staat
das ökonomische Verhalten der Teilnehmer am Marktgeschehen sowie der Systemfunktion
»Markt« korrigieren, um die Marktwirtschaft funktionstüchtig zu halten (soziale Marktwirt-
schaft). Voraussetzungen einer marktwirtschaftlichen Ordnung scheinen zu sein:
• Vertrags- und Assoziationsfreiheit,
• Bestehen eines Arbeitsmarktes,
• möglichst ungehinderte Konkurrenz der Anbieter (zumindest im Bereich der Konsumgüter).
Zweifelsfrei ist eine marktwirtschaftliche Ordnung immer gefährdet:
• Es sind hohe Arbeitslosenzahlen möglich, die die bestehende politische und ökonomische Ord-
nung labilisieren können,
• höchste betriebswirtschaftliche Rationalität begegnet höchster nationalökonomischer Irrationa-
lität (des Marktes),
• freie Kapitalien bedürfen eines Angebots rentabler Anlage [das scheint aber nur bei wachsender
Wirtschaft (und potentieller Überinvestition) möglich zu sein],
• die staatliche Reglementierung kann - etwa über gelenkte Subventionen - mittelbar zu einer Art
Planwirtschaft führen,
• die internationale Verflechtung kann eine nationale Wirtschaft der politischen Repression durch
politische Instanzen fremder Staaten aussetzen,
• der Regelkreis, nach dem über Angebot und Nachfrage Preise ausgemacht werden, ist extrem
gefährdet (u. a. weil die Produktionskosten nicht unbedingt in die Preise eingehen müssen…).
Aufs Ganze gesehen ist eine marktwirtschaftliche Ordnung also ein kompliziertes kybernetisches
System mit nur begrenzten Regulationsmöglichkeiten durch (politische und ökonomische) rationa-
le Instanzen. Solche Systeme sind in aller Regel störanfälliger als voll rational zu steuernde Regel-
kreise (etwa der »beherrschten Planwirtschaft«).
Dennoch spricht einiges für eine marktwirtschaftliche Ordnung, die sie aus dem Blickfeld christli-
cher Ethik nicht nur für akzeptabel, sondern auch unter bestimmten Umständen optimal erschei-
nen läßt:
• Die Konkurrenz der Anbieter (im Gegensatz zur planwirtschaftlieben Konkurrenz der Nachfra-
ger) nutzt den Vielen. Preise werden scharf kalkuliert. An Angebot ist reichlich. Der organi-
sierte Verbraucher kann auf den Markt Einfluß nehmen.
• Im Produktionsbereich sichert die marktwirtschaftliche Ordnung ein hohes Maß an Effizienz.
Die Bedenken gegen eine marktwirtschaftliche Ordnung sind jedoch nicht unerheblich:
• Das Recht auf Selbstverwirklichung auch in der Arbeit ist gefährdet durch Arbeitslosigkeit und
geringe Entfaltungsmöglichkeit (vor allem der Autonomie und der Eigeninitiative) bei nicht
wenigen Teilnehmern am Arbeitsprozeß.
• Der Arbeitsmarkt kann zu einer Art »Markt von Gütern« versachlicht werden, obschon das
hier Angebotene und Nachgefragte keine Sache ist und keine versachlichende Behandlung ver-
trägt. Der Kostenfaktor »Arbeit« darf nicht anderen Kostenfaktoren gleichgeordnet gewertet
werden, denn Arbeit ist ursprünglicher Ausdruck und unmittelbare Darstellung von Menschen.
Begegnet man ihrer Arbeit (und damit ihnen selbst) wie einer Sache, wird es zwingend dazu
kommen, daß ein Mensch sich nicht auch von seiner Arbeit her definiert. Er wird sie in die U-
neigentlichkeit bannen. Mangelnde Solidarität mit dem Unternehmen und klassenkämpferische
Aktionen sind Folgen, die aus christlicher Sicht keineswegs unbedingt wünschenswert sind.
• Eine Hypertrophie des Konkurrenzdenkens kann die damit gegebene Gegneraggressivität zur
Feindaggressivität entarten lassen und zwischenmenschliche Beziehungen durch Haß, Neid,
Mißgunst… bestimmt werden lassen.
• Die Wachstumszwänge können zu einer unerbittlichen Ausbeutung der natürlichen Ressourcen
und einer unerträglichen Belastung der Umwelt führen.
• Das Leistungsdenken kann zur Leistungsgesellschaft führen, in der die Qualität eines Menschen
nach dem Maß der für seine Leistungen erfolgten Honorierung (und damit seiner Konsumfä-
higkeit) gemessen wird.
Gelingt es, diese und andere im Folgenden zu behandelnden Gefahren zu meiden, scheint mir -
auch aus christlicher Sicht - die marktwirtschaftliche Ordnung für eine hochindustrialisierte Ge-
sellschaft optimal zu sein. Die entscheidende Frage ist, ob es zureichende ökonomische, nicht den
Spielregeln der Marktwirtschaft entnommene Verkehrsregeln und sittliche Normen gibt, die diese
Gefahren meiden lassen. Ich denke, daß dies in aller Regel nicht der Fall ist. Hier werden wohl in
jedem der zu nennenden Punkte, politische Ordnungsvorstellungen politisch eingeführt werden
müssen. Daß dabei die Agenten der marktwirtschaftlichen Ordnung nicht nur heftig zu klagen be-
ginnen, sondern auch durch die Macht ihrer Lobby tatkräftig agieren werden, liegt im Prinzip der
politischen Interessenvielfalt begründet, das nicht in Frage gestellt werden soll. Wichtig ist nur, in
welchem Umfang sich Interessenvertreter von ökonomischen Systemen von einer ethischen Ar-
gumentation beeindrucken lassen. Geschieht das nicht, wird sich die politische Gewalt gegen die
vereinigte Lobbies durchzusetzen haben.
Für politische Wahlentscheidungen von Christen ist die Unabhängigkeit der zu wählenden politi-
schen Vertreter von ökonomischen Interessen ein erheblicher Faktor. Sie ist eine Voraussetzung
für eine sittlich verantwortbare Politik.
(2) Über das Privateigentum
»Privateigentum« meint das Eigentum (Nutzungsrecht + Verfügungsrecht) von Individuen an
fremder Arbeit und an den materiellen und immateriellen Gütern, diese Arbeit rentabel zu verwer-
ten. Im Gegensatz dazu bezeichnet »persönliches Eigentum« das Eigentum an zur privaten Nut-
zung und Verfügung bestimmten Sachen. Hier sei ausschließlich über Privateigentum gehandelt.
Daß jeder Mensch das Recht hat, persönliches Eigentum zu besitzen, ist offensichtlich und wird
kaum bestritten.
Der primäre Aspekt des Privateigentums ist das Eigentum an fremder Arbeit. Und das ist keines-
wegs unproblematisch. Kann ein Mensch an einer konstitutiven Funktion eines anderen Menschen
durch Kauf Eigentum erwerben? Daß es sich dabei keineswegs um nur physische Konstituenten
handelt (wie etwa in einer Sklavenhaltergesellschaft praktiziert), sondern auch um soziale Interak-
tionsformen, die dem Menschen wesentlich sind, macht das Problem aus. Gibt es hier eine ent-
scheidende Differenz? In einer Sklavenhaltergesellschaft mußte der an der Verwertung fremder
Arbeitskraft Interessierte das Subjekt dieser Arbeitskraft mitkaufen, obschon er in der Regel nur
an dieser interessiert war. Zunehmende Abstraktionsprozesse des Arbeitsmarktes erlaubten dessen
Wandlung vom Sklavenmarkt in einen Markt, auf dem ausschließlich Arbeitskraft angeboten und
nachgefragt wird.
Ich vermute, daß man unter dem Anspruch christlicher Sittlichkeit solche Verdinglichung der Ar-
beit nur akzeptieren kann, wenn ihre Versachlichung ausgeschlossen ist. Das bedeutet, daß sich
der Käufer darüber im klaren sein muß (und sich an dieser Klarheit auch praktisch orientiert):
• Daß (wie schon gesagt) die Kosten für die Arbeit nicht, auf Geldgrößen gebracht, mit anderen
Kostenposten gleichwertig bilanziert werden dürfen. Vielmehr kauft der Unternehmer eine
Dienstleistung, den Dienst eines Menschen, für den und für dessen Entfaltung er in einer sozia-
len (und nicht sachlichen) Relation Verantwortung übernimmt. Eine entsprechende Verantwor-
tung gilt durchaus auch für den Arbeitskraft Verkaufenden.
• Daß man sich von der gekauften Arbeitskraft nicht lösen kann wie von einem variablen Kosten-
faktor. Das Eingehen einer sozialen Bindung ist nicht vergleichbar mit dem in jene sachliche
Bindung, die dem persönlichen Eigentum zugrunde liegt.
Versteht man also unter »Eigentum« ein absolutes dingliches Recht, über eine Sache, innerhalb
der von der Rechtsordnung gezogenen Grenzen, frei zu bestimmen, dann ist »Privateigentum«
kein Eigentum. Sollte es als solches behandelt werden, liegt in der unmittelbaren oder mittelbaren
Versachlichung einer konstitutiven menschlichen Funktion ein sittlich nicht zu vertretender An-
spruch.
Insofern das Eigentum an Produktionsmitteln nur bezogen auf das an fremder Arbeit erheblich ist,
gilt hier Entsprechendes. Es mag einmal der Tag kommen, daß Fabrikationsbetriebe ganz ohne
gekaufte menschliche Arbeitskraft funktionieren, dann fielen sie unter die Kategorie des persönli-
chen Eigentums.
Die wichtigste Beschränkung der Eigentumsfunktionen im Bereich des Privateigentums ist die,
daß dem Subjekt der Arbeitskraft ein Mitbestimmungsrecht an der Organisation der Arbeit, aber
auch, insofern diese nur im Gesamtkonzept eines Unternehmens modifiziert werden kann, an der
Unternehmenspolitik zusteht. In diesem Rahmen wird sich die Selbstverantwortlichkeit und die
Eigeninitiative des Arbeiters entfalten können und müssen. Wenn heute viele Arbeiter an solcher
Entfaltung nicht interessiert sind, dann deshalb, weil sie in Reaktion auf die versachlichte Betrach-
tung und Behandlung ihrer Arbeit diese selbst versachlicht haben. Sie wird nicht als Teil und Aus-
druck der Persönlichkeit verstanden, sondern als notwendiges Übel, um die Persönlichkeit an-
derswo zu entfalten. Diese klassenspezifische Entfremdung vieler Arbeiter von ihrer Arbeit muß
aufgehoben werden, wenn es zu einer Solidarisierung im Unternehmen zwischen dispositiven und
exekutiven Faktoren kommen soll. Diese aber ist wichtig nicht nur für eine optimale Produktivität,
sondern auch für eine Aufhebung des Klassenkampfgeistes. Unsere Mitbestimmungsgesetzgebung
(einschließlich der des BVG) kann nur dann den gewünschten Erfolg haben, wenn ein kritischer
Bildungsprozeß der Vielen die Interessen dieser Vielen auf die Wahrnehmung ihrer Rechte lenkt.
In anderen Fällen werden sie von Organisationen wahrgenommen, die keineswegs immer primär
das Interesse der in einem Betrieb Beschäftigten intendieren (sondern etwa ihre eigene Machtwei-
terung).
Fragen wir uns abschließend nach dem Zusammenhang von Marktwirtschaft und Privateigentum,
wird deutlich, daß die freie Marktwirtschaft unbedingt auf das Institut des Privateigentums ver-
wiesen ist. Nicht in ähnlicher Weise die soziale Marktwirtschaft. Beide können auseinanderfallen.
So funktioniert in Jugoslawien eine Marktwirtschaft ohne Privateigentum (eher schlecht). So
funktionierten Kriegswirtschaften als Planwirtschaft mit Privateigentum meist hervorragend. Es
besteht die Vermutung, daß die ökonomische Effizienz eines Systems eher mit dem Privateigen-
tum als mit der Marktwirtschaft zusammenhängen könnte. Nicht der Markt, sondern der Egois-
mus ist die Triebfeder auch des makroökonomischen Erfolgs. Tendenziell schwindet übrigens
auch im allgemeinen Bewußtsein die Analogie zwischen Privateigentum und persönlichem Eigen-
tum. Der Eigentümer von Aktien einer Publikumsgesellschaft wird zumeist der Überzeugung sein,
er habe eine Industrieobligation mit variablem Zins ohne Rücknahmegarantie durch den Emitenten
gekauft. Vor allem aber hat die etablierte Herrschaft des Managements in den Betrieben die Ver-
fügungsgewalt der juristischen Betriebseigner über ihr Eigentum erheblich relativiert. Ein »norma-
ler« Aktionär kann sein Eigentum verkaufen - das ist auch das einzige sachliche Recht, das er be-
sitzt. Und wenn das alle Aktionäre täten, dann liefe der Betrieb völlig ungestört weiter (sieht man
einmal von schwindender Kreditwürdigkeit ab, die auch eine Kapitalerhöhung nahezu unmöglich
machen würde). Ich denke, daß dieses relativierte Eigentumsverständnis einer christlichen Ethik
keineswegs widerspricht, sondern in manchem die Ausübung christlicher Sittlichkeit deutlich er-
leichtert.

(3) Über die Leistungsgesellschaft


»Leistungsgesellschaft« bezeichnet eine Gesellschaft, in der sowohl die materiellen und sozialen
Chancen (also Anerkennungen und Bewertungen) als auch die sozialen Positionen im System nach
Maßgabe der Über- und Unterordnung von Leistungen (und nicht nach Stand, Herkunft,
Einfluß…) vergeben werden. Das setzt voraus, daß man über anerkannte und objektive Leistungs-
standards verfügt. Hier wird bei uns der Arbeitsmarkt oft definierend tätig.
Aus christlicher Sicht ist eine solche Leistungsgesellschaft nicht unproblematisch. Vor allem ver-
mitteln die vom Markt bestimmten Leistungsstandards keine zureichende Qualifikation von Leis-
tung. Erfaßt werden etwa nicht, oder nur unzureichend, charakterliche Merkmale (wie Treue, In-
tegrationsfähigkeit, Konfliktfähigkeit…), Aspekte, die für den Bestand jeder Gesellschaft von
größerer Wichtigkeit sein können als die der physischen Leistung. Der Kommensurabilitätsmecha-
nismus von Leistungen über den Markt berücksichtigt zudem nicht Leistungen, die erbracht wer-
den, ohne auf Belohnung zu schauen (etwa die christlicher Caritas oder die der Mütter). Somit er-
scheint die Leistungsgesellschaft in erheblichen Aspekten (auch vor dem Anspruch einer reinen
Leistungsgerechtigkeit) ungerecht zu sein.
Zudem sind folgende Momente zu bedenken:
• Sie vermittelt leicht eine individualistisch-konkurrenzbetonte Lebenseinstellung, die keineswegs
mit christlicher Sittlichkeit vereinbar ist.
• Das Verhältnis zur eigenen Leistung wird oft verkehrt. Die Selbstdefinition erfolgt im Wesent-
lichen über diese stets gefährdete Außeninstanz »Leistung« und führt zu einer Leistungsabhän-
gigkeit oder Leistungssucht. Auch wird die soziale Bedingtheit der eigenen Leistung oft ver-
kannt - und ganz als eigener Verdienst gewertet.
• Der Leistungswettbewerb kann zu erheblichen psychischen, physischen, sozialen Streßsituatio-
nen führen, die, wenn sie andauern und als Zwang erlebt werden, die physische, psychische und
soziale Gesundheit eines Menschen ruinieren können.
• Der sich in einer Leistungswelt orientierende Mensch wird gefährdet sein, seine Emotionalität
(die er als Störgröße erleben kann, weil leistungsunerheblich oder gar hindernd) von seiner Ra-
tionalität abzulösen und so (alexithymisch) zu erkranken. Zudem ist die Gefahr gegeben, daß
ein Mensch sich als »lonely wolf« sieht und sozial verarmt oder vereinsamt.
Da Leistungsgesellschaften von sich aus keinerlei Initiativen entwickeln, diese Gefahren zu min-
dern oder gar auszuschließen, bedarf die Leistungsgesellschaft stets eines komplementären Gesell-
schaftskonzepts, das sie - theoretisch wie praktisch - relativiert. Leistung darf nur zu einem As-
pekt unter mehreren werden, nach denen Menschen ihr soziales Leben einrichten, das ihre Interak-
tionsmodi bestimmt und ausmacht, wer sozial aufsteigt und wer nicht. Nur ein solches sehr stark
relativiertes Konzept einer Gesellschaftsordnung von der Leistungsbewertung her, wäre christlich
akzeptabel. In allen anderen Fällen scheint »Leistungsgesellschaft« einen Aspekt zu beschreiben,
über den das bestehende sozio-ökonomische System seine Herrschaft auch gegen Menschen aus-
übt und stabilisiert.

(4) Über Gerechtigkeit


In einer Leistungsgesellschaft herrscht der Theorie nach ausschließlich das Prinzip der Leistungs-
gerechtigkeit (vgl. S. 171ff). Insofern die Bewertung der Leistung über den Markt erfolgt, ist eine
solche Gerechtigkeit (in ihren positiv gebietenden Aspekten) einer irrealen Instanz ausgeliefert.
Das Recht auf Anerkennung von Leistung und auf Zuteilung der aus der Anerkennung erfolgen-
den materiellen oder ideellen Güter impliziert ein Leistungsmaß, wenn es nicht um rein qualitative,
sondern auch um quantitative Aspekte geht. Hier soll dann der Markt tätig werden - oder das
durch ihn und seine Bedürfnisse geformte Bewußtsein. Daß dieser Prozeß nur bedingt einer hu-
manen Gerechtigkeit nahekommen kann, wurde schon im vorhergehenden Abschnitt deutlich ge-
macht.
Wie schon gesagt, werden wir uns vom Prinzip reiner Leistungsgerechtigkeit lösen müssen und
uns einer Bedürfnisgerechtigkeit (als komplementärer Größe) zuwenden, denn auch Bedürfnisse
können Rechte konstituieren. Das gilt ganz unbedingt für primäre und sekundäre Bedürfnisse.
Diese können sogar Grundrechte definieren. In einer »gerechten Gesellschaft« werden also primä-
re und sekundäre Bedürfnisse als Rechtskonstituentien anerkannt - und das nicht nur politisch.
Auch die Ökonomie wird sich dieser Form von Rechtsgründung nicht entziehen dürfen. Zu-
zugeben ist, daß im Bereich der Bedürfnisse eine Normierung nicht ganz einfach ist - stets ist aber
festzustellen, ob ein Bedürfnis nicht befriedigt wurde.
Rechte, die aus Bedürfnissen hervorgehen, sind etwa:
• das Recht auf Arbeit als Folge des sekundären Bedürfnisses, sich selbst in kreativer und pro-
duktiver Interaktion mit anderen Menschen zu verwirklichen,
• das Recht auf Mitbestimmung als Folge des sekundären Bedürfnisses auf Autonomie und Initi-
ative,
• das Recht auf einen Lohn, der nicht nur die primären Bedürfnisse zu befriedigen erlaubt, als
Folge der Existenz sekundärer Bedürfnisse überhaupt,
• das Recht auf ein zureichendes Angebot an Gütern, das die Befriedigung primärer und sekun-
därer Bedürfnisse gestattet,
• das Recht auf Freizeit als Folge des Rechts, sich auch außerhalb von Fremdangeboten selbst zu
verwirklichen,
• das Recht auf betriebliche und überbetriebliche Zusammenschlüsse, als Folge des Bedürfnisses
auf Selbstvertretung und Selbstbestimmung,
• das Recht auf Unterstützung bei Krankheit und Alter als Folge der Bedürfnis- und Anspruchs-
kontinuität.
All dieses sind Bedürfnis- und keine Leistungsrechte. Sie können einem Menschen - nach christli-
cher Überzeugung - nicht genommen werden. Die Verhinderung der Wahrnehmung solcher Rech-
te ist ungerecht, wenn diese möglich wäre, ohne daß sich der Partner in der Gerechtigkeitsbezie-
hung selbst zugrunde richtet. Die Sicherung dieser Rechte hat unbedingten Primat vor dem Recht
des Unternehmenseigners auf optimalen Gewinn und oft auch vor dem Recht des Teilnehmers an
makroökonomischen Prozessen auf optimale Versorgung mit Gütern.
Der Unternehmenseigner hat im Prinzip analoge Rechte wie der abhängig von ihm Beschäftigte.
Darüber hinausgehende Rechte auf eine Verzinsung seines vorgeschossenen Kapitals sind reine
Leistungsrechte oder entsprechen allenfalls dem Bedürfnis nach allgemeiner Bereicherung. Beide
Rechtsquellen sind im Konzept christlicher Gerechtigkeitspraxis sekundär gegenüber Rechten, die
aus primären und sekundären Bedürfnissen hervorgehen.
Der Bürger nimmt an volkswirtschaftlichen Abläufen in der Regel sowohl als Konsument wie als
Produzent teil. Hier haben seine Bedürfnisrechte, die durch seine Funktion als Produzent befrie-
digt werden - ceteris paribus - Vorrang vor den Bedürfnisrechten, die durch seine Funktion als
Konsument begründet werden. Da die Befriedigung einiger primärer Bedürfnisse oft nur durch
Konsum eines individuell oder gesellschaftlich produzierten Guts geschehen kann, hat hier der
Konsumentenanspruch Vorrang vor dem Produzentenanspruch.
Da sich jedoch der als Produzent tätige Mensch im allgemeinen sehr viel grundsätzlicher in den
ökonomischen Interaktionsprozeß einbringt als der Konsument, hat er im Regelfall mit seinen Be-
dürfnis- und Leistungsrechten Vorrang.
Fassen wir zusammen: Eine bloße Leistungsgerechtigkeit ist auch im ökonomischen Bereich kaum
mit christlicher Ethik vereinbar, weil sie den Menschen als Bedürfniswesen nicht zureichend res-
pektiert.

(5) Über Solidarität


Es gab in der Geschichte der Menschen vermutlich einmal eine Zeit, da zwei Hände nur einen
Mund ernähren konnten. Als aber die Entwicklung der Produktionsmittel (Keule, Messer…) so-
weit gediehen war, daß zwei Hände mehr als einen Mund sättigen konnten, wird vermutlich der
Eigner dieses zweiten Mundes bald auf die Idee gekommen sein, die fremden Hände für sich ar-
beiten zu lassen. Und er wird eine Herrschafts- und Eigentumsordnung aufgebaut haben, die die-
sen Zustand absicherte. Es waren zwei Klassen entstanden: die der Arbeiter und die der Rentiers.
Heute gibt es die Institution des ausbeutenden Rentiers nicht mehr, an seine Stelle tritt der »Ge-
samtkapitalist« oder moderner: das kapitalistische sozio-ökonomische System, das nahezu alle in
ihm lebenden Menschen ausbeutet.
Die durch die frühe Ausbeutungssituation gegebene Klassenkampfstimmung, die sich sicher so-
lange durchhielt, als der Ausbeuter sein menschliches Angesicht nicht verlor, wirkt heute, da der
Ausbeuter sich zu einem System abstrahiert, ausgesprochen archaisch. Man tut noch so, als gäbe
es Personen oder Firmen oder Konzerne als Ausbeuter.
Es gab also einmal eine Zeit, da das Mühen um solidarisches Verhalten nur innerhalb der jeweils
antagonistischen Klassen (Arbeiter und Rentiers) möglich war. Heute befinden wir uns in einer
neuen Situation: Alle haben nur einen ausbeutenden Gegner: das kapitalistische System. Es zwingt
sie, Dinge zu tun und Entscheidungen zu treffen, die sie als autonome Persönlichkeiten niemals
tun oder treffen würden. Man mag sogar vermuten, daß die Systemabhängigkeit der Agenten des
Systems (also etwa vieler Unternehmer, die keine zureichend große Systemdistanz durch verant-
wortete Kritik für sich erreichen) sehr viel größer ist, als die der im Produktionsprozeß von Gü-
tern ausführend Beschäftigten. Das System wirkt durch die Disposition nicht durch die Exekutive
(die dürfte weitgehend systemunabhängig sein). Da aber die unmittelbar Produzierenden in ihrer
Geschichte sehr viel dringlicher erfahren haben, was »Ausbeutung« (psychische, physische und
soziale) bedeutet, sind sie gegen ausbeutende Ansprüche sehr viel sensibler als die »Nachkom-
men« der Rentiers (etwa die Vertreter des Managements).
Ich vermute, wenn einmal die in der Ökonomie weitgehend herrschende Schicht des Vertreters
des Faktors Disposition, der an tatsächlichem Einfluß den des alten Kapitals längst verdrängt hat,
zu ihrem kritischen Bewußtsein gekommen ist und ihre tatsächlich psychisch oft desolate Lage er-
kennt, bedeutendes Potential für einen Systemwandel freigesetzt würde. Es käme dann dahin, daß
nicht mehr antiquierter Klassenkampf, sondern das Bewußtsein von der gleichen problematischen
Lage zu einer erheblichen Solidarisierung führen könnte. Diese hätte zur Folge, daß durch die
Emanzipation von Systemzwängen nicht nur ein Systemwandel beginnen könnte, sondern zugleich
auch die ökonomische Kraft der Unternehmen gestärkt würde. Eine Evolution mit bald merkli-
chem, auch wirtschaftlichem Erfolg wäre die Folge.
Aus dem Blickwinkel christlicher Sittlichkeit ist das Solidarverhalten aller am Produktionsprozeß
Beteiligten (ob sie nun den Faktor »Arbeit« oder »Disposition« repräsentieren) wichtiges Ziel ö-
konomischer Entwicklung. Nur so könnten folgende Zwänge überwunden werden:
• Der Zwang zu klassenkämpferischen Aktionen (weil keine Klassenunterschiede mehr bewußt),
• der Zwang zu personaler Konkurrenz (weil durch die kollektive Solidarität ein zureichender
Raum der personalen Sicherheit gegeben wäre),
• der Zwang, über manipulatorische Techniken Leistung erbringen zu lassen, weil Leistung im
Solidarverband nicht mehr als entfremdend angesehen würde.
Endlich könnte es auch zu einer Solidarität der Produzenten gegenüber den Konsumenten kom-
men, die etwa dazu führen mag, daß im Prozeß der »Konkurrenz der Anbieter« keine manipulie-
rende Werbung eingesetzt würde.
Manipulation in der Werbung mit dem Ziel, durch irgendwelche mehr oder weniger verschleierte
Formen der Täuschung den potentiellen Kunden zu beeinflussen, ist heute nahezu allgegenwärtig.
Die beliebtesten Methoden sind:
• Es wird durch geschickte Bebilderung die Befriedigung eines primären oder sekundären Be-
dürfnisses versprochen, tatsächlich wird aber nur ein tertiäres befriedigt. (»Wenn Du A trinkst,
dann gehörst du zu einer Gruppe fröhlicher Menschen.« - »Wenn Du B rauchst, dann lebst du
in Freiheit.« - »Wenn Du mit C wäschst, dann ist Deine Familie mit Dir zufrieden.«)
• Es werden erhebliche Informationen nicht erbracht. (Etwa: Es wird bei einem Mineralwasser
nicht die Kochsalzmenge genannt; es wird bei einer Waschmaschine der Verschleißgrad der
Wäsche oder der Stromverbrauch verschwiegen; es wird bei einem Autoreifen die Haftfähig-
keit auf verschiedenen Unterlagen bei verschiedenen Geschwindigkeiten nicht mitgeteilt; es
wird bei einem Auto die mittlere Lebensdauer verschwiegen…)
• Es werden ungewichtete Informationen vorgetragen. (Etwa: Eine Datenfülle von Kosten und
Leistungen bei einer Kreditaufnahme oder einer Kontoeröffnung verschleiert die tatsächlichen
Kosten oder macht sie praktisch unvergleichbar; eine ähnliche Datenfülle zu einer HiFi-Anlage
macht es dem Laien nahezu unmöglich, festzustellen, ob die Anlage seinen Bedürfnissen ent-
spricht…).
Mitunter wird sogar ganz offen getäuscht. Und nicht immer durchschaut der »mündige Bürger«,
wie er hier durch marktschreierische Ankündigungen manipuliert werden soll und - oft genug -
auch manipuliert wird.
Perfekt kann dieser Manipulationsmechanismus werden, wenn die dauernde Frustration eines Pri-
märbedürfnisses zu einem allgemeinen Konsumbedürfnis führt. Man kann z. B. nachweisen, daß
im Durchschnitt sexuell dauernd frustrierte Menschen im Bereich der Tertiärbedürfnisse deutlich
konsumanfälliger sind als andere. Solchen sexuellen Dauerfrust kann man aber provozieren, indem
man etwa einem Mann ständig in der Bildwerbung ein Sexidol als Gegenstand seiner Sexualwün-
sche vorstellt, dem dann ein konkreter Partner nicht entsprechen kann. Daß solche Verführung der
Werbung zu einer allgemeinen Konsumhaltung nicht selten ist, kann man mit guten Gründen ver-
muten.
Man mag nun dagegen argumentieren, daß unsere Wirtschaft als tendenzielle Überproduktions-
wirtschaft wesentlich darauf angewiesen ist, neue Waren und Dienstleistungen zu erfinden, wofür
dann unter Umständen der Markt erst geschaffen werden muß. Das heißt, tertiäre Bedürfnisse
müssen erst produziert werden.
Doch solche Formen der Bedürfnisweckung und Befriedigung entsprechen nicht christlichem
Menschenbild, weil hier Menschen zum reinen Mittel individuellen Profitstrebens gemacht wer-
den. Das ist radikal inhuman.
Es ist nicht leicht einzusehen, daß die Weltwirtschaft als Unterproduktions- (und Unterversor-
gungs-)wirtschaft nicht fähig ist, nahezu unendlich viel und viele Produkte abzunehmen, die pri-
märe und sekundäre Bedürfnisse befriedigen. Zuzugeben ist allerdings, daß die nationalen kapita-
listischen Wirtschaftsordnungen und -vorstellungen hier nur ungenügende Phantasie entwickeln
lassen. Auslandsinvestitionen unterliegen auch den Gesetzen der Renditeerwartungen für vorge-
schossene Gelder. Und solche Erwartungen erscheinen ökonomisch oder politisch fragwürdig.
Hier liegen erhebliche Defizite an menschlichem Solidarverhalten, die christlich nicht verantwortet
werden können.

(6) Über Wachstum


Eine kapitalistische Wirtschaftsordnung kann auf die Dauer ohne Wachstum nicht bestehen (schon
allein - wie gesagt -, weil frei werdende Kapitalien in rentable Anlagen drängen). Wirtschafts-
wachstum bedeutet aber auch
• Wachstum des Konsums und damit
• Wachstum des Rohstoffbedarfs und in aller Regel wegen der nur begrenzten Möglichkeiten, die
Energieverwertung zu rationalisieren,
• Wachstum des Energieverbrauchs und endlich
• Wachstum der Umweltbelastung.
Alle Appelle, Wachstum zu drosseln oder gar nach Null hin tendieren zu lassen, scheitern an ihrer
Systemfremde. Ein kapitalistisches Ordnungssystem fordert zwingend langfristig Wachstum.
Zwar kann der Gesetzgeber bestimmte Wachstumsfolgen zu mindern suchen, sollte das jedoch zu
einem dauernden Nullwachstum, ohne begründete Hoffnung auf positive Wachstumswerte führen,
wird ein kapitalistisches System von Staats wegen sicher zerstört werden.
Die Wachstumsproblematik stellt sich aus christlicher Sicht etwas anders dar als aus der meisten
der Systemkritiker oder auch der profanen Apokalypsen des Club of Rome. Ein Christ wird zu-
nächsteinmal die Grenzen des inneren Wachstums verantwortlich machen, wenn er sieht, daß Sys-
temzwänge in vernunftwidriges Handeln hineinführen. Wir können nicht mehr menschlich mit dem
umgehen, was wir uns geschaffen haben, um die Welt zu beherrschen. Unsere Geschöpfe (wie
technische Rationalität und ökonomische Systeme) beginnen uns zu beherrschen mit anscheinend
objektiven Zwängen. Das ist unmenschlich, weil wir unseren Kreationen nahezu göttliche Macht
über unser Geschick einräumen. Das »Göttliche« ist hier keineswegs nur metaphorisch gemeint.
Nicht wenige Menschen »beten« mit nahezu religiöser Inbrunst Dinge wie Konsum oder Markt-
wirtschaft, Technik oder Vernunft an - und opfern auf deren Altären ihre eigene und fremde
Menschlichkeit. Daß so etwas christlicher Sittlichkeit widerspricht, ist unbestreitbar.
Auf der anderen Seite steht am Anfang der menschlichen Gewaltherrschaft über die Natur ein Bi-
belwort:

Dann sprach Gott: Laßt uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie sol-
len herrschen über die ganze Erde. Gott schuf also den Menschen als sein Abbild…
Und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehret euch, bevölkert die Erde, un-
terwerft sie euch. (Gen 1, 26-28)

In der jüdischen und christlichen Praxis wurde dieses Wort meist so verstanden, als seien Men-
schen von Gott zum absoluten Herrn der Erde bestellt worden. Diese Herrschaft wurde nach Art
der Herrschaft des Herrn über den Sklaven verstanden - selbst als es schon lange keine Sklaven
mehr gab. Das war ein arges Mißverständnis, denn eine deutlich ältere Tradition sagt, daß der
Mensch die Erde zu bebauen und zu hüten habe (Gen 2, 15). Entsprechend versteht denn auch der
Islam den Menschen als Verwalter und Hüter der Schöpfung. Doch im europäischen Denken
wandelte sich - sicherlich unter religiösem Einfluß - das innere Verhältnis zur Natur in ein brutales
Ausbeuten, das vermutlich zuerst die moderne Industrie ermöglichte. Das eigentümliche Verhält-
nis, das viele in der Aura des Christlichen Aufgewachsenen zur Natur haben, ist bestimmt von
dem Nebeneinander sentimentaler Nähe und brutaler Distanz, wobei sich in einigen Menschen e-
her die eine, in anderen die andere Fehlhaltung manifestiert.
Im Horizont christlicher Ethik scheinen die Grundprinzipien im Umgang des Menschen mit Natur
festgelegt:
• Menschen sind nicht Herren der Schöpfung. (Sie sind also nicht - wie sie in infantilem Narziß-
mus zu vermuten scheinen - gottähnliche Wesen, die über ihre Mitgeschöpfe nach Belieben
verfügen können, sondern ihre Hüter und Verwalter.)
• Sie dürfen sie nur benutzen, um ihre primären und sekundären Bedürfnisse zu befriedigen. Die
Befriedigung tertiärer muß ohne Mißhandlung der Natur erfolgen, um sittlich vertretbar sein zu
können.
• Im Konflikt zwischen Wirtschaftswachstum und Erhaltung der Natur ist letzterer der Vorrang
einzuräumen.
• Ein Wirtschaftswachstum, das durch die Übervölkerung der Erde erzwungen wird, ist nicht mit
dem Hinweis auf »Gottes Willen« zu rechtfertigen, da die Überbevölkerung der Erde ein physi-
sches und soziales Übel ist.
Sollte ein politisches oder ökonomisches System sich grundsätzlich diesen Vorstellungen versa-
gen, wäre es als unchristlich zu kritisieren und könnte insoweit von Christen nicht mitgetragen
werden.
Vor allem aber ist darauf zu achten, daß Menschen in dem Vermögen konkreter Sittlichkeit wach-
sen, um die von ihnen beherrschten technischen Möglichkeiten auch verantwortet verwenden zu
können.

c) Fragen zur Pädagogik


Die Bemühungen der in Politik und Ökonomie Verantwortlichen müssen scheitern, wenn ihnen
nicht eine Disposition entgegengebracht wird, die in christlicher Sittlichkeit verantwortete Ent-
scheidungen sinnvoll, wirkungsvoll und durchsetzbar machen. Diese Dispositionen betreffen ein-
zelne Menschen mehr noch als Gruppen oder andere gesellschaftliche Substrukturen. Denn das
System reproduziert sich an erster Stelle im Bewußtsein seiner Bürger. Nicht ganz unzutreffend
kann man es als den (oft unbewußten) Repräsentanten es kollektiven Bewußtseins bezeichnen. Es
ist weitgehend definiert durch
• Wertvorstellungen und Wertfühlungen,
• Rollenmuster und Rollenzwänge,
• Bestimmungen dessen, was »richtig« und »falsch«, was »vernünftig« und »unvernünftig«, was
»sozial« und »asozial«, was »menschlich« und was »unmenschlich«, was »gut« und »böse« ist.
Diese verschiedenen Normen nach Inhalt und Wertung werden durch Erziehung vermittelt. Erzie-
hung ist also die Instanz, mittels der sich ein sozio-ökonomisches System reproduziert. Entspricht
das System nicht politischen oder ökonomischen oder religiösen oder sozialen Vorstellungen, ist
es vermutlich evolutiv nur zu ändern durch eine Änderung der im Sozialisationsprozeß vermittel-
ten Inhalte. Gesellschaftliche Transformation beginnt immer mit der Reform der Erziehung.
Dieser Sachverhalt war durchaus vorwissenschaftlich gesichert, längst ehe die moderne Pädagogik
ihm zur wissenschaftlichen Würde verhalf. Die Bemühungen um die Kinder und die Jugendlichen
sind immer dann stark, wenn eine Gruppe oder eine Gesellschaft versucht, ihre Wertungen und
Normierungen zu erhalten oder auszudehnen. Keineswegs zufällig liegt auch heute noch das Er-
ziehungswesen in beiden Deutschland weitgehend in der Hand beamteter Lehrer - wird also als
Hoheitsaufgabe des Staates empfunden.
Auch kirchlichen Instanzen ist der Zusammenhang von Systemreproduktion und Erziehung deut-
lich gewesen. So bemerkte etwa der keineswegs als revolutionär zu charakterisierende Papst Paul
VI. zur Eröffnung der Römischen Bischofssynode 1971:

Die heute noch vorwiegende Art der Erziehung begünstigt einen engstirnigen Indivi-
dualismus. Ein Großteil der Menschen versinkt geradezu in maßloser Übertreibung
des Besitzes. Schule und Massenmedien stehen nun einmal im Bann des etablierten
Systems und können daher nur einen Menschen formen wie dieses System ihn
braucht, einen Menschen, nach dessen Bild keinen neuen Menschen, sondern nur eine
Reproduktion des herkömmlichen Typs. (51)

Ganz offensichtlich muß also der Teufelskreis der Normen unkritisch tradierenden Erziehung
durchbrochen werden, wollen Christen ihr Ziel einer humaneren Gesellschaftsordnung erreichen.
Und so seien denn im Folgenden einige Gedanken zu einer solchen Neuorientierung vorgestellt.

(1) Über die Herrschaft


Jesus fordert von seiner Gemeinde, daß in es in ihr keine Herrschaft in Entsprechung zur profanen
geben dürfe. Doch schon die Apostel und die frühe Kirche scheinen sich schwergetan zu haben,
diese Jesusforderung zu erfüllen. Was damals schwer zu sein schien, mag heute als unmöglich gel-
ten. Menschen, die sich in partnerschaftlicher Koordination zusammenfinden, beginnen in aller
Regel, gegeneinander Herrschaft auszuüben, mit dem Ziel, den anderen zu dominieren.
Herrschaft kann sehr verschiedene Gesichter haben. Darüber wurde schon berichtet. Hier geht es
mir darum, einige Gründe aufzuzeigen, die Menschen dazu bringen, Herrschaft ausüben zu wol-
len, damit wir sie beheben können.
Zwei Gründe scheinen mir besonders erheblich zu sein:
• Narzißmus und
• Vermittlung von Normen und Werten in Subordinationsrelationen (als in Herrschaft und als
Herrschaft).
Da unser Selbstbewußtsein von sich aus nicht die eigene Beschränktheit mit bewußt macht, muß
sie »erlernt« werden. Im Selbstbewußtsein sind das Wissen um Endlichkeit, um Sterblichkeit und
Ohnmacht… nicht enthalten. Es kommt nun darauf an, ob solches Wissen und wie es erworben
wird. Nahezu jedes Kind empfindet die Ansprüche der Eltern und anderer Mitglieder seiner Um-
welt als sein Selbstbewußtsein beleidigend. Mit solcher Beleidigung kann es, sie verarbeitend, fer-
tigwerden, indem es seine eigene Begrenztheit akzeptieren lernt. Oder aber es wird die Beleidi-
gungen abwehren (vielleicht verdrängen). Dann aber bleiben die Allmachtsvorstellungen des
Kleinkindes, selbst noch im Erwachsenen, mehr oder weniger latent vorhanden. Und einer der
wichtigsten Lebenszwecke eines solchen Menschen wird es, mögliche Beleidigungen des
Selbstbewußtseins schon im Vorfeld abzufangen. Das scheint aber am ehesten geschehen zu kön-
nen, wenn er beginnt, Herrschaft auf seine Umwelt auszuüben und so Anerkennung und Vermei-
dung von Abwendung zu erzwingen - in jedem Fall aber Kränkungen auszuschließen.
Nur sehr wenige Eltern sind heute noch in der Lage, ihrem Kind das richtige Mittelmaß an Stren-
ge und Weite zu geben, das allein eine gesunde Verarbeitung der unausweichlichen Kränkungen
des Narziß in ihm erlaubt. Eine zu enge Erziehung wird dazu führen, daß die Kränkungen abge-
wehrt werden, eine zu lasche dazu, daß - weil starke Kränkungen ausbleiben - der primäre Nar-
zißmus erhalten bleibt und Aufarbeitungsforderungen in der Kindheit nicht erheblich werden.
So produzieren denn nicht wenige Familien Generationen potentieller Tyrannen, die, wenn sie ihre
Tyrannei nicht mit Gewalt durchsetzen können, nicht selten bemerken, daß Symptome somati-
scher oder psychischer Störungen eine Form der Herrschaft über die Mitwelt begründen können.
Oder auch eine Religiosität, die im Verfügen über die Allmacht Gottes (im magischen Beten etwa)
selbst an dessen Allmacht zu partizipieren versucht.
Optimal dürfte die Überwindung des primären Narzißmus verlaufen, wenn die Eltern (oder auch
andere Erziehungsberechtigte) die Inhalte der vermittelten Normen und Werte nicht über ihre ei-
gene Autorität, sondern über die von »Sachzwängen« vermitteln. Sachzwänge scheinen weniger
kränkend zu sein und eine höhere objektive Autorität zu haben als personengebundene Nötigun-
gen. Auf der anderen Seite aber fordern sie durchaus eine Relativierung der eigenen Allmacht-
vorstellungen ein.
Da in der bürgerlichen Erziehung aber die personenspezifische Sozialisation (gegenüber einer
schon sachlicheren statusspezifischen) allgemeiner geübt wird, nimmt es nicht wunder, daß die
Herrschaftsgelüste (aber auch andere Reste und Folgen eines nicht aufgearbeitenden Narzißmus
wie Egozentrik oder die Unfähigkeit, andere zu lieben) viele Mittelständler plagen. Da eine durch-
aus beachtenswerte Korrelation zwischen Liebesunfähigkeit und Herrschenwollen besteht, wird
man als Christ in der Erziehung in jedem Fall versuchen müssen, Verarbeitungen der ursprüngli-
chen Kränkungserfahrungen zu ermöglichen.
Eine weitere psychoanalytische Begründung der Herrschsucht finden wir in der Theorie über den
aktiv-oralen Charakter. Ein in seinen Bedürfnissen regelmäßig frustriertes Kind lernt gleichzeitig
(1) ein unstillbares Verlangen nach Zuwendung und (2) die Angst vor jeder Zuwendung. Diese
Spannung bleibt zeitlebens erhalten. Sie stellt sich in Symptomen vor, die es dem Geschädigten er-
lauben, Anerkennung und Vermeidung von Abwendung zu erreichen (schlechter Ersatz für die so
dringend benötigte, aber nicht akzeptable Zuwendung). Das geschieht oft in der Ausbildung des
»Herrschaftssyndroms«, wie wir es nicht selten bei Mitgliedern der »helfenden Berufe« (als »Hel-
fersyndrom« getarnt) finden.
Eine zweite Begründung für das merkwürdige Herrschenwollen gibt die Anbindung von Normen-
übernahme an Autoritäten. Erziehung geschieht in der bürgerlichen Kleinfamilie fast ausschließlich
autoritätsvermittelt. Ausdrückliche oder unausdrückliche, immer aber an den Vollzug durch kon-
krete Personen gebundene Strafandrohungen versuchen, den Normentransfer von einer zur ande-
ren Generation sicherzustellen. Insofern das Kind zum einen seine Eltern liebt, sich zum anderen
aber vor deren Strafausübungen fürchtet, kommt es nicht selten zu Doppelbindungen (Bezie-
hungsfallen), die der Entwicklung der kindlichen Psyche nicht nur abträglich sind, sondern sie
auch schädigen. In Beziehungen, die normengeregelt ablaufen, wird ein so gebildeter Mensch ver-
suchen, die Situation herzustellen, in der allein er Normen anzuwenden lernte, die Situation also
der Subordination.
Optimal geschieht eine Normenweitergabe in Großfamilien (oder »Kommunen«), weil sich hier In-
teraktionsmuster und Normen, die diese regeln, nicht ausschließlich über irgendwelche ausdrück-
lich erzieherischen Maßnahmen (also autoritätsvermittelt) vorstellen, sondern mit der Selbstver-
ständlichkeit der Praxis. Erziehung geschieht nicht in Subordinationsrelationen (also nicht über
Herrschaft), sondern über Koordinationsrelationen (also über Freundschaft, Kameradschaft
Gleichaltriger…).
Wird die Normenausübung also nicht schon im Normenerwerb an Subordination gebunden, wird
der junge Mensch Normen auch in Koordination leben können. Dann mag einmal die Rousseau-
sche Vision real werden, nach der Gesellschaft sich gründet als freie Assoziation freier Menschen.
Ein Traum, der übrigens auch den Theorien Marxens zugrunde liegt.
Wollen wir also lernen, die Jesusforderung zu realisieren und in Gleichordnung miteinander um-
zugehen, dann werden wir unsere Erziehungsstrategien radikal ändern müssen. Bislang produzie-
ren bürgerliche Familien oft nicht nur Tyrannen, sondern auch unglückliche Menschen. Unglück-
lich, weil auch die Ausübung von Herrschaft niemals den gekränkten Narziß Kränkung vergessen
läßt. Herrschaft wird also zum pathologischen Symptom (weil hier ein Mensch mit inadäquaten
Mitteln versucht, seine Wunden zu heilen).
Die Bindung von Norm an Autorität hat aber auch zur Folge, daß der Versuch, sich von als in-
adäquat erfahrenen oder als minderwertig erkannten Normen zu lösen, als nur im Widerstand ge-
gen Autorität möglich empfunden wird. Es gibt durchaus vernünftige Überlegungen, die Formen
des Terrorismus erklären als Auflehnung gegen faschistoid mißbrauchbare Normen, mit der dann
zwingend - wegen des Mechanismus des Normenerwerbs - ein Aufstand gegen das System ver-
bunden wird, das solche Normen über seine Agenten vermittelt und ihre Beachtung erzwingt.
Wie Sie schon bemerkt haben: Christentum lehnt nicht prinzipiell Herrschaft ab, wenn sie durch-
lässig und menschlich bleibt. Wohl aber widerspricht der Zwang, herrschen zu müssen, um aus
Herrschaft Ansehen und Macht zu beziehen, und alle aus diesem Zwang ausgeübte Herrschaft
vollständig und grundsätzlich jeder christlichen Sittlichkeit.

(2) Über den Sinn


Heute wird viel gesprochen vom »Sinn des Lebens«… Und das nicht von ungefähr. Viele Men-
schen wissen nicht um ein sicherndes Warum ihres Lebens. Da diese Erscheinung relativ neu ist,
läßt sich vermuten, daß es sich um das Symptom einer psychischen oder sozialen Störung handelt.
Es ist deshalb auch nicht sonderlich glücklich, wenn sich Kirchen und andere religiös motivierte
Gesellschaften aufmachen, dieses Sinndefizit zu füllen. Sie doktern in aller Regel an Symptomen
herum, ohne die Krankheit zu beheben. Diese aber liegt darin begründet, daß Menschen die Iden-
titätsfrage: »Wer bin ich?« (»Was kann ich?«) nicht beantwortet haben. Ein Mensch, der zurei-
chend sicher dies über sich selbst weiß, stellt die Frage nach dem Sinn nicht in existentieller Be-
deutung.
Somit müssen wir uns wieder fragen, durch welche Fehler in der Erziehung kommt ein solches
Defizit an Sinn, an Orientierung, in die psychische Grundausstattung von Menschen hinein?
Mit guten Gründen steht zu vermuten, daß ein Kind in den ersten fünf Lebensjahren für Eindrücke
vieler Art hoch sensibel ist. Es kann sie zudem kaum anders als emotional verarbeiten. In be-
stimmten Phasen dieser Jahre scheint die Sensibilität für Eindrücke bestimmter Art besonders groß
zu sein. Wie solche Eindrücke vermittelt werden, an welche Emotionen, Empfindungen und Vor-
stellungen sie gebunden werden, das macht zum guten Teil die Grundmuster aus, die eine Persön-
lichkeit zeitlebens definieren. Die Phasen hängen unmittelbar mit der Tatsache zusammen, daß
sich das Selbstbewußtsein des jungen Erdenbürgers schrittweise entfaltet.
In einer ersten Phase ist das Selbstbewußtsein noch recht unausgeprägt. Der junge Mensch befin-
det sich psychisch in einer Art Mutterleib. Die Bindung an eine Beziehungsperson ist existentiell
(geschieht sie nicht, oder wird sie abgebrochen, kommt es in der Regel zu irreparablen psychi-
schen Störungen). Manche Psychoanalytiker sprechen deshalb von einer Mutter-Kind-Einheit. In
dieser Zeit lernt das Kind radikal Vertrauen oder nicht, Vertrauen in sich selbst, in andere Men-
schen, in Situationen. Die potentielle Isolationsangst, die Bezugsperson könne nicht mehr wieder-
kommen, ist umso bedrohender, als die sozialen Fähigkeiten des Kindes recht unentwickelt sind,
so daß feste soziale Beziehungen zu mehr als einer Person nicht aufgenommen werden. Die zu
anderen Personen, geschehen vermittelt über die zur Bezugsperson. Da sich die Bezugsperson
nicht ständig um das Kind kümmern kann, werden Isolationsängste (in völliger Hilflosigkeit dieser
Welt ausgesetzt zu sein) stets erlebt. Sie müssen sich aber immer und immer wieder als grundlos
erweisen, wenn das Kind Vertrauen erlernen soll. Dazu ist es nötig, daß diese eine Bezugsperson
die wesentlichen physischen, psychischen und sozialen Bedürfnisse des Kindes befriedigt. Sie muß
das Kind füttern und trocknen, ihm zulächeln und es ansprechen, ihm Hautkontakt gewähren, ihm
aber auch Gelegenheit geben, Isolationsängste zu erfahren.
In einer zweiten Phase (nach der »psychischen Geburt«) versucht das Kind, sein Selbstbewußtsein
zu bilden, indem es herauszufinden versucht, wer es denn nun eigentlich (im Unterschied zu ande-
ren Menschen) sei. Diese Versuche beschäftigen das Kind vor allem im zweiten und dritten Le-
bensjahr. Zu einer optimalen Beantwortung der Frage »Wer bin ich?« kommt das Kind, wenn es
seine Autonomie möglichst intensiv, doch bei gleichzeitiger Respektierung der Ansprüche fremder
Autonomie ausbilden kann. Da die Wer-bin-ich-Frage stets auch im Entgegensatz zu anderen
Menschen ausgebildet und beantwortet werden muß, ist die Erfahrung der Grenzen eigenen auto-
nomen Wollens ebenso wichtig wie die Erfahrung eines möglichst großen Eigenraums.
Wird diese Frage nicht optimal gestellt oder beantwortet, hat das etwa diese Folgen:
• die Begründung der eigenen Identität geschieht überstark durch Identifikationen (mit Personen,
Institutionen, Ideologien…)
• die Begründung der eigenen Identität geschieht vom Haben her (Menschen definieren sich von
ihrem materiellen, geistigen, sozialen… Besitz her; sie sind nicht aus sich, sondern nur durch
ihr Haben; somit wird Haben zu einer existentiellen Kategorie),
• die Begründung der eigenen Existenz geschieht von der Fremdanerkennung her (solche Men-
schen versuchen über Leistungen oder pathologische Strategien, Anerkennung notfalls zu er-
zwingen, da sie sich nur in ihr selbst wiederfinden können).
Eine typische Frage solcher psychisch und/oder sozial gestörter Menschen ist die Frage nach dem
Sinn. Wer nicht weiß, wer er ist, wird versuchen, seinen Lebenssinn außerhalb seiner selbst zu su-
chen. Die Sinnfrage ist zumeist die Frage nach Identifikationsangeboten. Wer sie aber beantwor-
tet, indem er Identifikationsvorgaben macht, verkennt den Grund der Frage.
In einer dritten Phase versucht das Kind, nun einigermaßen wissend, wer es sei, herauszufinden,
was es kann. Sind in den vorhergehenden Phasen Fehlbildungen vorgekommen, kann diese Frage
überwertig werden. Das Sein soll vom Können her bestimmt werden. Diese Frage nach dem Kön-
nen beschäftigt das Kind mit Prägungsfolgen wiederum etwa zwei Jahre. Es ist in diesem Alter
(viertes und fünftes Lebensjahr) hoch sensibel für alles, was das eigene Können betrifft. Gemeint
ist nicht nur das Können im Bereich der Beherrschung der materiellen Welt, sondern auch das so-
ziale Können. Gemeint ist nicht nur das Können des eigenen Körpers, sondern auch das des eige-
nen Wollens und Verstehens.
Optimal wird diese Frage gestellt und beantwortet, wenn das Kind soviel Raum für die Entfaltung
eigener Initiativen erhält wie irgend möglich, zugleich aber auch seine Grenzen erfährt an den legi-
timen Ansprüchen fremder Initiative.
Ein Mensch, der die ersten fünf Lebensjahre unter optimalen Bildungsmöglichkeiten durchlaufen
hat, wird psychisch und sozial recht robust sein. Die Sinnfrage ist ihm eher akademisch. Auf kei-
nen Fall ist er disponiert zu einer Religiosität, die die eigenen Mängel kompensieren soll - also et-
wa auf die Sinnwunde Gott als eine Art Heftpflaster aufklebt. Er wird kein Verhältnis haben für
einen Gott, vor dem er sich fürchten solle. Die Disposition, daß er für sich die Jesusbotschaft als
erheblichen Lebenswert entdeckt, wird überdurchschnittlich groß sein - und er wird diese Bot-
schaft nicht auf seine Mängelbedürfnisse hin umbiegen.

(3) Über das Gottesbild


Sicher dürfen wir Menschen uns kein Bild von Gott machen. Jedes ist das eines Ungottes, eines
Götzen. Deshalb hat ja auch etwa der erste Johannesbrief vermieden, »Gott« als gegenständliches
Wesen einzuführen, sondern hat ihn von einer Funktion her beschrieben. Nicht, daß solche Funk-
tionen nicht zurückverweisen auf ihren Grund. Aber über den dürfen wir uns keine Bilder machen,
ohne die Funktion erheblich zu stören.
Ich habe schon ausführlich über das Thema »Gottesbild« gehandelt. Hier sei nur einiges nachge-
tragen, was für die konkrete religiöse Erziehung hin auf ein funktionales Gottesverstehen (»Gott
ist die Liebe«) erheblich sein könnte.
Es seien einige Optionen für eine optimale christlich-religiöse Erziehung genannt:
• Gott sollte niemals als lohnende und strafende Instanz eingeführt werden, sondern als ohne Be-
dingung Liebender.
• Gott sollte niemals eingeführt werden, um irgendwelche menschliche Autorität zu verstärken,
zu begründen oder zu sichern, denn, obschon Autorität zwischen Menschen nötig sein mag, als
diese kann sie sich kaum auf göttliche Legitimation berufen.
• Gott sollte niemals in einem fernen Himmel angesiedelt werden, denn den gibt es nicht. Gott ist
das, in dem wir leben, uns bewegen und existieren. Er ist gegenwärtig in allen Dingen und wir
können ihn als Liebe und Freude, als Leben und Schönheit in den Dingen erkennen, wenn wir
einmal gelernt haben zu sehen und zu hören.
• Am dichtesten stellt sich uns heute Gott vor in leidenden Menschen, denen liebend zu helfen
unverzichtbarer Anteil jedes Gottesdienstes ist.
• Wir sprechen zu Gott an erster Stelle durch die Art unserer Existenz. Wir sind also Gebet.
Wenn wir unsere Existenz im Beten ausdrücklich machen, dann sollten wir wissen, daß es nicht
unser Wort ist, das betet, sondern wir selbst es sind, die beten. Unser Wort mag nicht erhört
werden. Unser Sein aber allemal, wenn wir uns von uns selbst ablösen und in Liebe leben.
• Das Ziel unseres Lebens ist, daß Selbstlosigkeit und Liebe in und unter uns wachsen und somit
Gottesreich auf Erden gründen. Deshalb müssen wir uns immer mehr selbst aufgeben. Nach
dem Maß unserer Selbstaufgabe werden wir das erfahren, in dem wir tatsächlich leben, uns
bewegen und existieren.
• Das Bild von Gott, das Kinder haben (weil wir ohne Bilder nichts denken können), sollte so-
bald als möglich durch eine Pluralität von Bildern dynamisiert werden, um endlich ein funktio-
nales Gottesverstehen zu ermöglichen.
• »Gottesreich« ist nicht primär ein individuelles Ereignis, sondern in gleicher Ursprünglichkeit
ein soziales (und kosmisches). Die Frage kann also nicht heißen, wie ich einen gnädigen Gott
bekomme, sondern wie Gott am vollkommensten in Welt dargestellt und verwirklicht werde.
Religiöse Bildung sollte gezielt jede Orientierung auf irgendeinen Heilsegoismus vermeiden.
Der führt mit Sicherheit in eine Zerrform des Christlichen.

(4) Über Toleranz


Die Bildung zur Toleranz ist grundlegend für jede Erziehung. Für eine christliche Bildung ist sie
unverzichtbar, weil Toleranz eine Folge der Selbstablösung und eine Voraussetzung jeder Liebe
ist. Die Bildung zur Toleranz setzt jedoch vor allem einen toleranten Erzieher voraus. Nur dieser
wird zwei Einsichten vermitteln können, die, so früh als irgendmöglich, im kindlichen Bewußtsein
grundgelegt werden sollten (vgl. S. 156ff).
Objektiv gründet die Toleranz in der Einsicht, daß Gewißheiten, Sicherheiten, Selbstverständlich-
keiten, Unbezweifelbares in keiner Hinsicht Begründung für Wahrheit sind. Während »Wahrheit«
die Übereinstimmung von Aussage und Sachverhalt meint, also eine Eigenschaft einer Aussage ist,
sind Gewißheit, Sicherheit… psychische Zustände, die auf einer ganz anderen Ebene spielen und
über eine ganz andere Sache gehen als Wahrheit.
Wahre Aussagen sind für alle Menschen, die die Aussagen verstehen, wahr. Gewißheiten über ei-
nen Sachverhalt können aber sehr verschieden aussehen und hängen ab von den in der primären
Sozialisation vermittelten Grundmustern über Verhalten und Sprache (bzw. deren Normen und
Werte). Sie hängen ferner ab von gegenwärtigen Bedürfnissen, Erwartungen, Stimmungen, von
Bildung und sozialem Milieu, von Erfahrungen und Einstellungen…
Das aber bedeutet, daß verschiedene Menschen vor dem Anspruch der Wahrheit durchaus gleich-
wertige und gleichberechtigte, inhaltlich aber sehr verschiedene und einander widersprechende
Überzeugungen haben können, deren sie so sicher sind, daß sie sie nicht einmal bezweifeln kön-
nen. Das zu erkennen und anzuerkennen ist die objektive Grundlage der Toleranz. Sie gründet in
dem sicheren Wissen, daß meine Meinung für mich werthafter ist als die abweichende des andern -
nicht aber vor irgendeinem objektiven Hintergrund, solange ich meine Meinung in Gewißheit, Si-
cherheit, Selbstverständlichkeit gründe und nicht in der Lage bin, ihre Wahrheit mit einer Strategie
darzulegen, die prinzipiell von jedem Menschen nachvollziehbar ist.
Subjektiv gründet alle Toleranz in der auf Selbstannahme ruhenden Fähigkeit der Fremdannahme.
Nur wenn ich mich selbst nicht von irgendeinem Ideal her interpretiere, sondern von meiner kon-
kreten Realität her (wenn ich mich also zuvor selbst erkannt habe), kann ich auch realen Men-
schen gerecht werden und werde nicht versuchen, sie an der Meßlatte irgendeines Ideals zu wer-
ten, sondern aus sich heraus. Das Verstehenwollen eines Menschen aus seinen eigenen Gründen
ist aber notwendig mit der Bereitschaft zur Nächstenliebe verbunden. Sie akzeptiert den anderen
wie er ist (und nicht wie man möchte, daß er sei). Um so mit ihm ein Stück Lebens zusammenzu-
gehen, hin auf gemeinsame Verwirklichung, in der Selbstverwirklichung geschehen kann.
Das Leben mit Lebenslügen, das Selbsterkenntnis verhindert und eine erhebliche Realitätsdistanz
mit sich hat, ist dem christlichen Anspruch auf Demut fremd. Selbsterkenntnis mit folgender
Selbstannahme, sind sicher sehr zentrale Bildungsziele einer christlich verantworteten Erziehung.

(5) Über das Gewissen


Ich sprach schon über die Verpflichtung der politischen (und ökonomischen) Gewalten, den Ent-
scheid des fremden Gewissens zu respektieren, vor allem, wenn es bestimmte Handlungen verbie-
tet, und den Spruch des fremden Gewissens auch gegen sich gelten zu lassen. Hier stellt sich die
Frage, wie ist ein solches Gewissen zu gründen?
Die im Laufe der ersten Lebensjahre erlernten und später internalisierten Normen stellen Hand-
lungsanforderungen und Handlungsbewertungen bereit, die im Verlauf des Prozesses der Normen-
und Wertungsaneignung auf bestimmte Inhalte, Vorgänge, Entscheidungen angewandt werden.
Die wertende Reproduktion des Erlernten nennt man geeignet »konventionelles Gewissen«. Seine
Inhalte werden im Kontext der Normenaneignung erlernt. Selbst wenn es sich als »innere Stimme«
vorstellt, die verbietet oder gebietet, urteilt oder freispricht - es handelt sich dabei um das Echo
der Gebote und Verbote der Eltern (oder anderer Erzieher).
Zweifelsfrei ist es wichtig, daß ein Mensch über eine starke Regulierung durch sein konventionel-
les Gewissen verfügt. Andernfalls würden sehr bald die Konflikte in ihm und um ihn herum, die
psychischen und sozialen, überhandnehmen. Anderseits darf dieses Gewissen nicht eine wirksame
Kritik gegen seine Forderungen oder Verbote ausschließen. In diesem Fall könnten bestimmte Au-
toritäten, die als Schützer des konventionellen Gewissens einmal auftraten (»Gott«, ein Elternteil),
längst nach deren faktischen Verschwinden aus dem bewußten Leben erheblich werden und re-
pressiv Gehorsam erzwingen.
Die Parallelisierung von sittlichem und konventionellem Gewissen beruht nicht selten auf der I-
dentifikation von Schuld und Schuldgefühlen. Der Ungehorsam gegenüber dem konventionellen
Gewissen wird mit Schuldgefühlen geahndet. Diese scheinen auf objektive Schuld zu verweisen,
sie gar anzuzeigen. Das ist nicht so. Schuld liegt allein im Ungehorsam gegenüber dem sittlichen
Gewissen vor. Eltern sollten also in der Erziehung darauf achten, daß
• das konventionelle Gewissen zureichend stark ist, um das normale soziale Verhalten zu regulie-
ren,
• keine Instanz im konventionellen Gewissen so stark wird, daß sie bedingungslosen Gehorsam
erzwingt,
• die Differenz zwischen Schuldgefühl und objektivem Schuldwissen deutlich wird.
Endlich sollten sie dafür sorgen, daß dem jungen Menschen eine Vielzahl von psychisch und sozial
verantworteten oder verantwortbaren handlungsleitenden Werten bekannt werden, deren geordne-
te Menge den Inhalt des sittlichen Gewissens begründet. Diese Werte werden in Eigenverantwor-
tung akzeptiert und als verpflichtend übernommen. In diesem Prozeß gründet die sittliche Persön-
lichkeit.
Handlungen, die vor der Gründung der sittlichen Persönlichkeit getan, Entscheidungen die vorher
getroffen wurden, sind nicht sittlich, sondern allenfalls konform oder nicht-konform gegenüber
den Ansprüchen des konventionellen Gewissens. Ob ein Mensch Theist ist oder nicht, entscheidet
sich nicht dadurch, ob im konventionellen Gewissen ein theistisch - religiöser Bezug besteht, son-
dern ob dieser im sittlichen Gewissen grundgelegt ist.
Von hierher ergeben sich wiederum einige Hinweise für eine Erziehung aus christlichem An-
spruch:
• In der Phase der Grundlegung des sittlichen Gewissens (etwa 6. bis 10. Lebensjahr) sollte das
Kind oberste handlungsleitende Werte in der Praxis erproben dürfen - selbst, wenn es mitunter
zu einer unguten Beschränkung des Einflusses des konventionellen Gewissens kommt.
• Das Kind sollte lernen, daß es allein die Verantwortung trägt für die Ausbildung seines Gewis-
sens und daß es ihm unbedingt zu gehorchen hat (selbst wenn äußere oder innere Strafen dro-
hen).
• Es sollte am Ende dieser Periode wissen, daß der konventionelle »Gott« der frühen Kindheit, in
individuellen Entscheidungsverfahren modifiziert, neu erworben werden muß.
Dann wird es bereit sein, den abenteuerlichen Weg ins Christentum zu gehen - auch umgeben von
einer bedrängenden und fordernden Industriegesellschaft.

De licentia superiorum Colonia 2. 3. 81

Vous aimerez peut-être aussi