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2011
BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildung:
„Epileptiker“. Miniatur aus dem „Buch der Eigenschaften“, Bibliothèque Nationale, Paris.
Aus: Daniela-Maria Brandt, Epilepsie im Bild. Darstellungen zur Fallsucht
aus 6 Jahrhunderten. Eine Dokumentation der GEIGY-PHARMA,
Wehr, 1985/86, S. 95.
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Inhalt
Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
A Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
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6 Inhalt
22. Psychisch krank? Folklore-Psychiatrie: Böser Blick und böse Zungen 232
23. Psychosomatisches Allerlei: „Von dem Eysenchrowt vnd seyner
Tugent“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240
24. Schlafsyndrome: Der Münchner Nachtsegen und sein Geister-
gewimmel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
25. Tiersegen: Der zweite Merseburger Zauberspruch
Wotan als Rossarzt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264
26. Tiersegen für Vieh und Hirtenhund: Wolfsbeschwörungen und
Herdenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
27. Unfall- und Gefahrenvorsorge: Die Kaiser-Karl-Briefe mit dem
Kreuzsegen und die Himmelsbriefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
28. Unfall- und Gefahrenvorsorge: Der Weingartener Reisesegen mit
dem heiligen Ulrich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301
29. Wunden: Die drei guten Brüder begegnen Christus . . . . . . . . . . . . 309
30. Wurmvertreibung: „gang ûz, nesso !“ oder: „ubi pus, ibi evacua !“ . 313
31. Wurmvertreibung: Der Regensburger Hiobsegen . . . . . . . . . . . . . . 323
32. Zahnschmerzen: Beschwörungen mit Petrus am Stein und die
Gebete zur heiligen Apollonia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332
33. Die heilkundlichen Segens- und Gebetsformeln der Hildegard
von Bingen (1098–1179) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346
D Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367
1. Register einiger wichtiger Gehirngebiete und neurologischer Begriffe 367
2. Register mehrfach genannter historischer Persönlichkeiten . . . . . . . 372
3. Verzeichnis der Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373
4. Stichwortregister (Personen, Sachen und Themen) . . . . . . . . . . . . . 379
5. Quellenregister (Archivalien und ältere Schriften) . . . . . . . . . . . . . 385
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Übersicht
Den Benutzer dieses Buches erwarten drei Schwerpunkte in einer komplexen Ma-
terie:
2. Durch Übersetzung und Erklärung soll zu jedem dieser Texte für jeden Leser ein
Zugang geschaffen werden. Kulturelles Umfeld, Wurzeln und Heilstrategie der
Formeln werden behandelt. Zum Verständnis der Wirkungsweise dieser Wort-The-
rapie tragen Theorien zu Magie und Rhetorik bei. Aber deren einseitige Heranzie-
hung ohne Beachtung der Ergebnisse der modernen Gehirnforschung verengt den
Blick. Ärzte, Mönchsärzte und Hebammen des Mittelalters waren keine Schama-
nen, Magier oder Zauberer. Mit der Anwendung der Heilsprüche verband sich in
der Regel eine praktische Therapie. Mehr noch: Die Heilspruchtexte dienten aus
heutiger Sicht als vielfach genormte neuropsychosomatische Begleitinstrumente in
der Arzt-Patient-Beziehung einem erfahrungsgeleiteten ganzheitlichen Vorgehen
bei fast allen Krankheiten. Die bisherigen rückblickenden Deutungsmuster der
Texte werden total entzaubert, wenn wir theoretisch und modellhaft die Funkti-
onsweisen des menschlichen Zentralorgans in den Blick nehmen. Wie hätten
„Zaubersprüche“ funktionieren können?
Um die Überbrückung der tiefen semantischen Kluft zwischen Hirnforscher-
sprache und Philologen- und Alltags-Sprache nicht zu überlasten, sind die neuro-
logischen Bemerkungen zu den einzelnen Kapiteln jeweils an ihrem Ende angefügt.
Die Sprache der Hirnbiologie mag manchem in Anbetracht der ursprünglich poe-
tischen Sprache der mittelalterlichen Texte allzu technisch, vereinfachend oder
oberflächlich erscheinen. Es geht um die Entmythologisierung und um die Sicht-
barmachung humanbiologischer Elementarvorgänge. Die Eigenschaft „performa-
tiv“, die ich diesen Texten gebe, dürfte einen tragfähigen Brückenpfeiler von der
Sprechakttheorie zur Biologie bilden, weil sie die sozialmedizinische Dynamik des
Sprechens und die Handlungspotenz der Sprechenden beschreibt.
gar Perversion widerspiegeln. Auch die „reinsten“ spirituellen Sprüche des Hoch-
mittelalters waren schutzlos dem Sinneswandel oder der Sinnverwirrung der Jahr-
hunderte ausgesetzt, nachdem sie außerhalb der Klosterspitäler geschrieben und
später gedruckt wurden. Zu den Verboten des wilden Segensprechens mit dem
Vorwurf der Profanisierung heiligen Gutes, hatte schon der Südtiroler Hans Vint-
ler (gest. 1419) die Entwaffnung notiert: Auch sprechend sy: ‚mich hatz gelert ein
pfaff, wie möchtz es pöß gesein?‘ Und aus der Sicht des Theologen, der große Predi-
ger Geiler von Kaysersberg (gest. 1510) auf die Frage, wie das Segnen aufgekom-
men sei: Es hat einen guten anfang gehabt, aber es hat ein bös end genommen. – Und
es ist Absicht, daß hier Sprüche der Vorbeugung und der psychiatrischen Randge-
biete eingefügt sind. Trotz mancher Verwilderung der Textformen und Inhalte kön-
nen viele Fährten im nachmittelalterlichen Dschungel dieser Heilkultur bis in die
Gegenwart nachgezeichnet werden.
Nach der Diagnose – so der Grundsatz des Arztes – nach ihr, kommt die Therapie:
„Vor die Therapie haben die Götter die Diagnose gestellt“. Die Therapie aber hat
drei Werkzeuge: das Skalpell, die Pille und das Wort. Vom Wort und seinem Ein-
satz zur Linderung von Leiden in ferner Zeit soll die Rede sein, von sogenannter
„Sprechender Medizin“, von „Verbaltherapie“, von dem, was zum Bereich der
heute geläufigen Megabegriffe „Psychotherapie“ und „psychosomatische Therapie“
gehört. Psychotherapie, aus dem Griechischen, heißt „Pflege der Seele“. Nicht en-
ger, nicht spezieller darf Psychotherapie hier verstanden werden.
Der Begriff Psychotherapie hat seit über 100 Jahren aufgrund der Herausbildung spezieller
Methoden und beruflicher und vereinsgeprägter Standartisierungen feste Definitionen und
Inhalte bekommen, die für das Gesundheits- und Krankenkassen-System verbindlich wur-
den. Eine Flut von Spezialisten mit hunderten von immer attraktiveren Titeln ihrer Künste
konkurriert miteinander; ihre Aufzählung allein würde ein eigenes Buch füllen. Die Flut der
gleichzeitig blühenden außerwissenschaftlichen esoterischen Heilmethoden in Stadt und
Land weist darauf hin, welchen Erfolg die Wellen der laizistischen Aufklärungen seit 250
Jahren hatten.
In den Geschichtsbüchern über Medizin und Psychiatrie haben eher die Werke
der Antike große Aufmerksamkeit erfahren. Besonders wird herausgehoben, daß
sich die altgriechischen Ärzte vom vormaligen Dämonenglauben befreiten. Seeli-
sches Kranksein werde dort meist als Erkrankung des Körpers, gelegentlich des
Gehirns, gesehen und mit Medikamenten, Diät und Zuspruch behandelt. Als Be-
weis für die Überwindung dämonologischer Vorstellungen der Ägypter und Baby-
lonier ist immer wieder eine Hippokratische*1 Schrift zur Epilepsie herangezogen,
in der ihre göttliche oder heilige Ursache abgelehnt wird.
Damit werden auch Besessene zu körperlich Kranken. Pythagoras (um 580 vor Christus),
später Asklepiades und Celsus zur Zeit des Kaisers Augustus in Rom, empfehlen schon
Therapie mit Musik und Geräuschen; man kannte Poesietherapie mit Gesang, Kult und
Gebet zu Apoll und Asklepios. Aber auch Drohungen, Folter, Auspeitschen und Wassertau-
chen waren in Rom gebräulich. Die Viersäftetheorie der Autoritäten von Hippokrates* bis
Galen* und bis ins späte Mittelalter stand so stark im Vordergrund, daß weitere Fortschritte
nicht möglich wurden. Viele orientierten sich an der Psychotherapie der Philosophen. Eine
Unterscheidung seelischer Krankheiten wird erstmals von Soranus genauer beschrieben, für
ihn gibt es drei Geisteskrankheiten: Phrenitis als meist fieberbegleitete Psychose, Manie und
Melancholie. Diese Benennungen haben mit den heutigen Krankheitseinheiten fast nichts
zu tun.
Andererseits gingen schon in der Antike Ideen zu einer psychosomatischen Ganzheitsbe-
handlung den somatisierenden Vorstellungen parallel. Man kann die Philosophie der Leib-
Seele-Einheit mit Plato (427–347 vor Christus) beginnen lassen. Er wendet sich gegen rein
körperliche Behandlung und verweist auf einen thrakischen Arzt, der ihm gesagt hat: Daß
dich ja nicht jemand überrede, mit dieser Arznei seinen Kopf zu behandeln, der dir nicht vorher
auch seine Seele darbietet, um sie mit den Besprechungen von dir behandeln zu lassen! (Charmi-
des, 157 b). Arznei und Heilspruch gehören damit zusammen, an erster Stelle steht aber die
Seele. Heilmittel wirken nur dann, wenn sie mit den richtigen Worten glaubhaft verabreicht
werden. – Es ist gedanklich nicht weit bis zu einem Brief des Bischofs Basilius von Caesarea
(um 330–379 nach Chr.) an seinen Arzt, aus der Zeit des Umbruchs nach Konstantin und
nach dem ersten ökumenischen Konzil von Nicäa (325): Bei Dir ist die Wissenschaft beid-
händig. Du erweiterst die Grenzen der Philanthropia, indem Du die Wohltat der Kunst nicht
auf den Körper beschränkst, sondern Dich auch um die Heilung der Seelen kümmerst. (Epist.189,
Nr.1, zit. nach Entralgo, Arzt und Patient. S. 56). Ein großer Schritt aber ist es bis zu René
Descartes. Sein Konzept psychosomatischer Wirkkomponenten im „Traité des passions de
l’ậme“ 1649 schließt frühkindliche Erfahrungen und Gehirnfunktionen ein.
Wer sich über die Geschichte der Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
des Mittelalters und die Tätigkeit der Ärzte jener Zeit informieren möchte, trifft
in einschlägigen Werken bis heute auf gravierende Widersprüche oder auf ein
schwarzes Loch. Die sog. Klostermedizin im Abendlande mache gegenüber dem
Orient einen „schlichten Eindruck“ schreiben Walter Bruchhausen und Heinz
Schott 2008 in einem gerade der Theorie und Ethik der Medizingeschichte gewid-
1 Die mit * versehenen Namen und Begriffe finden im Anhang besondere Erklärung.
meten Werk. Im Detail müssen sie aber dann im gleichen Buch die karitative Ar-
beit der Klöster darstellen. – Es sei über Psychiatrie im Mittelalter nicht sehr viel zu
berichten, schreibt Erwin Ackerknecht 1963, nur leider viel Negatives. Jedoch
seien die gegründeten Klosterspitäler etwas Großartiges gewesen; sie hätten auch
seelisch Kranken Schutz und Hilfe geboten. Exorzismus habe oft geholfen, aber –
und nun erfolgt wie immer der Sprung ins 15. Jahrhundert – der fürchterliche
Rückfall in die Hexen- und Teufels-Vorstellungen, denen auch Psychiater noch
lange anhingen, habe die Psychiatrie selbst als Medizinfach degradiert. – Und be-
sonders gern wird die Formel von der „Psychotherapie vor Freud“ benutzt, um im
Handumdrehen alles Vergangene zu schwärzen und das vermeintlich Neue zu ver-
golden.
Dabei wird von den Historikern eine Differenzierung der seelisch Kranken mit
Psychosen und Wahnideen von körperlich Kranken mit seelisch verursachten oder
nachfolgenden Symptomen, also den psychosomatischen Leiden und Beschwer-
den, oft nicht angestrebt. Die Geschichtsschreibung überfrachtete sich vielmehr
mit Stoffen, die nur den Blick fangen. Damit geriet auch die Psychotherapie nicht-
psychotischer Krankheiten ins Abseits und wurde oft zusammen mit dem „Zauber-
spruch“ und der „Magie“ einer postulierten dämonistischen Vorstellung in eine
Ecke geworfen. Von germanistischer Seite hat allerdings Joachim Telle schon 1972
klar gestellt, daß die Segen und Sprüche der psychosomatischen Behandlung ge-
dient haben mußten, einfach schon deshalb, weil sie in den alten Medizinbüchern
in fester Überlieferungsgemeinschaft mit schulmedizinischen Traktaten und empi-
rischen Rezepten stehen.
Selbstverständlich ist die Art einer Psychotherapie, mehr noch als die der prak-
tischen Medizin von den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen, dem Zeitgeist
und dem Entwicklungsstand der medizinischen Wissenschaft abhängig. Einige
kurze Andeutungen dazu müssen genügen: Nach der Trennung in Ost- und
Weströmische Reiche 395, in „Byzanz“ und „Westrom“ und dem Zusammenbruch
Westroms 476 waren es im Westen die Klöster, die nach dem Umbruch der Völker-
wanderung die Reste antiken medizinischen Wissens zu bewahren suchten. Bene-
dikt von Nursia (480–547), Cassiodor, des Ostgotenkönigs Theoderich Berater
und späterer Mönch (vor 490–583) und Isidor von Sevilla (560–636) wurden Ex-
ponenten einer christlichen Medizin und neuen Ethik.
Krankenfürsorge wird nun aus Nächstenliebe betrieben. Auch wem nicht mehr
zu helfen ist, dem darf sich ein Arzt nähern, ohne Beschuldigung zu riskieren. Das
Verwerfen nicht ganz perfekter Neugeborener hat ein Ende. Manche Ärzte arbeiten
unentgeltlich, auch über die Klöster hinaus in der Bevölkerung. Das Altertum
hatte keine allgemein zugänglichen klinischen Einrichtungen gekannt; im alten
Rom gingen Ärzte in die Häuser der Wohlhabenden; nur Soldaten in fremden
Ländern wurden klinisch versorgt. Vorbild für den Westen wurde das christliche
Byzanz mit dem Sampson Xenon. Benedikt verfügt, daß jedes Kloster einen Kran-
kenpflegeraum erhält. Erste Asyle und Spitäler entstehen nach dem 7. Jahrhundert
in Reims, St. Denis, Auxerre, Corbie und Paris, am Ottilienberg, in St. Gallen und
Fulda.
Cassiodors Bibliothek mit vulgärlateinischen Schriften gelangt ins Benedikti-
nerkloster Monte Cassino, wo auch weitere antike Medizinwerke, auch jene aus
arabischen und byzantinischen Quellen, übersetzt werden, ähnlich in England
durch Beda Venerabilis, in Fulda und auf der Reichenau, etwas später in vielen
weiteren Klöstern. Die heute nachweisbaren schriftlichen Zeugnisse dieser „Klo-
stermedizin“ mit der Erwähnung ihrer Diagnostik, ihrer Kräutergärten, Instru-
mente und Pflegeeinrichtungen – zum Beispiel im Krankenhausplan des Klosters
St. Gallen dokumentiert – sind nur zufällig oder glücklich erhaltene Spuren und
Reste der Belege dafür, was vor etwa 1200 bis 800 Jahren geleistet wurde. Die vie-
len alten Kataloge zeigen an, was alles verloren ging. Sie können nur eine Ahnung
von dem geben, was der geistig-geistliche Neubeginn einer Zuwendung zum Kran-
ken bedeutet hat. Hatten die Arztmönche und Mönchsärzte weniger „Motivation“,
Kranken zu helfen als heutige Therapeuten? Hatten sie Methoden und Ideen, die
den gesellschaftlichen Gegebenheiten widersprachen? Konnten sie einen medizini-
schen Fortschritt in Krankheitslehre und Naturwissenschaft bewirken, den die me-
dizinischen Fakultäten erst Jahrhunderte später erzielten?
Zu den Spuren der hochmittelalterlichen Medizin gehören auch die einzigen
Zeugnisse praktizierter Psychotherapie, die Beschwörungstexte, Segen und Gebete,
jene, die ausdrücklich mit Vermerken über die Anwendung für ein Symptom oder
eine Krankheit versehen sind. Selbst im Wissen um die Autorität der Theologen,
die Vorrangigkeit des religiös verstandenen Seelenheils und den oft symbolhaft ver-
standenen Charakter körperlicher Schäden und Mängel muß dem Wirken der mit-
telalterlichen Ärzte unter Gebrauch dieser Spruchformeln eines zugestanden wer-
den: ein Dienst am Kranken in irdisch-lebensnaher und individueller ärztlich-me-
dizinischer Hilfsbereitschaft, gleich wie auch immer bewußt gewollt und gemeint,
so doch gleichzeitig bewirkt.
Vom Wort ist also die Rede und hier vom Wort des Arztes, des Heilers oder der
Hebamme. Und beim Überblick über all die Krankheiten, denen Sprüche gewid-
met sind, ist erkennbar, daß ganz überwiegend akute und subakute Zustände, nicht
chronische, zur Behandlung anstehen. Das ist es, womit jemand heute wie damals
Tag und Nacht einen diensthabenden oder einen Not-Arzt rufen oder aufsuchen
würde. Es sind Anfälle, Blutungen, akute Schmerzen, Fieber, Halsenge, Panikattak-
chen“; ein akuter Rückenschmerz mit abgrenzbarer Gefühlsstörung auf der Bauch-
haut, der Arzt denkt laut: „Vielleicht ein Querschnitt“. Die drei Worte Dialyse,
Metastase und Querschnitt sind dem Spracherkennungszentrum bekannt, können
unschwer gedeutet werden und führen bei vielen Patienten zuerst zu ängstlichen
oder panischen Reaktionen, obwohl die ärztlichen Aussagesätze eigentlich keine
abgeschlossene sichere Diagnose ausdrücken. Aber zu solchen Ärzten geht man
nicht mehr, wenn die Worte ein Fehlalarm waren.
In diesen Fällen erfolgte ein intensiver Austausch, ein Hin und Her der Potenti-
ale zwischen der mehrspurigen sehr empfindlichen zentralen Hörbahn, aus der un-
ser „Wort“ kommt, der Hirnrinde im linken Schläfenbereich zur Worterkennung
und der Amygdala* (Mandelkern) mit dem limbischen System für die emotionale
Bewertung. Es scheint, daß die Schaltung zum Stirnhirn mit seinen auch semantisch
kritischen Funktionen, die im allgemeinen eine rationale Deutung erzielen, durch
die stark negative Wortqualität in der Notsituation überwältigt und gedämpft war.
Die Vorläufigkeit differentialdiagnostischer Erwägung, die im vollen Satz der Ärzte
steckt, wurde nicht erkannt. Eigentlich hat sich das Gehirn getäuscht.
Ein weiteres Beispiel bringt uns den mittelalterlichen „Zauberworten“ einen
weiteren kleinen Schritt näher. Ein Chirurg vernähte wieder einmal unverrichteter
Dinge einen Bauch, als die Aussaat von Krebs-Metastasen offenkundig wurde. Bei
der großen Visite danach, die dem Ritual kirchlicher Prozessionen nicht nachsteht,
hebt der Professor seine Hand über dem Kranken empor und spricht das Wort
„Moribundus“. Der lateinunkundige Kranke habe es nicht verstanden, sei aber – so
die unter Ärzten berühmte Mär – nach vier Wochen gesund nach Hause gegangen.
Das unbekannte Wort fand weder in Hirn-Zentren der Erkennung noch in solchen
der Bedeutungsermittlung eine schlüssige Klärung. Hier bewirkten die Ereignisse
und Bilder des Aufwandes und der Autorität eine Positivierung des negativen Pro-
phetiewortes. Ich ziehe diese Geschichte nur heran, weil es bei manchen Krebsar-
ten mit Metastasen nach Statistik der Deutschen Krebsgesellschaft 0,27 %–8 %
Spontanheilungen gibt (Ärzteblatt 2005; 102(46)), sodaß ein solches Zusammen-
treffen nicht unmöglich ist. Aber es wird theoretisch deutlich, daß Gehirne ge-
täuscht werden können und daß durch für das Gehirn unsinnige und extravagante
Worte „suggestiv“ die genannten Zentren verwirrt werden können. Wissenschaftler
sprechen von Performation und Perturbation und meinen damit emotionale Salven
zur Erzeugung von Aufruhr im Unbewußten; das „Wort“ wird vokativ verstanden,
als Aufruf. Und manche unter ihnen glauben sogar, daß außer solch elektrochemi-
scher „Verwirrung“ des Gehirns ab Schuleintrittsalter nicht mehr viel von außen
bewirkt werden kann. Oft stellt sich auch in der Gegenwart die Frage, ob nicht mit
chinesischen Vokabeln und Zeichen wie früher mit lateinischen in Europa Psycho-
therapie möglich sei.
Experimentell (2006) wurden 2 Studentengruppen untersucht, die eine in hypnotisiertem
Zustand aller, die andere mit nicht hypnotisierbaren Personen. Allen wurde in dieser Phase
erzählt, sie sähen später unsinnige Wörter auf dem Bildschirm und sie müßten auf Kom-
mando die jeweilige Farbe der Schrift benennen. Die gezeigten Wörter waren aber nicht
sinnlose Zeichen, sondern Farbnamen in unterschiedlicher Schriftfarbe. Und es ist nicht
leicht, ein grün gefärbtes Wort „Rot“ rasch als grün zu benennen (Stroop-Effekt). Bei den
hypnotisierten Patienten zeigten die Hirnbildaufnahmen, daß die spracherkennenden Zen-
tren ausgeschaltet waren, so daß die Versuchspersonen nur die Farben unabhängig von dem
sie tragenden Wort nennen konnten.
Ziehen wir jetzt Worte und Texte der mittelalterlichen Sprüche heran, wie sie all-
gemein üblich waren, und beobachten wir die Behandlung eines akut verwunde-
ten, einsamen, von seiner Truppe versprengten Soldaten im Klosterasyl beim
diensthabenden Arzt. Der Arzt wird mit einer Pinzette die Pfeilspitze zu entfernen
suchen, er versorgt die Wunde mit einem Kraut oder einer Salbe und spricht dazu
etwa den Trierer Diptamkraut-Wundsegen des 10. Jahrhunderts, der die Kraft des
Schöpfers dieser Pflanze hervorhebt und damit wie viele andere Segen und Be-
schwörungen eine Verbindung mit Anfang und Gesamtheit der Welt insinuiert.
Die kleine an sich unwirksame Pflanze als Konkretum verweist auf das All als Ab-
straktum. Nicht Worte wie „Ruhe“, „Friede“, „Entspannung“, „Gesundheit“ wer-
den isoliert gesprochen, sondern ein vorstellbares Ding wird eingeschaltet.
Die experimentelle Neurolinguistik hat auch hier die Wege des Aktionspotentials
im Gehirn geklärt. Nur Konkreta, z. B. „Kraut“ oder „Tomate“ vermögen die Bedeu-
tungskonzepte für gespeicherte Sinneseindrücke zu aktivieren. Mit Tomatenge-
schichten hatte der amerikanische Hypnotherapeut M.H. Erickson (1901–1980)
sinnbildlich seinen Patienten ein Gedeihen ihrer selbst suggeriert. Das heißt, daß bei
der Sprachverarbeitung zusammen mit dem sogenannten Arbeitsgedächnis*, dem
Skizzen- und Notizblock des Gehirns, kurzfristig eine kaum bewußte Verbindung zu
„Aussehen“, „Geschmack“, Anfühlen“ dieses Dinges, also verschiedenen erinnerba-
ren Sinnesqualitäten bevorzugt hergestellt wird. Hier können alle Veränderungen
und Umstellungen, zum Beispiel in frühere Aufenthaltsorte und Szenen erfolgen.
Die Aktionspotentiale der Abstrakta kommen dagegen auch nach den modernen
Gehirnuntersuchungen nur schlecht an. Wir wissen das von der anderen, der wer-
benden Ebene: „Du bist Deutschland!“ verlief im Sande. Wen ich plump zu Ruhe
oder Einsatz auffordere, der gerät eher in Reserve oder Gleichgültigkeit. Ähnlich
funktioniert Autogenes Training auch nur dann, wenn ich meine Gedanken zunächst
konkret auf die Gliedmaßen und ihre Schwere und Wärme hinleite. Im Spruch kann
also auch der Sprung ins Weltall, die Einheit mit allem, vermittels eines kleinen Ge-
genstandes ermöglicht werden. Für den Kranken stimmt dann alles, er ist der Verun-
sicherung entledigt geborgen und gehört wieder in die Ordnung des Weltalls. Dessen
Basis war ihm im 12. Jahrhundert noch eine Scheibe mit Rom oder Jerusalem als
Mittelpunkt. Sein Mandelkern, der während des Prozesses der Wortprüfung intensiv
„eingeschaltet“ war, belohnt ihn mit wohltuenden chemischen Botenstoffen.
Eine wesentliche Idee vieler Sprüche, vom Liebeszauber bis zu den Pflanzenansprechfor-
meln und die Vielzahl begleitender ritueller Handlungen ist das Faszinosum der Allsympa-
thie. Es kommt bei schizophrenen Psychosen als leibseelische Entgrenzung infolge Defek-
ten in verschiedenen Zentren der Erinnerungs- und Raumvorstellung vor, vor allem in
Verbindung mit Minderentwicklung des Hippocampus*-Amygdala*-Komplexes. Der
Mensch fühlt sich verbunden mit allem – mit allem, was lebt, und oft mit aller Materie, ja
den Weiten des Weltalls. Es ist ein Gefühl universeller Vernetztheit oder Beseelung. Dichter
der Romantik und Forscher über Magie haben sich mit Vorliebe des Themas angenommen.
Die einen taten es, um ihren Lesern Flügel zu verleihen aus der Enge des Alltags, die ande-
ren, um immer neue Theorien zur Religionsphilosophie zu schaffen. Vielfältig ist die Idee
in therapeutischen Systemen angewandt, um Urerlebnisse zu generieren. Existentielle Äng-
ste, man könne seinen Platz im Universum verlieren, werden „bioenergetisch“ bearbeitet.
Die Überwindung raumzeitlicher Begrenztheit soll Transzendenzerfahrung ermöglichen.
Der Naturphilosoph Gustav Theodor Fechner (1801–1887) schreibt: Die Sonne selber kann
die Welt nicht hell machen ohne Seelen, die ihr Leuchten spüren, und er sieht diesen Einheits-
glauben vor allem bei Naturvölkern, Kindern und Narren. In der Neuzeit knüpft sich diese
Idee an kosmische Astrophysik über die Beryllium-Barriere im Prozess der Kohlenstoffbil-
dung im Weltall: Ob es sein könnte, daß meine Existenz als Kohlenstoff-Einheit ein Indi-
kator der Vorgänge am Wasserstoff und Helium-Abbau nach dem Urknall ist? Man disku-
tiert „anthropische Prinzipien“. Ist die Welt für uns geschaffen?
Eine weitere Funktion des Mandelkerns ist die Entschlüsselung von Symbolen,
gleich ob sie über Auge oder Ohr ins Gehirn kommen. Denn der Mandelkern hat
sehr viele Bahnen zum und vom Seepferd (Hippocampus*), das seinen Namen
nicht wegen der sehr wählerischen Weibchen dieser merkwürdigen Tiere, sondern
allein wegen der anatomischen Form eines mythischen Pferdefischwesens trägt. Es
ist das Vorzimmer und die Verwaltung des Langzeit-Archivs unseres Gehirns, über
das alle im Laufe des Lebens für speicherwürdig gehaltenen Erfahrungen eincodiert
und an die zuständigen Großhirngebiete weitervermittelt werden. Es gehört zu den
evolutionär ältesten Gebilden unseres Gehirns und hat bei den „Savants“, den Ge-
dächtniskünstlern, seine Funktion der Archivverwaltung eingebüßt. Aus dem Ge-
dächtnis können also gefühlsmäßig lebenserhaltende Zeichen zusammengesetzt
werden. Buchstaben wie INRI und CMB oder Bilder wie eine Pieta, ein Kreuz oder
eine Gottesmutter mit Fötus, eine Seitenwunde oder ein Longinusspeer lassen im
Gläubigen wie ungläubig Wissenden eine Fülle von Assoziationen dieser kulturtra-
genden Symbolik aufkommen.
Schließlich ein Blick auf die sehr häufigen Vergleiche (Analogien) in den Erzäh-
lungen etwa der Begegnungssegen oder im Hiobsegen, in denen Ereignisse berich-
tet werden. Der akut Kranke hört von einer anderen Welt, die zwar bekannte bibli-
sche Gestalten wie „Markenzeichen“ bringt, aber neue Signale zeigt. Diese werden
neu – gierig auf ihren Nutzen geprüft und vom Mandelkern gedeutet. Er ist das
emotionale Gedächnis des „gebrannten Kindes“. Die Beziehungen zum Hippo-
campus* und den Archiven des Gehirns finden aber exakt nun in der Notlage der
Gegenwart statt. Die erzählte Geschichte wird damit aktuell, wird lebendig und
kann genutzt werden, manchmal wie ein Strohhalm, aber völlig unbewußt. Unsere
Hirnsysteme neigen im allgemeinen zu harmonischen Interpretationen und dazu,
Ursachen passend zu machen. Und so werden berichtete Ereignisse auch einer Be-
deutung zugeschrieben, die in Wirklichkeit nicht besteht. Die zeitliche Distanz
entfällt. Hiob, Engel, drei Brüder und Christus werden Gegenwart. Die mythische
Entbindung von Fesseln durch die Dritte unter den Idisi des ersten Merseburger
Zauberspruches oder der Weg des Wurmes in der Tegernseer Wurmbeschwörung
aus dem Körper werden Gegenwart. Erzählte Ursachen und erzählte Wirkungen
werden zusammengelegt und im Heilungsprozess dynamisiert. Moderne Psycho-
therapie kennt diese Methode als „katathymes Bild-Erleben“, „suggerierten Tag-
traum“ und „Metamorphosen-Erzählung“. Es ist eine sinnvolle Gehirntäuschung.
Was bringt uns diese Betrachtung der Gehirnfunktionsabläufe beim Sprechen von
Worten in einer medizinischen Notlage? Nichts Unerwartetes? Die Welt unseres
Gehirns ist nicht wie die Welt um uns. Es hat eine andere Wirklichkeit. Unser
Gehirn arbeitet für unser Wohlergehen und unsere Existenz mit vielen Mitteln.
Jeder konnte sich das in etwa vorstellen.
Und so halte ich die Heranziehung der Arbeitsweise unseres Gehirns zur Einschät-
zung der Texte für entscheidend wichtig: Denn die Texte müssen als vernünftig
erkannt werden selbst unter den Vorbehalten teilweise ungenügender Diagnostik.
Ihre Bezeichnung als Zaubersprüche im Sinne von Undurchsichtigkeit oder Irra-
tionalität verrät die bisherige allgemeine Unkenntnis oder Vernachlässigung des
Hirnorgans. Die Forschung mit bildgebenden Verfahren am Gehirn wird die bisher
noch unklaren Wirkungsprofile der modernen Psychotherapiemethoden und da-
mit auch den theoretischen Rückblick auf ihre Ansätze in der Geschichte präzisie-
ren. Angelpunkt muß die im ersten Satz der Einleitung gemachte Forderung sein:
Therapie nach ärztlicher Diagnose, nicht nach Sozial- oder Geschäfts-Sinn. Denn
Spontanheilungsraten und vor allem Placebos könnten uns in Verlegenheit brin-
gen.
Anzumerken ist wegen der oft engen Verzahnung der Beschwörungen und Se-
gen mit Gebeten: Über sie, ob demütige Bitte, Erzählgebet in der Not oder nutzen-
vergessende Zwiesprache, hat der Theologe mitzureden, selbst wenn wir heute wis-
sen, wie Meditation und Kontemplation mit stimmungssteigernder EEG-Aktivie-
rung der linken Hirnhälfte korreliert. Religion und Gläubigkeit ebenso wie reflek-
Abb. 02 Die zentrale Hörrinde in der Tiefe der großen seitlichen Hirnfurche dechiffriert nur etwa
30 % der akustischen Signale aus alltäglichen Gesprächen. (Im Falle gespannter Erwartung wie
beim akut Kranken steigen ihre Kompetenzen deutlich an.)
Erstmals im 15. Jahrhundert ist in einem Schriftdokument aus Metten jene Frau an
einen alten Augensegen angefügt, die durch ihr legendengemäß tragisches Geschick
weithin auch im Volke Zuneigung finden konnte, die heilige Odilia, Patronin des
Elsass. Ältere Segen um Odilia/ Ottilia wurden bisher nicht gefunden. Der Schöp-
fer dieser Spruchkonstruktion hatte den Nerv volkstümlich mitfühlenden Gemütes
getroffen. Das war in diesem Fall für einen Benediktiner oder einen diesem Orden
nahestehenden Schreiber nicht erstaunlich, pflegte der Orden doch schon frühzei-
tig Verbindungen zur Vita, zur Legende und zum Kult der großen Volksheiligen.
Der Orden hat immer Ohr und Auge am Volk gehabt und hat volksfrommes
Brauchtum bewußt durch die Zeiten getragen, in erster Linie als religiöses Erzie-
hungsgut. Aus dem gleichen 15. Jahrhundert, nämlich für 1414 als Datum der
Niederschrift, rankt sich die legendäre Geschichte um eine kostbare Pergament-
handschrift1 des Klosters: 28 Kreuze und unterschiedliche Zeichen, Reime und
dazu gehörige Beschwörungstexte wurden zur Keimzelle der bis heute beliebten
Benedictusmedaille2. Für die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts ist in Metten die
Erweiterung der seit 1294 nachweisbaren Krankenstation belegt.3
Andere Benediktinerkonvente4 hatten sich mit der Pflege der jeweiligen Reliquienkulte eine
große Anzahl heilkräftiger Wallfahrtsorte geschaffen. Es entstanden Kultstätten auf dem
Nonnberg bei Salzburg zur vergoldeten Hirnschale der hl. Erentrudis gegen Kopfschmerzen
und zur Hirnschale des heiligen Sebastian nach Ebersberg mit ihrem Sebastiansminne-
Trunk. Eine Renaissance der Reliquienverehrung hatte im 16. Jahrhundert nach Entdek-
kung römischer Katakomben eingesetzt, weil man die dort gefundenen Reliquien für früh-
christliche Märtyrer hielt. Benediktiner und Benediktinerinnen auch der Klöster Geisenfeld
(hl. Dionysius, Kopfleiden), Neustadt am Main (Mantel der heiligen Gertrud für Schwan-
gere), und Füssen (Sankt Magnus-Stab gegen Ungeziefer und entsprechende Phobien) betä-
tigten sich im Geiste tradierter psychosomatischer Seelsorge.
Für Odilia, nachweisbar als Äbtissin von Hohenburg, werden Lebensdaten von
660–720 angenommen. Schon an der frühen Kultausbreitung in Süddeutschland
hatten Benediktiner wichtigen Anteil. Im 9. Jahrhundert gehörte Odilia der kirch-
lichen Liturgie von St. Emmeram in Regensburg an: Das erhaltene Bruchstück ei-
ner Heiligenlitanei nennt neben Spes, Caritas, Margarete, Lioba und Verena auch
Otilia – dies eine Übernahme aus Strassburger Quellen.
Das bayerische Urkloster Metten gehört zum Bistum Regensburg. Es wurde ca.
766 von Mönchen der Reichenau gegründet. Das Mettener Scriptorium stand eng
mit St. Emmeram in Verbindung. Schließlich war es ein in seinen letzten Lebens-
jahren im Regensburger Schottenkloster lebender theologischer Schriftsteller, der
erstmals die Legende der Heiligen in der Predigtlehre einsetzte, Honorius Au-
gustodunensis (gest. ca. 1151) in seinem „Speculum ecclesiae“. Er war ein Schrift-
steller, von dessen phantastischen Geographien sich noch Umberto Eco in Versu-
chung geführt fühlte, wie er gestanden hat. Honorius hat mehr für praktische Seel-
sorger als für Gelehrte geschrieben. Doch sei zunächst eine kurze Fassung des Be-
ginns der ursprünglichen Legende5 unserer Heiligen gegeben:
Nach Gottes Ratschluß wurde dem Elsässer Herzogspaar eine blinde Tochter geboren. Ver-
wirrung kam über den Vater, weil er glaubte, von Gott damit wegen eines Vergehens bestraft
zu werden. Er befahl, das Kind aus dem Weg zu schaffen. Gemäß Joh. 9,3 Jesu Wort: „We-
der dieser hat gesündigt, noch seine Eltern, sondern er ist blind geboren, damit die Werke
Gottes an ihm offenbar werden“ wollte die Mutter ihren Mann umstimmen. Aber der Her-
zog beklagte die Schande, und das Kind sollte einem Vertrauten übergeben werden, der es
töte oder an einen Ort schaffe, wo es niemand sehen könne. So kam Odilia durch Sorge der
Mutter in ein Kloster Palma (Baume-les-Dames ?), wo sie erzogen wurde „bis der Herr ei-
nem Bischof aus dem Bayernlande, namens Erhard, im Traum erschien und ihm auftrug:
„Gehe zu einem gewissen Kloster, das Palma heißt; dort wirst du ein Mädchen finden, das
von Geburt an blind ist; nimm es und taufe es im Namen des dreieinigen Gottes und gib
ihm den Namen Odilia, und gleich nach der Taufe wird es das Augenlicht erlangen““. Als
der Bischof das Kind „aus dem Taufbecken hob und dessen Augen mit Chrisam bestrich,
schaute es nach Lösung der Augenbinde klaren Blickes zum Bischof empor“.
An dieser Stelle der Legende setzt eine erste der verschiedenen Ereignisverortungen in der
Legenden-Verzweigung ein, deren möglichen historischen Linien der Benediktiner Romuald
Bauerreiss nachgegangen ist.6 Er hält eine Verbindung von o. g. Honorius von Augustodunum
zum Frauenstift Niedermünster in Regensburg, also zum Grabe des heiligen Wander-Bischofs
5 nach Barth, Medard: Die Heilige Ottilie, Straßburg 1938 (gemäß St. Gallen, Codex 577,
9. Jh.)
6 Barth, ebenda, S. 125
Erhard, dessen Lebensdaten freilich mit denen der hl. Odilie nicht direkt übereinkommen, für
sicher. Liegt hier die Nahtstelle für Odilias „Umzug“ ins Bistum Regensburg? Das Stift Nie-
dermünster soll in der Gegend von Hellring Besitz gehabt haben. Eine andere Version knüpft
die Verbreitung der Ottilienverehrung an die Augustinerchorherren, deren Paringer Stift 1141
besiedelt und nach dem Niedergang in der Säkularisation nun in den 70er Jahren des 20.
Jahrhunderts wieder belebt wurde. Dem Orden gelang ein Neubeginn für die verfallene Kir-
che und Wallfahrt Hellring. Paul Mai7 hält das Bestehen des Ottilienkultes sogar vom Beste-
hen dieses Ordens abhängig; man verehrt sie als „Kanonissin“, als Chorfrau. Legendär jeden-
falls wurde Hellring Odilias Erziehungs- und Taufort, hier vollzog sich das Wunder der
Blindenheilung. Odilia war zu einer bayerischen Heiligen geworden.
8
Drey hern gutt vor einer Kyrchen sazen Es saßen drei gute Herren vor einer Kirche.
Kom gnadig jungfraw sand Maria Kam die gnädige Jungfrau Sankt Maria und
und sprach zu im ir drey was siczend sprach zu ihnen: Ihr drei, was sitzet ihr hier?
ir hye/ sy sprachen fraw wir sehen nit/ Sie sprachen: Frau, wir sehen nicht.
do gräff sy nider auf erden und segnete Da griff sie nieder auf die Erde und segnete
fur wesen und zesen fur steken und für „Wesen“ und „Zesen“, „Stecken“ und
fleken / fur den (di?) wissen swarcz „Flecken“, die weißen, schwarzen und
und rot / fur den augen swer fur schoß roten, für Augengeschwür, Schossblatter
pletter und eren praten. fur alle dye und Ernpraten. Für alles Böse, was einer
misstaten die ains in aug hat / werd das im Auge hat. Werde das Auge klar und rein
og als clar und lauter / als unser fraw wie unsere Frau war und unseres Herrn
was / und unsers hern glob / Die heilige Glaube! Die heilige Jungfrau Sankt Otilia
jungfraw s. Otilia die ward plind gebo- ward blind geboren und ward in die Fremde
ren / und ward send in ellend die wurd gesandt und wurde wieder sehend.
si wider gesehen Heylig jungfraw Otilie Heilige Jungfrau Ottilie, ich bitte dich,
pit ich dich das das og dem menschen schenk dem Menschen sein Augenlicht wieder.
wider gesehend Jn nomine patris et Im Namen des Vaters und des Sohnes und des
filii et spiritus sancti Amen. Heiligen Geistes Amen.
7 Mai, Paul: Die Augustiner-Chorherren in Bayern (Hg. Rainer M. Müller), Paring 1999, S. 76f
8 München BSB Clm 8258, fol.218r, aus Metten, 15. Jahrh.
Mit seinem erzählenden Eingang betreffend „drei Herren gut“ knüpft der Mettener
Augensegen an eine ältere Segensfamilie von den „Drei guten Brüdern“ an, womit
drei Apostel in Begegnung mit Jesus Christus gemeint sind. Sie fand Verwendung
mit einer pflanzlichen Kuranweisung bei Geschwüren.9 Für Augenleiden waren es
allerdings zumeist Drei-Frauen-Segen oder Segen mit zwei heiligen Frauen und
einem heiligen Mann in verschiedenen Variationen (Tecla, Aquilina und Nazarina,
Nazarius oder Nazarenus oder Tranquilius), die in dieser Eingangserzählung auf
einem Stein am Ufer des Meeres sitzend für den Kranken gebetet oder gesponnen
haben. Am nächsten jenem antik-mittelalterlichen Text des Marcellus* von Bor-
deaux aus dem 5. Jahrhundert,10 dem man Abkunft aus noch antikeren Formeln
nachsagt, kam wohl ein Drei-Heilige-Frauen-Segen, wahrscheinlich altprovenzali-
scher Herkunft aus dem frühen 11. Jahrhundert:
11
In Christi nomine. Tecla Nicea et Aquilina In Christi Namen. Tecla, Nicea und Aquilina
super ripas maris sedebant. Tres virgas saßen am Ufer des Meeres. Sie hielten drei
aureas manibus tenebant. Nicea dixit: goldene Zweige in ihren Händen. Nicea sagte:
„Si tu es alba, Christus illam fundat.“ «Wenn du weiß bist, Christus vertreibts.»
Tecla dixit: „Si tu es rubea, Christus Tecla: «Bist du rot, Christus vertreibts.»
illam fundat.“ Aquilina dixit: „Si tu es Aquilina sagt: «Bist du schwarz, Christus
nigra, Christus fundat.» In nomine Do- vertreibts.“ Im Namen des Herrn,
omini maclas de oculo illo tollemus. […] Augenmakel, tilgen wir dich bei ihm.[…]
Auch gab es in der Personage der Texte eine Tradition, die indirekt auf Evangelien
(Veronika, Longinus), auf Legenden frühchristlicher Heiliger (Felicitas, Nikasius)
und auf die Erblindung des alttestamentlichen Tobias zurückgriffen.
Der Mettener Segen versetzt eine ursprüngliche personale Dreiheit, nicht von
Fürbittern, sondern von Leidenden – so scheint es – vom Stein am Ufer des Meeres
vor eine Kirche. Und es kommt zu einem Dialog mit der Gottesmutter. Diese über-
nimmt die rituelle Heilhandlung nach Evangelium Johannes 9,6f und „gräff sy ni-
der auf erden“. Es klingt die biblische Wunderheilung Christi mit dem Erdreich an;
es fehlt nur die Erwähnung von Speichel zur Bildung des heilsamen Teiges, den
Christus dem Blindgeborenen über die Augen strich. Ob der Schreiber sie kannte
oder nicht, nahtlos schlösse sich die Regensburger Augensegnungs-Anweisung12
des 11. Jahrhunderts an mit dem Wissen um Jesu Aufforderung: „Geh hin und
wasche dich im Teich Siloah!“. Funktionell verbindet die Gottesmutter diese Wun-
derheilung mit der aktuellen Not des Augenkranken. Sie wird dazu mittels einer
Konnotation zu Lauterkeit und Klarheit legitimiert. Denn nach der Farb- und
9 siehe Kapitel 29
10 siehe Kapitel 13
11 Leiden Univ.Bibl.Voss. lat.8°15, vor 1034 in St.-Martial in Limoges entstanden, veröffentl.
in: Anecd. Nov. (Hg. Bernhard Bischoff ) Quellen und Unters. zur lat. Philologie des Mittel-
alters, Band 7 (1984), S. 264f
12 München BSB Clm 14472, fol.166v, Volltext siehe C, Abb. 87
13 Schulz, M.: „herbrate“ und „hippischert“, in: Würzb. Med.hist. Mittlg. 19 (2000), 131–152,
hier: 134–142
14 Dresden SLUB Mscr. M 180, fol.83rv, Segensammlg. Schönbach, U.B.Gießen, Schönbach
vermerkt „grob schwäbisch“, die Fragezeichen von Schönbach gesetzt.
15 Siehe Kapitel 26
Auf 1617 datiert ein Segen, aus dem Schwarzwald.16 Darin ist ein anderer Legen-
denzweig nach Art der Hiob-Segen-Sippe verarbeitet, daher kommt der Einbau
vom „Ausfaulen“ der Augen, was der Ottilienlegende fremd ist. Ottilia, so weiß die
Legende nämlich, habe für ihren Vater, obwohl er sie völlig verstieß, so heftig ge-
trauert, gebetet und geweint, daß der Stein, auf dem sie kniete, die Spuren zeigt. So
gehört heute zur Wallfahrt auf den Odilienberg im Elsaß auch ein Besuch der Trä-
nenkapelle.
Sant Ottilia rein, sy kniet auf einem stein, sy weint, sy bettet, sy trauret, daß ihr ihre Augen
ausfaulen, da kame Maria Gottes Muotter und sprach, Ottilia, was thuost du hie? ich weine
und bette und traure, daß mir meine Augen wend außfaulen. da sprach Maria Gottes
Muotter: was wiltu mir geben, ich will dir deine Augen versegnen. sy sprach: waß soll ich
dir geben? es ist alles dein, himmel und erden und alles das da ist.
Maria huob auf ihre göttliche hand und versegnet sant Ottilia ihre Augen und hữrbraten,
den weissen und den roten, den Nagel und den Flecken, als getrib und alles gewib. und
alles ungefig, was dir so wehe in deinen Augen thuot, das soll aus dir zerschwinen
und zergohn, als die seind zerschwinen und zerganen, die Gott den herrn hand gebunden
und gefangen.
Im 16. und 17. Jahrhundert sind vereinzelt weitere Ottilien-Segen aus südlichen
Gebieten mitgeteilt, aus der Schweiz ein Spruch des 83-jährigen Martin Keller von
Uetikon. Er galt als Spezialist für „den Fleckhen der Augen“. Trotzdem sollte der
Kirchenstillstand (Vorstand) zu Meilen dem Greis das Segensprechen untersagen.
Geheilt wird hier mit 3 Kräutern, Fleckenkraut, Teufelsabbiß, Frauenkraut (nicht
wie sonst üblich mit Augentrost und Rittersporn, die der Ottilie geweiht waren)
samt dem Spruch:
17
Unsere Frauw ging in Egyptenland, da sy Sant Ottilia fand.
Sy sprach: wer hat dir gethon. Sy sprach: bättist
du mich so segnete ich dich […]
Wieder mehr auf die Legende von der Verstoßung in die Fremde, „ins elendt“ ein-
gehend, nun unter stillschweigender Voraussetzung der Wunderheilung durch die
Taufe, notiert ein fränkischer Schuster in seinem Hausbuch des späten 16. Jahr-
hunderts:
18
Ein blatter segen wan eins blattern im Aug hatt sol man
einen also für segnen. Die heilig Junpfrau sandt ottill war
blindt geborn war blindt verlorn, und war außgesandt,
Inns elendt es war eins tags so siz du nider blattern, an
16 Karlsruhe BLB, Handschrift aus St. Blasien Cod. Pap.Germ. 87, ,Arzneibuch eines Wundarz-
tes in Kränkingen‘ (?) 1617, veröff. Mone, Anz.6 (1837), S. 470
17 Wehrli, Paul, in: Schweizer Volkskunde 22 (1922), S. 7
18 Bamberg StAA, Handschrift Rep.A 245 VI Nr.40; Hausbuch (1570–99) des Schusters Hans
Zeis, Scheßlitz
dieser statt, siz nider und zu brich nitt, und thu diesen
gesicht nichts, das zell ich mir und dir zu buß […]
In einem elsässischen Segen des 17. Jahrhunderts rückt wieder die Begegnung mit
der Gottesmutter in den Vordergrund und Ottilias Klage über unglaubliche Au-
genschmerzen. Wahrscheinlich ist der „Nagel“ gemeint, eine fiebrige Augenent-
zündung der Pferde, auch als Augstall oder Haarseil bezeichnet.19 Die Behandlung
erfolgte mit Nadel und Faden und einem Abstreichgerät. „Waser badt“ und „atemb
aus gotes mundt“ sind Anspielungen auf das Passionsgeschehen, können aber
gleichzeitig für eine praktische Therapie mit Spülung und Frischluftzufuhr genutzt
werden.
20
Ein segen für augen wee. Gott vnnd St. Otilia giengen über ein grienen heit, begegnet in
vnser lieben frauw in einem weißen cleidt. Otilia, wo wilt hin? Ich weiß nit, wo ich hin soll,
so biter wee ist mir in meinen augen, das mir weder frauwen noch mann könen glauben.
Otilia, se hin den seiden fadten, damit streich dein negel. Alß klar sei das aug alß Gott
waser badt, das er hat getragen am heiligen Ostertag. Selig ist die Stundt vndt der atemb,
der got auß gotes Mundt.
In einem Siebenbürger Spruch aus einer Visitation um 1650/52 ist Ottiliens Name
verwischt, aber ihre Biografie noch erkennbar. Mit der Entfernung nach Osten
gegen die Konkurrenz zur heiligen Luzia als Patronin für Augenkranke schwindet
die Popularität von Ottilia. Die Erwähnung des „mermelinen Steins“, auf den sie
sich weinend niedersetzt, erinnert an die Sippe des Petrus-Zahnwehsegens:
21
Duidelgh, die ward blind geboren, sie ward blind auferzogen, sie kam in ihr Kindheit ihr
Eltern in grosz Unheild; sie ging in einen wilden Wald, sie fand ein mermelinen Stein, dar
sasz sie nieder nur allein, da weinet sie um ihr grosz Blindheit. Da kam Christus […]
Man sieht, daß sich ein für Ottilia eigentümlicher Spruchtyp nicht entwickelt
hat. Die Texte lehnen sich an Motive anderer Segenstypen an. Allein das „blind
geboren“ und die Aussetzung des Kindes in die Fremde kehren gelegentlich wieder
und blieben Merkmal eines früher wahrscheinlich im Süden verbreiteten Spruches.
Seit dem 17. Jahrhundert sind keine weiteren volkstümlichen Heilsprüche mit
Ottilia belegt, sieht man von einer Mitteilung aus Siebenbürgen22 für die Mitte des
19. Jahrhunderts ab, wo der zuletzt genannte Text aufgegriffen ist für die Behand-
lung von Augenstar, kombiniert mit der alttestamentlichen Anweisung aus dem
19 vgl. Lezius, Renate: Die Roßarzneischrift des Joh. Carlyburger 1683, Diss. München 1968,
S. 89f
20 Lefftz, Joseph, in: Archiv für elsäss. Kirchengeschichte 7 (1932), S. 213
21 Schuster, F.W.: Siebenbürgisch-sächsische Volkslieder, Hermannstadt 1865, Reprint Sändig,
S. 311 (nach Manuskrift Teutsch, Visitationen)
22 vgl. Wlislocki, H.v.: Volksglaube und Volksbrauch der Siebenbürger Sachsen, Berlin 1893,
S. 83
Buch Tobit, Tierleber aufs Auge zu legen. Weder „Duidelgh“ noch „Dudela“ wer-
den aber noch als Namen der Ottilia verstanden.
Heute, im Zeitalter „sozialer“ Indikationen und raumgreifender Fötaldiagno-
stik mit entwickelbaren Konsequenzen einer vorgeburtlichen Selektion kann die
Verehrung der heiligen Ottilia Beispiel geben, in welcher Form die Kirche jener
Zeit inhumanen Strömungen entgegengetreten ist. Die legendäre väterliche Hal-
tung gegen ein unvollkommenes Kind erinnert an antike heidnische Gewohnhei-
ten und ihre häretischen Rezidive, die die Kirche zu überwinden trachtete.
Lebendig bleibt vielerorts die Verehrung der heiligen Ottilia auch deshalb, weil
Blindenheilung unter allen Wundern eine höhere Dimension besitzt. Das Sehorgan
wurde gegenüber dem Ohr in der christlichen Kultur zumeist als intensivste
menschliche Sinnesqualität verstanden. „Sie haben Augen und sehen nicht“ weist
auf einen Unglauben hin, den die Lichtsymbolik in Gebet und christlicher Kunst
mit Christus als Sonne überstrahlen soll. Gelegentlich ist Ottilia nicht mit ihrem
Zwei-Augen-Attribut (auf einem Buch) dargestellt, sondern hält in ihrer Hand eine
Sonne (Tafel 1). Und in den Beschreibungen von Heilungswundern wird nicht
einfach von „sanatus“ (geheilt), sondern von „illuminatus“ (erleuchtet) gesprochen.
Betrachtungen zum folgenden großen Augensegen mit den drei Meerfrauen ergän-
zen diesen Aspekt.
Die ursprüngliche Heimat der schlichten Sammelhandschrift Clm 14453 der Bay-
erischen Staatsbibliothek aus dem Kloster St. Emmeram zu Regensburg, ist noch
nicht bekannt. Sie enthält verschiedene Schriften zu den Klageliedern des Prophe-
ten Jeremias. Inhaltlich scheint der lateinische Augensegen aus dem biblischen
Rahmen dieser Schriften herauszuspringen, aber das Lukasevangelium und ein
Blick in die mittelalterliche Kathedralkunst (Abb. 04) lassen vermuten, daß die
Einfügung des Segens wohl kein Zufall war. Der im 13. Jahrhundert geschriebene
umfangreiche Text lautet in gekürzter Form:
1
+ aligens +negligens +negligena +Aligens +Negligens +Negligena
supra ripam maris sedebant et dixit saßen am Ufer des Meeres. Und sprach
+aligens et dixit +negligens et dixit Aligens und sprach Negligens und sprach
+negligena. Eamus et diffaciamus Negligena [:] Gehen wir und entfernen wir
maculam ab oculo famulo dei. N. die Macula vom Auge des Gottesdieners N.
+ayos (3x) +sanctus (3x) pater noster Heilig heilig heilig
+allia +neglia +negligena +Allia +Neglia +Negligena
supra maris sedebant maculam de oculo saßen am Meer, wischten die Macula am
famuli dei N. detergebant et dixerunt[:] Auge des Gottesdieners N. ab und sagten [:]
Si est alba Christus spargat si est rubra Wenn sie weiß ist, möge Christus sie zer-
Christus deleat. si est nigra Christus streuen, wenn sie rot ist, möge Christus sie
deficere faciat. Christus vincit Christus tilgen, wenn schwarz, möge Christus sie z.
(97v) regnat Christus imperat. [ayos ...] Abfallen bringen. Christus siegt, herrscht,
adjuro te macula per deum altissimum. gebietet. Ich befehle dir, Macula, durch
per patrem et filium et spiritum sanctum Gott, den Höchsten, Vater, Sohn, hl. Geist,
et per unum deum vivum et verum den einen, lebendigen und wahren Gott,
omnipotentem creatorem celi et terre. den allmächtigen Schöpfer Himmels und
ut exeas et recedas et deleacis de oculo der Erde, daß du herausgehst und weichst
istius famuli dei N. Iterum te adjuro und zergehst vom Auge dieses N. Und noch
macula per angelos et archangelos . einmal beschwöre ich dich, Macula, durch
per benedictiones Abraham et Ysaac Engel und Erzengel, durch die Segnungen
et Jacob […], Abrahams, Isaaks und Jacobs […],
deprecor vos ut sitis medicamentum Ich bitte euch, seid Arznei über den Augen
1 München BSB Clm 14453, fol. 97r aus St. Emmeram, Regensburg, 13. Jahrh.,veröffentl.
Schönbach, Zeitschr. für dt.Altertum 24 (1880), S. 74f
Dieser Segen setzt wie viele Augensegen mit einer personalen Dreiheit ein, hier mit
entstellten Namen heiliger Frauen, die wie Zauberworte wirken. Am Beginn ein
Eklat, eine faszinierende Fremdheit, die die Sinne ablenken könnte in eine andere
geheimnisvolle imaginative Welt. Die Drei sitzen am Meeresufer wie jene drei
Heilwesen der alten Texttradition, deren Entwicklung sich wie ein Wurzelgeflecht
seiner exakten Erforschung verschließt.2
Die Namen der drei Heilwesen können entschlüsselt werden. Aus „Nelia Teglia“, aus „Teglie
Neglie Negaline“ und aus „Allia Neglia Negalina“ sind „Thekla, Nazarena und Aquilina“
durchzuhören.3 Thekla wurde allgemein in jeder großen Not angerufen; Aquilina ist Mär-
tyrerin, der die Henker mit glühenden Ahlen die Augen durchstachen, und Nazarinus er-
glänzte bei seiner Passion in himmlischem Licht, als Nero und seine Begleiter beim Verhör
erblindeten. Nazarenus’ Name wird zur Konstruktion eines Drei-Frauensegens oft verweib-
licht.
Abgesehen von dieser Einleitung baut der gesamte Text auf eindeutig kirchlich-bi-
blischen Elementen auf, wovon er ein buntes Gemisch bildet. Er tendiert zu wie-
derholenden litaneiartigen symptombeschwörenden Formulierungen und ist for-
mal betrachtet somit kein reiner Segen. Es wird ausschließlich eine „Macula“ attak-
kiert, die in späteren Texten als Mail und Mal übersetzt, für Katarakt, den grauen
Star gelten soll. Im Mittelpunkt steht das Evangelium Johannes 9,6f, also die Hei-
lung eines Blindgeborenen, dessen Augen Christus mit einem aus Erde und seinem
Speichel gemischten Teig bestreicht und heilend erhellt mit der Aufforderung: Geh
hin und wasche dich im Teich Siloah! – Christus ist wahres Heil und Heilung,
göttliche und irdische Medizin, eine biblische Wahrheit, die in volksfrommer Bild-
gebung für Ärzte und Apotheker später als „himmlischer Doktor“ und „Himmels-
apotheke“ Verbreitung finden sollte. Abschließend werden – im obigen Segenstext
von uns weggekürzt – zwei frühchristliche (Erz-)Märtyrer und Blutzeugen genannt:
Laurentius, der nach der Legende Blinde geheilt hat und Erasmus, einer der 14
Nothelfer, der mit Hilfe eines Engels geistig Blinde dem Lichte Christi zuführte.
Hiob ist als besonders lebensnahes und populäres Vorbild eines beharrlich mit Gott
um seine Heilung ringenden Menschen zu denken. Sein Leib wird nach alten Ge-
schichten von Maden zerfressen, auch seine Augen. Hiobs Geschichte gibt Aussicht
auf eine gute Prognose.
In seinem grundlegenden Werk zu den kirchlichen Benediktionen hat Adolph
Franz (1842–1916) zu Recht geschlossen, daß die lateinischen Augensegen Vorbild
für deutsche Texte wurden. So weisen etwa ein Jahrhundert nach dem „Emmera-
mer“ Text die ebenfalls umfangreichen Segen der Pergamenthandschrift Codex ger-
manicus Monacensis 544 übersetzte Anteile auf. Sie gehörten wahrscheinlich ein-
mal der Fuggerschen Bibliothek in Augsburg.
Dieser aus mehreren Teilen zusammengesetzte deutsche Segen im Cgm 54 – sollte er wirk-
lich in Umformung des Emmeramers oder einzelner seiner Teile entstanden sein – bewahrt
die Vermischung segnender Formeln mit befehlenden Beschwörungen und ersetzt die Zau-
bernamen und die performierende Eingangs-Szenerie der Drei-Frauen-Geschichte durch
eine kurze Erinnerung an Johannes den Täufer. Die Jordantaufe kehrt am Schluß wieder,
sodaß der Segen wahrscheinlich mit einem Taufwasserritus verknüpft war; wie es auch
heißt, daß daz selb taufwazzer müez ab waschen und vertreiben dise mayl und allen smertzen
der augen. Weit ausgebreitet sind Preisungen der Dreifaltigkeit, der Engelscharen, biblischer
Väter, des heiligen Nicasius und der Evangelisten. Und wiederholt werden die im Emmera-
mer genannten Blindenheilungen durch Christus aufgerufen. Die „macula“ wird in „mayl“
übersetzt und am Schluß durch weitere Augenübel, zingl, vel und augwe ergänzt.
Weitergehende augenärztliche Differentialdiagnose bieten alte deutsche Segen wie der
Cambridger aus dem 12. Jahrhundert, wenn er scuzblatrun („aufgeschossene Blatter“) und
herbrate5 nennt. Eine größere Heiligenschar führt durch die Nennung der 7 Felicitassöhne
der Londoner Augensegen des 12. Jahrhunderts mit sich. So auch der lateinische Komposit-
segen des Clm Nr. 7021, fol. 168v. Eine frühe Quelle des späteren Augen-Nix, wie immer
man es deuten mag,6 nennt der aus St. Ulrich zu Augsburg kommende Augensegen des Clm
4350, fol. 30v des 14. Jahrhundert, der der macula drei mal befiehlt, „ad nichilum rediga-
ris“, also ins Nichts zurückzujagen.
Es fällt immer wieder auf, daß unter denjenigen Krankheitssegen, die nur einen
einzigen Körperteil oder ein Organ behandeln wollen, Augensegen im Mittelalter
bei weitem in der Überzahl sind, obwohl gerade die Verbaltherapie organischer
Augenkrankheiten kaum erfolgversprechend und empfehlenswert war. Warum
wurden sie tradiert? Weil sich mit ihnen die Idee und die Metaphorik einer Sinner-
weiterung zu religiöser Klarheit verband, die Behandlung des Unglaubens und da-
mit der Sünde als Krankheitsursache. Und weil kaum eine Symbolik besser die
Gehobenheit und Führungsposition des geistlichen Standes erklären konnte. Der
Kirchenvater Augustinus hatte drei Arten des Sehens genannt, und die unterste
Stufe war Sehen mit Augen, z. B. Lesen von Buchstaben. Die zweite Stufe: Sehen
4 München BSB Cgm 54, Perg. 14. Jahrh., Blatt 95r (- 96v), veröffentl. Schönbach, Z.f.DA
24, (1880), S. 65ff
5 Schulz, Monika: „herbrate“ und „hippischert“, in: Würzburger Med.-hist. Mitteilungen 19
(2000), 131–152
6 vgl.Grabner, Elfriede: Krankheit und Heilen, Wien 1997², S. 175–182
„durch den Geist des Menschen“, „die Schauweise, durch die wir uns in Gedanken
mit abwesenden körperhaften Dingen befassen“ z. B. in der Vision. – Die oberste
ist das Sehen „durch den Verstandesblick“, der nimmt „jene Dinge“ wahr, „die
keine Bilder haben ...“. Diese verstandesmäßige oder intellektuale Schauweise sei
den anderen überlegen. Und das Wesen der dritten Art sei die Nächstenliebe.7
Zu Ende des 15. Jahrhunderts hat der Minoritenprediger Bernhardin von Busti
(gest. 1513 in Malegnano in der Lombardei) in seinem Mariale, das 63 volkstüm-
liche Predigten zur Gottesmutter und zum heiligen Joseph ausbreitet und das
mehrfach gedruckt wurde, die zehn furchtbaren Folgen der Blindheit aufgelistet.
Augustinus ist nicht vergessen. Aber Bustis Befunderhebung wirkt auf uns, als habe
er aus eigener unmittelbarer Anschauung ermittelt. Es ist wie eine kleine soziopsy-
chosomatische Studie, die auch hirnorganische Störungen einschließt.
Busti8 nennt 1. Gefangensein ohne Kerker und Fessel 2. Unfähigkeit zum Urteilen 3.Täu-
schung beim Umgang mit Sachen 4. Abhängigkeit vom Blindenhund 5. mangelnde Gefah-
reneinschätzung 6. das häufige Hinfallen 7. Unerreichbarkeit einer Sicherheit 8. Vermeint-
liches Verborgensein trotz allgemeiner Sichtbarkeit 9. Aufblick zur Sonne, ohne erleuchtet
zu werden 10. Existentielles Angewiesensein auf einen Führer. Und Bernhardin wie seine
Nachfolger im Orden hatten anhand dieser sich überlappenden Kriterien die Trübung des
7 zit. nach Beutin, Wolfgang: Zur Grundlegung der Mystik Theresias von Avila, in: Europäische
Mystik vom Hochmittelalter zum Barock, Frankfurt/ M. 1998, S. 167–187, Bezug S. 171
8 Bernhardin von Busti, Mariale, fol.400v; vgl. Meier, Christel: Gemma spiritalis, München
1977, S. 397 sowie Digitalisat der Universität Granada
geistigen Blickes wie des Sehorgans als Wurzel für Ketzerei und individuelle Verirrung in die
Sünde beschrieben und gepredigt.
Im Folgenden greife ich einen Zweig der Segensentwicklung in die Neuzeit heraus,
der mir nach diesem Aspekt entscheidend durch die Korrespondenzen zwischen
Volksfrömmigkeit, volkstümlicher Heiltätigkeit und pastoraler Predigt geprägt zu
sein scheint. Den alten Verortungen der an Marmorstein und Meerufer sitzenden
Dreiheit hat man offensichtlich schon lange nicht mehr überall Sinn abgewinnen
können. Was sollte das bedeuten? Schon im Mettener Augensegen sitzen diese Drei
an einer Kirche. Die geheimnisvollen Orte als Attraktiva bleiben selten stehen. Die
dann im Segen oder in der Beschwörung folgenden Dialoge werden im 16. Jahr-
hundert erzieherisch konkret. Auf die Frage der Gottesmutter, warum sie denn da
sitzen, antwortet einer von ihnen, es sind vier heilige Herren:
9
Was wais ich, fraw mutter.
Wir solten siczen, schreiben vnd lesen vnd gottes dienst pflegen.
So künden (können) wir es laider nit gesehen
10
Oder auf die Frage Christi an den heiligen Andreas,
was sitzest du hier? – Ich hab den leidigen Flecken in meinen Augen,
ich kann weder gelesen noch gesingen, ich kan mich der Schrift nicht mehr
gephlegen
Aufhub Christus seine gebenedeiten Hände, er strich ihm über sein Angesicht.
Heiliger Andreas, nun stehe auf, und nimm dein Buch in deine Hand, und gehe der lieben
Kirchen zuhand! da sollst du singen und lesen, dich der heiligen Schrift gar fleiszig bephlegen.
so wird dich Gott erhören […] so sollen dir werden deine Augen gut, wie die helle klare Sonne
am heiteren Himmel aufgeht.
9 Heidelberg Univ.-Biblioth. CPG 244, 16. Jahrh., veröfftl. Heilig, Alemannia 25, S. 264
10 Visitationen Siebenbürgen 1650, zit. nach Schuster, F.W. (Hg.) Siebenbürgischsächsische
Volkslieder, Herrmannstadt 1865, Neudruck Wiesbaden 1983, S. 310
11 Heeger, Fritz: Pfälzer Volksheilkunde 1936, Seite 53
17 vgl. Telle, Joachim: Petrus Hispanus, Diss. Heidelberg 1972, S. 169–172, 210f
18 Zur Psychosomatik der Ophthalmologie siehe Fikentscher, Erdmuthe: Wenn das Auge leidet.
Vortrag Lindauer Psychotherapiewochen 2004 (Online); Franke, G. H.: Psychosomatik der
Uveitis, Psychother. Psych. Med. 55 (2005), 65–71
19 Die mit * versehenen Namen und Begriffe finden im Anhang Erklärung
Zwei erstaunliche Schriftzeugnisse, antik das eine und noch aus der Wende zum
17. Jahrhundert das andere, beleuchten eine alte phantastische anatomisch-physio-
logische Vorstellung über die menschliche Gebärmutter (= Uterus, Matrix):
– Ein altgriechisches Zauberamulett aus dem 3. oder 4. Jahrhundert nach Christus
war bei Uterusanhebung mit einem aus 7 verschiedenen Farbsträngen bestehen-
den Band um den Hals zu hängen. Eine Inschrift auf diesem kleinen Zinnstrei-
fen beschwört beim Schöpfer von Himmel und Erde, Meer, Licht, Finsternis
und Engeln diese Gebärmutter. Sie soll zurückkehren an ihren Sitz, soll nicht
nach rechts und nicht nach links zum Brustkorb wandern und nicht das Herz
annagen wie ein Hund. Sie soll an ihrem gehörigen Platz verbleiben.1
– Ein Passauer Hebammen-Lehrbuch von 1595 beschreibt die Anatomie der Ge-
bärmutter mit ihren „Hörnern“ und „Zeuglen“ (Embryonen) und fügt „nicht
ohne Ursache“ hinzu, daß den Frauen zu vermitteln sei, daß die Gebärmutter
ein inwendiges Glied ist, denn viele verträten die Auffassung, es sei die Gebär-
mutter ein lebendiges Tier mit Maul, Füßen, Klauen oder Tatzen, welches etwa
nach Katzen-, Frosch- oder Krötenart beiße, nage, kratze und um sich zwicke.
Ferner sei zu unterstreichen, daß die Gebärmutter nur „Weibspersonen eigen-
tümlich zugehöre.“ Marktschreier nämlich hätten behauptet, daß auch bei
Mannspersonen eine Gebärmutter sich hin- und herbewege und aufsteige und
viel Wehetage bereite.2
Ein gesunder Europäer, der heute von solchen eigenwillig im ganzen Menschen-
körper herumgeisternden, veränderbaren und quälenden Wesen liest, wird kein
Nachempfinden und kaum einmal Verständnis dafür entwickeln können. Oder er
wird sich von der Überfülle der Berichte ergriffen, in eine Anfrage an die „paraphy-
sische Forschung“ verirren, nämlich zum Problem der „verschluckten oder einge-
hexten“ Tiere, wie es der unglückliche Pfarrer Ebermut Rudolph3 getan hat.
Es ist diskutiert worden, inwieweit die oft sieben Kammern zeigenden Darstellun-
gen des Uterus in anatomischen Werken auf die Integration von sieben alten an-
thropologischen Lehren zurückgehe.6 Dazu gehören die kulturhistorische Bedeu-
tung der Siebenzahl, die Rechts-Links-Lateralisierung der Geschlechter mit Zwit-
terbildung (Hermaphroditen) in der Mitte des Uterus und die Galen’sche* Sieben-
zahl der Samenportionen. Andererseits werden die antiken Zeichnungen auf
Tiersektionen zurückgeführt. Jedenfalls haben sich die Mehrkammerigkeit und die
Ausbuchtungen auf den Bildern mit dem tatsächlichen Aufblähen und der Form
der Kröte zu dieser phantastischen Fiktion streunend wandernder Figürlichkeit
Abb. 05 Alte Vorstellungen zur Anatomie der menschlichen Gebärmutter (13.–15. Jahrh.)
von Schmerz vereinigt (Abb. 05). Zudem galten in der römischen Antike Kröten
oft als Bosheits- und Kampfzeichen.7 Damit wurde „ursachengezielte“ Therapie
ermöglicht. Man konnte dem Mutterweh, dem Bauchgrimmen, der Kolik und
„Darmgicht“ Befehle erteilen wie einem dressierbaren Tier.
Zu den nördlich der Alpen ältesten Beschwörungen der Bärmutter als Matrix
gehört ein Text des 10. Jahrhunderts einer Pergamenthandschrift aus der St.Galler
Stiftsbibliothek (Abb. 06).
Später, im 15. Jahrhundert ist eine ebenfalls noch lateinische Fassung der Ge-
bärmutterbeschwörung in einer Handschrift aus dem ehemaligen Augustinerklo-
ster Indersdorf bei Dachau notiert (Clm 7735, f. 235v), die in ähnlicher Weise
sämtliche Uteruserkrankungen verbal attackiert. Ihr folgender Text zählt zunächst
Farben und Eigenheiten der Matrix, also der vielgestaltigen Stamm-Gebär-und Ur-
mutter auf. Sie wird mit mehreren Befehlen beschworen wie in einem Exorzismus,
sich zurückzuziehen und nicht weiter zu verletzen. Und nun folgt eine besondere
Mischung aus antikem Medizinbuchschema, das die Organe – hier nicht weniger
7 Egger, Rudolf: Römische Antike und frühes Christentum, Klagenfurt 1967, S. 144f
als 27 nach der Regel „de capite ad calcem“, von Kopf bis Fuß – aufzählt nach alter
Strategie, wie sie aus Wurmbeschwörungen bekannt war. Nichts am Körper sollte
dem Zugriff überlassen bleiben. Es ist die zwanghaft registrierende kettenbildende
Variante der Beschwörung eines streunenden Plagewesen, das sich wieder dahin
begeben soll, wo Gott, der Windbeherrscher, sie hingeschaffen hat:
Jn nomine patris et filii et spiritus sancti + Im Namen des Vaters, des Sohnes ...
coniuro te matrix alba + matrix nigra + Ich beschwöre dich Weißmatrix,
et matrix niffa + m. gilva + m.virida + Schwarz-Schneeweiß-Gelb-Grünmatrix,
m.gravosa + m.maculosa + m.splendida + beladene, befleckte, glänzende Matrix,
m.demonica + m.impudica + qualiscunques teuflisch, unkeusch, wie du auch seist
sis+ per deum unum + per deum verum + durch den einen, wahren und heiligen Gott
per deum sanctum + et per tres magos und die drei Magier Caspar, Melchior und
Caspar Balthasar Melchior et per tres Balthasar und die drei Knaben Sydrach,
pueros Sydrach Mysrach Abdenago Mysrach, Abednego und durch den Schöpfer
et per creatorem omnium creaturarum aller Geschöpfe und durch seinen Namen On
cui nomen. On. et per nomen dei Eloy und den Gottesnamen Eloy und «Herr»(?)
et her hoc nomen dei sinxi (?) + Jtem diesen Namen des heiligen (?) Gottes. Und
coniuro te matrix qualiscunque sis + ich beschwöre dich Matrix, welche auch immer,
per s. Mariam matrem Jhesu Christi durch S. Maria, Mutter Jesu Christi, und durch
et per angelos et per archangelos Engel und Erzengel, Cherubim und Seraphim,
Cherubin Seraphin tronos et dominationes Thronen und Heerscharen.
Jterum coniuro te m. qualiscunque sis + Ebenso beschwöre ich dich, Matrix, wie du
ut recedas ab hac famula dei N + seist, daß du von dieser Gottesdienerin N.
et amplius non ledas eam in capite weichst und sie fürderhin nicht verletzt an
in cerebro in collo in palpebris in oculis Kopf, Hals, Brauen, Augen, Kiefer, Mund,
in maxillis in ore in lingwa in naribus Ohr, Zunge und Nase, an Gurgel und Gaumen,
in gutture in palato in mento in pectore am Verstand und an der Brust [...], an den
[...] in genibus in talis in tibiis Knien, Knöcheln und am Schienbein, an jedem
in ullo membro ejus ut vadas ad loco ihrer Glieder, daß du weichest an den Ort, wohin
ubi te deus condidit + hoc impero tibi Gott dich gestellt hat. Dies befehle ich dir durch
per illum qui imperat ventis et obediunt jenen, der die Winde beherrscht, die ihm
ei + consummatum est bene in hoc + gehorchen. In ihm ist Vollendung. Amen.
Amen + .
ten des Galen*. Die wahrscheinlich über Ägypten im 10. Jahrhundert vorgedrun-
gene Lehre, die den Menschen und seine Krankheiten in Abhängigkeit von Tier-
kreiszeichen, Planeten und Mondstellungen bestimmt, hatte vereinfachend zur
Lehre von den 4 Säften geführt. Hildegard von Bingen hatte sie aus der Antike
übernommen. Im paracelsischen Zeitalter war sie dann umkämpft. Blut, Schleim,
schwarze und rote Galle, verbunden mit vier Temperamenten, Jahreszeiten und
Himmelsrichtungen (Abb. 89) hatten eine starke Systematisierung zur Folge. Nach
der Vorstellung dieser Humoralpathologie mit ihrer Viersäftelehre ist man mit
Frauenleiden auch zu den Blutwallfahrten gegangen. Ehemals war die Theorie so-
gar Ärzten als Kalender oder als Lehrfigur von Monarchen für die Ausübung ihres
Berufes vorgeschrieben worden.9
Wenn speziell gynäkologische Blutungen genannt sind, können auch Veronica
und der „Sanct“ Longinus um Hilfe ersucht werden, wie in der Heidelberger Per-
gamenthandschrift CPG 214, dem „Speyrer Arzneibuch“ Seite 36ra-36vb mit der
Jahresangabe „1321“ und der Zuordnung zur Arzneibuchfamilie des Magisters
Bartholomäus.10 Dieser Text ist als ein „Mutterbrief“ dem Leib aufzulegen für ieg-
lichen vrowen, und die ir fluzzes ze vil hat. Auch diese Beschwörung nennt 4 Matri-
ces, aber die sind hier an Organe, an Kopf, Zwerchfell, Milz und an eine „matrix
demonica“ geknüpft.
Die Bitt- und Dankopferstätten belegen die historisch weitreichende Kontinuität
der Bärmuttervorstellung, nicht nur für Frauenleiden, auch für den „Bärvater“.
Kaum eine südliche Wallfahrtskirche entbehrte der eigenartigen Tiervotive aus Wachs
oder Metall, deren Sinn und Nutzen heute kaum mehr bekannt sind. Eines der Zen-
tren für Wallfahrten bei Frauenleiden war die Verehrung des „Heiligen Blutes“ in
Walldürn im Odenwald. Der Uterus wurde bei Menstruationsstörungen als „voll des
üblen Blutes“ gedacht, sodaß Walldürn auch bei Frauenleiden Hilfe versprach.11
Konstant seit dem 15. Jahrhundert bis in die Neuzeit ist das ut vadas ad loco, ubi
te deus condidit in verschiedenen sprachlichen Ausschmückungen geblieben, im
folgenden unter Einschluß von Blutung, Fluor oder Blaseninkontinenz:
12
das du dich nicht auf hebest vnd vnder dich nicht lassest,
sunder daz du dich an dein gewönlich stat fügest
mit gemache und mit fride
Oft sollte die Androhung gemeinsamen schlimmen Schicksals erschrecken, wie aus
der Oberpfalz des 16. Jahrhunderts anläßlich Prozessmaßnamen im Umkreis der
„Schwarz Kundl“:
13
Beermutter lege dich Tustu es nit, so stirb ich.
Stirb ich heut auf disen tag,
so legt man Uns Zusamme in ein grab.
Jst unß beiden ein große clag
Im 17. Jahrhundert wird von einer hessischen Amme berichtet, die in Londorf die
aufsteigende Mutter behandelt:
14
Mutter die gaute, leg du dich uf die rechte stat,
da du vormahls uffgelegen hast,
du seyest gleich wehemauter oder Beermauter oder Hertz Mauter.
Bis nach Pommern hinauf ist die Formel verbreitet, oft mit großer Anzahl von
Namen:
15
Karlmutter, Hebmutter, Wehmutter, Kindesmutter, Blähemutter, Fürfallmutter,
Geburtsmutter, flammende Mutter, Marienmutter, Kreuzesmutter, Blutmutter,
Windmutter, Gebärmutter, ich beschwöre dich bei dem Herrn Jesus Christus, daß du
gehst, wo du warst, wo du lagst, als ich (oder du) noch eine reine Jungfrau war(st).
stem ansprachen, das als autonomes oder vegetatives bezeichnet wird. Einen Teil
dieses Systems bildet der Vagusnerv, der seinen Namen nur statisch wegen seiner
weiten Aufzweigung vom Vagieren ableiten kann, anders als das Vagieren der streu-
nenden Körpertiere. Das Vagus-System arbeitet im Brust- und Bauchraum ohne
unser Bewußtsein und steuert innere Organe. Jeder weiß, wie stark seelische Vor-
gänge hier einwirken, wie unkompliziert aber mit der Formel „Sonnengeflecht
strömend warm“ beim Autogenen Training dieses Nervengeflecht günstig beein-
flußt werden kann. Auch umgekehrt sind wir für Störungen von Herz, Darm und
Blase seelisch ziemlich sensibel.
Entscheidende Prüf- und Bedeutungszentrale der mit den Spruchtexten eintref-
fenden Worte und Sinnbilder ist hier im besonderen Maße der Mandelkern, die
Amygdala*. Es bestehen enge Verbindungen über das zentrale Höhlengrau zum
Vagusnerven,20 der seine Kerne im unteren Hirnstamm hat und zu den Schaltstel-
len der Nervengeflechte von Sympathicus und Parasympathikus, von deren Gleich-
gewicht im Körperinneren unser Wohlbefinden abhängt. Bei Schizophrenen mit
coenästhetischen Beschwerden im Bauchraum und bei anderen organischen Krank-
heiten war durch Verbaltherapie allerdings keine nachhaltige Wirkung zu erwarten.
Über weitere neuropsychosomatisch schmerzlindernde Komponenten einschließ-
lich labeling emotions* bei Kolik siehe Kapitel 4
20 Vgl. Abb. 01
Der Gichtbegriff der mittelalterlichen Schriften ist eine Büchse der Pandora.
Nimmt man Traumafolgen aus, so konnten fast sämtliche Symptome nicht nur der
Extremitäten und der Wirbelsäule, auch Hautveränderungen und Bewegungsano-
malien bis hin zu Lähmungen, Krampf, Zuckungen, insbesondere alle Schmerzen
bei der „Diagnose“ Gicht, (Vergicht, Gücht und Gycht) untergebracht werden.2
Noch in der frühen Neuzeit ist manch anderem Schmerzsyndrom berühmter Per-
sönlichkeiten fälschlich das Gichtetikett angehängt worden, wie unlängst bei einer
Sektion des Erasmus von Rotterdam entdeckt; er hatte keine Gicht.3 Aber litera-
risch verwendbar war das allemal; angeblich Gichtkranke wie Luther, Wallenstein,
Leibniz, Moritz von Sachsen und Friedrich II. von Preußen, alles Leute aus wohl-
habenden Schichten, gaben lange Zeit willkommenen Anlaß zur Satire.
Man hat für mittelalterliche Gichtdiagnosen immer wieder vermutet, daß diese
Armut an Differentialdiagnostik auch sprachgeschichtlich bedingt war. Das mittel-
hochdeutsche Giht und Gegiht als Verbalnomen bedeute soviel wie „bekennen“,
„aussagen“, „gestehen“ und hänge deshalb mit beidem zusammen, mit der Thera-
pie als „Besprechen“ und mit der dämonistischen Fiktion eines sich Behauptenden.
Auch wurde die Nähe zum Wortzwilling „Gift und Gabe“ bedacht.4 So gesehen
konnten selbst hochpolitische Vorkommnisse wie die vom Reichstag zu Worms
1521 auf ihren subversiven Gehalt abgeklopft werden.
Zwar gab es schon in der Antike Ansätze zu einer Abgrenzung der Gicht; Ruphos von Ephe-
sus, selbst betroffen, erkennt Beziehungen zum Harnlassen. Aber die beherrschende Säfte-
lehre des Galen*5 mit ihrer Herleitung alles Störenden von vier krankhaften Flüssen stand
lange in höchstem Ansehen. Erst Paracelsus, Außenseiter und radikaler Neuerer zeigte an-
dere Wege: Es ist seine Begriffswahl und seine Vorstellung: ein Tartarus, eine sich wie Wein-
stein in Fässern ablagernde „unterirdische“ Substanz, die er allerdings für viele degenerative
Krankheiten postulierte. Erst im 18./19. Jahrhundert wurden dann die Zusammenhänge
mit den sich als Gichtknoten ablagernden Harnsäurekristallen genauer erforscht.6
Bis zur Entwicklung einer Differentialtherapie von Wirbelsäulen-, Nerven-, Stoffwechsel-
und Gefäßsymptomen an Extremitäten hatte es eine Unzahl von Versuchen gegeben. Re-
zepte des 12. Jahrhunderts, in denen die Gichtindikation vorkommt, bieten Kräuter, Honig
und Ameisen. Dabei hatte bereits das Altertum Colchizin eingesetzt, ein schmerzblockie-
rendes Mittel aus den Samen der Herbstzeitlosen. Es wird heute wegen seiner Nebenwir-
kungen selten angewandt. Später, noch im 19. Jahrhundert, ist besonders in der Volksmedi-
zin ein verzweifeltes Ausprobieren sehr vieler Mittel eingetreten. Gicht und Rheuma werden
mit Regenwürmern, Meerschweinchen, Muskatnüssen und Kastanien behandelt;7 erst
Mitte des 20. Jahrhunderts gelingt die Herstellung eines Harnsäure senkenden Präparates.
Vnsers herren iesu christi vnd bi deme Herren Jesus Christus und bei dem Blute,
bluode dat gote vyt sinen V wunden ran das Gott aus seinen fünf Wunden floss,
vnd bi dem erstin menschin dat got vf und bei dem ersten Menschen, den Gott
erden. ye gemacht oder ye liz geborren auf Erden geschaffen oder ließ geboren
werden. Ich verbiden dir bi den drin na- werden. Ich verbiete dir bei den drei Nägeln,
gelin. De gode durch sine hende vnd die Gott durch seine Hände und Füße ge-
durch sine vuzse wrde geslagen. Ich vir- schlagen wurden. Ich verbiete dir bei den
beden dir bi den vyer hulden de da stu- vier Heiligen, die auf zwei Füßen standen
onden vf zweyn vuozsin vnd sprachin und sprachen aus zweier Mütter Leib,
vys zweyir muodir libe wer si bede van wer sie in Liebe um etwas bitte, alles was
rechtir lybden vmme allis dat mogelich möglich sei, wollten sie ihm gewähren. Das
is des wulden si in geweren. Dat was war die Gottesmutter Maria und war Jesus
Maria godis muodir vnd was iesus chris- Christus und war meine Frau Sankt
tus vnd was min frauwe sancte Elsebe Elisabeth und mein Herr Sankt Johannes
vnd was myn herre sancte johannes der der Täufer. Ich verbiete dir bei
deufir. ich virbeden dir bi […] [… jüngstem Gericht – heiligem Kreuz
– göttlicher Kraft ]
dat du mir godes kneghte nyt in schades daß du mir Gottes Knecht nicht schadest
an allen minen glederen an haubde an an allen meinen Gliedern, an Haupt und
hirne an augen an cenden. An armen an Hirn, an Augen und Zähnen, an Armen
henden. An vingeren an rippen an rucke an Händen, an Fingern, an Rippen, am
an lenden an huffin an beynen an vuozin Rücken, an Lenden, Hüften, Beinen und
an cein an aderen noch an allen. Da ich Füßen, an Zehen und an allen Adern, ob
mich mach keren oder wenden. Des hel- ich mich umkehre oder wende. Das helfe mir
fe mir de gotis kraft. Und dat heylge Gottes Kraft und das heilige Grab, in dem
graf. Da got selve inne lach. Da her- Gott selbst lag. Da erbebte alles was war.
bebede allit dat da was. Pylatus sprach Pilatus sprach: Hast du Gesücht oder Gicht?
hais du gesughte odir gegichte ? Neyn Nein, ich habe sie nicht. […]
ich inhan sin nyt. […]
Diese meist als Gichtbrief verwendete Beschwörung reiht mehrere biblische Heils-
geschehen in ganz unchronologischer Folge auf. Sie betreffen überwiegend Marter
und Kreuzigung und bieten damit dem Gehirn des Schmerzgeplagten eine syn-
chronisierbare Angleichung an göttliches Leid, eine Schicksalsgemeinschaft mit
Christus. Damit bahnt sich die Möglichkeit an, durch die weitere Erzählung sze-
nisch Schmerzlinderung zu suggerieren. Dazwischen werden die Schöpfung, das
letzte Gericht, anfangs die heilige Wandlung und am Schluß Christi Geburt einge-
streut und zusammengetragen. Drei Einträge fallen als nichtbiblisch heraus: Etwa
in der Mitte die auch den Gicht-Texten der folgenden Jahrhunderte fast obligate
Körperteilaufzählung, in der mehr Ordnung steckt als im Gesamttext; hier bleibt
die alte den Medizinbüchern eigene Kopf- nach-Fuß-Reihenfolge erhalten. Dann
die Heranziehung der vier „Hulden“ (Heiligen), die da standen auf zwei Füßen
und sprachen aus zweier Mutter Leibe als volkstümliche Bildvorstellung der Innig-
keit des Maria-Elisabeth-Verhältnisses. Es bringt im Gesamt der Texte ein Changie-
ren zwischen den Orten der Schwangeren-Begegnung bei Maria Heimsuchung und
der Kreuzigungsbegleitung.10
Befremdend merkwürdig aber springt der Dialog zwischen Christus und Pilatus
ins Auge, die Frage des Pilatus, ob er an Gicht oder Sucht leide. Gerade dieser Dia-
log ist Kernpunkt einer den Gichtdämon attackierenden Sinngebung. Es wird eine
Beziehung zwischen dem Erbeben der Erde (Da herbebede allit) und dieser Anfrage
des Pilatus (Hais du gesughte odir gegichte?) konstruiert. Dies wird deutlicher er-
kennbar in Fiebersegen, in denen die zweckdienliche Verkehrung der Abfolge der
Passionsereignisse – Erdbeben vor Christi Tod – in engerem kontextualen Zusam-
menhang steht, unverdächtig einer zufallsbedingten Schrift-Splitterablage und
bildhaft vorstellbar wegen der Schüttelfrostkomponente. Die Einfügungen des
Grabes, „da got selve inne lach“ und des Erdbebens als Zeichen des Todes Jesu Chri-
sti werden also zum Analogon auch des Endes der Gicht- und Fieberdämonen.11
Die strikte Verneinung der Frage durch Jesus vollendet schließlich die Vertrei-
bungsstrategie.
Mehrere Gichtbeschwörungen der Sammlung des Pfalzgrafen Ludwig V. bei
Rhein im 16. Jahrhundert sind der Göttweiger Schrift des 14. Jahrhunderts gut
vergleichbar; sie beinhalten zusätzlich die „Wied“-Rute als Fessel Christi und zu-
gleich Sinnbild für seine Bindekraft und bieten nicht im Titel, so doch innerhalb
des Textes die Fieber-/ Biefer-/ Ritten-Indikation, wobei uns damit die genannte
Bedeutung des Pilatus-Christus-Dialogs verständlicher wird. Es heißt hier:
12
[…] Do Godt an die marter tradt, […] Da Gott an die Marter trat,
do erbiedemd alles das dar was; do da erbebte alles, was da war; da
erbiedemt die menschhaidt von der erbebte die Menschheit von der
grossen marter die er laidt. Pilatus großen Marter, die er litt. Pilatus
sprach: Jhesus, brichet dich das ge- sprach: Jesus, zerbricht dich die
giecht oder hostu den ridten oder Gicht oder hast du den Ritten
daz biefer? Jhesus sprach: der seuch- oder das Fieber? Jesus sprach:
ten hon ich kain noch nummer gewan […] Die Schmach der Seuche bekam
Wo der sieche nun glauben dorane ich nicht […] Wenn der Kranke nun
hodt, soll er sprechen: Ich glaub, Vertrauen hat, soll er sprechen: Ich
das der artzt So gudt nie warde […] glaube, nie ward ein so guter Arzt […]
Und ein anderer Text erinnert uns daran, daß der Dialog zwischen Christus und
Pilatus mit der Verspottung am Kreuz nach Mt. 27,39ff und Marcus 15,29–32
zusammenhängt und fügt noch eine weitere Krankheit, die Bermutter an.13:
[…] Do vnser liebe frawe vnd vnser lieber herr Jhesus Cristus stund für geriecht, do
erbiedemt aller seiner leibe; do sprach pilatus mit grossem spodt zu dem almechtigen
godt: Jesus, host du den ritten oder bricht dich das gesüecht, der krampff, die bermutter
oder das gegiecht? […]
Diese Texte sind oft sehr umfangreich, indem sie weitere Passionsgeschehnisse hin-
zufügen. Franz14 hat auf ein 23 Seiten umfassendes Gebetsformular einer aus dem
Italien des 15. Jahrhunderts stammenden Handschrift der Berliner Bibliothek hin-
gewiesen, der „Oracio ad expellendam guttas“. Dagegen besteht später die Ten-
denz, die nichtbiblischen Inhalte, also den Pilatusdialog mit dem vorausgehenden
Beben ebenso wie die Aufzählung der Gichttypen im Sinne einer Bereinigung von
bibelfremden Inhalten aus den „Litaneien“ zu eliminieren und in die mehr volks-
tümlichen Texte abzutrennen.
In verschiedenen Fassungen können solche Litaneien bis in die Neuzeit tradiert
werden und als Druckwerke erscheinen. Im Jahre 1822 gibt beispielsweise Alexan-
der von Hohenlohe das „Kräftige Gebet wider das Gesücht oder Gicht“ heraus.15
Der Fürst hatte mit Gebetsheilungen gerade zu Zeiten der „Aufklärung“ weithin
Aufmerksamkeit erregt. Zwar wird hier die Krankheit immer noch repetitiv bei den
Passionsereignissen beschworen. Aber gemäß Zeitgeist ist eine Demutsformel ein-
gebaut. Und gemäß medizinischen und volksmedizinischen Ursachenvorstellungen
über die Wohlstandsfolgen bei echter Gicht fehlt es nicht an kräftiger Ermahnung.
Im Anschluß an die Erwähnung der Heiligen unterm Kreuz heißt es:
[…] In diesem Vertrauen hoffe ich, Gott werde von mir durch die Fürbitte der heiligen
Barbara, wenn es zu meinem Seelenheil ersprießlich ist, die Gicht abwenden […]
Wer es liest oder gelesen hat und dieses Gebet bei sich trägt und nach dem Inhalt
desselben seinen Lebenswandel einrichtet, wird vom Gesücht oder Gichte befreyet […]
Mit der Ermahnung zum anderen „Lebenswandel“ waren nicht nur Vorwürfe wegen eines
Schlemmerlebens von Wohlstandskranken gemeint. Darüber hatten Ärzte wie der Nürnber-
ger W.H.Ryff16 im 16. Jahrhundert und der Schweizer S.A. Tissot17 im 18. Jahrhundert
eingehend geschrieben, wenn auch recht inkonsequent. Denn, so Ryff, soll man sich in
Fleischspeisen wohl mäßigen, jedoch sei Wildpret von einem Rehböcklein im Sommer „vast
nützlich und guth“. Und in Sachen Wein-Entsagen, so Tissot in seiner den Frauenpersonen
von höherem Stande gewidmeten Schrift, sei „von Zeit zu Zeit“ doch „ein wenig Malaga,
Madera, Canarien- oder Samoswein“ zu empfehlen, nicht der Landwein der einfachen
Leute, sondern die kräftigen Importe. Wie schon erwähnt, hatte das Thema Schlemmerle-
ben seine satirische und freilich auch sozialkritische Bedeutung und war im 16. Jahrhundert
Abb. 08 Christus heilt den Gichtbrüchigen: „Und da sie nicht konnten zu ihm kommen vor dem
Volk, deckten sie das Dach auf und ließen das Bett hernieder.“ (Mosaik zu Ravenna, 6. Jahrhun-
dert)
18 vgl. Rupprich, Hans: Die deutsche Literatur vom späten Mittelalter bis zum Barock, Zweiter
Teil: Das Zeitalter der Reformation. München 1973, S. 214f
19 Pirckheimer, Willibald: Apologia seu podagrae laus, Übertragung Wolfgang Kirsch, Berlin 1988
5,17f; Matth. 9,1f ) und des Kranken am Teich Bethesda (Joh. 5,14). Selten also ist
für Jesus die Krankheit eine Sündenfolge, im Gegenteil, wie sich aus Johannes 9,3
ergibt: „Weder er selbst noch seine Eltern haben gesündigt …“. Nur dem Gicht-
Gelähmten sagt er: „Sei getrost, deine Sünden sind dir vergeben“. Dieses Evange-
lium, der Rekurs auf die Erbsünde und die Doktrin der Kirche haben denn wohl
auch einen unter der Unzahl von Texten aller Indikationen seltenen Spruch20 er-
laubt. Der Zorn Gottes mache uns als Schuldige krank, die Scheidung der Geister
und die Geburt Christi bewirken Erlösung von Sünde und Krankheit. Sünde und
Krankheit gehören dann zusammen und als einzige an der Wurzel ansetzende The-
rapie hat folgerichtig ein Exorzismus zu dienen:
21
Durch Zorn und Gall straft Gott die Menschen all; alle schlechten Säfte und
schlechtes Blut, befehle ich die Gicht-Krankheit unter Gottes Huth. […] er hat die
Engel im Himmel ausgetrieben und sind auf ewig in der Höll`geblieben. So wahr
der Satan ist vom Himmel vertrieben, ist die Krankheit von Dir geschieden […].
20 vgl. Schulz, Monika: Magie oder die Wiederherstellung der Ordnung. Frankfurt 2000, S. 94f
21 Fossel, Victor: Volksmedicin und medicinischer Aberglaube in Steiermark. Graz 1886, S. 167f
(aus der Ortschaft Edelschrott, Mitte des 19. Jahrhunderts); der volle Text siehe Kapitel 21
22 vgl. Kapitel 19
23 vgl. Kapitel 30
24 siehe Kapitel 1
25 Breslau Universitätsbiblioth. I Q 308, fol. 51R , veröfftl. Klapper, Josef: Altschlesische
Schutzbriefe, in: Mitteilungen der Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde 30 (1929),
S. 134–179, hier: S. 178
do sosyn dri here czwyczhy czw[e] sele Da saßen drei Herren zwischen zwei
der eyne is der lybe here synte Marcus Säulen. Der eine ist der liebe Herr
der andyr der lybe here synte Lucas S. Marcus, der zweite der lb. Herr
der drite der lybe synte Johannes S. Lukas, der dritte der lb. S. Johannes
nycht salt du myr myn blut tringe Nicht sollst du mir mein Blut trinken
vnd myn fles fresse bys alle stene und mein Fleisch fressen bis alle Steine
sprache daz gebote dir man der sprechen. Das gebiete dir der Mann,
an dem wrone cruce dirstarb […] der am heiligen Kreuze starb […]
26 Heidelberg Universitätsbibl. CPG 267, fol. 127v, veröfftl. Heilig, Otto in: Alemannia 26
(1898), S. 71
27 Notizbuch des Handwerkerbauern Andreas Dötzschell von Mitwitz (Lkr. Kronach) um
1624, veröffentl. Hambrecht, Rainer, in: Heimatkundl. Jahrbuch Kronach 13 (1984), S. 345
28 Beschwörungsbüchl aus Buchwald bei Selb um 1800, Teil A, S. 30 (bei Dieter Arzberger,
Oberweißenbach)
29 Wunsiedel Fichtelgebirgsmuseum, Hs C 213/2823 des J.C. Ächtner, S. 55f
texte angesammelt haben. Diese Handschrift des Bauern Ächtner bietet u. a. über
zwanzig meist lange Texte gegen „Gicht“.
Ein Sbruch vor die gicht
gott der Herr stundt von seinen Pferd ab da strieffet Jesus seine beine ab sbrag Jesus bein
Wieder bein Fleisch Wieder Fleisch blut Wieder blut Marck wieder Marck Glied Wieder
glied daß ist mier alles an meinen leieb gut sendt miers gott der Vatter durch unsern
Herrn Jesum Christum Wieder Hien wie ers Miers gesandt hat die gicht ist Sieben und
Sieben Zieger art Sie gieng in eines Edlen Hauß Wollte bein streigen Nein sbricht Jesus
das solt du nicht thun […]
Die schon erwähnte Schrift aus Buchwald bei Selb zählt in einem als Zettel zu
verwendenden Text gar siebenundvierzig verschiedene Gichtsorten auf. Nicht min-
der als die Stilformen und das Begegnungspersonal variieren auch die bei Gicht
angewandten Gebrauchsanweisungen für Zettel und die Rituale, manchmal mit
bedrohlicher Erzwingungstaktik. Eine Gichtdoktorin im Mattigtal in Oberöster-
reich gab unentgeltlich Gichtbriefe ab, die der Patient dreimal lesen sollte. Sie ver-
warf die Mittel der Doktoren und die Wassergüsse des Pfarrers Kneipp. Am Schluß
des handschriftlichen Briefes30 stand die Mahnung: Und wer an diesen Gichtbrief
nicht glaubt, der ihn lesen tut, der kriegt die Gicht noch besser, und wer den
Gichtbrief abschreibt, der kriegt die stärkste Gicht. Der Inhalt des Briefes ent-
spricht teilweise dem durch die gedruckten Albertus-Magnus-Zauberbücher seit
Beginn des 19. Jahrhunderts verbreiteten Begegnungs-Typ:
Gicht, o Gicht, wie maderst (marterst) du mich, so klag ich bei Gott über dich und bei
den allerheiligsten Mann durch den unschuldigen Tod im Namen des heiligsten Kreuzes,
der all unsere Sünden auf sich genommen hat. Da kommt die heilige Anna und spricht:
O Gicht, o Gicht, wo wollt ihr hin? (den oder die N.N. den Namen wenn der die Gicht
hat) In seinen Leib gehen, wir wollen Fleisch nagen und wollen Blut laben und wollen
auch große Schmerzen machen. Da kommt die heilige Jungfrau Maria und spricht: O
Gicht, o Gicht, wo wollt ihr hin? Wir wollen, sagt die Gicht, große Schmerzen machen.
Ihr sollt nicht Fleisch nagen, sagt die Jungfrau Maria […]
Schließlich sei auf einen besonders heiklen Typ verwiesen, der Abendmahl und
Wandlung sehr konkret als suggestiven Kraftquell gebraucht, indem er liturgisch
synchronisiert. Dabei wird in einem Heidelberger Segen „für das kalt“ zunächst
eine zeitliche Koordination zur Kelcherhebung während der Heiligen Messe gefor-
dert. Danach sollen die fünf zu sprechenden Vaterunser direkt auf die 5 Wundmale
Christi bezogen werden. Zeitgleich mit der Bekreuzigung des Kelches durch den
Priester wird am Schluß schon ein Dank für die Heilung, also die Eliminierung des
Ritten, vorausgesetzt: „Der ridt ist mir worden bas“.
30 Preen, Hugo von: Einiges über Bauernaberglauben im Bezirk Braunau/Inn. In: Zeitschrift für
österreichische Volkskunde 1910, S. 44 (aus der „Warte am Inn“ von 1894)
31
Ein segen für das kalt
Sprich, Wan der briester den hailigen fronleichnam vffhebt:
Almechtiger Godt, Ich klage dir: der ridt irret mich; In dem namen
des suns. Almechtiger Godt, ich klage dir: der ridt irret mich; In
dem namen des hailigen gaists. Dornoch bedt v pr nr vnd v au Mra. Das
erst solthu opffern dem almechtigen Godt vnd seiner hailigen wunden
in der seiten, Das ander in die recht handt, Das dritt in die linck
handt, Das vierde in die wunden des rechten fus, Das fünfft in die
wunden des lincken fus. Alsdan wan der briester Die kreutz mit dem
hailigen fronleichnam vber den kelch macht, Sprich: herr, ich danck
dir, Der ridt ist mir worden bas. […]
In einem anderen Text der gleichen Heidelberger Handschrift ist sogar ein Tauben-
blutopfer parallelisiert. Frisches Opferblut wird auf Brot dargebracht, um das Blut-
opfer Christi symbolisch direkt am Kranken zu wiederholen. Monika Schulz hat
solchen Ritus als „antidämonisches Apotropaion“ gedeutet; mit der Taube sei Chri-
stus selbst hic et nunc aktualisiert.32
31 Heidelberg Universitätsbibl. CPG 267, fol. 11R, 16. Jahrh., veröffl. Heilig, Otto, Alemannia
27 (1900), S. 113
32 vgl. Schulz, Monika: Beschwörungen im Mittelalter, Heidelberg 2003, S. 123
33 Die mit * versehenen Namen und Begriffe finden im Anhang Erklärung
mehr schmerzhaft ist.34 Er interessiert nicht mehr und man lacht über ihn. 5. Mit
der Personalisierung der Gicht kommt die Möglichkeit des Labeling emotions* in
Betracht. 6. Analogien in den Spruchtexten in Form von metaphorischen und me-
tonymischen Konstruktionen können auch zur Aktivierung sensorimotorischer
Cluster im frontoparietalen Bereich führen: Die selben Schaltkreise, die am Körper
Bewegung auslösen und die ihnen eng verschalteten Perzeptionsstrukturen, die
Schmerz melden, bewegen auch die Denkstrukturen und ermöglichen unter Um-
ständen eine performative Wirkung der Sprachfiguren.35
Verletzungsfolgen der Extremitäten waren bis zum 15. Jahrhundert wohl oft mit
den Vielzwecksegen aus der Gruppe der Begegnungssprüche auch verbal begleitend
behandelt worden. Dazu zählte etwa der Drei-Engel-Segen mit seinem Angriff auf
Nessia, Nagedo, Stechedo, Crampho, Gigihte und Paralisis oder die späteren
Wund- und Wundwassersegen. Speziell boten sich für diese Indikation zunächst
vor allem die Sprüche der Segenssippe des zweiten Merseburgers an.1 Seit dem 15.
Jahrhundert sind noch andere Texte niedergelegt, die christliche Bilder verwenden.
Fraktur: “Du solt das bain ziehen also das es gleich ein ander stehe“; ein weitere Ver-
sion in der Steiermark4 nennt Gott, der „Adam vnd Eua Heraus nam“. An gleicher
Stelle dieser steiermärkischen Handschrift gibt es einen Text, der dem Verletzten
die Schuld am Unfall zuschiebt und zu beten ermahnt:
Jch N. hab ain Gliedt verrenkht, vnd hab nit an got gedenckht. Hätt Ich N: an gott
gedenckht, so Hiett ich mein Gliedt nit verrenckht.
Ein Segen des 16. Jahrhunderts aus dem Kloster Dietramszell in Oberbayern bietet
ein weiteres Sinnbild und knüpft an eine Begegnung Christi mit seiner Mutter
an. Sie will ihm, der sich an einem Merbelstein verrenkt hat helfen. Christus aber
sagt:
5
[…] Mutter, ich gib dir himel vnd erd, daz mir mein fleisch und blued vnd bain
wider zemen kệret: drum gib ich dir himel vnd erd. dậ giengen wir vnder dem himel
vnd giengen auf erden im Namen Gottes […]
mann gehenckht. schadt jme sein henckhen nichts, so schadt auch mir
mein verrenckhen nichts. […]
9
Di Juure (sic!) han unser herr Grischdus g‘henkt un du hoschder de finger
verrenkt. ‘sschad im herr grischdus net ‘s henke un deer net‘s verrenke.
10
Deinen Arm oder Fuß hast du verrenkt, Jesus Christus hat man ans
Kreuz gehenkt, thut ihm das Kreuzigen nichts, so schadet dir N.N.
auch das Verrenken, Verschlingen, Verziehen, Verstauchen und
Uebertreten nichts.+++ 3mal.
Das Anschwellen des Typs vom zweiten Merseburger und der Dialog Christi mit
seiner Mutter
Großer Beliebtheit erfreuten sich auch in diesem Bereich die vielen märchenhaften
Geschichtlein um Dialoge zwischen Jesus und seiner Mutter, wie sie in Begeg-
nungssegen eingebaut sind. Dabei fällt vielfach auf, daß die alte „Zauberformel“
des zweiten Merseburger Spruches, das „Bein zu Bein“ zerschmilzt und gerade
noch erkennbar ist und von christlichen Erklärungen abgelöst wird. Mit „Sankt
Gleiniss“ scheint sich infolge Fehlinterpretation alter Textvorlagen eine Neuschöp-
fung zu melden.
11
Guoti weil waz.da der heilig christ Es war eine gute Zeit (Stunde!), als der heilige
selb geporn wart also müzz dir Christ geboren war. Ebenso soll dir heute sein.
heut sein dez helf mir sant Marey. Dazu helfe mir Sankt Maria. Der heilige Christ
der heilig christ selb gieng von selbst ging über eine Matte grünen Grases. Er trat
mad von grüenem graz. er trat auf einen Stein und verrenkte sich sein Bein.
auf einen stain. da verrancht er Da kam meine heilige Frau Maria gnädig ge-
sein pain. do chom sich gangen gangen. Sie sprach, mein lieber Sohn, mein
genädig mein heyligi fraw Marey. geliebter Herr, warum trauerst du so sehr […]
Si sprach traut sun mein villieber (Christus schildert nun selbst, daß er in Not
herre wie traurst du nu so ser. […] ist und ihm dies geschah)
Sy sprach amen nu trit her naher Sie sprach Amen; tritt näher heran; ich will dir
paz. dez sol werden vil güt rat seit nun, da du es mir gesagt hast, guten Rat geben:
du mir daz gesagt hast ce pluote (Blut) zu Blut, Bein zu Bein, Glied (zu Glied),
pain ce. pain glit gleym dich als füg dich zusammen, wie der heilige Christ dich
dich der heiligi christ geleimt hat. (mit Lehm) gefügt hat. […]
[…] daz püezz dir heut sant Das helf dir heute Sankt Gleiniss (!) und alle
Gleiniss und alli di chint die Kinder, die im Himmel und auf Erden in
in hymelreich und in erdtreich Ewigkeit geheiligt sind. (Zuletzt wird eine
geewigt und geheiligt sint […] Bestärkung der Formel mit Hinweis auf die
manuelle Behandlung des Beines durch die
Mutter Christi gegeben.)
12 Grimm, Hans: Heilsegen aus der Batschka, in: Südosteurop. Forschungen 2 (1937), S. 418–
426, hier: S. 418
13 Haase, K.Ed.: Volksmedizin Grafschaft Ruppin, in: Zeitschr. d. V. f. Volksk. 8 (1898), S. 62,
19. Jh.
14 Karlsruhe Badische Landesbibliothek, Handschr. DON 792, Bl. 143v-144r, 15. [?] Jahrhun-
dert Für die Übersetzung danke ich Herrn Oberstudiendirektor Dietrich Mayer, Mantel/ Opf.
Noch im 19. Jahrhundert findet sich die Methode unter Schäfern kursorisch be-
schrieben, es kann allerdings auch einfach ein Stuhlbein verwendet werden, und
das Ganze eignet sich durchaus nicht etwa nur für Tiere:
16
Bein brug oder Arm zu Heilen. Richt das Bein aber Arm recht ein und
Schündle es, dan Schindle ein Stühl Pein nim den hinter Rechten
Pflok ist es ein Arm nim das Fordere Verbinte es wie den Bruch mit
Schindeln, Warmen Waßer ein getunkt und Sage Peinbruch Ich Segne
dich mit den Wahren Gott das du wieder Heilest auf den Stok das du
nit geschwielst und kein Schmerzen hast. Noch geschwürst oder drüest
u Wachsest alle Tage So gewieß als der Liebe Hl. Jesus Christ.
In der Krüpen (Krippe) gelegen ist. 3 mahl Gesacht.
Der einjährige Schüssling ist mit einem einzigen Schnitt abzuschneiden, ist bei
Sonnenaufgang zu segnen und auf die kranke Stelle zu legen. Ausführlicher sind
Texte gegen die Anschwellung der Beingelenke bei Pferden:
18
Vor elbogen
So solltu nehmen ein Samstag zu morgen vnd sollt abschneiden ein heselen ruet,
die in dem selben jor gewachsen sey, vnd sprich also, wann du sie schneitst:
+ In dem namen des vatters, vnd als vor vnd am andern ende dar gegen ein schnit in
der mos ( masel = Gelenkgeschwulst) als vnser her in der alten ehe beschnitten wart,
auch in dem namen des vatters […]. Vnd bestreich es an eim morgen am samstag
damit vnd sprich […]:
Do vnser here das heilig kreucz vmbvieng, dornoch wuchs nie kein berg
noch stein. Also soll dir thun dis gebein. Also wor das ist, so hillff vnd
gott vnd der heilig krist, Dornoch vnser her gott warde geborn zu bethlahem,
er wurt gemarthelt zu jherusalem. das geschicht nun furter nimermer. Also
soll dir, pfert, dieser schad vergen.[…]
Der aus einer Handschrift für Pferdeheilkunde mit mehreren Anwendungen der Ha-
selrute für „Elbogen“ entnommene Text analogisiert die Schnittbehandlung der Ge-
17 Heidelberg Universitätsbibliothek CPG 369, fol.171v, Digital 0350, aus Mosbach (?), 1430–
1444
18 Heidelberg Universitätsbibliothek CPG 255, fol.193r, Digital 0471, ca.1510–1544, Pfalz-
graf Ludwigs roßarzneiliche Sammlung
lenkcyste mit Christi biblischer Beschneidung nach der alten Ehe, d. h. nach jüdi-
schem Gesetz und mit einer der legendären Folgen der Kreuzigung. Ebenso wie die
Einbeziehung eines Kurz-Credos mit dem Singularitätsverweis über Christi Geburt als
„nimmermehr“ soll auch die Wachstumstilgung auf Golgatha die Zunahme des Ge-
lenktumors verhindern. Wie die Steine auf Golgatha nicht mehr wachsen, so soll es
dem Tumor ergehen. Nicht wiedergegeben wird hier ein Anhang an diesem Spruchtext,
der noch mit einem Schwundzauber ergänzt: Die Rute soll immer wieder als grüner
Zweig aufgefrischt werden. Die alten Teile sind in ein Stallloch zum Verdorren zu
verbringen. Neben dieser Empfehlung grüner Haselhölzer zum Bestreichen und Rei-
ben der „Elbog“ kennen die Rossarzneibücher19 auch Pulver-, Schmeer- und Pflaster-
Applikationen, aber auch das Brennen mit glühenden spitzigen Eisen. Ein sicherer
Erfolg gegen das Hinken der Pferde wird aber nach der Beschreibung bezweifelt.
19 Brebaum, H.: Das Roßarzneibuch des Johann M. Weitzen v. Oschitz (1677), Diss. München
1967, S. 66; Lezius, Renate: Die Roßarzneischrift des Johannes Carlyburger (1683), Diss.
München 1968, S. 39
Der allgemein als „Bamberger Blutsegen“ bezeichnete Text ist nach Indikation und
Motivgestaltung in drei Teile zu trennen. Der Segen ist wahrscheinlich in Bamberg
im vierten Viertel des 12. Jahrhunderts in eine Sammelhandschrift eingetragen wor-
den. Er befindet sich inmitten verschiedener praktisch medizinischer Auszüge, u. a.
aus Constantinus Africanus und Marcellus*. Er spiegelt damit die Entwicklung chir-
urgischer Konzepte in der Epoche beginnender universitärer Wissenschaft.
1
Accipe ramum crossum sambuci. Nimm einen dicken Holunderzweig,
semipedis longvm et fisso per medium. einen halben Fuß lang und mittig gespalten.
[…] Et coniunctum suspende in […] Und hänge (die Teile) verbunden an den
collum fluxum patientis. Vel dic ter. Hals des (blutenden) Patienten. Od. sprich 3x.
Stringe uenam mur mur lu nam cessa. Verbinde die Ader flüstere bei abnehmendem
amen. Pater noster. Monde. Amen. Vater unser.
Crist unte iudas spîliten mit spîeza. Christ und Iudas spielten mit Spießen.
do wart der heiligo crist wund in Da wurde der heilige Christ wund an
sine sîton. do nâm er den dvmen. seiner Seite. Da nahm er den Daumen
unte uor dûhta se uorna. So uerstant und presste ihn vorne darauf. So stehe
du bluod. so se iordanis aha uerstunt. du Blut wie das Jordanwasser stand,
do der heiligo iohanes den heilanden als der hl. Johannes den Heiland Christ
crist in iro tovfta. daz dir zo bvza. in ihm taufte. Dies dir zur Heilung.
Crist wart hi erden wunt. Christ ward auf Erden wund.
daz wart da ze himele chunt. Das wurde im Himmel kund.
iz ne blŏtete. noch ne svar. Es blutete nicht, es schwärte nicht.
noch nechein eiter ne bar. Nicht einmal Eiter bildete sich.
taz was ein file gŏte stunte. Das war eine sehr gute Stunde.
heil sis tu wůnte. In nomine Heil sei dir Wunde. Im Namen
ihesu christi. daz dir ze bvza. […] Jesu Christi. Dies dir zur Heilung […]
Der erste allein für Blutstillung bestimmte Teil folgt unmittelbar einer symboli-
schen Pflanzenanwendung. Zwei Hälften eines gespaltenen Holunderzweiges sol-
len am Halse des Patienten analog zur Wiederverknüpfung des eröffneten Blutge-
fäßes in Verbindung gebracht werden. Das Sinnbild ist klar. Wir begegnen diesem
Heilritus auch vor den Fraktursprüchen mit Ruten.2 Der Segen selbst beginnt mit
einer kleinen Geschichte, die auf die Legende eines arabischen Evangeliums zu
Christi Kindheit zurückgeht3: Der vom Teufel besessene Judas mischt sich unter
die mit Jesus spielenden Kinder und möchte Jesus beißen. Aber das gelingt ihm
nicht, und so stößt er ihn mit einem Spieß oder einer Lanze in die Seite und das
Jesuskind weint. Diese deutende Zurückführung der Geschichte ist nicht unum-
stritten, die Forschung hat aber bis heute keine bessere Erklärung gefunden. Plau-
sibel dagegen ist die gedankliche Verknüpfung dieses Kinderspieldramas mit dem
Lanzenstich des Soldaten nach Evangelium Johannes 19,24, der den gekreuzigten
Jesus in seine Seite stach, dem späteren Longinus.
1 Bamberg Staatsbibliothek, Msc. Med.6, fol. 139rb, Literatur siehe Paderborner Repertorium
2 Vgl. Kapitel 5
3 Jacoby, Adolf: Der Bamberger Blutsegen, in: Zeitschr. f. dt. Altertum 54 (1913), 200–209
Durch diese kleine orientalische Legende ist der Bamberger mit dem älteren
Straßburger Blutungssegen des 11. Jahrhunderts4 verwandt. Auch in ihm gehen
zwei Personen zum Schießen, aber nicht Jesus (=Genzan, =Josua) sondern ein „Jor-
dan“ wird in seiner Seite angeschossen, sodaß dieser Text nicht sinnvoll, sondern
verdorben und zerstückelt ist, selbst wenn man eine weitere Kinderspielversion aus
den Pseudoevangelien erklärend heranzieht, wie nämlich ein Kind sich zu Tode
stürzt und Jesus von dessen Eltern dafür beschuldigt wird.5 Für Jordan und Genzan
hatte Jacob Grimm nach Entdeckung des Straßburgers natürlich zwei heidnische
Götter vermutet. Doch wird die „Jordan“-Nennung eher als eine Schriftscherbe aus
verlorenen Textteilen zu gelten haben. Der Straßburger Segen konnte nur mit Hilfe
des Bambergers geklärt werden; er hat folgenden Wortlaut:
Ad stringendum sanguinem. Singula ter dic Zur Blutstillung. Sprich dreimal alleine
Genzan unde Jordan keken samen sozzon. Genzan und J. gingen zusammen schießen,
to versoz Genzan Jordane te situn. da schoß Genzan den Jordan in die Seite.
to verstont taz plot. verstande tiz plot. Da blieb das Blut stehen. Stehen bleiben
stant plot, stant plot fasto ! möge dies Blut! Stehe Blut, stehe fest Blut !
4 Straßburger Bibliothek, 11. Jahrh., die Handschrift im Krieg 1870 verbrannt, veröffentl.
Aufhauser, Joh. Baptist, Umweltbeeinflussung, München 1932, S. 80f (Übersetzung nach
Koegel)
5 Reinsch, Robert: Die Pseudoevangelien, Halle 1879, S. 11
Der erste Teil des Bamberger Blutungssegens hat unter allen Beschwörungen und
Segen eine einmalige Variante. Es ist die legendäre Heilhandlung Christi mit sei-
nem eigenen Daumen als Selbsttherapie. Bleibt man im Bilde der Legende spielen-
der Kinder, so ist diese durch Daumendruck bewirkte Gefäßstrangulation, falls nur
oberflächliche Adern verletzt sind, die einzige und schnellste Möglichkeit eines
Notfalleinsatzes. Möglich zur Erklärung der Kompressionsbehandlung mit einem
Daumen wäre aber auch die Heranziehung einer Bildvorgabe aus Darstellungen, in
denen Christus mit seiner Hand auf die Seitenwunde hinweist, also eine traumato-
logisch nutzbar gemachte Umdeutung des bekannten Gestus des malweisenden
Schmerzensmannes (Abb. 10).
Diese Bildgebung ist allerdings nördlich der Alpen erst seit dem Ende des 14.
Jahrhunderts nachweisbar; sie entsprach der Gefühlswelt der Mystik und diente
der Vertiefung der Andacht in Kontemplation. Die Kompression mit Daumen-
oder Fingerdruck, meist rituell kreuzweise links über rechts und umgekehrt, findet
sich in Segen bis zur Neuzeit. In Evangelien kommt Christi Selbsttherapie nicht
vor. Die Verbaltherapie ist nun auch hier nicht losgelöst von praktischen Maßnah-
men zu betrachten, zumal der Bamberger Codex, wie gesagt, die Practica des Con-
stantinus Africanus bietet, also medizinische Rezepte aus der berühmten Schule
von Salerno.
Die Medizingeschichte6 weiß heute, daß nicht Celsus und Galen* (1./2. Jahrh. nach Chri-
stus) die ältere griechisch-römische Chirurgie überliefert haben, sondern der Grieche Paulus
von Aegina im 7. Jahrhundert. Seine Hypomnema (Denkschrift) wurde im 9. Jahrhundert
ins Arabische übersetzt und im 11. Jahrhundert von Constantinus Africanus in Salerno aus
dem Arabischen ins Lateinische. Mit dieser Chirurgie, die im Schnittpunkt von römischem
und hellenistischem Gedankengut steht, begann eine Neubelebung, eine Renaissance des
Fachgebietes in Theorie und Praxis im Vorfeld der ersten Universitätsgründungen, eine erste
wissenschaftliche Diskussion. Eine vermischte Textsammlung aus Salerno hat ihren Weg
nach Bamberg gefunden und wird als „Bamberger Chirurgie“ bezeichnet. Sie befindet sich
im gleichen Bamberger Codex Msc. Med. 6 wie unser Blutungssegen.7
Anders als der erste Teil des Bamberger Segens, dessen Geschichte von der kindli-
chen Spießverletzung genauso wie der Straßburger Segen weder Vorfahren noch
Nachfolger hat, steht der zweite Teil mit seiner Perprimam-Heilformel im Überlie-
6 McVaugh, Michael: Therapeutische Strategien: Die Chirurgie. In: Grmek, Mirko Drazen
(Hg.): Geschichte des medizinischen Denkens, München 1996, S. 293–311, hier: S. 298f
7 Bergmann, Rolf und Stefanie Stricker (Hg.): Katalog der altdeutschen und altsächsischen
Glossenhandschriften, Berlin New York 2005, I, S. 169
zinschule von Bologna10 hatte nach ihren Erfahrungen auf Eiterförderung per Rei-
zung der Wunde verzichtet und statt dessen einen antiseptischen, bakterienfeindli-
chen Alkoholverband angewendet. Ihre Erfolge gaben ihnen teilweise recht. Nar-
benbildungen blieben oft komplikationsfrei; kleine Wunden heilten „per primam“
viel schneller ohne funktionelle und kosmetische Defekte. Aber bei größeren Wun-
den waren andere Maßnahmen erforderlich. Die Bedeutung von Eiterbildung
wurde jetzt differenzierter dargestellt.11 Diese medizintechnische und mehr noch
auch medizintheoretische Revolution spiegelt sich im Bamberger Segen wider. Er
konnte als Propaganda-Instrument für eine neue Therapie eingesetzt werden, me-
thodisch gesehen zeitentsprechend im Klosterbetrieb auf christlicher Spruchfolie
sehr wirksam. Es ist müßig, dem Mönch oder Mönchsarzt, der den „Bamberger“
eintrug, eine bedarfsweise Ausbeutung der heiligen Wunden und eine „magisch
gepolte Bedürfnislage“12 mit Aussetzung der zwei Naturen Christi zu unterstellen.
Die alte germanische Liedform der Zwillinge mit Stabreim beim „Schwellen und Schwären“
der Wunden ist für die Annahme germanischer Vorbilder unseres Bamberger Segens plausi-
bel.13 Aber es sind wenige und magere Zeugnisse, die aus der Zeit vor dem 14. Jahrhundert
belegt sind. Und eine allgemein kontroverse Auffassung zur Wundheilung dürfte es auch
schon vor den ersten wissenschaftlichen Impulsen der Medizinschulen gegeben haben.
Bei Heranziehung weiterer Wund- und Wassersegen und medizinischer Schriften spiegelt
sich die medizinische Kontroverse um die Wundversorgung über weitere Jahrhunderte wi-
der. Das 12-(13-)bändige Buch der Medizin des Pfalzgafen Ludwig V. bei Rhein (um 1525)
enthält Handschriften aus dem Besitz der pfalzgräflichen Familie, adliger Laienmediziner,
Lehensträger und Ministerialen, bürgerlicher Mediziner und Laienpraktiker,15 bietet also
eine breite gesellschaftliche Palette der Anwender und Schriftvermittler in ca. 20000 Einzel-
texten. Hier überwiegen bei der Wundversorgung bei weitem die bewußt eiterfördernden
Maßnahmen mit und ohne Segensbegleitung, gelegentlich heißt es sogar, die Wunde möge
„nit zu balde“ heilen. Demgegenüber gibt es Segen mit der Formel vom Schwellen und Schwä-
ren, solche zumal, die den „Gott, der Wein und Wasser geschaffen“ hat, heranziehen und ei-
gentlich eine Wundweihe anzielen, die nach dem Segensspruch empfehlen, „kain ander artz-
nei“ dazuzutun (CPG 266, fol.251r) oder einfach auf die fehlende Wundbehandlung Christi
zu verweisen: „Jhesus entpfinge viel wunden, da ward kaine verbunden, also geschehe dieser
wunden“ (CPG 266, fol.130r). Ebenso CPG 211, fol.35r: „und heis nüt anders dor zü tün“.
– Eine Wiener Handschrift des 14. Jahrhunderts für alle Notfälle (Cod. 2531, fol.58rv) läßt
die Wunde mit Essig oder Wein benetzen und explizit „nullo modo“, keinesfalls also, mit
Salbe behandeln. Gelegentlich stehen die kontroversen Wundversorgungskonzepte nebenein-
ander wie in der „Wundarznei“ des Ortolf von Bayerland16: Versorgung von Stichwunden mit
Eiweiß und Hanfwerg am Pflaster, Versorgung von Stichwunden mit Abwarten, bedarfsweise
Ausblasen mit einem Rohr und Alkohol (Wein). Eine Anweisung zu genauer Differentialdia-
gnostik, wie selten zu lesen, bietet eine Schrift aus Donaueschingen im 15. Jahrhundert, vgl.
im Kapitel 9. Besonders später unter dem Einfluß von Paracelsus, der dem Wundarzt vorwirft,
daß nicht er, sondern daß „der Balsam im Leib es ist, der heilet“ mit seiner versteckten Kraft,
gerät die Wundversorgung wieder ins Visier. Mit „Eyerklar verbappen“ und mit Pflaster von
Harz, Mastix, Wachs und Gummi , solches ist „der Wunde garnicht vieglich“ und ist
„Verderbung“.17
und dein schmeken und dein dorren und dein Schmecken und dein Dörren
und dein stechen und dein wechen und und dein Stechen und dein „Wechen“
dein gswellen lassest ez sein würm dein Schwellen einstellst, es seien
oder spinnen oder maden […] daz muz Würmer, Spinnen oder Maden […] alles
allz tot sein von disen worten die ich soll absterben durch diese Segensworte.
gesegent han Du almächtiger Du allmächtiger Gott, deine hl. Wunden
got dein heilig wunden die schwuern die weder schwüren noch schwellen noch
noch enswullen noch enriechen […] riechen. […] Also segne es drei Stunden und
gesegen ez dreistunt und nach iegl- nach jeglichem Segen sprenge das Wasser
ichem segen spreng daz wasser vier in vier Richtungen aus!
enden aws
Aus dem letzten Teil des Bamberger Blutungssegens ging mit der Zeitfestlegung auf
eine gute Stunde, auf die heilstiftende Kreuzigung des Opferlammes und unter
Nutzung der Gunst des Reimes einer der bis in die Neuzeit beliebtesten Wundse-
genstypen hervor. Er nimmt mehr noch wie der zweite Teil außerhalb der Klöster
seinen Weg in Medizinbücher, Volksheilbücher und in die mündliche Tradition der
Heiler. Die einzelnen Verzweigungen der Formel können im folgenden nur ange-
deutet werden:
19
Ein segen zu wunden.
Sprich. Crist von hiemell warde wundt,
Das was vff dieser erden ein glückhafft stunde;
Die viel hailigen wunden hailten schier
Also mus auch du thun on aiter, on schweren.
Das helf mir der wore Gottes sune Crist,
der aller welt ein hailsamer artzt ist.
In manchen Segen „von der guten Stunde“ ist Longinus mit seinem Speer ange-
hängt, so eine Formel aus dem Nürnberg des beginnenden 15. Jahrhunderts, wo
1424 durch die Schenkung Kaiser Maximilians die Verehrung des heiligen Speers
begonnen hatte:
20
Ich gesegent mich heut mit guten stunden / mit den hailigen funff wunden /
Ich gesegen mich mit den heiligen dreynegel die dir lieber hergot durch
Hend und fuß wurden geslagen / Ich gesegen mich heut mit dem sper gut
daz dir lieber got durch deine rechte seiten wut […]
19 Heidelberg CPG 266 (Buch der Medizin des Pfalzgrafen) fol.130b, 16. Jahrh. Digitalisat
0272
20 Nürnberg Germ. Nationalmuseum Handschr. 5832, fol.5r-5v, veröffentl. Aufsess, Hans von
und zu, Anzeiger f.d.Kunde der dt. Vorzeit 1 (1853), S. 136
Andere Texte betonen die Perprimam-Heilung und nennen die zu behandelnde als
sechste Wunde wie der sächsische Text im Rossarzneibuch des Johann Martin von
Oschitz in Meissen von 1677, notiert auf den Rand einer Seite:
21
Das walt gott […] daß du von dannen weichst, heut ist dieselbige stundt.
Gott der heilige ward auch wundt, am dritten tag wardt er wieder gesundt.
Das walt gott undt die heyl. 5 wundten, die heilen den schaden, die 6. wundt
dieselben jähren nicht und schwern nicht, sie hizn nicht und schwitzen nicht
[…] undt der unselige judt stach das himmlische kindt […]
Gelegentlich fällt die eine heilbringende christliche Stunde auf die Kreuzigung wie
im Bamberger Segen, so hier im Büchlein der Kuhhirtenfamilie von Schivelbein in
Pommern, gesammelt und geschrieben zwischen 1787 und 1870:
22
Unser Herr Christus ist verwundt in einer glücklichen Stund
Hat nicht gebissen nicht gerissen so soll diese Wunde auch thun[…]
Vielfach tritt aber auch die Geburtsstunde Christi ein wie in einem Spruch meiner
Ururgroßmutter, der Frau Lehrerstochter Juliane Maria Anna Ernst (geb. 1816 in
Wilburgstetten, gest. 1870 in Nördlingen):
Glückselige Wunde, glückselige Stunde, glückselig ist der Tag,
da Jesus Christus geboren ward.
Und meistens bis in die Neuzeit und in die gedruckten Zauberbücher tendieren die
Texte zu drei glücklichen Stunden, ohne immer den logischen Zusammenhang mit
Christi Wunden aufzugeben. Die Nachbarschaft zu den Formeln des Kurzcredos
wird damit deutlich, so im 16. Jahrhundert im Elsass:
23
So gut ist die stundt, alß die stundt wahr, da vnser lieber Herr geboren war,
alß gut ist die stundt, alß die stundt war, als vnser lieber Herr Jesus Christ
gestorben war […] vferstanden war, so gut seindt die 3 stundten. Verhebendt
dem Menschen die wundten […] alß das blut gestanden ist an vnserem
Herren jesus Christ an dem Stamen deß heiligen kreutz. Das es nit
geschwindt vnd hitz, nit schweiß vnd nit geschwell […]
Daß zu Zeiten auch solch fromme Formeln der Segenssprecher Anstoß erregten, zeigt
ein Vorgang am Züricher Ehegericht, wo der Schulmeister Heinrich Hardmeyer aus
Männedorf 1643 vorgeladen ist. Er hört Vorwürfe wegen des Spruchinhaltes, versi-
chert, daß er kein Geld verlangt hat und bittet um Verzeihung. Sein Spruch:
21 Brebaum, Hendrik: Das Rossarzneibuch des Johann Martin von Oschitz, Diss. München
1967, S. 125
22 Mackensen, Lutz: Ein pommersches Hirtenbuch, in: Bargheer, Ernst und Herbert Freuden-
thal (Hg.) FS Otto Lauffer, Volkskunde-Arbeit, Berlin und Leipzig 1934, S. 204
23 Lefftz, J., in: Archiv f. elsäss. Kirchengeschichte 7 (1932), S. 217
24
Es war ein guotte stund, da unser Herr Jesus geboren ward, es war ein guotte
stund, da er gestorben war, es war eine guotte stund, da er ufferstanden war.
Da weren die drei glückhaft stunden. Ich gebiette deiner wunden, daß sy soll
weder blüeten noch erschweren, bis daß sein Liebe Muotter ein ander Kind
werdt gebären.
24 Wehrli, Paul: Aberglaube im alten Zürich, in: Schweizer Volkskunde 22 (1932), S. 6
25 Denz, Hermann und Manfred Tschaikner: Alltagsmagie … im Bregenzer Wald. Begleitbuch
zur Ausstellung des Frauenmuseums in Hittisau, Innsbruck 2004, S. 42
26 Graefen-Johannimloh, Lieselotte und Ursula Castrup, in: Volksmedizin heute, (Hg. Wiegel-
mann, Günter, Münster 1987) S. 151
27 Die mit * versehenen Begriffe und Namen finden im Anhang Erklärung
Der zweite Teil des Segens impliziert darüber hinaus die beruhigende Hoffnung auf
eine unkomplizierte Heilung, wobei die Wirkung der hier einfließenden Stab- und
End-Reime prinzipiell als rhythmisierendes Suggestivum gelten kann. Wenn keine
länger anhaltende Blutung durch komplizierte Bedingungen vorlag, dann hatte der
Spruch in vielen Fällen seine Schuldigkeit getan.
Ausgangspunkt dieses zunächst der Blutstillung dienenden Segens ist allein das
Johannes-Evangelium 19, 24: „… einer der Soldaten stieß mit der Lanze in seine
Seite und sogleich kamen Wasser und Blut heraus“. Über die Tat des mit Lanze
oder Speer bewaffneten Mannes, der den Gekreuzigten in die Seite ritzt, sticht oder
bohrt und seine Motive ist über Jahrhunderte unendlich viel nachgedacht worden.
War es der Gnadenstoß ? War es Todesvergewisserung oder Todeseintrittszeugnis?
Eine Beschleunigung des Todeseintritts wegen bevorstehenden Passahfestes? Die
Beine der Schächer wurden aus diesem Grunde gebrochen, Jesus dagegen wird wie
ein Opferlamm behandelt. War der Soldat dem Judas oder eher dem Moses am
Felsenquell vergleichbar? Lassen wir die Spekulationen, auch die über physiopatho-
logische Fragen, Todeseintritt und Zeichen! Einziger Schlüssel zum Verständnis
bleiben Wasser und Blut als Signaturen der entscheidenden Sakramente: Wasser
der Taufe, Blut der Eucharistie, Wasser als Lebensspender am Wüstenrand. Alle
Menschen leben an ihm. Und Blut als Erlösungsopfer – alle bleiben dessen bedürf-
tig. Nur eine solche Interpretation wird dem Evangelisten gerecht, in dem sie an
seinen ersten Brief (1 Joh. 5,6) anknüpft und die Doppelnatur des Christus Jesus
beschreibt.2
Aber die Person des Lanzenmannes erregte doch immer wieder Neugier. Ähn-
lich Veronika, die auf ihrem Schweißtuch ein Original-Relikt des physischen Chri-
stus erhielt, bekam auch der Erzeuger der Seitenwunde bald einen Namen und
bekam verschiedene Identitäten. Schon in frühen Legenden des 4. Jahrhundertes
(Gregor von Nyssa) wurde der Kriegsknecht des Pilatus zum himmlischen Kriegs-
knecht, ja zum Märtyrer. Und später wird ihm auch Blindheit zugelegt. In der Le-
genda aurea des 13. Jahrhunderts heißt es:
„Von Sanctus Longinus. Longinus war ein Hauptmann, der stund mit anderen Kriegs-
knechten unter dem Kreuz. [...] Auf des Pilatus Gebot durchstach er die Seite des Herrn mit
seinem Speer; aber da er die Zeichen sah, die da geschahen, daß die Sonne ihren Schein
verlor und die Erde erbebte, da glaubte er an Christum. Etliche schreiben, daß er sei gläubig
worden, da das Blut Christi, das an der Lanze herablief, von ungefähr seine Augen berührte,
die von Krankheit und Alter schwach waren, und ihm alsbald sein klares Gesicht wiedergab.»3
Und nicht nur Neugier löst Longinus aus. Er macht Kirchen- und Reichsge-
schichte, bahnt Pilgerströme und Katechetenkräfte. Denn der Auferstandene war
ja sonst unverletzt, sein Leib hatte als integer zu gelten bis auf die Wundenmale, die
Narben. Mit dem Blut als einziger „Reliquie“ des Erlösers konnten konkret – nicht
mehr nur geistig-vertikal als Sakrament – Kultentwicklungen gefördert werden. In
Weingarten wird 1182 erstmals von einer Heilig-Blut-Reliquie berichtet; bereits
1094 soll sie den Mönchen vom dortigen Martinsberg geschenkt worden sein;4 es
ist die Zeit der Kreuzzüge. Auf der Insel Reichenau soll zuvor 925 eine Blutreliquie
angekommen sein. Die Heilig-Blut-Wallfahrten, in denen Longinus bis in unsere
Zeit verehrt wurde, zeigen seine Bedeutung. Er war auch Sammler und Überbrin-
ger des kostbaren Blutes geworden. Und seine Lanze wurde kaiserliches Allmachts-
symbol.
Die Schöpfer und Gestalter des Longinussegens konnten auf dieser breiten Ba-
sis geistiger und legendärer, jedenfalls christozentraler Ebenen ein Jahrtausendwerk
mit ununterbrochener Überlieferungskette hinterlassen. In den Segen von den drei
guten Brüdern5 wird schließlich sogar Christus selbst zum Autor des Longinusse-
gen ernannt. Doch hat der Longinussegen seinen jahrhundertelangen Weg auch
selbständig genommen.
Die ältesten nachweisbaren Longinuseinfügungen und Titel finden sich zumeist
in überwiegend lateinischen Texten; eine sehr frühe Erwähnung des Soldaten ne-
ben einigen althochdeutschen Splittern hat die Rheinauer Handschrift des 10.
Jahrhunderts:
6
Longinus miles. Lango zile. Cristes thegan ast astes.
Adiuro sanguis per patrem et filium. Et spiritum sanctum
Vt non fluas. Plus quam iordanis aha … nelo ( ?) xpe
In ea baptizatus est et a… a tribus vicibus ; pater noster
cum gloria
Angesprochen in diesem wenig durchsichtigen Text ist jedenfalls der Speerstich des
Longinus und die Indikation Blutstillung. In einem noch lateinischen Regensbur-
ger Segen des 11. Jahrhunderts aus St. Emmeram, auch er randständig auf einer
3 Jacobus de Voragine*: Legenda aurea. Übersetzung Richard Benz, Gütersloh 1999, S. 182
4 Jensch, Rainer: Die Weingartener Heilig-Blut-und Stiftertradition. Diss. Tübingen 1996
5 siehe Kapitel 29
6 Zürich, Zentralbibliothek, Handschrift Ms. Rh. 51, Blatt 23v, blass am unteren Rande; für
freundliche Vermittlung danke ich Herrn Prof. Dr. C. Eggenberger.
Seite hinzugefügt, wird das Vorgehen des Longinus berichtet. Beschworen wird ein
Stillstand des Blutes durch Erstarren in der Ader.7
Im folgenden Text des Innsbrucker Arzneibuchs des 12. Jahrhunderts gegen
Nasenbluten mit einem in deutsch genannten „Der lange Longinus“ und mit nach-
folgender Heilkrautinsufflation dominieren empirische Verordnungen. Das ge-
brannte Pulver aus Eberraute soll durch ein Rohr in die Nase eingeblasen werden:
8
Contra fluxum sanguinis de naribus. Gegen Nasenbluten soll man sprechen:
Dicat sic: der lange Longinus transfixit Der lange Longinus durchbohrte Christus
Christi latus statimque fluxit sanguis de tief, und sogleich floß Blut aus der Seite.
latere, in ipsius nomine stet sanguis iste. In seinem Namen soll das Blut dieses
Deserru rûten einer scala scol man ze (Patienten) stillstehen. Eberrauten soll
pulvere prennen et sufflare[…] man zu Pulver brennen und einblasen[…]
Der wahrscheinlich früheste selbständige rein deutsche Speersegen, der nicht Longi-
nus, aber seine Tat und sein Werkzeug nennt, ist einem Einsiedelner Codex zu ent-
nehmen. Er ist für Menschen, Vieh und Pferd vorgesehen und muß dreimal gespro-
chen werden. Er wird Mitte des 14. Jahrhunderts typenbildend für Pestsprüche und
ist von Gerhard Eis aufgrund seines Wortgebrauchs in das 12. Jahrhundert datiert:
9
Ich beschwer dich, wund vnd geswer Ich beschwöre dich Wunde und Geschwür
vnd by dissem haligen sper, bei diesem heiligen Speer
daz got durch fursitten wut, der Gott durch seine Seite drang.
ez waz halig wasser vnd blut. Es war heiliges Wasser und Blut.
Aus dem 14. Jahrhundert werden weitere selbständige Longinussegen bekannt, die
meisten dienen der Blutungs- und Wundbehandlung. Die an Umfang bedeutend-
ste Gruppe bezieht sich auf die fehlende Eiterung an Christi Wunde(n).
7 München BSB Clm 14569 fol. 17b, blass am linken Rande v. Hand des 11. Jahrh., veröfftl.
MSD II³, 275
8 Innsbruck Univers.- und Landesbiblioth. Perg. Hs. 652, fol.77’, zur Herkunft und Ver-
wandtschaft der Archivalie vgl. Schnell, B.: Das Prüller Kräuterbuch, in: Zeitschr. dt. Altert.
u. Lit. 120 (1991), S. 184–202
9 Einsiedeln Stiftsbibliothek, Cod. 730, Bl. 47v, veröffentl. Eis, Gerhard, Forschungen zur
Fachprosa, Bern und München 1971, S. 319f
Diese in sich nicht unlogische, aber nicht direkt Longinus betreffende Anwendung
ist mit verschiedenen Zutaten und Abweichungen weithin belegbar11 und vor allem
in Kriegszeiten sicher oft getätigt worden. Die Entfernung von Pfeilspitzen, die oft
vergiftet waren oder beim Herausziehen abbrachen, gehörte zu den schwierigsten
Aufgaben der Feldscher und Chirurgen.
Eine diesem Wiener Spruch ganz ähnliche Formel finden wir in Arzneibüchern
von Memmingen und Nürnberg im 15. Jahrhundert wieder. Die Parallelität der
drei Quellen verdeutlicht ein weiteres Mal exemplarisch den Bedarf an Informatio-
nen über beide Seiten der Therapie, empirischer und seelisch-suggestiver. Joachim
Telle hat in einer diesbezüglichen Bearbeitung nicht nur die „hohe Textmobilität“
belegen können – handelt es sich doch um einen europäischen Heilsegen – sondern
auch das Ungenügen der Interessenten an rein empirisch-praktischer Medizin, wie
sie die Rezeptsammlungen des „Thesaurus pauperum“ aus den alten Medizinbü-
chern anfangs angeboten hatten.12 Die Hereinnahme dessen, was viele heute Zau-
bersprüche zu nennen gewohnt sind, war keine Extravaganz, sondern diente der
zeitgemäß angelegten begleitenden Verbaltherapie.
Nicht nur Behandlung, sondern auch Vorbeugung und Schutz vor feindlichen
Waffen wird gelegentlich der Longinusformel abgewonnen, so z. B. im Wiener To-
biassegen des 14. Jahrhunderts, der zu den Ausfahrtsegen gehört:
10 Wien ÖNB Cod. 2817, Bl.29c veröffentl. Schönbach, Zeitschr. dt. Altert. 27 (1883), S. 309
11 Viele Beispiele bei Schulz, M.: Beschwörungen im Mittelalter, S. 77f
12 Telle, Joachim: Petrus Hispanus in der altdeutschen Medizinlit., Diss. Heidelberg 1972,
S. 169–171, 367
13
Herre got, behüete hiut mich .N. Herrgott, behüte mich, N. heute
durch des vil heilegen speres stich, durch des hochheiligen Speeres Stich,
den dir Longinus durch dîn sîten stach den dir Longinus durch deine Seite
dô dir dîn heilec herze brach; antat und dir dein hl. Herze brach.
unde beschirme mich daz pluot Und beschirme mich das Blut, das
daz dir durch die selben wunden wuot, dir durch die selbe Wunde quoll,
daz mir alle mîne vînde entwichen damit mir alle meine Feinde weichen
und elliu wâfen gên mir enblîchen. und daß all ihre Waffen gegen mich abstumpfen.
Wir registrieren nun ab 15./16. Jahrhundert Segen auch gegen „aller pest wunden“,14
wir treffen eine große Gruppe von Pferdetritt- und Streichen-Segen an, sie betrifft
eine mit Blutungen einhergehende Pferdeverwundung durch Gangstörung,15 logi-
scherweise auch Segen „Fiers Stechen Jn der Seitten“,16 aber auch Fiebersegen,17
Pferdewurmsegen18 und einzelne Formeln zur Beschwörung von Wünschelruten-
zweigen.19
Eines der Zentren von Wunderkraft bleiben „Wasser und Blut“ Christi als Me-
tonymie von Taufe und Erlösung, wie das in einem Pfeilsegen der vatikanischen
Bibliothek belehrend genannt ist:
20
Longinus ein Jude war, der vnsern herren in sin hercze stach;
vz der wonden ging wasser vnd blůt; daz wasser ist vnser daufe,
daz blut ist vnser losunge [Erlösung], als werlich, als daz war ist,
alz musse daz ysen her vz gen. […]
21
Ain bewarter Segen Fier den Zanntwee
Sprich also: Du grimig zantwee, Zeuch aus (Hs.: ans) Als der falsch Jud Languinus aus
Zach (zog) sein falsches sper vnnd stach vnnsern Lieben herrn Jhesun Cristum Durch
sein Heillige seidtn, daraus Rann wasser vnnd rossenfarbs pluet, das sey mir N: fier dem
grimigen Zahntwee guet […]
Endlich ist auch Longinus’ Erhellung aus Blindheit als Gegenkraft eingesetzt: Im
frühen 15. Jahrhundert fungiert der nicht namentlich genannte Longinus in einem
mittelniederdeutschen Feuersegen.22 Christi Blut, das dem Manne, der ihm in
Herz und Seiten stach, so lieb und wertvoll und erleuchtend war, möge die Glut
löschen, eine ganz poetische Vorstellung, daß ein heiliges blutentströmendes Licht
irdische Brände zu löschen vermag.
Es ist eine sonderbare Beziehungssetzung, wie sie dann auch einige weitere
Pfeilsegen aufweisen. Das nach der Legende bei der Passion erzählte Wunder am
blinden Mann wird hier als bekannt vorausgesetzt: Der über den Speer herabströ-
mende Blutfluß der Seitenwunde, herabrinnend über seine Hände, mit denen er
die Augen bestreicht, macht ihn sehend. Aber die Spruchgestaltung scheint an
Überzeugungskraft, d. h. an therapeutischer Performationswirkung auf die Aktivie-
rung des limbischen Systems verloren zu haben, zumal für eine Pfeilextraktion und
bedarf im folgenden Spruch mehrfacher Wahrheitsbehauptungen:
23
Mit dem zewcht man den pheil.
Longinus der Jud ein Ritter was, daz ist war, der vnsern herren in sein seitten stach,
das ist war; dar aus ran wasser vnd blut, das ist war, das blut ym über sein hent ran,
das blut er vnder seinew augen straich, das ist war, er was plint vnd wart gesehent […]
Erwartungsgemäß müßten also Segen entstanden sein, die bei Blindheit oder ande-
ren Augenkrankheiten eingesetzt werden konnten. Der blinde Jude Longinus,
durch Christi Blut erleuchtet (Tafel 1), hatte ja gemäß der Legende auch wiederum
Wunder gewirkt und seine Peiniger sehend gemacht. Analogiebildungen zwischen
verschiedenen Augenleiden und Longinus’ Augenheilung sind denn auch verbreitet
und blieben lange Zeit beliebt. Ich nenne ein Beispiel aus dem 16. Jahrhundert.
Die Heilkraftzentren an Christi Leib werden durch den Gnadenerweis an Longinus
selbst ergänzt:
24
Longinus, der ritter, stach vnsern herren durch sein recht seiten mit einem sper.
Doraus ran wasser vnnd bluet durch desselben bluetes ere Vnd der hailigen fünff
wunden ere Vnd durch die fraude, die der blint man, herre, von deinen gnaden gewan.
Die freude, die gnade, die gabe dein trost: Die mustu Cristenman N., heudt emphohen,
Das alles das mus zergen. (Aufzählung verschiedener Augenleiden) Du solt zergen, Das
diesem haubt, diesem hirn, diesen baiden augen schad sei. […]
Der vom Beginn im 10. Jahrhundert ununterbrochen bis in die Neuzeit beliebte Lon-
ginus-Segen, den am Höhepunkt seiner Verbreitung im 15./16. Jahrhundert eine
volksfromme Verehrung des wahrhaftigen Speeres und seiner Abbildung begleitet, be-
hält aber auch seine Wundindikation bei, während zuletzt der Name des Longinus
immer mehr Abänderungen und Umdeutungen bis zur Unkenntlichkeit erfährt:
24 Heidelberg Univers.-Biblioth., CPG 244, Blatt 44r, 13. Band des „Buches der Medizin“
(1526–1544), Digitalisat einsehbar 2009
25 München Bayerisches Nationalmuseum Segensammlung Kriss, KrZ 607, aus Reichenau?;
ähnlich Albertus Magnus „Toledo“ Berlin 1908, I,10; ähnlich Albertus Magnus Reutlingen
o. J.,19.Jh.?
26
Ein bewehrter Segen zu allen Schäden.
Tanteus Judäus er zog aus seinen Speer, stach unsern lieben Herren unter seine rechte
Brust, daraus ging nichts als Wasser und Blut […]
27
Es kam ein Mann geritten aus Galilitten, stopfte Jesu seine Seite,
kam Wasser und Blut heraus. Blut steh still […]
28
Gott hat erschaffen Wasser und Wein, daß der Schad soll gesegnet seyn von innen und
außen, daß dem Schaden geschehe, wie Lamas Jesus durch seine rechte Seite stach
29
Unßer lieber Herr Jesus Christus hat viele Beueln u Wunden gehabt; und doch keine
verbunden sie jähren nicht sie geschwären nicht, es gibt auch kein Eyder nicht.
Jonas war blind sprach ich das himmlische Kind, so wahr die heiligen 5 Wunden seyn
geschlagen, sie gerinnen nicht […]
Was die wahrhaftige Lanze oder den Speer des Longinus angeht, so hat die legen-
däre Überlieferung immer wieder auf Hochgratpfade bedeutsamer Vermittler und
Besitzer abgehoben, beginnend mit der heiligen Helena, die eigentlich alle wichti-
gen Dinge gefunden hatte, über den heiligen Mauritius und seine thebäische Le-
gion bis zum Ritter Titurel, dem Hüter des heiligen Grals von Monsalvat.
Über Jahrhunderte gehörte dann eine der mindestens 8 Lanzen bzw. Lanzen-
spitzen, die den Anspruch der Authentizität erhoben, zu den Reichskleinodien der
Kaiser des Abendlandes, die sie neben der Krone führten und die ihnen Schlach-
tensiege versprach. Die in der Wiener Schatzkammer verwahrte Heilige Lanze, die
auch einen Nagel von Christi Kreuz enthalten soll, ist nach neueren metallurgi-
schen Untersuchungen nach karolingischer Art im 8. Jahrhundert hergestellt wor-
den. Doch die Kernsubstanz des Nagels bleibt geheimnisvoll: Sie soll aus der Zeit
Jesu Christi stammen. Auf der von Kaiser Karl IV. veranlaßten goldenen Man-
schette steht die Inschrift:
Eine letzte Reise trat diese Lanze im 20. Jahrhundert an, als Adolf Hitler sie 1938,
nach dem Anschluß Österreichs, den Nürnberger Genossen zum Reichsparteitag
schenkte. Auch daran ranken sich romangeprägte Sagen, die nun dem Führer einen
wirklich teuflischen Zauberglauben an die absolute Unbesiegbarkeit durch die
Lanze zutrauen. Die Alliierten haben die Lanze 1945 von Nürnberg nach Wien
zurückgebracht, und so hat sie nochmals den Weg genommen wie zu Zeiten Napo-
leons, als die Reichskleinodien aus Nürnberg nach Wien gebracht wurden.
Abb. 13 „Eigentliche Abbildung des Speers, mit welchem unserem Heiland Jesu seine Heilige
Seite eröffnet worden“. Den Speer erhielt Nürnberg 1424 von Kaiser Maximilian.
Zu den wichtigsten biblisch erzählerischen Motiven, die auf den Stillstand trauma-
tischer und spontaner Blutungen hinführen, gehört neben der Kreuzfixierung
Christi wie im Wolfsthurner Spruch und dem Lanzenstich des Longinus auch die
Stillstandsfiktion des Jordan. Nach Josua 3,14 –17 war der Durchzug der Israeliten
durch den Jordan, ebenso wie durchs Rote Meer, auf wunderbare Weise gesichert
worden, sodaß sie trockenen Fußes passieren konnten. Die Kirchenväter hatten mit
Verweis auf eine Allegorie im ersten Paulusbrief (1 Kor. 10,1–2) den Durchzug
durchs Rote Meer zum Sinnbild der Taufe gemacht. Dieses Stillstehen eines sich
aufstauenden Wassers wird im spätalthochdeutschen Millstätter Blutungssegen
kombiniert mit Christi Taufe an eben demselben Jordan, und der Text gewinnt
damit eine sich aus beiden Testamenten speisende Überzeugungskraft. In Armen-
bibeln werden diese Heilsereignisse bildlich synchronisiert (Tafel 1).
1
Der heligo Christ wart geboren ce Bethlehem, Der hl. Christ ward in Bethlehem
dannen quam er widere ce Jerusalem. geboren, von dannen kam er wieder nach
da ward er getoufet vone Johanne Jerusalem und wurde von Johannes
in demo Jordane. im Jordan getauft.
Duo verstuont der Jordanis fluz Da stand der Jordanfluß still in
Gegen Ende des 11. Jahrhunderts hatten die Edlen Aribo und Poppo in Millstatt ein Bene-
diktinerkloster gestiftet, das im 12. und 13. Jahrhundert durch Schreib- und Malschulen zu
großem Ansehen gelangte. Hier entstand neben vielem anderen die berühmte Millstätter
Genesis. Abseits von diesen biblischen Schriften im Rahmen eines später angebundenen
Textes des 12. Jahrhunderts gegen Berengar von Tours, dem Verteidiger einer von der kirch-
lichen Lehre abweichenden Abendmahlsdeutung, erscheint als einziger deutsch verfaßter
Text dieses Codex der Spruch zur Blutstillung. Seine Herkunft aus St. Blasien im Schwarz-
wald ist vermutet worden.2
Der Trierer Jordansegen aus dem frühen 9. Jahrhundert hatte ein anderes Motiv: Es
ist ein Hinüberschreiten des Täufers und des Täuflings über den Fluß, was zum
Stillstand führt, Christi Taufe ist nicht ausdrücklich genannt. Dieser Spruch ist die
Abschrift eines älteren und gilt manchem als der früheste Jordansegen überhaupt.3
Eine Rezeptur schließt sich an. Und er bedient sich noch ausschließlich des Latei-
nischen:
4
Ad nares stagnandas: Gegen Nasenbluten
Pone manum super caput et dic: Lege die Hand über den Kopf und sprich:
Unde venis tu iordane sanguis et aqua, Jordan, Blut und Wasser, ich beschwöre
Periuro te in nomine domini patris et filii dich im Namen Gottes des Vaters, des
et spiritus sancti, ut redeas et ultra non Sohnes und des hl. Geistes, daß du zurück-
exeas de naribus istius hominis. […] gehst und nicht mehr aus der Nase dieses
Christus et sanctus johannes ibant ad flumen Menschen fließest. […] Christus und Jo-
Jordanem, restitit tunc flumen jordanus, hannes gingen zum Jordan. Da blieb der
donec transit christus et sanctus johannes. Jordan stehen als Christus und Johannes
Sicut restitit flumen jordanis, ita restat uena hinüberschritten. Und so höre auch die
N., cui nares sanguinem […] Ader des N. aus der Nase zu bluten auf […]
Ein anderer ebenfalls noch lateinischer Spruch einer medizinischen und botani-
schen Sammelhandschrift der Berner Bibliothek vom 11./12. Jahrhundert stellt die
2 Eis, Gerhard: Forschungen zur Fachprosa, Bern u. München 1971, S. 323 (nach H. Men-
hardt)
3 Schiel, Hubert, in: Trierisches Jahrbuch 4 (1953), S. 23–36, hier: S. 28
4 Trier Stadtbibliothek, Hs 40/1018, fol. 13v-14r, veröffentl. Embach, Michael: Trierer Zau-
ber- und Segenssprüche des Mittelalters, in: Kurtrierisches Jahrbuch 44 (2004), 29–76, hier:
Seite 43f;
Taufe Christi an den Eingang des Spruches. Hier ist es wieder wie im Millstätter
Segen der Taufvorgang selbst, der den Stillstand von Jordan und Blutung bewirken
soll:
5
+ Christus ibat ad Iordanem, Christus ging zum Jordan,
ut baptizatur a Johanne. um von Johannes getauft zu werden.
Jordanis stetit et stupuit. Der Jordan stand und stockte.
Sic stupescent gutte sanguinis, Genauso sollen die Blutstropfen stocken,
que cadunt de naribus istius die aus der Nase dieses Menschen tropfen.
hominis .N. Adiuro te per no- Ich beschwöre dich durch Christi Namen:
men Xristi: restat sanguis. + restat Stehe Blut! Stehe!
Eine Besonderheit liefert der Millstätter Segen am Beginn. Für Geographie- und
Bibelkundige war er deshalb immer schon etwas rätselhaft und regte zu Spekula-
tion an. Denn Jerusalem liegt nicht am Jordan. Man hat deshalb im Vergleich
mit anderen europäischen Segenstexten einen Dreiklang von zeitlich abgrenzba-
ren Reinigungs- und Heiligungsriten für das Jesuskind als Volksglauben
unterstellt:6 a) Geburt in Bethlehem, b) Darbringung im Tempel zu Jerusalem,
wo alles Männliche, das den Mutterschoß öffnet (Lukas II,23), erst losgekauft wer-
den mußte. Das gilt für erstgeborene Knaben, die nach jüdischem Gesetz gottge-
hörig sind. Und c) Taufe im Jordan. Und es gibt auch Segensformeln, die in
diesem Sinne eine kompakte Kindheitsbiografie Jesu ausbreiten: ein Viehschutz-
segen nennt Geburt, Beschneidung, Jordantaufe, Opferung im Tempel, Flucht
nach Ägypten, Ernährung in Nazareth in dieser Reihenfolge.7 Aber der Gottes-
sohn wurde nicht als Kind getauft. Gleichwohl ist die für Christenkinder bedeu-
tungsvolle Vorstellung immer wieder auch in anderen volkstümlichen Segen her-
angezogen und in Bild und Plastik8 bestärkt worden. Das gilt ebenso für die
Darstellung der vor dem Täufling aufgestauten Flut, die einer altchristlichen
Apokryphe entspringt.9 Sie kann als ikonographische Parallele zum Segen ge-
dacht werden (Abb. 15).
Betrachtet man die Ortsabfolge im Millstätter Segen, so unterliegt sie der sehr alten
„Credo-Struktur“.10 Schon seit dem 5./6. Jahrhundert11 sind nämlich Heilformeln
bekannt, die verschiedene Glaubenswahrheiten, also Teile des Credos aufreihen.
Mit drei oder mehr Glaubensartikeln unter Anhängung eines Anliegens dienten sie
gegen viele Leiden.12 Der „Millstätter“ zeigt nur drei solche Credo-Teile. Sie sind
zwar infolge der Reimbildung „Johanne“ auf „Jordane“ verändert und abgekürzt.
Denn zumeist folgt in den Segen nach Nazareth und Bethlehem das „gemartert zu
Jerusalem“. Aber eben diese enge Koppelung an Bethlehem und Jerusalem bedeu-
tet Metonymie, d. h. hier stehen Ortsnamen für Ereignisse der Heilswahrheiten.
Das verstärkt die beglaubigende Garantie eines ja nicht dem Neuen Testament zu-
gehörenden Stillstandes. Die Textgestaltung unterlag ganz dem therapeutischen
Zweck eines heilenden Zusammenschweißens von Jordanstillstand und Blutungs-
stillstand.
Bis in die Neuzeit sind mannigfaltige Nachkommen aus der großen Familie des
Jordansegens in allen deutschen Regionen bekannt, wobei einige Nachkommen
des Millstätter Typs in Medizinbücher aufgenommen worden sind, so in der Wie-
ner Handschrift 2817 des 14. Jahrhunderts und im 15. Jahrhundert in den Stadt-
bibliotheken von Nürnberg13 und Memmingen; hier die Memminger Formel:
10 Schwab, Ute: In sluthere bebunden. In: Studien zum Altgermanischen (Hg. H.Uecker) Ber-
lin 1994, S. 567f
11 Beispiele bei Daniel, Robert W. und Franco Maltomini (Hg.): Suppl. Mag. I, Opladen 1990,
S. 63f, 86f, 102f
12 siehe Kapitel 10 und 6
13 vgl. Telle, Joachim: Petrus Hispanus in der altdeutschen Medizinliteratur. Heidelberg 1972,
S. 198f, 367
14
Crist ward geboren zebethlahem, dana kam er geierusalem,
do wart er getöft von iohanne indem iordan. Vnd do verstund
das iordans fluß vnd auch sein runß. Also verstand du plut […]
Die Jordansegen bedienten sich vor allem zweier therapeutischer und schutzgeben-
der Erzähl-Elemente:
16
fur daz blvt. Für das Blut
Ob du daz blvt wellest versprechen Wenn du das Blut willst besprechen,
daz da vlivzet vz den wnden oder das aus Wunden oder Nase fließt,
vz der nasen so lege di hant drvber so leg die Hand darüber und
vnd sprich: sprich:
[…] Sanctus helyas saz in heremo vnd […] Sanktus Elias saß in der Wüste und
floz im daz blvt zebeiden naslocheren vz es floß ihm das Blut aus beiden Nasen-
da begunde er zervfen unserm herrengot löchern. Da begann er zu rufen unsern
an vnd sprach herregot nv hilf mir vnd Herrgott: Hilf mir und bezwinge das
betwinch das blvt daz ez geste als du Blut, daß es steht, wie du den Jordan
betwnge den iordan daz er gestvnt bezwungen hast, daß er stand, als
do dich sant Johans drauz tavft Johannes dich taufte.
14 Memmingen Stadtbibliothek Cod 2,39, 15. Jahrhundert, veröffentl. Eis, Gerhard, wie oben
15 Zu Zeugnissen medizinischer Tätigkeit im ältesten bayerischen Benediktinerkloster siehe
Baader, Gerhard: Mittelalterliche Medizin in bayerischen Klöstern, in: Sudhoffs Archiv 57
(1973), 275–296, hier: 286–288
16 München Bayr. Hauptstaatsarchiv, Benediktbeuern Kl. Ltr. Nr.32, fol. 20, Mitte 13. Jahrh.,
veröffentl. Fischer, Hermann: Mittelhochdt. Receptare, in: Mitteilungen der Bayer. Botani-
schen Gesellsch. IV,6 (1926), S. 69–75, hier S. 74; vgl. Heinrich, Anzeiger f.d. Kunde der dt.
Vorzeit 23 (1876), 275; vgl. Birlinger, Anton, (Cgm 384) Anz. 12 (1865), S. 350; MSD
Anm. S. 275f (Wien Hs 2817)
17
Der heilige Elias saß in der wüsten und saß (sic!), das ihm das blutt auß
beeden Naßlöchern ran; da begunt er zu ruffen zu unserm herrn und
sprach; Herre Gott hilff mir und bezwinge das blutt, alß du bezwungen
hast den Jordann, da dich S. Johannis daraus tauffet.
Stillstandsgarantie kann auch durch die Macht evoziert werden, die auf den Fluß
vermittels einer Rute oder eines Stabes nach dem Vorbild des Moses ausgeübt
wurde; im Klang der Marienlyrik wird sie frühzeitig symbolisch der Gottesmutter
anvertraut; mit der Rute ist dann niemand anderes als ihr Sohn selbst gemeint und
nur zwischen den Zeilen ist der Jordanfluß einbeschlossen; auch der folgende Text
ist wiederum weit verbreitet in medizinischen Büchern:
18
Weder dit blot. Gegen die Blutung
Min vrowe sunte Maria scot ene roden Meine Frau St. Maria warf eine Rute
in dhe Jordanen. De rode entstunt. in den Jordan. Da stand die Rute.
Also de rode untstunt also untsta du blot Wie die Rute stand, so steh auch du,
nu unde iummermer. An godes namen. Amen. Blut, jetzt und immer. In Gottes Namen
Vom 12. bis ins 19. Jahrhundert ist eine performierende Stabmagie, von Christus
selbst ausgeübt, durchaus gut bekannt. Es kann der Befehl sein oder die Segens-
hand, die den Fluß bezwingt, das kommt vor allem in Begegnungssprüchen vor:
19
Ad fluxum sanguinis narium Gegen Nasenbluten
Xpict unde iohan. giengen zuoder iordan. Christ und Johann gingen zum Jordan.
do sprach xpict stant iordan. biz ih unde Da sprach Christus: Stehe Jordan, bis
iohan uber dih gegan. also iordan. do stuont. ich und Johann über dich gegangen sind.
so stant du. N. illiv bluot. So steh der Jordan, so auch du, Blut!
20
Cristus vnd Sant Johannes gingen zu dem Jordan. Do sprach Jhesus, der
gudt man: dauff du mich Johannes. Er sprach: Ich enmage, herr. Der
bach fleust zu sere. Vff hube Cristus sein handt. Also müs dem
menschen geschehen. das helff mir der gudt Crist.
21
Christus ging mit Petrus über den Jordan und stach einen Stab in den
Jordan, sagte: Stehe, wie der Wald und Mauer. So soll dieser
Blutstrahl auch stehen wie Wald und Mauer. Im Namen usw.
17 Breslau Stadtbibliothek Handschrift M.1026 (aus 1583), veröffentl. Klapper, Josef, in: Mit-
teilungen der Schles. Gesellsch. für Volkskunde 9 (1907) S. 5–41, hier: S. 6
18 Utrecht UB., [Medizinische] Handschr. 1355, S. 52r, 12. Jahrh., veröffentl. Gallee, J.H., in:
Germania 32 N.R. 20 (1887), S. 452–460, hier: S. 454
19 Paris Bibl. Nat. Nouv. Acquis. Lat. 229, fol. 10a, 12.Jh., veröffentl. Morel-Fatio, in: Zeitschrift
für deutsches Altertum 23 (1879) 435–437, hier: 436; „ganz ähnlich“ der Text der Vatikani-
schen Bibliothek Rom. Hs Vat. Lat. 5359, fol.30v in lateinischer Sprache, vgl. MSD II, S. 275
20 Heidelberg UB. CPG 264, fol.12a , 16.Jh., veröffentl. Heilig, Otto, in: Der Urquell II (1898)
S. 104
21 Haase, K.Ed.: Volksmedizin in der Grafschaft Ruppin und Umgebung in: Zeitschrift des
Vereins für Volkskunde 7 (1897) und 8 (1898), hier: 7/S.59 (aus Neuruppin-Zippelsförde )
Im 17. Jahrhundert notiert der Arzt Johan Weyer (1515–1588) aus Grave an der Maas
in der deutschsprachigen Ausgabe (1567) seiner aberglaubenskritischen „De Praestigiis
Daemonvm“ einen Spruch, der die Verbindung zur Credostruktur bewahrt hat:
24
Item/ mit diesen worten wollen sie das blut stillen an allen orthrn (sic!):
Christus ist geboren zu Bethlehem vnd hat gelitten zu Hierusale /
sein bludt war verstöret / Ich sage dir durch die krafft Gottes vnd durch
aller heiligen hilff bleibe stehen / gleich wie der Jordan da der heilige
Johannes vnsern Herren Jesum Christum inne Tauffete.
22 Heidelberg Institut für Papyrologie der Universität, Inv. G 1101 aus Fustat („Zelt“, =Altkai-
ro), veröffentl. Daniel, Robert W. und F. Maltomini (Hg.): Supplementum Magicum, I,
Opladen 1990, S. 90f
23 Springer, Carl P.E.: Sedulius’ Pascale Carmen, Diss. Wisconsin-Madison 1984, S. 144,169;
zu Sedulius vgl . Kapitel 15
24 Nahl, Rudolf van: Spätmittelalterl. Zauberglauben an Niederrhein und Maas. In: Volks-
kundl. Grenzgänge, Erkelenz 1995, S. 385–402, hier: 397
25
Lieber herr Jhesu Christe, starcher gott, als du gepoten hast dem
Jordan, das der sein flüssen mus lassenn, vnd alles, das in himel vnd
auff erden ist, walt deins gepocz, verleich mir heüt dein gnad […]
Sprich dan also: P. Paün eysen vnd stahel, das sider Cristus gepürt
ye geschmidt ist worden, ich verpeüt dir heut pein der craft gottes,
damit er das rott mer vnnd den Jordan sten hat lassen haissen […]
In einem Inventar über die Zauberbücher und -zettel26 des in Heimfeld bei Sillian
im Pustertal 1595 beschuldigten Christoph Gostner (Fürstbischöfl. Hofarchiv Bri-
xen) wurde eine Beschwörung von Geistern gefunden. Man beschlagnahmte eine
Kristallkugel, ein Kettenglied, wohl von einem Galgen und ebenfalls in einem
Säckchen einige Würmer, dazu die auch sonst27 nicht unbekannte Beschwörung
einer Schlange. Schlangen wurden meist zur Gewinnung von Giften zur Verarbei-
tung für Apotheker und Alchemisten gefangen:28
Osia, osia, osia, (= Hosianna) du schalckhaftige schlang,
stehe still, wie der Jordan stuend, da S. Joannes unseren lieben
herren getaufft hat in namen Gottes
Und oft sind sie im Gebrauch von Volksheilern – in Norddeutschland zum „Bö-
ten“ (Verbeten) von Blutung, Rose und Schwamm, hier nun meist durch mündli-
che Tradierung – aufs gerade noch Sinnfällige gekürzt:
29
Blut gewunden, Blut verschwunden! Blut soll stille stahn, wie das Wasser im Jordan,
da unser Herr Christus den Taufbund nahm! + + +
30
Schwamm, steh still und vergeh‘, tu mir dem Kinde nicht mehr weh,
steh, wie das Wasser stand, da unser Herr Jesus über den Jordan gang.
25 München BSB Cgm 5919, fol. 285r, veröffentl. Bolte, Johannes, in: Zeitschrift des Vereins
für Volkskunde 14 (1904) 435–438, hier: 437
26 Byloff, Fritz: Volkskundliches aus Strafprozessen der österreichischen Alpenländer, Berlin u.
Leipzig 1929, Hg. Geramb, Victor von und Lutz Mackensen 3. Heft, S. 17
27 Als Schlangenzauber: Schönbach, Anton: Analecta Graec.37, 16/17. Jh.; als Zauber bei der
Schatzsuche: Birlinger, Anton, Segen aus der Baar (aus den Heften des Schattenmüllers Lan-
zenberger zu Bonndorf 1727), in: Alemannia 2 (1875) 119–139, hier: S. 131ff
28 Hofmeister, Wernfried: Hor meine wort, in: Zeitschr. für dt. Altert. und dt. Lit. 133 (2004),
329–355
29 Thimme, Adolf: Volkskundliches aus Ostfriesland, in: Niederdeutsche Zeitschrift für Volks-
kunde 7 (1929) 23–40, hier: 34 (Aufzeichnungen durch Schüler von Aurich, 1889)
30 Staak, Gerhard: Die magische Krankheitsbehandlung in der Gegenwart in Mecklenburg,
Rostock Diss. 1930, Nr. 559
B) Imagination eines von erster Hand gegen alles Übel der Welt
B) geweihten Wassers
Eine ganz andere Gruppe von Jordansegen holt sich ihre suggestive Kraft aus der
Bedeutung des Jordanwassers. Es gewinnt sie durch die Taufe Christi direkt oder
durch sein Hinabsteigen, Reinigen und Baden. Es ist der heilige Jordan, der durch
heiligste Ereignisse und Berührung Geweihte, der hier wirkt, wobei eine Übertra-
gung des Fluidums auf das bei der Segnung verwendete Wasser bedacht wird. Dies
geht so weit, daß auch Krankheitsprognosen von der Wirkmacht des durch Christi
Bad zur Sündenreinigung der Menschheit geweihten Wassers abhängen: Wer die
folgende Probe durchführt, soll eine akustische Reaktion deuten können. Wird ein
Stein in ein Brunnenwasser geworfen, entscheidet die Dauer des Zischens über die
Lebensdauer eines Kranken:
31
In des Jordânes flûm wart gebadet Crist Im Jordanfluß ward Christ gebadet. Das
gotes sun: des enist kein lougen. Dar inne ist keine Lüge. Er badete darinnen seine
badete er sin ougen, sin houbet, brust unde Augen, seinen Kopf, Brust und Fuß. So
fuoz. Alse waerlich er uns abewuosch in wahr er uns unsere Sünden abwusch im
dem Jordâne unsere sünde, alse müeze uns Jordan, so wahr soll dies Wasser künden,
diz wazzer künde, waz disme siechen künftec si. wie es diesem Kranken künftig ergeht.
31 London British library, HS Arundel 295, S. 255r, 13. Jh.veröfftl. Sievers, E., in: Zeitschr. für
dt.Altert. 15 (1872), 452–456, eingereiht in die „Flores medicinae“ des Magister Gotefried
<gotefridus
32 München BSB Clm 100, 74r, 12. Jahrhundert, veröffentl. Rockinger, Ludwig, in: Quellen
und Erörterungen zur bairischen und deutschen Geschichte 7 (1858), S. 319
33 Zwettl Stiftsbibliothek, Membrane Nr.308, Pergamentblatt des 14. in der Mitte eines Codex
des 12. Jh., veröffentl. Ammann, J.J., in: Zeitschr. f. dt.Altertum und dt. Literatur 32 (1888)
S. 141–143
In einem Segen des 12. Jahrhunderts für Waffen-Feind- und Fieberabwehr, mit
Verwandtschaft zu Ausfahrt- und Tobiassegen, ist die Besiegelung der Taufe Christi
als wizzot, das heißt als eucharistisches Sakrament angesprochen; auch das Wasser
des Jordan wird im Vergleich mit dem Abendmahl über den Mund vermittelt.
34
Herre sancte michahel hute wistv. Herr, Sankt Michael, heute bist du des N.
N. sin shilt unde sin sper. min frovwa Schild und sein Speer. Meine Frau Sankt
sancta maria si sin halsperge. Hvte Maria sei sein Rüstungskragen. Heute
mvoze er indeme heiligin fride sin. muß er im heiligen Frieden sein, da Gott
da got inne ware. do er indaz paradise war, als er ins Paradies kam. Herrgott, du
chame. Herre got du mvozist in bescir- sollst ihn beschirmen vor (Kriegs-) Wagen
min. uor wage. unde for wafine. Uor und vor Waffen, vor Feuer und vor allen
fivre. uor allen sinen fiandein gisun- seinen Feinden, sichtbaren und unsichtbaren.
lichen unde ungisunlichin. er mvoze Er sei gesegnet wie das heilige Sakrament,
alse wol giseginot sin. so daz heilige das mein Herr Sankt Johannes dem all-
wizzot ware. daz min herre sancte mächtigen Gott eingab, meinem Herren,
iohannes mime herrin dim almehtin – in den Mund flutend – als er ihn im
gote in den munt flozte. do ern Jordan taufte. Amen
indeme iordane tovfte. Amen.
34 Muri Codex 69, Bl. 8b–9a, (jetzt im Benediktinerkolleg Sarnen) veröffentl. Wackernagel,
Wilhelm (Hg.): Altdeutsche Predigten und Gebete, Basel 1876 Neudruck Olms 1964,
S. 219; vgl. Wilhelm, Friedrich, Denkmäler, München 1960, S. 76, 159f
35 Nürnberg German. Nationalmuseum Hs Nr. 28909, fol. 201, 16. Jahrh., veröffentl. From-
mann, G.K.in: Anz. für die Kunde der dt. Vorzeit 20 (1873) 262–264
36 Kosir, Pavel und Vinko Möderndorfer: Die Volksmedizin bei den Kärtner Slowenen (1926),
in: Grabner, E. (Hg.) Volksmedizin, Darmstadt 1967, S. 34,65
Früher haben Pilger aus dem heiligen Lande wie der Dominikaner Felix Fabri von
Basel (1441–1502) Jordanwasser mitgebracht und seine wohltätige Kraft ge-
rühmt.38 Der Glaube an die Heilkraft des Jordanwassers ist schon für das 6. Jahr-
hundert belegt: Bei Split in Dalmatien sind antike Tafeln gefunden worden, die
durch Eintauchen in Jordanwasser vor bösen Geistern schützen sollten.39 Es gab
Apokryphenschriften, die von Adam verfaßt und vom Teufel in den Jordan ver-
senkt worden sein sollen und vom Satansstein, auf dem Christus zu stehen kam.
Der Segen des Engels Gabriel und die Taufe hatten dann alles Übel besiegt. Chri-
stus ist neuer Adam als Sieger über den Sündenfall.
Heute zu Zeiten umfänglicher Reisebewegung wird Jordanwasser zur Taufzere-
monie als Reiseandenken mitgebracht. Als „Top-Rarität“ bietet ein Internetmarkt
2008 ein seit 1959 versiegeltes Jordanwasser an. Die Flasche mit ca. 0,7 l, einigen
Kieselsteinen und „durchaus einigen Altersspuren“ soll 49.00 € kosten: „Zur Taufe!
wie (2005) in Spaniens Königshaus!“ Pfarrer Michael Gross, Christuskirche Mün-
chen, hat nur ein einziges Mal mit Jordanwasser getauft. Seine klare Meinung (On-
line): Die Taufe wird mit Leitungswasser nicht weniger gültig.
Die Besegnung mit den Jordansprüchen, ob als Stillstands- oder als Heilwasser-
Implikation wird vom limbischen System auf ihre Brauchbarkeit überprüft. Ihre
Erzählungen bieten eine Verortung auf ein Zentrum christlicher Heilsgeschichte.
37 Graz Steiermärkisches Landesarchiv, Hs 476 von „1587“ des Matheus S., fol.180v
38 HDA IX (Nachträge), Sp.5
39 Gager, John G. (Hg.): Curse Tablets and Binding Spells from the Ancient World, N.Y. u. a.
1992, S. 224f
1
Plut verstellen Blutstillen
Wiltu daz plut verstellen, so sprich: Willst du das Blut stillen, so sprich:
Sta sangwis in te + Bleib stehen Blut in dir +
sicut Jhesus stetit in se + Wie Jesus stand bei sich +
Sta sa[n]gwis in tua + Steh Blut in deiner [Vena, Ader] +
sicut Jhesus stetit in sua + Wie Jesus in seiner [Poena, Pein] +
Sta sangwis infixus + Stehe fest Blut
sicut Jhesus stetit crucifixus. Wie Jesus am Kreuz stand.
Im Südtiroler Ridnauntal ob Sterzing liegt vor der Kulisse dunkler Wälder und Schneegipfel
das rosafarbene Barockschloß Wolfsthurn der Freiherren von Sternbach, das jetzt ein Mu-
seum für Jagd, Fischerei und Geschichte beherbergt. Hier ist die Heimat einer der frühen
Hausväterschriften des 15. Jahrhunderts. Auf 109 Papierseiten bietet sie praktische Anlei-
tungen, Rezepte, Gebete, Segen und Beschwörungen für alle Fälle des Alltags. Man findet
darin Anweisungen zur Haushaltsführung, zur Inbesitznahme einer Frau, also Liebeszauber,
Methoden zu Fischfang und Seifenproduktion, eine bunte Mischung wie sie heute kein
Ausbildungsinstitut bietet. Von Afel und Äflin bis Teufel und Wurm können viele Übel an
Leib und Seele bedacht werden. Ich entnehme die Blutstillformel Sta sangwis in te sicut
Jhesus in se dieser frühen Schloßhandschrift, um zu zeigen, wie schon bald im 15. Jahrhun-
1 Wolfsthurn bei Sterzing Bibliothek der Freiherren von Sternbach, Handschriftliches Haus-
buch, fol. 126c; für freundliche Vermittlung danke ich Frau Dr. Alexandra Untersulzner,
Volkskundemuseum Dietenbach
dert derartige Texte in Haus- und Hofwirtschaften gelangten und auf diesem Wege in die
Volksmedizin überliefert werden konnten.
Die gereimte lateinische Beschwörung von Wolfsthurn ist nicht ältestes Zeugnis
ihrer Art gegen Blutungen. Sie dürfte von einem Kleriker verfaßt worden sein, der
ärztlich tätig war. Sein suggestives Vergleichselement im Zentrum christlicher
Glaubenswahrheit, die Analogie „crucifixus“ −−> „sanguis fixus“ auf Christi Stand-
festigkeit zeigt weder legendäre noch heidnische oder poetische Gesinnung. Der
Blutfluß soll per Befehl ebenso standfest, starr und still stehen bleiben, wie Jesus
Christus am Kreuz, ein sehr direktes rhetorisches Begriffschangieren, wie es zur
Einleitung eines Trancezustandes dienen konnte. Wir stellen uns den Sprecher der
Formel dann richtig vor, wenn wir uns seine einfühlende Arbeit in Begleitung einer
Wundversorgung in rhythmischer, gesangartiger Vortragsform denken. Wenn er
den Verwundeten außerdem dazu auffordert, intensiv die Balkenkreuzung des
Hauskruzifixes zu fixieren, dann ist er ein Fachmann.2
Daß die Niederschrift des Wolfsthurner Spruches unvollständig ist, belegt ihren
Bekanntheitsgrad; man konnte sie gekürzt wiedergeben. Das älteste lateinische
Zeugnis dieses Spruchtyps aus der Mitte des 14. Jahrhunderts gehört zu einer Wie-
ner Sammelhandschrift. Die Formel ist hier als Amulett zu schreiben:
3
Pro fluxo sangwinis scribe hos versus Für Blutfluß schreibe diese Verse
+ Stans sangwis in te sicut stetit Jesus in se Stehe Blut in dir wie Christus in sich
Stans sangwis fissus sicut steti(t) crucifixus Stehe Blut fixiert, wie Chr. am Kreuz
Stans sangwis in tua vena sicut Jesus stetit Steh Blut in deiner Ader wie Christus
in morte sua. in seinem Tode.
Eine frühe deutsche Niederschrift mit dem lateinischen Zusatz als Beweis der
Blutkoagulation zieht die Enthauptung des heiligen Täufers in den Blick, um da-
mit auf sichere Blutgerinnung zu weisen. Sein vom Rumpf getrennter Kopf ist von
Fleisch und Blut befreit und kann isoliert „von Angesicht zu Angesicht“ vor Gott
treten. Nicht jeder Patient dürfte das allein vom Lateinischen her verstanden haben
und auch sonst fragt man sich, wie diese drastische Bildgebung therapeutisch wirk-
sam werden konnte. Der Segen ist in einer Handschrift aus der Bibliothek der
Fürsten von Fürstenberg zu Donaueschingen enthalten:
4
Diß ist der Blut segen
Stant Blut in dinem stetten + also vnßer herre stunt in synen noten
+ stant Blut an dem lauffe + also vnßer herre stunt an syner martel
+ stant Blut in dynen adern + also vnßer herre stunt an synem tode
+ pax nax rex Johannes decolatus est in cor temply ade (ante) altare5
sanguis suus ecce coagulatus est in testimonium tuum.
5 Vergl. dazu die Handschriften Heidelberg CPG 226, fol.132r und CPG 264, fol.16: Zacha-
rias [!] decollatus est inter templum et altare et sanguis suus/eius coagulatus est in testimonium
nostri Jesu Christi . Es liegt offenbar ein Vermischung Vater/Sohn vor; Zacharias wurde legen-
där von Herodes ermordet, und sein Blut dient in Matth 23,35 der prophetischen Ermah-
nung.
6 Karlsruhe BLB DON Nr 792, fol.31v
7 Dresden SLUB C317, unpag. 15 Blatt vor Ende, 16. Jahrh., Segensabschrift Schönbach Gie-
ßen, S. 918
8 Heidelberg Universit.-Biblioth. CPG 264, Segensabschrift Schönbach Gießen, S. 203
9 St. Gallen Stiftsbiblioth. Hs.755, fol.35, Abschrift Schönbach Gießen S. 690
10 Graz Steiermärkisches Landesarchiv, Handschrift Nr. 476, fol. 86,86‘,132,133‘
11 Frau Prof. Dr. Elfriede Grabner, Graz, danke ich für den Hinweis auf diese Archivalie
Auch dieser Spruchtyp gehörte als Verbaltherapie zur Ersten Hilfe. Genauso wie
der Longinussegen trägt eine solche sowohl logische als auch natürlich-christliche
Formel zur vegetativen Entspannung bei, wie umgekehrt, dies darf nicht übersehen
werden, der selten ausbleibende Erfolg etwa bei Lappalien, die Passionsfrömmig-
keit vertieft haben mag. Die Verehrung des Kreuzes war schließlich bedeutendster
Schlüssel von Katechese und Mission und konnte gerade im Falle persönlichen
Betroffenseins im Notfall direkt verankert werden. Man darf sicher sein, daß auch
dieser Text zunächst in der Klostermedizin verwendet wurde.
Nachkommen der Segensformel sind weit verbreitet in Deutschland, Öster-
reich, den Niederlanden und England gefunden worden, aber sie sind selten in der
genauen ursprünglichen Form erhalten geblieben. Vielfach haben sie mehr be-
schwörende Formen und andere Indikationen bekommen, etwa zum Feuerlöschen,
Diebsbannen und Geisterbinden. Mit einer böhmischen Variante des 19. Jahrhun-
dert – der Text ist nun ganz volkstümlich geworden und in die gedruckten Zauber-
bücher gelangt – haben Jäger und Hirten den Sinngehalt des Spruches auf ihre
anschauliche Weise umformuliert:
12
Hirsch ! (oder was für ein Tier es ist, so nennt man seinen Namen)
Steh still ! So wenig als unser Herr Jesus Christus vom Kreuz ist weggelaufen
so wenig sollst du mir von der Stelle laufen.
13
Wolf, stehe vor den Holz, das du sollst stille Stand haben vor dem Holz,
da Christus ist gekreuziget worden, das thu ich den Wolf zu Buß,
daß du sollst ein stille Stand vor meiner Herd als wie Jesus Christ ist still gestanden,
in seinen heiligen rosin farben Blut, das thu den Wolf zu Buß
Der berühmte „alte Scharfrichter Uter von Königslutter“ (1802–1871) hat den
Leuten das Diebsgesindel verbannt und unschädlich gemacht mit dem Spruch:
14
Alles Fuß- und Reitvolk sollen stehen
Wie Jesus Christus auch stille gestanden
Und noch vor 100 Jahren hat eine Wenderin im oberen Schwarzatal in Nieder-
österreich mit einem kleinen Zungenschlag den Sinn verwandelt. Bei Blutungen
nahm sie ein Stück Brot in die rechte Hand, hat es in Kreuzesform behaucht und
dabei gesprochen:
15
Steh du wülds Bluad!
So wie’s unsa’n Herrn Jesu Christ
Aufn Kraiz gstanden is.
12 Benedikt, A.: Segensformeln, aus einem Büchlein des Großvaters, in: Mittlg. des Vereins für
Gesch. der Deutschen in Böhmen XVIII (1880), S. 156; [= Albertus Magnus Toledo III,46f;
die Formel hier gekürzt ohne den vorgesetzten Dreiblumensegen]
13 Marktleuthen Stadtarchiv, Band 30, Handschrift des Johann Anger um 1787, S. 28
14 Königslutter Stadtarchiv Hd I,Gr 2, Maschinenschrift Krieger, Heinz-Bruno, S. 36
15 Schmidt, Leopold: Volkskunde von Niederösterreich 2. Band, S. 146, Horn 1972
Unter den Blutungsformeln bildet der Crucifix-Typ ähnlich wie der Longinustyp
in der Bildgebung eine mehr mystifizierende Annäherung an Christi Leiden (Tafel
3, Geißelung Christi), die eine der Lanze ähnliche Bewertung im limbischen Sy-
stem (Amygdala*, Hippocampus*) finden konnte. In der Notfallsituation entschie-
den diese Instanzen umgehend über den Nutzen der Imagination, ohne rationales
bewußtes Kalkül abzuwarten. Sie leiteten mittels Signalen zur Bildung von Boten-
stoffen und Hormonen weitere Schritte zur Minderung von Spannung und Angst
ein.
1 Agrippa von Nettesheim: Magische Werke, Berlin 1916, Bd. III, Kap.50
2 Jaspers, Karl: Allgemeine Psychopathologie 5.Aufl. Berlin u. a. 1948, SS. 72,97,120
Besonders hohe Erwartungen für Linderung oder Heilung des Leidens verbanden
sich mit den überall aufstrebenden Reliquienstätten und ihren Wallfahrten. Seit
der Translation der Drei-Königs-Reliquien nach Köln 1164 und der breiten Aus-
strahlung ihrer Verehrung in ganz Europa gehörten Amulette mit einer Dreikönigs-
formel zu den beliebtesten Heilsbringern. Bis zum 20. Jahrhundert dienten die
Namen der drei Magoi fast als Zauberwörter und waren massenhaft in weitgehend
gleichbleibendem Text notiert (Abb. 18, 19).
Warum gerade wurden die heiligen Drei Könige für diese sozial meist wenig
respektierten Leidensträger bemüht, und für ein nicht sehr ansehnliches Leiden,
das nicht gerade immer mit Weisheit gepaart ist? Man hat versucht, ihr Niederfal-
len, die Proskinese, wie nur vor Göttern und Königen üblich (Matth. 2,11), und
ihr Wiederaufstehen vor dem Jesuskind in Analogie zum fallenden Übel zu setzen.
Aber man hatte ihnen, den „Weisen aus dem Morgenlande“, betrachten wir die
Darstellung der Legenda aurea, auch alle Begabung zu einer effektiven Therapie
eines teuflisch organisierten Leidens zugesprochen. Drei mal drei Namen in drei
Sprachen aus drei Ländern werden mit drei Aspekten ihres Wirkens versehen, dem
Betrügen, dem Zaubern und der Weisheit. Wer sonst konnte einer heilig-teuflisch
schillernden Krankheit besser Herr werden?
3 vgl. Diepgen, Paul: Über den Einfluß der autoritativen Theologie auf die Medizin des Mit-
telalters. In: Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftl. Klasse 1 (Mainz 1958), S.
3–20
4 vgl. Franz, A.: Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter, Freiburg 1909, II, 498ff;
5 Schulz, Monika: Beschwörungen im Mittelalter, S. 124– 134
6 Grabner, Elfriede: Krankheit und Heilen, Wien 1997², SS. 199,233
„Da unser Herr geboren war, da kamen die drei Magier gen Jerusalem. Sie hießen auf he-
bräisch Appellius, Amerius, Damascus, auf griechisch Galgalat, Magalat, Sarachin; auf
lateinisch Caspar, Balthasar, Melchior.Was für Magier sie aber waren, des sind drei Mei-
nungen, nach dem dreifachen Sinn, den dieser Namen haben mag. Denn magus ist ge-
sprochen der Betrüger, der Zauberer oder der Weise. Sie sind Betrüger genannt, als etliche
sprechen, von dem, was durch sie geschah; denn Herodes ward von ihnen betrogen, da sie
nicht wieder zu ihm kehrten. […] Zu dem anderen heißt magus der Zauberer, darum
man auch die Zauberer des Pharao Magier nennen mag. Also meint Chrysostomus, daß sie
von ihrer Zauberei Magier waren genannt, und spricht, daß sie Zauberer waren, darnach
aber bekehrt sind worden, und machte ihnen der Herr seine Geburt offenbar, daß sie zu
ihm würden geführt und alle Sünder davon eine gute Zuversicht hätten. Zum dritten
heißt magus der Weise. Denn Magier ist ein persisch Wort und heißt auf hebräisch der
Schreiber, auf griechisch der Philosoph, zu latein sapiens, das ist der Weise. Also waren sie
Magier genannt, das ist: Weise; darum ist Magier auch soviel als „welche groß sind in
Weisheit““.7
7 Jacobus de Voragine*: Legenda aurea, Ausg. Richard Benz, Gütersloh 1999, S. 80
Später werden die Geschenke der Könige und die Gebrauchsanweisungen genauer
genannt:
9
Ad malum et ad morbum caducum. Für die fallende Krankheit
faciat istum brevis et scribe in car. Man schreibe folgenden Brief
et ponis in collum. istum brevis. Und hänge ihn an den Hals.
+ Jn nomine patris et fili. et spritu. + Im Namen des Vaters […]
sancti. Amen. Gaspar fertur aurum. Caspar trägt das Gold,
baldasar fertur thus. Melchidion Balthasar den Weihrauch,
fertur mirra. hec qui cuncp. Melchidion trägt die Myrrhe.
fertur liberabitur a morbo cadiva. Damit wird von Fallsucht befreit.
Im folgenden Text des 14. Jahrhunderts der Wiener Bibliothek werden die 3 x 3
Namen der heiligen Könige an den Hals zu hängen empfohlen. Dabei waren Na-
mengebung an die Könige und Zuordnung zu 3 Kontinenten und 3 Lebensaltern
schon um 700 durch den englischen Mönch Beda Venerabilis (674–735) erfolgt
und nach Meinung einiger Historiker hatte Beda schon eine Matrix unserer Amu-
lettformel aus den ihm bekannten Traditionen entworfen. Die Wiener Anwendung
vermischt empirisch pflanzliche und tierische Mittel mit dieser Verzettelung ihrer
Namen:
8 Karlsruhe Badische Landesbibliothek CAug 249, fol.95r (oben) und 95v (unten)
9 Wien ÖNB Hs 2505, fol. 75b,14.Jh., Abschrift Schönbach Gießen S. 524
10
Nota caducum morbum remedium optimum Hier das beste Mittel gegen Fallsucht:
primo scribantur nomina sanctorum trium Zuerst werden die Namen der hl. drei
regum hebraice. Secundo grece. Tercio Könige in hebräisch, griechisch und
latine. Et proprium nomen hominis ipsius. lateinisch geschrieben und der Name
Morbum ipsum habentem. et de herba des Kranken. Und [nimm] das Kraut
pyani que dicitur murken. et sacculo Pyani, genannt Murken. Und ein
de corio testiculorum hyrci […] Ledersäcklein von Hirschhoden […]
Sicut autem ipsa nomina sanctorum trium Und so werden die Namen der hl.
regum scribantur . Hebraice appelius. drei Könige geschrieben: Hebräisch
amcirus. damascus. Grece. Galgalat appelius, amcirus, damascus; griech.
Scrathim (Serathim?) Malgalat. Latine. Galgalat, Scrathim, Malgalat; latein.
Caspar. Balthesar. Melchior. Caspar, Balthasar, Melchior.
Selbst die Herstellung von Pillen aus dem Blut geköpfter Schwalben in Vermi-
schung mit den Gaben der drei Weisen, also weißem Weihrauch und abgeschabtem
Gold im Sommer, für den Winter ein ständig in Ehren zu tragendes Brieflein mit
ihren Namen, wurde empfohlen.11
Zur Verstärkung der suggestiven Heilgarantie wird häufig der Verweis auf das
Lazaruswunder angefügt, offenbar mit dem Gedanken an eine Erweckung des Be-
wußtlosen aus einem Zustand, der als dem Tode verwandt erlebt werden kann:
12
Ad caducum morbum. Daz ist gut fuer daz vallunt lait: + Caspar fert mirram thus
Mechior Balthasar aurum + Ex hiis qui secum tulerit tria nomina regum + Solvitur a
morbo dei pietate caduco + Christus hiezz Lasarum auf sten von dem tod alzo tu du dir
wirret nit der heilig Christ helfe dir
Das Dreikönigsamulett ist bis in die gedruckten „Zauberbücher“ des 18./19. Jahr-
hunderts gelangt und ist im „Geistlichen Schild“ enthalten. Ob ein solches unter
den „Gebetbüchern“, die beim 16-jährigen „Findelkind“ Kaspar Hauser am 26.
Mai 1828 in Nürnberg gesehen wurden, dabei war, läßt sich nicht mehr feststellen;
sie sind aus der Asservatenkammer verschwunden, ebenso ein Schlüssel und ein
Rosenkranz. Aber daß Kaspar Hausers Rätsel gelöst ist, daß er gegen alle anderen
Vermutungen Epileptiker und Sohn eines Tiroler Pfarrers war, daran hat der Karls-
ruher Neurologe Günter Hesse keinen Zweifel. Dafür sprachen ihm die beobach-
teten Halbseitenkrämpfe einer Schläfenlappenepilepsie, die seelischen Auffälligkei-
ten insbesondere seines Doppellebens, der Obduktionsbefund am Schädel und
nicht zuletzt der Vorname eines der drei Könige und der gefundene Goldstaub.13
Der hatte schon Jahrhunderte zuvor z. B. im Nürnberger Arzneibuch und über-
haupt permanent zur Anwendung der Drei-Königs-Amulette gehört.
10 Wien ÖNB Hs 3071, fol.102b, aus 1389. Abschrift Schönbach Gießen, S. 713
11 Nürnberger Arzneibuch, veröffentl. Telle, J.: Petrus Hisp., S. 343, Nr. 418
12 München Clm 7021, fol. 160v, 14. Jahrh. Abschrift Schönbach Gießen, S. 469
13 Hesse, Günter, in: Ärzte Zeitung Nr.86 (Mai 1989, Seite 22); Herrn Dr. Hesse danke ich für
weitere Informationen 2008/09
Neben den Drei Königen war Valentin einer der bedeutenden Patrone der Fallen-
den, wobei allgemein seit und mit Luther eine sprachliche Begründung für seinen
Einsatz angenommen wurde. Diese Art von Volksetymologie gab es für eine ganze
Reihe von Krankheiten, für Augustinus bei Augen-, für Blasius bei Blasenleiden.
Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine* gibt ein anderes Epilepsiepatronat für
einen Valentin von Terni, nicht für den Meran-Passauer Heiligen. Sie berichtet,
daß Valentin den Sohn des römischen Rhetors Kraton von einem Krüppelleiden
und von Epilepsie geheilt habe. Und es kommt zu Überschneidungen. Man hat
auch sprachliche Verschleifungen von Valtl zu Vaitl und Veit zu hören geglaubt.
Will man die Wirkmächtigkeit des Heiligen einschätzen, so bedenke man exempla-
risch die frühe Einrichtung eines Spezialpflegespitals für Epilepsie in Rufach bei
Schlettstadt im Elsaß. Dieses zu Beginn 1183 dem hl. Johannes Baptist – auch er
ein „Kopfheiliger“ gegen das Fallende – geweihte Benediktiner-Kloster erhält eine
wundertätige Kopfreliquie eines hl. Valentin und wird dann aufgrund einer Stif-
tung zu seinen Ehren nach diesem benannt. Der Nürnberger Michael Murner, ein
mit „der schweren Plag des hohen Siechtumbs“ beladener Bürgerssohn wird eigens
zur Pflege nach Rufach geschickt. Aber auch ein Regent, der epilepsiekranke
württembergische Ludwig II. hat 1453 ein Gelübde geleistet, in dem es heißt:
O Valentin, Vernichter der Großen Plage, durch Dich wird die Epilepsie in die
Flucht geschlage! Und er verlobt sich nach Rufach, um ein Bild mitzubringen. Diese
Bilddrucke sind Zeugnis für die Blüte der Anstalt und der Wallfahrt im 15./16.
Jahrhundert.14
Viele Spruchtexte deuten auf Valentinsverehrung in verschiedener Form hin,
auf eine Valentinsmesse und auf Wachsweihe:
15
Incipiunt medicine contra caducum morbum.
Super omnia hec nomina dic missam de sancto Valentino
+ On confortat + panto durat tedet + detragramaton reconciliat
[… folgt ein längerer Text mit weiteren hebräischen Gottesnamen,
Buchstaben, Passionsbezügen und dem Hinweis auf einen Dämon:]
Jtem demon ostendit illa nomina pro caduco morbo. Jnnora tantha
tyri post toxica notica clyri Evelliri carras poliu … Valentinus […]
16
Contra caducum morbum Gegen die fallende Krankheit
Scribe+ ego pater+ filius vita+ spiritus sanctus Schreib+ich Vater+Sohn Leben+hl. Geist
remedium + Gordin + Gordian + et in Gordan + Mittel+Gordin+Gordian+ und in Gordan
Christus vincit + Christus regnat + Christus Christus siegt + regiert + herrscht Amen
imperat Amen Dic letaniam ipso jacente et Sprich dem Gefallenen die Litanei und
benedic cum signo sancte crucis et da ei literam segne ihn mit dem Kreuzzeichen und gib
in dexteram manum […] postea offera ceram ihm die Buchstaben in die rechte Hand
denaciatam in honore sancti Valentini et sancti […] danach opfere Wachs zur Ehre der
Hainrici heiligen Valentin und Heinrich.
Weitere Verehrungsorte des heiligen Valentin bei Epilepsie waren die Franziskaner-
kirche zu Würzburg, wo Berührung oder Küssen der Reliquie gegen Epilepsie und
Fraisen helfen sollten17, war die St. Valentinsstatue von Marzoll bei Grossgmain in
Österreich, wo an der Altarrückseite Kleintieropfer eingegeben wurden18, und ist
bis heute Kiedrich am Rhein.19 Patronat und Attribut gingen früh schon vom hei-
ligen Valentin von Terni auf den Passauer heiligen Valentin über. An diesen erin-
nert eine ganz volkstümliche Inschrift in Haselbach bei Braunau am Inn, die ein-
mal auch das Zwielichtige eines Heiligen andeutet, eine respektheischende Straf-
androhung für „St. Veltins Weh“. Immer wieder wird über einen Fluch, über das
„Jemandem Sankt Velten wünschen“ berichtet, wie hier seine Spötter mit Fraiß
geschlagen werden.20:
17 Lammert, G.: Volksmedizin und Aberglaube in Bayern, Würzburg 1869 (Neudruck Regens-
burg 1981), S. 25
18 Eysn, Marie: Votivgaben, in: Zeitschr.d.V.f.Volkskunde 11(1901), S. 185
19 Schneble, Hansjörg: Krankheit der ungezählten Namen, Bern u. a. 1987, S. 62
20 Kriss, R.: Volkskundliches aus altbayrischen Gnadenstätten, Augsburg 1930, S. 317f
Sanct Valentin nach Passau wallt, von Rom sein Heerd zu weiden.
Zierd mit bischöflicher Gewalt, der Satan wollts nicht leiden.
Von Menschen treibt er Teufel aus, den Götzendienst abschaffet,
Sein Lehr den Bösen ist ein Grauß, mit Fraiß Gott Spötter strafet.
Im katholischen hessischen Rheingau wird aus der Mitte des 19. Jahrhunderts ein
frommes volkstümliches Gebet zu Valentin verrichtet21:
Gegen fallende Sucht und andere Schwachheiten. O, heylger Valentine,
du Patron der Kranken, der du als Arzt vor Gottes Thron gewürdiget warst,
nimm von uns das Uebel der spanischen Schwachheit, der Ritter (= Ritten,
Fieber) und der fallenden Sucht. +++
Im 12. Jahrhundert lesen wir in der einst berühmten, wohl vom Pfaffen Konrad in
St. Emmeram zu Regensburg niedergeschriebenen Kaiserchronik auch etwas über
die Bestimmung des heiligen Veit, sanct Uit, zum Helfer für die Fallsucht:
22
Nu suln wir ovch sagen. Welhen Nun wollen wir auch sagen, welche
trost wir zu den herren aben. Zuversicht wir zum Herrn haben.
sanct Uit was ain wenigiz kindelin. St. Veit war ein schwaches Kind.
an siner marter bat er minen trehtin. Bei seiner Marter bat er meinen lb. Herrn:
swem wirret div uallende suht. Di Denen die fallende Sucht kommt, die haben
habent alle zu im fluht. daz gehiiez alle Zuflucht bei ihm. Das verspricht ihm
im selbe unser herre. daz di iemer unser lieber Herr selbst, daß sie über ein
mere. ze ainer iares friste. Sculn Jahr und mehr Sicherheit haben sollen.
haben reste.
Der heilige Veit war im 10. Jahrhundert von den sächsischen Königen zu ihrem Schutzpa-
tron ernannt worden und fand bald als eine Art Nationalheiliger weithin Verehrung. Die
Vituslegende erzählt vom Martyrium des Kindes im Jahre 303/304 unter Kaiser Diokletian.
Obwohl Vitus dessen Sohn von der Epilepsie heilt, läßt der Kaiser dem christlichen Wohl-
täter, der schon seinen blinden Vater und die gelähmten Hände seiner ersten Henker geheilt
hatte, keine Gnade zuteil werden. Man kennt die vielen Darstellungen des dem siedenden
Ölkessel entsteigenden Heiligen.
Berühmte Kernpunkte der Verehrung seiner Reliquien sind Kloster Corvey an der Weser
und der Prager Veitsdom. In Regensburg ist der Vituskult seit Ende des 10. Jahrhunderts
nachweisbar: 997 gründet Bischof Gebhard I. das Benediktinerkloster Prüll zu Ehren des
Heiligen Geistes und der Heiligen Vitus, Gregorius und Bartholomäus, wobei sich schon im
Verlaufe von Jahrzehnten Vitus als Hauptpatron „durchsetzt“. Über die Bedeutung von Klo-
ster Prüll und seine mutmaßliche Spitalfunktion ist im Kapitel 31 die Rede. Schlägt man ei-
nen Bogen in die Neuzeit, so ist durchaus die Frage berechtigt, ob die königliche Regierung in
München 1852 bei der Einrichtung der Kreisirrenanstalt in den alten Klostermauern das Pa-
tronat des heiligen Vitus bedacht hat, unter dessen Schutz sich Prüll einst gestellt hatte.23
Legende, Verbreitung und Intensität des Veits-Kultes boten Patronate für mehrere
Krankheiten, auch für Drehkrankheit der Tiere, für alle Zuckungen und epidemi-
schen Hysterien; Vitus blieb bis heute Namengeber für den erblichen Veitstanz,
also die Chorea Huntington, ein Gendefekt mit Hirndegeneration, der zu schwe-
ren generellen Bewegungsstörung mit Demenz führt. Ein historisch weit reichen-
des stabiles Hauptpatronat für Epilepsie läßt sich anhand der volkstümlichen Se-
gensformeln für Veit aber nicht belegen. In den letzten Jahrhunderten wurden
volkstümliche Formeln gegen Bettnässen gesprochen. Sicherlich stand nicht allein
die Verbindung vom Ölkesselbild mit Nachttopf für diese Funktionsbestimmung.
Denn protrahiertes Bettnässen ist häufig Symptom unerkannter nächtlicher epilep-
tischer Anfälle. Alle diese Texte sind im ganzen deutschen Sprachraum erst im 19.
und 20. Jahrhundert verbreitet, reizvoll in Dialekt und Zweckbindung:
24
In Oberschwaben rufen die bettnässenden Kinder den hl. Veit, den mit 12 Jahren
Verstorbenen an: Heiliger Sankt Veit, wecke mich bei Zeit, wecke mich zur Stund,
wenn mich s‘Brunze ankummt.
25
Abendgebet aus dem Egerland. Halicha St. Veit, weck mich af za da rechta Zeit,
daß ich za da Zeit dawach u ma Sterbastund niat vaschlaf.
26
Gebet der Kinder an St. Veit (15. Juni) Heiliger S. Vit, wegg mi be Zit,
nit z’früä und nit z‘spout, winn‘s um Brünzlä-n-umä gout.
23 Mai, Paul: Die Verehrung des heiligen Vitus. In: 1000 Jahre Kultur in Karthaus Prüll. Re-
gensb. 1997, 249f
24 Höhn, Heinrich: Volksheilkunde I, Stuttgart 1980², S. 278 (aus Saulgau)
25 Sladek, P./K. Hübl: Gebete und religiöse Sprüche der Vertriebenen, BJV 1970/71, S. 147
(aus Marienbad)
26 Manz, Werner: Volksbrauch und Volksglauben des Sarganserlandes, Basel und Straßburg
1916, S. 79
27 Schöller, Rainer G.: Die Institution des Gemeindehirtenwesens, in: Hutanger in der Hers-
brucker Alb, Schriftenreihe der Sonderausstellungen Bd. 4 (Hersbruck 1992), S. 12
28 Kopp, Andreas: Das Pfuhler Hausbuch, Ulm 1998, S. 89
Mehrfach wird ein Veitswurm verbetet, z. B. im Taubertal29 aus dem Jahre 1621.
Im Fichtelgebirge heißt es im 18. Jahrhundert: „Sanct Veit der war ein brafer Mann,
der den Frissel und Unflath bald stillen und legen kann“30, die Formel wird hier ei-
nem kranken Pferd, nicht der Epilepsie eines Kindes zugedacht. Ob die vorbeu-
gend gegen Schnittwunden mit Sichel und Sense zu sprechenden Formeln wie
„Heiliger Sankt Veit, wach, daß i mi net stoß und schneid!“, bekannt jedenfalls in
Baden und Böhmen, auf Befürchtungen wegen einer Absencenepilepsie zurückzu-
führen sind, bleibt zu erwägen. Denn diese kurzen, kaum bemerkbaren geistigen
Abwesenheiten können tatsächlich zu Schnittverletzungen führen.
Der folgende gebetmäßige Bezug auf die heiligen fünf Wunden Christi bei Epilep-
sie mit einer an hebräische Götternamen und einstige Öl-Salbungen32 dieser Kran-
ken erinnernden Einleitung entstammt einer Handschrift der Hofbibliothek der
Herzöge von Sachsen-Coburg-Gotha. Der Text ist zwischen Abgarlegende, Waffen-
abwehrsegen und einer „Heiligen Länge“ platziert.
33
Contra caducum Morbum Gegen fallende Krankheit (Fallsucht)
+ Unctabor + manus + Heron + Sel- „Ich werde gesalbt“ + „an Händen“ + Heron +
mas + Amptubor + Vario + Dissen- Selmas + Amptubor + Vario + Dissengeode +
Abb. 22 Epilepsiegebet und Beschreibung der „Heiligen Länge“ mit naiver Federzeichnung der
„Arma Dei“ (17. Jahrhundert)
geode + Unu(m?) pater noster Ave Ein(?) Vaterunser, Ave Maria. Die fünf Wunmaria.
Vulnera quinque dei sint me- den Gottes mögen mir Arznei sein + Durch
medicina mei + Vulneribus quovis jedwede Wunde reiße mich heraus, o Christus,
erue me Criste Martinum Kislingium. mich, Martin Kiesling. Verletzt steht Jesus
Jn cruce stat Jesus pro nostro cri- für unsere Schuld am Kreuz. O Herr
mine lesus. Domine Jesu criste res- Jesus Christ, blicke auf mich, deinen Diener,
pice super me Martinum famulum Martin°; heile und befreie mich von der Fall-
tuum sana & libera me a caduco sucht und von allen Krankheiten der Seele und
morbo et ab omnibus infirmitati- des Körpers. Amen
bus anime et corporis Amen ° überschriebener Rasurversuch : « Matheum »
34 Lammert, Gottfried: Volksmedizin und mediz. Aberglaube in Bayern, Würzburg 1869, Neu-
druck Regensburg 1981, S 122–126
Abb. 23 St. Emmeramer Doner dutiger- Beschwörung der Epilepsie (11. Jahrhundert). Die
Schwärzung als Folge chemischer Bearbeitung durch frühere Untersucher.
Gegen Fallende Krankheit. Tritt hin zu dem (gestürzt) liegenden Kranken. Und überschreite
ihn (dich über ihn breitend) von der linken zur rechten Seite.Und derartig über ihm stehend
sprich dreimal:
1 vgl. Schulz, Monika: Magie oder die Wiederherstellung der Ordnung, S. 247–252, Problem
der „reduzierten Aufzeichnung“. Handlung und Riten wurden allgemein eher dem Erlernen
durch Beobachten überlassen, während die Worte zum Ablesen niedergeschrieben wurden.
2 Paris Bibliothèque Nationale Cod. nouv. acq. lat. 229, 9v
Doner dutigo dietewigo. Es kam des Teufels Sohn auf Adams Brücke und spaltete Stein und
Holz.
Da kam Adams Sohn (Christus) und schlug des Teufels Sohn (Donar) vernichtend in eine
Staude.
Petrus sandte Paulus, seinen Bruder, da nach Rom. Die Adern verband er. (daß er die Adern
zu Rom verbände? daß er zu Rom den Widersacher in Banden lege?). Er trieb den Satan aus.
Ebenso tue ich es mit dir, unreiner Atem (Geist), von diesem christlichen Leibe. So rasch heile
dieser christliche Leib, so rasch ich mit den Händen die Erde berühre.
Berühre danach die Erde mit beiden Händen und sprich ein Vater unser. Dann springe
hinüber auf die Rechte, und mit dem rechten Fuße berühre seine rechte Seite und sprich:
Steh auf ! Was war mit dir los? Gott gebot es dir.
Dies mache drei Mal. Und bald wirst du sehen, daß der Kranke sich gesund erhebt.
Generationen von Germanisten haben seit Konrad Hofmann3 1871 und Alfred
Morel-Fatio4 1879 an diesen beiden Sprüchen gearbeitet. Doch eine allgemein an-
erkannte Erklärung für „Doner dutiger diet mahtiger“ (St. Emmeram) und „Do-
nerdutigo dietewigo“ (Paris) hat es nicht gegeben. Schon bald hatte mancher im
Hinblick auf den Merseburger Pferdespruch und dessen Wotan auch hier einen
germanischen Gott zu erkennen geglaubt und den „Heil-bringenden Donar und
Großen Kämpfer“5, den „Donnergnädigen und Volkserhalter“ aus einem „Donar-
Hymnus“ und vieles andere Gewaltige gefunden. „Stünde nicht Doner, so würde
man nie an heidnische Herkunft gedacht haben“6, aber „wer verwegen genug ist,
kann deuten.“7 Nach letzten Untersuchungen wurde übersetzt: „Gnädiger und im-
merwährender Donar! Tosender Donar, ewiger Schall!“8
Überlassen wir weitere spezielle Text-Bearbeitungen den Germanisten. Treten
wir zu einem epileptischen Anfall hinzu und nehmen „Doner dutigo“ als Kraft-
wort oder Fluch, als Abracadabra, antikes Fremdsprachengeröll oder Heidengott.
Gleichgültig – wir betrachten es als massives Performativum, als Paukenschlag zu
einer Urform des Pacing- and-Leading für eine Wende und Umkehr des Gesche-
hens. Wir folgen den Text-Anweisungen und beugen uns schützend mit gespreitz-
ten Beinen über den Kranken, halten ihn an den Seiten gegen ein Wegrutschen
und Anstoßen fest, halten die Umstehenden und panisch Geängstigten möglichst
fern und sprechen den Text dreimal, wie vorgeschrieben und – wir gewinnen und
3 München BSB Clm 14763, fol.88r, veröffentl. Hofmann, K.: Sitzungs-.Berichte. München,
philos.-hist. Kl. 17 (1871), 659–664
4 Morel-Fatio, A., in: Zeitschr. f. dt.Altertum 23 (1879), 435–437
5 Huismann, J.A.: „Contra caducum morbum“, Amsterdamer Beitr. zur älteren Germanistik
17(1982), 39–50;
6 Jacoby, Adolf: Segensprüche und Zauberformeln, Luxemburg 1921(?), S. 20 bei Segen-
Sammlung Hepding, Gießen S. 42
7 MSD, Dritte Ausg. Berlin 1892, II,301; s. ferner: Steinhoff, H.-H.: Verf.-Lexikon
8 Pogliani, Annarita: Durch ein ungleiches Schicksal verbunden, in: Zeitschr. f. dt. Altertum
und dt. Lit. 138 (2009), S. 296–311; darinnen mehr zur Unterscheidung der beiden Hand-
schriften
beherrschen Zeit und Raum. Es entsteht Entspannung und Beruhigung. Der An-
fall kommt zum Stehen, weil er ohnehin meist nur einige wenige Minuten andau-
ert. Es war eine Erste-Hilfe-Leistung, um noch Schlimmeres zu vermeiden, mehr
nicht. Weitere Anfälle können folgen. Aber die Bedingungen des großen Anfalls
waren ideal, um sich eines Spruches zu bedienen.9
Der erste erzählende Teil des Textes schildert den Kampf auf Adams Brücke mit
dem Sieg Christi, des „Neuen Adams“. Verschiedene Deutungen gingen dahin, daß
die Kreuzholzlegende dahinter steht.10 Nach ihr hat Adams Sohn Seth vom Baum
an Vaters Grab Samen oder einen Zweig mitgebracht, aus dessen Gewächsen wie-
derum später Holz für den Tempelbau in Jerusalem genommen werden sollte. Aber
das Holz passte nicht dafür. So diente es denn für die Brücke über den Kidronbach
und sollte später für Christi Kreuz Verwendung finden. Der Teufel und in seiner
Gestalt der Heidengott Donar habe die Brücke zerstören wollen.
Der zweite Teil erinnert an die Berufung der Apostel gemäß Marcus 3,13–17,
wo zwar Jacobus und Johannes angesprochen sind, aber auch die Macht der Hei-
lungen, des Teufelsaustreibens und die Benennung als Bnehargem, also der Don-
nerskinder. So die Deutungen.
Peter und Paul sind Schlüsselfiguren für das Verständnis des Textes, zumal sie in
Apokryphen, Homilien und Bildern als Romreisende und Teufelsaustreiber (Abb.
24) vorkommen, und als solche auch in der Emmeramer Kaiserchronik, die dem
Regensburger Aufschreiber des Textes nicht ganz fremd sein konnte. Die Endzeilen
unseres Epilepsietextes beziehen sich eindeutig auf Wunderheilungen Christi ge-
mäß Matth. 17,14–18, Marcus 9,17– 29 und Lukas 9,37–42. In allen drei Evange-
lien sind Symptome beschrieben, die keinen Zweifel an einem epileptisches Ge-
9 vgl. Murdoch, Brian: Peri Hieres Nousou: Approaches to the Old High German Medical
Charms. In: „mit regulu bithungan“. Neue Arbeiten zur althd. Poesie und Sprache, Göppin-
gen, 1989, S. 142–159
10 Baesecke, Georg: Kleinere Schriften z. althdt. Sprache (Hg.: W. Schröder, Bern 1966), 234–
236
schehen lassen. Und in allen dreien ist das Entweichen eines Geistes, Teufels oder
Pneumas (Tafel 3) beschrieben.
Die Krankheit hat nicht nur Betroffene und Helfer seit allen Zeiten heftig be-
wegt, sondern auch Kulturhistoriker. Denn an ihr sammelten sich und schieden
sich die „Geister“: Jene Luft-Geister, die man mangels naturwissenschaftlicher
Kenntnisse für Erzeuger dieser dramatischen Anfallsszenerie hielt und jene, die das
Wesen dieser einst recht häufigen unbehandelbaren Krankheit verstehen wollten
– jedes Zeitalter hatte gemäß seiner soziologischen und kulturreligiösen Bedingun-
gen die seinigen.11 Bis heute blieb ihr der Name „Epilepsie“ aus dem Griechischen
für „Ergriffen- und Gepacktsein“ als Idee eines zupackendes Dämonen, Geistes,
Gottes oder anderen übernatürlichen Wesens als Signalement erhalten.
Schon der erste Gesetzestext der Menschheit, der Dioritblock-Codex des altbabylonischen
Königs Hammurabi (1728–1686 vor Chr.) gibt arbeitsrechtliche Anweisung, daß gekaufte
Sklaven, bei denen sich Benû, also ein Anfall, vor Ablauf eines Monats nach dem Kauf zeigt,
mit Ersatz zurückgegeben werden können. Tontafeln der assyrischen Beschwörungssamm-
lung Maqlû aus der Bibliothek des Königs Asurbanipal in Ninive (669–626 vor Chr.) geben
Zeugnis von verbaler Kampfansage auch gegen Lamaštu und Been-nu, die packenden Dä-
monen.12
Gegenüber diesen babylonisch-assyrischen Zeugnissen war die antike griechische Medi-
zin weit fortgeschritten. Zwar nennt eine Hippokratische* Schrift vom Anfang des 4. Jahr-
hunderts vor Chr. den schon üblichen Begriff der „Heiligen Krankheit“, aber er wird völlig
relativiert: Mit der sogenannten heiligen Krankheit verhält es sich folgendermaßen: sie ist nach
meiner Ansicht keineswegs göttlicher oder heiliger als die anderen, sondern wie die anderen
Krankheiten so hat auch sie eine natürliche Ursache. […] Diejenigen, die zuerst die Krankheit
für heilig erklärt haben, waren Menschen, wie sie auch jetzt noch als Zauberer, Entsühner, Bet-
telpriester und Schwindler herumlaufen. […] Schuld an diesem Leiden ist in Wirklichkeit das
Gehirn. – Trotzdem: Eine weit verbreitete magische Weltsicht sollte diesem ersten erfassba-
ren Beginn naturwissenschaftlicher Beobachtung noch lange entgegenstehen. Die griechi-
schen Papyri haben auch für Epilepsie eigene Beschwörungsformeln gegen Dämonen.13 –
Die römische Antike hat im Bereich der Medizin das Erbe der Griechen weitgehend
übernommen und fortentwickelt. Auch für den Arzt Galen* ist Epilepsie letztlich Hirn-
krankheit mit der Ursache eines Verschlusses in den Hirnventrikeln. Daran anknüpfend
wurde versucht, die beiden Erzählungen unseres Doner dutiger-Spruches mit ihren Aktio-
nen des Spaltens und wieder Verbindens zu interpretieren.14
11 vgl. Schneble, Hansjörg: Krankheit der ungezählten Namen. Bern Stuttgart 1989, S. 2
12 Meier, Gerhard: Die assyrische Beschwörungssammlung Maqlû. Neudruck der Ausgabe
1937, Osnabrück 1967, Tafel II,54–71; ferner Tafel II, 213: Schlimme Been-nu, falle auf
dich!
13 Siehe z. B. Betz, Dieter: The greek magical papyri Chicago 1986, 313, PGM CXIV.1–14
14 Pogliani, Annarita: Durch ein ungleiches Schicksal verbunden, in: Zeitschr. f. dt. Altertum
und dt. Literatur 138 (2009), S. 296–311, hier: S. 310
Nach dem Untergang des römischen Reiches hatte seit dem frühen Mittelalter die
Mönchsmedizin Versorgung und Pflege übernommen. Jahrhundertelang blieb das
Leiden an die Vorstellungen aus der Zeit Christi und an den von den Kirchenvä-
tern und manchen Theologen literarisch mittransportierten Gegensatz von Glau-
ben und Aberglauben gebunden. Und so war es nicht mehr immer Strafe Gottes,
sondern auch Teuflisches und Dämonisches, was hinter den Symptomen vermutet
wurde. Dies sind in der Behandlung die Hauptangriffspunkte, wie sie unserem
Text gedanklich zugrunde liegen. Deutlich zeigen es die bildlichen Darstellungen
Fallsüchtiger, denen die Teufel und Untiere aus dem Mund flüchten (Abb. 25; Tafel
3); ähnlich wie bei Besessenheit griff die Kirche zum Exorzismus. Die Doner-duti-
ger-Beschwörung aber hatte trotz ihres entsprechenden Strategieansatzes keine
Weiterbildung und Tradierung erfahren, wahrscheinlich wegen der mindestens hei-
denverdächtigen Eingangsworte. Dafür entstanden seit dem 12. Jahrhundert meh-
rere den Bedarf ersetzende Spruchtypen, die sich an Reliquienkulte einiger Heiliger
flochten. Die beiden „Donerdutigo“ und „Doner dutiger“– Beschwörungen u. a.
deshalb als „Marginalsegen“ zu bezeichnen, weil die Reanimierung ihrer histori-
schen Anwendungspraxis noch nicht bewiesen sei,15 das verkennt ihre theoretische
Bedeutung als Kettenglied in der Entwicklung der Kausalattributionen und der
therapeutischen Strategien.
15 Stuart, Heather und F. Walla: Die Überlieferung der mittelalterlichen Segen, in: Zeitschr. für
deutsches Altert. und dt. Lit. 116 (1987), S. 53–79, hier 70
Über die Siebenschläfer von Ephesus berichtet uns ausführlich die Hauptquelle
christlicher Erzählkunst, die Legenda aurea des Jacobus de Voragine* aus dem 13.
Jahrhundert:
Die Geschichte des Martyrologiums der Siebenschläfer datierte aus dem dritten Jahrhun-
dert, in der Zeit der Christenverfolgung unter Kaiser Decius. Die sieben Hirten verweiger-
ten als Christen die Anbetung römischer Götterbilder, flüchteten vor Verfolgung in eine
Höhle am Berge Celion und wurden auf Befehl des Kaisers im Jahre 251 eingemauert. Als
ein Bürger im Jahre 447 die Höhle als Schafstall benutzen möchte und die Mauer entfer-
nen läßt, erwachen die Brüder. Einer geht Brot zu holen und kennt niemanden mehr in
der inzwischen christlichen Stadt. Der Bäcker staunt über die alte Goldmünze aus Kaiser
Decius‘ längst vergangener Zeit, mit der der Fremde bezahlen will. Man hält ihn schlicht
für geistig gestört, und nach vielen Wirren und Zweifeln geht Bischof Martinus mit den
Bürgern zur Höhle und findet alle Brüder lebend vor und findet, daß ein großes Wunder
geschehen ist.
Die Verbreitung des Siebenschläferkultes hatte besonders Bischof Gregor von Tours
(ca. 540–593) gefördert. Er hatte eine syrischen Passion bearbeitet, die im 8. Jahr-
hundert ein Mönch in Fulda abgeschrieben hat. Dies belegt das überhaupt älteste
deutsche Bücherverzeichnis aus der Fuldaer Klosterbibliothek, einer Stätte, an der
Hrabanus Maurus* gewirkt hatte, an der die ältesten deutschen Schriftzeugnisse,
das Hildebrandslied und die „Merseburger Zaubersprüche“ verzeichnet worden
waren. Die Bibliothek ist während der Reformation zerschlagen und zerstreut wor-
den.
Abb. 26 Nachweis eines Buchtitels zu den Siebenschläfern aus dem wahrscheinlich ältesten in
Deutschland entstandenen Bücherverzeichnis im Kloster Fulda (8. Jahrhundert)
1
liber uita s(an)c(t)orum dormientium Buch (zum) Leben der heiligen Schläfer in
in effeso qui dormierunt et in ilum librum Ephesus, die wie verstorben waren und in dem
sunt cronih, sancti furseus liber, sententi- Buch sind Chroniken, das Buch des hl. Furseus,
alis liber, liber alexantri ein Sentenzenbuch, ein Buch über Alexander
Eines der frühesten Zeugnisse für medizinische Nutzung der Legende findet sich in
einem St. Emmeramer Codex aus Regensburg. Diese Schrift des 9. Jahrhunderts ist
aber wahrscheinlich nicht hier entstanden, sondern wie sich aus Schriftvergleichen
ergab, in Nordostfrankreich.2 Der Spruch ist eine Kombination aus christlicher
Segnung und einer Beschwörung. Überraschend scheint zunächst seine Indikation.
Nicht für Schlafstörungen, Narkose oder Hypnose wird er eingesetzt, sondern ge-
gen Fieber:
3
In nomine domini nostri Iesu Christi. Im Namen unseres Herrn Jesus Christus
In ephasa ciuitate in monte Celio In der Stadt Ephesus im Celio-Berg
ibi requiescunt VII dormientes: dort ruhten die sieben Schläfer:
Maximinianus, Malchus, Martinianus, Constantinus, Dionisius, Iohannes, Serapion.
[...] Per merita et intercessionem eorum […] Durch ihre Verdienste und Fürsprache
omnipotens deus dignetur saluare möge der allmächtige Gott seinen Diener
istum famulum illum ab omnibus vor aller Krankheit von Fieber und Kälte
infirmitate febris uel frigoris. Et [Schüttelfrost] bewahren. Und wie jene
sicut illi more infantium in utero nach der Kinder Art im Mutterschoß
quiescentium non sentientes labo- ruhend weder Mühe noch Schmerz oder
rem neque dolorem neque mortem, Tod spüren, lass deinen Diener weder im
in isto famulo dei illo [fac, ut] Schlaf noch im Wachen an Fieber oder
neque dormiendo neque uigilando Kälte leiden. […] Ich beschwöre euch,
sentiat infirmitatem febris uel fri- ihr Fieber, […] daß ihr keinen Ort
goris. [...] Adiuro vos [febres, …] und keine Macht haben sollt über
ut non habeatis locum neque diesen Gottes-Diener, sondern
potestatem in isto famulo dei illo, weichen möget […]
sed redeatis, [...]
Mit der Legende über diese Jahrhundertlang-Schläfer wird explizit an die Schutz-
funktion und die Urheimat des Mutterschoßes erinnert. Es wird die Imagination/
Kontemplation eines unüberwindbaren selbst dem Tod trotzenden Lebensbewah-
rers gebahnt. Die Höhle von Ephesus und die Höhle der Gebärmutter werden
1 Basel Universitätsbiblioth. Ms F.III.15a, fol. 18r; Lehmann, Paul: Fuldaer Studien, Sitzungs-
berichte der Bayerischen Akademie der Wissensch. Philosoph.-philolog. und hist. Klasse
1925, München 1925, S. S.5,49: Neben der Siebenschläferlegende, wohl nach Bearbeitung
Gregors von Tours, gehörten dem verschollenen Fuldaer Codex noch ein Leben des irischen
Mönches Furseus, ein Sentenzenbuch und ein Buch über Alexander den Großen an.
2 Bischoff, Bernhard: Die südostdeutschen Schreibschulen und Bibliotheken in der Karolin-
gerzeit, Teil I, Die Bayrischen Diözesen, Wiesbaden 1960, S. 235
3 München BSB Clm 14179, fol. 1‘, veröffentl. Franz, Adolph: Die kirchlichen Benediktionen
im Mittelalter, Freiburg 1909, Band II, S. 480
parallel gestellt. Beide werden Schutzwall gegen alle Unbillen und Eindringlinge
und sollen es gegen Fieberdämonen sein. Die Fieber sind als Personen und Ursache
der Krankheit angesprochen und beschworen.
Gegenüber den hier ganz allgemein als febris und frigor, Fieber und Käl-
teschauer abgemahnten Übeln werden gelegentlich spezialisiertere Missetäter ge-
nannt, so in einer Beschwörung des 10./11. Jahrhunderts der Vatikanischen Biblio-
thek4 jene „Sieben Schwestern“, von denen jede einen besonderen Fiebertyp mit-
bringt. Ihnen konnten genau in dieser von jeher bedeutungsvollen Siebenzahl die
Schläfer von Ephesus Gegenpart bieten. Solche Formeln gegen Fieber waren kirch-
lich meist nur geduldet.
Die Erfahrung, daß nach gutem Schlaf morgendlich meist Rückgang eines Fie-
bers eintritt, dürfte Leitidee dieser Spruchanwendung gewesen sein, es war also an
einen Heilschlaf gedacht. Ein solcher Heilschlaf auf Basis von pflanzlichen Hypno-
tika – Alraune, Bilsenkraut, Schlafmohn tränkten einen Schlafschwamm – war aus
der Antike bekannt. Damit wurden beispielsweise verwundete Krieger versorgt.
Mit einer zusätzlichen Verbaltherapie könnte die Hypnotikawirkung verstärkt oder
ersetzt worden sein, wie heute durch eine Hypnotherapie. Archivalische Beweise
für eine solche Kombination der Formel mit jener „Ars somnifera“ konnte ich zwar
nicht finden, aber es ist kaum anzunehmen, daß in Fieberfällen, einstmals immer
ein sehr ernst zu nehmendes Symptom, nicht gleichzeitig pragmatisch und verbal
behandelt wurde und daß man sich allein auf die Verbaltherapie verlassen hätte.
Auch gegen Zahnwürmer werden die Sieben eingesetzt:
5
Ante vermes. + bon + pen + na + ason + ad dentes.
In eremo in monte Celion In der Einöde im Monte Celion
ibi sederunt VII fratres dormientes saßen sieben schlafende Brüder
+ Marcius + Marcellinus + Serapion + Alexander + Vitalis + Philippus + Dyonisius +
per istos VII fratres dormientes durch diese 7 schlafenden Brüder
coniuro vos vermes, ut recedatis beschwöre ich euch, Würmer, daß ihr
et hominem istum non ledatis. weichet und diesen Menschen nicht verletzt.
Seit dem 14. Jahrhundert häufen sich die Belege. Bei einer Restauration der St.
Georgskirche am Prager Burgberg wird in einer Nische ein Pergament-Amulett von
10 x 4 cm gefunden:
6
+ In nomine + patris + et filii + et spiritus sancti +. In monte + Celion + resquiescunt septem
dormientes + [...]. Es soll einen Dobrozlauam vom Quintanfieber befreien.
Und es tauchen endlich Segen auf, die direkt der Schlafförderung dienen sollen,
nicht mehr nur dem Fieberkranken. In der Sammlung des Johannes Posenanie7 in
Schlesien, geschrieben 1361–1365 wird ein Schlafbrief vermerkt. Er ist unter den
Kopf zu legen, zählt die Namen der Sieben auf und hat keine Befehle an Dämonen
mehr. Es ist ein Segen, der sich an Gott wendet mit der Bitte um Hilfe, dem Schla-
fenden möge es wie jenen ergehen.
Unter seinen Schlafrezepten für Kinder und Wöchnerinnen übernimmt das
Arzneibuch des Meisters Bartholomäus die Siebenschläfer ebenso wie das von ihm
abhängende, im folgenden zitierte mittelniederdeutsche Arzneibuch des Bremer
Ratsherrn Arnoldus Doneldey, abgeschlossen 1382. Aber nur die Anweisung zu
seiner Handhabung ist deutsch gefaßt:
8
To deme slape.Oppe dat de kindere slapne, Zum Schlaf. Damit die Kinder schlafen
so sprek desse collecten unde scrif se so sprich dieses Gebet und schreibe es
unde bind se deme kinde umme den hals und binde es dem Kind um den Hals
ofte legghe se eme under dat hovet: oder lege es ihm unter den Kopf:
Oremus: Deus qui septem dormientes Laßt uns beten: Gott, der du sieben
in monte celion dormire fecisti […]. Schläfer im Berge Celion schlafen ließest […]. ..
mit dem Zusatz von Zauberworten +Rer +ser +pres +. Auf der Umseite das Gleiche,
aber vom Handgriff zur Spitze hin. Der Dolch ist dann heimlich dem Schlafgestör-
ten unters Haupt zu legen (Cod. lat. mon. 7021, 14.Jh.). Die Raffinesse dieser
Zeremonie besteht in der Herstellung einer seelischen Erlebnis-Synchronie. In
stark geraffter Bedeutungsabfolge dient die Herstellung von Verunsicherung durch
die Waffe zunächst sogar der Steigerung von Unruhe als Aktivierung des Hirn-
stamms und der limbischen Gebiete, die geritzten, eingravierten oder gestichelten
Namen dienen der Entschärfung, die Heimlichkeit der Applikation als doppelter
Boden. Dabei wirkte das Wissen der Menschen jener Jahrhunderte um die Magie
des Festmachens mithilfe von Waffensegen, Waffeninschriften und -Figuren im
Kampf und auf der Reise als Vehikel. Seit dem 14. Jahrhundert hatte man begon-
nen, individuelle Zeichen auf Waffen anzubringen.
In die volksmedizinischen Heilsprüche der letzten Jahrhunderte sind die Na-
men der Sieben nicht gelangt. Allenfalls sind es korrumpierte Wortsplitter, die mit
den Texten schriftlich vermittelt wurden. Das gilt, wie sich zeigt, auch für eine
Reihe von Kautelen, in denen sie nur noch wie Zauberworte eingesetzt waren. Ein
Ersatzprodukt waren zum Beispiel „Sompius, Sopnifex, Sammator et Staborius“,11
ein Phantasiegebilde, das man zusammen mit den Namen der in Schlaf zu wiegen-
den Feinde auf Jungfernpergament12 schrieb; dabei handelt es sich um ursprüng-
lich wegen seiner Stoffwertigkeit benutztes zartes Pergament als Schreibmaterial für
Zaubervorbereitungen.
Die Erzähltherapie mit einer solchen Legende war geeignet, einen fieber- und
schmerzdämpfenden Ruhezustand zu fördern. Die konkrete Imagination der unge-
wöhnlichen Autoritäten eines Zweijahrhundertschlafes, deren Namenfolge aufhor-
chen ließ und mindestens latente Aufmerksamkeit summierte, dürfte wohl kaum
ein limbisch-hippocampales* System gelangweilt haben.
Die unbewußte Prüfung und Deutung der absonderlichen Geschichte durch
Mandelkern*13 und Arbeitsgedächtnis* führte zur begrifflichen und damit syn-
chronisierenden Abstimmung der sinnvollen Höhlen-Metaphorik. Das Thema,
inwieweit das Gehirn sich der eigenen intrauterinen Geborgenheit „erinnern“
kann, wird von der modernen Forschung immer mehr aufgegriffen. Es besteht wis-
senschaftlich kein Zweifel, daß diese Erinnerungen zum Kernbestand unseres Un-
bewußten gehören. Sie umfassen alle perzeptiven, kognitiven und emotionalen
Prozesse, die im Gehirn des Föten vor Ausreifung des assoziativen Cortex ablaufen.
Alle Sinnesorgane des Föten sind in den letzten Wochen der Schwangerschaft auf-
nahmefähig; das limbische System nimmt seine Bewertungsarbeit auf und Boten-
stoffe aus dem mütterlichen Gehirn beeinflussen auch das fötale Gehirn.14 Inso-
fern kann die Imagination des Siebenschläferszenarios zumindest konzeptionell als
Urform vieler moderner Psychotherapien gelten, am anschaulichsten in der Aqua-
energetik. Mit ihr werden Poolerlebnisse zur Regression in mutterleibähnliche Zu-
stände simuliert und spekulativ mit den Vorstellungen von „Wiederauferstehung“
und „Erleuchtung“ kombiniert.15
Während der zweite Merseburger Zauberspruch mit der Behandlung eines verwun-
deten Pferdebeines seine eindeutige Indikation verrät, bleibt der ihm vorangehende
erste Spruch rätselhaft vieldeutig. Bei ihm war (und ist noch teilweise) jede Wort-
deutung unter Germanisten umstritten. Die wissenschaftlichen Fronten umkämpf-
ten zwar auch hier die religionsgeschichtlichen Wurzeln, noch mehr aber die Frage
nach der Anwendung des Zaubers. Wüßte man etwas über seinen Gebrauch, so
hätte man den Schlüssel zur Deutungshoheit. Aber wie beim zweiten Spruch ist
auch dem ersten keinerlei praktische Handlungsanweisung beigegeben. Unsere bei-
den Übertragungen liefern zwei ganz entgegengesetzte Auffassungen.
Besonders deutlich wird die völlig divergierende Deutung am Beispiel „heraduoder“, ein
Wortunikat in der germanischen Sprache. Ist es ein Kriegerheer, ein Erdball, ists eine Orts-
bezeichnung wie hier(hin) und dort(hin) oder sind es hehre Mütter als Matronen? Die
Verlegenheit der Forschung und die Phantasie der Bearbeiter spiegeln sich zudem im Falle
des Großbuchstaben .H. wieder, der nicht weniger als 7 Deutungen1 erfuhr über Runen-
vermutung bis hin zur Initiale des Hrabanus Maurus,* der seit ca.788 Abt des Klosters
Fulda war.
Hier sind die Idisi als Verwandte der Matronen zu verstehen. Das sind Schutzgöt-
tinnen der Krieger. Aber sie sind durch ihre den Steindenkmälern beigegebenen
Fruchtbarkeitszeichen mit der Vorstellung allgemeiner Schicksalsbestimmung eher
den Moiren und Parzen vergleichbar als den ursprünglichen kriegerischen Walkü-
ren des Nordens. Man übersehe deren spätere romantische Verklärung etwa durch
4 Massmann, Hans Ferdinand: Besprechung von Jacob Grimm, Ueber zwei entdeckte gedich-
te. In: Münchener Gelehrte Anzeigen 91–96 (1842), Sp. 729–773
5 Weddige, Hilkert: Einführung in die germanistische Mediävistik, München 1992², S. 101
6 Bischoff, Bernhard: Ein Magierspiel im mittelalterlichen Würzburg, in: Mainlande 3 (1952),
S. 73–75
7 Schwietering, Julius: Der erste Merseburger Spruch (1917), in: Philologische Schriften (Hg.:
Friedrich Ohly und Max Wehrli), München 1969, S. 118–126
Abb. 29 Drei Frauen am Grabe Abb. 30 Drei Frauen am leeren Grab begegnen dem Engel.
Christi. Walroßzahnschnitzerei Bernwardspforte Hildesheimer Dom (11. Jahrhundert)
(11. Jahrhundert)
Richard Wagner. Mit der Umdeutung von hera duoder in hera muoder, den hehren
ehrwürdigen Müttern8 hatte 1964 Gerhard Eis (1908–1982) diese drei Frauen ge-
genüber Massmanns genannter Einschätzung wieder erhöht und sie dem Matro-
nen-Mutterkult zugeordnet. Vorwiegend in linksrheinischen, aber doch auch in
südlich Fulda gelegenen Gebieten sind ca. 1100 Altäre und Weihesteine mit Ma-
tronennamen überliefert, die zum Teil keltische und germanische Ursprünge und
Einflüsse9 haben und von Dedikanten verschiedenster Berufe gesetzt wurden, über-
wiegend von Soldaten. Die Blüte dieses vorchristlichen Matronenkultes wird zu-
meist ins 2. und 3. Jahrhundert gelegt.
Dieser vorchristliche Matronenkult gilt als eine bedeutende Wurzel des Drei-
Jungfrauenkultes um die drei „Bethen“ Ainbeth, Walbeth und Wilbeth, deren hi-
storisch früheste Bezüge sich besonders um Worms und Straßburg ranken.10 Die
drei nur im Volke wohl seit dem 11. Jahrhundert wie Heilige verehrten Frauen
waren als Helferinnen bei Kindbett, Kinderkrankheiten und Pest in Südwest-
deutschland, dem Elsass, der Schweiz und Tirol (Tafel 3) weithin beliebt.
Die Idee einer medizinischen Indikation kam zuerst 1880 dem Wormser Augenarzt
und Medizinhistoriker Johann Hermann Baas (1838 – 1909), als er eine assyrische
Formel aufgriff: 11Die Hexe zur Rechten sich setze, die Linke lasse sie frei! Den Knoten
der sieben Adisina knüpfe, das Haupt des Kranken umwinde, die Seite des Kranken
umwinde, seine Glieder gleichwie mit Fesseln. An sein Lager dich setze, mit Wasser der
Verjüngung besprenge ihn!
Dann unter Hinweis auf eine altindische Parallele vermutet 1954 Arno Schiro-
kauer funktionell eine Befreiung aus Lähmung und Gliederkrampf. Und 1958 legt
die Germanistin Elise Riesel12 entscheidende Gewichte auf die Waagschale der me-
dizinischen Anwendung, indem sie den Lösezauber der Idisi in eine große europä-
ische Zauberspruchfamilie einordnet, die seit Marcellus* von Bordeaux im 5. Jahr-
hundert bis in die Gegenwart der Zauberbücher bestanden hat. Die beiden mit
mehreren Unmöglichkeiten (Adynata) faszinierenden performierenden Sprüche13
dieses mutmaßlichen Hofarztes des römischen Kaisers, im Fulda des 9./10. Jahr-
hunderts nicht unbekannt, gegen „Kollern“ im Magen und gegen „Rose“ lauten
(gekürzt):
11 zit. nach Beck, W., wie oben, S. 352; zu Baas vgl. Gerabek, Werner E. et al. (Hg.): Enzyklo-
pädie Medizingeschichte. Berlin u. a. 2005
12 Riesel, Elise: Der erste Merseburger Zauberspruch, in: Deutsches Jahrbuch für Volksk. 4
(1958) S. 53–81
13 Marcelli De Medicamentis Liber, Hg.: Helmreich, Georg, Leipzig 1889, Cap. 21,S. 220 und
Cap.28,S. 301
14
Tres virgines in medio mari Drei Jungfrauen hatten in Meeresmitte
mensam marmoream positam habebant, einen Marmortisch aufgestellt:
duae torquebant et una retorquebat (eam). zwei drehten ihn, eine drehte ihn zurück.
Quomodo hoc numquam facta est, Wie dies niemals geschehen ist,
sic numquam sciat illa Gaia Seia so soll diese N.N niemals Schmerz
corci dolorem! vom Kollern im Bauch spüren!
Damit war der Durchbruch zu einem neuen Verständnis all dessen gebahnt, was
gemeinhin, also über alle kulturellen, individuellen und situativen Grenzen hin-
weg, sinnbildlich mit Ketten, Fesseln, Fäden, Bändern und Netzen als Einschrän-
kung seelischer und körperlicher Funktionen des Menschen gemeint werden
konnte. Und damit verknüpfen sich personale Kausalattributionen zu denen, die
die Macht über jegliche Bindung haben und individuelle Repression bewirken oder
zu tilgen vermögen. Riesel nennt ihre Deutung „entmilitarisierend“. Sie hat zu-
gleich die psychosomatische Dimension eröffnet. Der erste Merseburger wird von
ihr als Begleittext zu einer empirischen oder magischen Krankenbehandlung ver-
standen. Entscheidend in Riesels Einschätzung ist die Umdeutung des Befehls.
Nicht mehr für gefangene Soldaten „Entfahre den Feinden“ sondern „Entfahre den
Krankheitsdämonen!“ soll es heißen.
Wirft man einen Blick auf die Tätigkeit der Frauen im Spruchtext, so ist die
dritte Gruppe wie üblich bei den Dreiheiten der Volksdichtung die wichtigste. Sie
löst die Verknotungen auf, befreit von Krampf und Spannung. Sie kann übelbrin-
genden Kräften trotzend Heilung erzielen. Zuvor war durch die erste Gruppe der
Frauen Böses verursacht wie in der griechischen Sage. Die eifersüchtige Hera läßt
bei der Niederkunft der Alkmene die Moiren durch Überkreuzen der Beine und
Verschränken der Finger die Geburt verzögern. Das ist Fesselung gegen „Entbin-
dung“. Es ist eine Spiel guter und böser Mächte, wie es in allen Kulturen in Lied,
Sage und Brauch auftritt und Maler der Romantik anregte (Tafel 4).
Abb. 32 Die drei Parzen in der Wochenstube. Kupferstich des 16. Jahrhunderts
Gehen wir mit Ute Schwab16 den möglichen Wegen der Spruchüberlieferung
und Spruchakzeptanz nach, so kann das oben zu Fulda Gesagte noch ergänzt wer-
den. Denn nicht nur jene christlichen Schriften mit unseren Idisi-Nennungen wie
Ortolfs Bibelexegese und der Heliand, sondern auch die gar nicht christlichen
Schriften des vielgenannten Marcellus* wurden hier im 9. Jahrhundert kopiert
noch vor der Niederlegung der „Merseburger“.
Der aus Südfrankreich stammende Marcellus* am Hofe des Kaisers Theodosius I (gest. 395)
war zwar Christ und war sogar amtlich mit der Entfernung von Nichtchristen vom Hofe
betraut, aber seine große medizinische Sammlung von Rezepten, magischen Anweisungen
und Sprüchen enthält nur ein einziges christliches Element. Er nimmt auch altheidnische
und jüdische Texte auf. Die Schrift des Marcellus war anerkannt und ihre Rezepte und
Formeln zierten nicht Bibliothek und mönchische Diskurse, sondern wurden angewendet.
Durfte das mit den etwas später auftauchenden ganz ähnlichen oder an Marcellus angegli-
chenen Merseburgern nicht geschehen? Das Kloster Fulda hatte im Jahre 779 wohl 400
Mönche, im Jahre 917 noch 190 Mönche.17 Zur Zeit der Abtswahl des Hrabanus Maurus*,
822, waren es einschließlich der Außenstellen ca. 675 Mönche.18 Alle kamen aus dem Volk,
aus allen Schichten und weitem Einzugsgebiet und brachten allerhand mit; es war kein
Schweigekloster. Anhand der berühmten althochdeutschen „Fuldaer Beichte“ mit ihren Bil-
dern aus dem 10. Jahrhundert ist festgestellt, „welch bedeutende Stellung die Volkssprache
16 Schwab, Ute: Sizilianische Schnitzel. Marcellus in Fulda. In: Fiebig, A. und H.J.Schiewer
(Hg.): Literatur und Sprache von 1050–1200. Berlin 1995, S. 261–296, hier: S. 267, 271,
294
17 Lübeck, Konrad: Fuldaer Studien. Geschichtliche Abhandlungen, Fulda 1949, S. 127f
18 Schmid, Karl: Hrabanus Maurus und seine Mönche im Spiegel der Memorialüberlieferun-
gen, in: Kottje, Raymund und H. Zimmermann (Hg.): Hrabanus Maurus. Lehrer, Abt und
Bischof, Wiesbaden 1982, S. 104
im Bereich von Beichte und Buße in althochdeutscher Zeit bereits erlangt hatte“.19 Schließ-
lich hat sich Abt Hrabanus Maurus* selbst um die Bibliothek bemüht und auch als Schrei-
ber im Scriptorium betätigt.20
Ute Schwab hat in ihrer Art als Präambel zu einem Rezeptauszug das Folgende
geschrieben. Es ist von mir nur um die Beschwerdeangabe verändert, mit der Ziel-
richtung auf den zu bedenkenden Heilspruch mit drei Frauen, die die Gedärme
ordnen und der gleichzeitigen wohltuenden Bauchmassage im XXVIII. Kapitel
von Marcelli* De medicamentis liber und damit auf die Worte des ersten Merse-
burgers hin:
„Wir wollen uns vorstellen, daß einer der Brüder (warum nicht auch Hrabanus*
selbst?) oder der Gäste des Klosters Fulda sich zu dem dortigen ‚Pfefferkorn‘ be-
gibt, weil ihn seine [… Bauchkoliken wie Kollern im Magen plagen] und ihn um
ein Mittel bittet. Der schlägt seinen Marcellus auf. Was wird er ihm wohl raten?“
Im altprovenzalischen Drei-Frauensegen21 des 11. Jahrhunderts ist die Ver-
wandtschaft zu den Texten des Marcellus in der geheimnisumwobenen Meeres-
Lokalisation zu spüren, obwohl nun die drei Frauen verchristlicht sind und keine
entgegengerichteten dämonischen Kräfte mehr verkörpern.
Viel später im 17. Jahrhundert – es ist scheinbar ein weiter Weg – steht in der
bildlichen Darstellung in der Augsburger St. Peter-Kirche am Perlach die Mutter-
gottes Maria als Knotenlöserin (Tafel 6) ganz im Mittelpunkt und ist für alle „Pro-
bleme“ zuständig; eine Dreiheit durch Flankierung zweier Engel wird Nebensache;
einer Darstellung dämonischer Antipoden bedarf es nicht. Der in unmittelbarer
Nähe arbeitende Nervenarzt und Psychotherapeut hat in 20-jähriger Tätigkeit in
den 1970er und 80er Jahren von Patienten in langen Gesprächen nicht eine einzige
Bemerkung zu diesem volksfrommen Bild bekommen. Ist dessen einstige Wunder-
kraft und seine Symbolik vergessen, scheute man sich des Glaubensbekenntnisses
oder bedurfte es für Betende vor diesem Bilde nie wieder eines Psychiaters?22
Betrachtet man den 1. Merseburger unter der Voraussetzung einer tatsächlich
nur medizinischen Indikation, dann sind differenzierend folgende Vorschläge ge-
macht worden: Geburtsbesprechung (Schwietering, 1917), Lähmung, Glieder-
krampf oder Muskelstarre (Schirokauer, 1954), Heilung irgendeiner Besessenheit /
jedes Unglück (Riesel, 1958), plötzliche Anfälle, vor allem Epilepsie (Murdoch
1989), Beißen und Kollern im Leib, Lösen von Darmknoten (Schwab, 1994,1995).
Zuletzt hat Klaus Düwel (2009) einen immer wieder verhalten geäußerten
möglichen Zusammenhang, für den bis jetzt nur Schwietering offen plädiert hatte,
19 Honemann, Volker: Zum Verständnis von Text und Bild der ‚Fuldaer Beichte‘, in: Fiebig,
Annegret und Hans-Jochen Schiewer (Hrsg.): Deutsche Literatur und Sprache 1050 bis
1200, Berlin 1995, S. 124
20 Spilling, Herrad: Das Fuldaer Scriptorium, in Kottje, R.(wie oben), S. 165–181
21 siehe das Kapitel 1
22 Herrn Dr. med. Martin Kurek, Friedberg bei Augsburg, danke ich für die Mitteilung
ausgebreitet und ihn mit Hinweis auf die große historisch universelle Bedeutung
von Binde- und Lösezauber beschrieben. Die Schwangere ist die vom Manne Ge-
bundene; der Austreibungsbefehl geht nicht mehr an Kriegsfeinde oder Krank-
heitsdämonen, sondern an einen Föten. Und Binden und Lösen gehören zusam-
men. So heißt es bei Plinius:
23
Folgender Brauch beschleunigt die Geburt: wenn der (Mann), von dem die Frau
empfangen hat, seinen Gürtel löst und die Frau damit bindet, dann ihn wieder löst
und den Spruch hinzufügt, daß derselbe, der gefesselt habe auch lösen werde –
und dann fortgeht.
Ebenso könnte man sich das Wirken der Idisi vorstellen: Es wird dann ihr schritt-
weise ausgeführtes Binden, Halten und Lösen klar, wenn man als Mittelpunkt des
wirkenden Geschehens die empfangende, tragende und entbindende Frau in der
Symbiose zunächst mit ihrem ungeborene Kind sieht: Empfangendes Binden (hapt
heptidun) und hemmendes antiabortives Festhalten (heri lezidun) der Frucht ge-
gen Heerscharen, auch die der gefallenen Engel der Hölle, der Abtreibungs-Dämo-
nen durch die Idisi der ersten beiden Gruppen. In Hildegards von Bingen Geburts-
segen öffnet Christus die Schlösser der Hölle.24 Im Brauch der Völker gab es die
Anwendung von Gürteln als magische Klammer. Seit der Antike bis ins 20. Jahr-
hundert in Südosteuropa wurden Geburtsgürtel als Analogie zu Binden und Lösen
vor der Entbindung angelegt. Der Gürtel verschließt etwas zu Schützendes, seine
Lösung öffnet den Schoß. Die Umlegung eines Mannsgürtels wie bei Plinius wie-
derholt den Zeugungsakt.25
Die Idisi der dritten Gruppe – so eine Wortdeutung durch Eichner – klaubten Wickelbän-
der: Gotisch/althochdeutsch kuna- habe wohl am ehesten einen Lehnzusammenang mit
lateinisch cunae, Wiege und incunabula Windeln. Aber „für den Zusammenhang von Bin-
den und Lösen genügt das Klauben an irgendwie gearteten Fesseln, die mit den zuvor gehef-
teten Banden/ Fesseln identisch sein dürften. Der Ausdruckswechsel hängt gewiss mit dem
geforderten Stabreim zusammen: hapt heptidun und clubodun […] cuoniouuidi.“26
Es wäre also zu phantasieren, daß einer Gebärenden in einem Singsang die Zeilen
ein- oder mehrmals vorgetragen wurden, z. B. zwischen den Presswehen, von der
Wehemutter oder einer anderen Frau. Es hätte dann eine stimmlich flexible Beto-
nung der Verben mit lautlich beschwichtigender Absenkung auf „heptidun“ und
„lezidun“ als vergangene Erlebnisse der Schwangerschaft erfolgen können. Eine
23 zit. nach Düwel, Klaus: Der erste Merseburger Zauberspruch – ein Mittel zur Geburtshilfe?
In: Erzählkultur. Beiträge zur kulturwissenschaftl. Erzählforschung, Hg.: Brednich, Rolf Wil-
helm, Berlin u. a. 2009, S. 406
24 Vgl. im Kapitel 14
25 Grabner, Elfriede: Das „Umgürten“ als Heilbrauch, in: Carinthia I 155 (1965), S. 548–568,
hier S. 564
26 zit. nach Düwel, Klaus, wie oben, S. 410f
sehr kräftige, suggestive Hervorhebung von „clubodun“, noch aus der Historiola
und ein Fortissimo des Sprechgesangs bei den Befehlen am Schluß entsprächen
dann den Austreibungsformeln der vielen anderen Geburtssprüche. Während der
Presswehe gesprochen läge es gedanklich in der Nähe zur Lazaruserweckung, der
Entbindung aus Wickelbändern und Geburtsgürteln, der Befreiung aus jetzt le-
bensgefährlich feindlich gewordenen Banden. Das entspricht in medizinischer Ter-
minologie z. B. einer früher tödlichen Plazenta praevia, einer Querlage oder einer
komplizierten Mehrlingsschwangerschaft. Wenn solche Hindernisse bestanden,
war unser Begleitspruch-Singsang therapeutisch fatal illusorisch. Wie aber wirkte
er bei normalem Geburtsverlauf ?
28 Scott, K.Sophie und Johnsrude, Ingrid S.: The neuroanatomical and functional organization
of speech perception, in: Trends in Neuroscience 26 (2003), 100–106
29 Janata, P., Dartmouth College, online EurekAlert 12.12.2002
30 Spintge, Ralph: Musikmedizinische Forschung, in: Decker-Voigt, H.-H. und E.Weymann
(Hg.): Lexikon Musiktherapie, Göttingen 2009, S. 303–306
31 siehe z. B. Affolter, Tabea: Wiederentdeckung archaischer Bedürfnisse, Fachhochschule Bern,
Studiengang Hebamme, 2007 (Online)
32 Fiedler, G.: Schmerzlinderung bei der vaginalen Geburt, in: Anaesthesiologie, Intensivmed.
36(2001),49–53
33 Pressemitteilung Universität Heidelberg Online (verantwtl. Annette Tuffs, 2006)
Kaum jemand wird sich beim langsamen Lesen oder Vorsichhinsprechen solcher
Zeilen dem Charme dieser frühalemannischen Geburtssegnung „Ad preparacionem
mulierum“ – Zur Vorbereitung der Frauen – entziehen können. Kindli du vsgang –
Christus ruefft dich in die Welt1, grammatikalisch betrachtet eigentlich ein Befehl,
entbehrt die Formel doch in der zarten Milde und frommen Berufung jeglicher
Schärfe. Und das auf dem Hintergrund oftmals dramatischer, früher noch viel be-
drohlicherer Umstände der entbindenden Frau. Die Segnung konnte von Hebam-
men gesprochen werden, ist aber wohl meist als Brieflein oder Amulett verwendet
worden, das man der Gebärenden unterlegte oder aufgebunden hat. Sie ist zwar
vom Klerus nach alter Tradition fortgeschrieben und teilweise verwendet oder als
Text gegeben worden,2 war aber nicht als Benediktion anerkannt. Über Jahrhun-
derte ist sie mehr im Volk, in den Familien, unter Frauen, Hebammen, Ärzten und
Ammen gepflegt worden.
1 Karlsruhe Badische Landesbibliothek Hs DON 792, fol. 132v, aus der Fürstenbergischen
Bibliothek Donaueschingen
2 Franz, Adolph: Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter, Freiburg 1909, Bd.II, S. 198
Dabei trügt jedoch der Schein einer sorglos anrührenden Idylle. Bruchstückhaf-
tes Wissen um Hygiene und Schmerzlinderung, Prophylaxe und geburtsmedizini-
sche operative Techniken ließen zusammen mit der Erfahrung um hohe Säuglings-
sterblichkeit oftmals eine Atmosphäre bedrohlicher Unsicherheit um gefährdend
Schicksalhaftes für Mutter und Kind aufkommen. Medizinische Irrtümer wie bi-
zarre Gebärpositionen und Gebärvorrichtungen, einschnürende Säuglingswickel
und falsche Stillanweisungen ebenso wie der Pfusch mancher Hebammen waren
katastrophenförderlich.3 Man spürt umso mehr die Absicht spannungsmindernder
suggestiver Beruhigung der Gebärenden durch die evokative Formel. Darüberhin-
aus mögen gelegentlich auch die aus Evangelien genährten Vorstellungen über die
Geburt einer satanischen Gegenmacht zur Verunsicherung der Gebärenden und
ihrer Helfer beigetragen haben (Abb. 34, 35).
Abb. 34 Kaiserschnittentbindung mit Geburt des Antichrist aus der sterbenden Mutter. Ein Sa-
tan zu Füßen leitet den Vorgang, ein zweiter holt die Seele des Kindes aus dem Munde der Mut-
ter. (Aus einem Volksbuch von 1475)
Abb. 35 Schwere Geburt. Der Gebärstuhl konnte nicht genutzt werden. Die Hebamme hat einen
Arzt gerufen. Ein Geistlicher liest Gebete oder Segen. (Kupferstich 18. Jahrhundert)
Diese frühchristliche Formel, auch sie volkstümlich genutzt, bezieht Lazarus ein und
bemüht damit suggestiv die konkrete Wiedererweckung des Toten nach dem Johan-
nesevangelium 11,41–43 als Kontrastelement für die Lebendgeburt eines Kindes.
Die Tonscherbe erinnert an alttestamentlichen Glauben zur Embryonalentwicklung,
an das Geschaffensein „aus Ton“ (Hiob 10,9). Die Vermutung einer Verwandtschaft
zwischen „womb“ und „tomb“, Mutterschoß und Grab, ist nicht zwingend, aber sie
stand wohl oft im Raum. Die seit dem 16. Jahrhundert verbreiteten „Trostbücher“,
in denen die Gebärende ermutigt wird, eine Totgeburt oder den eigenen Tod mit
Freuden hinzunehmen, es sei eine Gleichstellung zu den Märtyrern zu erwarten, er-
4 Betz, H.D.: The greek magical papyri, Chicago 1986, Seite 319 =PGM CXXIIIa, Zeile 50
innern sehr deutlich daran. Die Frankenkönigin Clothilde soll nach einer Legende
beim Tod eines Neugeborenen Gott gedankt haben, daß er sie für würdig befand, ein
Kind zur Welt zu bringen, das er so bald in sein Reich aufgenommen hat.
Auch unsere Schwarzwälder Handschrift, liest man sie weiter, spricht schon im
nächsten Stück diese sehr nüchterne Sprache, indem sie den Tod des Kindes in
Betracht zieht: Ob das kind in der geburt des wibes stirbet. Jtem Nim vier Hand vol
grünen poletey vnd mische das mit altem wine oder esel milch […].
In Texten des 10. und 11. Jahrhunderts soll der Ruf an Lazarus als Zusatz ange-
fügt werden. Ich erwähne zwei fast gleiche Texte aus Trier und Maria Laach. Sie
sind hier kombiniert mit den ausführlichen und weit verbreiteten Maria-Elisabeth-
Formeln, die bis in die Neuzeit geläufig blieben.
5
Bei schwerer Geburt ein sehr bewährtes Mittel. Elisabeth gebar den
Vorläufer, die heilige Maria gebar den Erlöser. Ich beschwöre dich
durch Christus, du seist Knabe oder Mädchen, daß du ans Licht kommst,
weil der Erlöser dich ruft. Alle Heiligen sollen für diese Frau bitten.
Und schreibe auf ein anderes Pergament, auf die Brust zu legen:
Lazarus, komm heraus !
5 Trier Stadtbibliothek, Hs. 40/1018, fol.18v-19r, veröffentl. Roth, F.W.E., Z.f.dt.A 52 (1910),
S. 171, 10. Jahrh.; ähnlich: Maria Laach, Cod.membr. 11.Jahrh., fol.40; beide lat.
6 St. Gallen Stiftsbiblioth. Codex 751, fol. 441, veröff. Heim, Ricardus, Incantamenta Magica
Graeca Latina. In: Jahrbuch für klass. Philologie XIX, Suppl. Band Leipzig 1893, S. 564; zur
Geschichte der Handschrift siehe Bergmann, R. und S. Stricker: Katalog der althochdt. und
altsächs. Glossenhandschr. Berlin u. a. 2005, II,556
bliothek. Man sieht: Mit dem Allererstgeborenen verbanden sich nur Befürchtun-
gen vor der ersten Unperson aus dem menschlichen reproduktiven Organ:
7
Contra matricem. Gegen die Matrix
+ Eua ex matrice peperit chaym Eva gebar Kain aus der Matrix.
+ Elizabeth ex matrice peperit Johannem Elisabeth gebar aus ihr Johannes.
+ Virgo Maria peperit Christum perquem Die Jungfrau Maria gebar Christus,
te adiuro matrix invillosa et maliciose morbe. durch ihn beschwöre ich dich, du
glatte Matrix, du bösartige Krankheit!
Die Verbundenheit Marias als Mutter Christi mit Elisabeth, die mit Johannes eine
Schwangerschaft jenseits fruchtbarer Lebensjahre glücklich ausgetragen hat, dürfte
mehr Zutrauen und persönliche Wärme ausgestrahlt haben als die Erwähnung des
Brudermörders. Das Heimsuchungsmotiv zieht sich bis hinein in die wichtigsten
Medizinbücher, auch die der niederdeutschen Gebiete.8 Ein markantes Sinnbild für
das Verhältnis der beiden Frauen, das die Heimsuchung beleuchtet, liefert ein
Gichtsegen aus dem Zwölf(13-)bändigen Buch der Medizin des Pfalzgrafen Ludwig
V. bei Rhein aus dem 16. Jahrhundert9: Dieser Segen soll „bei den vier hailigen, die
uff zwaien füssen stunden“ wirksam werden. Und obwohl jeder das seltsame Rätsel10
zu lösen vermochte, wird erklärt, „das was (war) Maria, Godtes mutter und Jhesus
Christus und mein frawe Sant Elizabeth und Sanctus Johannes baptista […] Sie reden
zu einander aus zwaier mutter leibe und gelobten das zu einander von rechter lieb“. Wir
waren dem beliebten Zweifrauenbild bereits im Göttweiger Gichtsegen begegnet.
7 Rom Bibliotheca Apost. Vaticana, Hs Palat.Lat. 1245, fol. 39v, veröff. Schuba, Ludwig: Die me-
dizin. Handschriften der Codices Palatini lat. in der Vatik. Bibliothek, Wiesbaden 1981, S. 273
8 siehe die vergleichende Übersicht bei Norrbom, Sven: Das Gothaer mittelniederdeutsche
Arzneibuch und seine Sippe, Hamburg 1921, S. 37
9 Heidelberg Universitätsbibliothek CPG 267, fol.117r, Digitalisat 0239
10 Das poetische Zusammenspiel von 2- und 4-Füßigkeit als Brücke zum Säuge- und zum
Nutztier ist in den indischen Veden vorgebildet, vgl. Schmitt, Rüdiger: Dichtung und Dich-
tersprache in indogermanischer Zeit, Wiesbaden 1967, S. 210f
Als besonders attraktive Vorgeschichte hat eine Handschrift den mithörenden und
direkt als Konsiliarius eingreifenden Erlöser selbst eingebaut, wenn es heißt:
12
Christus hört Geschrei von der Erde her; auf seine Frage berichten Engel, daß ein
Weib leidet, weil sie nicht gebären könne. Der Herr sendet darauf einen Engel mit dem
Auftrag, der Frau ins rechte Ohr zu rufen: Gebäre, Weib, wie Maria Christum, wie
Elisabeth den Vorläufer! Komme heraus, Kind, Christus ruft dich und die Erde erwartet
dich
11 Linz Oberösterreichische Landesbibliothek Handschrift 33, fol. 197r, veröffentl. Helm, Karl,
in: Hess. Blätter f.Volksk. 9 (1910), S. 209
12 zit. nach Franz, Adolph: Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter, Freiburg 1909, II,204
(griechischer Text aus einer Neapolitaner Handschrift von 1495)
13 vgl. bes. Kruse, Britta-Juliane, Verborgene Heilkünste, Berlin New York 1996, S. 13–19;
Bertini, Ferruccio: Trotula, die Ärztin. In: Medioevo al femminile, Rom und Bari 1989,
deutsche Übersetzung u.d.T. Heloise und ihre Schwestern, München 1991, S. 139–163
Andere Geburtshilfen sind den Schriften der Hildegard von Bingen (1098–1179) zu ent-
nehmen. Die visionär begabte Mystikerin, als Ratgeberin für Papst und Kaiser, ja selbst als
Predigerin bekannt, hatte in ihren „Causae et Curae“, d. h. dem Buch der Ursachen und
Behandlung menschlicher Krankheiten das Prinzip der Viersäftelehre des Galen* übernom-
men und weiterentwickelt, indem sie eine „Verkettung“ und Abhängigkeit der vier Ele-
mente voneinander postulierte – im Blick auf die absolute Einheit alles Geschaffenen.
Schwerpunkt der Therapie ist eine intuitiv entstandene, dichterische Kosmologie um Pflan-
zen und Steine. Hildegards Ratschläge bei schwerer Geburt sind Fenchel und Gundelrebe,
die man kochen und dann warm auf Schenkel und Rücken aufzulegen hatte (Causae et
curae). Der auf Buchen wachsende abgekochte und gesiebte Pilz, das auf den Nabel gelegte
Herz eines Löwen sowie Jaspis, der gegen böse Geister in der Hand zu halten ist, alles keine
experimentell-wissenschaftliche, sondern phantasiegeprägte allegorische Imagination, soll-
ten der Gebärenden helfen (Physika, Heilkraft der Natur).
Viele Texte, so schon der genannte Gleinker Segen, griffen auf Verse Vergils zurück.
Seit Kaiser Konstantin ist seine vierte Ekloge der Hirtenlieder (Bucolica) unter
Christen als Prophetie auf die Geburt des Messias gedeutet und bedichtet worden.
Bruchstückhaft verwittert, noch mit Anfangsversen aus der Aeneis geschmückt,
und, wie im zweiten folgenden verflochten mit Elisabeths Entbindung sollten sie
als Brief auf den Leib der Gebärenden gebunden werden:
15
Daz ist den frowen ze chemenaten.
+ Occeanum in terra [interea] surgens Aurora reliquit.
Jam nova progenies de celo [de]mittitur alto.
Panditur interea domus omnipotentis Olympi.
Für Frauen, die zur Entbindung kommen (mittelhochdt. = zur Kemenate gehen)
Unterdessen entschwebte die Morgenröte dem Meere (Vergil Ae. 11,1)
Nun wird neu ein Sproß entsandt aus himmlischen Höhen (Vergil Ekl. 4,7)
Weit erschließt sich indes der Olymp, die Stätte der Allmacht (V. Ae. 10,1)
14 Hildegardis Physika, IV,10; Übertragung nach Franz II,189; zum Umgürten vgl. Grabner, Elfrie-
de, in: Carinthia I,155 (1965), S. 563; zur Stein-Deutung und 4-Säfte-Lehre vgl. Kapitel 33
15 München BSB Clm 7021, 160d, 14. Jahrh. veröffentl. Schönbach, An.gr., S. 39; Übertra-
gung gemäß Ausgabe Joh. und Maria Götte, Berlin 1971, München 1972
16
Panditur in terra Deus omnipotentis olimpi.
Ecce an nunquam simul surgens Aurora relinque.
Ex vulva propera et Johannes infans petet ad lucem +
Auf eine Seltenheit hat Britta-Juliane Kruse17 in ihrer Dissertation 1994 hingewie-
sen. In einer Solothurner Handschrift18 des 15. Jahrhunderts wird empfohlen, die
Formel Maria peperit et non doluit, also Maria gebar ohne Schmerzen, als eine Figur
mit Kreide in eine Schüssel zu schreiben, aus der dann die Entbindende klares
Wasser trinken muß. Die Figur gibt an drei Ecken Kreuze und an einer einen Kelch
wieder:
Ebenso wie Hildegard von Bingen als Volksheilige im Geburtssegen und in from-
men Bräuchen um ihre Reliquien und Devotionalien wirkungsmächtig blieb, man
bedenke etwa auch den Einsatz ihres Haarzopfes für Gebärende,19 so finden wir für
die andere große deutsche Heilige, für Elisabeth von Thüringen (1207–1231) eine
Vielzahl von Wunderberichten: Sie ranken sich zunächst um Heilungen an ihrem
Grab, deren Registrierungen zu einer raschen Kanonisation geführt haben.
16 Heidelberg Univers. Biblioth. CPG 213, fol.96v, 1421, Digitalisat 02000, hier umdeutende
Verschreibungen der Zeilen 1 und 2, vgl. oben; Zeile 3: aus vertrautem Schoße strebt auch
Kind Johannes zum Licht.
17 Kruse, Britta-Juliane: Verborgene Heilkünste, Berlin New York 1996, S. 59f
18 Solothurn Zentralbibliothek Cod. S. 386, fol.165
19 Vita Hildegardis 3,11.12 veröffentl. Klaes, Monika, Fontes Christiani Bd.29, Freiburg 1998,
S. 191f
Einen besonderen Reiz als geburtsförderndes Mirakelobjekt übte der sog. Glas-
becher (auch „Kopf“ genannt) der Elisabeth aus (Abb. 38). Er gehörte zum Reliqui-
enschatz des sächsischen Kurfürsten Friedrich des Weisen und wird um 1540 von
Luther in Wittenberg zu Tisch benutzt. Der „Kopf“ hatte damit zwar seine Heil-
kraft eingebüßt, ist profanisiert worden, aber immerhin blieb der Respekt vor der
von ihm verehrten Frau, denn Luther verwendet ihn nur bei besonderen Anläs-
sen.20 In der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts hatte der „Kopf“ zusammen mit Gürtel
und Löffel der Heiligen bei Geburten im sächsischen Fürstenhaus leichte und ge-
fahrlose Entbindungen erhoffen lassen, war an verwandte und befreundete Fami-
lien immer wieder über weite Strecken ausgeliehen worden.
Einen anderen derartigen „Reliquien“-Verleih hatte es schon zu Beginn des 15.
Jahrhunderts in Köln gegeben. Die Bürgerin Gudula Jude schenkt hier 1403 testa-
mentarisch einen Gürtel, den die heilige Elisabeth getragen haben soll, an St. Maria
im Kapitol; er möge jeder Frau aus ihrer Verwandtschaft bei Geburten herausgege-
ben werden.21
Abb. 38 Der Glasbecher der heiligen Abb. 39 Segnung der Mutter nach Entbindung. Prie-
Elisabeth diente dem sächsischen Kö- ster mit Ministrant. Im Flechtkorb das kunstvoll ge-
nigshaus als wunderkräftige Entbin- wickelte Neugeborene. Vorne rechts eine Helferin
dungshilfe. (vermutlich byzantinisches mit Intarsienband oder Amulettgürtel (?). Lamba-
Glas, 12. Jahrhundert) cher Rituale des 12. Jahrhunderts
20 Blume, Dieter und Matthias Werner (Hg.): Sankt Elisabeth – eine Europäische Heilige, Ka-
talog Erfurt 2007, S. 454 u.U.; Koch, Robert: Der Glasbecher der heiligen Elisabeth in Co-
burg, in: Sankt Elisabeth, Fürstin Dienerin Heilige. Hg.: Philipps-Universität Marburg. Aus-
stellung Marburg 1981/82, S. 272–284
21 Terpitz, Dorothea: Testament der Kölner Bürgerin Gudula Jude, in: Blume, Dieter (ebenda),
S. 406f
Aus der Fülle weiterer volkstümlicher Bemühungen oder, genauer gesagt volkskundlicher
Veröffentlichungen der letzten Jahrhunderte, der Gebärenden zu helfen, sei nur weniges
herausgegriffen. Man verwendet das Gebet zur „Länge unseres Herrn Jesus Christus“, das
„Geistliche Schild“ mit der Offenbarung Christi an die drei Frauen Elisabeth, Brigittä und
Mechtildis oder verschiedene Zauberworte wie I.M.I.K.I.B.I.B.Lit. Dommpervobism oder
einfach die SATOR-Formel. – „Vrnum, burnum, blitbon“ und „Vrium, Burium Pliaten“
sind schon im 15. Jahrhundert in verschiedenen Handschriften verstreut. Die Namen der
hl. drei Könige in einen geteilten Apfel zu schreiben,22 die Applikation eines „Hexenschlüs-
sels“ an den rechten Arm23 und die Inschriften auf ein Messer24 gehen noch mehr in indif-
ferent „magische“ Richtung.
Eine Sonderstellung nehmen volkstümliche hebräische Geburts- und Wochenbett-Be-
schwörungen25 ein. In ihnen begegnen sich gute und böse Mächte wie Elias und Lilith,
Engel und Satan, und es kommen die Namen der alttestamentlichen Ehepaare Adam und
Eva, Abraham und Sarah, Isaak und Rebekka auf Kindbett-Taferln zur Abbildung, um
Schutz zu erwirken.
Es ist müßig, die therapeutische Kraft all dieser volkstümlichen Riten, Amulette
und Formeln für eine schmerzarme Geburt anzuzweifeln. Sie waren immer nur
Signale einer frommen Grundhaltung. Muskuläre Entspannung, Gemütsberuhi-
gung und Zuversicht konnten damit nur im integrierten Verbund aller geburtshilf-
lichen Maßnahmen gefördert werden. Gilt doch auch hier eine Aussage der Hirn-
forschung: Alle Signale, die unser Gehirn treffen, wirken weniger aufgrund ihrer
Beschaffenheit, als durch die Bedingungen, unter denen sie aufgenommen werden.
Nur was für die Hirnzellsysteme wichtig und nach Gedächtnis und dessen Bewer-
tungskomponenten im gegebenen Zeitpunkt nützlich erscheint, kommt an. Mit
anderen Worten: Es ist die Empfängerin, die Bedeutung herstellt.26 Und die Be-
deutungskraft heiliger Worte und Symbole war ihr in manchen Epochen erziehe-
risch und gesellschaftlich intensiv und weitgehend homogen eingeprägt worden.
Kulturfähigkeit und Fähigkeit zu kognitiver Empathie sind genetisch angelegt,
aber ihre jeweilige Ausgestaltung ist nicht genbedingt, sondern wird kulturell ge-
prägt.27 Diese nicht überraschende Einschätzung Alfred Gierers von 1998 wurde
mit der Entdeckung der Spiegelneurone* bestätigt. Sie encodieren auch lokale Tra-
ditionen und helfen bei der individuellen Aneignung der eigenen Kultur. Dabei
werden Einflüsse auch für Sprechenlernen und Sprachverständnis vermutet.
22 Klapper, Josef, in: Mittlg. d. Schles. Gesellsch. Volksk. 9 (1907), 22 (aus Schlesien),
23 Kopp, Andreas: Das Pfuhler Hausbuch, Ulm 1998, S. 111, (aus der Ulmer Gegend)
24 Häßler, Josef, in: Mein Heimatland, 18 (1931) S. 84 (Scharfrichterbüchlein Schwarzwald)
25 Spinner J., Am Urquell 2 (1891), S. 144f; Temesvary, R.: Volksbräuche … Geburtshilfe Un-
garn, Leipzig 1900, S. 69; Grunwald, M., Mittlg. Jüd. Volksk. N.F. 3 (1907), S. 126
26 Roth, Gerhard: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Frankfurt 1997, S. 107, 229
27 Gierer, Alfred: Innovationstheorie und die Evolution menschlicher Fähigkeiten: Beispiel Em-
pathie, in: Nova Acta Leopoldina NF 77 (1998), Nr.304, S. 85–98
Nur den Saum seines Kleides hatte die Frau ganz verschämt von hinten berührt
(Tafel 6) und war gesund geworden. Ihr Name ist nicht überliefert. Sie war blut-
flüssig. So berichten drei Evangelisten übereinstimmend.2 Sie hatte offenbar eine
Menometrorrhagie, d. h. eine verstärkte oder verlängerte Regelblutung, schon seit
12 Jahren. Lukas, selbst ein Arzt,3 und auch Marcus fügen hinzu, wie die Frau
gelitten hat und ihr ganzes Vermögen an Ärzte ausgegeben hat, und es war nur
immer schlimmer geworden. Später hat die Überlieferung sie aus der Namenlosig-
keit befreit, hat sie als Martha, die Schwester des Lazarus angesehen oder nach ei-
nem apokryphen Nikodemusevangelium als Veronika, wegen der Schweißtuchle-
gende. Auch gab es eine legendäre heidnische namensähnliche Berenike oder Bero-
nike, die an der Jordanquelle als Dank für ihre Heilung Christus eine Statue erstel-
len ließ; an ihrem Brunnen wächst eine Heilpflanze.
Eine Erzähltradition um „das wahre Abbild“, die „vera icon“, wie man volkstümlich ihren
Namen auch deutete oder ableitete, knüpfte sich an die Legendenfamilie4 um Kaiser Tibe-
rius und Pilatus, die das Versagen der Ärzte aufgreift. Der kranke römische Kaiser erfährt
1 Prof. Dr. G. Göretzlehner, Rostock, Zbl. für Gynäkologie 127 (2005), S. 301: „Blutung –
muß das sein?“
2 Mt. 9,20–22; Mc. 5,25–34; Lk. 8,43–48
3 Paulus, Kolosser, 4,14
4 Über deutschsprachige Veronikalegenden s. Meyer, Matthias: herre, den duch han ich bihal-
den, in: Fiebig, A. und Schiewer, H.-J. (Hg.): Deutsche Literatur und Sprache 1050–1200,
von einer Frau Veronika und ihrem Wunderheiler, schickt einen Boten nach Jerusalem, er-
fährt vom Kreuzestod Christi, läßt Pilatus nach Rom überführen. Der Kaiser wird geheilt
durch das im Besitz der Frau befindliche Bild, läßt Jerusalem zerstören und bestraft den
Pilatus. Ein Zweig der Legende neigt sich später in die Zentralschweiz.
Abb. 40 Beronice- Blutungssegen aus einem Fuldaer Codex zu Basel (8. Jahrhundert)
5
Beronice, Beronice, Beronice Beronice, Beronice, Beronice!
libera me de sanguinibus, befreie mich von den Blutungen,
deus deus salutis meae et Herr, Gott meines Heils ! Und meine
exultavit lingua mea iustitiam tuam. Zunge wird deine Gerechtigkeit preisen.
+a+e+n+o+l+a+s+e+n+o+l+a+g+l+u+a+
Dieses Gebet, das durch seine Kombination einem Segen nahekommt, besteht aus
vier Elementen: Erstens der dreimaligen Anrufung des Namens der Beronice, zwei-
Berlin 1995, 163–180; über Schweizer Veronika/Pilatus-Legenden s. Lütolf, A.: Sagen und
Bräuche, Lucern 1862, S. 7–14
5 Basel Universitätsbibliothek, Ms.F.III.15a, fol.18r; veröffentl. Lehmann, Paul: Fuldaer Stu-
dien, in: SB Philosoph.-Philologische Klasse, München 1925, S. 47f
tens dem Vers 16 von Psalm 51 (50): „Errette mich von dem blutigen Tod, o Gott,
mein Helfergott, daß meine Zunge jauchzt ob deiner Milde!“ Danach hat drittens der
Aufzeichner eine Hymnenstrophe angefügt, die sich auf die Heilung der blutflüssi-
gen Frau bezieht. Diese frühchristliche Strophe in trochäischem Dimeter,6 also mit
der Bildung von Zeilen aus zwei gleichen Metren, ist der Poesie des Sedulius ent-
nommen, einem lateinischen Dichter des 5. Jahrhunderts. Viertens folgen nach
Sedulius’ Strophe Einzelbuchstaben, deren Sinn noch zu enträtseln ist.
Von Sedulius, ca. 425–450, dessen (unbekannter) Vornamen von der Überlieferung bald als
„Caelius“ oder „Coelius“ himmlisch erhoben wurde, ist biografisch kaum etwas bekannt,
weder seine Herkunft noch sein Amt oder Beruf. Vermutet wird nach dem Wiener Codex
85, daß er ein konvertierter Heide war, getauft von einem Macedonius. Sicher scheint, daß
er Philosophie und Dichtung in Rom lehrte und in Griechenland geschrieben hat. Sein
Dichtungsstil lehnte sich an die römische Klassik, vor allem an Vergil an.7 Seine Osterhym-
nen und Gedichte waren wie die Ambrosianischen Hymnen über Jahrhunderte berühmt.
Die unserem Segen eingefügte Strophe gehört als Hymnus II zu einem Abecedarium, das
also 23 Strophen hat mit Initialen von A–Z, dessen Zeilen 65–68 mit Initiale R. Der Hym-
nus beginnt mit einer Strophe, die Luther als Weihnachtslied in sein Gesangbuch aufge-
nommen hatte: A solis ortus cardine.
Der Fuldaer Segen erinnert zugleich an die anglo-irische Mission. Er findet sich in
ganz ähnlicher Form in einer Londoner Handschrift Royal 2.A.XX und im „Prayer
Book of Aedeluald the bishop“, genannt Book of Cerne, das im 8./ 9. Jahrhundert
geschrieben ist unter dem Einfluss irischer Mönche. Unsere Fuldaer Handschrift
stammt aus dieser Inseltradition; ihre Schrift ist angelsächsisch, aber wahrschein-
lich in Fulda entstanden.8
Bei der folgenden Trierer rituellen Segensanweisung des 10. Jahrhunderts kann
zu Recht gezweifelt werden, ob sie immer nur bei Nasenbluten Anwendung fand;
der Intimbereich wird in den Krankheitssegen im frühen Mittelalter noch nicht
direkt benannt, und allein der Name der Blutflüssigen als Erfolgsgarant dürfte die
gynäkologische Indikation in etwas verdeckter Form bezeichnet haben. Der Trierer
Veronicaspruch ist in seiner Pergamenthandschrift nicht isoliert unter theologi-
schen Texten, sondern steht zusammen mit weiteren Blutungssegen und dem Ste-
phanuspferdespruch.9 Bemerkenswert ist, daß jetzt die exakte Sprache des Evange-
liums mit einer Blutschrift des Namens „Beronice“ zusammenfällt.
6 Für die Bestimmung und Übersetzung danke ich Herrn OStDir. Dietrich Mayer in 92708
Mantel
7 Huemer, Iohannes (Hg.), CSEL, Vol.X, S.163 Wien 1878; Neudruck Wien 2007; vgl. Sprin-
ger, Carl P.E.: Sedulius‘ Pascale Carmen, Diss. Wisconsin-Madison (1984)
8 Lehmann, Paul, wie oben, S. 4f
9 siehe Kapitel 25
10
Ad sanguinem de naribus sistendum. Nasenbluten zu stillen
In Christi nomine in fronte scribis In Christi Namen schreibe mit dem
de ipso sanguine nomen beronicae. (herabfließenden) Blut den Namen
ipsa est, quae dixit: Beronica auf die Stirn. Sie ist es, die
„Si tetigero fimbriam vestimenti gesagt hat: „Wenn ich nur den Saum
domini mei, salva ero.“ vom Gewand meines Herrn berühre,
werde ich gerettet sein“.
Eine solche Blutverschreibung an die Stirn, wie sie aus den Werken des Marcellus*
Empiricus11 im 5. Jahrhundert gut bekannt ist, wirkt auf uns schon wie eine Imita-
tion sakramentaler Riten. Die Verwendung einer Hostie zur Aufschrift einer Siegel-
zeichnung ist es dann auch. Die folgende Prüller Handschrift des 12. Jahrhunderts
vereint diese suggestiven Kräfte. Die uralte Versiegelung als Gottes persönliches Ge-
schenk, abhängig von kulturellen Gestaltungen auf Salomo, Christus oder auf beide
bezogen und mit verschiedensten Zeichen weltweit operierend, wird hier zweckdien-
lich auf Veronica angewandt. Und sie wird in die medizinische Praxis aufgenommen.
Das ist wie in Trier aus der direkten Nachbarschaft mit anderen Krankheitssprü-
chen12 zu schließen. Dieses Veronicasiegel ist als Amulett zu benutzen, gibt aber
gleichzeitig rituelle Anweisung:
13
Contra fluxum sanguinis Gegen Blutfluß
Zentrum: Alfa et ᾡ Alpha und Omega
In nomine patris et filii Im Namen des Vaters […]
et spiritus sancti
in firmitate mea für meine Stärkung
Innenkreis : + Dixit sancta Veronica + Sancta Veronica sprach:
Si tetigero fimbriam vestimenti + Wenn ich den Saum des Kleides berühre
salva ero + werde ich gerettet sein
Außenkreis : in tri bis oblatis scribe auf drei Oblaten schreibe es zweimal
da infirmo comedere gieb es dem Schwachen zu essen
Der Blutschreibritus, nun aber mit dem Wort „Bermicza“ statt Beronike, findet
sich später noch einem der viel stärker verbreiteten Longinussegen angehängt, hier
werden sogar die Schreibinstrumente empfohlen. Nicht auf die Stirn, sondern auf
die Hand ist zu schreiben.
14
scrip daz wort bermicza mit dem selben blute
of des wunden hant mit eyme halme adir federe
Vielfach aber ist der Name der Blutflüssigen entstellt oder bruchstückhaft verstreut
auffindbar, etwa schon im 11. Jahrhundert in einer Fieberbeschwörung eines Münch-
ner Codex, der ansonsten Heiligenlegenden und Hymnen mitteilt: Nach dem kurzen
Fluchtbefehl an das Fieber folgt eine Reihe unklärbarer Zauberworte, die mit einem
„beronice“ anklingen. Man kann sich vorstellen, wie in den Texten der weiteren Jahr-
hunderte immer wieder Splitter und Scherben transportiert wurden:
14 Breslau Univ.Biblioth. Hs.I.F.334, 15.Jh., veröffentl. Klapper, Josef, in: Mitteilungen der
Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde 9 (1907) S. 5–41, hier: S. 7
15 Heim, Ricardus: Incantamenta magica graeca-latina, Jahrbücher für klassische Philologie
XIX Suppl.Bd. Leipzig 1892, S. 525
16 Wien ÖNB Cod. 2817, S. 30a, 1349, Abschrift Schönbach Gießen S. 832,833
17
In nomine domini fuge ab eo N. beronice. Im Namen des Herrn, fliehe von ihm N.
birinice. turlur leodrune. et malifragra. Et ………………………
gahel. et gail. tigloit. tiliot depetonge. Ego Ich bin Alpha und Omega, Anfang und
sum alfa. et. Ω. initium et finis dicit dominus Ende, sagt der Herr.
(Und es folgt eine Zeremonieanweisung mit einer zu schneidenden Fruchtholzrute unter
Anrufung der Heiligen Vitus und Gallus.)
Ebenso ist „Veronika“ auch in die verschiedenen literarischen Stämme und Zweige
der ärztlichen Medizinbücher gelangt, als heilbringender Zaubernamen und verball-
hornt pflanzennah als „Bertonica“ oder legiert im Badischen mit der heiligen Verena
als „Verenouilla“. Und auch dem männlichen Geschlecht kann der Segen gelten.18
Das Veronikaamulett mit seinem Segen erinnert an eine Wunderheilung Chri-
sti, die Selbstverständnis und Würde der Frau und Achtung vor der Natur ihres
lebenspendenden Organs betreffen. Die natürlichen Vorgänge um all das, was
Menstruation bedeutet, haben jahrhundertelang zu Unverständnis bis hin zur Her-
absetzung der Frau geführt. Ihre „Tage“ galten schon den Propheten Israels als
Unreinheit. Wer sie berührte, mußte seine Kleidung waschen und sich baden. Die
Haltung Christi kam einer kulturellen Revolution gleich. Selbst die Jünger finden
es erstaunlich, daß er mit einer Frau spricht.19 Er nahm diese „unreine“ und fremde
Frau, die ihn berührte, nicht nur an, sondern heilte sie durch seine Berührbarkeit,
entgegen dem hebräischen Wortverständnis von „heilig“ als unantastbar (q-d-š).
Auf theologischer Ebene hat christliche Bibelerklärung die Blutflüssige als Symbol
der Heidenkirche verstanden; nach dem Ambrosiuskommentar war nur der Berüh-
rende ein Gläubiger und Christus damit ein Arzt der Kirche, der als Allwissender
selbst von rückwärts berührt werden konnte.
Obwohl Veronika als legendäre Begleiterin der Passion durch ihr Schweißtuch,
durch das sie vom gemarterten Kreuzträger ein „Bildnis“ bekam, in den letzten
Jahrhunderten bei weitem bekannter geworden ist, als in der Funktion der Blut-
flüssigen, sind Beschwörungen und Segen um das Motiv des wahren Abbildes
Christi selten. In einem umfangreichen Augensegen des Gothaer mittelniederdeut-
schen Arzneibuches heißt es an einer Stelle:
20
Deus qui nobis signatum lumen vultus tui, Gott, der du uns mit dem Licht Deines
domine, memoriale tuum ad instanciam Antlitzes gezeichnet hast, gedenke des
Veronice ymaginem tuam sudario inpres- Augenblickes, als du der Veronika im
sam relinquere voluisti […] Schweißtuch dein Bild hinterließest […]
17 München BSB, Clm 18956, Blatt 77b, veröffentl. Steinmeyer, Z.f. dt. Altertum 22 (1878),
S. 247
18 Beispiel bei Telle, Petrus Hisp, S. 189, 341f, vgl. auch dortige Veronika-Amulette S. 179f
19 Joh. 4,27
20 Gotha Forschungsbibliothek, Chart 980, fol. 14b, veröffentl.Norrbom, Sven: Das Gothaer
mittelniederdeutsche Arzneibuch und seine Sippe, Hamburg 1921, S. 78
Um 1400 war Veronika mit dem Schweißtuch, darauf das wahre Abbild, „vera icon“
geprägt ist, dem sie wahrscheinlich ihren Namen verdankt, ein sehr populäres
Pilgerzeichen der Romfahrer und gab Anlaß zur Verbreitung von Andachtsbildern
aller Art. Immer aber blieb im Hintergrund die Frage, ob eine Bildfixierung des
Gottessohnes möglich, respektabel und wahrhaftig sei oder ob vielmehr das mittels
Veronicas Anliegen sanktionierte Gnadenmittel, den Entwurf seines Gesichtsab-
druckes zu bewahren und zu verehren, Anerkennung oder auch Nachahmung ver-
dient. Vielen ging es auch einfach um Belehrung des leseunkundigen Volkes.21
Gelegentlich finden sich in der Neuzeit Amulette in verschiedenen Anliegen
mit der „Vera Icon“. Ich weise besonders auf zwei Armbänder hin, die speziell für
Frauenbedarf, also für gute Entbindung22 und gegen krankhafte Blutungen Ver-
wendung finden konnten. Sie wurden als Teil einer Taufgarnitur nach Familientra-
dition des Besitzers vom bayerischen Kurfürsten dem Freiherrn Max Joseph von
Perfall von Greifenberg geschenkt. In einer der volkstümlichen 12 Miniaturen die-
ser zwei Schutz-und Abwehr-Amulettbänder erhebt Veronika das Antlitz Christi,
in einer anderen begegnen sich Maria und Elisabeth (Tafel 7).
21 vgl. zur Gesamtproblematik der Christusabbildungen: Büchsel, Martin: Die Entstehung des
Christusportraits. Bildarchäologie statt Bildhypnose, Mainz 2007³, S. 8–12 und 152f
22 Münsterer, Hanns Otto: Beiträge zur Amulettforschung. Ein kurbayerisches Geburtsamulett,
in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1966/67, S. 87–94
Bereits in diesem frühen orientalischen Spruchtext begegnet der heilige Blasius, der
bis heute in katholischen Gegenden an seinem Tage, dem 3. Februar als Helfer
bemüht wird. Er ist natürlich nicht mehr Notfalltherapeut, sondern wird vorbeu-
gend eingesetzt und der Segen wird vom Priester gesprochen, nicht vom Arzt oder
Heilkünstler. Der Einbeziehung des Märtyrerbischofs aus der Zeit des Kaisers Dio-
kletian in einen kirchlichen Segen gingen allerdings außerkirchliche Formeln vor-
aus. Sie sind Beispiele für die Übernahme einer an einen Heiligen gebundenen
4
Suemo du kela. virsuillit. Segeno. So einem die Kehle verschwillt. Sprich:
Domine Iesu Christe, per orationem Herr Jesus Christus, durch das Gebet
famuli tui sancti Blasii. Festina in deines Dieners, des hl. Blasius. Eile zu
adiutorium famuli dei .N. et mox in Hilfe dem Gottesdiener N. und erbarme
eam (vel eum) fac misericordiam tu- dich ihrer (oder seiner) zur Ehre und
am ad gloriam et laudem nominis tui, zum Ruhme deines Namens, o Herr.
domine. Dar nach sprich dristunt Danach sprich drei Mal das
Pater noster qui es in celis. s.n.t.. Vater unser, der du bist im Himmel …
(Späterer Nachtrag:)
Oracio sancti Blasii, so ainem der Gebet zum heiligen Blasius, wenn einem
hals oder die Kelle verswild; Hals oder Kehle anschwellen. Bete und
ora et liberaberis. du wirst befreit werden!
Auch die folgenden Formeln des 15. und 16. Jahrhunderts vereinnahmen die le-
gendär schützende Gebetskraft des Heiligen. Der volkstümliche deutsche St. Galler
Spruch ist noch auf Blasius’ Legende und auf Fremdkörper konzentriert:
5
So dir etwas in der Kelen ist gesteckt, so sprich das wortt
O herre Jesu Crist min gott, by dem gebette dines knechtes
sant Blasius ich fordren an dich das du mir komist ze hilff.
Der lateinische Marburger Spruch erweitert die Indikation und nennt verschiedene
anatomische Orte für den Sammelnamen Halskrankheiten. Eine Beschränkung auf
Fremdkörperverlegung ist damit entfallen; der Marburger Spruch schließt nun eine
4 München BSB Clm 23390 fol. 59v, veröffentl. Franz, A.:Benediktionen I, 459; veröffentl.
Wilhelm, Friedrich, Denkmäler deutscher Prosa des 11. und 12. Jahrhunderts, München
1960, S. 50
5 St. Gallen Stiftsbibliothek Codex 755, 15. Jahrh. „Tschudi’s Nachlaß“. Segensammlung
Schönbach Gießen, S. 695 (März 2009 noch nicht digitalisiert)
neue Krankheit ein, die seit Ende des 15. Jahrhunderts als epidemische Halsbräune
oder Diphtherie bekannt wird.6
7
Item bona oratio contra squinanciam. Gutes Gebet gegen Kehlsucht
domine I. Chr., vere deus noster, pro virtute Herr J.Chr., unser wahrer Gott, bei der
tui sancti nominis Iesu et pro oratione beati Kraft deines heiligen Namens Jesus und
Blasii, servi tui, liberare digneris hunc N fa- beim Gebet des seligen Blasius, deines
mulum tuum vel famulam, ab omnibus infir- Dieners, befreie gnädig deinen Diener N
mitatibus gulae et gutturis et vuule [sic] et od. deine Dienerin von allen Krankheiten
aliorum membrorum suorum […] an Kehle, Gurgel, Zäpfchens und seinen
anderen Gliedern […]
Der heilige Blasius wird aber auch für eine Reihe anderer Indikationen herangezo-
gen, besonders im Blick auf seine legendäre Wolfszähmung, bei Tierkrankheiten
und beim Herdenschutz:
9
In nomine domini nostri Jhesu Christi: Im Namen unseres Herrn Jesus Christus
Sanctus Blasius custodiat peccora ista S. Blasius behüte dieses Vieh vor den
a dentibus luporum, a manibus latro- Zähnen der Wölfe, vor den Händen der
num et ab omni periculo. Amen. […] Räuber und vor jeder Gefahr! […]
6 Sudhoff, Karl: Neue Krankheiten, in: Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin 6 (1913),
120–128
7 Marburg Universitätsbibliothek Hs B20, fol. 117b, [neu: Ms.26 (III), Bl. 247v, Mitteilung
10.3.09] veröffentl. Dietrich, F., Zeitschr. für deutsches Altertum und deutsche Lit. 13
(1867) 193–216. hier: 216
8 Heidelberg Universitätsbibliothek CPG 268, fol. 82r, Digitalisat 0169; ähnlicher Text CPG
202, fol. 53r, Digitalisat 0109–0110, zwischen Roßarzneien, 15.Jahrh.
9 München BSB Clm 7021, 14. Jahrh., fol. 158r, veröffentl. Schönbach, A.E.: Eine Auslese
altdt. Segensformeln. Anal. Graec. Festschr. zur 42. Versammlg. Dt. Philologen in Wien
1893. Graz 1893, S. 32
In Formeln gegen Schweinepest,10 gegen das Pirzel, das ist die Pferdewurmbeule,11
in einem Blutungssegen12 und, gar nicht so fernliegend, in einem Segen zum Her-
ausziehen eines Pfeileisens aus Menschenkörpern,13 finden wir den Heiligen als Für-
bitter in Sprüchen des 13. bis 15. Jahrhunderts wieder. Es sind überwiegend gebet-
sähnliche Texte, die keine spezifischen Strukturen haben und die wir hier nicht
ausbreiten.
Mit dem folgenden kurzen Exkurs ist auf zwei Siebenbürger Texte des 19. Jahr-
hundert mit einem Ritus und einem Motiv hinzulenken, die enge Beziehung zum
Hals- und Mundorgan haben, sowohl in sinnbildlicher als in therapeutischer Hin-
sicht: Zunächst sei ein besonders eigenartiger volkstümlicher Text gegen Halsge-
schwüre genannt, eine köstliche Mixtur. Es ist, als werde der Krankheit der Marsch
geblasen und dazu wird die Klangverwandtschaft mit dem Namen unseres Heiligen
als Vertreibungsstrategie eingesetzt. Unter „Ohm“ ist ein Atemhauch, wohl als böse
ansteckende personifizierte Ausdünstung zu verstehen:
14
Gegen Geschwür und Eiterbeulen. Man nehme eine Trompete, halte sie über das
Geschwür und lasse in das Instrument hineinblasen. Der Leidende spreche unterdessen:
Heiliger Blasius, du frommer Knecht, tu mir recht, erhör’ mein Gebet, treib‘ in den
Wald meinen Ohm!
Ist der Leidende eine Mannsperson, so blase ein Weib und umgekehrt. Nach dem
Hersagen des Spruches aber blase die betreffende Person (nicht die Leidende) mit der
Trompete gegen einen Wald zugekehrt einige Stöße.
Ebenfalls aus Siebenbürgen des gleichen Jahrhunderts stammt ein Text, in dem ei-
gentlich Christus das Anhauchen übernimmt. Der Spruch ist junger entfernter
Nachfahre des zweiten Merseburgers. Aber die Möglichkeit oder die Versuchung
für den Heilkundigen, der da in der konkreten Situation spricht und Schweinefett
schmiert, wird offensichtlich. Er übernimmt, den Heiland imitierend, die Wunder-
gabe und setzt selbst zum Blasen, Hauchen und Pusten an. Das ist aus vielen Tex-
10 Niederalteich Cod. Jen. des Necrologium Altahense, fol. 155, 13. Jahrh., veröffentl. Mann-
hardt, W., in: Zeitschrift für deutsche Mythologie und Sittenkunde 4 (1859), S. 418
11 München Universitätsbibliothek Cod. Ms. 691, 74r, um 1465, erwähnt bei Kornrumpf, G.
und P.-G. Völker: Die deutschen mittelalterl. Handschriften der Universitätsbibliothek Mün-
chen, Wiesbaden 1968, S. 172
12 Luxemburg Bibliothèque Nat. Hs 27, fol 157, 14. Jh., veröffentl. Jacoby, Adolf, Segenssprü-
che und Zauberformeln aus Luxembg. Handschriften, S. 6 [Aufsatz in der Sammlung Hugo
Hepding, Gießen, Nr.42]
13 Wolfsthurn Sterzing/Südtirol, Bibliothek v. Sternbach, Handschrift des 15. Jahrh., fol. 123c,
veröfftl. Zingerle, Oswald von: Zeitschr. des Vereins f. Volksk. 1 (1891) S. 172–177, 315–
324, hier: S. 316
14 Wlislocki, Heinrich von: Volksglaube und Volksbrauch der Siebenbürger Sachsen, Berlin
1893, S. 93
ten der letzten Jahrhunderte bekannt.15 Es ist zum üblichen Streichen, Flüstern
und Handauflegen eine überraschende Ergänzung, für den Kranken u.U. ein Ritus
von perturbierender, d. h. emotional aufrührender Wirkung.
16
Gegen Verrenkung:
Jesus kam mit St. Peter geritten, da haben sich die Teufel gestritten;
da brach sich St. Peter das Bein! – Wein‘ nicht, Genosse mein!
Nimm Schmeer und Salz, schmier dein Gebein, schmier dein Fleisch!
Ich hauch‘ es an mit meinem heilenden Mund, und du wirst wieder gesund.
Noch genauer teilt ein Segen des Wolfsthurner Hausbuchs des 15. Jahrhunderts
den Heilritus eines Wundsegens mit. Nach einer Versorgung mit Tüchern und
Pflastern heißt es: Darnach legt im die dawmen kreutzling vber die wunden vnd hebt
euch mit dem mund nahent zu der wunden, dass der attem von dem segen in die wun-
den gee 17
Damit nähern wir uns einer allgemein geläufigen, aber im Bereich der Hals-
und Atemwegserkrankungen noch wenig beachteten Schwellensituation. Dem
gläubigen Christen können die zweckgerichteten Formelgestaltungen heute ebenso
befremdlich vorkommen wie seinerzeit den Kämpfern gegen „Aberglauben“. Das
gilt für den Einsatz des Wunderwirkens Christi in der Heilkunde und für manche
mißbräuchlich verwendete Formel aus dem Alten Testament etwa im Bereich der
Liebeszaubersprüche. Und das gilt für den Gebrauch der Texte um die christlichen
Sakramente. Hier nun aber ist eine tief empfindbare Botschaft um Christi Atem,
seinen letzten Lebenshauch am Kreuz, seine Verbindung zum Heiligen Geist, in
medizinische Therapie eingebunden. Diese Nutzung der Atemhauch-Metaphorik
in der Verbaltherapie verdeutlicht sehr klar, daß das Christentum sich in erster Li-
nie immer als eine therapeutische, also heilende Religion verstanden hat, daß aber
körperliche Gesundung einerseits und Seelenheil als Todesüberwindung und To-
desbereitschaft nicht rigoros getrennt wurden.18 Ein von Predigern auch heute gern
verwendetes Sinnbild ist die Mund-zu Mund-Beatmung als Lebensrettung, wenn an
Gottes Atem am Schöpfungstag, an den Kreuzestod oder an die Anblasung der Jün-
ger durch den Auferstandenen beim Friedensgruß (Joh. 20,22) zu erinnern ist.
Zu Zeiten einer Diphtherie-Epidemie, die oft wie die Pest wütete, war ohne An-
tibiotika eben fast ‚jedes Mittel recht‘. Oberflächlich wird im folgenden elsässischen
Spruch des 15. Jahrhunderts aus einem klösterlichen Gebetbuch der letzte Atem-
hauch des Gekreuzigten zum Heilmittel, indem er die Angina als Person vernichtet.
Aber lag für bewußte und besonders unbewußte Erinnerungszentren des Kranken
15 Beispiele bei Hampp, Irmgard: Beschwörung Segen Gebet, Stuttgart 1961, SS. 20, 22, 48,
142,218,227; vgl. auch Most, Georg Friedrich (Arzt in Rostock): Enzyklopädie der Volksme-
dizin 1843, S. 16f
16 Wlislocki, wie oben, S. 104
17 Wolfsthurn Bibliothek v. Sternbach, Hausmittelbuch, fol.10r
18 vergleiche dazu Kap. C, Christus medicus
und für den Beschwörungssprecher das Thema derart eindeutig vor? Oder konnten
auch Signale an einen eigenen gesegneten Tod unter Berufung auf Christi Sterben
aktiviert werden? An ein Sterben mit ihm im Sinne der Nachfolge? Sicher ist, daß
solch ein Text Alarmierung im Hirnstamm auszulösen vermochte; es ging um Leben
oder Tod.
19
Für das zepffel oder blatt. Gegen das anginöse Zäpfchen
Wo die crütz ston, do mach ein Wo die Kreuze stehen, da mach ein
crütz an den halß vnd sprich: Kreuz an den Hals und sprich:
+ Brich blatt vnd gesperr Verschwinde Angina-Geschwür !
+ das dich der heilige otem derr Der heilige Atem soll dich verderben,
+ der gott vß sinem munde ging der Christus aus seinem Mund ging,
+ do gott sin hymelscher vatter als Gott sein himmlischer Vater
+ sin sel an dem crütz empfing. Amen. eine Seele am Kreuz empfing.
Das oft erwähnte Medizinbuch des Pfalzgrafen bei Rhein enthält mehrere derartige
Segensformeln gegen Halserkrankungen, wobei im folgenden nicht der heilige
Atem zum „Derren“, also zum Verderben, Ausdörren der personal vorgestellten
Angina fungiert. Hier wird Christi Tod, das Ausgehen seines heiligen Geistes mit
dem erwünschten Ausgehen des Blattes (= Angina) parallel gestellt:
20
Ein Segen für das blat in der Kelen
Sprich / Ich beschwer dich blat bei dem hailigen grabe
Do vnser lieber herr Jhesus cristus selb in lage
das du aus müssest gan Als unserm lieben herren Jhesu Cristo
sein hailiger gaist aus gieng als er hieng an dem hailigen fron kreutz
Ein anderer Halssegen bedient sich der Form des Begegnungstyps. Christus trifft
auf den hilfsbedürftigen Kranken, es ist kein Edelmann, sondern ein „Schaucher“,
womit man vom Schächer am Nebenkreuz bis zum Betrüger und Räuber oder ar-
mem Teufel allerhand assozieren konnte. Er ruft, ja er schreit und klagt gegen Gott,
wie es sonst von Hiob geschrieben steht. Es ist eine Anspielung auf den reuigen
Schächer, dem Jesus das Paradies verspricht (Lukas 23,39ff ), der nach der Legende
Dismas hieß und später der Patron der zum Tode Verurteilten und der Henker
wurde. Man spürt wieder, daß sich in diesen Texten angesichts schlechter Progno-
sen z. B. bei Diphtherie nicht mehr nur irdische Hoffnung äußert.
21
Vnser herr stund vnder der kirchthür Unser Herr stand unter dem Kirchentor
Do ginge ein armer schaucher herfür Da kam ein armer Schächer hervor.
19 Straßburg Stadtbibliothek Hs 500, fol. 30v, aus hs. Gebetbuch eines Straßburger Frauenklo-
sters, 15. Jahrh.veröffentl. Lefftz, Joseph, in: Archiv für elsässische Kirchengeschichte 7
(1932), S. 218
20 Heidelberg Universitätsbibliothek, CPG 268, fol. 73r, Digitalisat 0151
21 Heidelberg Universitätsbibliothek, CPG 268, 16. Jh., fol. 79r, Digitalisat 0163, veröffentl.
Schönbach, A.E., An. Graec. S. 41
Verengungen der Kehle mit Erstickungsgefahr sind Notfälle, die des intensiven
Einsatzes bedürfen. Der Versuch, zum Beispiel durch erzählte Bilddarbietungen
zur Angstbearbeitung beizutragen, war in solchen Fällen immer akut wichtig, um
muskuläre Verkrampfung zu lösen. Unter den Bildern standen sich vor allem zwei
Typen gegenüber: Einerseits die alte Vertreibungsstrategie gegen Fremdkörper und
Hindernis, die sich u. a. an die bekannte Legende um den volkstümlichen Heiligen
knüpfte. Schon die Nennung seines Namens und dessen Verbalisierung als „Bla-
seln“ konnte „Anklang“ im limbisch-hippocampalen* System finden. Andererseits
sind seit dem 15. Jahrhunderte Symbole der Leidensmystik aufgenommen worden,
wie wir sie auch in manchen Sprüchen gegen Pest finden. Die Metaphorik des
Unerbittlichen und Ungewissen, des Krankseins auf Leben oder Tod, verankerte
sich im Atemhauch Christi, wobei beides in die Waagschalen des unbewußt prü-
fend-deutenden Amygdalabereichs* ‚gesogen‘ werden konnte, beides: Todeshauch
am Kreuz oder Lebenshauch des Auferstandenen. Weitere Auskünfte über die je-
weiligen Wege oder Irrwege der Hirnpotentiale sind ohne diagnostische Spekula-
tion nicht möglich.
War es ein Mönch, der mit flüchtigem Federstrich im 15. Jahrhundert am Kloster
Mondsee im heutigen Salzkammergut diese Beschwörung hinschrieb? Sie steht auf
den Rändern der schon im 14. Jahrhundert gefüllten Pergamentseiten. Wer hatte
außer den Benediktinern Zugang zum Schreibsaal? Oder hatte der Codex einmal
die Klostermauern verlassen, sodaß ein Laie hineinschmieren konnte?
1
Perunder pawm, Fruchttragender Baum,
ich vmbvach dich, ich umfasse dich,
Sensucht, ich sach dich, Sehnsucht, ich befehle dich
in ir fleisch vnd in ir pain, in ihr Fleisch und Bein
Sensucht, ich sent dich send ich dich, Sehnsucht
dem lieb N. haim dem Lieb N. heim
in irn sin vnd irn můt, in ihren Sinn und Mut,
in ir fleisch v[nd] in ir plůt in ihr Fleisch und Blut.
un[d] m[ů]z dem [lieb] N. Und es möge dem Lieb N.
nach mir ha[im] nach mir
alz we nach mir sein, so weh sein
alz ir m[ů]tter waz, als es ihrer Mutter war,
d[o] sy we[llund] par da sie, sich wälzend,
mit drieffunder wundn mit triefender Wunde gebar
vnd mit smirzunder tunnen. und mit schmerzender Schläfe.
und[iz] m[ů]z dir N. Und es möge dir N.
als we nach mir sein so weh nach mir sein,
alz dem man waz, als dem Manne war
der tot an dem (bricht ab) der tot an dem
Die Beschwörung steht bei einer auch nicht kirchlichen Johannesminne, und es ist
vermutet worden, daß ein Mönch unseren aus dem Volksmund kommenden Lie-
beszauber hier nicht ganz deplatziert hingesetzt hat. Vielleicht sei er auch durch
den Seiten zuvor befindlichen nachgeburtlichen Segen an den Liebesschmerz erin-
nert worden und habe ihn selbst unbeholfen erdichtet. Vielleicht war ihm von ei-
nem Heilkundigen der Spruch mit seinem Ritus gegen Verzauberung, alle Sucht
und Gicht bekannt, der wie im Liebesspruch Leid und Schmerz in Umarmung ei-
nem Fruchtbaum abliefern möchte:
2
Wan ainer Zaubert wär oder Heet sunnst Wenn einer verzaubert ist oder hat sonst
Jücht oder schüß oder darsucht Gicht, Akutschmerz oder Darrsucht (Tbc?)
So gee an ainem Erchtag Pfintztag oder So gehe an einem Dienstag, Donnerstag
sambstag nächt Zu ainem frucht paren pämb, oder Samstag zu einem fruchtbaren Baum,
Vnd Vmbfach den Pämb mit peiden Armen, umfange den Baum mit beiden Armen
Vnd sprich Salliger fruchparer pämb. und sprich: Seliger Fruchtbaum, ich
Jch khumb da Her Zu dier gegangen. komme daher zu dir gegangen.
Jch pin mit 72 Siechthumb vmbfangen Ich bin von 72 Krankheiten umfangen
wer Mier die Hab gethann es sy frau Wer mirs auch angetan hat, ob Frau oder
oder mann, daz mueß auß mainen gepain Mann, es muß raus aus meinen Knochen
Ein unergründliches Rätsel gibt der Abbruch der Niederschrift auf. Aber unsere
vage Vermutung, daß der Schreiber den Fortgang des Liebeszaubertextes und seine
1 Wien ÖNB, Perg.-Codex 1953, fol. 65v und 66r, 15. Jahrhundert, veröffentl. durch Men-
hardt, Hermann, Zeitschr. f. dt. Philologie 71 (1951/52), 365–369
2 Graz Steiermärk. Landesarchiv, Arznei-und Alchemiebuch des Matheus S., Hs 476,fol. 208
von 1587
anderen frech-frommen Varianten sehr wohl kannte, und daß ihm an heikler Stelle
die Feder stockte, dürfte nicht allzu fern liegen und mag ihm zugute gehalten sein.
Hatte man ihn erwischt ? – folgt ja auf der nächsten Seite von ihm noch ein Abra-
cadabraschema ! Oder sollte das ganze eine Korrektur des Spruches unter Ausmer-
zung christlicher Bezüge sein? Spekulationen waren wie vorprogrammiert.
Abb. 45 Liebessehnsucht am Mondsee: „Perunder pawm, ich vmbvach dich …“ Zeichnung Fritz
Klier 2010
Das durch den Bayernherzog Odilo 749 gestiftete Kloster Mondsee befand sich gerade zur
Zeit dieses Eintrages – nach Hermann Menhard war es die erste Hälfte des 15. Jahrhun-
derts – vermutlich in einem instabilen moralischen Zustand. Eine Visitation im Jahre 1435
stellt fest, daß die Mitglieder „vom Wege der Gebote Gottes und den Pfaden seiner Räte
und der heiligen Regel, unter der sie streiten, weit abwichen“. Unter dem Einsatz des Magi-
sters Johannes von Werdea [Wörth], der 1451 dem Kloster beitritt3, der schon an der Wie-
ner Universität die Sittenlosigkeit der Studierenden angeprangert hatte, muß sich hier nun
einiges getan haben. Johannes, oder wie er nun heißt, Hieronymus, soll erfolgreich die
Prinzipien der Melker Reform vorgelebt haben und den „Kampf gegen Welt, Fleisch und
Teufel“, gegen Sinnes- und Augenlust geführt haben. Er war wahrscheinlich eine Zeit lang
Bibliothekar und seit 1463 Prior des Klosters. Vor weltlichen Ausgelassenheiten, etwa den
volkstümlichen Feuerbräuchen am Johannestag hat Hieronymus nachweislich streng ge-
mahnt und zur Abschaffung dieser Feiern und ihrer sündhaften Auswüchse geraten.
Ziemte sich also der Umgang mit einem Erotikzauber, in dem ein Fruchtbaum
magisch in Vereinigungsbegehren als Ersatzpartnerin umarmt wird, der ein heißes
Sehnen aussendet in Fleisch und Blut einer irdischen Geliebten, ziemte sich so et-
was für einen Benediktiner? Mit dem „Lieb N.“ nämlich hatte er sich verraten,
hatte nicht die überirdische Geliebte gemeint, sondern eine beliebig bei Gebrauch
des Spruches einzusetzende irdische Frau „N“. Der Fruchtbaum, das war ja auch
einmal ein Bild der Gottesmutter Maria, das „apfeltragende Holz in der Mitte des
Paradieses“,4 das die Tugenden und Früchte der Liebe hervorbringt, und das war
später bei Mechthild von Magdeburg der dreifaltige Gott, den die Seele umfangen
konnte. In der Minne-Baum-Tradition galt ein entbehrungsreicher Baumaufstieg
als die Tugend zur Erlangung der Unio mystica. Die erotisch wirkende eindeutig
religiöse Mystik kannte freilich auch das dem Hohelied nachempfundene Mund zu
Mund der/s Ungeküssten, das Brust-an-Brust mit Christus und das Bett-Bereiten
des „Minnesiechen“,5 also der/s liebeskranken Asketen(in). Der Umschlag in sexu-
elle Liebe lag nahe: „Ich flehe dich an, komm morgen zur Alten Kapelle. Klopfe nur
leicht an, denn dort wohnt der Kirchdiener. Was dir mein Herz noch verbirgt, offenbart
dir dann das Lager“, heißt es in einem lateinischen Regensburger Liebesbrief des
12. Jahrhunderts unter Rückgriff auf das Hohelied.6
3 Glückert, Ludwig: Hieronymus von Mondsee. In: Studien und Mitteilungen zur Geschichte
des Benediktinerordens und seiner Zweige. N.F. 17 (1930), 99–201; Schwaighofer, Hartwik:
Die ehemalige Benediktinerabtei Mondsee, in: Christliche Kunstblätter 1/2 (1948), S. 3–26,
hier:13–16
4 zit. nach Meier, Christel, Gemma spiritalis, München 1977, S. 154, aus Pseudo-Ildefons =
Paschasius Radbertus, ca.790 – ca. 859, ein Abt, der an der Gründung von Kloster Corvey an
der Weser teilgenommen hatte, seine Schriften waren zugeschrieben an Pseudo-Ildefons.
5 vgl. Mechthild von Magdeburg: „Das fließende Licht der Gottheit“, hrsgg. von Hans Neu-
mann, besorgt von Gisela Vollmann-Profe, München 1990, S. 10, 67
6 Henkel, Nikolaus: Carmina Ratisbonensis, in: Morsbach, Peter (Hg.): Ratisbona sacra, das
Bistum Regensburg im Mittelalter, München Zürich 1989, S. 161f; ob es sich bei diesen und
anderen mittelalterlichen Liebesbriefen um persönliche Korrepondenz oder dichterische Mu-
Nach Meinung des „Hexenhammers“, der 1487 erschien, lag hier eindeutig ein
Mißbrauch vor, weil der Schmerz der Gottesmutter geschmäht ist. Und wie der
Text in seiner Christus anrufenden Version (mit dem verbreiteten Reim „der Mann,
der den Tod am Kreuze nahm“) seinerzeit fortzusetzen war, ergibt sich z. B. aus ei-
ner anderen Liebesbeschwörung des 15. Jahrhunderts, die die Untreue einer weg-
gelaufenen Frau zu verhindern sucht:
7
Ich waiß nit wo du bist,
so schick ich dir unseren lieben herren Jhesu Christ,
das er dir verkund und verbiett und dich wol behüt,
das du mit kaim andern man mugest zu schicken han ( mhd. zu schaffen haben)
die weil du lebst dan on mich allain.
das verbiett dir der man, der tod und marter an dem hailigen crutz nam […]
Man kann die der Treueversicherung und jene der Treueerzwingung dienenden
Texte gesondert heranziehen, ohne daß in ihnen ursprünglich wesentliche Unter-
schiede zu den Sprüchen der Liebeserweckung oder -Erzwingung bei einem be-
gehrten Partner deutlich würden. Beiden Zwecken werden sowohl religiös-bibli-
sche, christlich-lyrische als auch natur-magische Analogiebilder und Zeremonien
dienstbar gemacht. Auch solche Naturbilder kennen wir von den Mystikern(innen):
Bei Mechthild ist es die Stimme des Raubtieres, die das drängende Begehren ver-
sinnbildlicht: „Und mein Herz schmilzet nach deiner Minne, und meine Seele brennt
mit eines hungrigen Löwen Stimme“.8
Im Folgenden hat sich gemäß Aufzeichnung aus einem Inquisitionsprozess eine
verlassene Frau an die „Zauberin“ Anna Durmeigersche von Braunschweig ge-
wandt, ob sie nicht Rat wüßte. Die Meigersche erbittet ihren Trauring, um davon
etwas abzuschaben und es vor den „sul“, die Türschwelle, wo der Mann rüberge-
gangen war, zu streuen. Dann nennt sie seinen Namen und spricht an drei Tagen,
erst bei Sonnenaufgang, dann 2mal bei Sonnenuntergang:
9
Ick se dick na und sende dick na Ich sehe dir nach und sende dir nach
de werden hilligen drefoldicheitt die ehrenwerte heilige Dreifaltigkeit,
dat dw most lopen na dinem echten gaden daß du zu deinem richtigen Weibe
(Heim) (zurückkommen) laufen mußt
euen alse de henne na dem brode genauso wie die Henne nach dem Brote
alse de visch na der flott genauso wie der Fisch nach dem Wasser
alse de hengst na der stoett wie der Hengst nach der Stute,
ster handelt, bleibt unklar. Vgl. dazu auch Worstbrock, F.J., Verf.Lex. zu den „Tegernseer
Liebesbriefen“.
7 Heidelberg Univ.-Biblioth. CPG 691, fol. 79b; veröffentl. Schönbach, An.Graec.(1893), S.
49
8 Mechthild von Magdeburg (wie oben), S. 66
9 Braunschweig Stadtarchiv, Orgichtboecke 11.–20.Juli 1565, Sign.: B I 15:15, S. 413ff, veröf-
fentl. Schütte, O., Zeitschr. d.V. f. Volksk. 15 (1905),180
alse Maria dede na orem herte wie Maria nach ihrem herzlieben Kinde,
leuen kinde, do se id hangen sach da sie es am Galgen des heiligen Kreuzes
am galgen des hilligen crutzes [...] hängen sah[…]
Ein großer Teil der Liebeszaubersprüche operiert autoritär, mit Befehlen und Dro-
hungen; es wird der erwünschten Person der Schmerz der Gottesmutter bei Geburt
oder Kreuzestod Christi zugemutet.10 Es werden Mond und Abendstern angerufen,
die dem/der Ersehnten auf Zunge, Lunge und Leber scheinen sollen, ihm den
Schlaf rauben, ihn verzehren und abmagern lassen.
Älteste diesbezügliche Textenanteile in deutscher Sprache bietet die voluminöse
Sinngrünbeschwörung der Münchner Bibliothek aus dem 14. Jahrhundert, wie sie
beim Ausgraben der Vinca minor gesprochen werden soll. Sie wird bei Gott und
Engeln, bei Sonne und Mond und hebräischen Götternamen angerufen, damit
dem Kraut alle Kraft und Tugend zukomme, eben auch die Erweckung von glü-
hender Liebe:
11
swen ich mit ir treut und chuesse si, Wenn ich mit ihr kose und küsse sie,
daz si in miner minne prinn, daß sie in Liebe zu mir brenne
und also daz wachs zerfleuzzet und wie Wachs am Feuer zerfließe
bei dem fuer und als daz fuer gluewet, und erglühe wie Feuer,
alzo muezze ir herze, ir plut, ir leber, so sollen ihr Herz, ihr Blut, ihre Leber,
ir miltze und elleu ir lider erhaizzen ihre Milz und ihre Glieder hitzen
und prinnen und zefliezzen umbe min minne, und brennen und zerfließen um meiner
und mueg weder slaffen noch wachen, Liebe willen, und sie soll weder schlafen
si gedench an mich. noch wachen, wenn sie nicht an mich denkt.
10 vgl. Siller, Max : Zauberspruch und Hexenprozesse, in: Tradition und Entwicklung, Germa-
nistische Reihe 14, Innsbruck 1982, S. 131 (nur weil die angewünschten „krachenden Len-
den“ der Diebsmutter in einem Diebszauber als gerecht empfundene Strafe vorkommen,
wird der Tiroler Gostner Ende des 16. Jahrhunderts dafür nicht bestraft)
11 München BSB, Clm 7021, (lateinisch und in kürzester Fassung 180d–181a), 165c, 14.
Jahrh., veröff. Schönbach, Studien Altdt. Predigt, S. 142–144
12 Wernigerode Fürstl. Stolberg-Wernigerode Bibliothek, Handschrift Zb 4m des Wernigeroder
Arzneibuches des 16. Jahrhunderts, verschollen seit 1945, aus verschiedenen Textproben ver-
öffentlicht von Kofler, Walter, in: Zeitschr. für deutsches Altertum und dt. Literatur 137
(2008), S. 489–512, hier: S. 503
Abb. 46 Eine Zauberin entfacht Liebesglut am Herzen ihres Opfers. (Jena 1467)
In der dritten Nacht aber, nach Rezitation des Spruches, meldet sich dann „Alraune“ mit
einem anderen Spruch und bedeutet ihr: Fraw, du solt haym gan und solt güetten müet han,
und solt leyden, meyden und sweygen ... damit könne sie einen guten Mann gewinnen;
und, so fährt der Bericht sinngemäß fort, allen Frauen eine Lehre: die Frau tat desgleichen
und der böse Mann war gewandelt.
Die Vetula hatte versteckt im Garten als Alraune mit drei Worten all das ausgespro-
chen, was man heute als strukturelle gesellschaftliche Unterdrückung der Frau
„dem Mittelalter“ vorwirft. Ob solchem Verhalten der Frau die listig schmeichelnde
und verlockende Absicht, die Berechnung also, immer gefehlt hat, wird sich nicht
mehr feststellen lassen. Der ‚Weiberzauber‘ des Walther von Griffen in Kärnten mit
seinen neun Regeln im Umgang mit Männern ist nicht von einer Frau geschrie-
ben.14 Überall begegnet man im Mittelalter dem Gleiten zwischen irdischer und
geistlicher Liebe: Besonders im Minnegesang15 spiegelt sich der stets schroffe Über-
gang ohne eine Zone des Mittelmaßes zur tiefreligiösen Mystik der Frauenklöster
und der ihnen nahestehenden Beginen. Man vergleiche etwa Mechthild von Mag-
deburg in der Mitte des 13. Jahrhunderts.:
16
Wilt du den magetům zieren [...] Willst du deine Jungfräulichkeit zieren
so solt du diemueteclich swigen […] so mußt du demütig schweigen
und minneclich kumber liden[…]. und in Minne Kummer erleiden […].
Die Pflanze ist meist nur literarisches Kunstmittel. Andere magische Mittel, um
dem geliebten Menschen sehnsüchtige Gegenliebe zu bereiten und ihn Hunger
und Durst verlieren zu lassen, sind etwa Wochentagszuweisungen und Zeitmaße.
Sie bauen zusätzlich suggestiv anankastische Treppenbildungen ein, wie im folgen-
den hier gekürzt wiedergegebenen Text der Heidelberger Bibliothek. Er ist nach
Sonnenaufgang zu sprechen:
17
Nim du vil Jhesus Christ wye gleich du N. am suntag der heyligen martter unsers herren
under dein augen pist hewt am suntag morgen am montag hincz erichtag am erichtag
hincz mitteichen hincz phincztag [usw. bis Samstag]. Daz du N. dy ganczen wochen muest
nach mir N. mit ganczen deinem gemüt mit ganczen deinem herczen darren und sochen
(siechen, kränkeln, abmagern) Daz dir N. am phincztag als wind und als weh nach mir N.
sey und geschech als der lieben unser lieben fraw geschach da sy ir liebs chind an dem
heyligen fron chreücz sach da geschach unser lieben frawn so wind und so we und so laid
hundert tausend stund geschech dir N. wirs und laider nach mir.
18 Erfurt Bibliotheka Amploniana, Hs Duodez 17, fol.37b, 14. Jahrh., veröfftl. Schönbach,
Anal. Graec. S. 48
19 Heidelberg Univers. Biblioth. CPG 691, fol.79v, 15. Jahrh., Digitalisat 0166
Bis ins 19. Jahrhundert hat sich die Zuwendung zum Abendstern erhalten, etwa in
der Oberpfalz. Dabei kommt auch die erwünschte Zweisamkeit einer Liebesbegeg-
nung, das Gegenüber von Sichelmond und Stern ins Spiel:
20
Ist der Mond im Wachsen, und steht der Abendstern nicht weit von ihm,
so geht das Mädchen hinaus und stellt folgende Bitte:
Grüß dich Gott, mein lieber Abendstern, ich seh dich heut und allzeit gern
Scheint der Mond übers Eck, meinem Herzliebsten aufs Bett,
laß ihm nicht Rast, laß ihm nicht Rou, daß er zu mir kommen mou.
An welch scharfen Grenzwegen sich jedoch früher all diejenigen befanden, die mit
diesen Texten zu tun bekamen, sie weitergaben, anwendeten oder empfahlen, hatte
sich schon aus der Herkunft des o. g. Braunschweiger Spruches gezeigt. Ich füge
einen Spruch der Stauderin, einer Flachsknüpferin in Augsburg an, der ebenfalls
im Rahmen eines Inquisitionsverfahrens notiert wurde. Die Stauderin hatte weiße
Magie betrieben, war ausgewiesen worden und bekam wenig später ein Kind. Nun
durfte sie zurückkehren und nach einem viertel Jahr wurde sie begnadigt.21 Es
wurde damals 28 mal wegen Hexerei verhandelt und die Urteile fielen vergleichs-
weise mild aus, sodaß das ländliche Umland entrüstet war.
„Die „Zauberer“ in der Bevölkerung hielten nichtschädliche Magie für erlaubt
und nicht für Teufelszeug, es bestand kaum ein Unrechtsbewußtsein. Der Grad des
magischen Wissens auch bei Personen aus den unteren Bevölkerungskreisen kann
als hoch bezeichnet werden. Ohne schriftliche Hilfsmittel konnten die beschuldig-
ten Zauberinnen lange gereimte Formeln memorieren, die auf ein reichhaltiges
Repertoire verweisen.“ „Selbstverständlich wurden nur nichtschädigende Zauber-
formeln zu Protokoll gegeben, die die Harmlosigkeit […] unter Beweis stellen soll-
ten, doch der Übergang zur schwarzen Magie war fließend. Wachsbildnisse, Krot-
ten, Hostien, Nadeln etc. fanden sich bei den Hausdurchsuchungen immer wie-
der“, so der Historiker Wolfgang Behringer.
22
Eine lieb zu haben
Da Gott eintrat in den sal:
Bis mir Gott wilkumen du seliger Mon.
So schein mir heut freund vnd won. (mhd. won = Wohnung,)
20 Schönwerth, Franz Xaver von: Aus der Oberpfalz, Augsburg 1857, I,133 (Neuausgabe Pres-
sath S. 80)
21 Augsburg Stadt, Strafbuch 1588–96, fol.75, daraus veröffentl. Behringer, Wolfgang: Hexen-
verfolgung in Bayern, München 1988, S. 158–159, 185
22 Augsburg Stadtarchiv, Urgichtenakten Anna Stauderin, Flachsknüpferin in Augsburg, vom
23. 7.1590
Was den Einsatz von Hilfsmitteln zur Erlangung eines/r Partners/in angeht, so hat
moderne Klick-Magie alles Frühere bei weitem übertroffen. Trotzdem ist auch für die
hier besprochene Zeit des Mittelalters bei der immerwährenden Brisanz des Themas
mit allem zu rechnen. Manche Befunde sprechen dafür, daß die Menschen des Hoch-
mittelalters sich noch mehr als Geschlechtswesen, weniger als Individuen erfahren
haben,23 deren Beziehung immer auch schon die geschlechtliche Seite einschloß. Zwi-
schen Liebe und Sexualität im heutigen Sinne wurde kaum unterschieden, sodaß Ent-
haltsame schon fast heilig waren. Das hatte sich schon im Frühchristentum gezeigt.
Das älteste Scenario übernatürlicher Gewalt durch Liebeszauber war ein Muster für Schrift-
steller im 2. Jahrhundert. Die heidnischen Eltern der Thekla sexualisierten ihr Verhalten.
„Weg mit dem Zauberer, denn er hat alle unsere Frauen verdorben“. Die später heilig ge-
sprochene Thekla hatte sich von Paulus’ Predigten über Jungfräulichkeit und Auferstehung
mitreißen lassen. „Die Frau, besonders die keusch lebende Witwe war zu jener Zeit zentrale
Gestalt der christlichen Bewegung. Sie war als ein von Natur verletzliches Wesen das „Tor“
sowohl zu Gott als auch zum Teufel; sie war Eva und zugleich Visionärin und trug Anwart-
schaft zum Märtyrium immer in sich“.24
Solch sublime Wege der Veredelung von Sehnsucht waren der heidnischen Antike fremd.
Zeugnisse ihres Liebeszaubers auf Bleitafeln nannten Namen von Absendern und Ersehn-
ten, kannten die geheimnisvollen Schriftwinkel und Zeichen und wurden von ihren An-
wendern wie „Wanzen“ mit performierender Psychowirkung in Mauern eingepflanzt. In
Peiting bei Schongau, in der Kammer einer Villa an der Via Claudia Augusta, will im 2.
oder 3. Jahrhundert ein Clemens seine spröde oder untreue Gemella verzaubern und hält
ihr sein natürliches Verlangen vor. 25 – In Mautern-Favianae an der niederösterreichischen
Donau, etwa zur gleichen Zeit, ist es eine Frau, die Silva, welche ihren Aurelius besitzen will
und die Götter der Unterwelt anruft: Pluto und Eracura. Auf ihrem Bleiplättchen ist sein
Name magisch wirksam umgekehrt, auf dem Kopf stehend geschrieben.26
23 Willms, Eva: Liebesleid und Sangeslust, Liebeslyrik im 12./13. Jahrhundert, München 1990,
S. 163f,
24 vgl. Brown, Peter: Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit
am Anfang des Christentums, München Wien 1991, S. 168ff
25 Nesselhauf, Herbert, Germania. Anzeiger d. römisch-germanischen Kommission des deut-
schen archäolog. Instituts 38 (1960), S. 76–80
26 Egger, Rudolf. Römische Antike und frühes Christentum, Klagenfurt 1967, II, 24–33
infolgedessen „minnesiech“, das heißt „in Liebe krankhaft entbrannt“; sein Verlangen
nicht zu stillen, macht Liebesqual und beißende Sehnsucht, und ist gleichsam Betrug
und Sünde, ja vielleicht einmal fast Vernachlässigung eines armen Kranken. War
doch eine von Constantinus Africanus in Salerno im 11. Jahrhundert übersetzte Vor-
stellung antiker Liebeskrankheit mit psychophysischen Störungen nach Art von Be-
sessenheit in die abendländische Krankheitslehre und in die Minnedichtung gelangt.
Und das Leiden hatte vorwiegend die „Herren der Schöpfung“ befallen.27 Umso hef-
tiger werden die Formeln, wenn der „Dienst des Liebenden“ nicht belohnt wird,
wenn die Spielregeln der strikten Dienst-Lohn-Relation zwischen den Geschlech-
tern, zwischen Gläubiger und Schuldner, nicht eingehalten werden.28
Und so blieb beinahe jedes Mittel anwendbar, bis hin zum trivialen, aber doch
noch milden Einsatz des Kirchgangs und einer Weiheformel der heiligen Messe:
29
Item das dir eini nachgang.
Item wan du in die kirch gast an suntag, so sprich,
Madalena (oder wi si dan heist) gedenk hiut an mich,
als ich [an] dich; das enpeut ich dir pey dem 3. wort,
die der priester ob dem altar spricht,
wan er den zarten frolichnam (heilige Hostie)
unseres herren Jesu Christi zů 3 stucken prich: (bricht)
das erst ist sus, das ander ist milt, das drit ist gůt,
also mues ich dir sin in dinem sin und můtt.
Über all die hier genannen Formeln und Riten hinaus wurden Befehle also oft noch
dringlicher, noch zwingender und zorniger, wenn eine einmal an sich gesunde
Sehnsucht, die nicht mehr rational befragt wird, ihr Ziel verlor und umkippte. Der
im 12. Jahrhundert einsetzenden Wende aus dem allgemeinen Schutzmantel der
Kirche hinaus zu mehr Vereinzelung der Seelen folgte bald eine Entfesselung von
Leidenschaften in beide Richtungen, mystische und magische. Alles freilich nur,
soweit wir das schriftlichen Quellen entnehmen können. Stellenweise perfekt auf-
räumende Rachsucht kam nun von einer ganz anderen, nicht mehr nur privaten
nachbarlichen Seite und bediente sich bevorzugt gerade dessen, was die Denunzi-
anten mitbringen mußten (!), des Satans und seiner Feuersglut und ätzend-ste-
chender Instrumente. Wie so oft in der Geschichte hat sich eine Krankheit für ihre
eigene Therapie gehalten oder ausgegeben. Kausalitätsfahndung, wo Startblock
und Startschuß standen, geriet leicht in Kreisschlüsse. Im Kapitel 18 folgen einige
Texte, die die Systematisierung und Verwaltung von „Liebesglut“ bezeugen.
27 vgl. Jacquart, Danielle: Die scholastische Medizin, in: Grmek, Mirko D.(Hg.): Die Geschich-
te des medizinischen Denkens, München 1996, S. 216–259, hier: S. 258f
28 Willms, E. wie oben, S. 137
29 Chur Staatsarchiv Graubünden, Handschrift B 931, 16. Jahrhundert, veröffentl. durch Jeck-
lin, F.:Proben aus einem Arzneibuch, in: Schweiz. Arch. Volksk. 27 (1927),79
Abb. 47 Liebeskrankheit im Hohelied und christliche Warnung und Weisung. Figurale Bibel-
sprüche (Augsburg 1684)
Im Gegensatz zu den medizinischen Notfällen, auf die die vielen anderen Spruchtexte
zielen und denen eine meist eindeutige Erwartung im limbischen System eines Pati-
enten zu unterstellen ist, bieten angewandte Liebeszaubersprüche eine ganz andere
Grundsituation. Die hier genannten Beispiele zeigen verschiedene Ziele an, die Er-
zwingung von Gegenliebe, von Rückkehr aus Untreue und die Verschonung vor Bru-
talität. Gemeinsam ist ihnen die versuchte Fernsuggestion, wie sie theoretisch bei
expansiv-persekutorischen Syndromen im Rahmen von Psychosen und bei Zwangs-
neurosen vorkommen kann. Der besprochene Partner und Geliebte ist selten anwe-
send; die Beschwörung oder das Gebet richtet sich an eine vermittelnd angerufene
Instanz, ob Himmelskörper, Pflanze und Baum oder Jesus Christus. Schon nach ihrer
archivalischen Herkunft sind die Texte von reiner Stimmungslyrik und Trennungs-
klage weitgehend abgrenzbar, obwohl sie oft deren Elemente enthalten.
Dem Neurologen bieten sie Einblicke nicht allein in die Selektions- und Verar-
beitungsweisen von Gehörtem und Gesehenem und in weitere sensorische „Ein-
gänge“ und ihre Verarbeitung ins Gehirn, sondern in die nur scheinbar produkti-
veren „Ausgänge“. Wir stellen uns einen Menschen voller drängender Gefühle vor,
Gefühle der Wut und der Illusion von Macht, die im Begriff ist, zornig in Ohn-
macht umzuschlagen. Und vor allem: zwanghafter Eifer unerfüllter sexueller Be-
gierde, einer Naturgewalt30 seit Menschengedenken. Gegenüber Primaten sind beim
30 Der Hinweis auf „Natur“ ist historisches Kontinuum der rhetorischen Verweise auf kulturell
Erlaubtes und Verbotenes. vgl. Walter, Tilmann: Unkeuschheit und Werk der Liebe, Berlin
u. a. 1998, S. 483
31 Stoleru, Serge et al.: Brain processing of visual sexual stimuli, in: Psychiatry Research: Neu-
roimaging 124 (2003), S. 67–86
32 Walter, Henrik: Funktionelle Bildgebung in Psychiatrie und Psychotherapie. Stuttgart New
York 2005, S. 315
der heilige geist ist ein liep, der tiuvel zeiget dir ouch sin liep. […]
der heilige geist ist daz viur (Feuer), der tiuvel ist alsame (ebenso).
der tiuvel entvahet (entzündet) daz saflose (dürre) holz
unde swerzet ez zem ersten mit suggestione (Versuchung).1
Zeitlich parallel zu den volkspoetischen oder den der christlichen Mystik nach-
empfundenen Textanteilen des Liebeszaubers sind gleichfalls seit dem frühen 15.
Jahrhundert Sprüche nachweisbar, die nun drastisch mit Hölle, Glut und Teufel
operieren. Ob und welche ihrer Wurzeln mehr römischer Antike oder mehr germa-
nischem Heidentum entspringen, ist unter Historikern angesichts der jahrhunder-
telangen Korrespondenzen bei der Akkulturation der nordischen Völker umstrit-
ten. Dabei geht es um Gewichtung und Transporteure: Hatten gelehrte Schriften
oder hatte der Volksmund von Generation zu Generation getragen, was den Boden
für Wellen der Unvernunft bildete? Denn alles war schon einmal dagewesen. Rö-
mische Dichtung und Zauberpraktiken kennen den Bildzauber mit Nadeln und
Wachsschmelzen, kennen das anorektische Schmachten, das Glühen der Scheiter-
haufen und die Wolfsgestalt.3 Vergleichbare schriftliche Zeugnisse der Germanen4
konnte es nicht viele geben, aber war nur auf Schriftquellen Verlaß? Waren sexuel-
ler Verkehr mit Teufeln und Monstern, Teufelsbuhlschaft und Glaubensabschwö-
rung keine volkstümlichen Erzählstoffe?5 Ging die Dynamik der Repression vom
1 Aus dem St. Trudperter Hohelied, Prolog, 12. Jh., Hg. Ohly, Friedrich, Frankfurt 1998
2 Aus: Kommentar zur Ausstellung Hexen – Mythos und Wirklichkeit, im Historischen Muse-
um der Pfalz, Speyer; FAZ 27.10.2009
3 Luck, Georg: Hexen und Zauberei in der römischen Dichtung, Zürich 1962; Graf, Fritz:
Gottesnähe und Schadenzauber, München 1996
4 Beispiel bei Niederhellmann, Annette: Arzt und Heilkunde in den frühmittelalterlichen Le-
ges, Berlin u. a. 1983, S. 96, (Hg.: Karl Hauck, 12. Band. Die volkssprachlichen Wörter der
Leges Barbarum. Teil III, hrsg. von Ruth Schmidt-Wiegand)
5 vgl. Petz, Wolfgang: Die letzte Hexe, Frankfurt/ New York 2007, S. 110
„Druck der Straße“ und der Dörfer auf die Gerichte aus?6 Die detaillierte Erfor-
schung der „Hexenprozesse“ in den letzten Jahren hat mit großer Übereinstim-
mung ergeben, daß die Bevölkerung mit Nachdruck eine Bestrafung der für wirk-
sam gehaltenen Zauberei verlangt hat. Sicher ist, daß unter den Prozesstorturen aus
Angst vor Schmerzen oft die wildesten Dämonengeschichten aus volksläufiger und
aus kirchlicher Hexentradition konfabuliert wurden,7 daß aber in regional unter-
schiedlichem Grade die prozessentscheidende Teufelsmagie hineingefoltert wurde.
Kaum jemand wird sich freiwillig belastet haben.
Wer sich einen Überblick über historische Forschungsergebnisse zu schaffen versucht, wird
wie selten auf einem Problemfeld eine breite Palette finden und darunter viele von Grup-
pen- und Eigeninteressen gefärbte Abseitsprodukte.8
Halten wir uns an einige der in Archiven verwahrten Spruchtexte, so muß dem
vorreformatorischen Zeitalter der Beginn eines Umkippens vieler älterer Textge-
stalten und Text-Indikationen in magische Teufelspraktiken, in Blasphemie und in
Abb 48 Jenseitsstrafen für Fleisches- Verfehlungen. Leiber in Verstrickung mit Schlangen der
Lüste, Teufel beim Aufräumen mit Spießen: Hinab durch Gluten in den Rachen der Hölle.
Deckengemälde der Kirche in Schmirrn am Brennerpass um 1750
6 Behringer, Wolfgang: Hexerei ist machbar, Frau Nachbar, Rez. zu R. Briggs, in: FAZ 1.10.99,
S. 49
7 Dinzelbacher, Peter: Heilige oder Hexen, Zürich 1995, S. 221
8 Außer den zitierten Autoren sei auf folgende Arbeiten verwiesen: Eine guten Überblick zu
methodischen Ansätzen bei der Erforschung der Hexenverfolgung gibt ein Sammelband, her-
ausgegeben von Christian Degn, Hartmut Lehmann und Dagmar Unverhau (Hexenprozesse,
Neumünster 1983). Einen differenzierten christlichen Rückblick vermittelt Victor Conzesius
unter dem Titel „Die Inquisition als Chiffre für das Böse in der Kirche“ in Stimmen der Zeit
217 (1999), S. 651–668. Für die österreichische Situation hat Heide Dienst (in Zöllner,
Erich (Hg.), Wien 1986) einen wertvollen Beitrag gegeben.
Egozentrik zugeordnet werden, wenn ein stärkeres Anschwellen auch erst später,
z. T. im 30-jährigen Krieg erfolgte. Das betrifft beispielsweise ebenso die Ausfahrt-
segen mit der 3-Blutstropfenbeschwörung und der Verbiegung des Kreuzsegens in
eine satanische 3-Knoten-Praxis wie nun hier die in die Rechtspraxis der Verwal-
tungsstrukturen vorgedrungenen und damit uns überlieferten Hexensprüche.
9 Dinzelbacher, Peter: Die christliche Mystik und die Frauen, in: Beutin, W. und Bütow, T.
(Hg.): Europäische Mystik vom Hochmittelalter zum Barock, Frankfurt u. a., 1998, 13–30
10 Vergleiche das Kapitel 28
11 Liebeszauber der Stammlerin, Stadtarchiv Basel, Leistungsbuch Anno 1407; veröffentl. Bux-
torf-Falkeisen: Basler Zauber=Prozesse, Basel 1868, XI, S. 18
din schlaffen und din wachen, dein Schlafen und dein Wachen,
din essen und din trinken – dein Essen und dein Trinken.
das du min in dinem hertzen daß du meiner in deinem Herzen
ze guettem nyemer moegest vergessen. im Guten kannst nie mehr vergessen.
Dir müsse nach mir werden Dir muß nach mir werden
als wunder we – gerade so überaus wehe
als dem wachsse by dem füre – wie dem Wachs am Feuer.
das helffe mir Lutzifer in der helle Das helf mir Luzifer in der Hölle
und alle sine gesellen. und alle seine Gesellen.
Die Stammlerin wird auf Dauer der Stadt Basel verwiesen zur Strafe, daß sie ihrem
Mann das Gift gab. Außerdem habe sie ein wächsernes Männlein an einem Spieß
gebraten und eben jenen bösen unreinen Segen gesprochen in des Teufels Luzifers
Namen. Das heißt, daß die Strafe auch wegen des Zauberspruches erfolgte. Die
Prozesse jener Jahre hatten, so schreibt Carl Buxtorf-Falkeisen 1868 „gerade in
höchsten Familienkreisen der Stadt, unter Adel und Bürgertum“ stattgefunden und
waren nach seiner Meinung „durchaus von weiblicher Seite ausgehend“. Die Hin-
zuziehung von Ärzten beschränkte sich auf die Frage nach Toxizität; aber auch be-
rühmte Ärzte wie Guy de Chauliac und Ambroise Paré glaubten an Hexen. Nach
mentalen Gegebenheiten von Klägern, Beklagten, Zeugen und Richtern war nicht
gefragt. Der geistige Zustand der Gesellschaft schloß die Existenz von Psychiatrie
aus. (Gesellschaftlich anerkannte Psychiatrie und Hirnforschung können einen
Massenwahn allerdings nicht verhindern.) Adel und Bürgertum waren nicht nur in
Basel involviert. Die Merowingerkönigin Fredegunde, selbst in Zauberkünsten be-
wandert, ließ im 11. Jahrhundert ihre Feinde wegen Zauberei grausam foltern und
töten.12 Kaiser Rudolf II. (1576–1612) wird für einen Zauberer gehalten. Krank-
heiten am bayerischen Hofe und anderen Fürstenhäusern werden auf Verhexung
zurückgeführt.13 Des Kurfürsten Johann Georg IV. von Sachsen Tod 1694 löst ei-
nen Prozess um Satans Feuerspieße aus.14
Der folgende Spruch vermischt die bekannte Bocksreiterei der Hexen mit
christlichem Glaubensgut und korrespondiert also mit den potentiell allgemein
menschlichen ambitendenten Charakteranteilen, die Erfolg um jeden Preis, auch
unter Verlust sittlicher Ordnung anzielen. Die als Hausbuch deklarierte anonyme
Sammelhandschrift des Codex palatinus germanicus 212 der Universitäts-Biblio-
thek Heidelberg stammt „eventuell aus dem Besitz Kurfürst Ludwigs V. von der
Pfalz“; allein schon die Delegierung des Erfolges nicht an göttlichen Willen, son-
dern an den Satan weist bei Zugrundelegung des Fragekatalogs des inzwischen
1487 erschienenen Hexenhammers, des Malleus maleficarum, auf eine Herkunft
12 Blöcker, Monica, Ein Zauberprozess im Jahre 1028, in: Zeitschr. für Schweizerische Ge-
schichte 29 (1979), S. 533–555, hier: S. 534
13 Behringer, Wolfgang: Hexenverfolgung in Bayern, München 1988, S. 170f
14 Ebel, Karl: Allerlei Todes- und Liebeszauber. In: Hessische Blätter f. Volkskunde III (1904),
S. 130–154
des Spruches aus Prozessakten hin. Hier begegnet eingangs die auf dem Zaun rei-
tende althochdeutsche Hagazussa, das Zaunweib, die nordische Zunrite, wie sie in
den Rezeptionen der Jahrhunderte bewundert als helfendes Naturweib und Alles-
wisserin oder verdammt als höllische Verführerin, als Hexe eben, eigentlich bis
heute höchst attraktiv blieb.
15
Gee zu einem Zaunstecken. Vnd sprich
zu einem Zaunstecken, ich weckh dich !
Mein Lieb das wolt ich.
Jch beger vil mer dan alle[r?] teufel her
her zu mir so rür ich dich Zaunstecken.
Alle teufel müssen dich wecken
vnd füren in das haus
do mein lieb geen [ein] vnd aus [:]
das du müssest faren in dy vier wend‘
wo sich mein lieb hin ker’ oder wend.
Es ist aller Eeren wol werd,
Jch sent ir einen Bockh (zum Pferd?)
Jch ruff euch heut alle gleich,
bei den drey negeln reich,
und bey dem rosen farben plut
das gott aus seinen heiligen Wunden floß.
Jch beut euch teufel her,
ir bringet zu mir mein lieb N. her […]
15 Heidelberg Univers.Biblioth. CPG 212, fol.57v, Digital 0124 (16. Jh.), veröff. Mone, Anz. 3
(1834), 278f
16 Goslar Stadtarchiv A 12334, Privata 1533,11
Abb. 49 Fegfeuerqualen. Jede Sünde wird speziell bestraft. Stereotypiedruck (15. Jahrhundert)
Das hätte sie auch befolgt, auch darnach, wie geheißen, ins Feuer gestochert (in dat vûr
stoken) in seinem und in ihrem Namen unter Anrufung des Teufels, der der Liebe Macht
hätte. Aber es hätte nichts geholfen; so bäte sie als ein unglückliches Weib, daß man ihr
dies nicht als Sünde anrechnen wolle
Wegen Verrats der Stadt und Zaubereien wurde Venne „mit dem Schwert vom
Leben zum Tode gebracht“. Die neuzeitliche Einschätzung der Prozess- und Ur-
teilsgerechtigkeit ist bemerkenswert: Prof. Hölscher (1902): „Rabiate Person, denn
wenn es auch durch die Folter erzwungene Geständnisse waren, so möchte doch
kaum ein Zweifel bestehen, daß sie richtig waren“17 – 91 Jahre (1993) später gibt
Ingeborg Titz-Matuszak folgende Einschätzung: Ihr Haß gegen die Stadt, die ihrer
Familie großes Unrecht getan habe (wegen Brachliegens der Gruben verarmt), „ließ
sie mutige und für eine Frau ihrer Zeit ungewöhnliche Schritte (zum Augsburger
Reichstag 1530) unternehmen“. Zaubereivorwurf als Instrument, um mit einer
couragierten Frau fertig zu werden. V.R. „wurde jedenfalls nicht als Zauberin ver-
brannt, sondern „nur“ enthauptet, wegen Verrates der Stadt und Zauberei.“18
Neben der Anrufung des Satans hat ein Teil dieser Belege aus den Inquisitionsakten
eine Strategie, die wohl nicht zufällig gerade an das erinnert, was in den Torturen
geschah und was andererseits über die schmachtenden Körper der frühchristlichen
Asketen, Märtyrer und Märtyrerinnen geschrieben stand, das Blutig-Stechen, Hit-
zen, Glühen und Brennen, wie es die verbreiteten Fegfeuerdarstellungen auch dem
Leseunkundigen zeigten (Tafel 7; Abb. 48, 49). Derartige Texte sind bis in die letzten
beiden Jahrhunderte immer wieder weitergegeben oder abgeschrieben worden.
In Bremen steht 1574 Gesche Meier vor Gericht. Sie zauberte „professionell“,
hatte ein Generalrezept für Liebeskalamitäten und viel Zulauf. Um sich mit einer
Mannsperson zu versorgen, nimmt sie drei Nähnadeln und drei eiserne Nägel und
erhitzt sie in Wasser über dem Feuer. Dabei sagte sie:
19
Hyr steyste yn der glot, Hier stehst du in der Glut
dyn flesk dyn blot. dein Fleisch, dein Blut
Dann nannte sie den Namen des Mannes und fügte hinzu:
dat du kamest balde daß du bald kommen mußt
Eine ganz ähnliche Absicht, ebenfalls im 16. Jahrhundert, verrät ein Text aus Böhmen:
20
Zauberformel zum Erzwingen der Liebe
Item wildu machen das eine kain rueh mag haben den sy thue dainen willen
So schreib auff ein weyss Glass dyse wart
+assoael + mammens + baldus + rebaldus + tausent listiger
vnd leg das glas czu dem feure vnd sprich dise wartt
als hayss das glas ist als hayss sy der n nach mir N Etc.
Bis ins 19. Jahrhundert und nun losgelöst von den Stätten der Inquisition werden
solche Texte in Haus- und Zauberbüchern weitervermittelt. Sie behalten aber die
Allegorien und Analogien der Liebesglut:
21
Wil du daß dier ein Weibsbielt deinen wiellen dutht, so schreibbe Ihren nahmen mit
schwartzem bluth in einen sbüchel (Spiegel). So oft du dreinsiehest So wirth ihre lüben
18 Titz-Matuszak, Ingeborg, Zauber und Hexenprozesse in Goslar, in: Niedersächs. Jahrbuch für
Landesgeschichte 65 (1993), S. 118–120; Romanverarbeitung Hermann Kassenbaum 1926
19 Schwarzwälder, Herbert: Die Formen des Zauber- u. Hexenglaubens in Bremen, in: Heimat
und Volkstum 1958, S. 18
20 Ammann,J.J., Zeitschr.f.dt.Altert. 35(1891), aus Kloster Hohenfurt, Böhmen, Hs Nr.12,
fol.89b,16.Jahrh.
21 Wunsiedel Fichtelgebirgsmuseum C213/2823, Hs Ächtner, 1769/1796
(Lippen) endtzündten. Wielt du es noch besser machen So niem ein Glaß und schreib
ihren Nahmen druff und wierff es in das feuer daß es warm wierd und Sbrich
So Heieß dieses glaß wiert so Heiß mießen Deine lüben / end zünden werden.
Die Formeln der Machtgewinnung über erwünschte Partner, meist aber Partnerin,
und die Symbolik der Mittel und Riten sprechen eine ganz klare Sprache. Es heißt,
sie muß kommen, darf keine Ruhe mehr finden, muß immer heißer glühen, sich
entzünden, muß nachlaufen, sich aufdecken, ausziehen und letztlich willfährig
werden. Dabei ist rhetorisch gesehen oft eine Komparativformel eingebaut, das „Je
heißer – umso heftiger“ und die fiktive Grenzenlosigkeit physischer Potenz für
Wärmeerzeugung imaginiert einen Bumerang-Effekt, ein eher Selbst-Verglühen,
nun nicht mehr unter Torturbedingungen. Kaum ein Zaubertyp vermag besser die
Ohnmacht und Hybris von Wünschen zu verdeutlichen als diese Art des Liebeszau-
bers. Das zeigen auch weitere Texte, in denen die sprachsuggestiven Elemente zu-
gunsten praktischer Zeremonien zurücktreten. Selbst-Betörung durch Glutsteige-
rung, Fundamentlosigkeit auf Eselsohrenschmalz, Unterwerfung unter Nichtigkeit
und Wechselhaftigkeit windiger Haare – das alles kennzeichnet diese Texte schließ-
lich eher als literarische Blüten einer Parodie menschlichen Selbstbetruges.
In seiner Hirschmonografie notiert der Nürnberger Stadtarzt und Paracelsusan-
hänger Heinrich Wolf die in alten Rezeptbüchern geschätzten Hirschsubstanzen als
Liebesmedizin; eine Kerze aus dem Fett des Wildes muß angezündet werden:
22
Ein Licht von eim hirschen (-Unschlitt) zu machen, wens angezint,
das sich die frauenbild entblössen müssen
Ähnliche Anliegen mit komplizierterer magischer Technik sind dem Hausbuch der
Heilerfamilie Johannes Anger im Fichtelgebirge zu entnehmen:
23
Daß dich (sich) eine Aufdecken muß, bis an den Nabel.
Nim Haar von ihr von Kopf, oder sonst von ihren Leib,
und Schmaltz von einen Esels Ohr, und mach es zu Pulver,
und gieb ihrs zu trinken, sie wird sich aufdecken, als wollte
sie ins Wasser. Es soll oft probiert sein.
24
Einen Weibsbild die Liebe zu thun
Daß dir eine muß nachgehen, wo du hin wilt, so nim ein Ey daß an einen Mittwoch gelegt ist,
und schreib deinen und ihren Namen darauf, und legs auf klühende Kohlen, wan es sich erhit-
zet so muß sie kommen, aber, du mußt es in des bösen Namen thun, oder nim Haare drey von
der Stirn, und thue sie mit obigen Wortten in eine Mühlwelle, merck aber, das du weist, wo du
sie hinein gethan hast, wen du sie wiederum aufthun willst, das du sie wiederum kriegst.
22 Aus der Jagdschrift des Nürnberger Stadtarztes Heinrich Wolf, 16. Jahrh, veröff. Telle, Jo-
achim, in: Zeitschrift für Jagdwissenschaft 17 (1971), 78–94, hier: S. 88
23 Marktleuthen Fichtelgeb., Stadtarchiv Bd. 30, hs. Hausbuch Joh. Anger um1787, S. 58
24 ebenda, S. 54, veröffentl. Ernst, W., Zauber, Riten und Rezepte, Weißenstadt 2007, S. 54
Auch dieses magische Liebesrezept ist mit seiner Feueranalogie älteren Arzneibü-
chern nicht fremd:
25
Item (nim) eine ei, das an einem phingstag gelegt worden sy,
scrib darauff iren namen und dinen und facta libatio helitur,
legs fürn für (Feuer), wan die hitz angat, so kumpt si
Abb. 50a/b Liebeszauber mit Teufelsbeistand und Kastrationsangst als Selbstbestrafung bilden
zwei Antipoden sexueller Entgleisung. a) Aquarell (2005) zu einem Spruch des 18. Jahrhunderts:
„Einem Weibsbild die Liebe zu tun …“ b) Patientengemälde bei neurotischer Depression, über
Schlangenbändern ein blindes Auge Gottes
Nicht nur Glas, Nadeln und Nägel, Eier und Kräuter sind zu erhitzen, um die Er-
sehnte für sich zu entflammen, sondern auch Wachs, wie es schon mit anderen
Absichten die Baseler Stammlerin in ihrem Spruch sinnbildlich als Bedrohungs-
mittel einsetzte und wieder anders Birgitta von Schweden in mystisch-liebender
Verzückung: Die Heilige ließ sich flüssiges Wachs auf die Haut tropfen. Im folgen-
den soll eine Tafel Wachs junger Bienen nach erwünschtem Bilde geformt, mit dem
Namen der Ersehnten und mit einer obskuren Buchstabenfolge versehen werden.
Je näher ans Feuer gesetzt, umso heftiger eilt sie herbei:
26
Amore. Item nimm Junckfrauen wax, mach ein Bhild darauß […]
gib im den Namen, wie sie heißt; so du geben wilt;
schreib den bilt die Caracter auf die Brust vorn auf das herz
ff + b + 0 + 2 + d
als dan sez es zu dem feuer. wol heißer dem bilt geschicht
je heftiger sie zu dir eilt und bliebt nit auß
25 Chur Staatsarchiv Graubünden, Handschrift B 931, veröffentl. durch Jecklin, F.: Proben aus
einem Arzneibuch, Schweiz. Archiv f. Volksk. 27(1927),80
26 Birlinger, Anton, Aus Schwaben, (Wiesbaden 1874), I, 462, „Alte Handschrift“, keine Quel-
lenangabe
Sieht man von den einstreuenden christlichen Begriffen, Beglaubigungen und Ge-
betsformeln in diese Texte ab, so sind viele hier versammelten Riten und Befehle
des Liebeszaubers in der Antike sehr breit vorgebildet. Die Wachs- oder Tonfigu-
ren, die Gliederaufzählungen, das Durchbohren von Hirn bis Scham, die brutalen
Forderungen, die Defixionen, also Anbindungen als symbolische Akte erotischer
Unterwerfung. Hier nur ein Beispiel, in dem ebenso wie in den mittelalterlichen
Texten die Beschworene mit Dringlichkeit ihrer lebenswichtigen Funktionsabläufe
beraubt werden soll:
29
Thobarabau teuthraiaiaiao bakao phlen noph ephophthe amou amim bain baara aalo
bainaara aaaaaaa eeeeeee êêêêêêê iiiiiii oooooo yyyyyyy ôôôôôôô. Make fly through air
the soul and the heart of Leontia, whom the womb of Eva bore, and do not let her eat or
drink or get sleep until she comes to me, Dioskouros, whom Thekla bore, now now,
quickly quickly.
27 siehe im Kapitel 17
28 Schlossar, Anton, Germania 36(1891),403, ohne Quellenangabe.
29 Papyrus 9,3 x 9,5 cm, heidnischer Text trotz christlich bekannter Namen, 4. Jahrhundert
nach Christus unbekannter Herkunft, Institut für Altertumskunde Köln, aus: Robert W.
Daniel und Franco Maltomini (Hg.): Supplementum Magicum I, Opladen 1990, S. 155f
zumal wenn verwaltungsmäßig als Reinigung sanktioniert, wurden oft und man-
cherorts bizarr reglementiert. Viele der hier verzeichneten Texte scheinen aus heu-
tiger Sicht die Wirkmacht extrem dualistischer, schizoider und teilweise sado-ma-
sochistischer Verirrungen widerzuspiegeln, die Perversion, die sich für Therapie
hielt. Die Geschichte kennt andere Beispiele aus manchen ihrer Wellentäler mit
kollektiven Bewegungen. Diese psychiatrischen Bezeichnungen sind allerdings un-
angemessen, wenn nicht eingeräumt wird, daß bloße derzeitige Benennungsmuster
nicht in der Lage sind, einst lebendige Menschen in Verstrickung mit ihrem Zeit-
geist richtig erfassen zu können.
Mit Vorliebe wurden und werden diese Zeugnisse von ideologisch färbenden,
historisch skotomisierenden oder von sensationsbietenden Medien und Institutio-
nen instrumentalisiert.
Im Jahre 1922 wurde bei Feldarbeiten nahe dem antiken römischen Lager von
Carnuntum, 40 km östlich von Wien, ein Steinsarkophag gefunden, in dem sich
eingerollte Gold- und Silberplättchen befanden. Eines der kleinen Silberplättchen
ließ das Wort „Sabaoth“ in griechischen Buchstaben erkennen, ein anderes, etwas
größer, ca. 52 x 92 mm, mit grauem Belag und unten abgebröckelt, überraschte
mit einem Textfragment:
1
ПРОСНМІКРА ÜBER HEMIKRA-
ΝΙΝΑΝΤΑVΡΑ NIE ANTAURA
HΞHΛΘΕΝΕΚΤΗC STIEG AUS DEM
ΘΑΛΑCCHCANE MEER, SIE
BOHCENΩC SCHRIE AUF WIE EIN
EΛΑΦΟCANE HIRSCH; SIE ERHOB EIN
KPAΞENΩCBOVC GEBRÜLL WIE EIN RIND;
V∏ANTAAVTH ES BEGEGNETE IHR
APTEMICEΦEC .. ARTEMIS EPHESIA:
ANTAVPA∏O. „ANTAURA, WOHIN
V∏AΓ`EICTOH FÜHRST DU DIE HE-
MIKP….N MIKRANIE?
.HOV .. ICTA. DOCH NICHT IN DIE ….. ?“
’I I ∏A
KA
1 Barb, Alphons: Griechische Zaubertexte vom Gräberfelde westlich des Lagers [Carnuntum],
in: Der Römische Limes in Österreich Heft XVI (1926), Sp.53–68; für Übersetzungshilfe
danke ich Herrn Dr. Manfred Krill, Königstein/Ts.
Die also in der Erzählung auftauchende Plage sucht ein Opfer und wird von Arte-
mis aufgehalten. In unserer Silbertafelinschrift beginnt Artemis damit, Antaura
auszufragen. Es ist, als unterbreche sie die Böse mit dem Namen einer schon ver-
muteten Migränekranken. Dabei übersehe man nicht, daß auch antike Denkweise
als Kampf göttlicher Kräfte über dem ohnmächtigen Menschen mitspielen könnte.
Denn wie dann die auf dem Amulettplättchen geritzte Formel, die leider hier ab-
bricht, fortzusetzen wäre, wissen wir nicht; man bedenke, daß in den griechischen
Zauberpapyri Artemis mit Selene und Hekata im Liebeszauber identisch ist.3
Trotzdem geraten wir in den kräftigen Sog der Fülle von späteren Begegnungs-
segen, die eine typenbildende Fortsetzung der Geschichte von Antaura und Arte-
mis nahelegen. Überall da, wo ein personalisiertes Übel mit einer helfenden Macht
zusammentrifft, entwickelt sich ein Dialog nach dem Muster: Abfrage über Ort
und Art der beabsichtigten Schädigung, Antwort mit Geständnissen, Verbot und
Vertreibung, meist mit exakter Angabe abseitiger Gegenden. Wo die Übel herkom-
men, dahin sollen sie wieder verschwinden. Gleiches wird mit Gleichem vergolten,
mit der gleichen Waffe wird heimgezahlt. Es ist eine Art Mikroexorzismus.
Ein anderer ebenfalls der Migräne gewidmeter griechischer Text der Pariser Bi-
bliothek wurde über 1000 Jahre später niedergeschrieben, wahrscheinlich auf einer
griechischen Insel oder in Kleinasien. Der Spruch läßt die Beharrlichkeit dieses
Therapieschemas genau erkennen. Nur die Personen der Erzählung sind der neuen
Zeit angepasst: Christus begegnet einem Teufelsgeschöpf, auch dies aus dem Meer
steigend wie Antaura. Die Fronten sind nun ganz eindeutig. Der Migräneteufel
wird mit einem Trick klein gemacht; es ist eine Halbierung des Halben, die dimi-
nuierende Gemination, die vermindernde Verdoppelung der Rhetoriker. Und die
ganze Erzählung bekommt als Einrahmung einen gottesfürchtigen Sprecher:
4
Über Migräne (περί τον ήμίκρανον)
Beim großen Namen Gottes des Allmächtigen!
Als der Halbkopfschmerz, das Halbe des Halbkopfschmerzes,
des Teufels Geschöpf, aus den Meerestiefen stieg,
da begegnete ihm unser Herr Jesus Christus und fragte:
„Wohin ziehst du, Halbkopfschmerz, Hälfte des Halbkopfschmerzes?“
Und der antwortete und sprach: „O Herr, was fragst du mich?
Ich ziehe in den Gottesknecht N.N., in seinen Kopf mich
niederzulassen, sein Mark zu martern, seine Augen zu verwirren.“
Es antwortete unser Herr Jesus Christus und sprach zu ihm:
„Ziehe auf den Berg Ararat! Wo der (Kirchen-) Glockenklang
nicht zu hören ist, und nicht des Hahnes Stimme. Dort magst
du essen und trinken, dort nach deinem Sinn handeln!“ –
Christus wurde in Bethlehem in Judäa geboren; Christus wurde
an der Schädelstätte gekreuzigt, Christus erstand wieder an der
Schädelstätte. Fliehe Halbkopfschmerz, Hälfte des Halbkopfschmerzes,
vom Gottesdiener N.N. !
4 Paris Bibliotheque Nationale, Cod. Parisinus 2316, f.319, 15. Jahrhundert, veröffentl. Barb,
A., wie oben, Sp.66–68.
pina“ auftaucht. Ist das ein Eigenname für das Übel wie „Antaura“ und vertritt es
damit auch „Nesso“, den Wurm? Ist es von altfranzösisch „gripe, griper“, = „Über-
griff, Auflehnung“ abgeleitet oder wahrscheinlicher: ists beider Legierung?:
5
In nomine dni tres angeli ambulauer Im Namen des Herrn. Es wanderten drei Engel
sup monte synai / & obuiauer nesie auf den Berg Sinai / Sie begegneten dem Wurm
& sic dixer vbi vadis nessia […] und sprachen : Wohin gehst du Nessia ?
ego vado ad famulum dei N. ossa Ich gehe zum Gottesdiener N., ihm seine Kno-
eius c[on]tun|dere medulla illius chen zerstoßen, sein Mark ihm herumdrehen […]
c[on]torq,re […]
In nomine / dni dei summi adiuro Im Namen des Herrn beschwöre ich dich
te agrippina […] vt non habeas Agrippina, […] daß du keine Macht über diesen
potestatem in istu famulu dei. N. Gottesdiener N. haben sollst.
In den Jahrhunderten bis in die Neuzeit hat sich die gleiche Strategie dieses Typs in
Wurm- und Gichtsegen und ihren Absplitterungen erhalten. Sie boten mit ihrer
Anhäufung von Krankheitsdämonen ein Sammelbecken, wobei in den Schweizer
Drei-Engelsegen im erzwungenen Geständnis der Übeltäter die Kopfattacke noch
an erster Stelle steht.6 Das dürfte dem antiken Schema medizinischer Schriften mit
ihrem „von Kopf bis Fuß“– Register entsprungen sein. Frühe Aufklärer haben alle
Segen, besonders die Menge ihrer Dämonen aufgespießt, „daß man nichts Un-
ziemliches lernen kann“, wie etwa Rudolff Gwerb, Diener der „Kilchen Meilen“
am Zürichsee, der in seiner Schrift von 1646 mittels einer bewußten Verdrehung
der Spruchinhalte (in Spottzetteln) eindringlich warnt:
7
[…] Et centum dämones te possunt asportare. Das ist. Thut dir der
kopff wee, welcher dir pfleget wee zuthun, so falle dir mehr
schmertzen darzu, und dem der dir wol wil oder günstig ist. Thun dir
die augen wee, thun dir die zähn wee, thut dir der leyb wee, vnd der
bauch, so pack dich zum Meer hinab, vnd laß dich besägnen oder
beschweeren, so werden dich hundert Teüfel herauff tragen.
Bis in die gedruckten Zauberbücher der letzten Jahre hinein sind Segen erhalten,
die Kopfschmerzen als Neben- oder Teilerscheinung von „Gicht“, als eines ihrer
Familienmitglieder behandeln, am weitesten verbreitet und immer wieder abge-
schrieben im „Albertus Magnus“-Zauberbuch als Hirn- und Hauptgicht mit dem
Eingang O Gicht, o Gicht, wie marterst du mich, das klag ich Gott über dich […]
Wir begegnen der Kopfschmerz- und Migränetherapie auch im Petruszahnse-
gen als ‚Vermis emigraneus‘ also Hemikraniewurm. Eine echte Migräne ist dann
5 München BSB Clm 27152, 53rv, Codex des 9. Jahrh. mit Segenseintrag im 10.Jh., veröf-
fentl. und kommentiert: Steinmeyer, E. von, in: Zeitschr. f. dt. Altertum 21 (1877), S. 209;
vgl. Bischoff, Bernhard, Schreibschulen I,165
6 Siehe Kapitel 30
7 Gwerb, Rudolff.: Von dem abergläübigen vnd verbottenen / Leüth- vnd Vych besägnen Zü-
rich 1646, S 144
nicht von einem ausgedehnten Zahnschmerz abgegrenzt. Über Diagnose und The-
rapie entscheidet der Wurm: „Warum so traurig, Petrus?“ „ O Herr, es ist ein Hemi-
kraniewurm, der frißt an meinen Zähnen “8
Weithin galten Kopfschmerzen auch als angezaubert und wurden entsprechend
mit Berufungssegen,9 d. h. Verteidigungssprüchen gegen ‚Verzauberung‘ angegan-
gen:
10
Drey dich sahen drei dich wider sahen. daz ain der vater daz ander
waz der sun daz dritt waz der heylig geyst der püezz dir heint waz dir
werre aller maist. piefer und pieferynn (Fieber und Fieberin) und daz
haubtgescheid und allz ir gesind. und allez daz püswirdig an dir sey […]
Und noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbleiben in den meist kurzen Heiler-
sprüchen in Mecklenburg die Formeln des Kurzcredos und der Drei-Frauensegen
auch für Kopfschmerz in Gebrauch:
11
Koppweihdag’, Kopfweh
Christus geboren zu Bethlehem, gefangen zu Jerusalem, getauft am
Jordan, ist so gewiß als mir der Kop stand.
Fluß. Es gingen 3 heilige Mägde übern Weg, die erste schüttet Sand in
den Weg, die zweite pflückt Gras aus dem Weg, die dritte nimmt den
Fluß aus Kopf und Augen weg.
8 Wien ÖNB Cod. 2817, f. 28a, 14.Jh., veröff. Schönbach, Anton Z. f. dt. Altertum 27 (1883),
S. 308; der vollständige Spruch siehe Kapitel 32
9 Spamer, Adolf, Bearbtg. Nickel, Johanna: Romanusbüchlein, Berlin 1958, S. 111: dort als
ältester deutscher Berufungssegen angegeben, aber vgl. Wackernagel, Altdeutsche Predigten,
S. 216: Codex 69, Kloster Muri zu Bozen-Gries (jetzt im Benediktinerkolleg Sarnen): das
Motiv mit Augenbezug bereits im 12. Jahrh.; vgl. Kapitel 22
10 München BSB Cgm 54, fol 96v, Pergament des 14.Jahrh., veröffentl.: Schönbach, Anton, E.:
Zeitschrift für deutsches Alterthum 24 (1880), S. 69f (vermutl. aus der Bibliothek der Fug-
ger)
11 Staak, Gerhard: Die magische Krankheitsbehandlung in der Gegenwart in Mecklenburg.
Rostock Diss. 1930, Nrs. 414 und 598 (aus Neukloster und Ribnitz)
12 Karenberg, Axel, in: Gerabek et al. (Hg.): Enzyklopädie der Medizingeschichte, Berlin 2005,
S. 1037f
den auch seit babylonischen Zeiten Kopfschmerzen meist als dämonische Einwirkungen
behandelt. Zwar gibt es erste Anzeichen neurologischer Symptomaufnahme im berühmten
Papyrus ‚Edwin Smith‘ aus dem Theben des 2. Jahrtausends vor Christus. Es werden Kopf-
verletzungen mit nachfolgenden Gliedlähmungen, Sprachstörungen und Harninkontinenz
beschrieben, also hirnbedingte neurologische Fernsymptome. Aber im allgemeinen haben
die frühen Hochkulturen das Herz als Quelle von Denken und Handeln betrachtet.
In der griechisch-römischen Antike bestanden herzzentrierte und dämonistische Auffas-
sungen neben der seit dem 4. Jahrhundert vor Christus entstandenen hippokratischen*
Schulmeinung. Diese hatte Epilepsie und Apoplexie als Hirnerkrankung mit gestörter Säf-
temischung im Körper betrachtet. Aber Galen* hatte einen im Herzen gebildeten Lebens-
geist postuliert, der in den Hohlräumen (!) des Gehirns gespeichert werde. Für Migräne
nahm er ursächlich ein Aufsteigen schwarzer Galle an. Diese autoritär verankerte Meinung
blieb lange erhalten und wurde von Kirchenlehrern ergänzt. In die Hirnkammern wurden
Wahrnehmung, Vernunft und Gedächtnis lokalisiert. Ein Wissen um den Inhalt des Kopfes
hat es letztlich bis ins 16. Jahrhundert nicht gegeben, bis zu Andreas Vesalius, dem Basler
Anatomen, dessen Familie aus Wesel am Niederrhein stammte, und zu René Descartes in
Paris. Erst spät wurde klar, daß nicht die Hohlräume, sondern die Substanz des Gehirns von
entscheidender Bedeutung ist.
13 Vilmar, A.F.C.: Idiotikon von Hessen. Marburg und Leipzig 1868, S. 89
Sie hätte Sixti Schnaußen Frau das Haupt gemessen vor die bösen dinger.
Was das were, die bösen Dinger? Das wisse sie nicht, die gutten Heiligen, wie
man sie nennt, wann es einem so im Kopf reißt vnd bricht. Näher nach dem Wie?
jenes Messens gefragt, sagt sie, es geschehe dies mit einem Hosenbande, und der
dazu gehörige Segen ist folgender:
Weicht aus Elben und Elbin, hie kombt der liebe herr Jesus Christus
vnd wil zu vns herin, Im Namen des Vaters, des Sohnes und des
heiligen Geistes
14
So die Pilfes verhartet ist, und mit Beten nicht will helfen, muß man
auch aufsieden. Wenn man aber auch aufsieden will, so holle ein
Wasser von ein solchen wär es gut wo Hochzeit und Leichen dariber
gehet, […] sprich also. Ich such Ruh und Rast, Ruh und Rast hab ich
funden ich N: Befehl mich in die h. fünf Wunden. Gieß das heiße
Wasser in ein hölzerne Schüsel setz sie den aufs Haupt, […]
Die uralte Vorstellung von einem durch Projektil angeschossenen oder sich als Dä-
mon selbst anschießenden Übel15 als Hexenschuß, Schußblatter, Geschoss oder
Schüsser findet in der volkstümlichen Kopfschmerzbehandlung ihren Nieder-
schlag. Eine Entsprechung bietet die moderne Nomenklatur der Neurologen mit
dem „Primären Donnerschlagkopfschmerz“ (IHS 4,6). Die Auslösefunktion des
Windes, die ich schon oben als Vergleichselement der Göttinnen erwähnte, als
„Anwart“, oder in anderen Segen „Anwad, Anwand oder Anwahd“ ist als böses
anblasendes Unwesen zu entdecken, das mittels Anwehen schädigt.
16
Es kam eine heilige Frau vom heiligen Land, sie segnet aus die
Brandgeschoß, die Hargeschoß, die heimliche schoß, die verborgene
Schoß, die Leidensgeschoß, die Stechengeschoß, die glänzende geschoß,
die Feuergeschoß und die sieben und siebziger Geschoß, das der nicht
mehr sein – es sein ihr 77 lege dich geschoß im haupt und zeug neun
klaffter tieff unter die Erden und schad weder Menschen noch Vieh,
dazu betet die fünff glauben und fünff Vater-Unser.
17
Für das wilde Geschoß Anwart.
Ich prüfe dich, Anwart und alles, was dich angaht, alles, was dir
N.N. ist, helf dir der lieb’Herr Jesu Christ! Und du, wildes Geschoß,
sollst hinweg in das fließende Wasser gehen.
14 Moro, Oswin: Volkskundliches aus dem Kärntner Nockgebiet, Klagenfurt 1922, S. 47–51,
Bilwis-Sprüche des Wunderarztes „Graf Michl“ von Koflach 19. Jh., hier S. 47; vgl auch den
Spruch im Kapitel 24
15 Schulz, Monika, Magie oder, Frankfurt 2000, S. 72ff
16 Coburg Staatsarchiv, Amtsbücherei F 226, Visitationsbericht von 1613, Beschwerde des Pfar-
rers Moltherus, die Thomasen von Stein hat Segnerei gebraucht, ist ermahnt, abzustehn, hats
auch verheißen
17 Höhn, Heinrich: Mitteilungen über volkstümliche Überlieferungen in Württemberg
Nr.8(Volksheilkunde) in: Württ. Jb. f. Statistik und Landeskunde, S. 286 (1917,1918) Neu-
druck Stuttgart 1980
Ebenso konnten die Begriffe Ungesäng und An-(Ohn)geseng, seit dem 15. Jahr-
hundert für Hautekzeme, Schmerzen und Wunden verwendet, dann auch für
Hitze- und Kälteanfälle18 eingesetzt werden. Kombiniert mit einem auf den Kopf
bezogenen Namen wie Hirngedräng oder mit entsprechenden rituellen Handlun-
gen, z. B. in eine mit Kaltwasser gefüllte Schüssel auf dem Kopf heißes Blei zu
gießen, konnten sie in die Therapie von Migräne Eingang finden. Man entnimmt
dem Ungeseng (Ungesegnet!) unschwer die Fiktion von Gesamt- oder Teil-Ent-
blößung des Körpers durch mangelhafte Segenspraxis, z. B. mit Weihwasser und
damit eröffnete Einfallchance für Schadensgeister. Dabei bestand offenbar wenig
Tendenz zur Spezialisierung auf eine bestimmte Dämonensorte, heißt es doch aus-
drücklich: sie haben Namen, wie sie wollen, daß sie dir N.N. nicht schaden sollen. Die
folgenden Segen finden sich im böhmisch-nordbayerischen Raum:
19
Für das Vngesäng zu Büßen
Ungesäng wilstu mich verlassen, gehe in alle weeg und alle Strassen,
gehe wieder hin in deinen Weeg, wo du hergegangen bist […]
20
Mercke Wan man sagt 77 ger ley gicht so legt man die zwey hände
kreutz weiß eine oben und die andere unten am Arm oder bein, und
streiffet damit über die gelencke vor die gichte, gesichte angesäng
und Hiern gedräng da der Herr Jesus zur Marter gieng seyn Wunder,
Werck am Kreutz anfing nach seinen gottlichen Wesen die Menschen
zu erlesen da trug Er auch der sünden gicht
18 Höfler, Max: Deutsches Krankheitsnamen-Buch, Nachdr. Hildesheim New York 1970, S. 631
19 Cheb (Eger) Okresni Archiv, Inquisitionsakten Fasc. 328 (256?), (Prozeß gegen Magdalene
Ottin von Zettendorf bei Eger 1679, veröffentl. John, Alois, in: Unser Egerland 5(1901), S. 5
20 Wunsiedel Fichtelgebirgsmuseum, C 213/2823, HS Joh. Christoph Ächtner „1769“,
S. 133/134
21 Grabner, Elfriede: Das „Umgürten“ im Heilbrauch, in: Carinthia 155 (1965), S. 548–568
Heilpraxis ist vielseitig angewandt und könnte auf antikes Denken über Idealmaße
zurückgehen. Marcellus* von Bordeaux22 empfiehlt im 5. Jahrhundert nach Chris-
tus gegen Migräne unter anderem ein Gras, das auf Statuen wächst mit rotem Fa-
den in einem roten Tuch auf den Kopf zu binden.
23
Unsere liebe Frau geht übers Land, sie findet einen Kopf, der war ganz
auseinander. Sie nimmt ihn in ihre schneeweiße Hand und drückt ihn
wieder zusammen. Man legte die offenen Hände an beiden Seiten an
den Kopf und deutete das Drücken an.
24
Dein Kopf steht dir offen, dein Kopf ist dir wider zugeschloßen.
Das püße dir der man, der den todt am stammen deß heiligen creutz nam.
25
Für Kopfschmerzen. Die Besprecherin fährt mit der an beiden Enden
verknüpften Schnur über den Kopf. Das Stück zwischen den Knoten ist
das Normalmaß. Erweist sich aber die Schnur als zu lang oder zu kurz,
hat sich der Schädel erweitert oder zusammengezogen. Daher rühren die
argen Schmerzen. Die Besprecherin legt die Hand auf den Scheitel:
Im Namen Jesu und der allerheiligsten Dreifaltigkeit, unseres Herrn
Jesus und des heiligen Petrus! Die haben einen goldenen Pflug [… folgt ein
Wurmackersegen]
Abb. 51 Aus den Visionen der Hildegard von Bingen. Konzentrische Rundformen, Augenlid-
gruppen, Sterne mit Funkenfall und Zickzacklinien wie Burgmauern, die von der Volksheiligen
als bewegte Objekte gesehen und den Zeichnern beschrieben wurden, galten manchen als Sym-
ptome (Skotome) einer ophthalmischen Migräne.
Tafel 1 Christi Taufe im Jordan, flankiert vom Durchzug der Israeliten durchs Rote Meer und
mit Josua durch den Jordan ins „Gelobte Land“. Salzburger Armenbibel (zu Kap. 8)
Tafel 3 Christus heilt einen Fallsüchtigen, Tafel 3 Drei Frauen Ampet, Gemet und Ou-
Luth. Kirche in Krummenau (um 1750) (zu vet, Nikolauskirche Klerant (15. Jahrhundert)
Kap. 11) (zu Kap. 13)
Tafel 4 Wotan heilt Balders Ross mit Wort und Segenshand. Gemälde von Emil Doepler (um
1900) (zu Kap. 25)
Tafel 6 Die Blutflüssige kniet am Saum seines Gewandes. Echternach Goldener Codex um 1030
(zu Kap. 15)
Tafel 8 Steinmalereien einer Wahnkranken. Kein Winkel ihrer Wohnung war frei von archaischen
Fratzen, mit denen sie sich zum Schutz umstellte. (zu Kap. 22)
Tafel 9 Hiob am Mist mit Frau, Freunden und einem peitschenden Satansknecht. Kreuzgang des
Domes zu Brixen. (zu Kap. 31)
Tafel 12 Christus als Arzt und Tafel 12 Christus heilt den Wassersüchtigen (Echternach
Apotheker. Ehemals Kapelle zum Goldener Codex, um 1030) (zu C)
Himmlischen Doktor in Rotholz,
Tirol, um 1800) (zu C)
Das Motiv des Aufschauens zum Fenster hinaus, in den Himmel, in Gottes Haus,
das vielfach in die Spruchtexte eingebaut ist, dürfte für Migränekranke während
eines Anfalls eigentlich eine geradezu quälende Vorstellung sein. Denn die hohe
Lichtempfindlichkeit gebietet einen Rückzug in dunkelste Ecken. Die Spruchhei-
ler haben genau dieses Symptom aufgegriffen und ihren eigenen Blick ins Licht
gelenkt, um kompensierend für den Kranken, gleichsam als Stellvertreter, zum
Himmel und zum heilenden Gotteshaus aufzublicken:
26
Gegen arges Kopfweh. Man muß durch die obere Scheibe eines Fensters an den
Himmel hinaufschauen, dem Kranken beide Hände auf den Kopf legen und
sprechen: Ich schaue zum Fenster hinaus und schaue in das schöne
Gotteshaus wen schau ich an? den allerhöchsten Mann, der dir deinen
Hauptschädel auflösen und heilen kann. /Erkenbrechtsweiler-Nürtingen,
Eine Sonderstellung nimmt sicherlich die Einbeziehung der Dornenkrone Christi
oder der ihr verwandten Kreuzesnägel ein, beides nicht nur für Kopfschmerzsegen
verwendet, aber doch in ihrer lokalisatorischen und schmerzbeschreibenden Paral-
lelität z. B. für den stechenden Charakter einer Trigeminusneuralgie, erwartungsge-
mäß sinnfällig. Nicht zufällig hatte bereits der o. g. Pariser Spruch auf Christi Schä-
delstätte verwiesen.
27
Vor das Kopf Füber so soll man das hemmet ausziehen. Ich zieg aus an
meinen Rechten Arm wie die Juden den herrn Jesum seinen Rock
ausgezogen haben. Ich zieb (zieh) aus über mein Haubt wie die Juden
den Herrn jesum seinen Rock ausgezogen haben. Ich setze an mein Haubt
meine Haube wie die Juden den Herrn Jesum die Dörnerr Grone an sein
Haubt gesetz haben das ein Dorn spitz in Hirn abgebrochen und Stecken
geblieben ist. Da von hielf mir und dir N. vor das Kopf füber. G.V.+
G.S. G.H.G. + 5. V., 5.A. zu ehren der 5 Wunden
– Die große Pestepidemie der Mitte des 14. Jahrhunderts und ihre Folgen –
– Die fatalen vorwissenschaftlichen Ursachenerfindungen –
– Die zahllosen vergeblichen Beherrschungs-Versuche –
– An den Grenzen von Verbaltherapie als Sterbebegleitung –
Von der Pest zu sprechen, ist heute in Deutschland Geschichtsstunde oder Panik-
import; wir kennen sie nur noch aus Sagen, Redewendungen und den Bildern der
Alten und der Historienmaler. Künstler unserer Tage widmen sich dem Kampf
gegen Aids, wie Keith Haring, der selbst mit 28 Jahren an dieser Seuche verstarb.
In seinen Werken stellt er die Unschuld des Kindes und im Tryptichon von St.
Eustache in Paris unverkennbar die des Jesuskindes dar. Er schuf kurz vor seinem
Tod ein Werk, in dem den Gebeten der Betroffenen das Blutopfer und die spiritu-
elle Strahlkraft Christi entgegenkommen (Abb. 52).
Die schlimmste Seuche, wahrscheinlich durch Beulen- und Lungenpest verur-
sacht, soll allein 1348 in Europa ca. 25 Millionen Menschen dahingerafft haben
und schlug immer wieder zu. Ganze Orte und halbe Städte waren entvölkert. In
der Mitte des 14. Jahrhunderts führte sie zu schweren gesellschaftlichen Verwer-
fungen, Weltuntergangsstimmung, Krise im medizinischen Denken und Heraus-
bildung verschiedenster Erklärungsversuche von den Planeten-, Säfte-, Luft- und
Erddunsthypothesen über die Schuldzuweisungen an ethnische und soziale Min-
derheiten bis zu den Vorstellungen von Teufeln und Drachen, vom blauen Rauch
und von „Frau Sterb“, der Zusammenrafferin.
Es dauerte lange bis zu den ersten Ansätzen pragmatischer Ursachenvorstellung.
Noch mit seinem „Scrutium pestis“, der „Erforschung der Pest“, hatte der Jesuit
und Universalgelehrte Athanasius Kircher (1602–1680) im Jahr 1658 ein traditio-
Abb. 52 „Das Leben Christi“, Bronze- Tryptichon (1990) Keith Haring (1962–1990)
nelles Pestbuch1 verfasst, das damals von dem Leipziger Mediziner Christian Lange
herausgegeben, die alten Ideen darlegte. Und doch bot Kircher etwas ganz Neues.
Weniger daß er die Pest auf kleine Würmer zurückführte, das hatten viele, selbst im
Volke schon auch gemeint, sondern indem er eigene primitive freilich noch un-
taugliche Mikroskope benutzte, wurde er geistiger Vorläufer der wissenschaftlichen
Bakteriologie. Im Jahre 1894 hat der Japaner Shibasaburo Kitasato, ein Schüler von
Robert Koch, das Pestbakterium entdeckt, gleichzeitig und unabhängig auch der
Schweizer Alexandre Yersin. Die Pest ist heute noch nicht besiegt, obwohl sie mit
Antibiotika zu behandeln ist; 2008 wurde eine Epidemie aus Madagaskar gemel-
det.
Aus der Zeit der großen Pestepidemie um das Jahr 1348 und danach stammen
mehrere Pestbeschwörungen, Pestsegen und -gebete, von denen ich im folgenden
eine Auswahl aufreihe. Die Zeiteingrenzung ist Gewähr oder mindestens Indiz da-
für, daß es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um Texte handelt, die dieser Indika-
1 Dieterle, Reinhard u. a.: Universale Bildung im Barock. Der Gelehrte Athanasius Kircher,
Ausstellung der Stadt Rastatt 1981, S. 110
tion gewidmet waren. Denn die in ihnen genannten Symptombegriffe sind sonst
oft unspezifisch gebraucht und nicht immer ist die Pest als Pest genannt. Man hat
vermutet, daß der Name Pest wie Pestilenz gemieden wurde, so wie man den Teufel
nicht gern nannte. Geschwür, Drüse und Beule kommen am häufigsten vor, sie
sind aber, wenn nicht gemeinsam genannt und wenn mit anderen kombiniert,
auch bei Wundkomplikationen, Viehkrankheiten und Krebs üblich. Andererseits
ist „Pest“ ein Sammelname für jede Seuche gewesen.
Gut datierbar aus jener tragischen ersten großen Pestwelle der Mitte des 14.
Jahrhunderts ist die Niederschrift der Pestbeschwörung aus der Würzburger Lie-
derhandschrift (Tafel 7), dem Hausbuch des Michael de Leone. Sie steht dort in-
mitten einer Reihe von Gebeten gegen Schelm, jähen Tod und Pestilenz, in denen
Kilian und Sebastian um Fürbitte ersucht werden.
Michael de Leone (ca.1300 – 1355), der diese berühmte Handschrift anlegte, war als Jurist
und Kanzler (Protonotar) der Bischöfe Otto von Wolfskehl und Albrecht von Hohenlohe
eine herausragende Persönlichkeit Würzburgs. Er stand in enger Verbindung zum Stift Neu-
münster und seiner Schule. Er galt als „homo litteratus“, und die Sammlung verschiedener
Minnelieder geht auf ihn zurück. Jeder Besucher des Lusamgärtchens ist mit Michaels tra-
ditionsgeprägter Überzeugung konfrontiert, daß Walther von der Vogelweide hier lebte und
sein Grabmal fand. Die große Pestepidemie, die Würzburg erst 1351 überfiel, hat er noch
miterlebt, und so kam es zu einer reichhaltigen Sammlung diesbezüglicher Texte aller Art.
Darunter findet sich auch eine Abschrift des Pariser Pesttraktats und ein Abschnitt aus ita-
lienischer Quelle, der sich gegen die Gestirnsätiologie richtet. Darin sind erstmals Forde-
rungen nach einer sozialmedizinisch und hygienisch orientierten Kooperation zwischen
Ärzten und Gemeinwesen enthalten.2 – Würzburg war auch eine der ersten deutschen
Städte mit einem Totentanz, und das Volk nennt den um 1350 entstandenen Christus im
Neumünster mit den vorn verschränkten Armen den „Pestchristus“ oder das „Pestkreuz“.
3
Fur die drůse vnd den schelmen. +
JN namen des uaters. suche ich dich + Jn namen des suns. vinde ich dich +
in namen des heiligen geistes vertribe ich dich +
Jch beswer dich drůs vnd geswer. bie dem heiligen sper.
vnd bie den heiligen drἱn nageln die got durch hende vnd durch fuzze worden geslagen.
vnde durch des heligen Cruczes ere. daz du wollest widerkere. vnd disem menschen N.
nicht wὁllest schaden. als werlichen als daz gotes menscheit an dem heligen fronen
cruce erstarp. amen. +
2 Sudhoff, Karl: Pestschriften aus den ersten 150 Jahren nach der Epidemie des „schwarzen
Todes“ von 1348, in: Archiv für Geschichte der Medizin 5 (1912), 36–87, hier: 83–87
3 München Universitätsbibliothek Cod.ms.731 (= Cim.4), fol. 7vb Hausbuch Michaels de
Leone, Band 2 (Würzburger Liederhandschrift) Pergament, ca. 1345–1354, veröffentlicht
Kornrumpf, Gisela und Paul-Gerhard Völker: Die deutschen mittelalterlichen Handschriften
der Universitätsbibliothek München, Wiesbaden 1968, S. 78; Tafel 7 zeigt einen Ausschnitt
von fol. 7vb, Zeile10–22
Der zweite Teil ist vorgebildet im Roßtrittsegen des Einsiedelner Codex 730,
Bl.47v, der aus Meister Albrants Roßarzneibuch schöpft und dessen Entstehung
von Gerhard Eis dem 12. Jahrhundert zugerechnet wurde.5 Dieser Segen hatte
schon seine Gebrauchsanweisung vom Pferd auf Mensch und Rind ausgedehnt.
Dem zweiten Teil des Würzburger Segens entspricht auch ein aus einer Hand-
schrift des Augsburger Benediktinerklosters St. Ulrich und Afra6 stammender Text,
dessen praktische Therapieanweisung erstaunlich ist. Es sollen die Daumen auf das
Geschwür gelegt werden. In einer Parallelfassung der Marburger Bibliothek,7 auch
sie nach dem Wortlaut auf älteren Fassungen aufbauend, soll das Geschwür sogar
mit Speichel befeuchtet werden. Damit wäre der Kranke berührt worden; an Infek-
tionsschutz ist nicht gedacht. Wenn sie überhaupt für echte Pest verwendet wur-
den, kann man vermuten, daß die Erfahrungen mit ihr noch nicht gereift waren
und daß ältere Formeln bedenkenlos und überstürzt herangezogen worden sind. In
einem Spruch des Nürnberger Medizinbuches ist dagegen ein Distanzgebot einge-
baut. Hier zunächst die Augsburger Formel:
Fur die trüsen. Für die Drüsen
Fliuch trüs vnd geswer. Fliehe, Drüse und Geschwür;
daz piut ich dir pey dem hailigen sper. ich gebiete dir beim hl. Speer,
daz vnserm herren durch sein hailigen der unserem Herrn durch seine hl.
seitten wutt. Seite drang.
daz du gewinnest weder aitter noch plutt. Daß du weder Eiter noch Blut gewinnst
4 Sankt Gallen Stiftsbibliothek, Cod. 550, fol.55, veröffentl. Piper, P., Germania 25 (1880),
S. 70
5 vgl. Kapitel 7
6 München BSB Clm 4350, fol. 38r, Abschr. Schönbach Segensammlg. Gießen, S. 587 (1/10
kein Digitalisat)
7 Marburg Universitätsbibliothek Ms 26 (Sammel-Hs.: Alchemie, Rezeptare, Alb. Magnus,
olim B.20, Bl.110b)
Der folgende Nürnberger Segen des 15. Jahrhunderts8 ist noch in einer weiteren
Hinsicht interessant. Er weist auf die Austauschbarkeit und Anpassung der
Spruchtexte. Man kann das immer wieder beobachten, z. B. auch an einem Drei-
Engel-Segen der Basler Pergamenthandschrift B v 21, Bl. 120v des 13. Jahrhun-
derts, der vor die Symptomaufzählung seiner Vorgängersprüche, also vor „nessia,
nagedo, stechedo“9 ein „male pestilencie“ einfügt.10 Hier am Nürnberger wird
besonders deutlich, daß ein ursprünglicher Wundsegen jetzt mit „aller Pest“ titelt;
er soll nur dann nicht vom Kranken selbst gesprochen werden, wenn der es nicht
mehr vermag, und er schließt nach Art eines Longinus- bzw. Dreibrüdersegens:
Ditz ist aller pest wundenseg Dies ist aller Pest Wundsegen
vnd ist bewert. […] und ist bewährt. […]
So man in hab gesegnet, so sol Wenn man ihn, (den Kranken), gesegnet hat,
der darnach die wunden nit an ruren so soll man seine Wunden danach nicht
[…] berühren […]
er soll auch sein hende zwahen, Er, (der Kranke), soll auch seine Hände falten,
wenn er in sprechenn will: wenn er ihn sprechen will:
Inn dem namen des vatters vnnd
des suns vnd des hailigen geists, amen.
Der got, der wein vnnd wasser hat beschaffen,
der heile die wunde von grunde vnncz oben auß
in gottes namen, amen. Ich segenn dich wunden gut,/
mit des hailigenn Cristus plut. […]
Ebenfalls auf die Zeit der großen Pestepidemie ist der folgende exklusive lateinische
die Pestbeule beschwörende Segen der Wiener Handschrift 281711 datiert. In seiner
einleitenden Therapieanweisung für den lateinunkundigen Benutzer erklärt er zu-
nächst, daß die Geschwulst, wenn sie rot ist, driuunculus heißt, eine Übersetzung
von „Schelm“ ins Lateinische als Zusammenziehung aus Trifur (dreifacher oder
Erzdieb) und Furunculus (Spitzbub, kleiner Dieb). Ein phantasiebegabter Arzt
dürfte das Geschwür als Blutansammlung um einen Eiterherd herum mit dem
Geiztrieb der Winzer verglichen haben, als Raubmörder am Säfteetat des Körpers.
Denn die Pest „schleicht wie ein gedungener Meuchelmörder, bedeckt mit der be-
8 Nürnberg Stadtbibliothek Codex Amb.55, fol. 165r-166r, Nr. 537, 15. Jahrh., veröffentl.
Telle, Joachim: Petrus Hispanus in der altdeutschen Medizinliteratur, Diss. Heidelberg 1972,
S. 364
9 Vgl. Kapitel 30
10 vgl. Steinmeyer, Elias, Zeitschr. f. dt. Altertum 17 (1874), S. 560
11 Wien ÖNB Hs 2817, f.30b, aus dem Jahre 1349; Abschrift Schönbach, Segensammlung
Gießen, S. 835
trügerischen Larve des Friedens still umher, und mordet auf einmal, ehe man es
versieht“.12
In der Mitte stehen Teile des Psalms 91. Es ist ein um Schutz bittender Psalm,
denn der Herr „errettet dich vom Strick des Jägers und von der schädlichen Pestilenz“
[…] „Denn er hat seinen Engeln befohlen, […] daß sie dich auf den Händen tragen
und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest. Auf Löwen und Ottern wirst du gehen
und treten auf junge Löwen und Drachen“; diese Symbolgebung ist heikel, weil sie
dem Betenden durch Risikoausmalung hohes Vertrauen abfordert und an die Ver-
suchung Christi erinnert. Man hat tiefenpsychologisch die Gefahr erkennen wol-
len, Eigenverantwortung dem Satan, hier eben einem Krankeitsdämonen abzuge-
ben.13 Wenn dem so ist, dann müßte die Absicherung besonders kräftig ausfallen.
Und tatsächlich wird das Psalmfragment im Spruchtext flankiert von gleich drei
Trinitätsformeln, die den Problemfall schrittweise umzingelnd vernichten sollen.
Es ist hohe Kunst in Gebrauchsdichtung. Der Segen lautet:
+ Jn nomine patris inveni te Im Namen des Vaters hab ich dich gefunden
+ Jn nomine filii circui te im Namen des Sohnes umkreise ich dich
+ Jn nomine spiritu sancti delebo te Im Namen des hl. Geistes werde ich dich
vernichten
Et super aspidem et basiliscum Und über Schlange und Basilisk wirst du
ambulabis et conculcabis leonem et schreiten, den Löwen und Drachen zertreten
draconem et velut leonem conteram te und wie den Löwen werde ich dich zermalmen
Neben der Verbaltherapie nutzt der Segen auch eine Sudapplikation; auf die Ge-
schwulst sollen Seife, Salz, Harn und Liebstöckelkraut kommen. Und er schließt
mit einem Kurzcredo und der Anrufung der Heiligen Calixtus, Blasius, Christo-
phorus und Barbara. Einen sehr ähnlichen Segen hat das Nürnberger Arzneibuch14
des 15. Jahrhunderts, das gleichfalls und in gut verwandten Texten15 aus der Tradi-
tion des Meisters Bartholomäus schöpft und von den empirisch therapeutischen
Texten des Petrus Hispanus durchtränkt ist.
12 Niederhuber, Ignaz: Abhandlungen über die jetzt epidemische herrschende Viehseuche, der
gelbe Schaden genannt, München 1790, S. 18
13 Wachinger, Lorenz: Spiegelung und dunkles Wort. In: Becker, H. und R. Kaczynski (Hg.):
Liturgie und Dichtung II, St. Ottilien 1983, S. 335–357, hier: 351f
14 Nürnberg Stadtbibliothek: Codex Amb.55, fol. 162v-163r, Nr.527, 15. Jahrh., veröffentl.
Telle, Joachim: Petrus Hispanus, (wie oben), S. 362
15 Die enge Verwandtschaft der Wiener, Nürnberger und Memminger Medizinbücher, basie-
rend auf gemeinsamer Vorlage des 14. Jahrhunderts, ist gut belegt. (Telle, wie oben, S. 42f )
Während sich dieser Segen auf den Einsatz der hl. Dreifaltigkeit stützt und die
vier unter den über 60 Heiligen, die man meist aus anderen Anliegenssparten nun
in Katastrophenzeiten für Pest heranzog, nur angefügt scheinen, wird im folgenden
der Hauptheilige gegen Pest in den Mittelpunkt eines Gebetes gestellt. Die „ple-
gen“ sind als „Plagen“ zu verstehen, wie man im 13.–15. Jahrhundert auch Epide-
mien genannt hat:
16
Aber fiür die plegen Aber für die Plagen
Sancte Sebastiane mag(.) est fides tua Hl. Sebastian ! Groß ist dein Glauben;
intercede pro nobis ad dominum nostrum stehe uns bei vor Gott unserem Herrn
Jesum Christum ut a peste et a morbe Jesus Christus, damit wir von Pest
epydemie liberemur […] und Seuchen befreit werden […]
Dieses Gebet hat lange Zeit Bestand. Es wird als Pestzettel ausgegeben, den man
bei sich tragen oder täglich lesen soll17 und wird mit Versatzstücken in deutscher
Sprache ausgeweitet bald als Haussegen genutzt.18 Im Rahmen von Wallfahrten
und Prozessionen, die bis heute an Pestzeiten erinnern, auf Votivtafeln und in ei-
gens errichteten Pestkapellen ist die Verehrung der Pestheiligen in Süddeutschland
weithin lebendig geblieben.
In das 15. Jahrhundert gehört ein weiterer Segen des Würzburger Typs aus St.
Gallen. Er titelt mit der Indikation „hühist gibristin“, hitziges Gebresten, ehemals
wie Gebrechen ein unscharfer Begriff für vielerlei Allgemeinleiden, besonders Seu-
chen, im 15. Jahrhundert für Pest gebräuchlich. Er hat die gleiche einleitende Tri-
nitätsformel und nennt die Symptome „bül, ös und geschwir“ = Beule, Drüse (oder
Wurmbeule) und Geschwür. Der Reim geswer – sper, hier anlautend gischwir –
gisper bleibt weiter stabil:
19
Mit gott dem Vattir such ich Dich + Mit gott dem son find ich Dich +
Mit gott dem hailigin gaist vertrib ich dich + bül ös vnd gischwir
Ich biswir dich + by dem hailigen gisper […]
Kaum ein mittelalterliches Ereignis hat eine derartige Umwälzung in allen Lebens- und
Kulturräumen ausgelöst. In der Kunst häufen sich die Darstellungen des Totentanzes und
der Gottesplagen- und Pestbilder. In Altartafeln, Fresken und Grafik, überall wird die große
Epidemie des „Schwarzen Todes“ von 1348 als Zorn Gottes, Geißel und Strafe über die
Menschheit dargestellt. Gott der Herr schleudert seine Waffen aus der Höhe hinab. Die
Erinnerung an die schwerste Epidemie gräbt sich über Generationen ein und flammt jeweils
ausgelöst durch Rezidive immer wieder auf. „Anno 1468 schwam ein grosser lindwurm jn
einer wassergrösse zuo Lucern vom seew herab vnder der Rüßbrugk durch, die Rüs nider,
16 Wien ÖNB Hs. 2817, f.36d-37a, nach 1349, Segenabschrift Schönbach Gießen, S. 856
17 Karlsruhe Badische Landesbibliothek, Donaueschinger Handschrift 792, fol. 171r, 15. Jahrh.
18 vgl. Schmidt, Leopold: Pestgebet des 16. Jahrh., Österr. Zeitschr. f. Volksk. 54 (NF 5,1951),
S. 59
19 Sankt Gallen Stiftsbibl., Cod. 1164, fol. 101f, veröffentl. Piper, P., Germania 25 (1880),
S. 71
daruff volgt ein grosse pestilenz“ – Bereits durch ein „Grusen“ (Grausen, Schauern] beim
Erzählen über die Pest seien schon viele gleich gestorben, berichtet der Apotheker Renward
Cysat aus Luzern20 und verknüpft damit gespenstische Vorstellungen.
Die seit der Mitte des 14. Jahrhunderts einsetzende, im 15. Jahrhundert durch
weitere Epidemien immer wieder aufflammende Panik löst eine Flut von Pest-
schriften, Traktaten, Aderlaßvorschriften, Regimenten21 aus. Es scheint dagegen,
als habe mit ihnen der Niederschlag an Segen, Beschwörungen und Gebeten in
Haus- und Medizinbüchern und ein Übergang in mündliche Anwendung nicht
konkurrieren können, abgesehen von zertrümmerten Textteilen, die man für alle
Leiden heranziehen konnte. Kamen Formeln jemals zur Anwendung? Nicht einmal
Hypothesen, ihre Anwendung am Pestkranken zu belegen, könnten ernst genom-
men werden. Günstige Verläufe bei der Beulenpest, die „nur“ in 50–90 % tödlich
ausging, würden angesichts der 100 % tödlichen Lungenpest schwerlich statistisch
zu verrechnen sein. Waghalsige oder naive „Therapeuten“ konnten keine Kunde
mehr abgeben. Ein exemplarischer Bericht aus dem Erzgebirge:22
Anno 1582 starbs im Gebirge herum. Magdalena / Donat Schrollen Weib zum
Geyer gab sich verwegener Weise dafür aus /si könte die Leuten für die Pest seegnen / der
Schulmeister zu Hermerßdorff ließ sie holen / und bat / sie solte ihre Kunst an ihm ge-
brauchen. Sie sprach zwar den Seegen / holte aber damit die Pest selber / und starb samt
dem Schulmeister in 4 Tagen.
Einige Texte stellen sogar ihre eigene Ohnmacht bloß, indem sie die Kraft des
Gebetes oder Segens zeitlich eingrenzen. So auch ein gedruckter Antoniuszettel des
15.23 mit 24 Stunden und ein Pestgebet des 16. Jahrhunderts,24 das nur drei Tage
Pestschutz verspricht. Die Diskrepanz zwischen der Unerbittlichkeit der Seuche
und der erwiesenen Untauglichkeit angepriesener Therapien, besonders der verba-
len Versuche, reizten manchen zu Spott:25
20 Cysat, Renward: Collectanea chronica und denkwürdige Sachen pro chronica Lucernensi et
Helvetiae [16.Jh.] Bearbeitet von Josef Schmid 2 Bände Luzern 1969, S. 563, 602f
21 vgl. Telle, Joachim (Hg.): Pharmazie und der gemeine Mann, Katalog Wolfenbüttel
Nr.36,1983, S. 108–111; vgl. Sudhoff, Karl: Pestschriften, in: Archiv für Gesch. der Med. 6
(1913) 313–378, ders.: Pesttraktate. Archiv für Gesch. d. Med. 8(1915), 280–285; Schmut-
zer, Richard, in: Archiv f. Gesch. der Medizin 40 (1956) 336–339; Hirth, Wolfgang: Wachol-
derbeertraktate, in: Fachprosa-Studien, Hg. G. Keil, Berlin 1982, S. 448–461; Sittler, Lud-
wig: Gesundheitsfürsorge...im Fürstt. Passau. In: Ostb. Grenzmarken 2(1958) 27–66, hier:
52–57
22 Lehmann, Christian: Historischer Schauplatz derer natürlichen Merckwürdigkeiten in dem
Meißnischen Ober-Ertzgebirge. Leipzig 1699, S. 900
23 Andree-Eysn, Marie: Volkskundliches aus dem bayr.-österreich. Alpengebiet. Braunschweig
1910, S. 66
24 Schmidt, Leopold, in: Zeitschr. für österr. Volkskunde 54 NF. 5(1951), 59
25 Gwerb, Rudolff: Bericht von dem abergläubigen vnd verbottenen / Leüth- …besägnen Zü-
rich 1646, S. 132
Vil werden auch deren gefunden, welche sägen von Characteren wunderbarlicher
art, auff Jungfraw pergament geschriben: auch etwann S.Johannis Evangelium darbey
an hals gehenckt. Lassen jhnen die wort Adonai, Ananisapter, tetragrammatom & .
Auff gold vnd silber stechen / sol jhnen dann gut seyn für den gehen (jähen) tod / Pesti-
lentz vnd andere prästen / alß ob Gottes macht in disen geschrifften verfasset seye /
Die überlieferten schriftlichen Zeugnisse von v e r b a l e r Pesttherapie sind
daher weitaus mehr als die vielen anderen Texte unseres Gesamtspektrums als von
Sammlern gepflückt und kombiniert zu betrachten. In die Poesie und Praktik der
Volksmedizin von Heilern, Besprechern, Wenderinnen und weisen Frauen ist kein
stabiler Heilspruchtyp eingegangen; ihr Versagen und ihre Gefährdung bei der Pest
hat die Tradierung gemindert. Umso mehr ist ihr literarischer Bestand auch aus
dem Aspekt des religiösen Glaubens an Hilfe und Erlösung zu betrachten.
b) Heidelberg Univers.Biblioth. CPG 244, fol. 93r, Digital. 0189, 16. Jahrh.
Ein segen für das bös ding
Sprich + Mit Godt dem hailigen vatter sich ich dich + […]
Du seist Pestelentz drüs bloter oder geschwer + […]
Der Segen ist bis auf den Titel mit anderen von CPG 213 aus 1421 und CPG 272
des 16. Jahrhunderts fast identisch und nennt als Gewährsmann wie in CPG 272
Steffen von Venningen Ritter in Hirschhorn.
26 Graz Steiermärkisches Landesarchiv Hs 476, Arznei- und Alchemiebuch des „Matheus“ von
1587, fol.190v
Dieser Segen, schon auch als Haussegen gebraucht, zeigt stärkere Ausweitungen,
nennt auch den Vornamen des Beters und Segnenden Matheus, ermahnt zu An-
dacht, Frömmigkeit und Karfreitagsfasten und spendet im Dialekt bei Einhaltung
der Gebote Trost. Man brauche sich nicht zu sorgen, „daz Ennck die pessen Zaichen
ain wurtzen oder das gach Enndt“ (daß Euch die bösen Zeichen, sprich Übeltäter, um-
klammern oder gar das jähe Ende)
Der Text ist mit einem Eintrag im Günzburger Gebetbuch von 1587 des Ludovicus
Faber verwandt.30
2.) Weniger verbreitet war eine alte Kombinationsformel, die die Trinitätsanrufung
von 1) mit einem Kurzcredo verbindet:
31
Daz ist eyn gut segen vor alle seuche ynd geswolt an dem halsse an dem hewpte vnd anderswo:
+ In dem namen des vaters suche ich dich seuche + In dem namen des sones vinde ich
dich + Cristus wart geborn + Cristus wart gemartert + Cristus dirstunt. Cristus der
lege desin sichen.
Diss sal man sprechen, wen den mannen we wirt alzo daz her nicht gewandern mag
ader gereiten ynd auch wenne her gesse hot.
3.) Eine weitere Segensgarantie will der Bezug auf die Gottesmutter Maria bieten.
Dabei wurden ihre Unberührbarkeit und Lauterkeit sinngebend als Analogie ein-
bezogen. Der Eingang des Segens mit dem Verweis auf die „gute Stunde“ des Bam-
berger Blutungssegens stimmt darauf schon ein:
32
Ain guter segen für die pestilencz. Sprich also dri stund dis wort Gut was die stund do
got geborn ward etc. und sprich denn aber Jch beschwer dich büll und geschwer Bi
dem vil hailigen sper […] Das du dich nit höher erhabist vnd nit tüffer in mich grabest
vnd mach mich dis gebresten als luter vnd als clar als miner frow sant Maria ir megtum
was do si Jhesu Christi ir liebs hailigs truts Kinds genas […]
4.) Seit dem 16. Jahrhundert sind Sprüche notiert, die die Wiedwinder und Wied-
binder einführen, das sind der legendäre Seiler und die Marterknechte mit ihren
Geißeln und Stricken bei Christi Passion. Damit kombinieren sich die alten Ge-
schwer-Sper-Formeln und bisweilen das Motiv des fehlenden Berg- und Stein-
Wachstums seit Christi Geburt, hier im 13. Band des Buches der Medizin und im
Umkreis vieler Rezepte, Regimina und Traktate gegen Pest:
33
Ein segen für die Pestelentz vnd trües
Sprich: Seidt das cristus der her geboren warde, Do gewuchs ninn
berg oder stain. Verganck vnd haile! Verschwindt drüs! Als der man
der die wiede dreet vnd bandt; Der die wiede hodt gewunden, Domit
Jhesus Cristus ward gefangen vnd gebunden: Also mustu, drües, auch
verschwinden.
Daß seit Christi Geburt Berge und Steine nicht „gewachsen“ sind, mag logisch
sein. Das Motiv kommt in Volkssegen und Beschwörungen seit dem 13. Jahrhun-
dert immer wieder vor, um ein Tumor- oder Drüsenwachstum zu besprechen.34
Wahrscheinlich geht der Vergleich auf einen Apokryphenbericht zurück, wonach
Christus bei der Taufe im Jordan auf einer Tonplatte oder einem Stein stand, die
den Satanspakt Adams beinhaltete. Danach sollte die Erde dem Adam übergeben
sein. Indem Christus darauf stand, machte er diesen sündhaften Pakt ungültig. Das
gleiche gilt für sein Kreuzesopfer auf dem Berge Golgatha. Sinngemäß wurden
auch Heiden als Steine bezeichnet, weil sie Steine als Götter anbeteten.
Drängende Fragen nach der Ursache der Seuche vertiefen kollektive Ängste
und Schuldzuweisungen
Die Ursachenvorstellung zur Pest lag buchstäblich in der Luft. Sie war schon durch
antike Schriften, etwa das Regimen Sanitatis der Schule von Salerno vorgegeben,
war auch für die medizinische Zunft, die vielfach von Regenten bis zu Stadtverwal-
tungen um Rat gefragt wurde, immer wieder die verdorbene Luft, der giftige
Dunst. Dazu kamen die Sterne und alle Zeichen am Himmel, wobei manche von
den Ärzten eine kritische, natürliche Erklärung erwarteten ohne „Einflüsterungen
des Teufels“.37 Ein Gutachten der Medizinischen Fakultät Paris 1348 für König
Philipp VI. hatte ursächlich giftige Luft und Gestirnskonstellation bestätigt. Noch
zu Anfang des 18. Jahrhunderts soll bei der Planung einer Stadtanlage wie Karls-
ruhe der Durchlüftungsfaktor gegen unreine Lüfte, gegen „Miasma“, den üblen
befleckenden Dunst und gegen Gift gründlich Beachtung gefunden haben.
Nach Einführung der Drucktechnik im 15. Jahrhundert florieren auch die
Flugblätter mit Meldungen über unheilverkündende Kometen, Nebensonnen,
35 Schwab, Ute: In sluthere bebunden, in: Studien zum Altgermanischen, Hg.: Heiko Uecker,
Berlin u. a. 1994, S. 554–583, hier: S. 575f
36 Wiesbaden Hauptstaatsarchiv 369/290, Blatt 9, Prozess gegen Rottgers Bestgins von Dors-
doff, Amt Burgschwalbach, veröffentl. Bach, Adolf: Westerwälder Werwölfe, in: Zeitschr. f.
rhein. u.westf. Volkskund 20/21 (1923/1924), S. 33
37 Hartlieb, Johannes: Das Buch aller verbotenen Künste. Herausgegeben, übersetzt und kom-
mentiert von S. Eisermann und E. Graf, Ahlerstedt 1989 (=CPG 478, 1470), S. 87–89, 76.
Kap.
Nordlichter und Kugelblitze, oft mit apokalyptischen Visionen verbunden zur Er-
mahnung an Gottes Gerichte.38 Auch diese Form der Angstableitung und der
Angstpropaganda ist von den Seuchen mitgeprägt. Sie korrespondiert mit volks-
tümlichen Dämonenvorstellungen über die Schädiger und ihre Waffen, zahlreich
in der Malerei dargestellt. Die Furia infernalis fiel vom Himmel herab, geflügelte
Wesen von der Mücke bis zum Drachen überwältigten die Menschheit.39
Und so gibt es folgerichtig Segen gegen die böse Luft und das wilde Geschoss,
die wahrscheinlich bevorzugt gegen Pest gerichtet waren wie der folgende als Vari-
ante eines Drei-gute-Brüder-Segens:
40
Gegen den schwarzen Umlauf oder das geschossene Geschwür: Es gingen drei
Apostel […] Wir gehen zu der getauften N.N. das dreimal neunfach geschossene
Geschwür segnen […]
Die Kirche hat eine Reihe von Regulativen geschaffen, von der Einrichtung von
Pestmessen,42 der Einbeziehung vieler Heiliger in Votivmessen über die Verbrei-
tung von Gebeten bis zur Gründung von Wallfahrten, nicht zuletzt Vierzehnheili-
38 Bott, Gerhard: Zeichen am Himmel, Flugblätter des 16. Jahrhunderts, Ausstellung des Ger-
manischen Nationalmuseums Nürnberg 1982
39 vgl. Höfler, Max: Krankheits-Dämonen. Archiv für Religionswissenschaft II, H 1/2, 86–164
Leipzig u. Tübingen 1899, S. 101
40 Corpus der deutschen Segen und Beschwörungsformeln am Institut für Sächsische Geschich-
te und Volkskunde Dresden Geschwür 5, veröffentl. Schulz, Monika: Vneholden. In: Lingui-
stica e filologia (Bergamo), 11 (2000), 146
41 Moser-Rath, Elfriede: Dem Kirchenvolk die Leviten gelesen … Stuttgart 1991, S. 352
42 Franz, Adolph: Die Messe im deutschen Mittelalter, Freiburg 1902, S. 171,178–190
gen im Bistum Bamberg. Die Verehrung der 14 Nothelfer hatte gerade nach 1348
größere Verbreitung gefunden. Ebenso haben über Jahrhunderte die Ebersberger
Sebastiansminne, also der Trunk aus der Hirnschale des Kopfreliquiars,43 und die
Berührung der heiligen Lanze im Nürnberger Heiliggeistspital vornehmlich der
Pestabwehr gegolten.
Die Verunsicherung erklärt zur Genüge das Anschwellen religiöser und vor al-
lem parareligiöser Absicherungsformen, insbesondere der Amulette mit ihren der
Allgemeinheit geheimnisvollen Buchstaben. Der große Sorten-, Formel-, Material-
und Sinnreichtum dieser Abwehrmittel wäre ohne Pest nicht denkbar. Die Tau-
Kreuze des frühen Christentums verbinden sich nun mit Darstellungen von Anto-
nius und Franziskus, mit dem Zachariassegen, mit hebräischen Götternamen Te-
tragrammaton, Adonai und mit magischen Wortgebilden wie Ananisapta. Es ent-
stehen Rochussiegel, Glückselige Hauskreuze und kleine Pestpfeile. Teufelspeitschen
mit exorzistischen Formeln und „Heilige Längen“ werden zu vielverbreiteten Han-
delsobjekten. Zu den bis heute und seit dem 17. Jahrhundert beliebtesten Amulet-
ten in Süddeutschland gehören die Benediktusmedaillen des Benediktinerordens.44
Darüberhinaus erwähnen fast alle Schutzzettel und Schutzbriefe und alle ge-
druckten Zauberbücher in ihrem Repertoire immer auch die Pest, etwa die Him-
melsbriefe, das Geistliche Schild oder das Romanusbüchlein mit der Erzählung
über eine Rettung vor der verpesteten Luft von 1546 in Trient und dem bekannten
Buchstabenkreuz des Zachariassegens. Es besteht aus Bibelversen, die jeweils einem
Buchstaben entsprechen und in Kreuzform irgendwie angeordnet werden können:
+
Z Zelus domus tuae liberat me
+
DIA Deus, Deus meus expelle pestum ; In manus tuas (Luc 23,46)
+ Ante coelum et terram Deus erat;
B Bonum est praestolari auxilium Dei (Jeremias 3,26)
I Inclinabo cor meum (Psalm 119,112)
HSFIZBFRS Salus tua ego sum; abyssus abyssum invocat (Ps. 41,8)
+ Beatus vir qui sperat in Domino (Ps. 39,5)
A Zelus honoris Dei convertat me: Haeccine reddis Domine
B populo stulte (4 Mos. 32,6); Factae sunt tenebrae (Luc. 23,44)
+ Beatus vir qui non respexerit in vanitates; Factus est Deus in
Z refugium mihi (Ps. 93,22); Respice in me Domine (Ps. 21,1);
+ Salus mea tu es (Jer. 17,14) […]
Der Vielzahl der um Trost angeflehten Heiltümer entsprachen die unzähligen Mit-
telchen der Ärzte und Heilkundigen. Alles wurde erprobt, erfunden, geboten, und
43 Krausen, Edgar: Die Pflege religiös-volksfrommen Brauchtums, in: Studien und Mitteilun-
gen zur Geschichte des Benediktinerordens ... 83 (1972) 274–290, hier: S. 276f
44 Münsterer, Hanns Otto: Amulettkreuze und Kreuzamulette, Regensburg 1983, 170–186
geschickt beworben wie z. B. Theriak aus Venedig,45 der über Jahrhunderte für alles
heiß begehrt war: „… Anno 1634 ist in Venedig so eine greuliche Pest gewesen, daß die
Leute so miteinander geredet, umgefallen und gleich tot geblieben, dafür uns Gott in
Gnaden behüten wolle, sind aber durch Gottes Hülfe, nachdem dieses Rezept erfunden
worden, etliche 1000 damit errettet worden …“. Theriak wurde von der Firma Tröger
in Schneeberg im Erzgebirge aus angeblich 110 Ingredienzien produziert,46 jedes
Teil extra angebaut, zubereitet, verpackt gehandelt, die Arbeit der Laboranten über
Jahrhunderte in den deutschen Mittelgebirgen. Inhaltsstoffe waren neben anderen
Schießpulver, Schwefel, Knoblauch, gedörrte Kröten, Wacholderrauch, Zwiebel-
pflaster. Am bekanntesten hielt sich Bibernell, des Reimes wegen, in den aus jedem
Ort geläufigen Sagen um rettende oder richtiger weissagende Vögel: „Esst Bibernell,
dann sterbt ihr nicht so schnell“. Selbst Herzog Wallenstein soll sich, dieser Werbung
erlegen, am 30. 6. 1632 in Tirschenreuth in der Oberpfalz ein Pfund Bibernell zum
Mittagessen bestellt haben.47 Bis heute kennt jeder Arzt die Regel: Wenn nicht ein
einziges Mittel hilft, sind 1000 erfunden.
Der Medizinhistoriker Gundolf Keil hat im Überblick auf die seuchenhygieni-
schen und symptombezogenen Maßnahmen betont, daß die zeitgenössischen Ärzte
gegen Pest nicht vollkommen machtlos waren. Sie konnten durch Quarantäne,
durch Mittel, die die Krankheitsüberträger abweisen (Repellentien) und durch An-
tiseptika die Infektionsgefahr und die Malignität der Primärkomplexe mindern.48
Doch als Hauptregel und sicherstes Mittel galt letztlich allgemein die Flucht.
„Mox, longe, tarde, cede recede redi“ hieß die Parole, also rasch lange weit weg und
sehr langsam wieder zurück. Und damit hatte sogar in Florenz 1348 ganz delikat
eine der bekanntesten Liebesgeschichten begonnen, als die feine Gesellschaft in die
saubere Luft ihrer Landgüter floh, mit Gesang und Scherz und Liebeslust auf dem
„Vulkan“ tanzte und Boccaccio in die Lage versetzt war, sein blütenlesendes Zehn-
Tage-Werk, sein Decamerone zu schreiben.
Eine verbale Therapie mit Sprüchen unter Kontakt mit dem Kranken hatte bei je-
der echten Seuche zwar vorübergehend einmal angstlösende, aber kaum den Hei-
lungsprozess unterstützende Wirkung, wenn sie überhaupt bei hohem Anstek-
kungsrisiko bei einer gelegentlich milde verlaufenden Bubonenpest unbefangen
durchgeführt wurde. Man muß sie medizinisch als lebensgefährliche und damit
unter mittelalterlichen Umständen selbst als Sterbebegleitung kontraindizierte Me-
thode betrachten. Manche praktischen Maßnahmen wie das Herausschneiden der
Pestbeulen hatten eher infektverbreitende Wirkung.
Die Versuche einer auf antiken Traditionen beruhenden Austreibung böser Geister
aus Kranken (Exorzismus) sind bis heute in der Öffentlichkeit beharrlich um-
kämpft und dienen einer gewissen Presse als Futter für sensationslüsternes Publi-
kum. Dabei sind die damit „behandelten“ schicksalhaften Krankheiten gravierend.
Die historischen Quellen können besonders in diesem Bereich nur unter strikter
Berücksichtigung des jeweiligen „Zeitgeistes“ herangezogen werden.
Soweit retrospektive Diagnostik möglich, sind unter Besessenheit mindestens
vier Krankheitseinheiten zu vermuten, wenn Kranke eine Affektion durch Dämo-
nen (Schad-Geister) äußern oder – wie früher oft – ihnen aufgrund bestimmter
Symptome solches nachgesagt wurde:
deshalb oft nicht direkt zur angemessenen ärztlichen Behandlung. Rein schema-
tisch nur kann man sich die Symptombildung ähnlich wie bei 1) als Abspaltung
seelischer Persönlichkeitsanteile (Dissoziation) vorstellen, sodaß der Eindruck ei-
nes zweiten „dämonisierten“ Ichs entsteht.
3.) Epilepsien mit und ohne Wesensveränderungen, mit und ohne Psychosen, sind
ebenfalls Gehirnerkrankungen. Sie wurden früher vielfach in den Begriff der Beses-
senheit einbezogen (vgl. Kapitel 10 und 11).
Abb. 55 Votivtafel zur Heilung einer Besessenen, „welche allda beschworen und von etlich hun-
dert bösen geistern erlediget worden“ (Bubenhausen 1691)
was sie nicht mit den körperlichen Sinnen erfassen“.2 Deutlicher kann die bis zum
fatalen Machtkampf um die Seelen reichende Konkurrenz zwischen Medizin und
Theologie, die sich dann gegen Ende des Mittelalters anbahnt, nicht beschrieben
werden. Ein Teil der Theologie, nicht nur der katholischen, blieb dabei, fast jede
schwere körperliche und zugleich seelische Krankheit, besonders auch die Epilep-
sie bis ins 19. Jahrhundert als Besessenheit und damit Besitzergreifung durch den
Teufel zu betrachten. Einen Arzt als „Galileo Galilei“ für den psychiatrischen
Durchbruch hat es nicht gegeben. Ein Johan Weyer konnte im 16. Jahrhundert
keine Wende bewirken; er glaubte selbst an Hex und Teufel, wenn er sie auch re-
lativierte und die Folter als eine Quelle betrachtete, die Beweise gegen Hexen lie-
ferte.3 Zu spät kam Philippe Pinel, der 1795 in Paris die erste psychiatrische Ab-
teilung schuf, dem man für seelisch Kranke eine „Befreiung von Ketten“ nach-
rühmt.
Erst ab 3. Jahrhundert gab es den Stand der Exorzisten, feste Formeln innerhalb
der Kirche sind erst seit dem 7. Jahrhundert nachweisbar.5 Von den Beschwörun-
gen unterscheidet sich Exorzismus (griechisch: orchos = Schwur, exorkizo = be-
schwören, austreiben) durch seine engere, gezieltere Bedeutung. Es ist ein Kampf-
begriff mit Ausrichtung gegen eine als anwesende Person vorgestellte böse Macht.
Der Begriff Beschwörung umfasst dagegen auch Vorbeugung und unpersönliche
abstrakte Bedrohungsabwehr.
Kernpunkte der kirchlichen Exorzismus-Formeln wurden: 1. Der Name Jesu
2. Tatsachen aus dem Leben Jesu, insbesondere Heilwunder 3. Strafandrohungen
gegen den Dämon mit Höllenqualen beim Weltgericht 4. Erweiterungen durch
die jüdischen Formeln, wie sie der große Pariser Zauberpapyrus aus dem Jahre
300 nach Christus aufweist, zunächst nur der Urväter Israels, später auch der
jüdischen Gottes- und Engelsnamen 5. Beschwörung bei Gott Vater und seinen
Wundertaten für die Israeliten (Wolken- und Feuersäule, Sieg über Pharao, Er-
eignisse an Jordan und Rotem Meer) 6. Erweiterungen aus Apokryphen- und
Häretikertexten (Petrus beschwört die Dämonen des Simon Magus, Thomas ver-
treibt Incubus mittels Schmähungen und schlägt Dämonen bei einer Besessenen
in die Flucht, Johannes auf Patmos bezwingt die Dämonen eines Rhetors) 7.
Befragen des Dämonen nach Name, Herkunft und Begehren sowie dessen Be-
schimpfung
Bedeutender als die Formelinhalte waren alle Aktionen der Vorbereitung, die
Praxis und die Riten (Handauflegen, Fasten, Bußgewand, Ölung, Salbung, Kreuz-
zeichen usw.), zumal der Text in lateinischer Sprache vorgetragen wurde. Exorzis-
muserfolge, wie sie bei den histrionischen Störungen erwartungsgemäß oft vorka-
men, haben zur Tradierung des Exorzismus beigetragen. Die Kirche hat bis heute
an der Möglichkeit von „Obsession“ wegen der biblischen Tradition, der Liturgie
und der Unterscheidung der Geister festgehalten, betrachtet Exorzismus aber als
etwas Randständiges.6 Die Textinhalte, einschließlich der Befragung der Geister
nach Namen und Herkunft, sind weitgehend unverändert geblieben.
In dem heute gültigen Text des Großen Exorzismus der katholischen Kirche in
der von Papst Pius XII. genehmigten Fassung7 heißt es u. a.:
Ich befehle dir, unreiner Geist, wer immer du bist, und deinem ganzen Anhang, die ihr
diesen Diener (diese Dienerin) Gottes in Gewalt habt: wegen der Geheimnisse der
Menschwerdung, des Leidens, der Auferstehung und der Himmelfahrt unseres Herrn Jesus
Christus, wegen der Aussendung des Heiligen Geistes und der Wiederkunft unseres Herrn
zum Gericht: gib mir Deinen Namen, den Tag und die Stunde deines Fortganges mit
irgend einem Zeichen kund! Gehorche in allem mir, Gottes unwürdigem Diener! Füge
diesem Geschöpfe Gottes oder ihrem Hab und Gut keinen Schaden zu!
Im Namen unseres Herrn Jesus + Christus beschwöre ich dich, unreiner Geist, jede
feindliche Macht, jedes Gespenst: reisse dich los und weiche von diesem Geschöpf
Gottes +. Er selbst befiehlt es dir, auf dessen Wort du von den Höhen des Himmels in die
Hölle gestürzt wurdest. Er selbst befiehlt es dir, der dem Meer, den Winden und Stürmen
gebot. Höre es also und fürchte dich, Satan, du Glaubensfeind, du Widersacher des
Menschengeschlechts, du Mörder und Räuber des Lebens, du Verächter der Gerechtigkeit,
du Wurzel aller Übel […] Neid, […] Geiz, Zwietracht […]. Weiche also Gott + , der dich
und deine Bosheit in Pharao und in dessen Heerschar durch Mose, seinen Diener, im Meer
versenkte. […]
6 Scheffczyk, Leo, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Freiburg 1995, III, 1127; Messner,
Reinhard, ebenda, S. 1128
7 Siegmund, Georg (Hg.): Der Exorzismus der kath. Kirche, Stein am Rhein [1981], S. 31, 39;
die ausführlichsten exorzistischen Anleitungen aus Quellen des 16./17. Jahrhunderts, deutsch
übersetzt, finden sich bei Probst, Manfred: Besessenheit, Zauberei und ihre Heilmittel, Mün-
ster 2008 (Veröffentlichungen des Abt-Herwegen-Instituts der Abtei Maria Laach). Doku-
mentiert ist u. a. Hieronymus Mengus (Menghi), dessen Schriften von Gaßner (s.u.) verwen-
det wurden.
modern als Rapport mit dem Symptom verstehen kann. Der Dämon spricht aus
der Kranken als ein anderes, zweites Ich, das als schwarzer Vogel schließlich entwei-
chen muß. Hinzu tritt im folgenden Text die Sonderrolle des Mönches und Heili-
gen, dessen Kompetenz infolge seines gottgefälligen Lebens und seiner Gelübde
erhöht ist. Der Legende nach hatte der Satan dem irischen Missionar vergeblich
seinen Weg nach Alemannien durch Feuer verwehren wollen. Gallus hatte ihn
durch Gebet und Fasten überwunden. Ähnlich ist später eine „Oratio sancti Galli
super energumenum“ aus dem Codex Sangallensis 394, fol.199 des 11. Jahrhun-
dert verbreitet.
Im 11. Jahrhundert wird dem heiligen Godehard von Hildesheim ein Exorzismus
zugeschrieben. Als Abt von Niederaltaich, wo er erzogen worden war, wurde ihm,
als er einmal in Regensburg weilte, eine besessene Frau vorgestellt. Er widmet
sich ihrem Dämon, der sie als ihr Eigentum betrachtet. Denn sie habe Zauber-
sprüche angewandt; Gott habe doch die Besprecher zu töten befohlen, zumal sie
diese ihre Sünden kaum beichteten, weil die Dämonen ihnen den Mund ver-
schlössen. Daraufhin beginnt der Abt seine Gebete. Der Dämon weicht schließ-
lich und die Frau sinkt in Ohnmacht. Als der Abt sie aufrichtet und sie die lange
Zeit geübte Sünde beichtet, erhält sie die Lossprechung. In dieser Formel tritt die
Beschimpfung des Dämons hinzu, der sich widerständig zu verteidigen sucht,
sowie ein indirekter Verweis auf das Jüngste Gericht und die Gemeinschaft der
Heiligen. Dieser Godehardtext ist auch Beispiel für den Behauptungswillen der
Theologen gegen die Konkurrenz der Scharlatane und Zauberer. Die Formel lau-
tet:
Abb. 56 Heilung des Besessenen von Gerasa. Entweichen der unreinen Geister in Schweinen
(Reichenau um 980)
10
Und wenn ein Mensch vom bösen Geist besessen ist, lasse ein anderer Mensch den Saphir in
Wachs legen. Und nähe jenes Wachs in Leder ein und hänge ihm das an den Hals und sage:
„Oh du schlimmster Geist, weiche schnell von diesem Menschen, wie bei deinem ersten Fall die
Herrlichkeit deines Glanzes sehr schnell von dir abfiel.“
Wenn aber der Teufel einen Mann zur Liebe zu einer Frau aufreizt, sodaß er ohne Magie und
ohne Anrufung der Dämonen in Liebe zu ihr unsinnig zu sein beginnt, und wenn der Frau dies
lästig ist, dann gieße sie dreimal etwas Wein über den Saphir und ebensoviele mal sage sie: „Ich
gieße diesen Wein mit hitzigen Kräften über Dich, wie Gott deinen Glanz, pflichtvergessener
Engel, abnahm, damit du so die begierliche Liebe dieses brennenden Mannes von mir ab-
ziehst“.
10 Physika 4–6, Vom Saphir, Übersetzung Portmann, 1991, S. 307f; vgl. Franz, A. Bened.
II,566 – Deutung: Saphir leuchtet nur im Tageslicht; alle Sinne sollen sich dem ewigen Licht
der Sonne zuwenden, der Gottesliebe also, nicht dem fauligen Dunkel. Gegenüber allen an-
deren Steinen hat Saphir in der Steindeutung (schon wegen 2 Moses 24,10) eine ziemlich
konstante Auslegung als Himmelsbläue, als himmelsgleiches Leben mit Distanz zum Irdi-
schen, Abwehr des Bösen und Nähe zu Marias Reinheit. Nach Beda Venerabilis ist er wie
Topas im Wirken der Sonne ein Zeichen für Gottes Handeln am Menschen.
11
Nach dreimonatigem erfolglosen Exorzismus in der Abtei Brauweiler bei Köln,
erklärt der Dämon der besessenen Frau Sigewiza, nur die Gebete einer rheinauf-
wärts wohnenden „Scrumpilgardis“ (eine Schmähung auf Hildegardis) könnten
ihn vertreiben. Die Kranke soll schon sieben Jahre lang besessen gewesen sein. Vom
Abt von Brauweiler befragt, verneint Hildegard ein Eindringen des Teufels in einen
Menschen; nur „ein schwarzer Schatten und Rauch“ umdunkle die Seele, Gott er-
laube es nicht, daß der Teufel in die Seele eindringe. Hildegard versucht, die Beses-
senheit als rein körperliche Affektion zu deklarieren und bedient sich der Vorstel-
lungen der Galenischen* Säftelehre.12
Sie rät ausführlich zum Fasten, zu Almosen und zu Heiligen Messen mit sieben
Priestern. Diese sollen je einen Stab in der Hand halten zum Gedenken an Moses,
da er Wasser aus dem Felsen schlug; der erste Priester soll sprechen: „Höre, boshafter
und törichter Geist, der du in diesem Menschen wohnst, höre diese Worte, die nicht von
Menschen erdacht, sondern von dem, der da ist und lebt, geoffenbart sind.“ [...]
Aber auch dieser Exorzismus hatte nur kurzzeitigen Erfolg. So wurde dem
Wunsch des Geistes nachgegeben und die Frau nach Kloster Rupertsberg gebracht.
Dort tobte er, redete wechselnd unzüchtig und (seltener) fromm. Hildegard korri-
gierte die Reden des Bösen und die Nonnen fasteten und beteten. Es kam zu einer
klösterlichen Gemeinschaftstherapie. Schließlich an einem Karsamstag nahm die
Besessene an einer Taufwasserweihe teil und Hildegard sprach:
„Weiche Satan, aus dem Körper dieser Frau und mache in ihm Platz dem Hl.
Geist!“
Darauf floh der Dämon und die Frau blieb fortan gesund.
Tun wir einen Sprung ins 16. Jahrhundert, dann nahm bis zur Mitte des 17. Jahr-
hunderts13 die Popularisierung von Besessenheit und Exorzismus in Bayern und
Österreich zu und wurde in der Gegenreformation unter Petrus Canisius
(1521–1597), dem „ersten deutschen Jesuiten“, professionalisiert. Augsburg er-
lebte 1563 mit ihm eine Welle der Teufelsaustreibungen bis hinein in angesehene
11 Hildegard: epist. 60 und 61 und Vita lib III,c.2, n.47–51, veröffentl. Franz II,553–555 – Der
Bericht kann als Hinweis auf „Therapie“ als dienende, persönliche Leistung, als direkte Be-
gegnung mit dem Kranken gelten, die nicht delegierbar ist.
12 Schipperges, Heinrich: Zum Phänomen der „Besessenheit“ im arabischen und lateinischen
Mittelalter, in: Zutt, Jürg (Hg.) Ergriffenheit und Besessenh. Ein interdiszipl. Gespräch. Bern
u. a. 1972, S. 81–94, hier: S. 88
13 Genaueres vgl. Lederer, David: „Exorzieren ohne Lizenz …“. Befugnis, Skepsis und Glauben
im frühneuzeitlichen Bayern, in: Waardt, Hans de (Hg.): Dämonische Besessenheit. Bielefeld
2005, S. 213–232
C) Volkstümliche Exorzismusformeln
Es hat immer nahe gelegen, sich unerlaubt und inkompetent religiöser Mittel zu
bedienen, um durch Mithilfe christlicher Segen und Beschwörungen Erfolge zu
erzielen, Erfolge um jeden Preis. Keiner Religion ist es je gelungen, alle ihre Gläu-
bigen auf gradem Wege mitzunehmen.
Für eigenes Renommee taten und tun es Quacksalber, Zauberer, Scharlatane,
Hochstapler und Geistheiler, aus Nächstenliebe taten und tun es Geistergläubige
und selbst chronisch psychisch Kranke, deren Tätigkeit als Selbsttherapie durch
konstruierte Identitätsgerüste zu verstehen ist. Selbst Psychiater der Neuzeit mit
eigener Poltergeisterfahrung und dem Schmucktitel parapsychologischer Wissen-
schaft gehören gelegentlich dazu.15 Dies trug einerseits zur Abwertung der priester-
lichen Exorzismen bei, hatte aber historisch gesehen über Jahrhunderte auch Ver-
formungen und Entfaltungen der Texte zur Folge.
Das erste Beispiel zeigt indes, wie der Böse in kirchlichen Exempla-Erzählungen
warnend erzieherisch eingesetzt werden konnte. In der Handschrift des 15. Jahr-
hunderts gerät nach zwölf Jahren treuer Ehe ein Kaufmann nach Wirtshausbesuch
in einen deliranten Zustand. Büsche und Bäume sitzen voller Teufel, die ihre ver-
werflichen Arbeiten schildern, Zwietracht sähen zwischen Christen und Heiden
und zwischen Eheleuten, Anleitung zu Meineid, Raub und Verrat. Getadelt vom
Oberteufel verspricht der zwölf Jahre erfolglose für Kaufmann und Frau zuständige
Kleinteufel nun, sich zu „bessern“ und durch Einschleichen via Weinfäßlein des
Kaufmanns sich an dessen Frau heranzumachen, damit sie Streit entfache. Der
Mann hatte es gehört, ließ den Teufel in das Fäßlein und sprach eine erste Verban-
nung im Namen der Dreifaltigkeit mit dem Ziel endgültiger Einsperrung. Aber
seine Frau, der er nach Rückkehr alles berichtet, ist nicht zufrieden. Sie bringen das
Fäßlein ins Kloster und der Abt macht die Sache öffentlich. Er zeigt es vor allem
Volke und spricht:
14 vgl. z. B. Schad, Martha: Die Frauen des Hauses Fugger von der Lilie, Tübingen 1989, S. 67–
70
15 wie z. B. Dr. Naegeli-Osjord, Hans: Besessenheit und Exorzismus, Remagen 1983, passim, s.
besonders Legitimation, S. 22f und Die eigene Methode, S. 240–243 mit den Chakra-Ein-
sprengungen und der Vorstellung „feinstofflicher Kraftabgabe“.
16
„Ich beschwöre dich, unreiner Teufel, daß du herausfährst und dich sehen läßt,
so schön, als wenn du im Himmelreich wärst, damit du uns gefällst.“
Der Teufel fuhr aus dem Fäßlein und war der schönste Engel. […]
Danach gebot er ihm, ein greulicher Teufel zu werden. Und nun erschraken alle
und fielen in Ohnmacht. Da sprach der Abt: „Weil du nun alle Leute so irre
machst, gebe ich dir zur Buße auf, in die Wüste zu fahren, wo nie ein Mensch
hinkam und bis an den jüngsten Tag. Das gebiete ich dir bei Vater, Sohn und
heiligem Geist!“ Und er fuhr weg mit Geschrei, Lärm und Gestank, als ob er
alle Berge und Häuser zerstören wollte, daß es alle Leute sahen, auch die
Ehelichen. Und sie wurden danach besser. Also geschehe uns allen. Amen.
Ein zweites Textbeispiel volkstümlicher Art ist direkt einem von Elben Besessenen
gewidmet. Eine vorausgehende Anweisung befiehlt, den Kranken nackend auf nak-
kende Beine zu nehmen und mit der Zunge seine Nase zu lecken, ein Test, der bei
salzigem Geschmack den Elbenbefall bestätigt. Nach heutigen Erkenntnissen kann
das Aufspüren stark salzhaltigen Schweißes als Test auf Mukoviszidose gelten, eine
erbliche Stoffwechselstörung. Sodann erfolgt die Beschwörung beim Vater-Unser,
der Gottesmutter und den Aposteln. Ein Dialog mit den Geistern findet nicht
statt, nur die Ansprache mit Aufzählung aller ihrer möglichen Farben und Nach-
kommen und eine kompakte dreifache Vertreibungsstrategie: Tot nach drei Tagen,
Abweisung in eine Wied, hier dürfte damit ein Galgenstrick gemeint sein, wo sie
als Fieber schütteln und reiten mögen und, eine Spezialtaktik, ein Adynaton, eine
Unmöglichkeit: Im Falle ihres Wiederkommens müssen die Bösen ein heiliges
Kreuz in ihren Händen tragen; sie wären damit natürlich ganz entmachtet, dies
eine der vielen in den volkstümlichen Sprüchen zu findenden unmöglich erfüllba-
ren Aufgaben.
17
da by beswere ich uch, alp unde elbynnen, dabei beschwöre ich euch, Alp und Elbinnen,
unde mit allen uwern nachkomelingen, ir und mit allen euren Nachkommen, ob ihr
syhit wiß addir roit, brün, swarcz, gell, addir weiß, rot, braun, schwarz, gelb oder welcher
yn wilcherley wiß ir syhit, daz ir alle muß Art ihr auch seid, daß ihr alle am dritten Tag
it sin tot an dem dritten tage. daz gebudit tot sein müßt. Das gebiete euch Gott und der
uch got unde der liebe herre sente Job. fort liebe Herr Sankt Job. Ferner will ich euch ge-
mehe so wiel ich uch gebieden, daz ir sollit bieten, daß ihr in eine Wied (Seil, Strick)
kommen yn eyne widen, dy sollit ir schud- kommen müßt, die sollt ihr schütteln und
den und ryden also lange, daz ditte mentsche reiten, bis dieser Mensch wieder nach euch
nach uch begynnet czu vorlangen. aber wol- verlangt. Aber wenn ihr wieder kommen
16 Pfeiffer, Franz: Predigtmärlein (aus einer Straßburger Handschr.), in: Germania, 3 (1858),
S. 416–419; vgl. auch Moser-Rath, Elfriede: Geistliche Bauernregeln, in: Zeitschr. für Volks-
kunde 55 (1959), S. 221: Zum Gebrauch christlicher Formeln in der volkstümlichen Heil-
kunde (17. Jahrh.): „Ein und anderer aus dem einfältigen Bauren-Volck machet mehrmalen
einen Einwuff, sagend: … ist nichts Böses, sondern es kommen heilige Sachen und Gebräuch
[…] Wisse aber mein lieber Einfältiger, daß der Teuffel zum öffteren sein Spihl mache unter
dem Schein des Guten.“
17 BSB München Clm 849, Bl.131b, veröff. Schönbach, Anal. Graec., S. 43, 15.Jh
dit y widder kommen, ir brengit daz heilge wollt, dann traget das hochheilige Kreuz
frone crucze yn uwerin henden. in euren Händen.
Das dritte Textbeispiel zielt ebenfalls auf die Behandlung eines Besessenen und
zeigt mit dem Begriff „Widersprechung – Satan und seinem Anhang“ die Nähe
zum alten Taufgelöbnis mit seiner Abschwörungsformel („ec forsacho diabolae end
allum diobolgeldae“). Es konzentriert auf den Namen Jesu und auf eine Garantie-
gabe, daß Gott Vater seinen Sohn auch nicht „gewiret und geweret und gewern“,
also in Verwirrung hat kommen lassen. Der Verweis auf Gottes Schöpfungsakt ist
ein wichtiges Element vieler dieser Exorzismus-Formeln, weil er die Ohnmacht
Satans auch im Blick auf die menschliche Seele, die nach Origenes und Augustinus
niemals vollends vom Bösen besessen werden kann, wiedergibt. Als Schöpfer bleibt
Gott auch Inhaber der Menschenseele. Das drücken schon die althochdeutschen
Trierer Teufelssprüche aus: „Es braucht niemand den Teufel zu fürchten, denn er ver-
mag dem Menschen nur zu schaden, wenn es Gott (Christus) ihm gestattet.“18 Im üb-
rigen schließt der folgende etwas verschriebene steiermärkische Text ängstlich- de-
pressive Symptome ein und reiht sechs Körperteile auf, die teuflisch besetzt seien.
Im Verlauf geht der Text in ein Bittgebet über.
19
Ain Widersprechung fier posse gespennst Gegen böses Gespenst
vnd Vermainen [… sprich:] und Verzaubern. […Sprich:]
Heut ist ein Heilliger leblicher N wider- Heute am heiligen und löblichen Tag X
sprich ich dich N. dem teuffl vnd allem widersage ich dir,N, dem Teufel und all
seinem Anhang. durch den suessen namen seinem Anhang, durch den süßen Namen
Jhessus den pessen füessen, pessen Hen- Jesus. (Ich widersage) den bösen Füßen,
den, pessen Zungen / pessen meüllern pes- Händen, Zungen, den bösen Mäulern,
sen augen pessen falschen Hertzen. Da Augen und falschen Herzen. Ich ver-
widersprich ich dich N. Heut vnd alle Zeit, banne dir, N,, heut und alle Zeit alles,
alles daz dir schaden mag. An sell vnd an was dir schaden kann an Seele und Leib
leib, vnd an Allen dem, was du von got und an all dem, was du von Gott bekom-
deinem Hern hast, da wider sprich ich men hast. Ich verbanne dich mit Gott und
dich N mit got dem süessen Namen Jhesus dem süßen Namen Jesus und den Worten
vnd mit den krefftigen worten daz gott der Gottes, als er Himmel und Erde schuf […]
Herr Himel vnd Ertrich mit beschueff […]
18 Embach, Michael: Trierer Zauber- und Segenssprüche d. M.alters. In: Kurtrierisches Jahrb.
44 (2004), 29–76
19 Graz Steierm.Landesarchiv, HS 476 Arznei- und Alchemiebuch von 1587, S. 119v-120r
O Got Himel Her Vatter Jch befülche die des Arme Seel. Heut vnd
alle Zeit, sein Angst vnd not, truebsall vnd Krankheit Klag ich dir,
Jch pit dich treib aus alle Vnsaubreigkhait Vnd schwachheit Ich pit
dich mein Himelischer Vatter. […]
Der ständige Kampf gegen die Macht böser Geister spiegelt sich in den letzten
Jahrhunderten auch in den vielen verbreiteten Druckschriften, Amulettbriefen und
Zetteln, den Sieben-Schloss-Gebeten, Himmelsriegeln, Teufelsgeißeln, Benedik-
tus-, Franziskus-, Laurentius-, Lucassegen, Gewittersegen, im Geistlichen Schild
und in den Albertus-Magnus- und Mosisbüchern. Aus dieser Flut von volksfrom-
men Beschwichtigungen haben sich Splitter für Heilkundige gelöst, die in verschie-
densten Anliegen, nicht nur für seelisch Kranke eingesetzt wurden. Auch hat man
jüdische Amulette20 gefunden, die nach Exorzismusart mit viel Geisterdialog be-
sonders unter Nennung vieler Gottesnamen, Geister-Namensbann, Namens-Preis-
gabeerzwingung gegen Lilith bei der Wöchnerin vorgehen.
Einige Textbeispiele mögen auf die Vielfalt der exorzismusartigen Ansätze hin-
weisen bei Vermutung von seelischen Krankheiten. Es vermischt sich die Metapho-
rik des Esels bei Erregungszuständen mit Christi Eselsritt und mit Eselsblut, es
wird die alttestamentliche Scheidung der Geister eingespannt, um Böses abzuspal-
ten. Pflanzenriten und Zahlenspiele sollen die Macht der Worte steigern, ebenso
die Anrufung des Erzengels Michael als Drachentöter. Seine Erwähnung weist dar-
auf hin, daß oft eine Korrespondenz zum Exorzismus der Tridentinischen Messe
des Rituale Romanum (Papst Leo XIII, 1890) bestehen kann. Mit der unverwand-
ten Ausrichtung der Augen auf ein schwarzes Kreuz begegnet echte hypnotische
Technik.
21
Ein guoter Segen für die beße Leuth
Hat dich der Teuffel geritten, so helf dir der Mann, der zu Jerusalem
auf einem Esel ist geritten. Im Namen […]
22
Wann ein Mensch dischberat ist, so muß er Eßelsblut trinken,
einen schopeben, von einen ganzen Hengst. – Ich weiß nicht,
wo du her kommen bist und weiß nicht, was aus dir werden wilzt, und
weiß nicht, was du bist, so helft dir der liebe Herr Jesu Christ,
Gott Vater, Sohn und heiliger Geist.
20 Angerstorfer, Andreas: Ein Schutzblatt (Amulett) für eine Wöchnerin, (Red.) Schriften des
Fränkische-Schweiz-Museums, 2 (Bayreuth) 1987, S. 87–92
21 Birlinger, Anton: Aus Schwaben. Sagen, Legenden, Aberglauben, Wiesbaden 1874 (Neuaus-
gabe Aalen 1969), S. 450, aus einem alten Heft von 1733, von Oberndorf, Ammertal
22 Telle, Joachim: Ein handschr. Kunst-und Viehbüchlein des Wasenmeisters Busch 1819,
S. 159–185 hier S. 175, in: Assion, Peter (Hg.): Ländliche Kulturformen im deutschen Süd-
westen, Stuttgart 1971
23
Teufel zu bannen
Zwischen Erdingen und Denklingen bannte einst ein mutiger Küster den
Gottseibeiuns mit den Worten:
So schlag‘ ich nun mit Jesu Wunden Dich, Teufel, bis zur Höll‘ hinein
24
Seegen für Zauberey und Gespenster so den Menschen Nachstellen
.+.
.+. .+.
Im ersten Buch Mossis im 3.ten Capitel Ich will Feindschafft setzen
spricht der Herr zwischen dir u. dem Weibe zwischen deinem Saamen u.
ihrem Saamen derselbe […] soll dir den Kopf zertretten u. du wirst
sie in die Ferssen stechen Hörest du verfluchter Höllen-Geist, der
Heilige Nahme Jesus behüte mich; der Heilige Nahme Jesus Schelte
dich; der Heilige Nahme Jesus Scheide mich u. dich von einander, von
Nun an bis in Ewigkeit Ammen.
25
Fürn teufel
Wiltu den teuffel von ainem menschen pringen, so nym Seuenpawm [Wacholder]
drew czweigel vnd leg sy in einen hafen vnd gews drey stund daran guten
wein in dem namen des vaters vnd des suns vnd des heyligen gaistes
vnd lass sieden, daz es wol erwalle, vnd leg ez dem pesessen menschen
auf daz haubt, daz ers nit wisse, so muss der teufel antwurten vnd weichen.
26
Fernexorzismus
Millionen, Milliarden, Billionen mal:
Im Namen der Hochallerheiligsten Dreifaltigkeit. Im Namen Jesu, Maria
und Josef! Befehle ich euch ihr höllischen Geister, weichet von ihnen
und von ihren Orten und waget nicht wiederzukehren und sie zu
versuchen und ihnen zu schaden an Leib und Seele! […] Weil die
Menschheit so verstrickt im Bösen ist, daß sie selbst gar nicht mehr
davon frei wird. Heute und vor längerer Zeit wurde mir geoffenbart,
daß vom Hl. Berg Heroldsbach aus, der dämonische Geist, welcher
heute über die ganze Erde ausgebreitet ist, niedergekämpft werden muß […]
27
Durch Zorn und Gall straft Gott die Menschen all; alle schlechten
Säfte und schlechtes Blut, befehle ich die Gicht-Krankheit unter
Gottes Huth. Ich beschwöre Euch beim lebendigen Gott, Gott
23 Schell, Otto: Bergische Zauberformeln (19. Jahrh.). In: Z. d. V. für Volksk.16 (1906),S. 170–
176, hier 176
24 Oertel, Barbara: Ein Rezept- und Zauberbüchlein vom Ende des 18. Jahrhunderts, in: Bau-
singer, Hermann (Hg.): Zauberei und Frömmigkeit (Volksleben 13) Tübingen 1966, S. 80
25 Zingerle, Oswald von: Segen und Heilmittel aus einer Wolfsthurner Handschrift 15. Jh.,
in: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 1 (1891) S. 172–177, 315–324, hier S. 322
26 Kriß, Rudolf: Heroldsbach, Statistiken und jüngste Entwicklung (Mitte 20. Jahrhundert) In:
Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1955, S. 106–118, hier: S. 117
27 Fossel, Victor: Volksmedicin und Medicinischer Aberglaube in Steiermark, Graz 1886,
S. 167f (19.Jh.)
30
Gegen Gegicht und Gesücht
Unser lieber Sohn und unser liebe Fra (Frau) gingen über eine grüne
Ae (Au) da begegnet jhnen das Reißlich vnd Freischlich, das gegicht
vnd allerley Gesücht. Wo wiltu hin Gegicht und allerley Gesücht?
Da will ich in deß Mannes Haus will jhm sein Fleisch fressen,
will jhm sein Blut aussaugen will jhn gar zu nicht machen. […]
Das solt du nicht thun kehr wieder um Reißlich und Freischlich
das Gegicht und allerley Gesücht! Nein in wilden Wald, in holen Stock …
30 Birlinger, Anton: Alemannia 17 (1889) 241f (aus Frommann, Johann Christian D Medico
provinciali Saxo-Coburgico et PP Norimbergae Tractatus de Fascinatione Novus et Singula-
ris, S. 354, Endter 1675)
31 Vgl. besonders Hanauer, Josef: Der Teufelsbanner und Wunderheiler Johann Joseph Gaßner,
in: Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg 19 (1985), S. 356f
hatte wegen des großen Rummels um seine Person und der völlig abweichenden
Exorzismustechnik eine Untersuchung veranlaßt. Ein Mitglied der Kommission
war der Arzt Franz Anton Mesmer, bekannt durch eine nicht spirituelle Art von
Kuren, die er als „animalischen Magnetismus“ bezeichnete. Mesmer erkannte zwar
die Bedeutung Gaßners und seine Erfolge, führte aber dessen Wunderkuren auf
seinen eigenen „Magnetismus“ zurück. Instrumentalisiert32 durch die neu gegrün-
dete Bayerische Akademie der Wissenschaften war Mesmer gegen einen Laien vor-
gegangen, indem er damit argumentierte, Gaßner habe nur am Symptom kuriert.
Nicht mehr Geister, sondern das „magnetische Fluidum“ war nun alles. (Treppen-
witz der Geschichte: 1784 erfährt Mesmer in Paris das gleiche Urteil: Erfolge ja,
aber theoretischer Unsinn) Von Kaiser Joseph II. wurde Gaßner in eine kleine Ge-
meinde versetzt; nach Weisung von Papst Pius V. wurden ihm Exorzismen verbo-
ten. Eine der Formeln Gaßners lautet:
33
Ich befehle im Namen Jesu einem jeden Teufel insonderheit und allen
insgesamt, daß ihr von meinem Leibe und der Seele sollet fortweichen
mit allen Anfechtungen und ins Künftige keine Gewalt mehr haben, mich
weder an der Seele noch am Leibe zu belästigen; denn ich will stehen
unter dem Schutze Gottes und des heiligsten Namens Jesu. Wer ist wie
Gott? Heilig, heilig, heilig ist er, den ich über alles liebe, weil
er das höchste Gut, an den ich glaube, daß er mir helfen kann, weil
er allmächtig, auf den ich hoffe, daß er mir helfen will, weil er
unendlich gütig und barmherzig, mir helfen wird, weil er es
versprochen und in seinem Versprechen unendlich getreu und wahrhaft
ist. Ich will streiten im Leben und Tode. Im Namen des Vaters und des
Sohnes und des heiligen Geistes Amen!
Bahnbrechend für den Erfolg des Wunderpfarrers waren derartige Spruchtexte al-
lerdings nur in einer neuen Form der Anwendung. Von vielen wurden ähnliche
Beschwörungen gesprochen und das christliche Fundament in ihnen war selbstver-
ständlich. Den eigentlichen Impuls für die Entstehung der ärztlichen Hypnothera-
pie brachte seine Methodik der Suggestion, die er Exorzismus probativus nennt.
Die direkte Bedrängung, Schmähung und Vertreibung des Satans als Person, wie
bei den mittelalterlichen Verfahren, trat in den Hintergrund. In einer bis dahin
völlig unbekannten, verbal und manuell zupackenden Taktik verstand es Gaßner,
Krankheitssymptome zu provozieren. Während die Exorzisten des Mittelalters Dä-
monen herausquälten, die jedenfalls nach den Schriften protestierend mit Lärm
und Gestank, Löwen- und Schweinegebrüll die Kranken verließen, traktierte Gaß-
ner seelische und körperliche Krankheitssymptome, die sich daraufhin bedrohlich
meldeten. Er entlockte seinen Patienten Zornausbrüche und Lachen, Traurigkeit
Abb. 57 Johann Joseph Gaßner an der „Magischen Säule“ in Meersburg am Bodensee (Peter Lenk
2007). Der Exorzist demonstriert als Vierfüßler auf einem Podium den Gaffern, wie er böse Gei-
ster als seine eigenen Darmwinde austreibt. Die Satire entspricht dem Trend orofäkalen Clearings
im Kunstbetrieb.
2) Mit den Zauberworten Clearing, Katharsis oder Recycling könnten sich Spar-
ten einer Abart der Psychoanalyse (Kleinianismus) schmücken, die theoretisch dem
Prinzip der Container-Verladung verhaftet sind. Der Nervenarzt und Psychoanaly-
tiker Manfred Krill36 schildert eine solche Form der Erwartung bei erwachsenen
Patienten als „Übertragung“ auf den Therapeuten: Jeder Patient soll vor allem seine
bösen, neid- und hasserfüllten innerseelischen Objekte in den Therapeuten abwer-
fen, ihn als Abfallbehälter nutzen. Der Therapeut soll dann alles entgiften und ge-
reinigt zurückgeben. Krill erinnert anhand dieser mechanistischen, unpersönlichen
Methode an Teufelsaustreibung und an den modisch hochbedeutsamen Trend des
Recycling der Müllhalden. Besonders wird auf die Überschätzung des Therapeuten
und die Gefahren von Machtmißbrauch hingewiesen.
Die Wirkung exorzistischer Verfahren ist in hohem Maße von der Diagnose abhän-
gig. Je mehr es sich um psychogene Erkrankungen im Sinne der histrionischen
Persönlichkeit handelt, z. B. um dissoziative Anfälle oder Lähmungen, umso eher
ist und war eine Besserung der Symptome zu erwarten, dies natürlich nur dann,
wenn die Verfahren „rituell“ dem entsprechenden kulturellen Milieu entsprechen.
Etwaige neuronale strukturelle Prägungen histrionischer Erkrankungen sind in der
Die in diesem Kapitel versammelten Texte geben uns vor, eine bestimmte Störung
oder krankhafte Veränderung zu behandeln oder ihnen vorzubeugen. Es entsteht
der Anschein einer Diagnose: Verhexung, Verzauberung, Angetanes, Zugriff einer
bösen Macht oder eines bösen Menschen.
Prüft man den Gehalt an realen Symptombeschreibungen in und um diese
Texte herum, wird man nur wenig oder nur diffuse Versuche finden.2 Nur selten
sind spezielle Beobachtungen am Körper genannt, etwa das Abnehmen der Kinder
oder global einfach Gesundheitsverlust, häufiger finden sich Angaben über Sym-
ptome beim Stalltier. Aus keinem der Sprüche geht das hervor, was wir heute bei
erstem flüchtigem Blick vermuten würden, daß mangels körperlicher Symptombe-
schreibung vielleicht eine seelische Krankheit vermutet wurde und behandelt wer-
den sollte. „Wo die Volksmedizin […] Wissen mit vermeintlichem Wissen ver-
knüpfen will, da werden ihre Ergebnisse oft unsicher, unklar und falsch.“3
Ohne jede ärztliche Etikettierung aus Texten und Symbolen fast aller Völker bis
in die Neuzeit begegnen4 uns die Phänomene der bösen Augen und Blicke, böser
1 Mann, Thomas: Doktor Faustus, Berlin 1952, S. 316 (Rede des Teufels)
2 Hampp, Irmgard: Beschwörung Segen Gebet, Stuttgart 1961, S. 105; Seligmann, Siegfried:
Der böse Blick und Verwandtes, Berlin 1910, I, S. 252f
3 Hampp, ebenda
4 Für eine Reihe wichtiger Quellen siehe Seligmann, Siegfried: Die Zauberkraft des Auges und
das Berufen, [Hamburg 1921], S. 15–93; Gager, John G. (Hg.): Curse Tablets and binding
Abb. 58 Schutzkulte gegen bösen Blick. Von links: antike Augenvase, Gorgonenhaupt der Akro-
polis, Odysseus bei den Sirenen in Pompej, Schicksalsgöttinen eines etruskischen Spiegels, sy-
risches Amulett
spells from the ancient world, New York, 1992; Eibl-Eibesfeldt, Irenäus und Christa Sütter-
lin: Im Banne der Angst, München 1992
5 Schulz, Monika: Magie oder Die Wiederherstellung der Ordnung, Frankfurt 2000, S. 131
6 Bozen Kloster Muri, Codex 69 (jetzt im Benediktinerkolleg Sarnen), veröffentl. Wackerna-
gel, Wilhelm: Altdeutsche Predigten und Gebete, Basel 1876, S. 216f; veröffentl. und komm.
Eis, Gerhard, Altdeutsche Zaubersprüche, Berlin 1964, S. 117–123
ansehin suln. odir diheinen giwalt ansehen sollen oder die keine Gewalt
ubir mich habin suln. unde chere über mich haben sollen. Und kehre all
ir allir zungin unde ir wort. unde ihre Zungen und ihre Worte und ihren
ir willin an mine frovde. unde an Willen um zu meiner Freude, meinem
mine hulde. unde an mine minne. Wohlwollen und meiner Güte.
Ein ganz ähnliches Segensgebet des folgenden 13. Jahrhundert nennt auch die an-
fängliche Messtechnik mit einem Band von Haaransatz bis Kinn und von Ohr zu
Ohr, eine Manipulation, die Sprech- und Sehorgan stellvertretend für alle Men-
schen dem Walten Gottes unterstellen soll, während beide Handschriften im An-
schluß an das Gebet weitere Messungen beschreiben, die kreuzförmig über Herz
und von Brustbein bis zum Nabel anzulegen sind.
7
Der in nὁten sey, der spreche daz gebet. Nim Gebet in Not, Gefahr und Bedrängnis
ein tacht und miz dein antluetze chraeutz- Nimm einen Docht und miss dein Gesicht
ling von dem har untz an daz chintpayn, von kreuzweise vom Haar bis ans Kinn und
dem oren an daz ander, und sprich: Du al- von einem Ohr zum anderen und sprich:
maechtiger got, durch dein heiligs haubt und Du allmächt. Gott, durch dein hl. Haupt
durch dein heiligiu wort, die du den menschen und durch deine hl. Worte, die du den Men-
ie ze genaden spraech, du emphach ditze schen je gnädig zusprachst, empfange die-
liecht und gebiut aller menschen zung ses Licht und gebiete aller Menschen Zunge
7 München BSB Clm 23435, fol. 72v-73r, hs. Segenabschriften Schönbach, Gießen, S. 971f,
veröffentl ders. in: An. Graec., S. 47, 13. Jh., Clm 23435, fol. 72r. (Herkunft? Febr. 2010
nicht digitalisiert)
8 Eis, Gerhard: Altdeutsche Zaubersprüche, Berlin 1964, S. 119
9 München BSB Cgm 37, fol. 133r, 14.Jh., veröffentl. Roediger, Max, Z. f.dt. Altertum 21
(1877), S. 207f
10
O jesu christ marien sun. dein marter sey heut mein frum (Nutzen).
daz all mein feind vorcheren (umkehren) sich. dez pit ich lieber herre dich.
daz si erstarren und erstummen an mund und an zungen.
an augen und an handen. daz sy ymmer vollenden (beenden, zu Ende bringen)
an mir iren willen dez pit ich herre gar stille.
Got vater Got sun Got heyliger geist wann du ir aller hertz wol waist
so behüt mich vor in (ihnen) allen. daz si also vor mir vallen.
als vor dir tet der juden diet (Kerl). da dich Judas kegen in verriet.
amen. pater noster.
Wie im obigen Cgm 54 des 14. Jahrhunderts werden oft die vor Christus fallenden
Juden als Analogon benutzt, im folgenden aus der gleichen steiermärkischen Hand-
schrift des 16. Jahrhunderts:
12
Ain Annderes fiers verschreyen Fich (Vieh) vnd Leith Sprich:
Vnnser Lieber herr Jhesus Cristus gieng in den garten.
da dheten (täten) sein die falschen Juden warten
da sprach Jhesu wen suecht Jr da, da sprachen die Juden
wir suechen Jhessum Von Nassareth, da sprach Jhesus
Jch pins, da fielen die Juden al Hinder sich Zu Rugkh,
also müessen alle Zungen, durch die Crafft vnd macht
vnsers Lieben Hern Jhesu Cristi Zu Rugkh fallen
die dich N. Haben peschrieren […]
Ein besonders verbreitetes bis in die Zauberbücher des letzten Jahrhunderts tra-
diertes Motiv ist als Numeralzauber13 benannt worden, d. h. die „Überzahl an zu-
rückgesandten Pfeilen [auch in ethnografischen Belegen] oder der ‚guten Augen‘
gegen den bösen Blick“ soll über den Erfolg entscheiden, ein rhetorischer Trick,
wie wir ihn umgekehrt von der Minimierung der Dämonen z. B. im Falle des „hal-
10 München BSB Cgm 54, fol. 106v, 14. Jh. veröffentl. Schönbach, Zeitschr f. dt. Altertum 24
(1880), S. 71
11 Graz Steiermärkisches Landesarchiv, Arznei-und Alchemiebuch, Handschr. 476, fol. 119 von
1587
12 Graz Steiermärkisches Landesarchiv, Handschrift 476 von 1587, S. 188v
13 Schulz, Monika: Magie oder (wie oben), S. 129
Seit dem Ende des 16. Jahrhundert häufen sich die Textnachweise. Und in einem
ihrer Traditionszweige werden statt der bösen Augen und Mäuler nun böse Gestal-
ten aller Sorten und Stände angegriffen,18 im gereimten Text aus dem Sechsämter-
land des 18. Jahrhunderts sogar mit den zugehörigen bösen Gesinnungen: Neid,
Hass, Eifer und Zorn.
14 München BSB Cgm 54, veröffentl. Schönbach, Zeitschr, f.dt.Altertum und dt. Lit. 24
(1880), S 69f; vgl. Kap. 19
15 Bartsch, Karl: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Mecklenburg, gesammelt und hrsgg.
Wien 1879, Band 2, S. 15 (Bekenntnis der Anneke Hinrich Quisen, wie sie die Leute butet,
Krim.protokoll Rostock 21.Juni 1584)
16 vgl. die umfassende Bestandsaufnahme bei Spamer, Adolf: Romanusbüchlein, S. 109–157
17 Karlsruhe Badische Landesbibl., Hs. aus St. Blasien Cod. Pap.Germ. 87 (Arzneibuch eines
Wundarztes in Kränkingen?), aus 1617, veröff. Mone, Anzeiger 6 (1834),S. 471
18 Spamer (wie oben), S. 115ff
19
Vor daß Beruffen oder Verschreien
Falsche augen falsche Sinnen falsches Hertz und falsch Beginnen
ist gegangen üBer mich Gott Württ mein Erbarmen süch (sich)
Hats gethan ein Man aus Neide komt ihn in die Brust und seite
Hats gethan eine Frau aus Haß komt ihr ins HauBt Hals und Naß
Hats gethan ein Knecht aus Eieffer komts ihm in Munt und Zungen und geiffer
Hats gethan eine Magd aus zorn komt ihr in Hand Fuß und Korn
gott der Würd es ihnen senden alles bösse von mier Wenden […]
Ein anderer Traditionszweig betont und ergänzt die Aufzählung der zurückzu-
schleudernden Organschäden, im folgenden fest eingebettet in andere bekannte
christlich orientierte Spruchpartikel:
20
[…] Gesegne mich Johannes die heil. fünf Wunden,
damit seind alle meine Feind gebunden +;
Gesegne mich Johannes sein rosenfarbnes Bluet,
das sei mir für alle meine Feinde guet +,
die mich anblicken und ansehen mit ihren schlechten Waffen,
Zauberei und Teufels Gespenst, dass mir Johannes kein Schaden mag
sein, Also wenig dir heint, Herr Jesu, Schaden mög sein, Es sei mit
starken Worten oder Werken, Es sei an Leib oder an Guet, An Fleisch
oder an Bluet. Wann ich meine Feind am alle ersten ansiehe, so
muessen ihre Augen an mir erglasen, Ihr Maul an mir erstummen, Ihr
Herz an mir erkalten, Ihr Hand an mir erstarren, Ihr Bein und Fuess
erstehn, dass ich Johannes + in kein Schaden möge gesetzt werden. […]
kaum mit Medizinern in Berührung kam. In den Medizinbüchern fehlen sie. Sie
kommen aus volkstümlichen Gebeten, wie die Schrift von Muri, stehen zwischen
theologischen Abhandlungen wie im Clm 23435, der vom letzten Gericht handelt
und Dämonennamen nennt.22 In vielen Ausfahrtsegen und in den Tobiassegen tau-
chen die zu bindenden schädigenden fremden Augen und Münder auf, vor denen
der Reisende bewahrt sein möge, im 12. Jahrhundert z. B. im Kölner und im Han-
noveraner Reisesegen.23 Dabei werden die Feinde einbezogen, ob sie sichtbar oder
unsichtbar sind und auch deren Ohren, Herzen, Hände und Füße.
Wir müssen vermuten, daß die zumeist als Besprechungen gegen böse Absichten
von unfassbaren Feinden beschriebenen Texte in Wirklichkeit fast immer auf dem
Boden von Ungewissheit und freier Ursachenfahndung erwachsen sind. Denn un-
sere Vorfahren wären im Falle ängstlicher oder wahnhafter Erkrankung wenigstens
gelegentlich einmal in der Lage gewesen, so etwas mutig zu beschreiben. Es gibt
eine Sucht nach Begründungen, eine Sucht sogar, der viele Philosophen tiefgrün-
dig nachgegangen sind. Die Suche nach einer Erklärung von Krankheit und Leid,
von Not und Verlust führte oft nach einer Weile der Sprachlosigkeit aus einem
„Horror vacui“ zur erlösenden Phantasie erfundener Bilder und Gestalten. Die
vage unbenannte Angst erlöste und entschärfte sich beispielsweise im Münchner
Nachtsegen mit der Einführung traditioneller Dämonen. In ratlosem Unwissen
griff der um Abhilfe gerufene Heiler zum Mittel einer meist anerkannten „magi-
schen“ Potenz, indem er Ignoranz in Aktion umkehrte. Er gab vor, das Geheimste
zu wissen, kontrollieren und besiegen zu können. Seine kranke oder betrügerische
Diagnose war zugleich Therapie, eine Therapie die sich der paranoiden, d. h. der
dem menschlichen Denken selten mangelnden phantastischen bis wahnartigen Ur-
sachenzuweisungen bediente. Er benutzte die Möglichkeit, das menschliche Ge-
hirn täuschen zu können, wobei gegenüber anderen Beschwörungen und gegen-
über den Segen eine abgründige Bildgebung bestand. Die Erfahrung des Heilers im
Volke, meist aus der Nachahmung seiner Väter genährt, ließ ihn erkennen, wie
sehnsüchtig Gehirne sich besonders leicht Täuschungen hingeben, die eigene Män-
gel auf anderes und andere projizieren.
Legt man aber der in den Spruchtexten steckenden Begründung einen realen
Kern zugrunde, so müssen als Quellpunkt Angst- und Wahnsyndrome angenom-
men werden. Angst wird im heutigen Sprachgebrauch von gesunder Sorge und re-
aler Befürchtung kaum unterschieden. Meist tritt sie bei Verstimmungen und De-
pressionen auf. Sie kann mit körperlichen Mißempfindungen, mit sozialen Kon-
flikten oder mit eigenwilligen Vorstellungen korrespondieren. Fließend ist der
Übergang zu den sich immer wieder aufdrängenden überwertigen Ideen, die oft auf
ein eingreifendes Erlebnis zurückgehen und sich in Argwohn und Benachteili-
gungsverdacht äußern.
Etwas ganz anderes ist es, wenn derartige argwöhnenden Verstimmungen nicht mehr korri-
giert werden können und von der Realität offensichtlich grob abweichen, wenn der Betrof-
fene ganze Systeme entwickelt und alle seine Beobachtungen dieser Irrealität unterordnet.
Dann liegt eine Wahnkrankheit vor. Deren häufigster Inhalt ist die feste Überzeugung, von
anderen verfolgt zu werden. Es kann mit einem auffälligen Hüsteln des Nachbarn beginnen,
mit dessen Gesten und komischem Lächeln, mit geflüsterten Anspielungen, aber auch mit
einem gewissen Blick. Und alles bezieht der Kranke auf sich, fühlt sich verdächtigt, verspot-
tet und verachtet. Immer mehr Leute, offen, verdeckt oder verkleidet, in der Familie und
aus dem Fersehschirm, beobachten ihn Tag und Nacht, reden über ihn, schikanieren, ver-
leumden, vergiften und verletzen ihn.
Erst mit der Entwicklung der Psychiatrie seit Ende des 18. Jahrhunderts konnten
Kranke mit ängstlichen und wahnhaften Störungen genauer diagnostiziert werden.
Auch in unserer Zeit knüpfen sich Ängste oft an erschreckende Augen. Während
generell die Abschätzung von Emotionen eines Gegenüber allein aus den Augen
ohne das Gesamtgesicht sehr schwierig ist, haben psychologische Testuntersuchun-
gen bei Borderline-Patienten eine erhöhte Unterscheidungsfähigkeit bei diesen
Kranken ergeben. Damit verbindet sich eine Instabilität für die Einschätzung der
Absichten begegnender Menschen.24 Die bildgebenden Verfahren der letzten Jahre
haben ein in Amygdala*, Locus coeruleus und orbitofrontaler Rinde befindliches
Furchtsystem25 ermittelt, bei dessen fehlerhafter Konditionierung besonders nach
extremen oder permanenten Traumen eine erhöhte Sensibilität auftritt. Bei endo-
gen-psychotischen (major) Depressionen finden sich vergrößerte Amygdalakom-
plexe.26 Bei Wahnvorstellungn kommen Veränderungen auch im Hippocampus*
und im vorderen Cingulum* hinzu. Erst seit dem 20. Jahrhundert können diese
Erkrankungen angemessen behandelt werden. Neben der entscheidend wichtigen
medikamentösen Therapie sind spezielle psychotherapeutische Verfahren entwik-
kelt. – Seit Jahrzehnten haben Kranke im Rahmen der Kunsttherapie auch selbst
dazu beigetragen, je eigene Wege in der Bearbeitung ihrer Probleme zu wagen (Ta-
fel 8).
24 Fertuck, E.A. et al.: Enhanced „Reading the Mind in the Eyes“ in borderline personality
disorder, in: Psychological Medicine 39 (2009), 1979–1988
25 Sachsse, Ulrich und Gerhard Roth: Neurobiologische Traumaforschung, in: Leuzinger-Boh-
leber, Marianne et al.: Psychoanalyse Neurobiologie Trauma, Stuttgart 2008, S. 71
26 Hamilton J.P. et al.: Amygdala volume in major depressiv disorder, a meta-analysis, in: Mole-
cular Psychiatry 13 (2008), S. 993–1000
Die Entdeckung der Pflanze als Hilfsmittel in sublimen Lebenslagen beginnt mit
der Haltung des Menschen zur Schöpfung. Moderne Religionswissenschaft hat in
Unterscheidung von profaner Weltbetrachtung dem religiösen Menschen die Bega-
bung zur Zeichensetzung im sonst diffusen, gestaltlosen Raum um uns herum zu-
gesprochen. Berge, Bäume und Quellen als Naturelemente werden zu bedeutungs-
schwangeren Fixpunkten der Orientierung. Pflanzen aller Arten und ihre Teile
werden Erkennungsmale des Geschaffenen und seines Schöpfers und über Orien-
tierung hinaus zu Stätten der Teilnahme am Schöpfungsprozess. Menschliche „ri-
tuelle Besitzergreifung“ (Mircea Eliade) wiederholt den göttlichen Schöpfungsakt,
der in allen frühen Kulturen von „Mutter Erde“, magna mater, Gaia oder Tellus
(Abb. 59) entfaltet wird. Zugleich treten Mensch und Pflanze als gemeinsam Ge-
schaffene in eine tiefe Verbindung. und können sich ansprechen und somit aufein-
ander einwirken.1 Das hat zur Folge, daß die Entwurzelung einer Pflanze einst als
ein Attentat auf die Rechte der göttlichen Natur2 empfunden wurde und somit
gründliche Extraktionsriten verlangte. Medea benötigt 9 Tage und 9 Nächte für die
Erlangung ihres Zauberkrauts.
Eine Beschwörung der Heilkräfte der Kräuter aus dem antik-römischen Herbar
des „Pseudo-Apulejus“ findet sich in der nach Klapper ältesten Handschrift der
Breslauer Bibliothek aus dem 9. Jahrhundert:
3
Precacio terre. Dea sancta tellus, rerum naturae parens que cuncta generas […]
Precacio omnium Herbarum. Nunc uos potestis omnes herbas deprecor […]
Gebet zur Erde. Heilige Göttin Tellus, Mutter der Schöpfung, die du alles zeugst […]
Gebet zu allen Kräutern. Nun beschwöre ich euch alle ihr kräftigen Kräuter und eure
Gattung und Majestät. Euch, die die Mutter Erde gebar und allen Völkern schenkt,
euch verlieh sie Würde und Heilkraft, damit ihr die nützlichsten Heilmittel seid.
Ebenso findet sich im Maria-Laacher Codex des 11. Jahrhunderts die Anwendung
eines blutungstillenden Trankes mit Drachenwurz. Die Pflanze muß bei Sonnen-
aufgang gepflückt und angesprochen werden:
4
Proserpinatisch Kräutlein, des Königs Horcus Töchterlein;
ich beschwöre dich bei deinen Kräften,
wie du der Mauleselin Schoß verschlossest,
verschließe die Wogen dieses Blutes
Derartige Texte unterlagen freilich der Verchristlichung, und in der gleichen Bres-
lauer Handschrift findet sich dafür einer der seltenen Befunde für die korrigierende
Hand eines Schreibers. Er streicht eine antike Heilkrautformel zum Harz des Dra-
3 Breslau Universitätsbibliothek Codex III. F.19, fol. 21rv 9. Jahrh., veröff. Klapper, J., in:
Mittlg. der schles. Gesellsch. f. Volkskunde 9 (1907), 5–41, Bezug S. 15f
4 Bartsch, Elmar: Die Sachbeschwörungen der römischen Liturgie, Münster 1967, S. 108
(nach R. Heim, Incantamenta, 554), weitere antike Formeln bei Bartsch SS. 47,161,209f,212.
chenbaumes durch, die noch mit Mutter Erde und nach Anweisungen des Askle-
pios die Pflanze beschwört, und schreibt darüber rechts seitlich: „Was hier folgt ist
wirkungslos; dafür spreche man das Vater unser und das Credo.“
Abb. 60 Sturz der alten Götter in den Schriften. Durchstrichen ist: „Ygia, summa nutrix draco-
num, per matrem terram te adiuro, ut curis praecantationibus Asclepii, herbam doctorem, incan-
tationem meam perferas inlibatam.“
Und so haben die in vielen Medizinbüchern tradierten Texte ihre antiken Göt-
ter verloren. Deren Sturz kündigte sich früh an. Selbst Kaiser Julian (331–363), der
als letzter heidnischer Kaiser die konstantinische Wende bekämpfte und wieder
den Asklepios/ Äsculap verehren ließ, hatte schließlich anerkennend empfohlen, in
der Versorgung von Kranken, Unheilbaren und Elenden den Christen nachzuei-
fern.5
Hohes Ansehen behielten eher einige Pflanzen, die von den Arztschriftstellern
der Antike empfohlen waren. Der Trierer Wundsegen des 10. Jahrhunderts be-
schwört ein Kraut, das nach mythologischen Vorstellungen der Aeneis des Vergil
die Kraft haben sollte, Pfeile aus einer Wunde zu ziehen: Diptam bzw. Dictam, eine
Wunderpflanze, die noch Wolfram von Eschenbach im Parzival einsetzt.
Der Trierer Wundsegen hat diese alte Vorstellung behalten:
6
Si quis percussus fuerit de sagitta Wenn einer durch einen Pfeil verwundet
eamque gustaverit sagitta de corpore wurde und ihn in seinem Körper spürt,
educe et egens eam sic dices: ziehe den Pfeil heraus und sprich:
5 Sudhoff, Karl: Kleines Handbuch der Geschichte der Medizin, Berlin 1922, S. 157f
6 Trier Stadtbibliothek Handschrift 40/1018, fol. 17v, veröffentl. und übertragen nach Em-
bach, Michael, Trierer Zauber-und Segenssprüche, in: Kurtrierisches Jahrbuch 44 (2004),
29–76, Bezug S. 51–54
diptampnum herba precor per eum Diptampnum, du Kraut, ich bitte dich
qui iussut te nasci, ut uenias ad me im Namen dessen, der befohlen hat,
cum tuis uirtutibus daß du entstehst, du mögest zu mir
kommen mit deinen Kräften
7 Hils, Hans-Peter: Von dem herten. In: Sudhoffs Archiv 69 (1985), S. 62–75, hier: S. 73f
Die historisch nachweisbare Berühmtheit der Verbena und ihr Fortleben bis in
die Medizinbücher der Renaissance hat allerdings nichts mit somatisch-medizi-
nisch nachweisbaren Wirkungen zu tun, sondern einzig mit ihrem Renommee als
Kultpflanze und Zauberkraut mit wundervollen Ausgrabungs- und Anwendungsri-
ten, mit einem Vielzweckversprechen und mit dem die Pflanze zum Ansprechpart-
ner im Schöpfungswerk aufwertenden Begegnungsspruch. Das hatte schon Plinius
gerügt, als er den Magiern wahren Unsinn mit dieser Pflanze vorwarf.8 Ebenso
hatte noch Hieronymus Bock in seinem Kräuterbuch 1551 beklagt, daß andere
Kräuter nach dem Vorbild des Eisenkrautes (Verbena) mißbräuchlich in Aberglau-
ben und Zauberei gekommen sind. Auch Martin Luther „eifert gegen Aberglaube“:
Es gebe Leute, die Eisenkraut, Käse und andere Dinge an die Kinder binden, die
getauft werden sollen.9
In der folgenden Wiener Handschrift des 14. Jahrhunderts steht wenige Seiten
nach dem „Salernitanischen Arzneibuch“ ein ausführlicher Eisenkrauttext, den wir
wie alle seiner Art als ursprünglich selbständige Schrift aufzufassen haben, als ein
„Traktat“, eine thematisch eng ausgerichtete Texteinheit, die aus mehreren Baustei-
nen bestehen kann, so wie es Traktate für Harnschau, Pulsfühlen, Aderlaß, aber
auch für andere Pflanzenstoffe wie Kranewitber (Wacholder) und Eichenmistel
gab.
10
Von dem eysenchchrawt vnd seyner tugent. Vom Eisenkraut und seiner Tugend
Daz ist dew wurtzen dy da hayzzet verbena, Das ist die Wurzel namens Verbena,
eysenchrawt. will du sey graben so ging dar Eisenkraut. Zum Ausgraben geh an
tzu eynes erichtag nachts vnd eynes phyntztag einem Dienstag oder Donnerstag nachts
nachts vnd stoz eyn vingerleyn oben an die und stoß oben an die Wurzel einen rein
wurtz daz von lawtern silber sey vnd sprich: silbernen Fingerring und sprich:
Genaedigew wurtz ich peswer dich in den Gnädige Wurzel, ich beschwöre dich
eren der heyligen dryvaltigchait vnsers zu Ehren der hl. Dreifaltigkeit unseres
herren ihesu christi. Genaedigew wurtz Herrn Jesus Christus. GnädigeWurzel,
ich peswer dich in dem nam des vaters ich beschwöre dich im Namen des Va-
vnd des svns vnd des heyligen geists. G. ters und des Sohnes und des hl. Geistes
Ich peswer dich pey der potschafft dew Ich beschwöre dich bei der Botschaft
der engel chvndt tet vnser frawn daz si der Engel an unsere liebeFrau, daß sie
gottes mueter werden scholt […] Gottesmutter werden sollte […]
ich peswer dich pey der peschaffung da Ich beschwöre dich bei der Schöpfung,
got hymel vnd erd peschueff vnd als Gott Himmel und Erde erschuf mit
allez daz dar inne beslozzen ist. G. allem, was darin beschlossen ist. G.
ich peswer dich pey dem vall vnd Ich beschwöre dich bei dem Fall, als
8 Plinius, Nat.hist. 25,105ff, zit. nach Marzell, Heinrich: Bayer. Volksbotanik 1968, S. 168
9 Marzell, Heinrich: Zauberpflanzen, Hexentränke, Stuttgart 1963, S. 76
10 Wien ÖNB Perg. Hs. 13647, „Wiener Bartholomäus“, fol. 130r-132r [?], 15. Jahrh., veröf-
fentl. bei Haupt, Joseph, SB phil.-hist. Klasse Wien 71 (1872), S. 523ff; ähnliche Schriften
aus dem 14. und 15. Jahrhundert siehe Holzmann, Verena: „Ich beswer dich wurm vnd wy-
rmin…“, Bern u. a. 2001, Seite 164–166
got denn tewfel vallen hiez von dem Gott den Teufel stürzen hieß vom Him-
hymel vnd pey den panten da er in mel und bei den Banden, mit denen er
mit gepvndten hat […] ihn fesselte […]
Dieser umfangreiche Text setzt sich fort mit Beschwörungen bei Geburt und Taufe
Christi und seinen heiligen vierzig Tagen, seinem Ölberggebet, seinem Kreuzweg
und bei einer Reihe weiterer Glaubenswahrheiten bis hin zu Ostern und zum
Pfingstwunder, in summa also den Elementen des großen Credo. Das hatte der
oben genannte Mönch in Schlesien schon gewünscht und das war offenbar weithin
so empfohlen worden. In weiteren Absätzen der Schrift werden Kautelen der Wur-
zelextraktion und die Tugenden, d. h. die „zauberhaften“ Wirkungen der Wurzel
beschrieben, wenn man sie bei sich trägt, ihr Schutz vor einem Tod ohne Sakra-
ment, aber sogleich auch weltlicher Nutzen: Erkennung von Dieben, Fundstellen
und Sterbetagen im Traum, wenn man die Wurzel unter den Kopf legt. Die Gebä-
rende hat die Wurzel auf ihre Brust zu legen. Die Wurzel hilft vor Gericht, hilft
gegen das Fallende, also gegen die Epilepsie und gegen alle Feinde, hilft zum Schla-
fen und gegen Erschöpfung, selbst den Pferden, denen sie untern Sattel zu legen
ist.
Und während in vielen Schriften dieses Typs das Credo nicht mehr ausgebreitet
wird, bleiben Vorschriften für den Ritus des Ausgrabens und besonders die „Tugen-
den“ des Krautes als Wunderwaffe später frei verfügbar. Sie dienen zur umfassen-
den Lebenshilfe, bleiben zweckmäßig als Angebot für Auswahl und Spezialwunsch,
können unter hundert Alltagsanliegen von Abschreibern oder mündlich Tradieren-
den gestaltet werden. Und so wurden sie Bestandteil oder Anhang vieler Medizin-
bücher, besonders des „Bartholomäus“ wie im Breslauer Arzneibuch des 13. Jahr-
hunderts.11
An „Tugenden“ werden weiterhin Geburtshilfe und Schlafförderung, ferner
auch Schutz vor dem Teufel, d. h. vor Versuchungen, vor Anklagen bei Gericht, vor
Verirren auf dem Wege versprochen. Als ein vom unbekannten Traktatautor aus
der Antike übernommener Anteil gilt die Vorschrift, das Eisenkraut mit Edelmetall
zu umgeben,12 zu umkreisen und niemals mit eisernem Gerät auszugraben. Eisen
zerstört den Zauber. Als christliche Zutaten zum Anwendungsritus fungieren ne-
ben der Terminierung auf den Maria-Himmelfahrtstag oft die Einlage in Weihwas-
ser, das Verbringen unter ein Altartuch oder die offene Weihe. All diese Kautelen
haben dem Kraut eine respektable Position eingetragen.
Einige der Traktate haben sogar prognostische Hinweise, Voraussagen auf
Krankheitsverlauf, Entbindungsergebnis und Todeseintritt aufgenommen. In der
11 Keil, Gundolf : Magische Elemente im „Breslauer Arzneibuch“, in: Unverricht, Hubert und
G. Keil (Hg.) : De Ecclesia Silesiae (FS 25 Jahre Apostol. Visitatur Breslau/ Winfried König),
S. 199–208, hier : S. 205f
12 Telle, Joachim: Petrus Hispanus, Heidelberg 1972, S. 157, dort weitere Parallelhandschriften
genannt
folgenden Handschrift ist diese ganz eigenartige „Tugend“, die dem Kraut ein ge-
heimes höheres Wissen um die Zukunft einräumt, das selbst den Arzt übertrifft,
wie so oft ganz an den Anfang gestellt. Dieser Todesprognostik hat die Forschung
sogar eine Vorläuferfunktion zu romantisch-mesmeristischen Ideen zuerteilt. „Mit-
tels magisch-magnetischer Manipulation wurde ein Rollentausch zwischen Arzt
und Patient angestrebt“13, dem hellsichtig gewordenen Patienten könnten ärztliche
Aufgaben zufallen.
14
Ein chrout heizet verbena, daz ist für manich Ein Kraut heißt Verbena, das ist für manche
dinch nutze unde guot. Von dem selben chrute Dinge nützlich und gut. Von dem selben
saget uns Macer, der best arcet, der ie wart, Kraut sagt uns Macer, der beste Arzt, den
daz si habe groze chraft an ir, swer si neme es je gab, daß sie große Kraft habe, wer sie
mit wurz mitalle unde bedecke si in der cese- mit der Wurzel mit Metall nehme und be-
wen hant und ge zuo dem siechen, daz er der decke sie mit der li. Hand und gehe, derer
wurz niht inne werde, unde sprech zuo im: unbemerkt zum Kranken und spreche:
„wie versihestu dich ze leben und wie geha- „Wie meinst du zu leben, wie geht es dir?“
bestu dich?“ sprichet der siech danne: „ich Spricht der Kranke: „Es geht mir gut“,
gehabe mich wol“, zwar, so geniset er wol; so wird er genesen; spricht er „Es geht
sprichet er: „Ich gehab mich übel“, so en- übel“, so kommt er nicht mehr auf. […]
chümt er nimmer ouf […]
Angststörungen [mit Agrypnie] (F41, 0–8) oder Reaktion auf schwere Belastungen
und Anpassungsstörungen (F43)
3) „Swelch mensche di uerbenam bi im hat: swen ez damit geruret, der muz im
holt sind“ Sexuelle Reifungskrise (F66,0), Sexuelle Beziehungsstörung (F66,2),
ängstliche (vermeidende), dissoziale oder schizoide Persönlichkeitsstörung (F60,6;
F60,2;F60,0) oder soziale Phobie (40,1)
4) „Swer di uerbenam bi im hat, der endarf nimmer kein zauber gefurchten.“
Akute schizophreniforme psychotische Störung (F23,2) oder spezif. Phobie (F40,2)
5) „Swer uerre riten sol, der sol uerbenam […] dem rosse binden vnder den
zopf: swa der hin ritet, der enwirt nimmer irre; daz ros wirt nimmer mude …“
Spezifische Phobie (F40,2) oder neurotische Asthenie (F48,0)
6) „den der alp truget: berouchet er sich dristund mit der verbenam, im gewir-
ret nimmer nicht.“ Alpdruck (F51,5) oder paranoid-halluzinatorische Psychose
(F22,0)
7) „Swer di verbenam bi im hat, der enwirt des weges nimmer irre“ Alzheimer
Demenz (G30,0) oder kognitive Störung bei anderen Hirnfunktionsstörungen
(F06,8) oder spezifische Phobie (F40,2)
8) „Verbena machet den menschen liep vnde geneme, vnde machet in ze allen
ziten vorgemut“ Leichte depressive Episode (F32,0) oder rezidivierende depressive
Störung (F33,0) oder Dysthymie (F34,1) oder sonstige anhaltende affektive Stö-
rung (F34,8)
Seit dem 16. Jahrhundert blieb Eisenkraut weiter in Verwendung, wurde aber im-
mer öfter als Kompositrezept mit anderen Kräutern empfohlen, geriet in die Kräu-
terbücher von Alchemisten wie Leonhard Thurneysser (1531–1596): „Verben, Ag-
rimonia und Madelger, Charfreitag graben hilft dir sehr, daß dir die Frawen werden
hold, doch brauch kein Eisen, grabs mit Gold!“. Es taucht bei den Verhören der In-
quisition und der Visitationen auf. Zuletzt führen es auch die Albertus-Magnus-
Zauberbücher teilweise als alkoholische Lösung, die zu trinken oder einzureiben
ist. Haus- und Zauberbücher der Laienheilkundigen übernehmen etliche Varian-
ten. Kräuter wie Widertat, Fünffingerkraut und Beifuß haben die „zauberhaften“
Funktionen des Eisenkrauts oft ersetzt. Die Kräuter sind austauschbar. Ebenso
Wegwart, Tausendgüldenkraut, Liebstöckel und Sinngrün. So notiert der Schat-
tenmüller Lanzenberger bei Bonndorf auf der Baar in seinem „Kunstbiechlein zue
den Rechtshendlen“ von 1727:
16
Ein Experiment dass einer von aller welt geliebt wird
So gang in einer nacht hin, wan der mond under tagen voll ist am abendt zue der
sinngrien, mach ein krayss darumb mit silber, gold, laß darbey ligen über nacht; am
morgen ehe die sonn auffgeht, gang darzuo, wesche die hende und dein angesicht; zuvor sprich:
ich beschwöre dich sinngrien bei dem adramentum agratum Ellio und bey den 72
namen unser lieben herren Jesu Christi und bei dem gesaz der alten ehe, dass Moses
geben ward auff dem berg Sion (folgen: bei Christi Geburt, Taufe, Marter und Tod,
Auferstehung und Himmelfahrt, Märtyrer, Heilige) ich beschwöre dich, sinngrien
bei allen deinen worten, die ich versprochen hab, dass wöhr ich dir zu einer, es sei
weiber oder jungfrauwen, das meinen willen thuon
Im Fichtelgebirge notiert Nicol Anger (1747–1810), ein Spross der großen Heiler-
familie von Röslau in seinem Haus- und Zauberbuch viele Kräutersegen, darunter
einen typischen Eisenkrautsegen und die Beschwörung des St. Johanneskrauts:
17
Das Eisenkraut anzusprechen. Und zu graben. So geh hinaus vor Aufgang der Sonnen,
grabe es mit Silber und Gold und bete derowegen ein Vater Unser und einen Glauben
und sprich:
ich gebeut dir bey den Erz-Engel St Michael St Gabrie St. Raffael St Lucas, und bey
den 4 Evangelisten […] daß du keine Tugend in der Erden läßt, und (bleib)ist immer in
meiner Gewalt mit denselbigen Kräften und Macht Tugend die dir Gott gegeben hat,
wer sie bey ihn hat wird nicht bezaubert, und wird auch nicht irre, so er reiset, legts
man einen Kranken unter sein Haupt, fragt ihn wie er sich befindet, spricht er wohl, so
ebt er, spricht er übel, so stirbt er probatum
18
Die Beschwörung von St. Johannes Kraut am Johanni tag in der 12. ten Stunde geholt
keusch und rein.
Gott grüsse St. Johannes Kraut in deinen Kräften, ich falle nieder auf meine Knie
[…] daß du mir wollest geben die Kraft und Gewalt, die dir Gott der Vater und die
heilige Dreifaltigkeit auf Erden gegeben hat X X X
Besonders Johanneskraut wurde Konkurrent des Eisenkrautes und hat mit Hilfe
der paracelsischen und nachparacelsischen werbenden Huldigungen bis heute ei-
nen hohen Grad an Bekanntheit behalten, nachdem schon in den 50er Jahren des
20. Jahrhunderts seine Wirkung bei seelischen Krankheiten im St. Rochus-Kran-
kenhaus in Telgte durch den Psychiater J. Hühnerfeld getestet worden war.19 Gegen-
über den meisten anderen Pflanzenmitteln hat Johanneskraut bei vielen Patienten
eine Wirkung, es macht erhöhte Lichtempfindlichkeit und Brandblasen. Seine
Wirkung auf seelische Störungen gilt trotz zahlreicher Untersuchungen und positi-
ver Wertungen bei leichten und mittelschweren Depressionen letztlich als inkonsi-
stent. Entscheidend für die Wirkung des Krautes wie auch jeden Placebos ist das
20 Breidert, Matthias und Karl Hofbauer: Placebo: Mißverständnisse und Vorurteile. In: Deut-
sches Ärzteblatt 106 (2009), S. 751–755
21 vgl. Walach, Harald und Catarina Sadaghiani: Plazebo und Plazeboeffekte – Eine Bestands-
aufnahme, in: Psychotherapie Psychosomatik med. Psychologie 52 (2002), S. 332–342
Der Ursprung des Münchner Nachtsegens liegt im Dunklen. Als seinen Schöpfer
müssen wir uns einen umsichtigen und gebildeten Menschen des 13. oder 12. Jahr-
hunderts vorstellen oder eher noch eine Abfolge mehrerer Bearbeiter und Kompo-
sitoren. Der Segen setzt sowohl Kenntnis der Volkssprache, ihrer literarischen Nie-
derschläge oder der magischen Künste als auch theologisches Wissen voraus. Viel-
leicht waren es Mönchsärzte, die ihn therapeutisch verwendet haben.
Die uns erhaltene Handschrift war wahrscheinlich zeitweise in Besitz des Nürn-
berger Arztes und Humanisten Hartmann Schedel (1440–1514), worauf ein nicht
mehr sicher lesbarer Vermerk auf dem Vorderdeckel des Codex latinus Monacensis
615 hinweisen könnte, in dem der Segen enthalten ist. Im 17. Jahrhundert erwarb
ihn der bayerische Kurfürst von einem Henricus de prusia de coto (Cottbus?).
Dieser Codex ist nach seiner Schrift im 14. Jahrhundert entstanden, baut auf älte-
ren Schriften auf und bietet neben dem Nachtsegen medizinische Werke, astrolo-
gische Schriften und Heilkräuterlisten.2
3 Grienberger, Theodor von: Der Münchner Nachtsegen. In: Zeitschr. für dt. Altertum 41
(1897), S. 335–363
45daz biver unde daz vuzspor, 45 Fieber und schmerzh. Fußkrampf, Fuß-Sparr
daz blibe mit dir da vor ! mögen fern bleiben.
Du salt mich niht berüren, 47–52 Spezifizierung der Verbote: das Tasten,
du salt mich niht zuvüren, 48 das Verwirren (=zevüeren, mnd. tovoren)
du salt mich niht enschechen, 49 das Verführen (zur Brocken-Ausfahrt ?)
50den lebenden vuz abemehen, 50 das lebendig den Fuß Rauben (?)
daz herze niht uz sugen, 51/52 das Herz-Aussaugen und mit Stroh-
einen strowisch darin schuben ! büschel (Herrschaftssymbol) verstopfen (?)
Ich vorspige dich hute und alle tage, 53–56 Heute und immer will der Beschwörende
ich trete dich baz, wan ich dich trage;das unreine Gespenst (=getwas) mit Ausspeien
55nu hin balde, du unreiniz getwas, (=verspigen) verachtend abwenden und es treten,
wan du wesens hi nicht has ! mehr als er selbst, ihn tragend, getreten wird.
Ich beswere dich ungehure 57–75 Direkte autoritäre Beschwörung eines einzig
bi dem wazzer und bi dem vure, als Ungeheuer benannten Geistes, wahrscheinlich
und alle dine genozen wieder des Albs mit seinen Genossen, als ob er
60bi dem namen grozen anwesend ist. Zunächst bei den Elementen Feuer
des visches, der da zelebrant und Wasser (sich aufhebende Gegensätze), danach
in der messe wirt genant. mit christlichen Motiven.
ich beswere dich vil sere 60–62 Zelebrant ist der Priester, der als Christi
Flankiert von Psalmen- und Gebetseingängen nennt der Text die Namen von über
20 verschiedenen Wesen, die als altbekannte geisterhafte Dämonen betrachtet wer-
den können.
Alb und Elbelin, bis heute sprachlich geläufige nächtliche Druckmächte, sind
mit ihrem „Familien“-Anhang katalogisiert. Ihr aufdringliches Benehmen, also die
Symptome der Angst- und Alpdruck-Störungen im Schlaf (Parasomnien, Traum-
schlafsyndrom) stehen im Mittelpunkt und sind minutiös aufgezählt, ohne daß aus
der Fülle eine umschriebene, hiermit zu behandelnde Krankheitseinheit erschlos-
sen werden kann. Neben den nächtlichen Albenleuten werden nämlich auch an-
dere Krankheitserreger und Ungeheuer genannt, sodaß das Anliegen des Textes
über die Nacht hinausgeht. Die Vertreibungsstrategie läuft als Crescendo vom ein-
fachen Wunsch „Ihr sollt von hinnen gehen !“ über die Befehle und Verbote bis
schließlich zum „Ich beschwöre dich Ungeheuer !“ Diese Bitten und Beschwörun-
gen werden an Anfang und Ende eindeutig in biblischen Elementen verankert.
Ich füge einige Texte an, in denen einzelne Geister des Münchner Nachtsegens
wieder auftauchen. Direkte Vorfahren oder Nachkommen, was den Umfang seiner
Geisteransammlung betrifft, wurden bislang nicht gefunden.
Ein Wesen mit Begabung zum Schießen und Schneiden, dem selbst Jesus Christus
in Sprüchen ausgesetzt ist. Später, im 16. Jahrhundert wird der Bilwis zum Korn-
feldschnitter.4
5
Der heilig christ selb gieng wetter Der heilige Christ ging in Wetter und Wind,
und wint. Er niettet sich ellender ding. er ertrug furchtbare (fremdartige) Dinge.
Abb. 63 Der gezähmte Bilmesschneider. Den mit Sicheln an den Füßen zur Vernichtung der
Kornfelder auftretenden Ungeist hat der Künstler mit einer Eule und einem Peace-Symbol be-
sänftigt. (Joseph Michael Neustifter 1995, Marktplatz zu Cham)
Er chom gangen vil verre hin auf den Er kam gegangen weit hin auf den Bilwizzen-
pilwissen perg. do chomen die übeln berg; da kamen die üblen Weiber und raubten
weip und benamen im seinen leib. ihm seinen Leib; sie zerlegten ihm seinen Arm
sy ze legten im sein arm. si ze legten und seinen Darm […]
im sein darm [...]
6
Segen gegen Verwundung
[…] Nun gesegen mich der myt den […] Es segne mich, der mit den Nägeln der
pulwechsen nageln an das kreutz Pulwechsen ans Kreuz genagelt wurde […]
genagelt ward […]
7
Segen für Menschen und Vieh
Die Pilfsen schießen, die Pilfsen fließen
durch dein Gemüt, durch dein Geblüt,
durch dein Gebein, die Pilfsen ziehen wieder heim.
6 Bamberg Staats-Bibliothek Msc. misc. 451, 1534, veröffentl.: Deutsche Gaue 15 (1914) 153f
7 Aus Visitationsakten 17.Jahrh., Jobst Schwantners Weib zu Waldkirchen/ Zwickau, veröf-
fentl. Klotz, H., Unsere Heimat Bd. 1 (Zwickau 1901), S. 77
8 Handschr. Kunstbuch Johannes Zahn, Dürnberg bei Röslau, (Fichtelgebirge) vor 1691, ver-
öff. Ernst, Wolfgang, in: Arch. Hist. Verein Oberfranken 77 (1997), S. 331
B) Holden/Unholden, Ohnholden
Als frühe Quelle für diesen Namen wird meist ein Dekret des Bischofs Burchard
von Worms aus dem 11. Jahrhundert mit Einfügung eines älteren Bußbuches aus
dem 10. Jahrhundert genannt.10 Es geht um eine „Schar von in Frauengestalt ver-
wandelten Dämonen – die die Dummheit des Volkes ‚holda‘ nennt – (und gewisse
Frauen, die mit ihnen) in bestimmten Nächten auf bestimmten Tieren zu reiten“
(beabsichtigen). Sie gelten als „nachtfahrende“ Frauen, in der Forschung als die
ursprünglichen Hexengestalten, obwohl bei Burchard eine nach dem Volksglauben
auch als ambivalent zu verstehende „holde Schar“ genannt ist.
Schon die zweite deutsche (fränkische) Bischofssynode 743 in Liftina in Bel-
gien, hatte im Bemühen um die Zurückdrängung heidnischer Bräuche ein präzisie-
rendes Verzeichnis, einen „Indiculus superstitionum“ erstellen lassen. Eine Ur-
kunde dazu mit dem Taufgelöbnis ist in der zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts
wahrscheinlich in Fulda entstanden und in der Sachsenmission verwendet worden;11
diese Schrift kam aus der Heidelberger Bibliothek im 30-jährigen Krieg nach Rom
(= Codex palat. Vatic. 577). Sie fordert Entsagung von Teufel, Teufelsgilde, Teufels-
werken, Worten und allen „unholdun the hira genotas sint“, also allen Unholden, die
9 Moro, Oswin: Volkskundliches aus dem Kärntner Nockgebiet, Klagenfurt 1922, S. 51, Bil-
wis-Sprüche des Wunderarztes „Graf Michl“ von Koflach 19. Jh.
10 Schild, Wolfgang: Holda zwischen und jenseits von Göttin und Hexengestalt, SS. 1,6,13, in:
Internet (=Ausführliche Fassung des Beitrags für FS Gernot Kocher (2007)), 33 Seiten; vgl.
auch Lauffer, Otto: Die Hexe als Zaunreiterin, in: Volkskundliche Ernte, 1938, 114–130,
Bezug S. 119
11 Mittler, Elmar (Hg.): Bibliotheca Palatina, Katalog zur Ausstellung 1986 Heidelberg, I,
S.126; zu den Hexen-Begriffen der zauberkundigen Germanen siehe Niederhellmann, An-
nette, Arzt und Heilkunde, in: Hauck, Karl (Hg.): Die volkssprachlichen Wörter der Leges
Barbarum, Berlin u. a. 1983, Teil III, S. 106ff
ihre Genossen sind.12 Hier folgen Beispiele ihrer Verbannung aus dem 15. bis zum
18. Jahrhundert, das erste mit einem hübschen Adynaton, der unmöglichen Auf-
gabe, Christi Krippe und Windeln beizubringen. Es ist die Hürde gegen ihre Un-
taten und ein aktivierendes Signal für den vorderen cingulären*13 Cortex:
14
Von unholden
wil man uch uwer milch nemen, sprich: Will man euch eure Milch wegnehmen,
nematz. ich verputt uch unholden mein milch so sprich: „Nematz“, ich verbiete euch
bi der hailigen gottes krafft und wil ich si uch Unholden meine Milch bei Gottes Kraft
nitt laussen, ir bringt mir dan des vass, da Ich will sie euch nicht lassen, es sei
gott selber in lag, die windlen und die wat, denn, ihr bringt mir den Korb, in dem
da gott selber in gewunden und gewicklet Gott selber lag und die Windeln und
wart. das Gewand, worein Gott gebunden
und gewickelt war.
12 Widlak, Franz: Die abergläubischen und heidn. Gebräuche der alten Deutschen, Znaim [ca.
1900], S. 1–6; Maßmann, H.F.: Die deutschen Abschwörungs- …. Formeln, Quedlinburg
und Leipzig 1839, S. 68
13 Mit * versehene Namen und Begriffe finden im Anhang Erklärung
14 Stuttgart Württemb.Landesbibliothek, Cod. med. et phys. 4°, Nr.29, fol.111, 15. Jh., veröff.
Pfeiffer, Franz, in: Anzeiger für die Kunde der deutschen Vorzeit 1 (1853/54), S. 36
15
Vor böse Leuth im stall und Hauß
Ich beschwöre befehle und gebiethe dir du böser geist
hexen ohnholden und Tufels geschmeiß
daß bey allen Elementen und gottes gewalt
bey dem bluth und Tod Jesu Christi
bey den Cerubin und seravimen
Jezt must du diesen augenblick auf Ewig Von dannen zu Reisen
16
Gegen das Verschreien der Kinder
Sie legen unter die Wiegen deß Kinds ein Messer, einen Creutzschlüssel,
einen Strennen Garn, ein Stück Brod, einen Spiegel, ein Geißstirn und was
dergleichen mehr ist, zu dem Ende, daß es dem Kind wider das Verschreyen
wider Unholden und wider andere Gespenst helfen soll.
Abb. 66 Ausfliegende Hexen. Links: Miniatur als Ketzerdarstellung 1451; rechts: Fresko 14. Jh.
Auch diese als Bein- oder Fußblockierung zu verstehende Störung ist personalisiert
und wird gelegentlich mit der Trud gleichgestellt.
18
Daz ist fueßgspar. Vier die Trut sprich also. so du dich Zu peth legst 3 mal
Fuespar pleib Heut darvor, Vnd Vnd yetzt (zähle) die stern; piß morgen.
tag wil werden, daz Helff mir got ... vnd mach 3 + mit der Zungen am gaumb.
15 Aus dem Pfuhler Hausbuch, um 1800 (Raum Ulm), veröffentl. durch Kopp, Andreas, in:
Ulmer Kulturanthropologische Schriften, Band 10, 1998, S. 58
16 Saubertus, Prediger, Nürnberg, 17.Jh.(?), zit. bei Birlinger, Alemannia 17 (1889), S. 244
17 Zum Begriff vgl. Höfler, Krankheitsnamen, Hildesheim New York 1970, Nachdruck der
Ausgabe München 1899, Sp.661
18 Graz Steiermärkisches Landesarchiv Hs 476, Arznei- und Alchemiebuch des „Matheus“ von
1587, fol.122r
19
Gegen die Fußsparr
N.N., du hast den Fußsparr siebenmal nein nicht siebenmal – sechsmal ...[usw.]
Du sollst nicht dreimal – zweimal, Nicht zweimal – einmal,
Du sollst nicht einmal – keinmal
Die Namen umfassen die archaische Vorstellung über fressende Würmer und pfeil-
schießende Wesen und gehören oft mit „Geschoß“, „Schußblatter“ und Pestprojek-
til, „feurigem Drachen“ und Entzündung (Brand) zusammen.20
21
Ich beswer hivte dine hir bi dem hai- Ich beschwöre heute deine „Hir“ bei dem
ligen xpe der sich zemartervnne gap / [...] hl. Christ, der sich der Marter ergab.
daz vel vnd die hir vnd die suzblatrun/ das Fell und die Hir und Schußblatter,
div wazer blater vnd der herbrate vnd die Wasserblatter und Herbrate und all das
allez daz gesuhte. [...] Gesüchte.
22
Herbran, schame dy, die katzen sterth Herbran, schäm dich, der Katzenschwanz
jaget dy, schamest dy nicht weg, die jagd dich; schämst du dich nicht weg,
katten sterth jaget dy der Katzenschwanz jagd dich
und nimm eine lebendige Katze und streiche mit dem Schwanz kreuzweise über das Auge
19 Frischbier, Hermann: Hexenspruch und Zauberbann, Berlin 1870, S. 58, aus Ostpreußen,
19. Jahrh.
20 Schulz, Monika: „Vneholden“ und anderes: Bemerkungen zum sog. Münchner Nachtsegen.
In: Linguistica e filologia (Bergamo) 11 (2000), S. 129–160, Bezug: S. 140,145
21 Cambridge Universitätsbibliothek, Ms Peterhouse 130,fol. 219v, 12. Jahrh., veröffentl.
Weinhold, Karl, Z.d.V.f. Volkskunde 11 (1901), 79
22 Rostock Protokoll des Rostocker Niedergerichts von 1576, fol. 151v, Böthen (Segnen) der
Hausfrau Anna Lünenborges zu den Augen, veröffentl. Bartsch, Karl, Sagen, Märchen und
Gebräuche aus Mecklenburg, Wien 1879, Bd.II, S. 11
23 Höfler, Max: Krankheitsdämonen. Archiv für Religionswissenschaft II, H.1/2, S. 86–164,
Leipzig und Tübingen 1899, Bezug S.104ff
Mara und truta werden im 9. Jahrhundert in einem Codex von St. Emmeram zu
Regensburg genannt.26 Im 18. Jahrhundert war es der berühmte Wunderheiler und
Teufelsbanner Johann Joseph Gaßner,27 der volksnah auch Schrätlein und Trut in
seine Exorzismen einbezog:
28
Ich befehle dir, du Höllenhund, in dem allerheiligsten Namen Jesu, daß du
augenblicklich von diesem Hause abweichest und auf keine Weise ihm einigen
Schaden zufügst !
Dieser Exorzismus vertreibt von den Kindern und Erwachsenen das Schrätlein oder
Trut, löset alle gemachte Gefrörnisse, Stellungen, Aufbäumungen, Hindernis im
Schmalzmachen, die durch Malefiz verursachte Hindernisse der Eheleute, erhält das
Kind im Mutterleibe, befördert die Geburt
24 Franz, Adolph: Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter, Freiburg 1909 II,578: „Adiuro
te, satanae diabolus, alfae ...“
25 Heidelberg Universitätsbibliothek, Codex Palat. Germ. 271, S. 229, 16. Jahrh., aus dem
12–(13)bändigen Buch der Medizin des Pfalzgrafen Ludwig V. bei Rhein
26 Keinz, F.: Eine mitteldeutsche Beschwörungsformel. In: Sitzungsberichte der königl. bayer.
Akademie der Wissenschaften, phil.-philolog. Classe 1867 II.I, Seite 1–18; Hofmann, C.:
Bemerkungen zum Nachtsegen, Nachtrag zu SB Keinz 1867, S. 159–172
27 siehe im Kapitel 21
28 Hanauer, Josef: Der Teufelsbanner und Wunderheiler Johann Joseph Gaßner, in: Beiträge zur
Geschichte des Bistums Regensburg 19 (1985), S. 366
Abb. 67 Die Unholdin im Füssener Totentanz (um 1600). Die Gleichstellung der Hexe mit allen
anderen menschlichen Ständen setzt auch sie unter die Macht des Todes.
Die Litanei der Geister im Münchner Nachtsegen führt nicht ins Abseits kuri-
oser Winkel. Jeder Arzt, der auch persönliche Therapie betreibt, kennt das Wach-
sen der Krankheits“keime“ im Umfeld von Fassungslosigkeit und Unerklärbarkeit.
Er weiß, daß „laienhafte“ Ursachenerklärungen nicht wissenschaftlich exakt, aber
dem Heilungsprozess oft nützlicher sind, als manche nackte Wahrheit. Die Strate-
gie, der Angst einen Namen zu geben, sie damit zu isolieren, zu entschärfen und
mit anderen Betroffenen „abhandeln“ zu können, ist einer der Königswege thera-
peutischer Arbeit geblieben. Und nicht einer, sondern eine Vielzahl von Königswe-
gen sind heute im Zeitalter des Individualismus geboten.
Ein Rückzug der hinter- und urweltlichen „Quälgeister“ ist also nicht zu er-
warten, nur haben die therapeutischen Schlachten gegen sie und die Verstrickun-
gen mit ihnen zeitgemäße Benennungen erhalten. Ihre Namen, als Symbolik,
Methodik oder Option gedeutet, unterstehen dem Primat gezielter Zweckmäßig-
keit für den Kranken. Sie titeln als „Urschrei“, als „Umgang-mit …“ statt „Um-
gehen-des …“-Strategie (aus dem „Es“ des Unbewußten sollte ja ein „Ich“ wer-
den), als „Brief an den Tinnitus, den gemeinen Hund“, als „Selbstentdeckungs-
reise“, „New-Identity-Prozess“, „Feministisches Selbstbehauptungs-Training“
(gegen die einst und jetzt von lustfeindlichen Männern zur Hexe entmündigte
Verführerin) oder doch wieder als „geheimer Zauberspruch“, wie es das Deutsche
Grüne Kreuz im Internet für Eltern alptraumgeplagter Kinder empfiehlt. Letzt-
endlich war und ist eine scharfe Trennung zwischen leibhaftigen konkreten Dä-
monenvorstellungen und der sie potentiell stets begleitenden Metaphorik als Be-
nennung von Furcht, Abscheu und Ekel, zumal allein auf Basis von Schriftquel-
len nicht möglich.33
Die Beziehungen zwischen dem Münchner Nachtsegen und seinen Verwandten
zur Funktion der Neuronen liegen weniger im Unterlaufen bewußter Denkvor-
gänge zur Herstellung eines Trancezustandes wie bei den Blutungs- und Schmerz-
sprüchen. Vielmehr geht es hier um die Benennung der Angst, das Etikettieren des
Unbegreifbaren. Die neurobiologische Forschung hat die im Gehirn dafür bereit-
stehenden Aktionsabläufe im letzten Jahrzehnt als „Labeling emotions“* und
„emotional awareness“ beschrieben. Therapeutisch ebenso wichtig ist die Funktion
der Spiegelneurone*, die eine soziokulturelle Relaisstation für die jeweils zeit- und
regionalspezifischen Dämonenbegriffe und Bedrohungsszenarien bereitstellen.
33 vgl. Jaberg, Karl: Krankheitsnamen, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 47 (1951),
112
Die berühmte althochdeutsche Formel wurde auf einer Seite mit dem ersten Mer-
seburger im ersten oder zweiten Drittel des 10. Jahrhunderts auf einem freien Vor-
satzblatt eines lateinischen Sakramentars des 9. Jahrhunderts niedergeschrieben.
Wahrscheinlich gab es eine ältere Vorlage. In einem Sammelband sind sie vereint
mit dem „Fränkischen Taufgelöbnis“ und anderen christlichen Dokumenten, die
dem Fuldaer Scriptorium entstammen. Die „Merseburger Zaubersprüche“ bieten
gegenüber diesen christlichen Schriften im gleichen Band ein anderes Schriftbild,
sodaß der Ort ihrer Niederschrift zunächst unsicher war. Nach neueren Untersu-
chungen1 mit den Nachweisen von Namenslisten und Lebensdaten Fuldaer Mön-
che und ihre Koordination mit der Handschriftzusammenstellung und mit histori-
schen Ereignissen ist sich die Forschung sicher, daß die Eintragung der „Mersebur-
ger Zaubersprüche“ noch in Fulda erfolgte, daß sie innerhalb der Sammelhand-
schrift erst spät als Geschenk an die Merseburger Dombibliothek kamen.2
Mehr noch als die altdeutschen Beschwörungen des Wurmes „Gang uz nesso“
und der Epilepsie „Doner dutigo“ stehen die Textdeutungen der beiden Mersebur-
ger seit über 150 Jahren im wissenschaftlichen Streit der Fachgelehrten. Bis heute
sind viele Fragen nicht geklärt und werden wohl unlösbar bleiben, falls nicht über-
raschend neue Dokumente gefunden werden.
Einig kann sich die Forschung heute überwiegend darin sein, daß im zweiten
Merseburger Spruch zwei Göttinnenpaare eine Heilungszeremonie vorbereiten
oder in Gang setzen, die im dritten Anlauf nach der Regel des „Achtergewichts“ –
d. h. des Schwergewichts der letzten Zeile – durch Wodan vollendet wird. Er allein
ist es, der die eindeutig alte Heilformel „Bein zu Bein“ wirksam anzuwenden ver-
mag. Von den sieben Götternamen sind Phol und Sinhtgunt nur hier belegt und
man deutet Sinhtgunt neben Sunna meist als göttliche Wandelgestirne. Phol und
Balder werden von vielen für identisch gehalten,3 weil der Unfall dem „balderes
volon“ (volo = junges Reitpferd) zustößt.
1 Beck, Wolfgang: Die Merseburger Zaubersprüche. Band 16 der Imagines Medii Aevi, hrsgb.
von Horst Brunner u. a., Wiesbaden 2003, S. 247–249
2 Weiteres zum Fuldaer Scriptorium siehe die Kapitel 12, 13 und 15
3 Steinhoff, Hans-Hugo, Verfasserlexikon 1985 (-87), Sp.410–418
Die „Merseburger Zaubersprüche“ I und II wurden 1841 in der Bibliothek des Domstiftes
Merseburg von Georg Waitz (1813–1886) entdeckt. Waitz gehörte zur historisch-kritischen
Schule Leopold von Rankes. Er hat die Texte direkt an Jacob Grimm weitergegeben. Grimm
war nicht zuletzt durch seine „Deutsche Mythologie“ seit 1835 (nach den Befreiungskrie-
gen) zu einer der Koryphäen des Rückblicks in die Germanenurzeit im Sinne nationaler
Identitäts- und Nativitätssuche geworden. Ihm ging es um die Bestätigung, „daß auch ‚un-
ser einheimisches heidenthum‘ die ‚keime des göttlichen‘ getragen habe.“4 An den beiden
Sprüchen hatte er zunächst den „ungeahnten Blick in die Götterwelt“ begrüßt, die teilweise
rätselhaften Götternamen untersucht, ihr Verhältnis zueinander befragt und einen Sonnen-
mythos angenommen. In seiner Antrittsvorlesung am 3.2. 1842 in Berlin konnte Grimm
die Texte jubilierend präsentieren als ein „Kleinod … welchem die berühmtesten bibliothe-
ken nichts an die seite zu setzen haben.“5
Forschungsgeschichte:
a) Indogermanische Herkunft – Ein Erbe der Veden?
Forschungsgeschichte:
b) germanische oder christliche Herkunft – Umformung christlicher Texte?
Oder: Der Kampf um Wodan
Die skandinavischen Philologen Sophus Bugge, Kaarle Krohn und Schüler Man-
sikka und Christiansen hatten den Ersatz ursprünglich christlicher Namen im Mer-
seburger Pferdespruch durch heidnische Personen vermutet. Bugge hatte sogar die
Existenz germanischer Zaubersprüche völlig abgelehnt, Krohn und Mansikka ar-
gumentierten damit, daß der schreibende Mönch den Namen des Christengottes
nicht entweihen wollte, er habe deshalb Wodan und sein Personal eingesetzt. Die
Forschergruppe berief sich auf eine große Anzahl germanischer Varianten im Nor-
den, die weitgehend christliche Namen zeigen. Dieser wissenschaftliche Pfad fand
starke Unterstützung seit der Entdeckung des Trierer Pferdesegens durch den Ar-
chivar F.W.E. Roth 1910.11 Dieser Spruch des 11. Jahrhunderts ist aus einer Vor-
lage des 9. oder 10. Jahrhunderts entstanden, ist also vielleicht nicht jünger als der
Merseburger. Hier reiten Christus und Stephan statt Phol und Wuodan. Sie reiten
nach Jerusalem (Saloniun, Salomonstadt). Was lag näher, als an den biblischen
Einzug Christi in die Stadt zu erinnern und dies als Kern der Sprüche zu postulie-
ren? – Spurihalz ist hier diejenige Art der Pferderähe, die nach Gerhard Eis12 als
Fuß- (= Spur) Lähmung (halz = lahm) auftritt, also jenes Verfangensein (entphan-
gana), das zum Lahmen führt: die Windrähe. Die Aufnahme Stephans in den Se-
gen könnte seiner Funktion als Pferdeheiliger und seiner Kalendernähe zu Christi
Geburt entsprechen.13 Der Trierer Pferdesegen hat folgenden Wortlaut:
14
Incantatio contra equorum egritudinem Spruch gegen die Pferdekrankheit, die wir
Quam nos dicimus spurihalz: Quam Krist Spurihalz nennen: Christus und Sankt
endi sancte Stephan zi ther burg zi Saloniun; Stephan kamen zur Stadt Saloniun; da zog
thar uuarth sancte Stephanes hros entphangan. sich das Ross Sankt Stephans eine Krank-
Soso Krist gibuozta themo sancte Stephanes heit zu. So wie Christus dem Rosse Sankt
hrosse thaz entphangana, so gibuozi ihc it Stephans die Krankheit heilte, so heile ich
mid Kristes fullesti thessemo hrosse. mit Hilfe Christi diesem Ross die Krank-
Paternoster. heit. Vaterunser.
Und mit diesem Trierer Spruch beginnt eine jahrzehntelange wissenschaftliche Dis-
kussion mit zeitweilig hohem Wellenschlag. Edward Schröder15 hatte dem Fund
Roths auch gleich ein Bekenntnis beigegeben: „… und ich gesteh, dass ich mich
jetzt der auffassung KKrohns zuzuneigen beginne, wonach alle heidnischen zauber-
16 Meyer, Richard M.: Trier und Merseburg, in: Zeitschr, f.dt. Altert. und dt. Lit. 52 (1910),
S. 390–396
17 Genzmer, Felix: Da signed Krist – thü biguol’en Wuodan, in: ARV 5 (1949), 37–68
Aber schon seit von Unwerth (1913) und Roethe (1915) haben viele Forscher
angenommen, daß Trierer und Merseburger Pferdesprüche zwei selbständige litera-
rische Erscheinungen sind, die sich berühren mochten18,19 und daß die Nieder-
schrift kirchlich verpönter Formeln immer wieder auch von frommen und ehren-
werten Personen an Leerstellen theologischer Literatur und später in Medizinbü-
chern getätigt wurde.20 Was die Annahme einer Abhängigkeit des Trierer Spruches
vom 2. Merseburger als eines „oberflächlich christianisierten Verwandten“ angeht,
1995 so wieder von Wolfgang Haubrich21 im Hinblick auf die fehlende Performie-
rungsformel „ben zi bena“ behauptet: Mit seinen aus vielen alten tiermedizinischen
Handschriften abzuleitenden Befunden hatte Eis gefolgert:22 daß „… weder vom
kirchengeschichtlichen noch vom veterinärmedizinischen Gesichtspunkt her ein
Argument gegeben (ist), das zu dem Schlusse nötigen würde, daß dieser christlich-
legendenhaften Variante eine mythisch-altgermanische vorausgegangen sein
müsse.“
Alle Vorarbeiten der Germanisten, besonders jener, die vom Mythos fasziniert
waren, hatte schon 1932 der Volkskundler Rudolf Kriss,23 – freilich unter dem
Eindruck der Lehre Friedrich Naumanns vom abgesunkenen Kulturgut – aus den
Wolken geholt, als er schrieb: „Die Frage nach Verfasser und genauen Orts- und
Zeitangaben ist verfehlt, weil es Zeugnisse des Volksglaubens sind.“ Und das hieß
„unpersönliche Primitivreligion“!; es sei unwichtig, ob eine mythologische Deu-
tung richtig oder falsch ist. Auch dies hatte wohl Genzmer zu seiner oben zitierten
Wodan-Verherrlichung geführt. Und ohne die mühevolle Arbeit der alten Meister
zu verachten, ist mit Adolf Spamer (1957) in Grimms Deutungen die „visionäre
Poesie der Romantik“24 oder mit Brian Murdoch (1989) ihre Neigung zu „spekula-
tiver Philologie und teutonischer Mythologie“25 zu benennen.
Mythologisch orientierte Detailarbeit: 1) Beispielhaft steht das erste Wort unseres Spruches
„Phol“ für eine Kette von unbefriedigenden Erklärungsversuchen. Ist es ein unbekannter
18 von Unwerth, Wolf: Der zweite Trierer Zauberspruch, in: Zeitschr. f.dt. Altertum 54 (1913),
S. 195–199
19 Roethe, Gustav: Zu den altdeutschen Zaubersprüchen, in: Sitzung der phil.-hist. Klasse Ber-
lin 1915 (Vortrag am 11. Februar)
20 Vogt, W.H.: Zum Problem der Merseburger Zaubersprüche, in: Z.f. dt. Altertum 65 (1928),
S. 97–130
21 Haubrich, Wolfgang: Die Anfänge: Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mit-
telalter, Tübingen 1995, S. 344
22 Eis, Gerhard: Altdeutsche Zaubersprüche, wie oben, S. 52
23 Kriß, Rudolf: Grundsätzliche Betrachtungen zum 2. Merseburger Zauberspruch, in: Ober-
deutsche Zeitschrift für Volkskunde 6 (1932), S. 114–119
24 Spamer, Adolf: P(h)ol ende Uuodan, in: Deutsches Jahrb. für Volkskunde 3 (1957), S. 347–
365, hier: S. 349
25 Murdoch, Brian: Peri Hieres Nousou: Approaches to the Old High German Medical Charms,
in: „mit regulu bithungan“, Neue Arbeiten zur althochdeutschen Poesie und Sprache, Göp-
pingen 1989, S. 142–160
Gott, ein Gott der Fülle oder eine lokale Gottheit, ist es St. Paulus, ist es Apollo, ists ein
Adjektivteil, ein Hörfehler, eine reine Alliteration oder ein Pol wie Pogge im Streitmotiv?
Oder gar der Friedensfürst des goldenen Zeitalters? – Ebenso schillernd fallen die Ideen und
Phantasien zu Funktion und Sinn des Spruches aus: Altes Germanenzauberlied, Allegorie
auf die nordische Mittsommernacht, Kunstprodukt eines überfrommen Mönches (der den
Namen Gottes nicht entehren wollte und mit dem Einbau der vielen Götter das 1. Gebot
mit dem 2. Gebot schlug), Wandergut aus Indien, größtes germanisches Kunstwerk zur
Erzielung der Unio mystica, magisches Zahlenspiel 3 x 3 x 3 u.s.w. – Fehlte 1941 zum
100-jährigen Jubiläum von Waitz’ Entdeckung nur noch die Erkenntnis seiner tatsächlichen
chiliastischen Kraft: „Die eigentliche Zauberformel des zweiten Spruches (tief im Domfel-
sen verwahrt, viel älter als all die Weisheit der Kirchenschriften) hat bei der großen Wen-
dung unserer Geschichte genau nach hundert Jahren, in denen sie immer wieder gelesen
und gesprochen wurde, in denen sie wieder klang, eine wunderbare Erfüllung gefunden.
Auf Vereinigung, auf Heilung und glückliches Wachstum deuten die uralten, geraunten
Worte: Bein zu Beine, Blut zu Blute, Glied zu Gliede!“26
2) Beispiele für Phantasien zur Eingangsszene. Grimm: „Sobald des sonnengottes roß er-
lahmt und es seinen umlauf zu unterbrechen genöthigt ist, läuft alles gefahr, und nichts ist den
gütigen Gottheiten angelegener als schleunig sie abzuwenden; heilungen und beschwörungen
vorzunehmen war frauengeschäft, darum sich hier vier hehre göttinnen des zaubers unterfan-
gen, obwohl vergebens; erst dem oberhaupt aller götter gelingt es ihn zu lösen.“ – Felix Nied-
ner (1899): „die erste zeile bedeutet: der gott des zwielichtes und sein vater, der tagesgott,
reiten auf lichten rossen am morgenhimmel empor“27 – Felix Genzmer (1949): „Täglich reiten
dort Götter zur Beratung, wir können auch sagen: zum Ding, nach der Esche Yggdrasil …“
„Und im Volksglauben lebt Wodan-Odin heute in Reitergestalt als wilder Jäger fort.“28
Dieser Glaube an ein kontinuierliches Fortleben der alten Götter hatte mit der
Edda-Wiederentdeckung und mit deren Übersetzung durch Karl Simrock 1851
und mit Grimms Mythologie ein Zeitalter geprägt und hatte auch die volkskund-
liche Forschung angeregt, ja wohl auch erst begründet. Ein einziges Beispiel aus der
Unmenge volkskundlicher „Statistik“: Karl Bohnenberger (1904) mit 600 Berich-
ten aus fast ebensoviel Orten: „Die Vorstellung von Wuotans Heer ist die einzige,
die […] heute noch mit Gewißheit die Person eines unserer himmlischen hohen
Götter erhalten hat. Freilich ist Wuotans Person kaum mehr von seinen Heeresge-
nossen zu unterschieden.“29 Wie erhellend die Einschränkung aufs Indifferente!
Denn das „Wissen“ um die alten Götter war über Jahrhunderte versunken, hatte
sich latent mit vielen Veränderungen und Vermischungen nur in Sagen und Orts-
26 Berger, Siegfried, Manuscript Stadtarchiv Merseburg HStaM, M I 19 des Aufsatzes: Das älte-
ste Schriftgut der Provinz Sachsen: Zur Entstehung der „Merseburger Zaubersprüche“, in:
Die Provinz Sachsen. Amtsblatt des Oberpräsidenten, Hrsg. vom Landeshauptmann 12 (H.
7) 15.10.1942, S. 49f
27 Niedner, F.: Der Mythos des zweiten Mersebg. Spruches, in: Z.f.dt. Altert.43 (1899), S. 101–
112, hier S. 108
28 Genzmer, Felix: Da signed Krist – thu biguol’en Wuodan, in: ARV 5 (1949), S. 42
29 Bohnenberger, Karl: Mitteilungen über volkstümliche Überlieferungen in Württemberg, in:
Württemb. Jahrbücher für Statistik und Landeskunde 1904, I,92 (kursiv durch Verf.)
30 Behringer, Wolfgang: Chonrad Stoeckhlin und die Nachtschar, München 1994, S. 80–82
31 Cysat, Renward: Collectanea Chronica und denkwürdige Sachen pro Chronica Lucernensi et
Helvetiae. Bearbeitet von Josef Schmid, Luzern 1969, S. 617
32 Jung, C.G.: „Wotan“ (1936), Aufsätze zur Zeitgeschichte. Zürich 1946, zit. nach Gottschalk,
Herbert, C.G. Jung, Band 17 der „Köpfe des XX.Jahrhunderts“, Berlin 1960, S. 86
33 Nach dem 1.Weltkrieg war die Handschrift in Gefahr, als kulturelle Reparation an Belgien
übergeben werden zu müssen. 1929 erfolgten auf Befehl des Generalfeldmarschalls August
von Mackensen ein fester Verschluß und geregelte Zugangsverordnungen. (vgl. Beck, W., wie
oben, S. 217)
Sprüche, nicht ihre Niederschrift, wird auf die Zeit der Missionierung der rechts-
rheinischen Germanen datiert.34 Der germanisch-heidnische Inhalt und die Stab-
reimform weisen auf diese Zeit der Christianisierung, „da diese in hohem Maße zur
Besinnung auf die alte religiöse Tradition anregte, und solchermaßen die Schaffung
eines germanischen Zauberspruches motivieren konnte …“. Eine Schlussfolge-
rung, die sicherlich hinsichtlich der Frage nach einem Genius der Neuschöpfung
nicht ohne Widerspruch und Ergänzung bleiben wird.
Trotz aller Bemühungen hat der Merseburger Pferdesegen noch immer sein Ge-
heimnis gewahrt und hat damit zauberhaft den Fleiß einer inzwischen sehr großen
Zahl von Forschern verschiedener Couleur angeregt. Um mit Hans Blumenberg zu
sprechen, wurde die [verführerische!] Arbeit des Mythos zur Arbeit am Mythos
oder hier genauer an der Rekonstruktion und Revitalisierung eines Mythos. Sie
bietet sich hier wie selten so fokussiert zu einem Spiegelbild kultureller Sichtweisen
der letzten 150 Jahre dar.
Abschließend einige verwandte Texte späterer Zeit aus mehreren Ländern Euro-
pas, die vor allem die Veränderungen des ersten, d. h. des epischen Teils zeigen.
Nicht zu Unrecht hat Oskar Ebermann38 schon 1903 anhand der weiten Verbrei-
tung der Exemplare auch allgemein hohen Bekanntheitsgrad und mündliche Über-
lieferung angenommen. Ich verweise auf seine umfangreiche Zusammenstellung
sowie auf Kapitel 5.
39
Unser Herr auf dem berge ritt;
Sein Fohlen den Fuss sich vertrat
Da segnete Krist, da segnet’ das Kreuz,
da segnete selbst Santa Maria:
Blut zu Blut! Ader zu Ader!
Heil und haltbar, wie es vordem war. Im Namen […]
40
The lord rade, and the foal slade;
He lighted, and he righted.
Set joint to joint, bone to bone,
And sinew to sinew.
Heal in the holy ghosts name!
41
Der heilig man S. Simeon sol gein Rom reiten oder gan.
Da tratt sein folen uf ein stein und verrenkte ein bein.
Bein zu bein, blut zu blut, ader zu ader, fleisch zu fleisch
So rein khomen sie zusamn in unsers herrn Jesu Christi namn,
also rein, als du ausz motterleib khomen bist. In namen Gott […]
42
Drei Rosenkränze beten + + + Der heilige St. Peter ritt zum Berg, zum Holz, zu allen
Jüngern. Schnell ritt er, der Ritt tat not. Alle Jünger warteten auf ihn. Da lahmte das Bein,
da lahmte der Fuß. Da stieg er ab und führte das Pferd. Alle Jünger warteten auf ihn in
Not. Das Bein lahmte stärker, die Not ward größer. Da kamen ihm eilend der Herr Jesus
und die heilige Mutter Maria zu Hilfe. Bein zu Bein. Blut zu Blut. Die Lahme verschwinde
gesund ward das Pferd. Der heilige Petrus ritt zum Berge, zum Holz. Zu allen Jüngern
+ + + Drei Rosenkränze beten.
43
Jesus wandert mit Petrus auf einer Straße. Jesus wendet sich um und sagt:
Petrus, kannst du nachkommen? Ich kann nicht, mein Pferd hat auf einen
albernen Stein gestoßen und hat sich seinen Fuß verrenkt.
Nimm Salz und Schmalz und schmier es auf den Fuß!
Bein zu Bein, Glied zu Glied, Ader zu Ader. Im Namen […]
Daß derartige Texte als Verbaltherapie eine medizinische Wirkung hatten, legt uns
ihre Persistenz über Jahrhunderte nahe. Entscheidend für die Wirkung aufs Tier
war natürlich weniger der Spruch selbst, geschweige denn sein Inhalt. Es war viel-
mehr die gewaltlose Kommunikation mit dem Tier durch einfühlsames Verhalten,
Beobachtung seiner Reflexe und Reaktionen auf die Berührung all seiner Sinne,
seiner „Zeichensprache“ und eben auch seines Hörorgans. Ob als Gesang, als
Worte oder Geräusch, die akustische Berührung konnte vertrauensvolle Nähe zwi-
schen Mensch und Tier schaffen und unterstützte die Entspannung des Pferdes
etwa in Zusammenhang mit chirurgischen Eingriffen. Der Inhalt der Texte dage-
gen gab dem heute als „Pferdeflüsterer“ benannten Heilkundigen die Kraft, mit
seinem heimlichen Spezialwissen Macht auszuüben, die im Stillen wirkte, die sich
nicht in lautem brüllenden Befehlen oder aggressivem Züchtigen verausgabte.
Ein interdisziplinärer Forschungszweig an verschiedenen Hochschulen mit
Ausbildung in Hippiatrie hat sich in den letzten Jahren der Beeinflussung des Pfer-
des gewidmet. Daß auch zu früheren Zeiten begabte Einzelne mit Tieren zu kom-
munizieren vermochten, belegen viele Sprüche, früh schon im lateinischen Trierer
Talpa- Wurm- Spruch des 10. Jahrhunderts, der neben genauen Berührungsabläu-
fen und Rundgängen um das Tier das Vaterunser ins Ohr zu sprechen empfiehlt.44
Im 12. Jahrhundert finden wir dafür altdeutsche Worte im Spruch „ad equum er-
rehet“, der bei Gliedersteife der Pferde: „tu rune imo in daz ora“, „raune ihm ins
Ohr! …“ vorschlägt. Manche Texte legen eine Herkunft aus der berühmten Roß-
arznei des Meisters Albrant bei Kaiser Friedrich II. von Neapel nahe.45 Auch die bei
Pferderennen zu raunenden Zauberworte, damit ein Pferd anderen davonläuft,
sind gelegentlich notiert worden.46 Eine Anzahl von Manipulationen, die bei Ver-
letzungen zusammen mit dem Spruch in Gebrauch waren, hat Monika Schulz47
zusammengestellt. Die Menschen schuldeten in früheren Zeiten dem unentbehrli-
43 Krauß, Friedrich: Krankheitssegen aus dem Nösnerland, in: Korrespondenzblatt des Vereins
für Siebenbürgische Landeskunde 42/43 (1919/1920), S. 53, dort weitere Beispiele und Dia-
lektschrift, 19. Jahrhundert
44 Trier Stadtbibliothek Hs 40/1018 8°, fol.41v-43r, veröffentl. Embach, wie oben, S. 48f.
45 Breslau Universitätsbibliothek Cod. Vrat. III. 4° .1., veröffentl. Hoffmann, Heinrich, in:
Monatsschrift von und für Schlesien 1829, S. 764
46 Memmingen Stadtbiblioth. Cod. 2,39, fol.127r, veröff. Eis, Gerhard, in: Tierärztl. Umschau
18 (Konstanz 1963), S. 559–562, hier: S. 561f
47 Schulz, Monika: Beschwörungen im Mittelalter, Heidelberg 2003, S. 149–153
chen Pferd wirklich mehr Anstrengung ihrer Phantasiekraft für wirksame Zucht
und Behandlung als heute.
Neurophysiologisch sehen wir uns bei dieser Methodik einer Kombination in
der Aktivierung von Rückenmarkreflexen und Hörbahnreflexen gegenüber, die
beim Tier als positive Verstärker im Verhaltenstraining (klassisches und operantes
Konditionieren48) eingesetzt werden. Im Tiergehirn werden dabei innere emotio-
nale Gedächtnisprägungen der Amygdala* mit der Skelettmuskulatur über das
Kleinhirn verankert. An einem viel kleineren Tier, der Aplysia-Schnecke hatte Eric
Kandel (Nobelpreis 2000) festgestellt, daß mit dem Erlernen von Reflexen eine
Veränderung der Übertragungsstärke der Synapsenverbindungen, also ein nachhal-
tiges Lernen erreicht ist. Von der Deutung als „Kontaktmagie“49 kann man Ab-
schied nehmen.
1 Froehner, Reinhard, in: Beiträge zur Geschichte der Veterinärmedizin 1 (1938/39), S. 366
2 Franz, Adolph: Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter, Freiburg 1909, II,139
3 St. Gallen Stiftsbibliothek, Cod.111.fol.1,10.Jh., veröffentl. Franz, ebenda, mit Deutungs-
versuchen der „Zauberworte“
Deutlich wird damit, daß ein solcher Segen beim Austrieb der Tiere gesprochen
wurde, wenn sie unter Abzählung den Stall verlassen mußten. Eine konkrete Nen-
nung dessen, was als Böses gemeint ist, wird in weiteren Segen des 10. Jahrhunderts
notiert:
4
In nomine domini nostri creati ! Ihr im Namen unseres Herrn Erschaffenen !
crescite et multiplicamini. Wachset und vermehret euch !
Christus uos deducat et reducat. Christus geleite euch und führe euch heim.
Ante fuit Christus quam lupus; Christus war früher als der Wolf;
Christus interpretatur saluator. Christus bedeutet Heiland-Retter
Lupus interpretatur diabolus. Wolf bedeutet Teufel.
Christus liberet canes istos Christus möge diese Hunde befreien
alias bestias de dentibus luporum. und andere Tiere aus Wolfszähnen,
de manu latronum. aus Räuberhand
Et ab omnibus inimicis. […] und von allen Feinden. […]
Der älteste und zugleich deutsche Text dieser Art ist der sog. Wiener Hundesegen
des 9. oder 10. Jahrhunderts:
5
Christ uuart gaboren er uuolf ode diob. Christ war geboren vor Wolf oder Dieb.
do uuas sancte Marti Christas hirti. Da war Sankt Martin Christi Hirte.
der heiligo Christ unta sancte Marti, Der heilige Christ und Sankt Martin
der gauuerdo uualten hiuta dero hunto, Der lasse heute walten über die Hunde.
dero zohono, daz in uuolf noh uulpa Und über die Zaupen, daß Wolf und
za scedin uuerdan ne megi, Wölfin ihnen nicht schade.
se huuara se gehloufan uualdes Ob sie in Wald, Weg oder Heide
ode uueges ode heido. weglaufen.
Der heiligo Christ unta sancti Marti, Der heilige Christ und Sankt Martin,
de fruma mir sa hiuto alla hera heim Der führe sie mir heute alle gesund heim.
gasunta.
In ihm ist nicht primär die Herde gesegnet, sondern der unentbehrliche Helfer, der
Hirtenhund, über den der Hirte oder der Verwalter beim Austrieb den Segen
spricht. „Wenn der Hund wacht, mag der Hirte schlafen. Wenn die Hunde schla-
fen, hat der Wolf gut Schafe stehlen“, sagt das alte Sprichwort. Der Wolf ist der
Dieb und ist zugleich der Teufel, in Kontrast zu Christus gestellt. Denn Christus
ist „der gute Hirte, läßt sein Leben für die Schafe [...] und der Wolf erhascht sie
und zerstreut die Schafe“, wie es bei Johannes 10, 12 heißt. Auf den ersten Blick
4 Trier Stadtbibliothek, Hs. 40, Bl. 74v und 75v, 10.Jh., veröffentl. Steinmeyer, Sprachdenk-
mäler, S. 396
5 Wien Österreichische Nationalbibliothek Codex 552, fol. 107r, 9./10. Jahrh., veröffentl.
MSD IV,3
ungewöhnlich ist die Eingangsformel des Wiener und die Zeile vier des Trierer
Spruches, beide mit der Vorstellung, Christ sei geboren, bevor der Wolf war. Sie
verweist auf einen Vorgang der universalen Einmaligkeit, einen Ausnahmezustand
jenseits „natürlicher“ Kräfte, in dem Christus mit seiner Geburt als Mensch aus
seiner göttlichen Dimension heraus einen Frieden bringt, der alles Kreatürliche
miteinander versöhnt. „Wehr dich, Wolf, wenn du eher als Christus warst“, heißt es
in einem Wolfsthurner Spruch herausfordernd, der bei einer Wolfsbegegnung zu
sprechen ist.6 Die biblische Wurzel liegt bei Kolosser I,13–15: (Der Vater) „hat uns
errettet von der Obrigkeit der Finsternis und versetzt in das Reich seines lieben
Sohnes ... welcher ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene vor
allen Kreaturen.“ Vor allen Kreaturen, also auch den bösen und wilden Wesen der
Finsternis, über die er als ihr Schöpfer im Geheimnis der Dreifaltigkeit Macht hat.
Mehrere fundamentale christlich-biblische Motive verbergen sich allgemein in
diesen Hirtensegen. Der Friede, der von Christi Erscheinen ausging, die Einzigar-
tigkeit Christi als Mensch und Gott zugleich, das Parallelprinzip des Schöpfungs-
aktes im Entstehen von Mensch und Tier, von wilden und zahmen, also aktuell
gesehen auch Anfragen an Wertkriterien und Grenzen der Wissenschaft im Nach-
ahmen der Schöpfung. Manche dieser Motive haben sich in Sprüchen bis in die
letzten Jahrhunderte erhalten. Ich nenne stellvertretend als ein noch spätmittelal-
terliches Beispiel für eine große Zahl den Wolfsbann des Münchner Clm 4350:
7
Daz ist der wolfsegen: Jch enphilch dich Das ist der Wolfssegen. Ich besorge dich
in den frid der gesworn wart, in den Friedensschutz, der beschlossen war,
da der hailig Krist geporn wart: als der heilig Crist geboren wurde:
Nu seien dier waeld weg und strazz Es seien dir Wald, Weg und Straßen
als dierloz und als dieploz und alz schatloz, ebenso wildtier- dieb- und schadlos,
als unser herre ist genossloz und alz unser als unser Herr ist ohnegleichen und als
fraw sancta Maria ist manloz. unsere heilige Frau ist gattenlos.
in gottez namen Amen. In Gottes Namen. Amen.
Die folgenden biblischen Motive haben in die Vielfalt der Hirtensegen Eingang gefunden:
1) Einzigartigkeit/ Einmaligkeit Christi, der am Kreuz „genosslos“, ohne seinesgleichen,
dessen Mutter niemals „einen anderen Sohn“, keinen zweiten, gebären kann. Der Physiolo-
gus, das frühchristliche Buch phantastischer Tiersymbolik verknüpft den Epheserbrief
4,5–6 unter Akzentverschiebung mit der Schwalbe, die nur einmal Junge hervorbringe und
dann nicht mehr. „Mein Heiland ist einmal im Mutterleib getragen, einmal geboren, einmal
begraben, einmal auferstanden“ (Seel, 31). Vgl. Johannes Paul II: Jesus-Gott: Ein übertrie-
bener Anspruch? In: Die Schwelle der Hoffnung überschreiten (Hg. Vittorio Messori)
Hamburg 1994, S. 70–73. Der polnische Papst antwortet auf die Frage, warum Jesus nicht
einfach ein Weiser wie Sokrates, ein Prophet wie Mohamed, ein Erleuchteter wie Buddha
sein könnte. Er entwickelt die Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit des eingeborenen Soh-
6 Wolfsthurn Biblioth. der Freiherren von Sternbach, hs. Hausmittelbuch, fol. 87a
7 München BSB Clm 4350, fol.73v, beg. 14.Jahrh.
nes Gottes, wie von Anfang an (Petrus bei Cäsarea Philippi, Matth. 16,16) im Christentum
angelegt. „Wir dürfen nicht ablassen, dies zu wiederholen“.
2) Friede bei Christi Geburt, „Ich enphilch dich in den frid der gesworn wart, da der
hailig Krist geporn wart“ (Clm 4350, fol.73v); am deutlichsten im Weingartner Ausfahrt-
Segen (s. Kapitel 28). Nach manchen Überlieferungen wurde die Zeit der Geburt Christi als
Zeit politischen Friedens im Römerreich verstanden, woraus eine Gleichstellung sozialer
Realität und religiöser Symbolik resultierte. vgl. Faust, Eberhardt: Pax Christi et Pax Caesa-
ris, Freiburg/Schweiz, 1993, S. 221f; vgl. Zeichen und Wunder bei Christi Geburt in der
„Legenda aurea“ des Jacob de Voragine*, Ausgabe Benz, Richard, Gütersloh 1999, S. 39;
vgl. Weddige, Hilkert: Einführung in die germanistische Mediävistik, München 1992, S. 96
(Bischof Otto von Freising und die christliche Geschichtsdeutung). Der Physiologus führt
den Wolf erst in späteren Ausgaben ein. Für Christi Friedensstiftung nach antikem Or-
pheusvorbild kann man den Panther heranziehen. Seine Stimme und sein Balsam-Wohlge-
ruch zähmen alle wilden Tiere (Seel, Otto, Stuttgart 1960, S. 16f ).
3) Als Konsequenz aus 2) Einbeziehung der Gottesmutter als Ernährerin, „mein Vieh
gesegnet, wie unser lieber Herr Jesus an einer lieben Mutterbrust, da unser lieber Herr an-
trank ... und werden (dem Waldhund) alle Zähne so weich, wie unserer lieben Frauen
Brust“ (HSTA Wiesbaden Z 4187–89,fol.3, von 1604, veröffentl. Koppenhöfer, Johanna:
Die mitleidlose Gesellschaft, Frankfurt u. a. 1995), auch „Hünd sweig styll durch des ersten
wortz will das vnser liebe fraw sprach do sie den ersten Hell Hünd sach“ (Cgm 823,2,fol.37v).
4) Wildblockade durch das Kreuz. In einigen Texten ist es ein: (schlag ihm) „das heilige
Kreuz in den Mund“, welches als Waffe gegen die Zähne des Raubtieres dient, oder Christus
„trug ein Guldes creutz Jn seiner Hand“ (Cgm 823,9, fol 116v) oder „Wolf steh vor dem
Holz, daß du sollst stille Stand haben vor dem Holz, da Christus ist gekreuzigt worden“ (Hs
aus Marktleuthen, S. 28). Diese Formulierungen stammen ebenfalls aus Ausfahrtsegen.
Man kann aber vermuten, daß die Kreuzzeichnungen auf Tierstirnen oder andere Ritualien
gedanklich Pate standen.
5) Gegenüberstellung Wolf – Christus, wie in einer Handschrift XI, 620,Teil 3 aus St.
Florian, ca.1593 : „Christus renatus, lupus ligatus in terra“ (Lindner, Kurt (Hg.): Deutsche
Jagdtraktate, Berlin 1959 II,61) als Rekurs auf den (mlat. durch die Taufe) Auferstandenen,
so in hermeneutischer Richtung: „ Conjuro vos lupos per celum et terram et per sanctum
Danielem, qui est leonibus datus et non peterunt ei nocere“ (Clm 7021,158a, veröffentl.
Schönbach, Analecta Gr., S. 32, 14. Jh.)
6) Reflexionen über Schöpfungsgeschichte. Der Mensch anfänglich und zum Herrn über
Tiere geschaffen, nach seinem Bilde; des Wolfes Klage als Hybris: „Gott im Himmel will
ich’s klagen, der mich geschaffen hat so gut als einen Pfaff und Edelmann“ (Uhland, Schrif-
ten, 60,71); viele Sprüche seit dem 18. Jahrhundert gegen tollwütige Hunde nach dem
Muster: „Hund, halt den Mund, beiß in die Erden! Gott hat mich erschaffen und dich las-
sen werden“ (Losch, 162).
8 Köhler, Joachim: Die mittelalterl. Legende als Medium christl. Verkündigung, in: Dinzelba-
cher, Peter und Dieter R. Bauer (Hg.): Heiligenverehrung in Gesch. und Gegenwart, Ostfil-
dern 1990, S. 175–200, hier: S. 182f
9 Wolfsthurn Biblioth. v. Sternbach, handschriftl. Hausmittelbuch des 15. Jh., veröffentl. Zin-
gerle, S. 318
Petri Schlüsselgewalt steht nun zwar früh schon in Reisesegen als geistiger Schutz-
schild gegen Feindeswaffen, wie in einer Beschwörung des 12. Jahrhunderts:
10
Ich bivelin dich. N. deme gitruime sente petre. Ich befehl dich dem treuen S. Petrus
vnde indi seluin gnadin so ime der heligi krist. und in eben die Gnade, in die ihm
sine schaf bival. Undi di sluzile des himilis. der hl. Christ seine Schafe empfahl.
Und die Schlüssel des Himmels.
Aber für Herdenschutz finden sich die ersten Belege im 15. Jahrhundert. Petrus
wird als Schlüsselwalter gegen Raubtiere eingesetzt. Die folgenden drei Texte bil-
den die ersten Quellen unseres Typs:
11
Cristus wolt ze lutt gan Christus wollte unter die Menschen gehen.
Er sprach zue sinem hirten Er sprach zu seinem Hirten
Stand uff, Symeon, der sprach Steh auf, Simon (Petrus), der sprach (:)
Jch entar vor den diebeswolfen Ich bin in Not vor den diebischen Wölfen.
So nim den himelschlüssel Und (Christus:) So nimm den Himmelschlüssel
beschlüss den diebeswolfen iren trüssel und schließ den Diebeswölfen ihren Trüssel
Dem dieb sin hand dem Dieb seine Hand,
Dem wolf sinen zan [...] dem Wolf seinen Zahn [...]
Abb. 71 Viehsegen mit Petri Schlüssel (St. Ulrich und Afra, Augsburg, 15. Jahrhundert)
10 Grimm, Wilhelm, in: Altdeutsche Blätter (1840), S. 1 (aus der Königl. Bibliothek Hanno-
ver); weiteres Beispiel eines Reisesegens im 14. Jahrhundert mit „sente petir“s „hemilslossil“
bei Holzmann, Verena: „Ich beswer dich“, Bern 2001, S. 284
11 Urbarnachtrag der Löwenburg (Berner Jura) im Staatsarchiv Basel BS, Adel M3,2,89, veröf-
fentl. Meyer, Werner: Die Löwenburg, Basel und Stuttgart 1968 (Band 113 der Basler Beiträ-
ge zur Geschichtswissenschaft, Hg. von Bonjour, Edgar und Werner Kaegi), S. 201f
12
Heyliger herr sant Symeon (idest sckt petrus) Heil. Herr St. Simeon (das ist S. Petrus),
mein vich sol (daz iar) zue holcz mein Vieh soll (dies Jahr) zu Wald
vnd zu veld gan zu wayd vnd zu wasser und zu Feld gehn, zu Weide und Wasser,
we imps der lemptig got hat beschaffen wie es der lebendige Gott hat geschaffen.
Nim den Hymel Schüssel vnd versleus Nimm den Himmelschlüssel und verschließ
allen wolfen vnd wuelfin iren druessell allen Wölfen und Wölfinnen ihren Drüssel,
daz es gee als tier los vnd als dieb los damit es gehe ebenso wild- und dieblos und
vnd alls vebels los Als venser lieber Herr ohne alle Schädigung, wie unser lb. Herr
vntter dem Heyligen crauetz waz genosslos unterm hl. Kreuz ohne seinesgleichen war.
[..]
13
Ich treib heut aus in unser lieben frauen haus in Abrahams garten,
der lieber herr sant Martein, der sol heut meines (vihes) pflegen und warten,
und der lieber herr sant Wolfgang,
der lieb herr sant Peter, der hat den himelischen slussel,
der versperrent dem wolf und der vohin irn drussel,
daß si weder plut lassen noch bein schroten.
12 München BSB, Cgm 796, fol.1, 15.Jahrh., mittelbayrische Mundart, veröffentl. Schmeller,
Joh. Andreas: Bayerisches Wörterbuch 2/2, S. 902 mit Signatur: Cod. S. Ulr. p.118 [Augs-
burg]
13 Graz Univers. Bibliothek Hs. 38/31 4°, letztes Blatt, 15.Jahrh. veröffentl. Jeitteles, in Germa-
nia, 20 (1875), S. 437; Hs. 980, Papier, Blatt 211 der Univ.Bibliothek Graz, 15. Jahrh. aus
dem Zisterzienserstift Neuberg, vgl. Grabner, Elfriede, Martinisegen, Eisenstadt 1968, S. 50;
vgl .Grimm, Dt. Mythologie II, 1037
des helf mir der man, der chain ubel nie getan
und die heiligen V wunden
behüten mein vieh vor allen holzhunden.
Aus dem 16. Jahrhundert findet sich ein solcher Petrus-Schlüssel-Einschub erst-
mals in einem Text in Franken. Er wird anläßlich einer Kirchenvisitation erhoben.
Wir erfahren nun Genaueres über Funktion, zeitgemäße Beurteilung durch Obrig-
keit und Klerus zu den Sprüchen und letztlich zum Stande der Hirten:
14
Da treib ich mein viehe aus. Treibs vor der lieben frauen hauß.
Treibs in unser lieben frauen garten. Unser liebe fraue und ir trauts kindt
söllen mirs helfen huten und warten:
Ein gantz jar und ein tag, wie gott der herr uf seinem grab.
Treib ichs perg und dieffe thal; weit und breit und überal
[…] Nemb ich den wolf und die wölfin und all ir gesindt
nemb Sant Peters schlüßel, versperr dem wolf und wölfin iren trüßel
daß er mir keins peiß und keins zerreiß und keins übergien,
sei gleich drauß oder hinn und keins uberstehe,
also lang unser liebe frau ein ander sohn gepfleg.
Also soll diß viehe gesegnet sein als der kelch als der wein,
als das heilig abendtbrot, das gott der herr sein 12 jüngern both […]
14 Nürnberg Staatsarchiv, Rst. Kirchen und Ortschaften auf dem Lande Nr. 454, fol.97‘,
Gründlach / Landkreis Fürth, 1561, veröffentl. Schöller, Rainer G.: Der Gemeine Hirte,
Nürnberg 1973, S. 277
15 Schoeller, ebenda, S. 278
unterlassen. Ob die Petrus-Formel zu Zeiten der Reformation in diesem Fall für das
Verbot den Ausschlag gab, wissen wir nicht.
Seit dem 17. Jahrhundert häufen sich die Belege für diesen Petrus-Schlüssel /
Wolfes-Rüssel-Reim. Und die archivalischen Provenienzen der Aufzeichnungen
lassen auch hier erkennen, welchen Zweck die Sprüche erfüllen sollten und wer
sich wie für sie interessierte.
16
In gottes namen tritte ich herein, gott behüete euere rinder und schwein,
gott behüet euch eure haus und euer hof, gott behüet euch eure treu und ehr,
gott behüet euch euer leib und sel, also solt ir gesegnet sein, wie der h. opferwein,
gleichwie das wahre himmelbrot, das gott seinen 12 jüngern geben hat. Wol an
dem h. antlastag treiben wir hinaus durch alle engelhaws, durch alle engelthal,
das mein gott behüet wol überall. Da kommet der heil sct. Petrus wol mit dem
himmelschlüssel, er versperret allen wilden thieren den rüssel, dem wolf als der
wölfin, dem bern als der berin, dem zauberer als der zauberin, ir hendt, ir füeß,
ir mundt, ir schlundt, das sie euch dieses jar kein vieche nit bezaubern oder machen
wundt, daß kein heutel reißt, daß kein peintel peißt, kein blut laß und kein armen
man aus euch nit mach, das helfe gott […]
Noch deutlicher als Wolfsbann mit magischem Dienerbeistand, also nicht als Se-
gen über Vieh oder Hirtenhund, sondern eher als ein Gegenbann, konnte 1635 der
Spruch des Blasius Pürhinger von Bayrisch Waydhofen vor dem Forstmeister im
16 Graz Steirisches Volkskundemuseum Handschrift Inventar-Nr. 9217 (Leihgabe aus dem Stei-
ermärk. Landesarchiv Graz), veröffentl. Grabner, E.: Martinisegen und Martinigerte in
Österreich, Eisenstadt 1968, S. 7; bei Byloff, Fritz: Volkskundliches aus Strafprozessakten der
österreichischen Alpenländer, S. 22, St. L.A. Polizeiakten 1615, Beilagen von Landprofosen-
berichten
17 Wichner, P.J., in: Mitteilungen d. hist. Vereins f. Steiermark 42 (1894), 211
Schon in einem Teil der alten Sprüche, soweit sie ihren genauen Einsatzzweck und
ihre soziale Zuordnung nach den Akten der Archive offenbaren, zeichnet sich eine
Tendenz zur Entwicklung brauchtumsmäßiger Anwendung ab. Das heißt: Finden
über die volkstümliche Segnung von Hirtenhund und Vieh hinaus strikte Termin-
fixierung, weitergehende Haus- und Hofeinbeziehung mit rituellem Gepräge und
mit Belohnung der Hirten statt, dann ist aus der ehemaligen Besegnung ein Brauch
geworden. Die Übergänge sind fließend, lassen sich nicht immer genau reproduzie-
ren und hingen auch von der Gewichtung der Zeremonien und des Spruchtextes
ab. Und das Brauchtum trägt weiderechtliche und hirtentümliche Züge wie etwa
in der „brauchmäßig verbrämten Lohneinforderung“ und in den „Arbeitsab-
schlußfeiern“.21
18 vgl. Lorey, E.M.: Heinrich der Werwolf. Frankfurt 1997, S. 199: Vom Wolfssegner zum
Werwolf
19 Markt Aussee St. L.A. Sond.-Arch., 1635, veröffentl. Byloff, wie oben, S. 23
20 Nürnberg Staatsarchiv Rst. Nürnberg, Diff.-Akten, Nr.33c,fol.51r, von 1480, veröffentl.
Schöller, Rainer G.: Die Institution des Gemeindehirtenwesens, in: Hutanger in der Hers-
brucker Alb. Hersbruck 1992, S. 12
21 Schöller, Der Gemeine Hirte, wie oben, S. 296
Ebenso in der volksmedizinischen Formel der Mitte des 19. Jahrhunderts aus Pley-
stein in der Oberpfalz:
26
St. Petrus mit deinem Schlüssel vertilg allen Würmern seinen Rüssel
Es ist selbstverständlich, daß in all diese Hirten-Texte, nicht nur die hier herausge-
nommenen mit der Petrus-Schlüssel-Formel, immer wieder auch noch Heilige in
verschiedenen Funktionen zugefügt werden, allgemein neben Kilian als Knecht
auch Wendelin, Wolfgang, Leonhard, Antonius, dann Veit mit den 14 Nothelfern
in Franken und Theodul, Gallus und Magnus und oft kleine Heiligen-Litaneien in
den Schweizer Alpen-Bet-Rufen. Mit Entfernung vom österreichisch-bayrischen
26 Schönwerth, F.X von: Aus der Oberpfalz, Sitten und Sagen, Augsburg 1869 Bd. III, S. 251
27 Marktleuthen Stadtarchiv, Band 30, handschriftl. Hausbuch Joh. Anger von Röslau 1787,
veröffentl. Ernst, Wolfgang: Zauber, Riten und Rezepte. Geheimärzte und Waldmänner im
Fichtelgeb., Weißenstadt 2007, S. 14
Anders als in den Pferdesegen war mit den Segnungen der Hirtenhunde nach den
uns vorliegenden literarischen Quellen keine Zuchtabsicht verbunden. Es über-
wiegt in diesem Bereich zunächst das Anliegen, den Segen Gottes auf die Tiere zu
erbitten. Bald wird diese Segnung zum Brauchtum der Hirten, wobei wahrschein-
lich die katholische Glaubensschulung regional Einfluß hatte; die Hüter und Hir-
ten standen den Klöstern ursprünglich nahe. Das Brauchtum hatte eine kultur-
und gemeinschaftsfördernde Funktion. Es half dieser meist abseits lebenden Be-
28 Zahn, Adolf, in: Zeitschr. für Mythologie und Sittenkunde 2 (1855), S. 117
29 Kriss, Rudolf: Die schwäbische Türkei, Düsseldorf 1937, S. 61
30 Rostock Urtheilsbuch des Niedergerichts 1539–1586, fol. 315, veröffentlicht Bartsch, Karl:
Sagen, Märchen und Gebräuche aus Mecklenburg, Wien 1879 II,22f (Neudruck 1978);
HDA IX,Sp.801,802
31 vgl. Bach, A.: Westerwälder Werwölfe und Wolfsegen, in: Zeitschr. des Vereins für rhein. und
westf. Volkskunde 20/21 (1923/24) S. 31
32 Deutsche Gaue 13 (1912), 181; ähnlich schon Panzer, Friedrich: Bayerische Sagen und Bräu-
che, München 1848, II, Neudruck Göttingen 1956, S. 40, aus Gögging, Ndb.
Dieser eingepaßte Kreuzsegen ist seit dem 8. Jahrhundert als Distichon, d. h. als
Doppelvers bekannt.2 Ein Vorfahre findet sich im Codex Salmasianus der Pariser
Nationalbibliothek:
Crux Domini mecum, crux est quam semper adoro,
Crux mihi refugium, crux mihi certa salus.
Während der genaue Quellpunkt der den Segen potenzierenden Verpackung – als
Brief eines Engels oder als Brief höchster geistlicher an höchste weltliche Autori-
tät – unbekannt ist, sind wir über seinen Kern, das kreuzverehrende Gebet besser
informiert. Im Gebet des Pariser Codex Salmasianus des 8. Jahrhunderts, dem es
nachgebildet ist, wird als Verfasser auf den Epigrammendichter und Grammatiker
Calbulus gewiesen, der im 5./6. Jahrhundert in Afrika wirkte. Seine Verszeilen sind
bald in figurale Formen gebracht worden und haben eine weitreichende literarische
Wirkung gehabt.
Abb. 73 Figurierte Gedichte zur Kreuzanbetung des Hrabanus Maurus*. Von links: Die Adorati-
on des H.M., Christus in Kreuzform, neun Engelchöre als Crux salus (9. Jh.)
So hat der irische Abt Joseph, der dem Kreise Alkuins am Hofe Karls des Gro-
ßen angehörte, ein Figurengedicht geschaffen mit dem Beginn: „Crux mihi certa
salus“, „das Kreuz ist mein sicheres Heil“. Weitere Gebete und Gedichte hat der
angelsächsische Theologe Alkuin (730–804), wichtigster Ratgeber und Gelehrter
am Hofe von Karl dem Großen, gesammelt.3 Hrabanus Maurus*, der bei Alkuin
studiert hat, widmet seine erste Schrift „De laudibus sanctae crucis“ eben diesem
zentralen christlichen Thema.4 Eine Legende läßt im 13. Jahrhundert Thomas von
Aquin das Kreuzgedicht an seine Zellenmauer in S. Giacomo zu Anagni in der
2 Bischoff, Bernhard: Ursprung und Geschichte eines Kreuzsegens, in: Mittelalterliche Studi-
en, Stuttgart 1967, S. 275–284; Das Distichon ist eine Strophe aus 2 Versen, einer Hexame-
ter- und einer Pentameterzeile.
3 Bischoff, Bernhard, wie oben , S. 281
4 Embach, Michael: Die Kreuzesschrift des Hrabanus Maurus, Trier 2007, S. 19
italienischen Region Latium schreiben, nachdem er einmal fast vom Blitz getroffen
worden war. Dortige Zettel mit „Thomaskreuz“ blieben als suggestive Mittel gegen
Gewitterschaden lange in Gebrauch. Doch schon lange zuvor, im 9. Jahrhundert,
war es zur Einfügung von zweckdienlichen Schutzwünschen gegen Fieber und Seu-
chen in die ausgeweiteten Kreuzsegen gekommen.5
Insgesamt wurden von mir 11 Karlssegen (solche im engeren Sinne) erfaßt. Die
deutschsprachig/ lateinischen Segen vom 14. bis zum 16. Jahrhundert in den Bi-
bliotheken Wien,6 Innsbruck,7 BSB München aus dem Karmelitenkloster Mün-
chen (Tafel 10),8 Straßburg,9 St. Gallen,10 und die im folgenden noch genannten
haben alle die Elemente der älteren Kreuzsegen und auch sonst ganz ähnliche, aber
ausgeweitete Schutzwünsche aufgenommen. Allerdings weichen sie vom o. g. Frag-
ment der Münchner Universitätsbibliothek insoweit ab, als sie den Absender nicht
mehr als Engel, sondern zumeist als Papst Leo angeben, einmal auch als Papst Ur-
ban. Sie erbitten in erster Linie Schutz gegen Feuer und Waffen oder nennen direkt
Ertrinken und Verbrennen, der Straßburger und der Züricher11 fügen Räuber und
Mörder an. Manche der Segen gewähren einen Ablaß, der Breslauer12 hundert
Tage, der Münchner des Karmelitenklosters nur vierzig. Vielfach soll „kein Herze-
leid“ widerfahren, Frauen die Geburt erleichtert werden und meist wird, so auch
im folgenden gekürzt wiedergegebenen Segen aus dem Kloster Weihenstephan,13
das dreidimensionale Kompassmotiv eingesetzt, wie im Weingartener Reise-Segen.
Die Reste des alten Kreuzsegens und das Kompassmotiv in Fettdruck:
[…] daz ist der brif den past Leo Dies ist der Brief, den Papst Leo
sand dem edell Kunig Karlen + an den edlen König Karl sandte;
vnd ist auch oft geweit [?gewert?] er ist oft geweiht [bewährt?]
Swer den brif dret pem ym vnd in Wer den Brief bei sich trägt und
alltag. List oder hort lesen oder in ihn täglich liest oder lesen hört oder
an sicht dem selben mag nich ge- ansieht, dem kann weder Feuer
shaden er weder fewr noch wazzer noch Wasser noch Eisen [Waffen]
noch eysen vnd mag auch nimer schaden und er kann auch nicht
ermer werden vnd muzz von tag ärmer [krank] werden und von Tag an
Ze auf nehmen an leyb vnd an wird er zunehmen an Leibeskraft und
guet vnd hat in ain fraw pey ir Gut. – Und hat ihn eine Frau bei
alz sy zu dem Kind get sich, wenn sie zur Entbindung kommt,
der kann auch nimer misslingen ihr kann [es] auch niemals mißlingen.
vnd swer in auch pey ym hat an Und wer ihn in seinen letzten Tagen
sein leczten zeyten der sel kann bei sich trägt, dessen Seele kann
auch nimer verlorn werden vnd auch niemals verloren gehen und
auch von gottz amplich nimer vor Gottes Antlitz [Gericht] niemals
verstozzen werden verstoßen werden.
+ daz Crewcz Jhesu Christi sey mit mir Johannes
das creucz + Christi pet ich an. daz creucz + Christi ein wores hayl
+ daz creucz Christi vber wintet alle das Kreuz Christi überwindet alle
woffen + daz kreucz Christi erloset Waffen, das Kreuz Christi erlöst
mich Johannes auz aller not + daz mich Johannes aus aller Not,
froleych zaychen Christi sey mit das heilige Zeichen Christi sei
mir Johannes. auf wegen vnd auf mit mir Johannes, auf Weg und
stegen mit dem zcajchen Christi Steg, mit dem Zeichen Christi
vber wint ich Johannes alle […] überwinde ich Johannes alle
+ daz gotleych creucz + Jhem Christi selig mich vnd vor mein
und ob mein und neben mein und vnder mein […]
14 Signaturen der Tafelmaler kommen erst nach dem 14. Jahrhundert auf; das hing auch mit
Urheberschaft und Qualitätsanspruch zur Zeit beginnender Druckgrafik zusammen. Vgl.
Burg, Tobias: Die Signatur. Kunstgeschichte Bd. 80, Berlin 2007, S. 71,73,517
15 Pergamentblatt mit Karl-Segen aus Brig, veröff. Imesch, D., Schweizer. Archiv für Volksk.
(1900), S. 341
von himel sant …“ und ebenso im Karlsruher Exemplar aus St. Georgen im
Schwarzwald,16 das zudem den Papst und den König Karl zu Brüdern werden läßt.
Nach Kenntnis der historischen Zusammenhänge bedurfte es eigentlich keiner
Himmelslegende; diese Version ist nur als Einfluß eines anderen Schutztextes, des
sog. Colomanusbriefs erklärbar (s.u.).
Die Briefe waren nicht unumstritten. So berichtet der Augustinerpropst Johan-
nes Busch einen Vorgang aus Halle im Jahre 1451.17 Der Beichtvater entdeckt ei-
nen Beutel am Halse einer Soldatenangehörigen. Auf seine Bitten erhält er Einsicht
und findet darin das Pergamentblatt mit all den Verheißungen des Papstes Leo und
vielen Kreuzen und Buchstaben. Der Beichtvater äußert seine Verwunderung, daß
der Teufel ihr noch nicht den Hals gebrochen hat, denn das sei gegen Gott und den
katholischen Glauben. Und so läßt die Arme aus lauter Angst nun den für ihren
Soldaten nützlich gehaltenen Brief vom Priester verbrennen.
Auch Martin Luther hat einen Karlssegen gekannt und ihn in seiner Dekalog-
predigt als anachronistisch eingeschätzt: „Es han etlich brieff, darin vil heiliger wort
und zeichen stan, sprechen, das der bapst Leo sy geschickt hab kaiser Carolo in den
Krieg, das doch nit allein ein üppikeit sondern auch ein lügen ist. So die Cronicken
anzeigen, das die zwee nit zu einer zit synd gewesen“.18 Tatsächlich haben Papst Leo
III, der Heilige, und Karl der Große zur gleichen Zeit gelebt, Karl wurde im Jahre
800 von Leo gekrönt; Leo war sogar vor römischen Feinden nach einer Verwun-
dung zu Karl geflohen, sodaß die Idee eines Schutzbriefes nahe liegt. Aber ein
diesbezüglicher Original-Brief wurde bisher nicht gefunden. Vielleicht ist zu Karl
dem Großen manchmal Papst Leo der Große (440– 461) assoziiert worden oder –
wohl öfter – hatte man sich am Colomanusbrief orientiert. Dieser sei von Gott
dem Coloman für seinen Vater, den König von Yberien gesandt und nach dem Test
an einem Verbrecher für wirksam befunden worden. Nach seiner Vervielfältigung
kam er dann über Papst Leo an Kaiser Karl. Und da mit Coloman ein Zeitgenosse
Heinrichs des II. (1002–1024) gemeint war, lag der Anachronismus zutage.19
Berühmte Namen sind wie Sternbilder projektiver Gestaltung. Sie schenken
Identifizierung und Orientierung und in der Werberhetorik Verführung und Ver-
einnahmung. Besonders in der Heilkunst wächst therapeutische Kraft, wenn die
Namen klingen. Es gab als Rezepturen ein Electuarium Karoli und ein Karls-Was-
ser, ein Karls-Balsam und ein Karls-Magenpulver. Ein Kräuterrezept, die Kaiser-
Karls-Latwerge, diente fast 1000 Jahre lang als Mittel gegen Heiserkeit.20 Ebenso
21 Kronfeld, Ernst Moritz: Der Krieg im Aberglauben und Volksglauben. München 1915,
S. 68f,
22 Horst, Georg Conrad: Zauberbibliothek Mainz 1821–1826, I,152.
23 vgl. Stübe, R., in: HDA IV, 24 sowie ausführlich: Der Himmelsbrief, Tübingen 1918
lich gemacht, zwar wird der legendäre Brief, den Christus in Jerusalem fallen ließ und der
nach Rom gelangte, zusammen mit seinem Verbreiter Aldebert vom Papst verbannt und
von Karl im Kapitulare von 789 als Irrtum und Fälschung beschrieben, aber das hat auf
Dauer nicht geholfen.24
Bis in die Neuzeit und in die Zauberbuchdrucke hinein wurden immer wieder
Schutzbriefe verbreitet, die auf den Karlsbrief, den Colomansbrief und die alten
Kreuzsegen zurückgreifen. Der folgende Text ist dem Eingang des „wahren Geistli-
chen Schild(es), so vor 300 Jahren von dem heil. Papst Leo X. bestätigt worden,
wider alle gefährliche böse Menschen sowohl als aller Hexerei und Teufelswerk
entgegengesetzt“ entnommen. Mein Exemplar datiert sich auf 1617, ist aber wahr-
scheinlich 1849 gedruckt:
Ein schöner
und
wohlapprobirter
Heiliger Segen
zu
Wasser und Land
wider
alle seine Feinde, so ihm begegnen
auf allen seinen Wegen und
Stegen.
+
I. H. S.
Das ist die Abschrift die der Papst Leo dem Katolo [!] seinem Bruder gesendet, auch hat
diesen Brief der würdige Abt Colomanus seinem Vater, dem Könige Yberten gesendet.
Und wer diesen Brief bei sich trägt, und Gott zu Lob und Ehre täglich fünf Vater unser
und ein Glauben, auch U.L. Frauen zu Ehren und Gedächtniß ihres Herzensleids 7 Ave
Maria betet, dem mag selben Tag kein Herzeleid widerfahren, er wird selben Tag behütet
vor Feuers- und Wassersnoth, er wird auch in keinem Streit umkommen, und erschlagen
werden …“
24 Kronfeld, E.M. wie oben, S. 20; Jacoby, Adolf, Zu den Himmelsbriefen, Dorfkirche 2 (1909),
S. 440; zu Karls Religionspolitik: Mordek, Hubert und Michael Glatthaar, Archiv für Kultur-
geschichte 75 (1993), 33–64
Seit dem 15. Jahrhundert registrieren wir eine Anschwellung der Schutztexte und
eine fast grenzenlose Vermischung verschiedenster biblischer Motive wie im Mor-
gen- und Reisesegen einer Handschrift des Germanischen Nationalmuseums
Nürnberg. Hier am Ort der Lanzen- und Speerverehrung durften die Wunden
Christi mit Nagel- und Speerbezug den Eingang bilden. Daß es sich um einen
Kaiser-Karls-Brief handelt, wird wie so oft erst ganz am Schluß mitgeteilt.25
Anton E. Schönbach notiert am Rande einer seiner Abschriften aus der Dresd-
ner Bibliothek, daß es sich um ein „ungeheures mixtum compositum“ handelt:
26
Das ist der brieff den babst Leo dem Keyser Karolo magno gab unde hat dy der engel
gottes Sanct Gregorio geleret. Alle die do in streiten ßeyndt ßollen ßie bey yn tragen –
In der ere der heyligen Feronica …
Der Brief listet auf: Leo von Juda, die 72 Namen Jesu, Lucas-Evangelium, die
Länge Christi 16 mal genommen, Johannes- Evangelium, Kreuzesanrufungen, Erz-
engel, Drei-Könige und in der Folge: Sanctus Columbanus der heylig bischoff hat
diese caracteres gemacht dem Kunyngk aus Schotten der seyn frundt was do er must
streytten …
Und immer mehr phantastische Varianten mit legendären Fundberichten leiten
die Briefe ein. So als Himmelsbrief:
27
Dieses Gebet ist gefunden auf dem Grabe unseres Herrn Jesu Christi im Jahre 783 und
gesandt von dem Papst an Kaiser Karl, als er zum Streite zog, und gesandt zum heiligen
Michael in Frankreich, wo es wunderschön mit goldenen Buchstaben gedruckt zu finden
ist. – Wer dieses Gebet täglich liest oder lesen hört, oder bei sich trägt, soll nicht plötzlich
sterben, nicht im Feuer verbrennen, nicht in die Hände der Feinde geraten, nicht in der
Schlacht umkommen …
Zuletzt erscheinen vereinzelt Briefe, die den Kaiser selbst zum Finder machen,28
solche mit absurder Vermischung mit einem Grafenamulett: Ein Himmelsbrief,
den Soldaten im Krieg 1866 trugen: „Dieses ist der Brief Caroli der seinen Bruder
Philippum aus Flandern Tödten und ihm das Haupt apschlagen wollte um etliche
Mißthat willen …“,29 und andere, die die Fundjahre auf 1505 oder gar auf 180530
und 190531 verlegten.
25 Nürnberg GNM Papierhandschr. 5832 des 15. Jahrh., veröffentl. unter Red. v. Aufsess, Anz.f
Kd.Vorz. N.F. 1(1853), S. 136 und Beilage 1854
26 Dresden SLUB Hs 206, Schönbach Segensammlung Gießen, S. 760–760a
27 Strackerjan, Ludwig: Aberglauben und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg Bd.I², S. 62,
vermutlich aus Vechta, 1849
28 bäuerl. Hs aus Mallersdorf/ Thür., veröff. Liebers, B.: Mitteldt. Bl. f.Volksk. 4 (1929), S. 54f
29 Jeep, in: Niedersachsen 8 (1902/03), S. 177
30 Olbrich, Karl: 10 Soldaten-Schutzbriefe, in: Mittlg. Schles. Gesellsch. f.Volksk. 10(1908),45–
70, hier S. 55
31 Denz, Hermann und Manfred Tschaikner: Alltagsmagie, Hexenglauben und Naturheilkunde
im Bregenzerwald, Begleitbuch zur Ausstellung im Frauenmuseum Hittisau, Innsbruck 2004,
S. 67ff
Der alte Kreuzsegen hätte dem Gläubigen einen direkten Weg zur spirituellen Kon-
templation weisen können. Bei konsequenter Anwendung als Gebetssegen führte
die Versenkung zu einer Erhöhung der Aktivitäten im Präfrontalhirn, im Thalamus
und z. T. im Cingulum* mit entsprechenden positiven Botenstoffwirkungen. Diese
Effekte sind in den letzten Jahren durch bildgebende Verfahren bei christlichen
und buddhistischen Ordensangehörigen experimentell nachgewiesen. Verbunden
mit einer Konzentration auf das Selbst und einer Abwehr äußerer Einflüsse konnte
zwar eine Entspannung erfolgen. Inwieweit der Nutzer des Briefes allerdings see-
lisch für praktische Unternehmungen gestärkt war, hing von weiteren Bedingun-
gen ab. Dabei scheint der Einbau der dreidimensionalen Kompassformel in den
alten Segen insofern von großer Bedeutung gewesen zu sein, als die mit der Versen-
kung verbundene Abnahme der Potentialreize auf das hintere Aufmerksamkeitssy-
stem32 zu einer Orientierungsstörung geführt hätte. Spirituelle Erlebnisse als Ver-
schmelzung mit der Umwelt oder als Unio mystica waren ja nicht immer erwünscht.
Die Kompassformel könnte also je nach Motivation für den Gebrauch des Briefes
kompensierend ein allzu intensives Versenken gemindert haben.
Die inhaltliche Entwicklung der Karlsbriefe und Kreuzsegen zeichnet ihren Weg
nach aus der geschlossenen klösterlichen Gemeinschaft in die offene Gesellschaft.
Nicht mehr spirituelle Konzentration, wie sie Hildegard von Bingen in ihren Tex-
ten gelehrt und therapeutisch angewendet hatte, wird erstrebt. Man könnte über-
spitzt sagen, daß dem christlichen Wahrheitskern des Kreuzes zunehmend ein wer-
bendes profanes Kouvert verliehen wird, das man Brief nennt. Aus dem schambe-
dingten tiefen Widerstand gegen solche Verirrungen erwuchs die Tendenz, die alte
Mär von einer überirdischen Briefherkunft aufzugreifen und bedarfsweise zu ak-
tualisieren. Die Konkretisierungen in Verortung auf Briefpoststellen, auf Persona-
lisierung mit höchsten Autoritäten und auf Allerweltsheilschutz blieben schließlich
dann in den letzten drei bis vier Jahrhunderten als rein zweckdienliche Anwendun-
gen für bestimmte soziale Schichten brauchbar. Es kam zur Verwilderung in mo-
ralzwängige Kettenbriefe und Massendrucke.
Die Kettenbriefe, die jeder Empfänger vervielfältigt abschreiben und weiterge-
ben mußte, sind ein typisches und anschauliches Beispiel für infektionsartige Aus-
breitung und nachahmende Wort- und Symbolwahl. Sie breiteten sich nicht nur
synchron flächendeckend innerhalb einer Generation, sondern diachron über Jahr-
hunderte aus. Neurobiologische Akteure für die Beteiligung am Markt sind die
Spiegelneurone*, die jeweils von Kindheit an wie mit Werbeslogans aufgefüllt wur-
32 vgl. Kapitel 28
den. Die Briefe mit ihren beglückenden Verheißungen befeuerten die Neurone mit
Belohnungsaussichten und schenkten zugleich die Illusion der Teilhabe an einem
gesellschaftlichen Prozess.
Anders als die Heilspruchtexte, die meist eine gewisse umschriebene Indikation
hatten, von bestimmten beruflichen Sparten angewendet wurden und deren Wei-
tergabe oft geheim oder in unzugänglichen Medizinbüchern erfolgte, waren die
Himmelsbriefe allgemein verfügbar. Vielfach wurden sie von herumreisenden
Händlern zusammen mit Kurzwaren unter die Leute gebracht. Die Himmelsbrief-
drucker haben beim Vertrieb ihrer verführerischen Ware weniger Aufwand betrie-
ben als heutige gehirngerechte Marketingseminare zur Erlernung der Generierung
von Emotion im limbischen System, um den „Kaufknopf“ im Kundengehirn zu
finden.
1
Ic dir nach sihe, Ic dir nach sendi Ich schau dir nach, ich sende dir nach
mit minin funf fingirin funvi undi funfzic engili. mit meinen 5 Fingern 55 Engel
got dich gisundi heim dich gisendi. Gott sende dich gesund heim.
offin si dir diz sigidor, sami si dir diz selgidor: Offen sei dir das Siegestor, ebenso
Bislozin si dir diz wagidor, sami si dir diz wa- offen sei dir das Segenstor: verschlos-
findor. sen seien dir Wogen- und Waffentor.
des guotin sandi Ulrichis segen vor dir vndi hindir Der Segen des guten S. Ulrich vor dir
dir vndi obi dir vndi nebin dir si gidan, swa du und hinter dir und über dir, unter dir
wonis undi swa du sis, daz da alsi gut fridi si, alsi und neben dir sei getan, wo du auch
da weri, da min fravwi sandi Marie des heiligin wohnest und seist, daß da auch so
Cristis ginas. Frieden sei, als er bestand, da meine
Frau S. Marie den heiligen Christ gebar.
2 Diutiska, Denkmäler deutscher Sprache und Literatur, Stuttgart 1827, Bd. II.
3 Blank, Walter: Die deutsche Minneallegorie, Stuttgart 1970, S. 160f
4 Moser, Hugo: Vom Weingartener Reisesegen zu Walthers Ausfahrtsegen. In: H.Paul’s und
W.Braune’s Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, Sonderband zu 82
(Halle/S. 1961), S. 69–89
Soldaten, weil die biografischen Fakten um den heiligen Ulrich und die Schlacht
am Lechfeld vorausgesetzt werden konnten.
Insofern war die dreidimensionale Windrose etwas ganz Besonderes: In Erman-
gelung präzisen Kartenmaterials und eines Navigators imaginierte sie Raumabsi-
cherung, auch zur Höhe und zum Boden in Form einer geistlichen Umhüllung, die
allseitigen göttlichen Schutz bieten sollte. Die Richtungsnennungen rund um den
Segensempfänger oder zumindest in zwei oder drei Richtungen weisenden Formeln
sind vielfach vorgebildet etwa im Sumerischen,5 in einem Papyrus aus Kairo,6 im
Psalm 139, in den indischen Veden,7 in einer äthiopischen Siegesinschrift von 356
nach Christus8 und in den altirischen Segenstexten der „Lorica“ irischer Wander-
mönche. Und sie korrelieren dem Ritus der Segenspraxis der Kirche, die Pilger mit
Kreuzzeichen von allen Seiten und in alle Richtungen einsegnete. Gegenüber der
Kompassformel des dritten Segensteiles hat der zweite Teil mit seinen Torbildern
kaum Verbreitung gefunden.
Aus dem 12. Jahrhundert ist beispielsweise eine solche kirchliche Formel aus
dem Rituale von St. Florian überliefert:
9
Crux divina ante te, infra te, subtus te, Das göttliche Kreuz vor dir, bei dir, unter dir
a dextris sit in tuam custodiam et protec- und zur Rechten möge zu deinem Schutz
5 Falkenstein, Adam: Die Haupttypen der sumerischen Beschwörung. Leipzig 1931, S. 32,
S. 87; Meissner, R.: Babylonien und Assyrien 2 Heidelberg 1925,S. 170; vgl. auch die grie-
chischen magischen Papyri bei Betz, Hans Dieter, Chicago 1986, S. 211,289 (Horus vor mir,
Isis hinter mir)
6 Bartsch, Elmar: Die Sachbeschwörungen der römischen Liturgie, Münster 1967, S. 100 (=
PGM P13a)
7 Schmitt, Rüdiger: Dichtung und Dichtersprache in indogermanischer Zeit. Wiesbaden
1967, S. 209f
8 Kaufmann, Carl Maria: Gebete auf Stein nach Denkmälern der Urchristenheit, München
[um 1925], S. 65
9 St. Florian Bibliothek des Chorherrenstifts Perg.-Hs XI 467, fol 123’–124’, veröffentl. Franz,
Adolph: Das Rituale von St. Florian, Freiburg 1904, S. 116
In den profanisierten Kreuzgebeten und Karlssegen (s.d.) ist die Formel ebenfalls
eingebaut wie später im Segen Sancti Ubaldi des Geistlichen Schildes und im Augs-
burger Rituale von 1870.
In der christlichen Dichtung waren diese elementaren räumlichen Universalbe-
züge sehr beliebt. Der Erzbischof von Tours, Hildebert von Lavardin (1056–1133)
hat seine Verse der Dreifaltigkeit gewidmet:
10
[…] Über, unter allem thronend, außer, und in allem wohnend
In dem All Uneingeschränkter, außerm All niemals Verdrängter,
Überm Weltall Unentrückter, unterm Weltall Unbedrückter,
Drüber ganz als Schützer waltend, drunter ganz als Stützer schaltend […]
In einem umfangreichen Gebet aus dem Pergamentbüchlein aus St. Georgen, einer
geistlichen Sammelhandschrift des 14. Jahrhunderts heißt es:
11
Protege me domine a dextris et a sinis- Schütze mich, Herr, zur Rechten und zur
tris, ante et retro, intus et superius, Linken, vor mir und hinter mir, innerhalb
in aero in terra in mar, in flexu, und über mir, in Luft, Erde und Meer, ob
in erectione in gressu in statione auf Knien, erhoben, im Lauf oder im Stehen,
dormiendo uigilando, in omni motu schlafend oder wachend, in jeder Bewegung
Bis in die Segen und Gebete der Neuzeit blieb diese universale Windrosenformel
beliebt und variabel gestaltet, unterlag aber auch mißbräuchlicher Zerschreibung
(s.u.).
Eine wörtliche Segenskreation durch den heiligen Ulrich (890–973) ist für den
Weingartener Spruch unwahrscheinlich. Aber wer den Segen fast 300 Jahre nach
dessen Tode niederschrieb oder aus Teilsegen zusammensetzte, muß das episkopale
und säkular-historische Lebenswerk Ulrichs genau gekannt haben.
Das ergibt sich aus folgenden Parallelen: Für die Ideen vom Reichsfrieden stehen Ulrichs
geistliche Führerschaft in der Schlacht am Lechfeld und die Vermittlung zwischen König
Otto und Sohn in Illertissen. Berthold von Regensburg (gest. 1272) hatte in seinen Predig-
ten den Bischof als vorbildlichen auch politischen Friedensherrscher, als Bewahrer von Frie-
den und Recht13 herausgehoben, vielleicht war das die Zeit der Segensniederschrift. Für den
Schutz vor vielfältigen Tourengefahren stehen seine Romreisen und stehen mehrere Legen-
den, besonders jene zum Schutz vor wilden Tieren und reißenden Flüssen (Wertachwun-
der). Und diese Schutzgarantien waren gekrönt von der erfolgreichen Kraft des segnenden
Kreuzes, das nach römisch-konstantinischen Zeiten nun dem schwäbischen Bischof zuge-
teilt wurde. Es sind Engel, die ihm in Legenden und Bildern das Kreuz überreichen wie
einst dem Kaiser Konstantin mit den Worten: „Unter diesem Zeichen wirst du siegen“.
Übrigens konnte auch ein Trank aus dem Kelch des Heiligen und konnte die Ulrichsminne
für Reisende geistigen Beistand geben. Im Weingartener Segen wird die dreidimensionale
Windrosenformel ganz sinnfällig dem hl. Ulrich als erstem deutschen Heiligen zugedacht
und mit der Pax Christi-Idee, die in den kirchlichen Segen unbekannt ist, eng verbunden:
Die Geburt Christi gewinnt sowohl politische als auch persönliche Bedeutung. Nach eini-
gen Überlieferungen und nach Legenden, von der Legenda aurea14 aus Älterem gesammelt,
war die Zeit der Niederkunft Jesu Christi auch eine Zeit des Friedens im Römischen Reich.
Man hat das eine „Strukturhomologie“ zwischen sozialer Realität und religiöser Symbolik
genannt.15
Kein anderer konnte letztlich mehr Zuversicht sowohl bei allgemeinen als auch
persönlichen Unternehmungen bieten als der beliebte Schwabenbischof, der der
Patron der Wanderer und Reisenden geblieben ist. Nicht zuletzt bietet auch die
darstellende Kunst reichhaltige Spuren der Verehrung (Tafel 11).
Was die einfache Folie der Windrose angeht, so wurde sie in den letzten Jahr-
hunderten stellen- und zeitweise in den Haus- und Zauberbüchern sehr derb kon-
kret. Sie hat sich immer weiter von einer frommen, ehemals christlich universal
gefüllten Formel entfernt. Während im Priamel des Hans Rosenplüt (etwa 1400–
1460), des Nürnberger Volksdichters, noch scheinbar eine Krankheit besprochen
werden soll
Der Himmel ist ob dir, das Erdreich ist unter dir
Du bist in der Mitten, ich segne dich vor das Verritten
traten besonders in Zeiten des Chaos und Sittenverfalls aggressive Texte in Umlauf,
die nicht mehr Raumabsicherung, sondern Raumbeherrschung, nicht mehr Pho-
bieabweisung oder Selbstbeschwichtigung, sondern pure Selbstbehauptung und
Überlegenheit anzielen. Sie zeigen den Übergang in schizoide, d. h. bedenkenlos
erfolgszentrierte Beschwörungen einer Knotenmagie mit der Vermischung heilig-
ster und profanster Mittel. Die folgenden Formeln sind nach dem 30-jährigen
Krieg im Fichtelgebirge aufgezeichnet worden:
13 Hagenlocher, Albrecht: Der guote vride, Berlin New York 1992, S. 212
14 Jacobus de Voragine*, Ausgabe Benz, Richard, S. 38
15 Faust, Eberhard: Pax Christi et Pax Caesaris, Freiburg/Schweiz 1993, S. 221ff; vgl. Kapitel 26
16
Daß kein Mensch nichts Richt vor obrigkeit
kein Förster nichts fange kein Fischer Summa kein Mensch
kan nichts außrichten vnd nichts erlangen
ehe dich dein feind siechet […] Sprich:
Vnden siehe ich dich ins teuffels nahmen
und mach ein knoten in den senckel
in der mitten bindt ich dich ins teuffels nahmen
Mach noch ein knoten, oben überwinde ich dich […]
Wan du leudt siehest auff der Straßen: dar für du einen grauen haben möchst
so Sprich: Vnden durch siche ich dich, oben überwind ich dich, mitten Zu
pindt ich dich mit der handt, da Vnser liebe Fräüe Jhr herzte liebskind mit zu pandt
Wie die Segensworte so haben auch die Riten weithin magieartigen Gebrauch er-
litten. Der Arzt Johan Weyer (1515–1588) berichtet17, viele hätten es nicht bei ei-
nem einzigen Kreuzzeichen belassen und es „vornen / hinden / ja an allen orten auf
die erden“ vollzogen. Diese Inflation der Bekreuzigungen, auch hier voll des erfolg-
heischenden Eifers, sei vor allem zu Unwetterbannungen verwendet worden.
All diese Korrumpierungen der mittelalterlichen Segen durch Trivialisierung
haben zu Mißdeutungen und generalisierenden Fehlinterpretationen geführt, in-
dem auch ihre Quellen im Zuge einer „rationalen“ „Aufklärung“ vergiftet und ei-
ner „magischen Kosmologie“ angenähert wurden. Mehr als viele andere, vor allem
mehr als die Gruppe der Krankheitssegen, unterlagen gerade die Reise- und Aus-
fahrtsegen der Zerstückelung und der Sinnberaubung.
Zehn Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs, als 1955 das Millenium der
Schlacht am Lechfeld bei Augsburg begangen wird, nach einer Zeit, da das Deut-
sche Reich erst expansive, dann implosive Menschenfluchtströme produziert hatte,
erscheinen in einem kleinen Bändchen18 unter dem Titel „1000 Jahre Abendland“
einige Vorträge, u. a. von Reinhold Schneider und Walter Dirks. Ein weiterer Vor-
trag titelt mit „Menschen unter der Windrose“. Er ist von Benno Reifenberg
(1892–1970) und nennt weder Ulrich noch den Weingartener Segen, aber er führt
in die Schnittstelle dessen, was im Segen gemeint ist. Er handelt von Aufbruch und
Seßhaftigkeit, Heimat und Fremde. Er stellt zielloses, unstetes Streunen, wie es
auch die Zeit der Völkerwanderung kannte, und ackergebundene kulturschaffende
Bodenständigkeit gegenüber, ebenso wie das Haltmachen und das Fortgehen und
Beten als Zug und Gegenzug der Himmelsrichtungen. Und er fragt schließlich, ob
uns Heutigen die Himmelsrichtungen noch Symbole sind.
16 Handschrift des Johannes Zahn von Dürnberg, vor 1691, S. 134–136,55f, veröffentl. Ernst,
Wolfgang, in: Archiv für Geschichte von Oberfranken 77 (1997), II, S. 296–299
17 zit. nach Nahl, Rudolph van: Zauberglaube und Hexenwahn im Gebiet von Rhein und
Maas: Spätmittelalterlicher Volksglaube im Werk Johan Weyers, Bonn 1983, S. 151f
18 Reifenberg, Benno, in: Tausend Jahre Abendland. Augsburg Basel [1955], 113–134
Flucht oder Kampf treffen. Auch wurden Engelscharen und heilige Stadttorpassa-
gen gegen unheilige Stadttorsperrungen imaginiert, die bei jedem mittelalterlichen
Menschen gespeichert und in Wiedererrinnerung (= Amygdala* + Hippocampus*)
verfügbar waren.
Aber es konnte außerdem eine bewußte Verarbeitung der Kompassformel ins
Spiel kommen, die als Hinweisreiz fokussierend fungierte. Der Reiz des Aktionspo-
tentials erreichte befeuert durch die Amygdala besonders das sogenannte hintere
Aufmerksamkeitssystem.19 Es besteht aus Bereichen des oberen und hinteren Schei-
tellappens rechts und seinen Verbindungen zum Pulvinar des Thalamus und zur
Augenbahn (Abb. 76). Es speichert und vermittelt räumliche Wahrnehmung und
Bewegung in der Welt, Geografie und Dreidimensionalität. Es konnte direkt mit
unserer wohl oft auch vom Priester gesprochenen dreidimensionalen Windrose
korrespondieren. Bewußtes Ziel des dritten Spruchteils ist also die Imprägnierung
einer Aufmerksamkeitsausrichtung. Sie bewirkt hier wie im allgemeinen die Akti-
vierung eben der zu jenen angezielten neuronalen Strukturen hinlaufenden Ner-
venkabel. Denn viele Zellen des hinteren Scheitellappens haben über den Collicu-
lus superior direkt mit der Koordination und raschen Umlenkbarkeit der räumli-
chen Aufmerksamkeit und Blickrichtung zu tun.
19 vgl. Roth, Gerhard: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, Frankfurt 1989, S. 180
Der seit dem 12. Jahrhundert nachweisbare Segen von den drei guten Brüdern
gehört zur großen Gruppe der Begegnungssegen, deren Personen und Mächte so-
wie ihre Namen, Autoritäten und Instanzen bestens austauschbar sind. Damit
konnte dieser Typ als formbewahrende Schablone für erzählerische, den jeweiligen
kulturellen und epochalen Einflüssen nützliche Personalbesetzung „eine außeror-
dentliche Produktivität“ erreichen. Mit seiner „Affirmation eines segenverheißen-
den Vollzuges“1 erzielt er hohe suggestive Dynamik. Die Texte sind durch einen
Dialog gekennzeichnet. Dabei können folgende Begegnungen stattfinden: 1. gute
heilende Macht mit einem Krankheitsdämon wie in den Drei-Engelsegen und z. B.
im Migränespruch von Carnuntum, 2. gute heilende Macht mit dem Leidenden
wie im Hiobsegen2 und 3. zwei gute heilende Mächte miteinander, wie im Drei-
Brüder-Segen.
3
Drei gute Brüder treffen Jesus Christus, der sie nach ihrem „Wohin“ fragt. Sie
nennen einen Berg, auf dem sie ein Wundkraut suchen wollen, es soll für Schlag-
und Stichwunden und überhaupt für alle Wunden gut sein. Jesus verlangt zunächst
ihr Versprechen, daß sie darüber weder schweigen noch dafür einen Lohn nehmen,
empfiehlt ihnen den Berg Olivet, das Öl vom Ölbaum und die Wolle von Schafen.
Beides soll auf die Wunde gelegt werden, und dabei ist zu sprechen:
Alsô de Jud Longinus der unsern hêrren So wie der Jude Longinus unseren Herrn
Jhêsum Christum staech in die sîten Jesus Christus mit dem Speer in die
mit dem sper, – daz eneitert nith, Seite stach, – das eiterte nicht
noch gewan hitze, noch enswar, das hitzte nicht noch schwärte es,
noch enbluotet zevil, noch enfuelt: das blutete nicht zuviel noch faulte es:
alsô tuo disiu wnde, diu enbluot nith Ebenso soll diese Wunde nicht bluten
noch enfuoel […] noch faulen […]
Der Segen ist drei Stunden lang zu sprechen mit vielen Vaterunsern.
Dieser Segen nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als er Jesus zum himmli-
schen Arzt macht. Die Kräuter sollen vom Ölberg stammen, wo Christus zuletzt
seine Jünger traf und wo er festgenommen wurde. Christus verordnet aber nicht
nur Mittel, sondern empfiehlt auch einen Segensspruch, der seine zentrale Glau-
bensbotschaft und überirdische Heilkraft als spirituelle Therapie beinhaltet. Er be-
handelt sowohl medikamentös als auch verbal. Hier ist es einer der seit dem 10.
Jahrhundert bekannten Longinussprüche mit Garant für das Sistieren einer Blu-
tung, mit der Formel von den nicht eintretenden Verwundungsfolgen, wie später
im Bamberger Blutungssegen und bis in die Neuzeit als große Segenssippe entwik-
kelt.
Aus heutiger Sicht chirurgisch eine zweifelhafte Empfehlung, die mit der Auf-
lage von Öl und Wolle die Gefahr einer Sekundärinfektion erhöht, also eine Hei-
lung „per secundam“, eine komplizierte, entzündlich „eiternde hitzende faulende
schwärende“ Wunde geradezu riskiert. Das war die schon im Papyrus Smith aus
Altägypten (Leinenfasern, Harz, Fett), in der Ilias Ambrosiana aus Troja (Kräuter-
auflage) und nach hippokratischer Säftelehre berichtete Methode, die das Eitern,
das „pus bona et laudabile“ der Wunde bewußt provozieren wollte.
Das finden wir auch in den Wurmsegen aus Engelberg des 9. und aus der Pro-
vence des 10. Jahrhunderts.4 Die fortschrittliche scholastische Medizin-Schule von
Bologna hat dagegen seit Beginn des 12. Jahrhunderts eine eher reizlose Reinigung
der Wunde und die Vermeidung der Eiterung bevorzugt, also eine Heilung „per
primam.“5 Umso mehr mag die von Irmgard Hampp6 vorgeschlagene Deutung
eines Bezuges auf die Reinheit der Wunden Christi für Gläubige bedeutet haben.
Das gilt auch für manche Hinweise in anderen Segen auf die geringe Blutungsnei-
gung an Christi Wunden.
Die deutsche Longinusformel als Segensempfehlung Christi des Münchner
Wundsegens ist aus lateinischen Vorbildern übersetzt, die sich schon seit dem 10.
Jahrhundert auch vereinzelt selbständig, also nicht als Teil des Drei-gute-Brüder-
Segens, findet. Die dreimalige Segens- und Gebetspraxis, doch wohl minutenlang,
mit gleichzeitiger Beobachtung mag zur Beruhigung des Patienten einerseits und
zur Tradierung des Spruchtextes andererseits günstig gewesen sein, weil Blutstil-
lung ohne Verletzung größerer Gefäße durch die Gerinnungsfaktoren zunächst oh-
nehin von selbst eintritt. Man konnte also einen „Erfolg“ sehen.
Unser Münchner Segen befindet sich innerhalb der Handschrift Clm 23374
inmitten vieler anderer Krankheits-Heil- und Ausfahrtssegen und dürfte auch tat-
sächlich angewendet worden sein. Gelegentlich ist in vergleichbaren Textnieder-
schriften, wie sie von medizinisch gebildeten Mönchen eingebracht wurden, noch
auf das Abbinden der Gefäße verwiesen, etwa in Clm 4350, Bl. 73v. Dort heißt es
4 vgl. Kapitel 30
5 vgl. Kapitel 6
6 Hampp, Irmgard: Beschwörung Segen Gebet, Stuttgart 1961, S. 43, s.a. S. 201ff
gegen Ende: „Strangula uenam limis“, ebenso im Clm 14569,Bl.17v „tu fac stagnare
uenam“. Für die medizinische Wundversorgung war seit langem der Einsatz von
Tiersehnen zum Abbinden größerer Gefäße selbstverständlich.
Vollständige Drei-Brüder-Segen sind bis zum 16. Jahrhundert nachweisbar.
Frühe lateinische Exemplare der Stiftsbibliothek St. Florian in Österreich (13.Jh),
der Pauliner Bibliothek in Leipzig (13.Jh.) und ein nach England exportierter deut-
scher Segen (13.Jh.) sind ganz ähnlich gestaltet. Das trifft auch für den Wiener
Segen des 14. Jahrhunderts zu und für die später zu datierenden Schriften der
Stuttgarter, Hamburger und weiterer Bibliotheken.7
Seit dem 16. Jahrhundert zerfällt der Drei-Brüder-Segen in Einzelteile, verän-
dert seinen ursprünglichen Sinngehalt oder seinen Umfang. So gehen die Brüder in
einem Segen der Wiener Bibliothek in einen Wald oder treten als „selige waldt
brüeder“ auf wie im Elsass, wo schon Geiler von Keysersberg ihn kannte. Sie gehen
„über einen süssen Miltenfrist“, was immer das sein mag, oder es treffen in einem
böhmischen Segen „drei ehrlichste Brüder und eine der ehrlichsten Jungfrauen“
den „allerliebsten Gott“. Und in einem Arzneibuch des 17. Jahrhunderts kniet
Christus vor den drei Brüdern und bietet sich selbst als das gesuchte heilbringende
Kraut dar.8
Der folgende Segen aus dem Münchner Karmeliterkloster des 15. Jahrhunderts
läßt beispielhaft erkennen, welchen Veränderungen die Schriften unterlagen. Der
mons Olivetti ist ein ganzes anderes, undurchsichtiges Einsprengsel geworden.
Statt Christus fungiert nun die Gottesmutter. Die Formel von der guten Stunde
aus dem Bamberger Segen ist installiert. Nicht mehr Blutung, sondern „Wildes
Feuer/ Fieber“, also eine Phlegmone, ein infektiöses, sich „brennend“ ausbreiten-
des, meist septisch „laufendes“ Geschehen, vielleicht ein St. Antonius-Feuer, soll
damit behandelt werden; eine exakte Indikation ergibt sich nicht. Aber die War-
nung vor Schweinefleisch und Frauen könnte ihre Gründe gehabt haben.
9
Ain segen vor dem brechen vnd blatter Ein Segen für das Brechen und die Blatter
Es giengen drey brüeder gen sant iop gen Drei Brüder gingen zu Sankt „Iop“ nach
metigon auff den pergk nach Kreutern do kom Metigon auf den Berg um Kräuter, da kam
vnser liebe fraw vnd sprach Ir hern wa wöllent unsere lb. Frau und sprach: Ihr Herren,
ir hin Da sprachen sie wir wollent gen sant iop wohin wollt ihr? Sie sagten: Wir wollen zu
gen metigon auff den bergk nach Kreutern die Sankt Iop gen Metigon auf den Berg nach
gut sind vor das kranck kuk loffent gute vnd Kräutern, die für „Kuklaufendes“ und
das wilt fewer Do sprach vnser liebe fraw wildes Fieber gut sind. Da sprach unsere
7 Dokumentation s. Holzmann, Verena: „Ich beswer dich wurm vnd wyrmin …“, Diss. Wien
1997, Bern u. a. 2001, S. 219–226; und s. Schulz, M.: Wund-und Blutbeschwörungen, in:
Verf.lex. 11 (2004), Sp. 1683–1685
8 zit. nach Ebermann, Oskar: Blut- und Wundsegen, Berlin 1903, S. 38f; Schulz, Monika:
Beschwörungen im Mittelalter, Heidelberg 2003, S. 70; Lefftz, Joseph, Archiv für elsässische
Kirchengeschichte 7 (1932), 211
9 München BSB Cgm 850 fol. 73r-75v, zit. nach Segensammlg Schönbach Gießen, S. 77f
+ Jch beswer dich kranck kul loffent gute lb. Frau: Ich beschwöre dich, krankes
vnd das wilt fewer Da du widder erbrennest „Kuklaufendes“ und Wildfeuer, daß du
noch bratest auff disem gebain das du still weder brennest noch bratest auf diesem
standest des beswer ich dich noch heüt ade Glied, daß du still stehest, dafür beschwör
noch hin nach bey den heiligen stunden bey ich dich bei den heiligen Stunden, den fünf
den hailigen funf wunden bey den hailigen Wunden und bei den heiligen Nägeln,
nageln die got durch hend vnd füß wurden die Gott durch Hände und Füße ge-
ge schlagen. […] schlagen wurden. […]
vnd nim sant anthonien wein vnd thu das Und nimm St. Antonien-Wein, einen
ain leffel vol in ain schuessel vol gutz essigs Löffel in eine Schüssel mit gutem Essig
vnd wasche dann den gebrechen damit und wasche den Schaden damit.
Wer aber das swarcz gros blatter da were Wenn es aber die große Schwarzblatter
So nym aines ayes totter vnd saltz […] ist, dann nimm Eidotter und Salz […]
Vnd huete dich vor sweine flaisch vnd vor Und hüte dich vor Schweinefleisch,
gesuechtiger speise vnd vor frawen So hitzigen Speisen und vor Frauen, so
pistu genesen bist du gesund.
Mit seinem Verweis auf Christi spezielle therapeutische Anweisung an die hilfesu-
chenden Brüder, die biblisch nicht bekannt ist, die also vom Kranken noch nie
gehört wurde, überrascht der Segenstyp in Amygdala*, Hippocampus* und Cingu-
lum* mit einer wohltuenden und befeuernden Neuigkeit. Das ist ähnlich wie im
ersten Teil des Bamberger Segens mit seinem spielenden Jesuskind. Die Wirkung
der verbalen Heilkunst erwuchs immer wieder effektvoll aus den Abweichungen
vom biblischen Kanon. Daraus entsprangen der performierende Reiz und die
Spannung, daß eigentlich alles Geschehen dieser Welt, auch empirische Naturge-
setze, ganz anders ablaufen können.
Andererseits kann sich der Kranke mit den Brüdern identifizieren. Gegenüber
der mehr konkreten entmystifizierenden Bamberger Daumenmanipulation bringt
die imaginierte Begegnung mit dem Heiland-Retter gleichzeitig eine eher mysti-
sche Annäherung, wie sie auch in der Seitenwunde durch die Longinus-Lanze ver-
sinnbildlicht ist. (Vergleiche die Kapitel 6 und 7)
Das Benediktinerkloster Tegernsee war eines der bayerischen Urklöster. Als Gründungsda-
tum gilt das Jahr 746. Von den ersten Bauten sollen Reste einer Rundmauer nach Art der
Jerusalemer Heiliggrabrotunde zeugen, von einer Stiftskirche St. Peter und Paul ist nichts
erhalten. 975 wurden Kloster und Kirche bei einem Brand zerstört. Aus der ersten Schreib-
schule des 8. und 9. Jahrhunderts gibt es nur spärliche Reste. Manches, was gerettet werden
konnte, fiel der späteren Klosterbuchbinderei zum Opfer.1 Der Codex Clm 18524b mit
seinen theologischen Dokumenten ist aber von einer Salzburger Hand geschrieben; auf dem
letzten Blatt ist im mittleren Drittel des 10. Jahrhundert unsere Beschwörung angefügt.
Seine genaue Heimat ist also nicht zu ermitteln. Im 15. Jahrhundert liegt der Codex in Te-
gernsee.
Man hat aus der Anfügung des Eintrages auf letzter Seite schließen wollen, daß die Wahr-
scheinlichkeit einstmals praktischer Nutzung groß ist. Denn an solchen Stellen konnte
Laien- und Medizinerwissen einen inoffiziellen Platz finden. Wer antiquarisches Interesse
oder erhaltungswürdiges nicht theologisches Gut für die Nachwelt erhalten wollte, konnte
Lücken des teuren Pergaments nutzen.2 Andere Vermutungen über eine frühe Nutzung der
Heilformel gibt es nicht. Eine Infirmarie (Klosterkrankenhaus) ist in Tegernsee erst für
1229 nachgewiesen, deren Erweiterung für 1260. Es überrascht also nicht, daß sich Abt
Eberhard im Jahre 1003 nicht an einen Klostermediziner wenden kann, sondern eine heil-
kundige Frau Judith konsultiert, von der er Rezepte für einen Heiltrank für Schwächezu-
stände und für seine abgekauten Zähne erbittet.3 Ein Arzneibuch des Meisters Bartho-
lomäus und andere medizinische Texte kamen im 13. Jahrhundert nach Tegernsee.4
Nur wenige kleine Vierzeiler haben so viel zum Spannungsreichtum des germani-
stischen Forschungsbetriebes beigetragen wie die Tegernseer Wurmbeschwörung.
Sie gehört zusammen mit den Merseburger Sprüchen zu den ältesten deutschen
Heilspruchformeln. Der Edda-Übersetzer Felix Genzmer (1878–1959) findet mit
ihr nicht nur die steinzeitliche „Urgestalt aus der Zeit, wo sich gebundene Rede erst
Aber dieser hier immer wieder von Forschern herangezogene Text aus den Atharva-
Veden, so sehr seine Ähnlichkeit erst einmal in die Augen springt, bietet keine
stringente dynamisch-pathophysiologische Kettengliedkoppelung wie der Tegern-
seer, nirgends in den Veden kommt ein „Hinaus aus – hinein in“ vor.
Eine Differenzierung der Sprachgestaltung dieser Therapie ist nützlich. Neben der Beschrei-
bung einer Wanderbewegung eines Krankheitselementes von einem Gewebe in ein nächstes
Gewebe wie im Tegernseer Spruch, zeigen sich in den Texten frühzeitig und immer häufiger
einfache Auflistungen von Geweben oder Organen in anatomisch nicht mehr sinnvoller
Reihenfolge. Nur gelegentlich lehnen sie sich bei Tieren an einen Streichritus von Kopf bis
Schwanz an oder erinnern an das „de capite ad calcem“ der antiken medizinischen Litera-
tur.9 Davon unterscheiden die Texte und damit ihre Anwender weitgehend konsequent eine
andere Heilmethode, die bei Knochenbrüchen und Verrenkungen ein „Glied zu Glied“, also
eine Verbindung zerteilter Gewebe anstrebt, wie im Merseburger Pferdesegen.
Unschwer ist die lateinisch-antike Schablone dieser beiden Texte in der „Physica
Plinii“ (5./6. Jahrhundert) zu vermuten. So wurde die um magische Anweisungen
und Beschwörungen erweiterte Fassung der „Naturalis historia“ des Plinius12 (4.
Jahrhundert) benannt. Wir entnehmen ihr die Beschwörung des personalisierten
Nierenschmerzes:
Audi, dolor renium, Hör zu, Nieren-(Lenden-)schmerz
exi a medullis ad ossa verschwinde vom Mark in die Knochen
ab ossibus ad pulpam von den Knochen ins Muskelfleisch,
10 Clermont-Ferrand Bibl. Municip. 201, 9./10. Jahrhundert, veröffentl. Bischoff, B., in: Anec-
dota Nov., 1984, S. 261, dort eine weitere Formel dieser Art aus der Bibliothek in Verona,
9.Jahrh. erwähnt: „exi de osso in pulpa, de pulpa in pelle, de pelle in pilo, de pilo in terra.
Terra matre, suscipe ...“
11 St.Gallen Stiftsbibliothek Cod. 751, fol.452, veröffentl. Heim, Incantamenta, S. 564, vgl.
Önnerfors, Alf: Antike Zaubersprüche, Stuttgart 1991, S. 14; ders.: Physica Plinii quae fertur
Sangallensis, Lund 2006/07; freundl. Vermittlung und Information verdanke ich Herrn Dr.
Karl Schmuki.
12 Zur literarischen Entwicklung der Medicina Plinii siehe Keil, Gundolf, in: Enzyklopädie
Medizingeschichte (Hg. Gerabek, Werner, E. et al. Berlin et al., S. 902)
Über hundert Jahre nach der Erstbeschreibung unseres Tegernseer Spruches durch
Jacob Grimm mußte Gerhard Eis (1908-1982) darauf aufmerksam machen, daß
Krankheiten seit jeher nicht nur von „Zauberern“ behandelt wurden. Die Heran-
ziehung der Medizingeschichte, speziell der Wundchirurgie hatte man einfach ver-
gessen. In seiner Antrittsvorlesung 1955 in Heidelberg belegt Eis „tulli“ nach vie-
len Beispielen aus der alten Pferdeheilkunde und nach anatomischen Gegebenhei-
ten am Pferdehuf als äußersten Teil der Hornsohle.13 Damit war aufgezeigt, daß im
Rahmen der Behandlung mit diesem Beschwörungstext eine Grundregel jeder
chirurgischen Tätigkeit, das „Ubi pus, ibi evacua“, „Wo Eiter ist, dort entferne
ihn!“ vorausgesetzt wurde, zumindest werden konnte. Andere von innen nach au-
ßen wandernde pathophysiologische Gewebsreaktionen wie Nekrosen und Fremd-
körper schließen sich an.
Einer magisch anmutenden Heilmethode mit dem Versuch, etwa die zentrifu-
gale oberflächliche Abszedierung (Ansammlung) der Wundkomplikation als Verei-
terung suggestiv zu beschleunigen, indem ein zentraler Herd auf seinem Wege in
die Hornsohle verbal begleitet wurde, folgte also die chirurgische Technik. Schließ-
lich kann nicht ausgeschlossen werden, daß ein solcher, den natürlichen Heilungs-
prozess beschreibender Text, wenn man ihn nur seiner ersten Zeile beraubt, der
beschwörenden, den Wurm personalisierenden Option also, auch einmal als Lehr-
stück für Gesellen der Hippiatrie genutzt wurde. Ob also konservativ durch Appli-
kation von Heilerde, Honig oder Kräutern, wie in den o. g. alten Texten zu sehen,
oder nach hippokratischer Regel bei komplizierten Wunden durch Ausschälen oder
Ausbrennen – es konnte nun nach oder schon während der Besprechung der zweite
Schritt der kombinierten Therapie einsetzen. Beharrt man aber auf der Deutung
von „tulli“ als Rinne oder Röhre, dann ist die Vermutung einer Drainagetechnik
weniger spekulativ als die Pfeilhypothese. Bei Wolfram von Eschenbach klingt im
„Parzival“ der Einfluß einer über Salerno seit dem 9. Jahrhundert adaptierten Klo-
stermedizin an: Mit Gawans Rindenkanüle wird Hämatothorax behandelt. In der
Edda werden in eine infizierte Wunde Metallröhren eingelegt.14 „Die Diskussion
um Sinn und Unsinn einer Drainage ist nahezu so alt wie die Chirurgie. Bereits
Abb. 78 Therapie am Grab des hl. Gallus. Salbung einer Eiterwunde und einer Handgeschwulst
unter Verwendung von Staub am Grabe und Öl der Lampe, nachdem alle anderen Heilmittel
versagten.
Hippokrates u. a. kannten die Drainage und verwandten sie vornehmlich zur The-
rapie des Empyems.“15
Drainagebehandlung in Literatur und Sage: 1. Parzival des Wolfram von Eschenbach: Die
Quetschwunden des Parzival werden durch Gurnemanz gewaschen und verbunden und die
weitere Pflege den Jungfrauen anvertraut. Der Ritter Gawan tritt hier als besonders heilkun-
dig auf: Er erkennt an einem speerdurchbohrten Mann die innere Blutung und rettet ihn,
indem er das Blut, das angeblich aufs Herz drückt, durch ein rasch aus einem Lindenzweig
gebildetes Röhrchen von der helfenden Frau aus der Wunde saugen läßt; dann wird die
Wunde verbunden, das Sprechen der Segensformel aber nicht vergessen. „Gawan die wun-
den verbant/ mit der frouwen houbtgewant/ er sprach zer wunden wunden segn“. Die Wunde
wird danach mit Heilkräutern versorgt und nochmals verbunden. Danach Wunsch nach
Spitalverbringung. – 2. Noch eindeutiger eine Wunddrainage im Gudrunlied der Edda:
Wate von Irland, ein heiltüchtiger Recke weiß ein heilkräftiges Wundpflaster herzustellen,
hat es von einem „wilden Weib“ gelernt. Eine klaffende Wunde wird zunächst mit Lein-
wandstreifen ausgestopft, um die Blutung zu stillen. Zum Abfluß von Wundabsonderungen
werden Metallröhrchen eingelegt; hierüber kam ein fester Verband.
Die Germanistin Monika Schulz, die in den Heilformeln allgemein ein logisch-
magisches Ordnungsprinzip sieht, beschreibt den Spruch als „exorzistischen Impe-
rativ“ und neigt eher zur Pfeilhypothese mit der Begründung, bei Annahme einer
Vertreibung des Wurmes in den Hufstrahl „würde“ „der dämonische Wurm dem-
nach beim Auftreten des Pferdes im Huf zermalmt“. Schulz räumt zwar ein, daß
„die Deutung von Gerhard Eis […] einiges für sich hat“,16 verkennt aber, daß man
Pferde als unentbehrliche Reise- und Transportmittel auch zu allen Zeiten gewiß
nicht allein einem Beschwörer, Segensprecher oder Pferdeflüsterer überlassen hat.
Eher konnte ein Schreiber die vollständige Niederschrift des Gehörten, also die
praktische chirurgische Maßnahme, vergessen oder das Selbstverständliche unter-
lassen haben.
Nachfolger hat die Strategie dieser Wurmbeschwörung vorwiegend in Sprüchen
gegen die Schwinden gefunden, womit zumeist lokale oder generalisierende Atro-
phien, also Rückbildungsprozesse, gemeint sind. Ein Beispiel für späteren konse-
quenten Einsatz der Tegernseer zentrifugalen Vertreibungsmethode, die im Althoch-
deutschen außer im Wiener Text keine weiteren Parallelen hat, richtet sich zunächst
gegen das wilde Geschoß, einen als dämonisch vorgestellten akuten Schmerz, z. B.
eine Trigeminusneuralgie, eine akute Lumbago, einen „Hexenschuß“:
17
Wilde schoß, ich gebeut dir aus dem Markh in das Bain, […]
aus dem Bain in das Flaisch, aus dem Flaisch in das Bluot,
aus dem Bluot in die haut, aus der Haut in das Haar,
aus dem Haar in die Erden, neun Claffter tief !
Erst seit dem 18. Jahrhundert häufen sich solche Beschwörungen, isoliert oder in
größere Texte eingebaut:
18
Ich beschwerren Heüt alle die bössen brästen Von disem Viech
von dem Marg in das bein auss dem bein in das fleisch
auss dem fleisch in das blut auss dem blut in die hutt
aus der haut in die Haar auss dem harr auss dissem dach Vnd ge Mach (Sennhütte).
19
Schwindsucht, ich segne dich aus dem Mark wol in das Bein
Schwindsucht, ich segne dich aus dem Bein wol in das Fleisch
(u.s.w. aus Fleisch in das Blut, aus dem Blut in die Haut, in den wilden Wald)
Der Begriff „nesso“ und „nessia“ ist in manchen Beschwörungen zu finden und
bedeutet „vermis“, Wurm bzw. Würmer. In verschiedenen Symtomgestalten sowie
Organaufzählungen von Kopf bis Fuß, also anders als im Tegernseer, wird er dezi-
diert in einer Gruppe von Drei-Engel-Segen20 beschworen:
+ In nomine domini tres angeli ambulauerunt In Gottes Namen gingen drei Engel
super montem synay et obuiauerunt illis. über den Berg Sinai und trafen sie:
Nessia. nagido. crampho. tropho. Stechido. Die Würmer, Nage-, Krampf-, Tropf-,
paralisis. Gegihte. Quibus angeli dixerunt. Stech-, Lähm-, Gicht-Wurm. Wohin
vnde venitis [?] … imus ad famulum dei .N. wollt ihr? Wir gehen zum N., ihm
Caput eius conterere. collum. humeros. den Kopf erschüttern, den Hals, die
brachia. scapulas. dorsum. latera. ventrem Schultern, Arme, Rücken, Bauch […]
[…]
20 Zürich ZBibl. Rheinauer Codex 67, fol. 46, veröffentl. von Steinmeyer, Zeitschr.f.dt. Altert.
22(1878),246. – Vergleichbar und ebenfalls 13. Jahrh. die Segen aus Kloster Engelberg (neu:
Codex 33, Vorsatzblatt) und aus Basel (Pergamenthandschr. B v 21, Bl. 120b) sowie bereits
aus dem 10. Jahrhundert der Text aus Kloster Tegernsee (Clm 27152, Blatt 53rv – siehe Ka-
pitel 19)
21 Karlsruhe Bad. Landesbibl. Cod. 87 aus St. Blasien, veröffentl. Mone, Anzeiger 6 (1834)
S. 462, aus 1617?
22
Für den ausspeienden Wurm
alls wider sey das fleisch vnd das pain czu peissen,
als vnserm herren der man ist, der vrteil geit vnd selber wol ein pesrew wais
23
Wurm, du seiest weiss oder schwarz, rot oder blau, grün oder gelb,
grau oder griss, schlafend oder wachend, kreichend oder fliegend,
beraubt sei dir Haar und Haut, Fleisch und Bein, Mark und Blut,
so gewiss als der Mann nicht im Himmel kommen mag,
der in dem Rath sitzet, der das recht weiss und das Unrecht spricht
Von besonderem Reiz bis in die Neuzeit sind jene mindestens seit dem 17. Jahr-
hundert notierten Sprüche, die nun in weniger anankastischer, mehr perturbieren-
der Heilstrategie phantastische Kettenmärlein erzählen. Mittels ihrer rhetorisch
simplen Strategie der Gradatio (graduell abstufende Wiederholungsfiguren) sugge-
rieren sie eine einengende Assoziationsspirale. Es soll eine Parallele zum gedanklich
auf Wurmvernichtung konzentrierten Wirken hergestellt werden. Dabei droht
durch die sich hinziehende Erzählung ermüdende Langeweile, die schließlich von
einer bedeutenderen Information abgelöst wird. Damit wird therapeutisch wirk-
same Aufmerksamkeit erzielt wie mit einem Paukenschlag. Diese Texte haben sich
schon weit von unserem Tegernseer Wurmsegen entfernt, zeigen aber durch den
Ausspruch einer strikten Leitschiene für die Austreibung des Übels eine gewisse
Verwandtschaft an:
24
Auf den Kutten Berg stehet ein Born, in den Born da steht ein Stab,
in den Stab da liegt ein Wurm, liege stille, bis Maria einen (anderen) Sohn gebärt
25
Auf Gottes Berge liegt Gottes Acker, auf Gottes Acker liegt Gottes Garten, in Gottes
Garten steht Gottes Baum, auf Gottes Baum wächst Gottes Apfel, in Gottes Apfel
steckt der leidige Wurm. Der soll sterben
26
Wir haben einen Brunn im garthen. im brun steht ein stil, der hat einen ast.
darin steckt das nest, im Nest liegt der Wurm […] auf dem dritten Tag ist er tot.
22 Stift Schlägl Oberösterreich Albrant-Anhänge Cod. 194, 15.Jahrh., veröffentl. Eis, G., in:
Beiträge zur Geschichte der Veterinärmedizin 5 (1942), 27
23 Eberle, A.: Volkskundl. aus Flums, in: Schweizerisches Arch. für Volksk.34 (1936), S. 235f ,
beg. 20. Jh.
24 Segensammlung Hepding Univ.Bibliothek Gießen Nr.27, Handschr. Hausbuch sächsischer
Herkunft 17./18.Jahrh. im Besitz des Amtsrichters Walter von Hirschfeld zu Schneidmühl
bei Posen
25 Lauffer, Otto: Volkskundliche Erinnerungen aus Göttingen und dem oberen Leinetal, Göt-
tingen 1949, S. 133, 19. Jahrhundert
26 Staak, Gerhard: Die magische Krankheitsbehandlung in der Gegenwart in Mecklenburg,
Diss. 1930, Spruchtext Nr. 803
Als Zielpunkt des Therapieansatzes dürften innere oder subkutane lokale Störun-
gen vorzustellen sein, ob als komplizierte Wunde, als Schmerz, als eingedrungener
Fremdkörper oder als Funktionsstörung. Der Wurmbegriff erlaubt uns im Rück-
blick selten eine exakte Diagnose, bot aber vielleicht manchem Patienten im Falle
unbekannter Veränderungen eine vorläufige ersatzweise Ursachenbeschreibung.
Dieses konkrete Wort, das in den mutmaßlichen Nachkommen des Tegernseer
Spruches auch noch in Farben und Eigenschaften ausgemalt wurde, so nebelhaft es
uns heute vorkommt, konnte dem Arbeitsgedächtnis* zur Abrufung weiterer unbe-
wußt förderlicher konkreter Erinnerungen dienen, besonders weil die Vorstellung
einer Dynamik hinzutrat. Die schrittweise Entfernung von Bösartigem aus einem
Gewebe ist nicht besser zu beschreiben. Man stelle sich vor, daß der Kranke etwa
einen verwurmten Apfel assoziierte, den der Helfer bereinigte. Das war für die
Bedeutungskonzepte des limbischen Systems ähnlich attraktiv wie die Tomatenge-
schichten des Hypnotherapeuten als katathymes Bildprogramm für positives
Wachstum (vgl. Einleitung). – Andererseits ist die Benennung des Übels als Wurm
im Zusammenhang mit der Einordnung von Gefühlen ein Labeling emotions* und
kann im Bereich rechts frontoventraler Kerngebiete angstlösend wirken.
Das ungewöhnlich tragische Schicksal eines ehrbaren Mannes in einer dem Alten
Testament eingereihten Dichtung hat zu allen Zeiten die Gemüter bewegt. Hiob
im Lande Uz hatte 10 Kinder, hatte sehr viel Gesinde, hatte 7000 Schafe, 3000
Kamele, 500 Joch Rinder und 500 Eselstuten. Bis sich eines Tages aus heiterem
Himmel die Verlustmeldungen überschlagen; alles ist verloren, verbrannt und ge-
raubt; alle verlassen ihn in Verachtung und Hohn. Er gerät als Kranker mit Ge-
schwüren (nach den biblischen Texten medizinisch undefinierbar) auf den Asche-
haufen, wie seinerzeit bei „Aussatz“ üblich. Nichts bleibt ihm außer seiner Frau, die
ihm nach Einflüsterung des Satans einfach rät, seinem Gott abzusagen und zu ster-
ben (Tafel 9). Und es beginnt sein langes Ringen mit Gott, einem Gott, der zuvor
mit Satan über ihn verhandelt hat. Was Hiob nicht weiß: daß zwischen den beiden
vereinbart ist, ihn am Leben zu lassen.
Hiob ist nicht der fromme Dulder, wie oft angenommen wurde. Denn er for-
dert von Gott Gericht über sich; er beugt sich nicht altisraelischer und altorienta-
lischer Gesinnung über Krankheit als zu büßender Schuld, als unausweichlicher
Bestrafung oder als Jahwes Schicksalswürfel. Und so beginnt mit dem Buch Hiob
für die Theologie und für jede Theorie der Krankheitsentstehung ein neues Kapi-
tel. Krankheit wird auch Lebensprüfung, auch soziale Anfrage an die Umwelt,
auch Schlaglicht auf persönliches Innenleben, freilich erst in Ansätzen, bis dann
Christus als Arzt eine differenzierte Sicht auf Krankheitsursachen ermöglicht.
Hiob hält trotz aller Klage am Glauben fest, gerade weil er mit seinem Gott
streitet, er verharrt – ob er will oder nicht – in leidender Berührung mit seiner ei-
genen persönlichen Vorstellung des Höchsten. Als zugleich leidender und kämp-
fender Mensch des Alten Testaments steht er vielen Kranken so nahe, daß er fast
wie ein Heiliger zum Stellvertreter des Kranken in einer Fülle von Gebets- und
Segenstexten wird, bis in die Neuzeit. Zu Beginn des 16. Jahrhundert hatte es nach
Einbruch der Syphilis in Passau und Salzburg sogar offizielle kirchliche Formeln
gegeben, die ihn in eine Messe „de beato Iob contra morbum gallicum“, „zum seli-
Abb. 79 Der Hiobsegen zwischen einer Lehranleitung zum griechischen Alphabet und Sigillen
für Fieber und Blutstillung (Prüll/ Regensburg, 12. Jahrhundert)
der erste Ansatz eines deutschen Steinbuches.2 Ob erst wie urkundlich nachweisbar 1223
oder schon früher, Prüll wurde Doppelkloster und der Gedanke, daß hiermit auch weibli-
ches Pflegepersonal für das Hospiz herangezogen werden konnte, liegt nicht fern. Nach dem
Niedergang übernahmen Karthäuser 1484 das Kloster. 1852 wurde es in eine Nervenheil-
anstalt umgewandelt.3 Heute auf dem Gebiet der Regensburger Universität gelegen, ist das
Langhaus der 1110 geweihten Hallenkirche erhalten.4
Dieser Prüller Segenstyp ist noch bis ins 16. Jahrhundert zu verfolgen. Er findet
Legierungen und Zusätze und ist in ärztliche und veterinärärztliche Medizinbücher
aufgenommen. An einem Wurmsegen, eingefügt dem „Nürnberger Arzneibuch“,
eine der Überlieferungen des Thesaurus pauperum des Arztpapstes Petrus Hispa-
nus (Johannes XXI), läßt sich beispielhaft erkennen, daß nun im 15. Jahrhundert
um den Kern des Prüller Segens herum andere Textstücke gereiht sind, um die
Heilwirkung zu erhöhen. Man muß aber auch bedenken, daß der Prüller Text eine
Kurzfassung ist. Die Prüller Anteile in Fettdruck:
5
Daz man die wurem tottet ann dem menschen vnnd ann dem rose, so sprich diese wort:
„+Vlpium + pandax +alpandi + troysum + transitor + ayos + mirituß + crucifixus + jn
dem namen des vatters + vnnd des suns + vnnd des heiligenn geists + er ist tot,
paternoster. – Job + den auß der wurm, die weyl got wolt; da got nicht mer wollt, da
ward jm paß des sichtumß des selben tag; piß ich dir mit der selben puße vnd (168r) des
wurems. – Job lag auff der erde oder auff dem mist, er reyf zu dem hailigen Crist:
Da du in dem himel bist. Du erhortest Jobs gabet, das er mit anndacht zu dir tet do in
dem mist, zu dir Crist, vil tyff. Der wurem ist dot, paternoster, credo in deum. – Got
durch sein tat gebit dir hir, das du ligest tat, vnnd durch die marter, die er leit, da er
ann dem heiligenn creutz schreit, die wunden namenn im den leip, got gebiet dir,
wurem, das du sterbest ann dieser zeit. – Es pissen meinen hern sannd Job drey wurem:
Der ein waß weiß, der annder rot, der dryt swartz. Wurem, du solt ligenn tat durch
guten sannd Job ere, das du des (168v) menschen. N. fleisch noch bein einpeisset
nymmermer, amen.“
2 Schnell, Bernhard: Das „Prüller“ Kräuterbuch, in: Z. für dt.Altert. und dt. Lit. 120 (1991),
184–202
3 vgl. dazu im Kapitel 10 (St.Veit)
4 siehe auch: Schmid, Alois, in: 1000 Jahre Kultur in Karthaus-Prüll, Hg. Bezirk Oberpfalz,
1997, S. 11–19
5 Nürnberg Stadtbibliothek Cod.Amb.55, veröffentl. Telle, Joachim: Petrus Hispanus. S. 366,
Nr.542; ebenso Wiener Hs 2817, Bl.32c-33a; ohne die Anfangsteile CPG 169, fol.172
Den Eingang dieses Spruches bilden „Zauberworte“. Sie wirken überraschend und
befeuernd im limbischen System. Es folgen Bruchstücke aus dem Hiobbuch und
Fürbitten, zuletzt die Abzählung dreier Würmer mit ihren Farben, wie in anderen
Typen der Wurmsegen. Den alten Prüller Text beschließt eine rhetorisch wirkkräf-
tige Sprachfigur, eine Anadiplose und ein Chiasmus (überkreuz gestellte Wieder-
holungsfigur): Der Wurm ist tot – tot ist der Wurm.
In den Rossarzneibüchern6 bilden Hiobwurmsegen einen bedeutenden Anteil,
insbesondere jene mit den „Zauberwort“-Amuletten und den Eingängen: Der Wür-
mer waren drei, die Sankt Job bissen mit ihren Farben, und Der gute Herr Sankt Job
lag auf dem Mist und bat den heiligen Christ, der aller Welte Herre ist, wobei dem Tier
meist auch Worte ins Ohr zu flüstern oder zu blasen, auf Blei zu schreiben und auf
die Stirn zu binden waren.
Gleiches Alter wie der Prüller Wurmsegen, aber einen anderen Akzent bietet ein
Text der Grazer Bibliothek aus dem Augustinerchorherrenstift Seckau in der Stei-
ermark. Er unterscheidet verschiedene Wurmarten und will damit den Anschein
differenzierender und sammelnder Symtombeherrschung erwecken:
7
Der herre iob lach inmiste. rief Der Herr Job lag im Mist, rief auf
uf. ze xpe. mit eiter bewollen di maden zu Christ. Mit Eiter befleckt, die Maden
im uz uielen. des buozte im der hailige fielen ihm aus. Das heilte ihm der hei-
crist. also si. N. des manewurmes, des lige Christ. So auch geschehe dem N.
harwurmes. des magewurmes. des per- vom Mähnen-, Haar- und Magenwurm,
zeles vnde aller der slahte wurme die vom Perzelwurm und allen plagenden
niezende sin oder verzerende sin […] Würmern, die fressen und zehren […]
Die Popularität und Wirkungskraft Hiobs war enorm. Es gibt Berichte, daß ein
ungebildeter Bauer das Hiobbuch auswendig Wort für Wort aufsagen konnte. Und
so nimmt es nicht wunder, daß der alttestamentliche „Heilige“ ebenso wie Abra-
ham, Isaak und Jakob, Loth und Daniel schon früh immer wieder in Gebete und
Segen für weitere allgemeine Zwecke aufgenommen war. Der Errettung Hiobs aus
körperlicher und seelischer Apathie wird in einem Text des 9. Jahrhunderts aus
Noyon, dem römischen Noviomagus in der Picardie, als Schutz vor Reisegefahren
gedacht. Offenbar sind hier neben Wildtier- und Feuerüberfällen auch Erschöp-
fung und Hinfälligkeit angesprochen:
8
Qui consiliis eruit felicibus Loth Wie er durch glückliche Ratschläge Lot
de flammis Daniel de leonibus aus Flammen und Daniel von Löwen erlöste,
Qui salvavit Job de langoribus, wie er den Hiob aus langem Leiden rettete,
6 vgl. bes. Eis, Gerhard: Meister Albrants Roßarzneibuch im deutschen Osten, Reichenberg
1939, S. 95–101
7 Graz Universitätsbiblioth., Hs.1501, f. 132v-133r, veröff. Schönbach, Z.f.dt. Altertum 21
(1877), S. 413
8 Paris Bibl.Nationale, Cod.lat.1153, veröffentl. Bischoff, B. (Hg.) Anecdota nov., 1984,
S. 154ff
pueros tres de ignis ardoribus, die drei Knaben aus dem Feuerofen,
Ut sicut cum his erat omnibus, und wie er mit ihnen so zu allen war,
sic et nobis Deus sit propitius. so möge Gott auch uns gnädig sein.
Abb. 80 Hiob im Mist liegend, oben Jahwe- Gottvater und Engel. Vor seinen Freunden (links)
und seinem Weibe (rechts) wird Hiob vom Teufel mit weitgespannten Armen gequält, „von der
Fußsohle bis zum Scheitel“. (Chartres Nordportal, 12. Jahrhundert)
9 vgl. Eis, G. Mittlg. aus altdeutschen Handschr. aus den Sudetengebieten. In: Stifter-Jahrbuch
1964, S. 173
Kranken: Wie beißen mich die Würmer so übel? – Es lag Sant Job ann einem Stein,
und aßen ihm die Würmer sein Gebein – Christ hat mich vergessen, mich wollen die
Würmer essen! – So und ähnlich lauten Hunderte von Heilsegen in ganz Europa.
Und meistens wie im Heidelberger Codex 255 des 16. Jahrhunderts folgt im Dia-
log der vielen Begegnungssegen Gottes tröstend-heilende Antwort: Stant vff, Job!
vnd gehe heim. Sie dir ersterben, eche das sunnen schein vnd mon schein vff erden. Sie
seint weis oder gel oder rot, sie ligent alsament dot.
Diese dem Segen immanente optimistische Heilungsaussicht – ausdrücklich
wird sein Leiden sogleich als vorübergehend bezeichnet – findet sich im 10. Jahr-
hundert im Trierer Wurmsegen gegen den Talpa, einem Maulwurf als Krankheits-
erreger, vorgezeichnet. Nach Verordnung eines umständlichen Ritus wird eingangs
mit dämonisch klingenden Namen operiert:
10
Piupi und Uripi, es ist zwecklos, daß ihr euch heranschleicht.
Der heilige Hiob wurde von den Würmern nur vorübergehend befallen.
Daher möge auch jener Mensch und jenes Pferd, es sei weiß oder schwarz,
die Würmer nicht behalten. So will es der Herr, die heilige Maria und der gute Hiob.
Aus seinem Typ mit der changierenden Eingangsgestalt (Christus oder Hiob?),
dem getragenen Stab oder der Rute in der Hand, dem Dialog zwischen Gott und
Hiob, wie er als ziemlich stabiles Motiv aus den alten Petrussegen12 hinzutrat, ist
10 Trier Stadtbibliothek, Hs 40/1018 8°, fol.41v-43r Übertragung aus dem Lateinischen durch
Embach, Michael, in: Kurtrierisches Jahrbuch 44 (2004), 49f
11 Innsbruck Univers.-und Landesbiblioth. Tirol, Hs. 652 fol. 77v/78r aus Kloster Stams, ver-
öffentl. durch Mone, Anz.7,609; Zingerle, Germania 12,466; Wilhelm, Denkmäler,41
12 vgl das Kapitel 32
In der Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich ein letzter Zweig praktischer Verwen-
dung für Volksheilkundige erhalten, der weitgehend bei Mundinfektionen der Kin-
der angewandt wurde. Beispiele aus der Oberpfalz zeigen deutlich, daß der ehema-
lige Hiobwurmsegen nun für Mundfäule (opf. Mundfal), also Bräune, Mehltau
und beim Vieh Geifern (opf. Gurfel) in rudimentärer Form und mit stärkerer Ri-
tusbetonumg immer noch volkstümlich blieb:
14
Die Mundfäule ist ärger als der Mehlthau. Kinder zwischen 10
und 12 Jahren bekommen sie. Mittel dagegen ist: Man nimmt drey
Strohhalme aus einem Misthaufen, wie sie vor den Häusern auf
dem Lande liegen und spricht dazu:
Sitzt der hl. Job auf dem Mist
und fragt, warum du so traurig bist.
Diese drei Strohhalme zieht man kreuzweise durch den kranken
Mund, indem man dazu betet:
Helf dir Gott Vater, Sohn und hl. Geist.
Und legt dann die Halme wieder an ihren vorigen Ort.
Ebenso hilft das Messer des Abdeckers.
15
Wehes Maulerl des Kindes, Einfallen von Löchern darin.
Man spricht:
Job begegnete Gott dem Herrn,
sagt Gott der Herr:
Job, warum trauerst du so sehr?
O Herr warum soll ich nicht trauern
mir will mein Mund und Schlund abfaulen.
Dann haucht man 3 mal in den Mund und spricht:
geh hin in jenem Thal
dort fließt ein Fluß oder Brunn
der heilet dir den Mund und Schlund.
So helf etc. 5 VU und 5 AM.
Die Heilanweisung, den Mund mit Wasser zu spülen, ist diesem Spruchtyp erst seit
dem 15. Jahrhundert beigegeben, die Anwendung von Misthalmen seit dem 19.
Jahrhundert.16
Belege für diese Strohhalm- oder Ähren-Manipulation häufen sich in landwirt-
schaftlich geprägten Gebieten. Die Handlungsanweisungen solcher Texte verlan-
gen ausführliche magische Prozeduren. Der Fronauer Heilspruch ist rudimentär.
Hinsichtlich des Spruchtextes besser erhalten und mit eben dieser Ritusanweisung
ausgestattet ist eine Formel aus Furth im Wald. Der Strohhalmgebrauch ist als
Christi Heilanweisung „eingebaut“:
17
Mundfäule bei Kindern
Sitzt der hl. Job auf dem Mist, kommt zu ihm der Herr
Jesu Christ. Sagt zu ihm Herr Jesu Christ, warum er so
traurig ist. Ach, warum sollt’ ich nicht traurig sein?
Geht doch mein ganzer Mund in Faul.
Sagt zu ihm Herr Jesu Christ:
Nimm drei Strohhalm aus dem Mist
und zieh sie durch dein Maul.
Eine ganz ähnliche, schon weit abgeschliffene Kurzformel, die den Hiob nicht
mehr kennt, wurde noch 1966 im Bayrischen Wald beim „Ansprechen“ verwendet:
18
Mistfäule bitte hilf mir gegen die Mundfäule.
3 Kreuzzeichen über den Mund mit einem Strohhalm aus dem
Misthaufen. 7 Vaterunser.
Die raffinierteste Technik wird aus Schwaben berichtet. Man mußte ein oder drei
Strohhalme mit dem Munde aus dem Misthaufen und dann dem Kind durch den
Mund ziehen und sprechen:
19
Mundfäule, Urfäule, geh aus meines Kinds Mäule,
geh aus meines Kinds Rachen, geh in eine Mistlachen.
Das Bild des am Mist dahinsiechenden Hiob war zweifellos ein starker Magnet
derartiger Strohhalmriten, deren Tragfähigkeit wider alle Hygiene bis ins 20. Jahr-
hundert reicht. Die Fruchtbarkeit des Düngers, dessen erste Fuhre im Frühjahr mit
Weihwasser besprengt wurde, gab diesen Prozeduren wichtige suggestive Wirk-
komponenten. Zudem liegt eine Analogievorstellung zugrunde, die im „Similia
similibus“ Fäule des Mundes mit Fäule des Mistes therapiert. Schließlich galt sogar
Gestank seit Alters als Mittel der Unheil- und Dämonenvertreibung. Meist ergeht
die Vorschrift, den Spruch direkt auf dem Misthaufen stehend zu sprechen und so
bleibt bei aller Verwitterung der Texte und Variabilität der Bräuche dieser Heil-
spruch bis zuletzt mit Hiobs Schicksalsort als sozial Ausgegrenztem eng und sinn-
fällig verbunden.
Die Anwendung der älteren Hiobsformeln erfolgte wohl meist im Rahmen empiri-
scher Behandlung als begleitende Entspannungsmaßnahme. Die Gestalt des von
Geschichten umwundenen Siechen, der in Himmel und Hölle wichtig wird, um
den Gott und Teufel verhandeln, der in den Mittelpunkt des Weltgeschehens ge-
rückt ist, konnte mühelos zu einer hoffnungsvollen Identitätsfigur werden. Wußte
man doch um ihr glückliches Ende. Die kurze Geschichte war schon spannend
genug, um im limbischen System Interesse zu finden; Amygdala* und Hippocam-
pus* erkennen die Bedeutung eines „Hiob“-Signals. Unser emotional aktives Ge-
dächtnis vermag die kurzschlüssige, aber aufbauende Segensgeschichte unter Um-
ständen auszumalen, durch eigene Erfahrungen zu ergänzen und zu aktualisieren.
Sie wird lebendig, bewirkt Bildung von Botenstoffen und trägt im Falle von Stress-
belastung, Angst und Unruhe zur Wiedergewinnung von Balance bei. Im Falle von
Organerkrankungen oder relevanten seelischen Leiden waren nachhaltige Wirkun-
gen nicht zu erwarten.
A) Die Petrus-Zahnweh-Beschwörung
1 Gerabek, Werner E.: Der Zahnwurm – Geschichte eines volksmedizinischen Glaubens, in:
Zahnärztliche Praxis 44 (1993), S. 162–165, 210–213,258–261, hier: S. 163
2 London British Library Harley MS. 585, fol.183r, veröffentl. Cockayne, O.(Hg.): Leech-
doms, wortcunning, and starcraft of Early England, Band III, S. 64, London 1866, zit. nach
Brie, Maria, Mitteilungen Schles. Gesellsch. für Volkskunde 8 (1906), S. 25 und ergänzt
nach Schulz, Monika: Beschwörungen im Mittelalter, Heidelberg 2003, S. 54
migranea vel gutta maligna, per migranea oder böser gutta, durch
Patrem et filium et spiritum sanctum Vater und Sohn und hl. Geist.
et per coelum et terram Und durch Himmel und Erde,
ut non possit diabolus nocere ei daß ihm Satan nicht schaden kann,
nec dentes nec in aures nec in palato weder an Zähnen, noch Ohren und
[…] Gaumen […]
Die weiteren Formeln verkehren nur die Sitzordnung; nun sitzt Petrus auf dem
Stein, und nur gelegentlich werden Personen getauscht, statt Petrus die Gottesmut-
ter, in französischen und niederländischen Texten später Apollonia. Auch wechseln
die Schmerzgesten und -haltungen des Patienten Petrus. Man hat vermutet, daß
die Stein- oder Felslokalisation mit Matthaeus 16,18 zusammenhängt, also mit
dem Vorsatz des Gottessohnes, seine Kirche auf Petrus dem Fels zu gründen. Eine
andere Ursprungsvermutung ist historisch orientiert: Jerusalempilgern sei einst ein
großer Stein hinter der Stadtmauer unweit der Kidronbrücke gezeigt worden, dort
wo Petrus saß und die Verleugnung Jesu während der Passion bitter beweinte.3 Die
Evangelien sagen uns nur, daß Petrus nach dem Krähen des Hahnes hinausging
und bitter weinte, nicht wohin er ging (Matth 26,74, Luc 22,60). Die Legenda
aurea weiß von drei Tage lang währender Beweinung, gibt allerdings als Ort eine
Grotte Gallicantus4 an.
5
Der zen segen. Sanctus Petrus Der Zahnsegen. Sankt Petrus saß auf
cum sederet super petram marmoream einem marmornen Stein und hob seine
misit manum ad caput, dolore dentium Hand an die Wange. Er war vom Zahn-
fatigatus tristabatur. apparuit autem ei Jesus schmerz erschöpft und bedrückt. Da
qui ait: „quare tristaris, Petre?“ „Domine, erschien ihm Jesus: « Petrus, was be-
venit vermis emigraneus et devorat dentes drückt dich ? » „Herr, der Hemikranie-
meos.“ Jesus autem ait: „adjuro te, emigra- wurm frißt meine Zähne“. Jesus sprach
nee, per patrem et filium et spiritum sanc- „Ich beschwöre dich bei Vater, Sohn und
tum […] heiligem Geist […]
Eine römische Handschrift des 14. Jahrhunderts verändert die Szene in eine Unter-
weisung Jesu an seine Jünger, die alle versammelt sind; nur Petrus sitzt auf dem
Marmorstein und fordert mit seiner Wehmut die Anfrage Jesu heraus, während ein
weiterer Wiener Text die Jünger als Gemeinschaft nach dem Vorgehen Jesu fragen
läßt; diese Version ist seltener, aber sie weist uns noch direkter auf die Wurmvor-
stellung bei der Zahnschmerzentstehung hin:
3 Jacoby, Adolf: Segenssprüche und Zauberformeln aus Luxemburg, Ons Hemecht 24, S. 30
4 Jacobus de Voragine*: Legenda aurea, Übersetzung Richard Benz, Gütersloh 1999, S. 215,328
5 Wien ÖNB HS 2817, fol. 28r (14. Jahrhundert), veröffentl. Schönbach, Anton, Zeitschr. für
deutsches Altertum 27 (1883), S. 308
6
Iesus docebat discipulos suos Jesus lehrte seine Jünger
et ibi sedeba(n)t […], et Petrus, und da saßen […] und Petrus,
qui sedebat super petram marmoream, der saß auf einem Marmorstein,
tenebat manum suam a caput suum hielt die Hand an seinen Kopf
e cepit contristari. Dissit Iesus : und trauerte. Sagt Jesus:
Petre, quare tristis es ? Warum bist du traurig, Petrus?
7
Christus in petra sedebat et virgam in Christus saß am Stein und hielt eine Rute
manu tenebat et vermibus contradicebat. in der Hand und beschwor Würmer.
Discipuli veniebant qui ad eum dicebant: Jünger kamen und fragten:
domine, quid facis hic? Herr, was machst du hier ?
qui respondit: vermibus contradico; Er antwortete : Ich beschwöre Würmer :
si sint vivi moriantur, Wenn sie leben, müssen sie sterben,
si mortui sunt exeant foras. wenn sie gestorben sind, müssen sie heraus.
Das Typische der meisten dieser Texte ist die Befindensfrage an den Patienten bei
einer Begegnung zwischen Heilerperson und Krankem. Diese Frage nach dem
Grund einer Verstimmung als Eröffnungsformel erinnert an die psychiatrische
Anamnese, bei der Bemühung um Diagnose und Therapie zusammenfließen. Als
Zeichen des Eingehens auf die Nöte des Leidenden wird sie als Kern dieses Typs bis
in die Neuzeit Bestand haben. Die Befindensfrage dürfte Vorbild auch für den
Dialog in den verwandten späteren Hiobsegen gewesen sein, in denen allerdings
mehr der Hilferuf als die Trauergestik an erster Stelle steht. Die Befindensfrage als
persönliche Annäherung an den Kranken, als individuelle Annahme seiner Klagen
mag vielleicht auch den Boden für praktische Kuranweisungen zur Zahnpflege ge-
geben haben. Außerdem bot sich aus diesem einzigartigen Einbau von Indiskre-
tion, Distanzminderung und Individualisierung in die übergeordnete eigentlich
unpersönliche Beschwörungsformel die Möglichkeit von Parodisierung, wie sie
rein theoretisch gesehen einer modernen Psychotherapieform nahesteht. Darauf ist
noch zurückzukommen.
6 zit. nach Köhler, Reinhold, Germania 13 (1868), S. 178 (aus der Biblioteca Corsiniana,
Rom)
7 Wien ÖNB HS 2817, fol. 30c, veröffentl. Schönbach (wie oben), S. 309
8 Wolfsthurn Bibliothek v. Sternbach, Hausmittelbuch, veröffentl. Zingerle, Z.des V. f. Volksk.
1 (1891), 175
Mindestens seit dem 14. Jahrhundert verzeichnen wir neben den Sprüchen des
genannten Typs mit ihrer Erzählung auch Wort- und Buchstabensplitter als Amu-
lettapplikationen in den Medizinbüchern. Gerade für die Zahnindikation ist das
besonders häufig. Schon Marcellus* von Bordeaux hatte im 5. Jahrhundert neben
einer Unmenge von mehr oder weniger nützlichen, zumeist pflanzlichen Mitteln
ein ARGIDAM MARGIDAM STURGIDAM9 bei zunehmendem Mond am Tag
des Mars oder Jupiter siebenmal zu sprechen empfohlen. Er notiert auch die Über-
tragungsmagie an einen Frosch, dem man in sein Maul zu spucken hat und an eine
Schwalbe, der man nach Bereiben der Zähne mit dem unzüchtigen Mittelfinger
nachruft: Schwalbe, ich sage dir: wie dies nicht zum zweitenmal in meinem Mund sein
wird, so sollen mir das ganze Jahr die Zähne nicht schmerzen!10
Das Bremer Arzneibuch des Arztes Arnoldus Doneldey (1313–1398) emp-
fiehlt, bestimmte Worte auf Jungfernpergament oder direkt auf die Wange zu
schreiben. Dem niederdeutschen „Buten“ entspricht in den oberdeutschen Medi-
zinbüchern das „Büezen“ und „Büßen“, also das „Heilen“:
11
To den tenensere. Scrif desse namen Für den Zahnschmerz. Schreib diese Namen
in ungheboren permet auf Jungfernpergament
.#. allubia .#. transeon .#. trayson .#. leroboneon .#. astroya .#.
Wultu der tenen sweren schire buten, Willst du den Zahnschmerz heilen, so schreibe
so scrif eme in de wanghen desse wort ihm diese Worte mit Tinte auf die Wange:
myt dinten: Rex pax vax in Christo filio,
9 vgl. dazu Meid, Wolfgang: Heilpflanzen und Heilsprüche. Zeugnisse gallischer Sprache bei
Marcellus von Bordeaux. Innsbruck 1996, S. 56.
10 Marcellus: Über Heilmittel, Hg.: Niedermann, Max, Berlin 1968, SS. 219,223
11 Hannover Staatsarchiv Ms AA 16, Pergament 1382 (verbrannt), veröff. Windler, Ernst: Das
Bremer mittelniederdeutsche Arzneibuch des Arnoldus Doneldey, Münster 1932, SS. 4, 9
12 Kobusch, Helmut: Der Zahnwurmglaube in der deutschen Volksmedizin, Diss. Frankfurt/M.,
1955, S. 31f
13
+ Un, den.dan.ne. nos. has. breunam(?) sunt. salus et detonsio(?)
pan. pan. nas. in perenilla +
+ vbo ..+ ..... + ..... +
Aenosque ..... + istos caracteres ligatos ad locum doloris tenebris (etwa : Diese
Buchstaben sind an verborgene Schmerzstelle zu binden)
Diese sinnentleerten Elemente deuten einerseits auf die Tendenz der Heiler zu zau-
berhaft-geheimnisvollem Worteinsatz zur Performation bei Schmerzgeplagten. An-
dererseits spüren wir die Angreifbarkeit solcher Textsplitter und Wortsalate für die
Aufklärer. Wichen sie doch von den christlichen oder wenigstens christlich um-
mäntelten Sprüchen weit ab. Darüber hinaus werden seit dem 15. Jahrhundert
immer mehr effekthaschende Mittel für Zahnkranke bekannt. Der Stand der
Zahnärzte hat sich sehr spät gebildet; erst im 18. Jahrhundert „verschob sich der
Schauplatz zahnärztlichen Handelns vom Marktplatz in das Zimmer.“14 Zahnbre-
cher zogen als Marktschreier noch lange durch die Lande und boten Aufsehen er-
regende Amulette, Büschel und Tincturen an. Turbulente Szenen schildert eine
hessische Chronik von 1595 aus Kassel über Störger (= Scharlatane), wo der The-
riakskrämer Georg von Harz plötzlich einen Konkurrenten bemerkt, der seine
Ware ekelerregend, lautstark und eben werbeattraktiv feilbietet. Er hat Schlangen
und Kröten angebissen und gefressen und danach seinen bewährten Wunderthe-
riak als Gegenmittel gepriesen. Dagegen kann sich Georg nur noch erfolgreich
wehren, indem er den Gaffern reimend eine wilde Frau vorgaukelt: Schau, Bauer,
schau! Hier ist eine wilde Frau! Schau und lauf, hier findest du den besten Kauf: Dill,
Petersill, Wurmsamen, in Gottes Namen! Heran, heran, wer hat einen bösen Zahn.
Hier ist der Mann, der ihn ohne Schmerzen langen kann!15 In solchem Milieu konn-
ten sich Helfer für Zahnkranke bestens tummeln.
Zusammen mit Zauberworten kommt auch eine „magische“ Zeremonie in Ge-
brauch, die „durch Gottes Willen“ den Hufnagel und den Hammer eines Schmie-
des scheinbar gegen den bösen personalisierten Zahnwurm einsetzen. So in der
Grazer Handschrift des „Matheus“ von 1587:
16
Ain Bewärte Kunst fier den Zanntwee
So Gee die person zu Ainem schmidt, vnd pit im durch gottes willen vmb 3
Hueff Nagl. Darnach stel (stelle) die person an ain thüre da man aus vnnd ein
geet, darnach so schreib die wort auff ain Zetl
13 Mannhardt, W., in: Zeitschr. für deutsche Mythologie und Sittenkunde 4 (1855), S. 417f,
aus dem Cod. Jen. des Necrologium Altahense, fol.155, 13. Jahrhundert
14 Keil, Gundolf und Werner E. Gerabek: Ein zäher Kampf der Zahnärzte (Kulturgeschichte
der Zahnheilkunde), in: Zahnärztliche Mitteilungen 79 (1989), S. 1872–1876, S. 2064–
2069,2194–2197, hier: 2067
15 Nodnagel, August: Hessische Sagen. In: Z. für deutsche Mythologie und Sittenk. 1 (1853)
30–36, hier: S. 35
16 Graz Steiermärkisches Landesarchiv, Hs. Nr 476 Arznei- und Alchemiebuch des Matheus S.,
fol.38
Aber es ist nicht mehr eindeutig der Wurm, der genagelt werden soll. Das Vorgehen
wird zwielichtig. Es geht auch den Leidenden selbst an, indem er fast „ob dem
Khopff“ mit einem Hammer bedroht wird und mit System einer drängenden Be-
fragung unterstellt ist, der unausgesprochenen Frage nämlich nach seinem wirkli-
chen Leidensdruck. Denn auch Zahnschmerzen können psychogen oder teilpsy-
chogen sein. Eine Handschrift des 15. Jahrhunderts erwägt und beschwört messer-
scharf die Glaubwürdigkeit der Klage:
17
Item nym ain tennyn holtz und mache Nimm ein Tannenholz und mache ein
ain prettlin, schreib dorauf also: Brettlein und schreibe darauf:
+ Mechmet + hilff im + nach seinem willen. +
dornach sprich zu dem kranken: Danach sprich zu dem Kranken:
Ich main du hetst und sehest ytzo nichts Ich meine, du hättest und sehest nichts
liebers dann das dir paß an zenen were. lieber, als daß dir an den Zähnen gehol-
Spricht der mit warhait ja, so thue drey fen sei. Spricht er glaubaft „Ja“, so
straich auf ain messer, das setze mit der ritze drei Striche auf ein Messer und
schneiden auff die obgemelte geschrift setze es mit der Schneide auf die
und sprich: im namen got des v. etc. Schrift und sprich Im Namen Gottes etc.
und verprenn das pretlin. und verbrenne das Brettlein.
All diese willkürlichen Textgestaltungen finden Kritik von kirchlicher Seite. Sie
werden als Verstöße gegen das erste Gebot verstanden, weil sie etwas hinzufügen,
was nicht dazu gehört. So wendet sich der Theologe und Klosterreformer Nikolaus
von Dinkelsbühl gegen die Hufnagelzeremonie als Täuschung und eitles Dazu-
tun.18
Und noch weitere „eitle Zutaten“ zum Besegnen fallen auf, nämlich der Ver-
such einer Zahnpflege, die zu jenen Zeiten sehr vernachlässigt wurde. Man be-
denke eine Anleitung zur Zahnpflege des 14. Jahrhunderts,19 die ein Zahnpulver
aus gebranntem Marmor, Dattelkernen, weißem Glas, roten Ziegeln und Bimstein,
also lauter zeichenhaften Substanzen empfiehlt, die mittels Leintuch auf die Zähne
zu reiben waren. Das entsprach schon der alchemistischen Signaturenlehre, die aus
17 Innsbruck Ferdinandeum, Pap.Hs IX. C. 14 ½, veröffentl. Mone, Anzeiger für die Kunde des
deutschen Mittelalters 7 (1838), S. 420
18 vgl. Harmening, Dieter: Glaubenslehre-Aberglauben-Ketzerei. Formen der Religionskritik.
In: Harmening, /Wimmer (Hg): Volkskultur – Geschichte -Region (FS W.Brückner) Würz-
burg 1990, S. 319
19 München BSB Clm 444, fol. 208r-210r, veröffentl Schultz, Alwin, in: Z.f.D.A. 24 (1877),
S. 189
Bis in die Neuzeit hat dieser Quellengang Bestand und wird oft gründlicher be-
schrieben und an bestimmte lokale Quellen gebunden wie zum Beispiel an die
Alandsquelle bei Würzburg.22
Zuletzt finden die Petrus-am Stein-Texte immer weniger Akzeptanz. Beispiels-
weise wird über eine fehlgeschlagene Behandlung zu Beginn des 20. Jahrhunderts
ganz nüchtern berichtet, wie der 70-jährige Landwirt Josef Wasserheß sich einer
Segensprecherin anvertraut: „Dann sagt sie ‚Petrus sprach zu Jesus, meine Zähne fan-
gen an zu faulen‘, dann sollte ich das Wasser in den Bach speien; ich mußte mir aber
das Lachen verbeißen, habe das Wasser geschluckt und bin Laufen gegangen – zum Dr.
K. nach Beuel.“23
Kommentarlos reiht der Oberpfälzer Schönwerth in der Mitte des 19. Jahrhun-
derts den folgenden Schwank in seine Sammlungen unter „Zahnweh“ ein:
24
Einem thaten die Zähne weh. Da sagte der Andere: Weißt was, steig auf den Baum hinauf
und sprich dann: Daud man Zon wai, daud ma nimma wai. ( Es tut mein Zahn weh; es tut
mein Zahn nicht mehr weh) So stieg der Kranke zu oberst hinauf und sagte dem Zweyten
den Spruch herunter. Der aber entgegnete: Non, wenn a da nimma wai daud, sua steig ner
wida – r oba, sua brauchst mi nimma ! (Also wenn er dir nicht mehr weh tut, so steig nur
wieder herunter, so brauchst mich nicht mehr) Und ging damit fort.
20 Graz Steiermärkisches Landesarchiv, Hs. Nr 476 von 1587, Arznei- und Alchemiebuch des
Matheus S., fol.180v, der Text siehe Kapitel 08
21 Roth, F.W.E., in: Zeitschr. für Kulturgeschichte N.F. 2 (1895), S. 183–191, hier: S. 190
22 Schöppner, Alexander: Sagenbuch der bayerischen Lande, München 1852–66 III, 57
23 Dittmaier, Heinrich: Sagen, Märchen und Schwänke von der unteren Sieg, Bonn 1950, S. 69
24 Schönwerth, Franz Xaver v.: Aus der Oberpfalz. Bd.III, S. 245 (Neuausgabe Pressath 2010
S. 460)
In diesem Dialog wird dem Leidenden ein Baumaufstieg und eine selbst zu spre-
chende Formel empfohlen. Der Leser könnte Spott über jemanden empfinden, der
ebenso schmerzgeplagt wie naiv wirkt. Die Funktion dieses Schwankes ist Verun-
glimpfung des alten Zauberglaubens und seiner Formeln. Die Siege der Aufgeklär-
ten über die Ahnungslosen, die Triumphe der Gebildeten über die Unerfahrenen
gehören zu den wichtigsten Attraktiva des Schwankes in verschiedensten Berei-
chen.25 Der Volksmund hat sich gerade bei diesem Thema gerne der Parodie und
des Spottes bedient, eindeutig im Rahmen der frechen Amulettzettel, die kluge
Leute mit geheimnisvollen Sprüchen beschrieben, deren Eröffnung ausdrücklich
verboten wurde. Bei Nichtbefolgung stieß man auf bittere Bosheiten wie: Der Teu-
fel reisse dir die Augen aus und fülle die Lücken mit Koth! 26
Diese Parodien der letzten Zeit auf den „Zauberspruch“ im allgemeinen und
speziell auf Zahnwehformeln kündigen sich schon lange an. Die spottreichen Be-
richte entstammen nicht einer allerletzten Aufklärungswelle. Schon in seinem 1646
veröffentlichten Werk hat Gwerb27 eine ähnliche Version, bei der am Schluß nicht
erkennbar wird, ob der Inhalt des Zettels entdeckt wurde, mit der Bemerkung ver-
sehen, das alles hat diser edel Zädel vermögen / oder vil mehr der Teüfel durch densel-
ben. Und Christian Lehmann28 aus dem Erzgebirge bezichtigt 1699 einen Apothe-
kergesellen, der die Methode der Altweiber-Philosophie entnommen haben soll,
der Gaukelei: Er schrieb einige Buchstaben auf einen alten Lappen / hielt dann einen
alten Huffnagel auff den alten Buchstaben / schlug mit einem Hammer drauf / und
fragte den Patienten: ‚Thut dir der Zahn noch wehe?‘ und hatte aus der Erfahrung /
daß sich der Schmertzen in puncto gelegt.
Die Deutung als Parodie gereicht allerdings nicht zum vollen Verständnis. Der
reale, ein Zwielicht schaffende Hintergrund dieser Schwänke liegt in der vieldeuti-
gen Subjektivität des Schmerzempfindens und der Schmerzäußerung. Schmerzen
sind nicht messbar und eine Diagnose ist nicht gestellt. Man hat demnach ver-
gleichbare Kurzformeln durchaus als ernst zu nehmende Beschwörungen auffassen
müssen, wie die Zahnschmerztherapie des auf 1851 datierten Ulmer „Albertus
Magnus“-Zauberbuchs:
29
Zahnschmerzen. Man fragt den Leidenden mit sanfter Stimme: „Haben Sie
Zahnschmerzen?“ Wenn nun, wie natürlich, derselbe dies bejaht, so spricht man mit
barscher, kräftiger Stimme: „Das ist nicht wahr, es ist dennoch nicht wahr!“
Und siehe da, verschwunden ist der Schmerz.
Den Formeln ist eine recht direkte zupackende Methode zueigen, die nicht mehr
primär einen Krankheitsdämon beschwört. Auch diesen ward ja oft erst freundli-
che Begrüßung zuteil, strategisch bedachte Überrumpelung, bevor man ihnen Be-
fehle erteilte.31 Hier nun wird der Kranke zunächst mild vertrauensvoll mit einem
„weißt was“ und „mit sanfter Stimme“ angesprochen, es wird ihm ein guter Rat ge-
geben und ein intensiver Blickkontakt hergestellt,32
Noch ein gwiß mitel, Zanwehe alsbald zuo stellen
wan ein mentsch das Zahnwehe hatt, so sag ihm, ehr soll dich
starck in den angsicht ansechen, vnd sag heimlich still
vnd lug dise person auch eigentlich an, sag: Nicodemo ...
so hörth das Zanwehe alsobald; ich habs an 3 personen
also probiert, hat in als bald ghört vnd nit wider kommen;
sei läbend noch all dri.
und er wird zum Aussprechen seines Schmerzes aufgefordert. Auf diese vertrauens-
bildenden Maßnahmen folgt der Schock, eine kalte Dusche, eine Gegenbehaup-
tung: „Das ist nicht wahr!“, folgt sogar der Betrugsvorwurf 33:
Es ergibt sich von selbst, damit die volkstümliche primitive Urform einer stellen-
weise anerkannten und von Ärzten oft intuitiv betriebenen Psychotherapiemethode
zu erblicken. In den hier aufgereihten aus verschiedenen Gegenden kompilierten
Texten der letzten Jahrhunderte deutet sich ein gemeinsames Vorgehen an, das
nicht mehr das fremde „Es“ der Zahnwürmer, sondern „Ich“-Anteile des Patienten
erreichen möchte. Fast systematisch werden mit dem Patienten drei Schritte in
gleicher Abfolge durchlaufen:
34 ebenda
35 Corsini, Raymond J.: Konfrontative Therapie (amerik.: Immediate Therapy), in: Corsini,
R.J. (Hg.): Handbuch der Psychotherapie. 2 Bände, Weinheim und Basel 1983, Bd. I, S. 55–
570
36 Kurek, Martin: Der Neurotiker und sein Hausarzt. In: Allgemeinmedizin 16(1987),100–106
Anders als die meisten oberdeutschen heiligen Helfer, die oft nur regional bekannt
wurden, ist Apollonia europaweit Patronin der an Zahn- und Kiefererkrankungen
Leidenden und der Zahnärzte geworden. Heute gibt es eine Apolloniaklinik für
Oral-Chirurgie in Ludwigshafen und eine Apollonia-Stiftung der Zahnärzte in
Westfalen-Lippe.
Ihre historische Existenz scheint unbestritten; stets wird auf einen Bericht des
Bischofs Dionysius von Alexandria (247–265) an Fabian von Antiochien gewiesen,
wonach sie im Jahre 249 in Alexandria den Märtyrertod erlitt. Die Stelle lautet:
Apollonia, eine virgo presbytera (eine Diakonin?) wurde sehr verehrt. Männer (dieses
Pogroms) packten sie und brachen ihr durch wiederholte Schläge alle Zähne aus. 37 Den
Unterkiefer habe man zertrümmert und einen Scheiterhaufen errichtet. Spätere
Legenden melden, daß ihr die Zähne einzeln mit einer Zange brutal herausgerissen
wurden.
In der Legenda aurea von 1260 erklärt Jacobus de Voragine*, warum diese Frau
verehrt wird: „Diese furchtlose Märtyrerin konnte von den Qualen nicht besiegt
werden“. Im Jahre 1276 riet dann Papst Johannes XXI., bei Zahnschmerzen im
Gebet der Apollonia zu gedenken. Erst 1634 wurde sie heilig gesprochen. Seit dem
14. Jahrhundert wird sie um Fürsprache gebeten. Zunächst gilt ihre Fürsprache nur
als Alternative zum alten Steinsegen:
38
Ich kny uf desen Steyn Ich kniee auf diesem Stein
clag den vil heligen gebeyn […] klage dem allerheiligsten Gebein […]
vel scribatur ista benedictio Oder man schreibe diesen Segen der
Apolonia martir et virgo Märtyrerin und Jungfrau Apollonia,
cui dentes extracta erunt der die Zähne ausgebrochen worden sind
Ora pro nobis, beata Appollonia, vt digni Bitte für uns, selige A., daß wir würdig
efficiamur promissione Christi. Deus qui b. werden der Verheißungen Christi. Gott,
Appolloniam virginem tuam per martyrii pal- der du Apollonia triumphieren ließest
mam dentibus excussis a maligno hoste trium- mit der Palme des Martyriums, da ihr
phare fecisti, tribue nobis, quesumus, vt eius der böse Feind die Zähne aussschlug,
meritis et intercessione a dolore dencium et ab hilf durch ihr Verdienst und Fürsprache
ab omni langwore mentis et corporis liberemur von Zahnschmerz und allen Leiden
von Seele und Körper
In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts sind in der Gemeinde St. Michael in Reif-
ferscheid in der Eifel zwei Kirchenlieder zu Apollonia beliebt, die ihre Legende
schildern. Deren eine Strophe lautet:
42
Gib, daß geduldig ich, nach dir beständig,
o Apollonia gib, daß durch Zahnpein, Kreuz und Leid
ich lauf zu deiner Herrlichkeit.
40 Wien ÖNB, Hs 5166, fol. 137v, 15. Jahrhundert, veröffentl. Menhardt 2, S. 1100, danach
Holzmann, Verena, „Ich beswer dich wurm vnd wyrmin …“, Bern u.a 2001, S. 205f
41 Schiller, Karl: Zum Thier-und Kräuterbuche des mecklenburgischen Volkes, Schwerin 1861,
I, S. 18
42 Steinmetz, Wolfgang: Die Verehrung der hl. Apollonia als Patronin der Zahnkranken im Ei-
felgebiet. Med. Diss. Bonn 1977, S. 71
43 Haver, Jozef van: Nederlandse Incantatieliteratuur, Gent 1964, S. 164
44
Sainte Apolline la divine assise au pied d’un arbre,
sur une pierre de marbre, Jésus notre sauveur,
passant là par bonheur, lui dit : Apolline, qui te chagrine?
Neben den genannten Segen und Gebeten wurde der Zahnschmerz in den letzten
Jahrhunderten mit einer Reihe weiterer Spruchformeln bedacht. Es haben sich
Texte verbreitet, die in der Ansprache des Mondes, besonders des Osterneumondes
zumeist eine Analogie zu Mondspitzen herstellen. In der Physica des römischen
Arztes Plinius ist das vorgebildet: Luna nova, dentes nova, vermes putridi foras exite!
(Neuer Mond, neue Zähne; fahrt hinaus, Eiterwürmer!)45 Andere Texte bieten das
Vertragen und Verbohren an Gewächse. Einige empfehlen den Gang zu einem
Mark- oder Grenzstein, auf den die Wange zu legen oder in den hineinzubeißen ist;
sie lassen sich zwanglos aus den Petri-Stein-Beschwörungen erklären: Ich trete auf
einen Stein, die Würmer verzehren mir mein Gebein. Weit verbreitet sind Formeln
nach messgebundenem Volksglauben, die sich auf Christi Passion und Auferste-
hung beziehen. Dabei liegt ein Augenmerk auf einer typologischen Deutung, d. h.
hier in der Zusammenschau eines alttestamentlichen Ereignisses mit dem Gesche-
hen im Neuen Testament, in unserem Beispiel die Beziehung von 2 Mose 12,46 zu
Johannes 19,32–37: In den Vorschriften zum Passahmahl hatte der Herr befohlen,
daß dem Lamm kein Knochen, „kein Bein“, zerbrochen werden darf. Man verglei-
che das zur Longinusfunktion46 Erörterte. Ich füge zwei Beispiele aus dem 15./16.
Jahrhundert an, das erste mit einer antithetischen Suggestionstaktik ausgerüstet:
Die Würmer müssen mit Christus sterben, aber nur er kommt wieder zum Leben.
Im zweiten Beispiel hilft die Berührung der Zähne während dieser Worte im Got-
tesdienst gegen Schmerzen.
47
Ain segen wem die Zene we tund.
Mit dem vatter da such ich dich, mit dem sun find ich dich […]
Unser lieber herre knüget (kniet) vff ainen stain, daz klag’ ich gott
vnd dem hailigen bain daz gott in sinem munde gerstarb
vnd an dem dritten tag wider lebendig ward Also müssen die wurm
vnd daz wilde blut ersterben vnd nymer mer ewiclich lebendig werden
48
[…] gleich als wann einer spricht die heilige weissagung von dem gebeine Christi
das es vngebrochen bleiben solt / Exodi ca. 12. Joannes. 19. Ir solt kein Bein jme
brechen: vnd rüret die zeene dieweil Meß gethan wirt solt das zeen wehe vertreiben.
48 Nahl, Rudolf van: Zauberglaube und Hexenwahn im Gebiet von Rhein und Maas. Spätmit-
telalterlicher Volksglaube im Werk Johan Weyers (16.Jh.), Bonn 1983, S. 142
Eine Annäherung an Hildegard von Bingen birgt Gefahren. Die Hindernisse der-
zeitiger Fehldeutungen und Mißbräuche von vielen Seiten sind zu überwinden,
wenn man einen Blick auf das zentrale Anliegen einer Volksheiligen werfen will,
die eine Sonderstellung nicht nur für die mittelalterliche Welt einnimmt. Es ist der
Blick auf ihre kosmologisch orientierte sinnenklare Erlebnismystik und ihre au-
thentische visionäre Dichtkunst.
Zu erinnern ist etwa an drei Sichtblockaden:
1. Im Zeitalter der Kuschelfarmen und Esoterik-Gurus konnte eine grobschlächtige Ver-
marktung sog. Hildegard-Medizin nicht ausbleiben. Wer sich heute Hildegardis Intelligenz-
pillen gönnt, kann noch belächelt werden. Wer einer Mutter empfiehlt, die Schuppenflechte
ihres Kindes mit der Galle eines bei zunehmendem Monde frisch geschossenen Hasen zu
beträufeln, kann vielleicht Aufwand erzeugen. Wer aber als Arzt die Behandlung von
Praecancerosen, also krebsverdächtigen Gewebsveränderungen allein mit einem „hildegar-
dischen Aderlaß“ und mit Wasserlinsen-Elixier verordnet, ist ein verantwortungsloser
Scharlatan.
2. Wichtiger zu nehmen sind die oft einer historisch einfärbenden Sicht verschriebenen
Bedenken, die man heute mit allem verbindet, was Exorzismus war und ist. Diese Bedenken
sind nicht auszuräumen, erinnern sie doch an epochale Verzögerungen des medizinischen
Fortschritts, insbesondere der Psychiatrie. Und sie legen Wurzeln einer sowohl gesellschaft-
lichen als auch berufsspezifischen Rivalität frei, die man am Kampf um die Seele des Men-
schen versinnbildlicht hat. Als ob Geschichte sich rächen könnte, ist die Waage zwischen
Arzt und Priester heute in die andere Richtung gekippt.
3. In seiner Dankesrede für den von Zahnärzten gestifteten „Hildegard-von-Bingen-
Preis“ für Publizistik 2008 beschreibt ein Journalist sein Verhältnis zu Hildegard mit den
Worten: „Das einzige, was mich mit Hildegard von Bingen verbindet, sind Visionen. Wobei
ihre von ganz anderer Art waren, als meine es heute sind. Da ich auf Diät bin, muß ich
immerzu an Cremeschnitten, Sachertorten […] und Palatschinken denken“ (FAZ 15.9.08,
S. 34).
Bei allen Etiketten und Superlativen: Hildegard ist keine Ärztin im Sinne alter
und neuer Berufsordnungen; Hildegard ist keine Botanikerin nach alter und mo-
Vokabulars vermutet wird, die Schriften des Constantinus Africanus (zw. 1010 und
1015– um 1087). Der hatte arabische Medizin studiert und übersetzt und hatte
einen großen Einfluß auf die Medizinschulen von Salerno und Chartres ausgeübt.
Dieser weitgereiste und gebildete Mann war wenige Jahre vor Hildegards Geburt
im Benediktinerkloster Monte Cassino wahrscheinlich als Laienbruder gestorben.5
Es wird vermutet, daß die Edelsteinallegorie Hildegards nicht zuletzt auch eine
arabische Quelle hat. Selbstverständlich ist, daß die hochbegabte Nonne benedik-
tinische Bildungstraditionen übernahm, nach der Benediktinerregel und nach der
Augustinuskonzeption des Hrabanus Maurus* dachte und lebte. Schließlich war
ihre Epoche auch eine Hochblüte der Klostermedizin, der Krankenpflege und der
Heilkräutergärten. Viele Pflanzennamen sollen ihrer heimatlichen Umgebung ent-
nommen sein, Sunnewirbel für Wegwarte, Sichterwurz für den weißen Germer,
Byverwurtz für die Eberwurz, Rifelbeere für Preiselbeere.
Hildegards Naturphilosophie basiert zusammengefaßt auf folgenden Grundsät-
zen6: Der Mensch als Gottes Geschöpf hatte ursprünglich eine optimale Verfassung
und alle Elemente dienten ihm, weil sie spürten, daß er das Leben habe; sie kamen
seinen Unternehmungen entgegen und wirkten zusammen mit ihm, wie er mit ihnen
(Physika 1125A). Daraus resultiert ein Konnex zu den Strukturen des Weltalls und
eine universelle Kraft kosmologischer Dimension verbunden mit einem ökologi-
schen Auftrag: Der Mensch hat ein Amt in der Welt. Durch sein Autonomiestreben
aber und seine Rebellion wird er gebrechlich (Abb. 81). Krankheit ist Zeichen sei-
ner Deformation, die unter dem Schlüsselbegriff „Schwarzgalle“ gedeutet wird.
Dieser schwarzgalligen Schwermut als dem Symbol der Krankheit wirkt die Grün-
heit (viriditas) als natürliche Lebenskraft entgegen.
Ähnlich wie die vielen christlichen Mystiker/innen wirkte Hildegard in Wellen-
längen, um deren Verstehbarkeit heute zu ringen ist. Denn das Mittelalter begriff
Gottes Offenbarungen als außerseelische Botschaften, deren irdische Träger aner-
kannt waren wie einst die Propheten des Alten Bundes und somit letztlich auch „the-
rapeutisch“ wirken konnten. Dabei waren sie nur Exponenten der Weltsicht ihrer
Zeit. Untersuchungen an den Wunderberichten am Grabe der heiligen Elisabeth von
Thüringen (1207–1231) mit Hinweisen auf das „religiöse Bewußtsein des Mittelal-
ters“ bei den Kranken weisen darauf hin, daß die verehrten „Heiligen“ nicht als Ex-
zentriker, nicht als Gegenstimmen empfunden wurden und daß die Verehrer und
„Wallfahrer“ das gelebte Vorbild der Mystiker nicht nur als Symbol werteten und
empfanden.7 Von den Mystikern wurde „das Wort Christi ‚Ich bin das Licht der
5 Schipperges, Heinrich, in: Enzyklop. der Medizingesch. (Hg.: Gerabek, Werner E. u. a.),
Berlin 2005, S. 269f
6 nach Schipperges, H. in: Kosmos und Mensch aus der Sicht Hildegards von Bingen. Hg.:
Führkötter, Adelgundis OSB, Mainz 1987, S. 3f
7 Wendel-Widmer, Barbara Ruth: Die Wunderheilungen am Grabe der Heiligen Elisabeth von
Thüringen. Eine medizinhistorische Untersuchung. Med. Diss. Zürich 1987, S. 19f
Abb. 81 Vision der Hildegard: Der Sünden- Abb. 82 Hildegard empfängt Visionen, darge-
fall. Durch Rebellion liegt der Mensch quer stellt als Flammen. Sie registriert: „Es durch-
zur Schöpfung am Abgrund und leidet an strömte mein Gehirn“
Schwermut und vielen Krankheiten.
Welt‘ […] nicht metaphorisch, sondern ontologisch verstanden.“8 Und das heißt: Es
ist geistige Existenzgrundlage, nicht nur Erkenntnis, Abbild oder Gleichnis.
Die folgenden Spruchtexte aus verschiedenen Werken der Hildegard fokussieren
den Blick auf den Kern ihrer Verbaltherapie, auf Segen, Gebet, Beschwörungen und
Exorzierung als Elemente personaler Ansprache an den Kranken und als Gebetsanlei-
tung. Sie sind die spirituelle Therapie im Sinn des Wortes. Ihr Ursprung: „Spirituell“
von Spiritus (Geist) ist die Wirkung Gottes, des Heiligen Geistes, dargestellt als
Flammen (Abb. 82), die den Kopf der Seherin umgreifen.9 Diese Spiritualität steht
8 Haug, Walter: Zur Grundlegung einer Theorie des mystischen Sprechens. In: Brechungen
auf dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters. Tübingen
1995, S. 536,537
9 Zu den ungelösten Fragen um Zeitpunkt und Authentizität der Miniaturen siehe Suzuki,
Keiko: Rezension, Bildgewordene Visionen oder Visionserzählungen, in: Z. f. dt. Altertum
und dt. Lit. 129 (2000), 215–222
einer indifferenten „spirituality“10 der Moderne entgegen, indem sie einen persönli-
chen Gott voraussetzt; offenbarungstheologisch wird der Heilige Geist als „Liebe
Gottes in Person“, als „persongewordene Liebe zwischen Vater und Sohn“ (Walter
Kasper) definiert.
10 vgl. Grom, Bernhard: Spiritualität ohne Grenzen, in: Stimmen der Zeit 227 (2009), S. 145f;
vgl. Benke, Christoph: Sehnsucht nach Spiritualität, Würzburg 2007, S. 18f
11 vgl. Brown, Peter Robert: Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und Körper-
lichkeit am Anfang des Christentums. München Wien 1991, S. 425–437
12 Ohly, Friedrich, Vom geistigen Sinn des Wortes, in: Z. für dt. Altertum 89 (1958/59),
S. 1–21, hier: S. 12
13 nach Nahl, Rudolf von: Zauberglaube und Hexenwahn, Bonn 1983, S. 138, eine Rücküber-
setzung Weyers ins lateinische
14 nach Führkötter, Adelgundis OSB: Das Leben der hl. Hildegard, Düsseldorf 1968, S. 29
15 Theodoricus Monachus: Vita Hildegardis 3, X, ediert Klaes, Monika, S. 190, dort contineas
statt cohibeas; vgl. Franz, Adolph, Kirchliche Benediktionen im Mittelalter II,511f; die Be-
schwörung konnte offenbar sowohl zur Unterbindung als auch zur Förderung von Blutfluß
dienen, was auf ihren vielseitigen Gebrauch hinweist. Entscheidend war die der jeweiligen
Notsituation angemessene Verbalintervention.
16 St. Gallen Stiftsbibl. Codex 755 Papier p71, veröffentl. Piper, P.,Germania 25 (1880),S. 68
17 München BSB Cgm 467, fol. 165r, 17. Jh., veröffentl. Birlinger, Anton, Germania 17, 76
18
Den Fluß zu stellen. wenn er zu stark fließt. Lasse zu Ader und laß sie diesen Zettel
anhängen zwischen Brust und den Nabel, welches Helmont empfiehlt; lautet also:
Durch das Blut Adams ist der Tod entsprungen,
durch das Blut Jesu Christi ist der Tod wieder ausgerottet worden;
in diesem Blute Jesu Christi gebiete ich dir, o Blut,
daß du stille stehest und deinen Lauf endest.
19
Blutstelung.
Durch Adams blut komt her der Todt
ich gebiete dir Blut durch Christi blut stehe stiehl + + +
Angefügt sei ein Text des 19. Jahrhunderts, der sinngemäß dem Typ nahekommt,
auch Bezug auf den gleichen Paulusbrief hat, der aber durch seine schlicht-fromme
volkstümliche Reimgebung und eine andere Indikationsstellung abweicht. Man
kann vermuten, daß Hildegards Fassung interpretationsbedürftig geworden war,
wenn „der soteriologische Aspekt beiseite“ gelegt und seine Bedeutung als ambiva-
lent (zwiespältig) empfunden wurde, wie das eine sich zu magischer Ordnung ver-
pflichtete Zugangsweise nahelegt.20 Ein solcher Text erfüllt dann die Bedürfnisse
magischer Wegwerfzeremonie und Christus wird vom Erlöser zum Tröster:
21
Das Fieber durch das Besprechen fortzuschaffen. Der so das Fieber besprechen will
(muß mit dem Leidenden allein sein in einem Zimmer) legt die rechte Hand auf die
Schulter des Kranken, indem er folgende Worte spricht:
Gott schuf Adam und seine Magd, die Krankheit ist uns zugesagt;
das Fieber ist ein Sündenfall, welches nun herrschet überall
darum nehm ich das Fieber und werfs ins Meer;
wo Moses durchgegangen mit seinem Heer,
das thue ich im Namen Jesu Christ, weil du mein Trost und Helfer bist.
Das Edelsteinbuch als Kapitel 4 der „Physika“ behandelt alle zwölf Edelsteine der
Geheimen Offenbarung des Johannes und zehn weitere. Die im folgenden vor-
kommenden Steine außer dem Magnet gehören diesem Buch des Neuen Testamen-
tes an. Obwohl die Herkunft dieser Texte noch unsicher ist, werden sie hier ausge-
18 Losch, Friedrich (Hg.): Deutsche Segen-Heil- und Bannsprüche. In: Württemb. Vierteljah-
reshefte für Landesgeschichte XIII (1890), S. 230 Hs des Chirurgen J.G. Wagner, 1728
19 Hersbruck Deutsches Hirtenmuseum, Handschr. Kurbug Hutzler Haimendorf, ähnlich
Lammert, Gottfried: Volksmedizin, Würzburg 1969, S. 192 aus dem Odenwald; ähnlich
Ebermann, O: Blut- und Wundsegen, Palaestra XXIV,78f sowie weitere bei Schulte,W.,
Volkst. und Heimat (Münster 1929),129 aus Umkreis Siegen und Schell, Otto, Z.d.V.f.
Volksk. 16 (1906),173, aus dem Bergischen Land
20 vgl. Schulz, Monika: Beschwörungen im Mittelalter, Heidelberg 2003, S. 91
21 Greifswald Volkskundearchiv der Universität, Aus dem Schreibheft der Elise Wilke, Dem-
min, 19.Jh. Für freundliche Vermittlung danke ich Frau Prof. Dr. Renate Herrmann-Winter.
breitet, weil sie in ihrer Grundidee einer spirituellen Therapie nicht widersprechen
und sich z. B. ihre Steinallegorese in der christlichen Steinkunde wiederfindet. Ob
sie alle dem Diktat der Volksheiligen entspringen, muß weitere Forschung klären.
Die Vorstellung einer Heilkraft von Steinen fand in der mittelalterlichen Medizin
nach antiken Vorbildern ebenso große Verbreitung wie sie heute wieder zu finden
scheint. Mit Hildegard wurde der Stein als Teil der Natur in die christliche Kosmo-
logie integriert. Ein neurobiologisches Konzept für die mögliche Effizienz der Texte
ergibt sich aus den einleitend in diesem Buch beschriebenen Selektions- und Per-
zeptionsfunktionen corticaler Strukturen in der medizinischen Notfallsituation.
Die wenigen hier nachgestellten Deutungsmöglichkeiten der Steine orientieren
sich an dem umfassenden Werk von Christel Meier22, die Übersetzungen aus Phy-
sika entnehme ich der textkritischen Ausgabe mit Marie-Louise Portmann.23
Das Gebet speist sich aus „visionärer“ und eucharistischer Ebene, indem es Sehn-
sucht und Bewegung zu einer Unio mystica, zu einer Nähe zu Gott, als christliches
Heil der physischen Heilung von Fieber nutzbar zu machen sucht. Gegenläufig zu
dieser Bewegung geschieht die Entfernung von Luzifers Macht, denn der verab-
scheut jeglichen Stein und das Element Feuer wie die Fieberhitze, weil er darin
seine Strafe verbüßt. Beim Patienten soll eine innere Erneuerung gefördert werden,
der ganze Mensch steht im Heilungsprozess, im Schmelztiegel des Fieber-Feuers,
das durch Wein gekühlt wird. Der ganze Mensch ist gemeint – eben jene Wunsch-
vorstellung unserer Zeit, die von überforderten Ärzten „Ganzheitsmedizin“ erwar-
tet. Quelle des Textes liegt bei Paulus 1 Korinther 13,12: Wir sehen jetzt durch einen
Spiegel in aenigmate, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stück-
weise, dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin. Aenigma ist das Rät-
sel und die dunkle Andeutung und wird in den Bibelübersetzungen mit „dunkles
Bild“ „unklares Bild“ oder „dunkles Wort“ wiedergegeben. Es ist der Verweis auf
menschliches Verhaftetsein in Dunkelheit gegenüber dem absoluten Licht, ein Zu-
stand, der durch mystische Vereinigung mit Gott im Leben und nach dem Tod
22 Meier, Christel: Gemma spiritalis. Methode und Gebrauch der Edelsteinallegorese vom frü-
hen Christentum bis ins 18. Jahrhundert, München 1977
23 wie oben (Hg. der „Physika“ durch die Basler Hildegard-Gesellschaft))
24 Haug, Walter: Autorität und fiktionale Freiheit, in: ders.: Die Wahrheit der Fiktion. Studien
zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Tübingen
2003, S. 117
diesen Stein durch den Schnitt nach unten und sage: „Gott, der alle Kostbarkeit der
Steine vom Teufel wegnahm, als er sein Gebot übertrat, nehme von Dir, N., alle Trug-
bilder und alle magischen Worte weg und löse von dir den Schmerz dieses Wahnsinns“.
Und indem du wiederum den Stein durch jenes warme Brot in der Quere ziehst, sage:
„Wie der Glanz, den der Teufel in sich hatte, wegen seiner Übertretung von ihm genom-
men, so soll auch dieser Wahnsinn, der den N. durch verschiedene Trugbilder und durch
verschiedene Magie plagt, von dir weggenommen werden und von dir abfallen“. Und
du wirst jenes Brot um jenen Einschnitt, durch den du den Hyazinth zogst, dem, der
Schmerzen leidet, zu essen geben.
(Physika Cap.4-2 Vom Hyazinth) – Deutung: Hyazinth wechselt im Licht zwischen Klar-
heit und Trübung, er fordert heraus zu rechtem Unterscheidungsvermögen und klarer Ori-
entierung.
(Physika Cap. 4-18 Vom Magneten) – Deutung: nach dem Physiologus: Wenn nun schon
die Dinge der Schöpfung sich anziehen, um wieviel mehr der Schöpfer den Menschen.
Hildegards häufige Erinnerung an Luzifers Sturz meint immer Gottes Macht über das
Krankheits-Übel.
Einer der Schlüsselbegriffe zum Verständnis der Naturallegorien Hildegards ist die
Viriditas, die Grünkraft. Mit ihr wird elementare Lebenskraft, in der sich Gottes
Wort und Wirken offenbaren sollen, postuliert. Differenziert gelten dabei Zweige
als Erkenntnis, Blüten als Willen und Früchte als Vernunft. All diese Kräfte wirken
im Menschen wie in der übrigen Schöpfung und sollen dem Schicksal und den
Taten der Menschen zugeordnet werden. – Diese sehr originellen und eigenwillig-
dichterischen Phantasien ergeben ebenso wie die Steinpraktiken kein irgendwie
logisches naturkundliches Fundament für die Heilkraft von Pflanzen und Bäumen.
Sie folgen wie die Steine der christlichen Allegorese nach Farben, Formen, Stand-
orten und Wachstum in ihrem biblischen und historisch-literarischen Hinter-
grund. Heilpraktische Folgerungen und alle systematisierenden Versuche an der
Hildegardschen Pflanzendeutung bleiben, wenn sie nicht den christlich-kosmolo-
gischen Aspekt respektieren, im Bereich freier Assoziationen.
dann schöpfe mit einem Tongefäß Wasser aus einer sprudelnden Quelle und gieße es
durch dieses Loch und fange es in jenes Tongefäß auf, und während du gießest, sprich:
„Ich gieße dich, Wasser, durch dieses Loch und in jener heilkräftigen Tugend, die Gott
ist, damit Du mit jener Stärke, die in deiner Natur liegt, in diesen Menschen strömst,
der in seinem Empfinden verfangen ist, und damit du in ihm alle Widerwärtigkeiten
zerstörst, die in ihm sind, und damit Du ihn in jene rechte Beschaffenheit zurück-
bringst, in die Gott ihn gebracht hat“. […] Und während neun Tagen soll dieses (Was-
ser) auf gleiche Weise gesegnet werden.
(Physika Cap. 3–20 Von der Zypresse)
D) Verschiedenes
(Theodoricus Monachus: Vita Hildegardis, Buch 3, XVIIII, ediert durch Klaes, Monika:
Leben der Heiligen Hildegard, Freiburg u. a. 1998, S. 199); vgl. die Kapitel 2 und C.
Abb. 83 Hildegard von Bingen. Bronzetor des Speyerer Domes (Toni Schneider- Manzell 1971).
Die Äbtissin hebt ihre Augen in Erwartung der Visionen, Pflanzenteile weisen auf ihre heilkund-
liche Tätigkeit.
Abb. 84 Die Seelenwaage. Einem verstorbenen Schreiber neigt sich die Waage der Engel unter
der Last des Buches und unter Aufsicht Jesu zum Positiven (Prüfening, 12. Jahrhundert)
zu Christus als Geburtshelfer vermittelt ein Segen,3 der der Gebärenden eingibt,
Christus höre ihre Schreie; es wird ihr ein Engel gesandt mit dem Auftrag, eine
bestimmte Segensformel ins Ohr zu rufen. Eine Besonderheit bietet der Bamberger
Blutungssegen, wenn das daumendrückende Jesuskind als Wundbehandler im
Notfall imaginiert wird, nicht als Arzt, aber doch als wundersamer erster Helfer –
durchaus wirkungsversprechende Vorlage für ein Bilderleben.
Andere Segensgestaltungen nehmen direkt als Empfehlung auf, was die Wun-
derheilungen der Evangelien an Therapie bereitstellen. Beispielsweise greift die alt-
deutsche Regensburger Formel des 11. Jahrhunderts zur Behandlung Blindgebore-
ner (Abb. 85) ebenso auf Johannes 9, 7/11 zurück, wie das von Hildegard von
Bingen bei der Besegnung eines blinden Jungen berichtet wird.4
Abb. 85 Segensanleitung für Blindgeborene: „Ganc zedemo fliezzentemo vvazzera …“ Gehe zum
fließenden Wasser und benetze ihm seine Augen und besprich mit dem selben Segen, mit dem der
allmächtige Gott dem Regenblinden seine Augen segnete …
In einer nicht dem Evangelium entnommenen Formel der Vergicht- und Fie-
bersegen treffen wir eine „negative Versicherung“ an, die dem Gekreuzigten in den
Mund gelegt ist, die oft als Amulett genutzt wird:
5
„den rider oder Vergifft ich nit hab“ „Das Fieber und die Gicht hab ich nicht“
undt niemandt der die wortt bei ihm und [hat] niemand, der diese Worte bei sich
tregt oder sprähen kann, so weis ich trägt oder sprechen kann. Ich weiß, daß
das kein arzt so gutt ist, […] ich glaub kein Arzt so gut ist. […] Ich glaube, daß
das mir dem Vergifft niemandt helffen mir gegen die Gicht niemand helfen kann,
kann als der [, der den] Todt und als der, der den Tod und die Marter
Marter für Namb auf sich nahm.
Und es werden seit dem 16. Jahrhundert die letzten Worte am Kreuz, besonders
das „Consummatum est“ als Heilgarantie wie magische Chiffren in verschiedene
Beschwörungen und Zettel aufgenommen.
Vielfältig gibt es Ritusanweisungen, eine Art Volksliturgie, in der zu einer
Nachahmung der wunderwirkenden Gesten und Handlungen Christi durch den
3 Siehe Kapitel 14
4 Siehe Kapitel 33, Nr.18
5 München BSB Cgm 4426, fol.5v, 17. Jahrh., vgl. Kapitel 4
Heilkundigen angeregt wird. Das konnte emotional vom Kranken als praktische
Therapie angenommen werden. Man denke an das Aufheben von Erde, ihre Ver-
mischung mit Speichel zu einem Teig, der aufzulegen ist oder an die Berührungen
mit dem Finger an Ohr oder Zunge.6
Viele Sprüche nutzen den Heiland wie ein Werbemittel. Er wird als Apotheker
und Arzt gepriesen. Und er wird gleichgesetzt, er selbst als Person oder seine Heils-
merkmale, mit Heil und Pharmakon:
– Domine Jesu Christe qui es vera salus et medicina7
– Sprich Jch wais kain weisen rodt Godt der sei selb der best artzet8
– Si du warer vater Jhesu Crist wenn du mein got und schopfer pist Jch swer dir hewt
einen aid dir und aller cristenhait das nit pesser arczt ist wann [=als] du warer got vater
Jhesu Crist9
Die einzige praktisch angewandte Formel dieser Art mit gewisser Kontinuität vom
15. bis zum 19. Jahrhundert ist die oft mehr oder weniger abgewandelte oder ver-
derbt lateinisch für Wunden eingesetzte Fünf-Wunden-Christi-Garantie aus kirchli-
chen Benediktionen, die man dem Bernhard von Clairvaux zugeschrieben hat. Sie ist
aus England als Geburtsbrief mitgeteilt, der der Gebärenden ans Bein zu hängen war:
– Per Virtutem Domini sint Medicina mei pia Crux et Passio Christi. + Vulnera
quinque Domini sint Medicina mei +10
– Das Leiden / Die heiligen fünff wunden Jhesu Cristi sei mein artzenei11
– In Siebenbürgen ist eine andere Formel ganz volkstümlich adaptiert für Mastitis, die
Brustentzündung in der Stillzeit: die beste Medizin für Schmerzen ist Jesu
Binsenbett sowie sein steinernes Kissen12
In den älteren Texten hätte es der Formeln vom besseren Arzt, von Christus als
„Arzenei“, von „allerwelt ein Artzet“, vom „Arzt aller Ärzte“, vom „summus medi-
cus“ wohl kaum bedurft. Aber der Arzt war ursprünglich eine Metapher der Theo-
logen und diente der Glaubenslehre zur Erklärung von Heilung und Errettung der
Seele. Die Einfügung in medizinische und volksmedizinische Texte war also sekun-
där und hat sich auch erst seit dem 14. Jahrhundert durchgesetzt.
Zur frühmittelalterlichen Tradition des „medicus coelestis“, des himmlischen
Arztes kann auf eine Vielzahl ikonografischer Darstellungen des späten 4. Jahrhun-
derts mit Einflüssen antiker Götter- und Heroenwelt verwiesen werden13 sowie auf
Papyrusamulette des 5./6. Jahrhunderts, etwa auf den norditalienischen Psalter, der
aus Alt-Kairo-Fustat kam.14 Christus-Arzt bzw. Christus-Apotheker-Metaphern im
Dichten und Denken und in der Kunst des Mittelalters als soteriologische Garantie
waren ungemein beliebt, beispielsweise in der Symbolik der Kräuterbücher, in de-
nen Christus als Heilpflanze spricht: Ich bin der Himmelschlüß genannt, ein edel
Balsam kraut bin ich.15 In der Heilpflanzenallegorie im St. Trudperter Hohelied des
12. Jahrhunderts, heißt es von der Mandragora (Alraune): Diese Wurzel bedeutet
Gott, dessen Abbild Christus war. Auf der Erde glich er einem Menschen. Er ist uns
Arznei und ein Pfand des ewigen Lebens.16
Wissenschaftsgeschichtlich hat die allzu separierende Vorstellung der Neuzeit von
Heilkunde versus Seelenheil, von Medizin gegen oder allenfalls neben Seelsorge das
Christus-medicus-Motiv als eine für die „Heilkunde des Mittelalters“ „marginale Po-
14 Daniel, Robert W. und Franco Maltomini (Hg.): Supplementum magicum, Opladen 1990,
S. 104–110, mit weiteren Belegen
15 Krafft, Fritz: Christus ruft in die Himmelsapotheke (Ausstellung Altomünster 2003), Stutt-
gart 2002, S. 81f
16 Ohly, Friedrich (Hg.): Das St. Trudperter Hohelied, Frankfurt 1998, S. 265, S. 1157
sition“ bezeichnet.17 Diese Tendenz hatte der Theologe Bultmann mit seiner „Entmy-
thologisierung“ eingeleitet; moderne Medizin vertrage sich nicht mit der Geister-
und Wunderwelt der Evangelien.18 Damit nahm man im Diskurs um die Konkurrenz
zwischen Theologie und Medizin Strömungen des Mittelalters zum Maßstab, die
durch Überhöhung der Seele und Verachtung des Leibes den Arzt für überflüssig
hielten; bekanntester Vertreter dieser Position war Bischof Gregor von Tours im 6.
Jahrhundert. Das heilkundliche Wissen und die heilkundliche Tätigkeit der Klöster
in somatischer und psychischer Richtung – in beidem betätigten sich die Arztmön-
che – wie sie z. B. für St. Gallen seit dem 8. Jahrhundert nachweisbar sind,19 zeigen
jedoch, daß einseitige oder Körper und Seele radikal separierende Modelle nicht ge-
nerell bedeutsam waren. Es gibt aus dem Bereich der in diesem Buch behandelten
Segen und Beschwörungen keinen Text, aus dem ein Widerspruch zwischen psychi-
scher und somatischer Behandlung erschließbar wäre. Nirgends etwa wird explizit
oder latent eine Abkehr von praktischen Heilmethoden erwogen. Das heißt auch,
daß eine gleichzeitige Behandlung somatisch-praktisch mit Heilkraut und psychisch
mit Worten, wie im Drei-Brüder-Segen keine „Ambivalenz“20 darstellen kann.
Christliche Liebestätigkeit im Sinne des Christus-medicus-Motivs, war auch
nicht nur als Dienstbarkeit am sozial und materiell Armen zu sehen. Der seelisch-
geistig Arme, sprich: der psychosomatisch oder psychiatrisch Kranke, der durch die
in fast allen Medizinbüchern eingeschobenen Heilformeln bedacht sein sollte,
bliebe sonst unbeachtet. Das Wörtchen „pauper“ ist in seiner hochmittelalterlichen
Bedeutung nicht modern einseitig zu betrachten, krank und (materiell) arm waren
zwei Seiten der gleichen Medaille und ursächlich untrennbar kulturell und neuro-
biologisch verwoben. Das gilt auch für den „Christus pauper“, die aussätzige Leit-
figur der späteren Franziskuslegende, die immer beide, Arzt und Seelsorger, ver-
band. Mit Christi Bekenntnis, ein Arzt zu sein, das sich bei drei Evangelisten über-
einstimmend findet,21 war er auch als neuer Asklepios in neuem Zeitalter in Ablö-
sung alttestamentalischer und antiker Gebräuche verstanden worden.22 Daß
umgekehrt „Arzt“ und „Pharmakon“ als theologische Metaphern verwendet wur-
den, hatte, wie gesagt, eine erklärende Funktion. Religiöses Heil und irdische Hei-
lung flossen einfach zusammen.
17 So Keil, Gundolf: Der kranke Mensch im Mittelalter, Randnotizen, in: Aspekte der Germa-
nistik (FS Rosenfeld), Göppingen 1989, S. 307–321, hier: 319
18 Honecker, Martin: Christus medicus. In: Der kranke Mensch in Mittelalter und Renaissance
(Hg. Peter Wunderli), Düsseldorf 1986, S. 27–44, hier: S. 27
19 vgl. Duft, Johannes: Notker der Arzt, St. Gallen 1972, passim
20 So Schulz, Monika: Beschwörungen im Mittelalter, Heidelberg 2003, S. 96–98; zum Begriff
„Ambivalenz“ vergleiche Sponsel, Rudolf: Internetpublik. Erlangen 2002: „A.“ ist eine Erfin-
dung Eugen Bleulers zur Charakterisierung der Zwiespältigkeit von Schizophrenen. (Zentral-
blatt für Psychoanalyse 1 (1911), 266ff )
21 Matth. 9,12/13; Markus 2,17; Lukas 5,31/32
22 vgl. die Kapitel 15 und 31
Arbeitsgedächtnis
Es bildet eine für vorübergehende Erinnerung zuständige Relaisstelle, die wie
ein Skizzen- oder Notizblock der flexiblen Handlungsplanung dient. Zielge-
richtete Entscheidungen und Organisationen können damit auf verbaler,
räumlich-visueller und zentral-exekutiver Ebene erfolgen.Vom impliziten und
deklarativen Langzeitgedächtnis wird es ebenso unterschieden wie vom reinen
Kurzzeitgedächtnis. Es umfasst Teile der linksseitigen Stirn-, Scheitel- und
Schläfenlappen sowie der Basalganglien, letztere sind für vielfältige exekutive
Leistungen zuständig. Manche Untersucher vermuten, daß bei Schizophrenie
hier ein spezifisches Defizit besteht.
Abb. 87 Medianschnitt des Gehirns mit Blick auf die Innenseite einer Hirnhälfte. ACC = vor-
deres Cingulum; Amy. = Amygdala; OFC = orbitofrontaler Cortex; Thal. = Thalamus; K = Klein-
hirn
Hippocampus, Seepferd.
Es befindet sich beidseits am unteren inneren Rande des Schläfenlappens und
ist Organisator und Verwalter des Archivs unseres Gehirns, der nicht in sich
selbst speichert, sondern bewußtseinsfähiges Wissen in die jeweiligen Gebiete
einordnet, Gesehenes in die Sehrinde, Gehörtes in die Hörrinde, Sprachliches
in das Sprachzentrum. Bei den sog. Inselbegabungen („idiot savants“) ist die
Verwaltung defekt, sodaß diese Musik-, Rechen- und Sprachgenies wie Gefan-
gene mitten in einem einzigen Archiv leben.
Hypothalamus
Er bildet einen Teil des Zwischenhirns, liegt unter dem Thalamus und ist durch
einen Stiel mit der Hypophyse, der Hirnanhangsdrüse verbunden. Damit diri-
giert er in enger Verbindung zur Amygdala die wichtigsten hormonellen Funk-
tionen des Körpers und das Vegetativum. Biologische Grundfunktionen wie
Kreislauf, Atmung. Schlaf, Temperatur, Sexual-Angriffs- und Verteidigungsver-
halten werden von ihm kontrolliert und gesteuert. Von Außenreizen wird der
Hypothalamus nicht direkt erreicht, stets sind Strukturen des dopaminergen
Belohnungssystems, neben Amygdala vor allem auch der Nucleus accumbens
(Zentrum für Suchtproblematik) und die praefrontale Rinde vorgeschaltet.
Spiegelneurone.
Sie wurden gegen Ende des 20. Jahrhunderts durch die italienische Forscher-
gruppe um Giacomo Rizzolatti in Parma entdeckt. Affengehirne, wenn sie ei-
nen anderen Affen beim Bananenauflesen beobachten, aktivieren Zellgruppen
im Bereich der dorsolateralen praemotorischen Rinde des eigenen Stirnhirns
(Feld F5). Zunächst konnte nur die Reaktion bei visuellen Wahrnehmungen
belegt werden: Die Zellen werden sowohl bei Eigenaktivität als auch in Nach-
ahmung fremder Handlungen befeuert. Es sind Imitationsneurone, die etwas
„nachäffen“. In den letzten Jahren sind Spiegelneurone auch beim Menschen
entdeckt worden; sie arbeiten hoch spezialisiert. Es gibt z. B. Zellgruppen, die
nur beim Beobachten von Fußbewegungen, andere die nur bei Beobachtung
eines küssenden Mundes aktiviert werden. Ein internationales Forscherteam
hat 2006 beweisen können, daß nicht nur durch unmittelbare Beobachtung
mit den Augen, sondern auch durch Lesen eines Textes Spiegelneurone akti-
viert werden: Ein Video und eine gelesene Beschreibung über Kirschenessen
stimulieren die gleichen Zellen (Forschergruppe um Lisa Aziz-Zadeh).
Schließlich konnte auch bei akustischen Reizen die Aktivierung von Spie-
gelneuronen entdeckt werden. Das auditorische Spiegelsystem beim Menschen,
ebenfalls hoch spezialisiert, empfindet Aktionsgeräusche aller Art nach, d. h.
gehörte fremde Aktionen, wie ein Händeklatschen können erlebt werden, als
ob es selbst ausgeführt wurde (Forschergruppe um Simone Schütz-Bosbach).
– Die Spiegelneurone erleichtern durch Beobachtung und Anhören anderer die
Entwicklung des motorischen Systems und der Sprache, indem sie kartogra-
fisch die Aktionen anderer für den eigenen Körper mittels Stabilisierung synap-
tischer Verschaltungen und Neuritenwachstum erfassen und prägen. Damit
bilden sie eine Grundlage für soziales und kulturangemessenes Handeln und
sind Beweise dafür, daß unsere biologische Ausstattung zu echtem intuitiven
Mitgefühl (Empathie) in Freude und Leid angelegt ist, ohne Mitwirkung des
Verstandes. Bei Autismus sind die Spiegelneurone in ihrer Aktivität stark einge-
schränkt. Für die Akuttherapie kann die Möglichkeit, Schmerz gemeinsam mit
anderen Menschen in gleicher neuronaler Erregung des affektiven Schmerz-
netzwerkes (vordere Insel, rostraler und dorsaler anteriorer zingulärer Cortex
u. a.) wahrzunehmen, bedeutsam sein (Forschergruppe um Tania Singer, Zü-
rich).
Hippokrates von Kos: geb. um 460 vor Chr., gest. um 370/75; sein Geschlecht
führte sich auf den Heilgott Asklepios zurück. H. gilt mit seiner koischen Schule
als Begründer der wissenschaftlichen Medizin. Nur wenige der 61 Teile der Schrif-
ten des „Corpus Hippocraticum“ können dem H. selbst zugeschrieben werden,
darunter „Über die Epilepsie“ und „Über die Umwelt“. Entscheidend war die Ab-
sage an magisch-religiöse Ideen und die natürliche Erklärung von Krankheit aus
dem Ungleichgewicht der Körpersäfte. Auf die Schule des H. werden Aderlaß, Ab-
führmittel und Schröpfköpfe zurückgeführt, besonders aber auch bis heute gültige
hygienische und ethische Richtlinien für den Arzt.
Marcellus Empiricus « von Bordeaux »: lebte im 4./5. Jahrhundert nach Chr. und
stammte aus Gallien bzw. Südfrankreich; er führte hohe Staatsämter unter den
Kaisern Theodosius I und Arcadius. Im Jahre 408 stellt er für seine Söhne ein Arz-
neibuch (De medicamentis liber) zusammen, dessen 36 Kapitel aus Schriften der
Medicina Plinii, aus Pseudo-Apulejus und aus der Volksmedizin schöpfen. Es ent-
hält zahlreiche performative Heilspruchtexte und Heilpflanzennamen, die von sei-
ner gallischen Heimat zeugen.
a) Innerhalb Text
Abb. 00 Titelbild. Schemenhafte Darstellung eines großen Krampfanfalls, Miniatur aus Bart-
holomäus’ Buch der Eigenschaften, BN Paris, aus: Brandt, Daniela- Maria: Epilepsie
im Bild, Geigy Pharma Wehr, 1985/86
Abb. 01 Schema der emotional- vegetativen Neuronenverbindungen, aus: CIBA Collection
of medical illustrations, Vol.I, 1974, S. 152
Abb. 02 Die zentrale Hörrinde. Aus: Benninghoff- Goerttler: Lehrbuch der Anatomie Bd.
III; rechts: Nachzeichnung einer kernspintomografischen Aufnahme
Abb. 03 Die Taufe der heiligen Ottilia durch Bischof Erhard. Passionale des Benediktinerklo-
sters Zwiefalten, 12. Jahrh. (Landesbibl. Stuttgart), aus: Löffler, K.: Schwäbische
Buchmalerei, Augsburg 1928, Tafel 33
Abb. 04 Jesias, Jeremias und Simeon. Nordportal der Kathedrale von Chartres, Foto W.E.
Abb. 05 Alte Vorstellungen zur Anatomie der menschl. Gebärmutter. Links und Rechts :
Mailänder Michael-Scotus-Handschrift; Anthropologium des Magnus Hundt, Mit-
te: Guido da Vigevano, aus: Reisert, Robert, Pattensen 1986
Abb. 06 Bärmutterbeschwörung (Ausschnitt) St. Galler Codex 752, fol.159
Abb. 07 Votivbild der Annakapelle Sulzbach/Opf. Foto W.E.
Abb. 08 Christus heilt den Gichtbrüchigen. Mosaik San Apollinare, Ravenna, aus: Schiller,
Gertrud: Ikonographie christl. Kunst, Abb. 435
Abb. 09 Der Bamberger Blutungs- und Wundsegen, Staatsbibl. Bamberg Msc.Med. 6,
fol.139rb
b) Farbtafeln
Tafel 11 Die Mitwirkung des heiligen Ulrich bei der Schlacht am Lechfeld (Ausschnitte).
Deckengemälde (1757) der Kirche von Eresing/ Obb. Foto W.E.
Tafel 12 Heilung des Blindgeborenen. St. Georg Oberzell, Reichenau. Museumsrepro mit
Nachzeichnung. Foto W.E.
Tafel 12 Christus als Arzt und Apotheker. Rotholz, Inntal in Tirol (um 1800), ehemals Gna-
denkapelle „Zum himmlischen Doktor“ Foto W.E.
Tafel 12 Christus heilt einen Wassersüchtigen. Codex aureus Epternacensis, Echternach
1030, aus: Walther, Ingo F. und Norbert Wolf: Codices illustres, Taschen 2001, S.
131
Abbildungsnachweis:
Biedermann, Hans: Medicina antiqua, Adeva (Akad. Druck- und Verlagsanstalt Graz) 1986³,
S. 78: Abb. 59
Brandt, Daniela-Maria: Epilepsie im Bild, Geigy Pharma Wehr, 1985/86, S. 25, 63, 95: Abb. 25,
Tafel 3
CIBA Collections of medical illustrations, Vol. I, 1974,152: Abb. 01
Dinzelbacher, Peter: Himmel.Hölle.Heilige. Darmstadt 2002, S. 143, 99: Abb. 10, Tafel 7
Doepler, Emil und W. Ranisch: Walhall. Berlin 1900, S. 13,14: Tafel 4
Duft, Johannes: Notker medicus, St. Gallen 1972, Tafel III: Abb. 78
Embach, Michael: Die Kreuzesschrift des Hrabanus Maurus, Trier 2007, S. 69, 67: Abb. 73
Franz, Adolph: Das Rituale von St. Florian, Freiburg/Br. 1904, Tafeln 5b und 2: Abb. 39, 75
Froehner, Reinhard: Kulturgeschichte der Tierheilkunde II, Konstanz 1954, S. 98: Abb. 77b
Gnirss, F. Psychopathologie und bildn. Ausdruck, Sammlg. Serie 12 (Hg. Sandoz Basel 1967):
Tafel 8
Hildegard von Bingen: Scivias, Otto Müller-Verlag Salzburg 1954, Tafeln 1,3,5: Abb. 51, 82
King, Francis: Magie. Frankfurt 1976, Abb. 43: Tafel 9
Legner, Anton (Hg.): Monumenta Annonis, Köln 1975, S. 151: Abb. 29
Löffler, K.: Schwäbische Buchmalerei, Augsburg 1928, Tafel 33: Abb. 03
Mende, Ursula: Die Bronzetüren des Mittelalters, München 1994, Tafel 218: Abb. 86
Müller-Thalheim, Wolfgang: Kunsttherapie (Hg. W. Pöldinger), München 1991, S. 71, 49: Abb.
50b, Tafel 8
Reisert, Robert: Der siebenkammerige Uterus, Pattensen (Diss.) 1986: Abb. 05
Römer-Illustrierte, Römisch-Germanisches Museum Köln, I,1974, S. 90: Abb. 31
Salzburger Armenbibel, Faksimile 1983, V1,9: Tafel 1
Schild, Wolfgang: Die Maleficia der Hexenleut’, Schriften d. Kriminalmus. Rothenburg, Nr. 1:
Abb. 66
Seligmann, Siegfried: Der böse Blick, Berlin 1910: Abb. 58
Sieber, Friedrich: Volk und volkstüml. Motivik im Festwerk des Barocks, Berlin 1960, Tafel
86,87: Abb. 46,65
Spektrum der Wissenschaft (Gehirn und Geist) Nr. 1/2002, S. 83: Tafel 5
Stollreither, Eugen: Bildnisse des IX.–XVIII. Jahrhunderts der BSB, Teil I, München 1928, Tafel
14: Abb. 84
Walther, Ingo F. und Norbert Wolf: Codices illustres, Taschenverlag 2001, S. 131: Tafel 6
Weindel, Philipp: Das Bronzetor des Speyerer Domes, Speyer 1974, S. 115: Abb. 83
Zglinicki, F.von: Geburt. Kulturgesch. in Bildern, Braunschweig 1983, S. 49,131,220: Abb. 32,
34, 35, 36
Gnirss, F. Psychopathologie und bildn. Ausdruck, Sammlg. Serie 12 (Hg. Sandoz Basel 1967):
Tafel 8
Hildegard von Bingen: Scivias, Otto Müller-Verlag Salzburg 1954, Tafeln 1,3,5: Abb. 51, 82
King, Francis: Magie. Frankfurt 1976, Abb. 43: Tafel 9
Legner, Anton (Hg.): Monumenta Annonis, Köln 1975, S. 151: Abb. 29
Löffler, K.: Schwäbische Buchmalerei, Augsburg 1928, Tafel 33: Abb. 03
Mende, Ursula: Die Bronzetüren des Mittelalters, München 1994, Tafel 218: Abb. 86
Müller-Thalheim, Wolfgang: Kunsttherapie (Hg. W. Pöldinger), München 1991, S. 71, 49: Abb.
50b, Tafel 8
Reisert, Robert: Der siebenkammerige Uterus, Pattensen (Diss.) 1986: Abb. 05
Römer-Illustrierte, Römisch-Germanisches Museum Köln, I,1974, S. 90: Abb. 31
Salzburger Armenbibel, Faksimile 1983, V1,9: Tafel 1
Schild, Wolfgang: Die Maleficia der Hexenleut’, Schriften d. Kriminalmus. Rothenburg, Nr. 1:
Abb. 66
Seligmann, Siegfried: Der böse Blick, Berlin 1910: Abb. 58
Sieber, Friedrich: Volk und volkstüml. Motivik im Festwerk des Barocks, Berlin 1960, Tafel
86,87: Abb. 46,65
Spektrum der Wissenschaft (Gehirn und Geist) Nr. 1/2002, S. 83: Tafel 5
Stollreither, Eugen: Bildnisse des IX.–XVIII. Jahrhunderts der BSB, Teil I, München 1928, Tafel
14: Abb. 84
Walther, Ingo F. und Norbert Wolf: Codices illustres, Taschenverlag 2001, S. 131: Tafel 6
Weindel, Philipp: Das Bronzetor des Speyerer Domes, Speyer 1974, S. 115: Abb. 83
Zglinicki, F.von: Geburt. Kulturgesch. in Bildern, Braunschweig 1983, S. 49,131,220: Abb. 32,
34, 35, 36
Agrippa von Nettesheim: Magische Werke Aussee (Markt) St. L.A. Sond. Archiv: 286
(Ausgabe Berlin 1916): 98
„Albertus Magnus Braband“: 79, 329 Bamberg Staatsarchiv msc. Med. 6: 62; msc.
„Albertus Magnus Toledo“: 56, 127 Med. 37: 205; msc. misc. 451: 254; RepA
„Albertus Magnus Ulm“: 339 245 VI: 25, 204
Amberg Staatsarchiv Rel. und Ref. 2,333: 40 Basel Staatsarchiv Basel BS, Adel M3,2: 282
Augsburg Stadtarchiv Urgichtenakten, Straf- Basel Stadtarchiv Leistungsbuch 1407: 175
buch: 168 Basel UB Ms FIII. 15a: 145, 117
Agrippa von Nettesheim: Magische Werke Aussee (Markt) St. L.A. Sond. Archiv: 286
(Ausgabe Berlin 1916): 98
„Albertus Magnus Braband“: 79, 329 Bamberg Staatsarchiv msc. Med. 6: 62; msc.
„Albertus Magnus Toledo“: 56, 127 Med. 37: 205; msc. misc. 451: 254; RepA
„Albertus Magnus Ulm“: 339 245 VI: 25, 204
Amberg Staatsarchiv Rel. und Ref. 2,333: 40 Basel Staatsarchiv Basel BS, Adel M3,2: 282
Augsburg Stadtarchiv Urgichtenakten, Straf- Basel Stadtarchiv Leistungsbuch 1407: 175
buch: 168 Basel UB Ms FIII. 15a: 145, 117
Köln Institut für Altertumskunde der Uni- Nürnberg GNM Hs 5832: 68, 298; Hs
versität Inv. 5514: 182 28909: 90
Königslutter Stadtarchiv Hd I Gr.2: 96 Nürnberg Staatsarchiv Rst. Kirchen u.
Ortsch. auf dem Lande Nr. 454: 284
Lambach Stiftsbibliothek Hs 247: 165 Nürnberg Stadtbibl. Cod Amb. 55 (Ed.
Lehmann, Christian: Hist. Schauplatz Telle): 102, 199, 200, 325
Ober- Ertzgebirge, Leipzig 1699: 202,
339 Paris BN Cod. Parisinus 2316: 186 ; Cod
Leiden UB Bibl. Voss. lat. 8°15: 23 lat. 1153: 326 ; Cod Nouv.Acqu. lat.
Linz OÖLB Hs 33: 138 229: 86, 110
London Brit. Libr. Arundel MS 295: 89; Physiologus (Ed. Seel): 279, 280, 347, 356
Harley MS 585: 332 Pirckheimer, Willibald (Ed. Kirsch): 48
Luxemburg BN Hs 27: 155 Plinius Nat. hist.: 244, 316
Prag Tsch. NB Hs XXIII G33 (olim Bibl.
Marcelli De Medicamentis (Ed. Helmreich, Lobkowitz): 77
Ed. Niederhellmann): 126, 147, 335
Marburg UB Ms 26 (III): 154, 198 Regensburg Stadtarchiv Nachlass Schön-
Marktleuthen Stadtarchiv Band 30: 96, werth: 237, 329
107, 180, 248, 288 Rom Bibl. Apost. Vat. Cod. Vat. lat. 5359:
Mechthild von Magdeburg (Ed. Vollmann- 86; Cod. Palat. lat. 832: 76; Palat. lat.
Profe): 162, 166 1245: 137; Palat. lat. 1293: 342
Memmingen Stadtbibl. Cod.2,39: 85, 275 Rostock Stadtbibl. Protokoll Niedergericht
Mon. Germ. Hist. Deutsche Chroniken von 1576: 258, 289
I,1,200: 105; Script. II,11: 216 Ryff, Walter Hermenius: New Kochbuch
München BHStA Benediktbeuern Kl. Ltr. (Ed. Egenolff 1545): 47
32,20: 85
München BNM Segensammlung Kriss KrZ Sankt Florian Bibl. des Chorherrenstifts Hs
607: 78 XI 467: 303
München BSB Cgm 37: 234; Cgm 54: 30, Sankt Gallen Stiftsbibl. Cod. 111: 277;
56, 188, 235, 236; Cgm 92: 246; Cgm Cod. 452: 316; Cod. 550: 198; Cod.
467: 55, 351; Cgm 723: 38; Cgm 796: 522: 293; Cod. 751: 136; Cod. 755: 95,
283; Cgm 823: 287; Cgm 850: 293, 153, 351; Cod. 1164: 83, 201
311; Cgm 4426: 363; Cgm 5919: 88; Sankt Trudperter Hohelied (Ed. Ohly): 173
Clm 100: 89; Clm 444: 337; Clm 536: Schlägl Stiftsbibl. Cod. 194: 321
147; Clm 849: 203, 221; Clm 4321: 54; Solothurn ZBibl. Cod. S 386: 140
Clm 4350: 198, 279, 364; Clm7021: Speth, Eugen: Emblematische Weingar-
102, 139, 154, 164; Clm 11601: 293; tener Hl. Blut- Geschichte 1694: 72
Clm 14179: 117; Clm 14453: 28; Clm Straßburg Nat. und UB L.germ. 659: 293
14472: 23; Clm 14569: 74; Clm 14763: Straßburg Stadtbibl. Hs. 500: 157
111; Clm 18956: 149; Clm 23119: 67; Stromayer, Caspar: Practica cop. (1559–67)
Clm 23374: 309; Clm 23390: 153; Clm (Ed. Keil/Proff ): 67
23435: 103, 234, 238; Clm 27152: 187; Stuttgart Württbg. LB Cod Phys 4° Nr. 29:
München UB Fragment 135: 291; Cod.ms. 55, 256; HB II 25: 301
691: 155; Cod.ms.731: 197
Tissot, S.A. Von den Krankheiten vorneh-
Niederalteich Cod. Jen. d. Necrol. Alta- mer und reicher Personen 1770: 47
hense: 155, 336
Trier Stadtbibl. Hs 40/1018: 82, 136, 147, 199, 201, 293, 333, 334; Cod. 3071:
242, 268, 275, 278, 326 102; Cod. 5166: 343; Cod. 5259: 55;
Tüchersfeld Fränk.-Schweiz- Museum Rep. Cod. 13647: 244
B Nr.L71 (E1042): 41 Wiesbaden Hauptstaatsarchiv 369/209,9:
206
Utrecht UB Med. Hs 1355: 86 Wolfsthurn Bibl. Freih. von Sternbach
Hausmittelbuch: 39, 93, 155, 156, 279,
Vergil Aeneis (Ed. Götte): 139 281, 334
Wunsiedel Fichtelgebirgsmus. Hs C
Wernigerode Fürstlich Stolberg- Wernige- 213/2823: 33, 50, 179, 191, 237
rode Bibl. Hs Zb 4m: 164
Wien ÖNB Cod. 552: 278; Cod. 1705: Zürich ZBibl. Ms C 101: 293; Ms Rh 51:
81; Cod. 1953: 160; Cod. 2505: 101; 73; Ms Rh 67: 320
Cod. 2817: 75, 76, 94, 103, 148, 188,