Die nachträgliche Gesamtstrafe gem. § 460 StPO, Begleitlehrgang LG Dortmund SVR – Von
Thomas Friese, StA Arnsberg und Gerd Hildebrandt, StA Bochum
1. Gesamtstrafenbildung im Urteil (§ 53 StGB) bei Tatmehrheit ist Sache des Gerichtes (Idealfall)
1. rechtskräftige Verurteilung
3. frühere Strafe zum Zeitpunkt des späteren Urteils nicht vollstreckt, verjährt oder erlassen
b. frühere Strafe zum Zeitpunkt des späteren Urteils nicht vollstreckt, verjährt oder erlassen
Beachte: Die Einzel-Geldstrafe darf höchstens 360 Tagessätze betragen, § 40 Abs. 1 S. 2 StGB,
die Gesamt-Geldstrafe höchstens 720 Tagessätze, § 54 Abs. 2, S.2 2. Hs. StGB, zeitige Einzel-
oder Gesamt-Freiheitsstrafe darf nicht mehr als 15 Jahre (im Gegensatz zur lebenslangen
Freiheitsstrafe) betragen, § 54 Abs. 2 S. 1. Hs StGB.
Verjährung: BGH 30, 234, Bei Gesamtstrafe entscheidet deren Höhe. Ab Rechtskraft der
Gesamtstrafe läuft die Verjährungsfrist von neuem!
Beispielfall:
Erlassen
Urteil
24.07.13
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10.00 Uhr
1. Verfahren von Amts wegen, im Einzelfall Antrag des VU als Anregung (ggf. Ausdeutung gem. §
133 BGB analog. Beispiel: Antrag auf „Zusammenführung“.
2. Die Voraussetzungen zur Bildung einer nachträglichen Gesamtstrafe sind in den §§ 460 StPO, 55
Abs.1 StGB aufgeführt:
a. Verschiedene Urteile, § 460 StPO, aber ein rechtskräftiger Strafbefehl steht einem rechtskräftigen
Urteil gleich, § 410 Abs. 3 StPO
b. Rechtskraft der Entscheidungen
Alle Entscheidungen sind rechtskräftig entweder durch
aa. Ablauf der Rechtsmittelfrist beim Strafbefehl gemäß §§ 410 I 1, 43 StPO, bei Urteilen gemäß
§§ 314, 341, 43 StPO, oder durch
bb. Rechtsmittelverzicht oder - Rücknahme gemäß § 302 StPO oder
cc. durch Revisionsentscheidung. (§§ 349, 34 a StPO)
3. Hier ist eine detaillierte Prüfung nur im Zweifelsfall nötig. War das frühere Urteil zum Zeitpunkt des
2. Urteils nicht rechtskräftig und eine Einbeziehung daher gem. § 55 StGB nicht möglich, schadet
das nicht, solange alle Urteile bei der Gesamtstrafen-Beschlussfassung rechtskräftig sind.
4. Gem. § 460 StPO muss § 55 StGB muss außer Betracht geblieben sein, d.h. die gesetzlich
vorgeschriebene Gesamtstrafe wurde im Urteil nicht gebildet
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aa. Die dem späteren Urteil zugrundeliegende Tat muss vor dem früheren Urteil begangen worden
sein.
bb. Zunächst ist festzustellen, ob eine umfassende Gesamtstrafe möglich ist, falls nein, warum? Hier
wurde die letzte Tat nach dem ersten Urteil begangen.
cc. Somit sind alle Urteile einzeln zu prüfen und alle Möglichkeiten aufzulisten
Bereits gebildete Gesamtstrafen sind bei der Prüfung außer Acht zu lassen, da sie in ihre
Einzelstrafen aufzulösen sind, wenn alle weiteren Voraussetzungen der §§ 460 StPO, 55 Abs.1
StGB erfüllt sind, (Fischer, § 55 StGB, Rnd.8)
2+3, 2+4, 3+4 Somit kann umfassend aus 2+3+4 gebildet werden unter Auflösung
4+5 die Tat (15.07.2013) aus Ziffer 5 wurde zwar nach Erlass des SB des
AG Recklinghausen vom 03.06.13 begangen, aber vor dem tatrichterlichen Urteil vom 24.07.2013
6+7 Entscheidungsdatum aus Ziffer 6 und Tat aus Ziffer 7 fallen beide auf den 01.09.2015. Laut
Tabelle wurde die Tat aus Ziffer 7 vor der Entscheidung Ziffer 6 begangen, vgl. Uhrzeiten.
Im Zweifel für den Verurteilten, falls Feststellung der Tatzeit nicht möglich, BGH, 4 StR 484/06. Bei
dem früheren Urteil kommt es auf das Datum der letzten tatrichterlichen Entscheidung an (BGH, 5
StR 486/08), bei Rechtsmitteln, Rechtsbehelfen auf das letzte tatrichterliche Einspruchs-,
Berufungs- oder Wiederaufnahme-Urteil.
6. Da eine Mehrfacheinbeziehung gemäß Art. 103 Abs.3 GG (Doppelbestrafung) unzulässig ist, ist
nunmehr zu prüfen welche Gesamtstrafe (2+3+4 oder 4+5) neben 6+7 zu bilden ist.
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Daher muss im vorliegenden Fall eine nachträgliche Gesamtstrafe gebildet werden aus 2+3+4 und
6+7.
8. Die Strafen aus den früheren Verurteilungen dürfen zum Zeitpunkt der später ergangenen
Entscheidung nicht vollstreckt, verjährt oder erlassen sein
Bezüglich der Gesamtstrafe aus Ziffer 2+3+4 ist Ziffer 2 teilweise gezahlt, also nicht erledigt. Ziffer
4 ist vollständig gezahlt (29.12.2014), das ist aber unbeachtlich, da Ziffer 4 die letzte Entscheidung
ist. Es darf aber die frühere Strafe nicht vor dem späteren Urteil erledigt sein.
Bezüglich der Gesamtstrafe aus Ziffer 6+7 läuft die Bewährungszeit noch bis zum 31.08.2018, also
bis nach Erlass der Entscheidung zu Ziffer 7.
Vollständige Erledigung zum Zeitpunkt der Beschlussfassung gem. § 460 StPO schadet nicht,
solange nicht alle Strafen erledigt sind.
Ziffer 2+3+4 unter Auflösung der Gesamtstrafe des AG Herne vom 05.08.2013
a) Ziffer 6+7
Zuständig für die Bildung der nachträglichen Gesamtgeldstrafe aus 2+3+4 ist das AG
Recklinghausen gemäß § 462a Abs.3 Satz 1 und 2, 2. Alternative StPO.
Die Zuständigkeits-Prüfung orientiert sich nur an Einzelstrafen, nicht an
Gesamtstrafen, da nur aus Einzelstrafen eine nachträgliche Gesamtstrafe gebildet werden kann.
Zuständig für die Bildung der nachträglichen Gesamtstrafe aus Ziffer 6+7 ist das Amtsgericht
Essen gemäß § 462a Abs. 3 Satz 1 und 2, 1. Alternative StPO.
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10. Strafrahmen
zu Ziffer 2+3+4:
Gemäß § 54 Abs.1 und 2 StGB ist grundsätzlich eine Gesamtgeldstrafe zwischen 51 Tagessätzen
und 119 zu je 15,00 Euro möglich (höher als die höchste Einsatzstrafe, niedriger als die
Gesamtsumme der Tagessätze).
War schon eine Gesamtstrafe gebildet, so ist ihre Höhe die unterste Grenze der neuen
Gesamtstrafe, BGH 7, 180, 183, gleichzeitig darf die neu zu bildende Gesamtstrafe die bereits
gebildete Gesamtstrafe um nicht mehr als die Summe der neu einzubeziehenden Einzelstrafen
überschreiten, BGH, 4 StR 304/04, d.h. im obigen Fall, die Gesamtstrafe darf 50 TS betragen,
höchstens aber 100, eine Erhöhung der 50 TS ist nicht zwingend, ebenso wenig muss die neue
Gesamtstrafe unter 100 TS bleiben. § 54 Abs. 1 und 2 StGB finden hier keine Anwendung
zu Ziffer 6+7:
a. Gemäß den §§ 54 Abs. 3, 39, 58 StGB ist eine Gesamtfreiheitsstrafe zwischen 3 Monate und 1
Woche und 4 Monate und 2 Wochen unter Aussetzung zur Bewährung möglich, z.B. 4 Monate zur
Bewährung
b. Möglich ist auch, von der nachträglichen Gesamtstrafenbildung durch Beschluss abzusehen, § 53
Abs.2 StGB. Dies ist nur bei Zusammentreffen von Freiheitsstrafe und Geldstrafe möglich. Bei
gleichartigen Strafen ist die Bildung einer Gesamtstrafe zwingend notwendig.
StPO
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Eine sehr gute Zusammenfassung zu fast jedem Problem des § 55 StGB findet sich hier:
http://www.wiete-strafrecht.de/User/Darstellung/StGB/55%20StGB.html
Zur Zäsurwirkung:
Gesamtstrafenbildung nur für die bis dahin begangenen Taten möglich ist,
Das kann ein tatrichterliches Berufungsurteil sein, BGH 3 StR 448/01, auch wenn das
Berufungsurteil nur die Strafaussetzungsfrage betraf, vgl. BGH, 5 StR 211/04;
Bei einem Strafbefehl kommt es auf den Zeitpunkt des Erlasses an (nicht etwa den der Zustellung),
es sei denn nach Einspruch wird durch Urteil entschieden, BGH, 2 StR 513/90, auch dann, wenn
infolge Beschränkung des Einspruchs auf den Rechtsfolgen-ausspruch nur noch zur Straffrage
verhandelt wurde, BGH, 2 StR 286/00
Sieht der Tatrichter ausdrücklich und fehlerhaft von der möglichen Gesamtstrafenbildung ab, liegt
darin ein Erörterungsmangel.
…Die fehlerhaft unterbliebene Gesamtstrafenbildung kann nur mit einem Rechtsmittel (Berufung
oder Revision) gerügt werden; eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung ist in diesen Fällen durch
die Staatsanwaltschaft als nicht zulässig abzulehnen. Liegen notwendige Beiakten nicht vor oder
sagt er gar nichts, ist ein Erörterungsmangel nicht gegeben.
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Sieht das Gericht von der nachträglichen Bildung einer Gesamtfreiheitsstrafe aus einer
Freiheitsstrafe und einer Geldstrafe gemäß § 53 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1, § STGB § 55 Abs.
STGB § 55 Absatz 1 StGB ab, bleiben die ursprünglichen Straferkenntnisse als selbstständige
Entscheidungen und alleinige Grundlage für die jeweilige Vollstreckung bestehen.
BGH StraFo 2004, 430 f.; Fischer, StGB, 61. Aufl., § 56f Rn. 19a.
Beachte: Auf eine einbezogenen Geldstrafe darf grundsätzlich nicht mehr gezahlt werden, auch
freie Arbeit ist hierfür nicht mehr zulässig!
Bei einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung muss eine früher gebildete Gesamtstrafe, bei der
die Festsetzung von Einzelstrafen im Urteil unterblieben war, außer Betracht bleiben. Sie darf nicht
als Einzelstrafe für die nachträgliche Gesamtstrafenbildung herangezogen werden.
Nach Auslieferung für bestimmte Straftaten steht der Grundsatz der Spezialität der Einbeziehung
früherer Straftaten entgegen, deren Vollstreckung die ausländische Behörde nicht zugestimmt
hatte,
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Eine rechtskräftig verhängte Geldstrafe kann gemäß § 55 StGB in eine Verwarnung mit
Strafvorbehalt einbezogen werden
War dem Erstrichter eine oder mehrere einbeziehungsfähige Strafen unbekannt geblieben oder
hatte er die Notwendigkeit der Einbeziehung übersehen, so ist das Berufungsgericht nach § 331
Abs. 1 StPO zwar grundsätzlich nicht daran gehindert, eine nachträgliche Gesamtfreiheitsstrafe zu
bilden (vgl. MeyerGoßner, StPO, 54. Aufl., 2011, § 331, Rdnr. 20, mwN). Jedoch darf das neue
Gesamtstrafübel - unter Abzug der einzubeziehenden Strafen- nicht über dem des Urteils erster
Instanz liegen.
Das Berufungsgericht ist durch das Verschlechterungsverbot des § 331 Abs. 1 StPO nicht
gehindert, ans der in seinem Verfahren ausgesprochenen Geldstrafe und einer anderweit
rechtskräftig verhängten, dem Erstrichter unbekannt gebliebenen Freiheitsstrafe eine
Gesamtfreiheitsstrafe zu bilden.
Bereits erledigte Maßnahmen sind bei der Gesamtstrafenbildung nicht aufrecht zu erhalten. Z.B.
bei Einziehung geht das Eigentum bereits mit Rechtskraft auf den Justizfiskus über, erledigte
Fahrverbote und abgelaufene Fahrerlaubnissperren.
Zum Verschlechterungsverbot:
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KG Berlin, 1 Ss 113/00,
Der Verurteilte ist durch das Absehen von der Gesamtstrafenbildung gem. § 53 Abs. 2 S. 2 StGB
nicht beschwert, außer die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe läuft bereits oder steht
unmittelbar bevor.
Der Angeklagte ist nach den Feststellungen arbeits- und vermögenslos. Zuletzt leistete er
„Sozialstunden ab, um die Vollstreckung von Ersatzfreiheits-strafen aufgrund gegen ihn verhängter
… Geldstrafen abzuwenden“. Da …nicht ersichtlich ist, dass es ihm möglich ist, die Vollstreckung
der Ersatzfreiheitsstrafe …, insbesondere im Rahmen der Haft, durch freie Arbeit abzuwenden,
muss davon ausgegangen werden, dass er die noch verbleibende Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen
muss und … durch das Unterbleiben der Gesamtstrafenbildung benachteiligt sein kann.
Eine … erhebliche Erhöhung der Einsatzstrafe bei der Gesamtstrafen-bildung … erfordert eine
eingehende, nicht nur formelhafte Begründung.
Pflichtverteidigung:
Die Pflichtverteidigerbestellung endet –anders als die des Wahlverteidigers - grundsätzlich mit der
Rechtskraft des Urteils, wenn keine besondere Vollmacht oder Beiordnung, die er beantragen muss,
vorgelegt wird.
Ausnahmsweise wirkt eine im Hauptverfahren erfolgte Beiordnung eines Pflichtverteidigers für das
Nachverfahren fort, z.B. bei der Gesamtstrafenbildung gemäß § 460 StPO.
1. Die Zustellungsvollmacht des bestellten Verteidigers nach § 145a Abs. 1 StPO gilt auch für
Nachtragsentscheidungen nach § 460 StPO.
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2. Die auf Anordnung des Gerichts vorgenommene Zustellung eines Beschlusses über die
nachträgliche Bildung einer Gesamtstrafe an den Pflichtverteidiger der verurteilten Person gegen
Empfangsbekenntnis nach § 37 StPO i.V.m. § 174 Abs. 1 ZPO setzt den Willen des Verteidigers
voraus, das Schriftstück als zugestellt anzunehmen; dieser Wille kann auch konkludent zum
Ausdruck gebracht werden, ist aber unverzichtbar. Gilt nicht in der Vollstreckung!
Notwendige Abweichung von § 39 StGB:
Den Grundsätzen der Gesamtstrafenbildung kann (in Einzelfällen) nur entsprochen werden, wenn
unter Abweichung von § 39 StGB die zu bildende Gesamtfreiheitsstrafe von über einem Jahr nicht
nur nach Jahren und Monaten, sondern auch nach Wochen bemessen wird
Hier musste aus Einzelstrafen von 5 Monaten sowie 7 Tagessätzen in entsprechender Anwendung
des § 354 Abs. 1 StPO unter Abweichung von § 39 StGB die denkbar niedrigste Gesamtfreiheits-
strafe von fünf Monaten und 1 Tag gebildet werden.
BGH 7 180
In die neu zu bildende Gesamtstrafe sind auch solche Strafen einzubeziehen, für die
Strafaussetzung zur Bewährung gem. §§ 56 oder 57 StGB gewährt worden war. Die
Strafaussetzung wird gegenstandslos.
a.
In den Fällen, in denen die bereits verbüßte Strafzeit weniger als die Hälfte bzw. zwei Drittel (§§ 57
I,II StGB) der nachträglich gebildeten Gesamtstrafe beträgt; fehlt es an den Voraus-setzungen des
§ 57 StGB.
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b.
Die Aussetzung entfällt auch, wenn die Höhe des verbüßten Strafteils die sofortige
Aussetzung auch der Gesamtstrafe gestatten würde. In solchen Fällen wird die
Strafvollstreckungskammer nach Rechtskraft des Gesamtstrafen-Beschlusses den Strafrest der
neuen Gesamtstrafe erneut aussetzen. Im Übrigen ist die Art und Weise der Strafaussetzung bei
nachträglichen Gesamtstrafen durch § 58 II StGB geregelt. (abgelaufene Bewährungszeit ist zu
berücksichtigen)