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Research Collection

Doctoral Thesis

Feuerphilosophen
Alchemie als performative Metaphysik des Neuen

Author(s):
Baier, Sabine

Publication Date:
2014

Permanent Link:
https://doi.org/10.3929/ethz-a-010183048

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ETH Library
Feuerphilosophen
Alchemie als performative Metaphysik des Neuen

 
 
Sabine Baier
DISS ETH Nr.: 21892

Feuerphilosophen
Alchemie als performative Metaphysik des Neuen

Abhandlung
zur Erlangung des Titels
DOKTOR DER WISSENSCHAFTEN
der ETH Zürich
(Dr. sc. ETH Zürich)

vorgelegt von
Sabine Baier
Magister Artium (M.A.), Ludwig-Maximilians-Universität München
geboren am 13. Januar 1981
Staatsangehörigkeit: deutsch

Angenommen auf Antrag von


Prof. Dr. Michael Hampe
Prof. Dr. Andreas Kilcher
Prof. Dr. Gerd Folkers

2014

2
Abstract

(en) In my thesis I will reflect from a philosophical perspective on the nature of innovation resp.
the creation of the new by studying transmutational alchemy, i.e. a specific branch of early
modern alchemy. In a historical retrospective, early modern alchemy is usually considered to be
the ultimate „other“ in regard to modern rationality. Therefore, revisiting early modern trans-
mutational alchemy from a philosophical point of view holds the opportunity to reconsider the
creation of the new without postulating the modern equation of innovation and technological
progress that underlies present discourses on innovation and the new.
On that account, this dissertation differs substantially from common interpretational works. It
rejects the prevailing understanding of transmutational alchemy as a spiritualistic, protoscien-
tific, or technological project that supposedly aimed at objectified output such as gold or other
metallurgic products. In contrast, I will argue that transmutational alchemy is not about the
output per se. The philosopher’s stone will be understood as a symbolic emblem of the per-
formative creative process transmutational alchemy passes through rather than its reified
output. I propose to consider transmutational alchemy being a specific form of practical natu-
ral philosophy that reflects on natural creation not through discourse and text but through
material practice. I will call this way of philosophical reasoning performative metaphysics of
creation and innovation. The performative aspect of the alchemist’s practice implies a specific
individualized epistemic dimension of transmutation opposing the idea of an objective sym-
bolic knowledge. Hence, each transmutational process has to be considered unique and it has
to be accomplished individually anew by each adept. This epistemic individuality of the al-
chemical opus also manifests itself in the way alchemy is being perceived in historic retrospec-
tive until today. The astonishing polyphony or “metachrosis”, as I will call it, in historic interpre-
tations of alchemy will be discussed as a direct consequence of the epistemic individuality and
performativity of transmutational alchemy. In the second part of my thesis I will elaborate on
the key dimensions of alchemical creation by focusing on the close reading of one of the major
treatises of early modern transmutational alchemy, the Rosarium Philosophorum from 1550. In
the final part of my work, I will discuss these findings with regard to present discourses on
innovation. Furthermore, I will elaborate on the distinction between a performative material
philosophy of creation and a text and output oriented logo-centric philosophy by following the
historic terminology of “fire philosophy” on the one hand and “book philosophy” on the other.

3
(de) In der vorliegenden Arbeit geht es darum, anhand einer Fallstudie zum schöpferischen
Moment in der Transmutationsalchemie, das heisst einer spezifischen Ausprägung der früh-
neuzeitlichen Alchemie, die philosophische Reflexion auf das Wesen des Neuen im Medium
des Historischen zu öffnen. Der Blick auf das vermeintlich „Andere“ der Moderne, das sog. vor-
moderne Denken, bietet sich als methodologisches Korrektiv an, um die Frage nach dem We-
sen des Neuen insbesondere vor dem Hintergrund heutiger Innovationsdiskurse- und politiken
nicht vorschnell mit der Frage nach dem Wesen des technologischen Fortschritts kurzzu-
schliessen. Die Arbeit setzt sich dabei grundlegend von bisherigen Lesarten der Transmutati-
onsalchemie ab und versteht diese weder als ein technologisches, spiritualistisches noch als
ein protowissenschaftliches Unterfangen, dessen Ziel die Umwandlung von Metallen oder die
Herstellung eines bestimmten Endproduktes wie Gold gewesen wäre. Die Transmutationsal-
chemie wird im Gegensatz zu diesen verbreiteten Deutungen als eine sich in der stofflichen
Praxis vollziehende naturphilosophische Reflexion verstanden, als eine, wie ich es nennen
möchte performative Metaphysik des Schöpferischen und Neuen. Der Stein der Weisen wird
hierbei neu gelesen als ein emblematisches Signum für den Vollzug des Schöpferischen durch
den Adepten. Der performative Aspekt der transmutationsalchemistischen Reflexion auf die
natürliche Schöpfungskraft impliziert dabei eine grundlegend individualepistemische Dimen-
sion des Werkes, die sich einer modernen Vorstellung von objektivierbarem, symbolisch erfass-
barem Wissen widersetzt. Die naturphilosophische Reflexion auf das schöpferische Moment
realisiert sich in der Transmutationsalchemie, so die These, im performativen Vollzug des
Schöpfungsprozesses durch jeden einzelnen Adepten und seinen Stoffen aufs Neue. Diese
epistemische Individualität des transmutationsalchemistischen Werkes, so eine weitere These
dieser Arbeit, äussert sich gerade auch in der erstaunlichen Vielfalt der Deutungen der Alche-
mie in der Rückschau der historischen Rezeption, die im ersten Teil der Arbeit unter dem Begriff
der Metachrosis analysiert wird. Im zweiten Teil der Arbeit werden anhand einer dichten Lektü-
re des Rosarium Philosophorum, eines zentralen transmutationsalchemistischen Traktats von
1550, zentrale Dimensionen des Schöpferischen herausgearbeitet. Im letzten Teil der Arbeit
werde ich die alchemistische Schöpfung als Kontrast- und Reflexionsfolie für heutige Innovati-
onsdiskurse nehmen und abschliessend die Unterscheidung zwischen einer performativen und
eine textzentrierten naturphilosophischen Reflexion des Schöpferischen in Anlehnung an die
historischen Quellenbegriffe als Gegenüberstellung von „Feuerphilosophie“ und „Bücherphilo-
sophie“ diskutieren.

4
Inhalt

1   Bücher- und Feuerphilosophen   7  


 
2   Die Metachrosis der Alchemie   31  
2.1   Idioten und Betrüger   42  
2.2   Grenzenlose Neugier   53  
2.3   Transmutation des Geistes   74  
2.4   Technologisches Wunschdenken   100  
2.5   The Coral of Life   118  
 
3   Der Rosengarten der Philosophie   127  
3.1   Das Neue der Alchemie   135  
3.2   Die schöpferische Natur   148  
3.3   Die Zeit der Schöpfung   170  
3.4   Die vollkommene Mischung   205  
 
4   Das Feuerwerk   219  
 
5   Literatur   242  

6   Anhang   256  

5
Abbildungsverzeichnis
TITELBILD
AUTOR UND JAHR UNBEKANNT. AUS DEM PRIVATBESITZ VON C.G. JUNG. MIT FREUNDLICHER
GENEHMIGUNG DER STIFTUNG DER WERKE VON C.G. JUNG

ABBILDUNG 1
KUPFERSTICH VON 1537 VERGILIUS POLYDORUS, DER DINGE ERFINDUNG. AUGSBURG. 47

ABBILDUNG 2
FRANCIS BACON - NOVUM ORGANUM 1620 59

ABBILDUNG 3
NOSCE TEIPSUM - EMBLEM NACH PETER ISELBURG 1617 65

ABBILDUNG 4
TITELBLATT DES TRIPUS AUREUS VON 1677 85

ABBILDUNG 5
WOLF VERSCHLINGT KÖNIG, WELCHER SPÄTER IM NIGREDO VERBRANNT WIRD. AUS: MICHAEL
MAIER: ATALANTA FUGIENS 1618 93

ABBILDUNG 6
ROTWANGS LABORATORIUM (1927) QUELLE: FILMSTILL AUS METROPOLIS 117

ABBILDUNG 7
DER STAMMBAUM DES MENSCHEN. AUS "ANTHROPOGENIE" VON ERNST HAECKEL, 1874 118

ABBILDUNG 8
DARWINS KORALLE DES LEBENS VON 1837 120

ABBILDUNG 9
DAS ALCHEMISTISCHE BAD IM ROSARIUM PHILOSOPHORUM 157

ABBILDUNG 10
ALCHEMISTISCHE ZEUGUNG NACH VORIGER AUFLÖSUNG IM ALCHEMISTISCHEN BAD 159

ABBILDUNG 11
ALCHEMISTISCHER „LEYCHNAM“ IM BILDGEDICHT DES ROSARIUMS 191

ABBILDUNG 12
OUROBOROS ALS ALCHEMISTISCHES SYMBOL DER SUBLIMATION, AUS MICHAEL MAIER,
ATALANTA FUGIENS 1618 201

6
1 Bücher- und Feuerphilosophen

„Die Philosophen hätten niemals eine so große Vielfalt


und ein solches System von Farben zu beschreiben
sich bemüht, wenn sie es nicht gesehen und in Hän-
den gehalten hätten.“1

Die Alchemisten nannten sich selbst „Philosophen“. Und doch taucht keines
ihrer Werke im klassischen Kanon der heutigen Philosophie auf. Selbst die Wis-
senschaftsphilosophie scheut sich vor einer konkreten inhaltlichen Auseinan-
dersetzung mit alchemistischen Texten. Bestenfalls werden die praktizieren-
den Alchemisten – die Adepten – im historischen Vorbeigehen erwähnt, wenn
auf deren „Rolle“ im Zuge der wissenschaftlichen Revolution verwiesen wird.
Diese wird, je nach Lesart, als den wissenschaftlichen Fortschritt unterstützend
und fördernd gesehen, oder aber als ihn behindernd, aufhaltend. Einmal er-
scheinen die Adepten als Protochemiker, einmal als törichte Betrüger. Das
Goldmachen – dieser allzu bekannte kulturelle Topos – ist der Alchemie, wie
wir wissen, schliesslich niemals gelungen.

Die Wissenschaftsgeschichte hingegen hat die Alchemie seit einigen Jahrzehn-


ten für sich als Thema entdeckt und besetzt. Im Zuge des practical turns erfuhr
die Alchemie, nach fast jahrhundertelanger kultureller und wissenschaftlicher
Abwertung sowohl durch Chemiehistoriker wie auch durch Chemiker selbst,
einen ungemeinen Aufschwung und erfreut sich heute als Thema steigender
Beliebtheit mit einer stetig wachsenden Anzahl an Publikationen. Von Interes-
se sind dabei weniger das erfolglose Unternehmen der „Goldmacherei“ oder
gar dessen spirituelle Aspekte, die im letzten Jahrhundert noch C.G. Jung zu
fesseln vermochten, als vielmehr die praktischen, technischen und materiellen
Dimensionen der Alchemie. Welche Geräte und Verfahren benutzten die Adep-
ten? Welche Rolle kam der sogenannten „Decknamen-Kultur“ und der „Ge-

                                                                                                           
1
Rosarium Philosophorum, Band II, S. 12 (im folgenden durch „RP“ abgekürzt).
7
heimniskrämerei“ der Alchemisten zu? In welchem soziokulturellen Kontext
bewegten sich die Alchemisten? Wer profitierte von ihrer Arbeit? Welche un-
terschiedlichen Arten von Alchemie gilt es zu unterscheiden? Wie genau sah
ein alchemistisches Laboratorium aus? Welchen Beitrag leisteten die Alchemis-
ten für die aufkommende chemische Revolution usw.? Diese neueren For-
schungen zur Geschichte der Alchemie haben nicht nur dazu geführt, dass die
Alchemie heute zu den etablierten Themen der Wissenschaftsgeschichte zählt,
sondern auch dazu, dass in der Tat eine Reihe wichtiger Erkenntnisse über die
Alchemie als konkretes, materielles und soziokulturell eingebettetes Projekt
gewonnen werden konnten.2

Für die Philosophie hingegen ist die Alchemie nach wie vor ein unbeschriebe-
nes, um nicht zu sagen, unbeschreibbares Blatt. Die zahlreichen wissen-
schaftshistorischen Arbeiten in den letzten Jahren haben vor allem eines mehr
als deutlich gemacht: die Alchemisten waren nie reine Bücherphilosophen. Sie
waren Praktiker. Sie hantierten nicht nur mit Texten, sondern auch und vorran-
gig mit Stoffen und Gerätschaften aller Art. In ihrem Laboratorium unterzogen
sie die ihnen vorliegenden Stoffe vielfältigen Behandlungsmethoden, allen vo-
ran mithilfe des Feuers. Alchemisten waren keine Bücherphilosophen, sie wa-
ren Philosophen der Tat, der Praxis und der Stoffe. Sie waren Feuerphiloso-
phen.3

Da sich die heutige Philosophie selbst weniger als stofflich verfasste Praxis
wahrnimmt, denn mehrheitlich als analytisches Sprach- und Argumentations-
spiel, in dem, wenn überhaupt, das Lesen und Schreiben von Texten sowie das
Argumentieren und Diskutieren als Praxis in den Blick kommen, scheinen die
                                                                                                           
2
Vgl. dazu Kapitel 2.4 sowie die darin aufgeführte Literatur.
3
Vgl. zum Begriff des Feuerphilosophen: Telle, Joachim / Kühlmann, Wilhelm
(Hg.) 2001: Der Frühparacelsismus. Teil 1 – Frühe Neuzeit. Tübingen, S. 277f.
Kraus, Ludwig August 1831: Kritisch-etymologisches medicinisches Lexikon oder
Erklärung des Ursprungs der besonders aus dem Griechischen in die Medicin
und in die zunächst damit verwandten Wissenschaften aufgenommenen
Kunstausdrücke, zugleich als Beispielsammlung für jede künftige Physiologie
der Sprache. Wien, S. 637. Eichhorn, Johann Gottfried 1814: Litterärgeschichte.
Litterärgeschichte der drey letzten Jahrhunderte, Band 2. Göttingen, S. 905.
Pfingsten, Johann Hermann 1786: Journal für Forst-, Bergwerks-, Salz-,
Schmelzhütten-, Fabrik ..., Bände 1-2, Hannover, S. 106.
8
tatkräftigen vormodernen Feuerphilosophen auf den ersten Blick auch besser
in einer praxeologischen Wissenschaftsgeschichte aufgehoben zu sein.

Wenn die Alchemie schon nichts Ideelles von bleibendem Wert oder wirklich
Wahres habe produzieren konnte, so erscheint sie aus einer derart praxeologi-
schen Perspektive zumindest aufgrund ihrer technologischen Dimension für
die Entwicklung der modernen Gesellschaft und Wissenschaft wichtig. Der be-
kannte Alchemie- und Wissenschaftshistoriker William R. Newman geht in sei-
nem Buch „Promethean Ambitions“4 von 2004 sogar soweit, dass er die Feuer-
philosophen der Alchemie als die Erfinder des technologisch-praktischen Welt-
bezuges bezeichnet. Er erklärt die Adepten also zu Urvätern unseres heutigen
technologischen Denkens und Handelns, das sich vor allem durch das Vorha-
ben auszeichnet, die Natur beherrschen und überwinden zu wollen. Laut
Newman erkennen und verstehen wir die Natur seit der Alchemie nicht mehr
nur mit den Mitteln der Wissenschaft, sondern sind sogar imstande, sie damit
in unserem Sinne zu optimieren. Der moderne technologische Weltbezug liege
in den ehrgeizigen Zielen der frühneuzeitlichen Alchemisten begründet, da sich
diese, anders als etwa die Künstler der damaligen Zeit nicht damit begnügen
wollten, die Natur zu imitieren. Die Philosophen des Feuers wollten mehr, sie
hatten prometheische Ambitionen. Sie wollten, laut Newman, die Natur nicht
nur nachformen, sondern verbessern. Dieser praxeologischen Deutung nach
waren die frühneuzeitliche Adepten somit die ersten modernen Technologen.
Die Praxis der Alchemie wäre aus so einer Sicht demnach als konkrete Realisie-
rung eines technologisch-beherrschenden Weltbezuges zu verstehen.

Die Erforschung der Alchemie durch eine derart perspektivierte Wissenschafts-


geschichte rückt sie in die unmittelbare Nähe einer Thematik, die heute von
grosser gesellschaftlicher Bedeutung ist, nicht nur für die Wissenschaften
selbst, sondern darüber hinaus: Der historische Zugriff auf das prometheische
Projekt der Alchemie wird hier zur genealogischen Auseinandersetzung mit
einer Kultur der Innovation, die unsere Gesellschaft heute massgeblich prägt
und in deren Zentrum die Suche nach dem Neuen steht.

                                                                                                           
4
Newman, William R. 2004: Promethean Ambitions. Alchemy and the Quest to
Perfect Nature. Chicago, IL.
9
An dieser Stelle setzt auch die vorliegende Arbeit ein. Anhand einer Auseinan-
dersetzung mit einer spezifischen Ausprägung der, aus historischer Sicht,
überaus heterogenen Alchemie, der Transmutationsalchemie, wird es im Fol-
genden darum gehen, die heute so wichtige Reflexion auf das Wesen des Neu-
en im Medium des Historischen philosophisch zu öffnen. Der Blick auf das
vermeintlich „Andere“ der Moderne, das sog. vormoderne Denken, bietet sich
als methodologisches Korrektiv an, um die Frage nach dem Wesen des Neuen
nicht voreingenommen mit der Frage nach dem Wesen des technologischen
Fortschritts kurzzuschliessen. Die Arbeit setzt sich dabei grundlegend von bis-
herigen Lesarten der Transmutationsalchemie ab und versteht diese weder als
ein spiritualistisches, protowissenschaftliches noch als ein technologisches
Unterfangen, dessen Ziel die Umwandlung von Metallen oder die Herstellung
eines bestimmten Endproduktes wie Gold oder der Stein der Weisen wäre. Die
Transmutationsalchemie wird im Folgenden vielmehr als eine sich in der stoff-
lichen Praxis vollziehende naturphilosophische Reflexion verstanden, als eine,
wie ich es nennen möchte, performative Metaphysik des Schöpferischen und
Neuen. Der performative Aspekt der transmutationsalchemistischen Reflexion
auf die natürliche Schöpfungskraft impliziert dabei eine grundlegend individu-
alepistemische Dimension des Werkes, die sich einer modernen Vorstellung
von objektivierbarem, symbolisch erfassbarem Wissen widersetzt. Die natur-
philosophische Reflexion auf das schöpferische Moment realisiert sich, so die
These, im performativen Vollzug des Schöpfungsprozesses durch jeden einzel-
nen Adepten und seinen Stoffen aufs Neue. Diese epistemische Individualität
des transmutationsalchemistischen Werkes, so eine weitere These dieser Ar-
beit, äussert sich gerade auch in der erstaunlichen Vielfalt der Deutungen der
Alchemie in der historischen Rückschau.

Aus diesen Überlegungen folgt eine Zweiteilung der Untersuchung, die sich
auch im Aufbau der Arbeit widerspiegelt. Im ersten Schritt wird es darum ge-
hen, zentrale Stränge der wissenschaftshistorischen Rezeption der Alchemie in
ihrer jeweiligen Spezifik herauszuarbeiten. Die erstaunliche Spannbreite von
zum Teil offen konträren Deutungen in der historischen Rezeption der Alche-
mie wird dabei nicht als gewöhnliche Deutungsvielfalt retrospektiver Verge-
genwärtigungen eines historischen Unterfangens in den Blick genommen. Die

10
ausgesprochene Polyphonie der Rezeptionsgeschichte wird hier erstmals als
Ausdruck einer spezifischen epistemologischen Verfasstheit und prinzipiellen
Uneindeutigkeit des alchemistischen Textwissens verstanden, die unter dem
Begriff der Metachrosis diskutiert werden wird. Ausgehend von diesem Befund
werde ich in einem zweiten Schritt der Studie die Gründe für diese historische
Uneindeutigkeit herausarbeiten. Dies wird anhand einer Fallstudie zu einem
der zentralen transmutationsalchemistischen Traktate der Frühen Neuzeit,
dem Rosarium Philosophorum von 1550, geleistet, das in Hinblick auf seine na-
turphilosophischen Grundprämissen befragt wird, mit besonderem Fokus auf
die Frage nach dem Wesen natürlicher und alchemistischer Schöpfung.

Im Folgenden werden zunächst die zentralen Begriffe und Methoden der Stu-
die erläutert.

Die Frage des Neuen

Die Wissenschaftsforscherin und renommierte EU Wissenschaftspolitikerin


Helga Nowotny beschäftigt sich in ihrem Buch „Unersättliche Neugier“5 von
2005 mit der zentralen Bedeutung von Innovationen, die gewissermassen den
Output der Technowissenschaften bilden, für moderne Gesellschaften. Einer-
seits fordere die Gesellschaft und speziell die Ökonomie immer neue wissen-
schaftliche Innovationen. Andererseits bestehe die Gefahr möglicher uner-
wünschter, ja sogar gefährlicher Konsequenzen, die sich aus dieser unersättli-
chen Neugier und dem ungezähmten Bedürfnis nach dem noch unbekannten
Neuen durch Innovation ergeben könnten. Dennoch, trotz aller Sorgen werde
die sprichwörtliche Neugier, so Nowotny, letztlich überwiegen. Sie sei „immer
auf das Erforschen eines Raumes ausgerichtet, der noch für uns eingerichtet
werden muss“6. Die Suche nach dem Neuen, „das immer auch potentiell be-
drohlich“ ist, erlaube uns, mit der unbekannten und daher beängstigenden
Zukunft besser umzugehen.7 Nowotny befindet sich damit im Einklang mit ei-

                                                                                                           
5
Nowotny, Helga 2005: Unersättliche Neugier. Innovationen in einer fragilen
Zukunft. Berlin.
6
Ebd. S. 11.
7
Ebd. S. 10f.
11
nem etablierten gesellschaftlichen Technologieverständnis in der Tradition des
Bacon’schen Wissenschaftsprogramms8, das vor allem von der Frage der Na-
turbeherrschung sowie vom Nexus „Wissen und Macht“ geprägt ist. Indem
Naturgesetzmässigkeiten wissenschaftlich erkannt und technologisch domi-
niert werden, können sie zum eigenen Vorteil umgesetzt werden. Zusammen
mit weiteren Autoren entwickelt Nowotny ausgehend von dieser basalen Über-
legung eine wissenschaftspolitische Agenda, die sich als Innovationsmanage-
ment der Wissenschaften im „Modus 2.0“ versteht, als eine Perspektivverschie-
bung hin zu den Anwendungswissenschaften, die in enger Verbindung zur ge-
sellschaftlichen Entwicklung gedacht werden.9 Letzten Endes, so Nowotny,
komme es bei der Herstellung neuer technologisch realisierter Zukunftsszena-
rien nur auf ein ausgewogenes Verhältnis von Neugier, Innovationsdynamik,
Bedrohungsszenarien und Beherrschbarkeitskalkulationen an. Einfacher aus-
gedrückt: Innovationen sollten laut Nowotny ein ausgewogenes Verhältnis
vom Neuen zum bereits Bekannten herstellen.

Doch die Frage nach der Entstehung des Neuen ist nicht nur eine Frage der ge-
genwärtigen Wissenschaftspolitik und des gesellschaftlichen Innovationsma-
                                                                                                           
8
Vgl. dazu Kap.3.2.
9
Vgl. dazu Gibbons, Michael / Limoges, Camille / Nowotny, Helga / Schwartz-
mann, Simon / Scott, Peter / Trow Martin 1994: The New Production of Know-
ledge. The Dynamics of Science and Research in Contemporary Societies. Lon-
don. Sowie: Nowotny, Helga / Scott, Peter & Gibbons, Michael 2003: 'Mode 2′
Revisited. The New Production of Knowledge, in: Minerva 41, S. 179-194. Vgl. zur
weiteren Debatte des Innovationsmanagements: Kaku, Michio 1998: Visions.
How Science will Revolutionize the Twenty-First Century. Oxford; Greenfield,
Susan 2003: Tomorrow’s People. How 21st-Century Technology is Changing the
Way We Think and Feel. London; Shattuck, Robert 1996: Forbidden Knowledge:
From Prometheus to Pornography. New York; Ganswindt, Thomas (Hg.) 2004:
Innovation. Versprechen an die Zukunft. München; Erwin, Douglas H. / Krakau-
er, David C. 2004: Insights into Innovation. In: Science 304, S. 1117-1119; Hughes,
P. Thomas 1998: Rescuing Prometheus. New York; Evers, Adalbert / Nowotny,
Helga 1987: Über den Umgang mit Unsicherheit. Die Entdeckung der Gestalt-
barkeit von Gesellschaft. Frankfurt; Nowotny, Helga 1999: Es ist so. Es könnte
auch anders sein. Über das veränderte Verhältnis von Wissenschaft und Gesell-
schaft. Frankfurt; Nowotny, Helga (Hg.) 2005: Cultures of Technology and the
Quest for Innovation. New York; Grandin, Karl / Wormbs, Nina / Widhalm, Sven
(Hg.) 2004: The Science-Industry Nexus. History, Policy, Implications. Sagamore
Beach, MA.
12
nagements. Auch die Wissenschaftsphilosophie und -geschichte beschäftigt
sich zunehmend mit der „prometheischen“ Dimension moderner Wissenschaf-
ten.10 In diesem Kontext findet man verschiedene konzeptionelle Ansätze, die
das Hervorbringen des Neuen in der konkreten wissenschaftlichen Praxis nicht
nur als Entdeckung, sondern als Produktion beschreiben. Die Frage, wie genau
das Neue in der wissenschaftlichen Tätigkeit ins Spiel kommt, ist dabei episte-
mologisch höchst voraussetzungsreich und hängt damit zusammen, wie man
das Projekt, insbesondere das der experimentellen Wissenschaften, ganz
grundsätzlich auffasst. Dies soll mit einem kurzen Durchgang durch zentrale
wissenschaftstheoretische Konzeptionen der letzten Jahrzehnte kurz angedeu-
tet werden.

In der Wissenschaftstheorie Karl Poppers steht das Verfahren der Falsifikation


im Zentrum wissenschaftlicher Entwicklung. Das wirklich Neue stellt sich hier
somit als Negation bestehenden Wissens dar.11 Bei Thomas Kuhn hingegen er-
scheint das Neue zunächst in Form von Anomalien im Rahmen normaler Wis-
senschaft, die dann unter bestimmten Bedingungen einen Wechsel hin zu ei-
nem neuen mit dem alten inkommensurablen wissenschaftlichen Paradigma
forcieren.12 Anders als bei Popper ist bei Kuhn das neue Wissen durch einen
wirklichen Bruch mit dem alten Wissen gekennzeichnet. Anders als die Negati-
on kommt der Bruch der Form nach ohne Rückbezug auf bestehendes Wissen
aus. Bei Paul Feyerabend wiederum gewinnt das Neue eine spielerische, ja
anarchische Qualität, das sich schwerlich vollends systematisieren und konzep-
tualisieren lässt.13 In Stephen Toulmins Ansatz wiederum wird der wissen-
schaftliche Innovationsprozess evolutionär modelliert, in Form eines Selekti-

                                                                                                           
10
Zur ganzen Debatte um „Science as Practice“ siehe schon früh Andrew Picke-
ring 1992: Science as Practice and Culture, Chicago, IL. Aus einer rückblickend
kritischen Haltung zu dieser Entwicklung in der Wissenschaftsforschung siehe
Paul Forman: The Primacy of Science in Modernity, of Technology in Postmo-
dernity, and of Ideology in the History of Technology, in: History and Technolo-
gy 2007 23(1): S. 1-152.
11
Popper, Karl 1984: Logik der Forschung. Tübingen.
12
Kuhn, Thomas 1996: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt.
13
Feyerabend, Paul 1986: Wider den Methodenzwang. Frankfurt.
13
onsprozesses von Ideen (concepts).14 Auch im Zuge der Renaissance der Ausei-
nandersetzung mit der Rolle des Experiments im wissenschaftlichen Erkennt-
nisprozess in den letzten drei Jahrzeiten, dem sogenannten new experimenta-
lism, wurde der Frage nach dem Neuen eine konzeptionelle Bedeutung zuge-
messen.15 So dreht sich insbesondere die von Hans-Jörg Rheinberger entworfe-
ne Theorie der Experimentalsysteme um das epistemologische Problem, wie es
möglich ist, die Emergenz unvorhergesehener Ereignisse innerhalb eines tech-
nisch konfigurierten Labors zu erfassen.16 In seinem Ansatz geht er von einem
systemischen Zusammenspiel von technischer Reproduktivität, sogenannter
„Extimität“ des Forschersubjekts und semiotischer Differenzproduktion in ei-
nem komplexen Zeichengenerierungsprozess aus. Ein weiterer führender Ver-
treter der neueren Wissenschaftsforschung, der neben Hans-Jörg Rheinberger
als wichtiger Bezugspunkt für die vorliegende Arbeit dient, ist Bruno Latour.
Latours Theorie moderner Wissenschaft geht von einer grundlegenden Kritik
an der modernen Unterscheidung von Natur und Kultur aus, die er zugleich
aber als grundlegend für das naturwissenschaftliche Unternehmen sieht. Statt
dieser dichotomen Aufteilung der Erkenntnissphären setzt er ein relationales
Weltbild, in dem die prinzipielle Unterscheidung menschlicher und nicht-
menschlicher Akteure unterlaufen wird. In der symmetrischen Anthropologie
Latours wird Forschung weniger als Erkenntnisprozess im Sinne eines ausge-
zeichneten, weil auf Wahrheit abzielenden Repräsentationsverfahrens ver-
standen, denn als produktiver Prozess der Herstellung neuer ontischer Verbin-
dungen und Relationen im grossen Netzwerk der Welt. Das Neue, das bei La-
tour anders als etwa Rheinberger nicht ins Zentrum der Betrachtungen gerückt
wird, erscheint hier dennoch und je nach Betrachtungsweise in zweierlei Wei-
                                                                                                           
14
Toulmin, Stephen 1981: Voraussicht und Verstehen. Ein Versuch über die Ziele
der Wissenschaft. Frankfurt.
15
Siehe hierzu etwa Hacking, Ian 1983: Representing and Intervening. Introduc-
tory Topics in the Philosophy of Natural Science. Cambridge. Sowie: Heidelber-
ger, Michael / Steinle, Friedrich (Hg.) 1998: Experimental Essays – Versuche zum
Experiment. Baden-Baden.
16
Rheinberger, Hans-Jörg 2007: Historische Epistemologie zur Einführung.
Hamburg; Rheinberger, Hans-Jörg 1992: Experiment, Differenz, Schrift. Zur Ge-
schichte epistemischer Dinge. Marburg/Lahn; Rheinberger, Hans-Jörg 2006:
Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsyn-
these im Reagenzglas. Frankfurt.
14
se: zum einen im (Trug-)Bild einer grossen, sich weiter öffnenden Trennung
von Natur und Kultur als Entdeckung und zum anderen im (laut Latour ange-
messeneren) Bild der fortlaufenden Herstellung von sogenannten hybriden
Objekten, von Mischwesen also, die sich der Unterscheidung von natürlich und
künstlich prinzipiell entziehen.

Insbesondere die Latour’sche Reflexion auf die Produktion der modernen wis-
senschaftlichen Welt bietet sich als Bezugspunkt für eine Auseinandersetzung
mit der Alchemie in besonderer Weise an. Latours berühmtes Diktum „Wir sind
niemals modern gewesen“ zielt auf eine von ihm angenommene und angeru-
fene historische Kontinuität ab. Zwar basiert die epistemologische Verfasstheit
der Moderne auf einer kategorischen Unterscheidung der Sphären von Natur
und Kultur, jedoch sei die Wirklichkeit laut Latour besser im Modell eines netz-
werkartigen kosmischen Zusammenhangs aller Dinge und Wesen erfasst. La-
tour sieht sich hier in direkter Tradition eines vormodernen „analogistischen“
und damit kosmisch-relationalen Denkens, das etwa Michel Foucault promi-
nent der Alchemie zugeschrieben hat.17 Andererseits gibt Latour zu bedenken,
dass die Vormodernen sich der engen Verknüpfungen im Netz der Wesen und
Dinge anders als die Modernen allzu bewusst gewesen wären, und gerade da-
her aus Angst vor möglichen Konsequenzen vor einem Zuviel an Intervention in
das kosmische Gefüge zurückschreckten. Der vormoderne Mangel an Innovati-
on ist also laut Latour eine direkte Folge dieses stark vernetzen Denkens. Das
Neue spielte, so Latour, für die Vormodernen daher weder in Form von Entde-
ckungen noch als Erfindung und Produkt eine besondere Rolle.18

Trotz dieses von Latour vorgeschlagenen, aber letztlich nicht historisch ausge-
arbeiteten positiven Bezuges auf das vormoderne Denken, gilt insbesondere
die frühneuzeitliche Alchemie weiterhin nicht als angemessener Gegenstand
wissenschaftsphilosophischer Reflexionen. Zu stark scheint hier die Vorstel-
lung etabliert zu sein, dass die Alchemie ein zu geringes Mass an „Wissen-
schaftlichkeit“ aufweise, um der epistemologischen Analyse wert zu sein. Auch

                                                                                                           
17
Foucault, Michel 1971: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Human-
wissenschaften. Frankfurt.
18
Vgl. dazu Latour, Bruno 2008: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer
symmetrischen Anthropologie. Frankfurt.
15
ist die Alchemie offensichtlich nicht imstande gewesen, systematisch Neues zu
produzieren, geschweige denn ihr vermeintlich ultimatives Versprechen der
Herstellung von Gold zu erfüllen. Vor dem Hintergrund derartiger, populärer
kultureller Vorstellungen und darauf basierender Evidenzeffekte lässt sich
plausibel erklären, warum sich die Wissenschaftsphilosophie nicht mit der Al-
chemie auseinandersetzt. Die Ergebnisse der neueren, praxeologisch ausge-
richteten Wissenschaftsgeschichte machen jedoch auch aus philosophischer
Sicht eine Neubewertung der Sachlage erforderlich. Hier konnte gezeigt wer-
den, dass die Alchemie durchaus Neues produzierte und entdeckte, angefan-
gen bei einzelnen Stoffen, wie beispielsweise Phosphor, bis hin zu Verfahren,
Methoden und Geräten. Auch konnte eine vor allem praktische und materielle
Kontinuität hin zur entstehenden wissenschaftlichen Chemie des 16. und 17.
Jahrhunderts nachgewiesen werden, etwa auch bei Robert Boyle und Johan
Baptista van Helmont, die sich beide auf einer inhaltlich-theoretischen Ebene
emphatisch von der Vorstellungswelt der Alchemie distanzierten, aber weiter-
hin mit deren Methoden und Gerätschaften arbeiteten. Als zentrales Beispiel
für die Kontinuitäten der materiellen Kultur sei hier etwa das Verfahren der
Destillation genannt.

Die Zurückhaltung der Philosophie

Trotz der jüngsten wissenschaftshistorischen Erkenntnisse zur Alchemiege-


schichte, sowie den durchaus bestehenden epistemologischen Bezügen auf
das „vormoderne Denken“, sei es bei Bruno Latour oder auch schon bei Michel
Foucault, steht eine genuin philosophische Auseinandersetzung mit den na-
turphilosophischen Grundlagen alchemistischen Arbeitens bis dato aus.

Gründe dafür gäbe es einige. Einer der wichtigsten wurde bereits genannt: Die
akademische Philosophie ist es schlichtweg nicht gewohnt, mit praktisch arbei-
tenden „Feuerphilosophen“ umzugehen. Sie verfügt im Gegensatz zur Wissen-
schaftsgeschichte über wenig Mittel, wenn es um die philosophische Ausei-
nandersetzung mit einer historischen, materiellen Praxis geht und nicht um
Konzepte und Ideen. Die Gefahr ist daher gross, dass die epistemologischen
Setzungen, die den neueren wissenschaftshistorischen Studien mehr oder we-

16
niger implizit zugrunde liegen – etwa die technologische Dimension der Al-
chemie –, von der Philosophie einfach reproduziert werden. Auch die durchaus
bestehende philosophische Expertise bezüglich einer Praxeologie des Ge-
sprächs und der Diskussion hilft an dieser Stelle nicht weiter, da eine solche
Perspektive auf Kommunikations- und/ oder Argumentationsprozesse abzielt
und nicht auf einen konkreten Umgang mit Stoffen. Dinge, Stoffe und Materia-
lien sind zwar durchaus etablierte Gegenstände philosophisch-theoretischer
Überlegungen, etwa in der Phänomenologie oder auch Naturphilosophie, aber
sie sind doch selten als praktische, reale Bezugspunkte der Interaktion mit in
die philosophische Reflexion einbezogen.19 Eine fruchtbare philosophische Aus-
einandersetzung mit der Praxis der Alchemie kann aber auch nicht darin be-
stehen, dass genuin wissenschaftshistorische Methoden, wie beispielsweise
die starke historische Kontextualisierung des Wissens und Handelns der Adep-
ten, zum Einsatz kommen. Auch geht es hier nicht darum, im Sinne einer expe-
rimentellen Wissenschaftsforschung selbst Alchemie zu praktizieren, um sie
historisch rekonstruieren zu können.20 Es gilt vielmehr, einen neuen durchaus
„buchphilosophischen“ Ansatz zu entwickeln, der jedoch in der Lage ist, die
„feuerphilosophische“, praktisch-performative Ausrichtung der Alchemie an-
gemessen zu erfassen. Der schmale Grat zwischen moderner Bücher- und al-
chemistischer Feuerphilosophie muss in einer eigenständigen Methode zur
philosophischen Untersuchung der Alchemie beständig ausbalanciert werden.

Ein weiterer wichtiger Grund für die Skepsis und Zurückhaltung der modernen
Philosophie gegenüber der Alchemie liegt in den überlieferten Texten der
Adepten selbst. Sie sind, um es mit den Worten des Alchemiephilologen
Joachim Telles auszudrücken „ungemein irritierend“, grenzen an „chaotische
Formlosigkeit“ und „dürften heutigen Lesern kein Lesevergnügen bereiten“.21
                                                                                                           
19
Bruno Latour versucht daher als nennenswerte Ausnahme in seinem Werk
„Das Parlament der Dinge“ den Ding- und Stofflichkeiten, sprich allen nicht-
menschlichen Wesen, eine Stimme zu geben, indem er sie zu gleichberechtig-
ten Akteuren und Interaktionspartnern erhebt. Vgl. dazu Latour, Bruno 2001:
Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie. Frankfurt.
20
Breidbach / Olaf u.a. (Hg.) 2010: Experimentelle Wissenschaftsgeschichte.
Paderborn.
21
Telle, Joachim 1992: Bemerkungen zum Rosarium Philosophorum. In: Rosari-
um Philosophorum. Ein alchemisches Florilegium des Spätmittelalters. Faksimi-
17
Und in der Tat, bei einem ersten philosophisch-analytischen Blick auf die Texte
der Adepten, mag man in den Zustand der rationalen Schockstarre fallen, in
einen für Philosophen nur sehr schwer tolerierbaren Zustand intellektueller
Akinese. Die Texte wirken chaotisch, widersprüchlich, redundant, fantastisch,
unlogisch, irrational und unzugänglich. Was sich derart konfus darstellt, kann,
so mag man meinen, kein philosophisches Thema sein.

Dieses Irritationspotenzial alchemistischer Texte kommt, so liesse sich argu-


mentieren, auch in der über die Zeit beeindruckenden Breite an historischen
Deutungsversuchen zum Ausdruck. Die Polyphonie der Rezeptionsgeschichte
der Alchemie lässt sich bei kaum einem anderen wissenschaftshistorischen
Sujet ausmachen. Um eine neue philosophische Perspektive auf die Alchemie
zu entwickeln, gilt es daher zunächst, diese Ausgangslage ernst zu nehmen.
Die vielfältige Rezeptionsgeschichte der Alchemie muss als integraler Bestand-
teil der philosophischen Auseinandersetzung mit der Alchemie verstanden
werden. Die Unzugänglichkeit der Traktate für modernes philosophisches Rä-
sonieren bildet hier einen ersten methodischen Ansatzpunkt.

Die praxeologische Besetzung der Alchemieforschung

Schaut man sich den Umgang der neueren Wissenschaftsgeschichte mit der
offensichtlichen Deutungsvielfalt des alchemistischen Unternehmens in der
historischen Rückschau an, so ist der Befund bezeichnend. Das Problem der
historischen Uneindeutigkeit wird mehr oder weniger übergangen und durch
eine starke praxeologische Setzung durch Autoren wie William Newman und
Lawrence Principe verdeckt. Wie dominant diese praxaologische Deutung der
Alchemiegeschichte operiert, zeigt folgendes Zitat des Wissenschaftsphiloso-
phen Florin George Calian von 2010:

„At the moment their thesis (gemeint sind hier: Prin-


cipe & Newman, Anm. SB) is relatively wide-spread
among the historians of chemistry and also of al-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 
le der illustrierten Erstausgabe Frankfurt 1550. Band 2. Hg. von Joachim Telle.
Weinheim, S. 186-187.
18
chemy. It may be described as an attempt to introduce
a kind of exclusivist position (it can be called elimi-
nitavism) into the field of scholarly research on al-
chemy, the assumption being that alchemy does not
have a strong enough spiritual component to place it
within the scope of the history of religion or similar
fields of research.“22

Calin beschreibt die praxeologische Besetzung der Alchemie durch die Wissen-
schaftsgeschichte als eine „eliminative“ Strategie, deren Ziel es ist, sämtliche
andere bestehende und neue Zugänge zur Alchemie, in seinem Fall insbeson-
dere die religionsphilosophisch-spirituellen Zugänge, zu verhindern. Kurz ge-
sagt: Gemäss einer solchen Sicht gebe die frühneuzeitliche Alchemie inhaltlich
schlichtweg nicht genug her, so dass sich etwas anderes als ein „rein praxeolo-
gischer“ Zugriff gar nicht anbiete.23 Wie ich später im Text zeigen werde, recht-
fertigen Newman und Principe diese Perspektive durch stark reduktionistische
und gleichzeitig rationalisierende Deutungen der typisch alchemistischen „Ir-
rationalitäten“. Newman und Principe beabsichtigen, die Alchemie zu „entmys-
tifizieren“. Alchemie sei nichts anderes als Proto-Technologie, die allerdings in
einer anderen, einer alten Sprache verfasst sei und die es zu entschlüsseln gel-
te, als handle es sich um einen historischen Code.

Da es noch nicht allzu lange her ist, dass die Alchemie als wissenschaftshistori-
sches Objekt wiederentdeckt und praxeologisch besetzt wurde, ist der For-
schungsstand sowohl zur gesamten vorhergehenden Rezeptionsgeschichte als
auch zu möglichen alternativen Forschungsansätzen eher unterentwickelt.
Neben der praxeologischen Perspektive existieren faktisch so gut wie keine
                                                                                                           
22
Calian, Florin George 2010: ALKIMIA OPERATIVA and ALIKIMA SPECULATIVA.
Some Modern Controversies on the Historiography of Alchemy. In: Annual of
Medieval Studies at CEU 16, S. 166-190, hier S. 170.
23
Newman, William / Principe, Lawrence 1998: Alchemy vs. Chemistry. The
Etymological Origins of a Historiographic Mistake. In: Early Science and Medici-
ne 3, S. 32-65. Sowie Newman, William / Principe, Lawrence 2001: Some Prob-
lems with the Historiography of Alchemy. In: Newman, William / Grafton,
Anthony (Hg.): Secrets of Nature: Astrology and Alchemy in Early Modern Euro-
pe. Cambridge, S. 345-431.
19
anderen akademisch etablierten Zugänge. Selbst C.G. Jungs umfangreiche Al-
chemie-Studien aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stehen grösstenteils
ausserhalb des akademischen Diskurses und werden häufig zu Esoterik degra-
diert.

Ein philosophischer Zugang zur Alchemie muss sich, so die Grundhaltung der
vorliegenden Arbeit, von der derzeit monoperspektivischen Alchemie- und Al-
chemiegeschichtsforschung emanzipieren.

Metachrosis

Wie kann eine philosophische Auseinandersetzung mit der historischen Al-


chemie aussehen? Zunächst bedeutet dies, sich aus den komfortablen Ge-
wohnheiten des bekannten philosophischen Diskurses herauszubewegen und
den Umgang mit historischem Material jenseits des Kanons klassischer philo-
sophischer Schriften zu wagen. Wenn man sich philosophisch mit den Inhalten
der Alchemie auseinandersetzen möchte, kommt man an einem Studium der
historischen Texte nicht vorbei. Und doch muss man hier deutlich einen prinzi-
piellen Unterschied zu einer historiographischen Untersuchung markieren, der
sich vor allem aus der abweichenden Zielsetzung ergibt, die dann aber auch
methodologische Konsequenzen mit sich bringt. Der Umgang mit historischen
Texten bedingt zwar gewisse textkritische methodische Vorkehrungen, jedoch
geht es etwa nicht darum, den Text in klassisch geschichtswissenschaftlicher
Weise hermeneutisch vor einem historischen Kontext zu lesen und zu verste-
hen.

Der Anspruch der vorliegenden Arbeit ist keine möglichst vollständige histori-
sche Rekonstruktion eines vergangenen alchemistischen Unternehmens, son-
dern die Reflexion einer aus unserer Gegenwart erwachsenden philosophi-
schen Problemstellung. Das heisst konkret, dass ich in meiner Arbeit die heute
so bedeutsame Frage nach dem Wesen des Neuen im Medium der historischen
Alchemie reflektieren werde. Die Motivation hierfür hat zwei Hauptgründe:
Zunächst fungiert die Alchemie in der neueren Wissenschaftsforschung offen-
sichtlich als ein Bezugspunkt für Debatten um technologische Innovation, sei

20
es bei Latours Diktum „Wir sind niemals modern gewesen“ oder in der praxeo-
logischen Wissenschaftsgeschichte, die hier den Ursprung eines technologi-
schen Weltzugangs ausmacht. Der andere Grund dafür, sich aus philosophi-
scher Sicht mit der Alchemie auseinanderzusetzen, ist die Tatsache, dass diese
im philosophischen Diskurs aufgrund der angenommenen Unwissenschaft-
lichkeit ein erstaunliches Schattendasein fristet. Der Bezug auf die Alchemie
bietet sich demnach als eine reflexive Kontrastfolie an, um methodisch aus
dem Schatten des philosophiehistorischen Kanons herauszutreten. Dies gilt
insbesondere dann, wenn die Alchemie als eine performative naturphilosophi-
sche Reflexion und Metaphysik verstanden wird, als eine „Feuerphilosophie“,
die die Beschränktheit der „Buchphilosophie“ auf das reine Sprachspiel zu er-
hellen vermag, indem sie sich gegenüber Letzterer als Kontrastfolie erweist.

Der Ausgangspunkt der vorliegenden Studie wird entsprechend das besondere


Irritationspotenzial alchemistischer Texte sein, das sich jedoch nur dann ergibt,
wenn man die Traktate als Endpunkte oder zumindest als die eigentlichen Me-
dien der transmutationsalchemistischen Reflexion missversteht. In Hinblick
auf den Aufbau der Studie gilt es demnach, diesem Irritationspotenzial zu-
nächst intellektuell Raum zu geben, um dann aus der Vielfalt in der Rezepti-
onsgeschichte einen neuen und eigenständigen philosophischen Blick auf das
transmutationsalchemistische Werk zu entwickeln. Die praxeologische Per-
spektive gewinnt ihre Deutungshoheit über die Alchemie unter anderem
dadurch, dass beispielsweise sämtliche spiritualistischen Deutungsversuche
wie etwa durch C.G. Jung oder Mircea Eliade als irrational und damit schlicht-
weg „falsch“ erklärt werden. In diesem Sinne ergibt sich für die philosophische
Auseinandersetzung eine nicht zu vernachlässigende Gemengelage zwischen
der historischen alchemistischen Praxis, ihren Texten und deren Rezeption, die
den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet. Deutet man die offensichtliche
Uneinigkeit über das Wesen der Alchemie in der historischen Rezeption vor-
schnell und relativistisch als gewöhnliche historische Deutungsvielfalt, so
vergibt man eine mögliche alternative Erklärung, die ich in meiner Studie stark
machen möchte. Was wenn die Verfasstheit der Alchemie selbst ein Grund da-
für ist, dass derart unterschiedliche zum Teil diametral entgegengesetzte Les-
arten im Raum stehen? Ich möchte dieser Vermutung nachgehen und schlage

21
hier den Begriff der Metachrosis vor, um das besondere Phänomen einer gewis-
sen Widerständigkeit der Alchemie gegenüber einer sie vereindeutigenden Re-
zeptionsweise in der Moderne zu erfassen und auf die Verfasstheit des alche-
mistischen Wissens selbst zurückzuführen.

Mein Konzept der Metachrosis, das auf die intrinsische Eigenschaft einer Enti-
tät verweist, sich je nach Zusammenhang unterschiedlich einzufärben, führt
die Beobachtung einer ungemeinen Breite der Deutungen der Alchemie im
Verlauf ihrer Rezeptionsgeschichte auf die historische Alchemie selbst zurück.
Die Frage, der ich in dieser Arbeit nachgehe, ist nicht diejenige nach der ange-
messeneren Rezeptionsweise der Alchemie, sondern sie betrifft ihre besondere
Eigenschaft, die eine solche Rezeptionsvielfalt womöglich hervorgebracht hat.
Im ersten Teil meiner Arbeit beschreibe ich folglich diesen „metachromen“ Ef-
fekt der Alchemie, indem ich ihre Rezeptionsgeschichte neu durchdenke, ein-
zelne Deutungsperspektiven kritisch nachvollziehe und dann abschliessend vor
dem Hintergrund unterschiedlicher Modelle historischer Entwicklung diskutie-
re. Die Alchemie soll hier als eigenständiges Projekt verstanden werden, das
sich nicht darauf reduzieren lässt, in der historischen Rückschau genealogisch
in die diversen Fortschrittsprojekte eingereiht zu werden, weder in die Vorge-
schichte der modernen Wissenschaften, wie es in unterschiedlicher Weise seit
dem 19. Jahrhundert praktiziert wird, noch etwa wie bei C.G. Jung in die Vorge-
schichte der Tiefenpsychologie.

Um die Metachrosis der Alchemie in den unterschiedlichen Rezeptionsinstan-


zen über die Zeit hinweg hinreichend verstehen zu können, muss sie jedoch in
einem nächsten Schritt als eigenständiges Projekt untersucht werden. Das
Konzept der Metachrosis kehrt die Rolle der Alchemie um, von einem deu-
tungsbedürftigen Objekt der Rezeptionsgeschichte in ein historisches Unter-
nehmen, das seine spätere Deutungsvielfalt vorgeprägt hat. Um dabei selbst
nicht der Versuchung eines monoperspektivischen bzw. „monochromen“ Deu-
tungsversuchs zu erliegen, müssen mehrere methodische wie inhaltliche Vor-
kehrungen getroffen werden.

22
Eingrenzung des historischen Materials

Die neuere Forschung zur Alchemiegeschichte birgt trotz ihrer dargelegten


perspektivischen Einengung einige wichtige Erkenntnisse, die es auch für eine
philosophische Auseinandersetzung zu beachten gilt: So hat sich gezeigt, dass
die Rede von „der“ Alchemie keinen Sinn hat. Der Textkorpus der Alchemie ist
alles andere als konsistent und reicht von den „Berg- und Probierbüchlein“ der
Metallurgie über die Tradition der „Kunstbüchlein“24, die sich mit einfachen
Problemen der Haushaltsführung beschäftigen und beispielsweise spezifische
Anleitungen zum Verjagen von Mardern in einem Himbeerfeld geben, über
eher medizinisch ausgerichtete Traktate des Paracelsus,25 bis hin zu transmuta-
tionsalchemistischen Werken, die sich mit der Thematik der Umwandlung un-
edler Stoffe in edle mithilfe des „Steins der Weisen“ auseinandersetzen. Die
praxeologische Alchemieforschung bezieht sich vor allem auf erst genannte
Arten alchemistischer Texten, da diese sich ausgiebig mit Geräten, Gefässen
und technischen Verfahren auseinandersetzen. Die Transmutationsalchemie
hingegen thematisiert vor allem naturphilosophische Überlegungen. Sie stellt
die praxeologische Forschung vor grosse Probleme und wird wohl auch daher
eher vernachlässigt, es sei denn, man nimmt starke Umdeutungen vor wie im
Fall von Newman und Principe. Allein aus Lesbarkeitsgründen ist im weiteren
Verlauf der Arbeit wann immer von „Alchemie“ oder „den Adepten“ die Rede
ist, die Transmutationsalchemie im Rosarium gemeint.

Jede wissenschaftlich seriöse Arbeit zur Alchemie muss sich demnach in der
Auswahl ihres historischen Materials stark einschränken und auf bestimmte
Ausprägungen der Alchemie fokussieren, um die Heterogenität alchemisti-
schen Denkens und Schreibens nicht unangemessen zu homogenisieren. Ich
werde mich in der vorliegenden Studie mit der Transmutationsalchemie ausei-
nandersetzen, und zwar, gerade weil sie sich einer einfachen praxeologischen
Perspektivierung entzieht. Ein weiterer zentraler Grund ist inhaltlicher Natur.
                                                                                                           
24
Vgl. zur Tradition der „Kunstbüchlein“: Eamon, William 1994: Science and the
Secrets of Nature. Books of Secrets in Medieval and Early Modern Culture.
Princeton, NJ.
25
Vgl. hierzu vor allem die Arbeit: Frietsch, Ute 2013: Häresie und Wissenschaft.
Eine Genealogie der paracelsischen Alchemie. München. Sowie: Koyré, Alexand-
re 2012: Paracelsus. Zürich.
23
Die Transmutationsalchemie, so die zentrale These meiner Arbeit, stellt eine
performative naturphilosophische Reflxion bzw. performative Metaphysik des
Schöpferischen und Neuen dar und bietet sich daher als historisch-
epistemologische Kontrast- und Denkfolie für heutige Innovationsdiskurse an.

Ich beschränke mich in meiner Arbeit auf eine Fallstudie zu einem grundlegen-
den transmutationsalchemistischen Werk der Frühen Neuzeit, das Rosarium
Philosophorum des Arnaldus de Villanova, welches als zweiter Teil des alche-
mistischen Sammelwerks De alchimia opuscula 1550 zum ersten Mal in Druck
ging.26 Doch was spricht für eine methodische Fokussierung auf das Rosari-
um?27

Im Gegensatz zu vielen anderen transmutationsalchemistischen Texten wurde


das Rosarium in mehrere Sprachen übersetzt und noch Isaac Newton war der
Meinung, dass dessen Verfasser zu den »besten Autoren« alchemistischer
Schriften überhaupt zähle.28 Doch was genau machte das Rosarium für Alche-
misten so? Zum einen muss hier die aufwendige und kostbare Gestaltung und
Bebilderung des Rosariums genannt werden, die das Werk aus der Menge al-
chemistischer Texte herausstechen lässt und zu dessen starken Verbreitung
beigetragen hat. Auf einundzwanzig Tafeln ist ein alchemistisches Picta-Poesis-
Gedicht mit dem Namen „Sol und Luna“ eingearbeitet,29 Tafeln also, auf denen

                                                                                                           
26
O. A. 1550: De alchimia opuscula complura veterum philosophorum, quorum
catalogum sequens pagella indicabit, Frankfurt.
27
Die folgenden zwei Absätze basieren auf bereits publiziertem Material. Vgl.
dazu: Baier, Sabine 2011: Bricklebrit – Die schöpferische Kraft des Zirkulären im
Alchemicadruck Rosarium Philosophorum von 1550. In: Gugerli, David u.a.
(Hg.): Nach Feierabend .Zirkulationen. Zürich. S. 173-199.
28
Joachim Telle: »Bemerkungen zum Rosarium Philosophorum«, in: Ders. (Hg.):
Rosarium Philosophorum. Ein alchemisches Florilegium des Spätmittelalters.
Faksimile der illustrierten Erstausgabe. Frankfurt 1550. Band 2, Weinheim 1992,
hier S. 199. Zu Newtons Hinweis siehe Richard S. Westfall: Newton and Al-
chemy. In: Vickers, Brian (Hg.): Occult and Scientific Mentalities in the Renais-
sance, Cambridge 1984, S. 315–335, hier S. 320.
29
Zum Verfasser und Zeichner des „Sol und Luna“-Gedichts ist nichts Genaue-
res bekannt, allerdings scheint es älter zu sein als das Rosarium. Aufgrund his-
torischer Indizien kann man davon ausgehen, dass es vermutlich um 1400 be-
reits existierte. Vgl. dazu ebenfalls Telle: Bemerkungen zum Rosarium Philoso-
phorum. In: Rosarium Philosophorum, a.a.O., S. 180.
24
jeweils der lateinische Titel eines alchemistischen Zustandes, eine bildlich-
symbolische Darstellung sowie ein oder zwei deutschsprachige Verse zusam-
mengeführt werden. Das Bildgedicht Sol und Luna hatte sicherlich einen illust-
rativen Zweck, ermöglichte es doch die einfachere Handhabung des Werkes
durch Adepten. Darüber hinaus dürfte es jedoch dem Werke einen ästheti-
schen Mehrwert verliehen haben, insbesondere wenn man bedenkt, dass der
Grossteil alchemistischer Texte entgegen der populären Vorstellung, vollstän-
dig ohne Bilder auskommt.

Neben dem besonderen ästhetischen Reiz durch das Picta-Poesis-Gedicht hat


das Rosarium seinen Erfolg aber auch seinem enzyklopädischen Charakter zu
verdanken. Es ist in der Tradition mittelalterlicher »Florilegien« verfasst und
damit das Ergebnis einer aufwändigen Exzerpiertätigkeit, die von Alchemisten
sehr geschätzt wurde.30 Die enzyklopädische Tätigkeit wurde im Mittelalter mit
dem Sammeln und Pflücken von Blüten verglichen, den flores. Dass nun das
Rosarium Philosophorum, der Rosengarten der Weisen, nicht irgendeine Blüte,
sondern die Rose als Königin aller Blüten im Titel führt, lässt erahnen, dass der
unbekannte Verfasser des Werkes das beste Wissen der besten Alchemisten
zusammenzutragen gedachte. Die Exzerpiertätigkeit des „Pseudo-Arnaldus de
Villanova“ – der „echte“ Arnaldus lebte ungefähr zwischen 1235 und 131131 – war
überaus umfangreich und reichte von Werken aus dem vierten Jahrhundert,
etwa des Zosimos von Panopolis, bis weit ins 14. Jahrhundert, so dass man beim
Kauf des Rosariums nicht nur eines, sondern gleich mehrere Bücher der Alche-
mie erstand. Da der Verfasser des Rosariums die exzerpierten Anschauungen
und Vorstellungen nicht einfach synthetisierte, ist das Rosarium ein Buch voller
Bücher, ein polyphones Gesamtwerk. Wie ich später im Text zeigen werde, trug

                                                                                                           
30
Zur Tradition der Florilegien siehe beispielsweise den Aufsatz von Christel
Meier: Grundzüge der mittelalterlichen Enzyklopädik. Zu Inhalten, Formen und
Funktionen einer problematischen Gattung. In: Ludger Grenzmann und Karl
Stackmann (Hg.): Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Re-
formationszeit. Germanistische Symposien, Stuttgart 1984, S. 467–500, hier S.
477.
31
Alchemisten schätzten berühmte Autoritäten ihres Bereichs sehr und verfolg-
ten daher die Tradition, das eigene Werk gerne unter einem bekannteren Na-
men herauszugeben, was nicht zuletzt auch die Wahrscheinlichkeit der Auf-
merksamkeit und Wahrnehmung der eigenen Lehren erhöhte.
25
diese Polyphonie des Rosariums nicht nur zu dessen Verbreitung und Beliebt-
heit bei, sondern bringt darüberhinaus den individualepistemischen Aspekt
alchemistischen Tuns zum Vorschein, was zur nächsten methodischen Vorkeh-
rung beim Umgang mit alchemistischen Texten führt.

Alchemie als individualepistemische Tätigkeit

Transmutationsalchemistische Texte wie das Rosarium, so eine weitere zentra-


le These meiner Arbeit, sind niemals die Endpunkte alchemistischen Tuns, son-
dern bilden nur eine Komponente innerhalb einer alchemistischen Praxis. Sie
unterscheiden sich dadurch signifikant von modernen wissenschaftlichen Pub-
likationen, deren Ziel es ist, das Neue in einem Text so festzuhalten und zu
kommunizieren, dass es verständlich wird, ohne dass die zugrundeliegende
Forschungspraxis erneut selbst vollzogen werden muss. Auch ein Gedicht oder
lyrische Texte stellen, wenngleich sie in der Deutung und Auslegung nicht auf
Eindeutigkeit ausgelegt sind, durchaus auch das Endprodukt poetischer Pro-
zesse dar. Sie sind nicht dazu gemacht, dass der Leser den Text noch eigen-
ständig in einer Praxis weiterführt, die über das blosse Deuten hinausgeht.

Was damit gemeint ist, dass alchemistische Texte nicht als die Endpunkte der
alchemistischen Praxis verstanden werden sollen, lässt sich am Beispiel von
Drehbüchern, Tanzchoreographien und Musiknotationen veranschaulichen.
Auch diese Textformen verweisen auf eine noch ausstehende, auszuführende
Tätigkeit und Praxis und sind für sich genommen nicht der eigentliche End-
punkt. Jede individuelle Aufführung und Umsetzung dieser Texte ist für sich
originell und neu. Das Neue entsteht nicht im Text, sondern in der Perfor-
manz.32 Das Neue stellt sich hier nicht als eine einmalige Entdeckung einer Tat-
sache dar, über die dann gesprochen und diskutiert werden kann. Die Entste-
hung des Neuen vollzieht sich hier in einer Praxis, die immer auch stoffliche
und materielle Prozesse beinhaltet. Über Tanz zu schreiben oder Tanz zu be-

                                                                                                           
32
Vgl. zur Diskussion des Zusammenhangs von Originalität, Authentizität und
Notationsform in der Kunst: Goodman, Nelson 1997: Sprachen der Kunst. Ent-
wurf einer Symboltheorie. Frankfurt, insbesondere Kapitel III. „Kunst und Au-
thentizität“, S. 101 ff.
26
obachten, ist niemals dasselbe, wie einen Tanz selbst aufzuführen und ihn am
eigenen Leib zu erfahren. Allerdings wäre die Vorstellung vom alchemistischen
Traktat als ein Handlungsskript oder „Kochrezept“ ebenfalls unzureichend.
Skripte und Rezepte mögen kein Selbstzweck sein, doch in Hinblick auf die Pra-
xis, auf die sie verweisen, sind sie keineswegs polyphon verfasst. Trotz aller
Deutungsoffenheit sind sie im Prinzip auf Handlungsanleitung angelegt und
entsprechend formuliert. Es wäre daher vielleicht angemessener, alchemisti-
sche Texte mit Reiseführern zu vergleichen, die kollektiv von einer Gemein-
schaft von Reisenden zusammengetragen werden. Ein derartiger Reiseführer
dient nicht dazu, den geneigten Reisenden zu einer bestimmten Reise anzulei-
ten. Aus diesem Grund müssen die vielen individuellen Reiseerfahrungen vor-
heriger Reisender auch nicht harmonisiert und verallgemeinert werden. Sie
können in ihrer Widersprüchlichkeit und Subjektivität nebeneinander stehen
und regen bestenfalls den Leser zur Reise an. Jeder Adept muss jedoch einem
Reisenden gleich seinen Weg selbst neu finden, die Zeichen und Farben des
Werkes selbst neu lesen, um die Erschaffung des Neuen reflektieren zu können.
Das Bild der Reise mag das Konzept einer performativen Metaphysik an dieser
Stelle veranschaulichen.

Geht man nun davon aus, dass alchemistische Texte nie den Anspruch hatten,
eine endgültige oder zumindest temporäre bzw. transitorische Wahrheit zu
formulieren, so stellt sich die zu beobachtende Metachrosis in der historischen
Rezeption dieser Texte in einem anderen Lichte dar. Alchemistische Texte sind
eben nicht darauf angelegt, richtig verstanden zu werden, sondern regen be-
wusst zu je individuellen Umsetzungen an, die prinzipiell vielfältig sind. Al-
chemistische Texte sind Katalysatoren für kreative Aneignungsprozesse. Dies
gilt nicht nur für die Adepten der Frühen Neuzeit , sondern auch – und dies wä-
re eine alternative Erklärung für die zu beobachtende Deutungsvielfalt – in der
historischen Rezeption. Das schöpferische Moment transmutationsalchemisti-
scher Texte, so das Argument, verlängert sich durch bzw. affiziert ihre Rezepti-
onsgeschichte bis in die Gegenwart

Das „wahre Wesen“ der Alchemie ist keine spezifische „monochrome“ Wahr-
heit, sondern es umfasst die Vielfalt an schöpferischen Prozessen, die bei ihren
Adepten – sei es ein interessierter moderner Leser oder ein Alchemist der Frü-
27
hen Neuzeit – ausgelöst werden. Dieser Umstand kommt auf textlicher Ebene
in der Polyphonie des Rosariums zum Ausdruck. Der Verfasser des Rosariums
lässt die Lehren der vielen genannten Alchemistinnen und Alchemisten neben-
einander zu Wort kommen und synthetisiert die individuellen Beiträge nicht.
Dem Leser wird dabei vor Augen geführt, dass die Alchemie eine Tätigkeit ist,
die durch jedes sie praktizierende Individuum neu vollzogen werden muss.
Auch die auf den ersten Blick dominierenden Unstimmigkeiten, vermeintlichen
Widersprüche und „Irrationalitäten“ im Rosarium tragen dazu bei, den Adepten
zur Selbsttätigkeit anzuregen. Dieser individualepistemische Tätigkeitsaspekt
der Transmutationsalchemie lässt sich anhand des Rosariums, wie gezeigt
werden wird, belegen.

Eine Deutung, die den polychromen, individualepistemischen Charakter der


Alchemie ernst nimmt, hat daher durchaus den Anspruch, das eigentliche We-
sen der Alchemie zu beschreiben. Im Unterschied zu den monochromen Lesar-
ten der Alchemie, die im ersten Kapitel analysiert werden, soll in der vorliegen-
den Arbeit ein Deutungsversuch entwickelt werden, der im Stande ist, die be-
stehenden historischen Rezeptionsweisen in ihrer Widersprüchlichkeit und
Vielfalt aufzunehmen und zu erklären und der darüber hinaus nicht gezwun-
gen ist, die Widerständigkeit alchemistischer Texte gegenüber modern-
rationalistischen Lesarten vorschnell zu übergehen oder gar bewusst einzueb-
nen.

Der Stein der Weisen als performative Reflexion der Metaphysik des Neuen

Die in der vorliegenden Arbeit entwickelte These, dass Alchemie als performa-
tive, individualepistemische Reflexion zu begreifen ist, ermöglicht es, sie
gleichzeitig als ein schöpferisches Projekt zu beschreiben, das sich nicht ein-
fach für eine Genealogie der heutigen Technowissenschaften einspannen lässt.
Die performative Metaphysik der Alchemie beruht, wie ich in der Studie aus-
führen werde, auf einem komplexen, naturphilosophisch begründeten Zu-
sammenspiel des Adepten mit der Natur in seinem Laboratorium. Zentrales
Merkmal dieses tätigen Verhältnisses ist die Verortung der Schöpfungskraft in
der Natur und damit ausserhalb des Menschen. Alchemisten gingen niemals,

28
gemäss einer „demiurgischen Illusion“33, davon aus, dass sie selbst Quelle des
Neuen sind, sondern, dass die Kraft zur Herstellung des Neuen ausschliesslich
der Natur zukommt. Jede alchemistische Tätigkeit muss sich daher auf die
Schöpfungskraft der Natur beziehen, aber nicht, indem sie diese imitiert, wie
etwa in der Kunstvorstellung der Zeit34, sondern indem sie sich gekonnt in den
Prozess der permanenten Schöpfung der Natur „einklinkt“, sich sprichwörtlich
„einmischt“.

Da sich die Natur den Adepten folgend in einem permanenten Schöpfungspro-


zess befindet, ist auch die Reflexion auf diese Schöpfungskraft in einem fort-
laufenden Prozess zu vollziehen. Der Stein der Weisen ist damit, wiederum
entgegen populärer kultureller Vorstellungen, gerade kein Endziel alchemisti-
schen Schaffens, im Sinne eines stofflichen „Outputs“, sondern es geht um den
Prozess der Erschaffung des Steins der Weisen als materialisierte Form des
Schöpfungsprozesses der Natur. An dieser Stelle holen die naturphilosophi-
schen Überzeugungen der Adepten die sprachliche Darstellungsweise alche-
mistischer Texte ein. Das schöpferische Moment ist immer schon flüchtig und
kann daher weder besessen noch vollständig beschrieben, festgehalten oder
kontrolliert werden. Die Epistemologie des Neuen fällt demnach im transmuta-
tionsalchemistischen Werk mit dessen Ontologie prozessual zusammen.

                                                                                                           
33
Vgl. zum Begriff der „demiurgischen Illusion“: Rheinberger, Hans-Jörg 2006:
Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Frankfurt.
34
Vgl. dazu Newman, William R. 2004: Promethean Ambitions. Alchemy and
the Quest to Perfect Nature. Chicago, IL, S. 115 ff. sowie: Close, A. J. 1969: Com-
monplace Theories of Art and Nature in Classic Aniquity and in the Renais-
sance. In: Journal of the History of Ideas 30,S. 467-486; Galluzzi, Paolo 1999: The
Art of Invention. Leonardo and the Renaissacne Eingineers. Florenz; Halleux,
Robert 1989: Entre technologie et alchimie: couleurs, colles et vernis dans les
anciens manuscrits de recettes. In: Technologie industrielle: conservation, res-
tauration du patrimoine culturel, Colloque AFTPV/SFIIC, Nice, 19.-22. September
1989, S. 7-11; Da Vinci, Leonardo 1939: The Notebooks of Leonardo da Vinci. New
York; Principe, Lawrence 2002: Transmutations. Alchemy in Art. Philadelphia,
PA; Wallert, A. 1990: Alchemy and the Medieval Art Technology. In: vonMartels,
Zweder R.W.M. (Hg.): Alchemy Revisited. Leiden, S. 154-161.

29
Im folgenden, ersten Hauptkapitel meiner Arbeit setze ich mich nun zunächst
mit dem beschriebenen Effekt der Metachrosis der Alchemie auseinander und
entwickle hier einen neuen philosophischen Zugang zur Rezeptionsgeschichte
der Alchemie, bevor ich mich im zweiten Hauptteil der Arbeit in einer dichten
Lektüre des Rosarium Philosophorums von 1550 den Ursachen der Metachrosis
in den alchemistischen Texten zuwende. Im Zentrum meiner Überlegungen
stehen dabei insbesondere die Erschaffung des Steins der Weisen in einem in-
dividualepistemischen, performativen Prozess sowie die Rolle und Beschrei-
bung der Bezugnahme des Adepten auf die Natur und die Zeitdauer des al-
chemistischen Werkes. Vor dem Hintergrund dieser Untersuchung schliesst die
Arbeit mit einer weiterführenden Reflexion zur möglichen Bedeutung der Feu-
erphilosophie für das heutige Denken.

30
2 Die Metachrosis der Alchemie

Metachrosis bezeichnet die Eigenschaft bestimmter Tiere mithilfe spezieller


Zellen unter der Haut, den sogenannten Chromatophoren, ihre Farbe zu än-
dern. Das Chamäleon oder auch der Kraken setzen diese Zellen abhängig von
Situation und Umgebung zur Camouflage und Abschreckung ein. Mittels feiner
Muskeln können die Chromatophoren bewegt, verschoben, geöffnet und ge-
schlossen werden, so dass sich ein Farbspiel ergibt, dessen Variationen keine
Grenzen zu kennen scheint. Beute- oder Feindtiere sind nicht mehr imstande,
das metachrome Tier vor seiner Umgebung wahrzunehmen, erkennen somit
die mögliche Gefahr oder Beute nicht und ziehen nichtsahnend vorbei. Insbe-
sondere bei Kraken, den Meistern der Metachrosis, vollzieht sich der Farbwech-
sel nicht selten innert weniger Sekunden und kann sogar mit einer starken
Veränderung der Hautstruktur einhergehen, so dass das jeweilige Tier, voll-
ständig mit seiner Umgebung verschmelzend, beispielsweise zu einer roten
Koralle oder auch einer algenbesetzten Gesteinsformation mutiert. Der soge-
nannte Karnevalstintenfisch (thaumoctopus mimicus) benutzt seine Fähigkeit
zur Mimesis nicht nur dazu, um auf Beutejagd zu gehen oder sich zu verste-
cken, sondern auch um andere Tiere, wie beispielsweise Seeschlangen, Schne-
cken, Flundern und Rotfeuerfische, aus bislang nicht genauer bekannten Grün-
den zu imitieren.35 Dieser erstaunliche Form- und Farbwandler ist dabei in der
Lage, sich seinem jeweiligen Beutetier unerkannt zu nähern, um es zu erlegen.
Die Weichheit und Unbestimmtheit bzw. die eigentümliche Form- und Farblo-
sigkeit der metachromen Tiere ermöglicht es ihnen, mimetisch zu besitzen,
was sie berühren. Ich möchte im Folgenden argumentieren, dass die Eigen-
schaft der Metachrosis, wie sie sich in der Natur findet, gewinnbringend für die

                                                                                                           
35
Vgl. dazu: Norman, Mark D. / Finn, Julian, Tregenza, Tom 2001: Dynamic Mim-
icry in an Indo-Malayan Octopus. In: Proceedings of the Royal Society 268, S.
1755–1758. Sowie: Norman, Mark D. / Hochberg, F. G. 2005: The "Mimic Octopus"
(Thaumoctopus mimicus n. gen. et sp.). A New Octopus Ffrom the Tropical In-
do-West Pacific (Cephalopoda: Octopodidae). In: Molluscan Research 25(2), S.
57–70.
31
Auseinandersetzung mit der Geschichte der Alchemie, genauer gesagt der
Transmutationsalchemie, einsetzen lässt.

Farben und Tiere sind grundlegend für die alchemistische Vorstellung der Ma-
terie und stehen – vom schwarzen Raben bis hin zum in allen möglichen Far-
ben schillernden Pfauenschwanz – in der Alchemie emblematisch für die Per-
fektionierung der Materie in der Natur. Anhand der Farben erkannte der Adept
den Zustand der Materie im Transmutationsprozess, ja er benannte dessen
Phasen sogar nach ihnen: nigredo, citrinas, cauda pavonis, albedo und rubedo.
Die Bedeutung des Farbspiels der Natur ist augenfällig in der heutigen Sicht
auf die Alchemie, in ihrer Sprache, ihrer Praxis, ihrer Vorstellungswelt und ihren
Bildern. Doch die Metachrosis als konzeptueller Zugriff soll hier noch auf einer
tieferliegenden Ebene angesiedelt werden, um mit der aus heutiger Sicht
höchst erklärungsbedürftigen epistemologischen Unterbestimmtheit des al-
chemistischen Unternehmens bzw. seiner Beschaffenheit und Finalität umge-
hen zu können. Diese Unterbestimmtheit drückt sich in erster Annäherung an
den Forschungsgegenstand in der eigentümlichen Vieldeutigkeit der Alchemie
als Objekt historischer Deutungsversuche und somit als Gegenstand heutiger
Forschung aus.

Verfolgt man die Geschichte der historisch-epistemologischen Erforschung der


Alchemie über die Jahrhunderte hinweg, seit dem Aufkommen der modernen
Chemie im 17. Jahrhundert bis hin zur heutigen Wissenschaftsgeschichte, so
lässt sich der Eindruck kaum verwehren, dass die Alchemie höchst unterschied-
liche Färbungen in der retrospektiven Deutung annehmen kann. So stellen
auch die beiden einschlägigen Alchemiehistoriker Lawrence Principe und Willi-
am Newman fest:

„Indeed, since the eighteenth-century disappearance


of its last serious practitioners within the community
of chemists, alchemy has been the subject of several
radically distinct schools of historical interpretation.
The current understanding of alchemy among histori-
ans of science, not to mention the general public,
remains strongly colored [Hervorheb., S.B.] by one or
32
more of these divergent schools of interpretations
[…].“36

In den Händen derer, die sich mit der Alchemie auseinandersetzen, ihrer histo-
rischen Beobachter also, von den Naturphilosophen des 17. und 18. Jahrhun-
derts seit Robert Boyle, den modernen Experimentalchemikern des 19. Jahr-
hunderts wie Justus Liebig, über die Psychoanalyse C.G. Jungs bis hin zur ge-
genwärtigen Wissenschaftsforschung scheint sich die Alchemie als Wissens-
gegenstand nahezu organisch in die jeweils inszenierten Deutungshintergrün-
de einzufügen. So schillert sie in der historischen Ansicht in den unterschied-
lichsten narrativen und argumentativen Farbgebungen: mal als Quacksalberei
und Pseudowissenschaft, dann wieder als Ausdrucksform eines naiv-
analogisch bzw. magischen Denkens, als Hemmschuh wissenschaftlichen Fort-
schritts und Negativfolie moderner Wissenschaftsgeschichte, auch als exo-
tisch-okkulte Projektionsfläche, als Fackelträger einer untergründig verlaufen-
den perennischen Gnosis und Zivilisationsgeschichte, als historisches Epitom
eines tiefenpsychologischen Prozesses moderner Subjekte, und schließlich –
und dies hat zur Zeit Konjunktur – zur wichtigsten Vorläuferin modernen tech-
nologischen Denkens.

Es ist erstaunlich, wie sehr sich die Alchemie der Frühen Neuzeit als historisch-
epistemologischer Gegenstand metachrom seinem modernen Gegenüber an-
passt. Die Deutungsspanne ihrer Rezeptionsgeschichte ist im Vergleich zu an-
deren historischen Wissensunternehmungen erklärungsbedürftig weit. Dieser
Befund spiegelt sich gleichsam in der zu beobachtenden Schwierigkeit all de-
rer, die sich an ihr in der historischen Rückschau abarbeiten, um festzustellen,
was die Alchemie denn nun „wirklich“ gewesen sei, worum es ihr „eigentlich“

                                                                                                           
36
Principe, Lawrence M. / Newman, William R. 2001 : Some Problems with the
Historiography of Alchemy. In: Newman, William R. / Grafton, Anthony (Hg.):
Secrets of Nature. Astrology and Alchemy in Early Modern Europe. Camdridge,
MA, S. 385-431. Oder vgl. dazu auch: Albert Poisson: Scholasticism with its
Infinitely Subtle Argumentation, Theology with its Ambiguous Phraseology,
Astrology, So Vast and So Complicated, are Only Child’s Play in Comparison
with Alchemy. Zitiert nach Read, John 1995: From Alchemy to Chemistry. New
York, S. 73.
33
ging. Doch genau von dieser Frage hängt letztlich die Rolle und Bedeutung ab,
die man ihr im Fortgang der Wissenschaften zuzuschreiben vermag.

Welche Farbe hat nun ein metachromes Wesen „eigentlich“ und „wirklich“?
Vielleicht muss es erst vergehen, bevor man dies wissen kann? Stirbt der Krake,
so entspannen sich die Chromatophoren und hinterlassen einen gräulichen
Farbeindruck. Andererseits: Deswegen zu behaupten, dass die „eigentlich wirk-
liche“ Farbe des Kraken grau wäre, die Farbe also, die er nach seinem Ableben
annimmt, verkennt offensichtlich dessen reiches Farbspiel zu Lebzeiten. Man
kann zu dem Schluss kommen, dass hier unsere Farbwahrnehmung bzw. unse-
re Gewohnheit, Farben als Wesensmerkmale zu verstehen, an ihre Grenzen
kommt. Die Eigenschaft der Metachrosis kennzeichnet vielmehr eine für sich
unbestimmte und erst in einer je situativen Bezüglichkeit Farbe bekennende
Existenz, in der jedoch potenziell – und dies ist Voraussetzung – die gesamte
Vielfalt an Farben und Formen, oder zumindest: ein gewisser Möglichkeits-,
oder um im Bild zu bleiben, Farbraum angelegt ist. Was hier im Phänomen der
Metachrosis aufscheint, ist somit ein grundlegendes Problem einer historisch-
epistemologischen Auseinandersetzung mit der Alchemie, die weder einem
Pathologen gleich nur deren gräulich leblosen Überreste sezieren möchte, noch
auf der Suche nach der vergangenen Farbe der Alchemie, „wie sie wirklich war“,
in der wahrgenommenen Unbestimmtheit monochrom den eigenen Deu-
tungshorizont gespiegelt sieht.

Die Polychromie in der Rezeptionsgeschichte der Alchemie und den damit ver-
bundenen Deutungsangeboten der Alchemieforschung soll hier jedoch nicht
nur auf das allgemeine Problem der Deutungsoffenheit historischer Betrach-
tungsweisen allein zurückgeführt werden, sondern – und darauf zielen meine
Überlegungen hier vornehmlich ab – auf die Beschaffenheit des alchemisti-
schen Unternehmens selbst. In der Alchemie, so möchte ich argumentieren, ist
die Metachrosis bereits epistemisch angelegt. Was damit gemeint sein soll,
lässt sich ausgehend von der Bedeutung des Textes in der Alchemie im Ver-
gleich zur heutigen wissenschaftlichen Praxis einführen.

Im Gegensatz zu heutigen wissenschaftlichen Veröffentlichungen stellte der


Text oder allgemeiner die Versprachlichung und Symbolisierung des Wissens

34
nicht den Endpunkt und das Ergebnis des alchemistischen Unternehmens dar.
Vielmehr ist das Traktat mit seinen Schrift- und Bildelementen nur ein Aspekt,
ein Einsatz von vielen im Verlauf der alchemistischen Transmutation, die im
Folgenden als inividualepistemischer Prozess gedeutet werden soll. Dies heisst
zunächst, dass sich der Transmutationsprozess, in dem die Stoffe, Instrumente,
Dinge und Himmelskonstellationen ebenso involviert sind wie Texte, Bilder
und auch die ganze Persönlichkeit des Adepten, einer auf Objektivierung und
damit einer aus modern-wissenschaftlicher Sicht finalisierten Symbolisierung
widersetzt. Es ging der Transmutationsalchemie schlichtweg nicht um verall-
gemeinerbares und zu diesem Zweck inskribiertes Naturwissen. Trotz der zwei-
felsohne vorhandenen mündlichen und verschriftlichten Verständigung zwi-
schen Adepten aber auch mit nicht-alchemistischen Akteuren, eines Aus-
tauschs in einem keineswegs disziplinär geschlossenen kommunikativen Feld
also, war jeder Transmutationsprozess letztlich konkret, das heisst situativ und
zeitlich verortet, und damit individuell. Die „Eigentlichkeit“ der Transmutation
ist, nimmt man also die praktische Epistemologie der Alchemie ernst, nicht los-
gelöst von ihrer konkreten Umgebung etwa in ihren Inskriptionen gegeben.
Diese nicht auf- und herauszulösende, sprich nicht objektivierbare, situative
Bezüglichkeit macht die individualepistemische Metachrosis alchemistischer
Unternehmungen aus, die sich in die Metachrosis ihrer historischen Rezepti-
onsweisen verlängert. Vollständige und letztendliche Bestimmtheit, die unse-
rer heutigen wissenschaftlichen Sprache eine Art autonome Objektivität ver-
leihen möchte, um sie damit jeglichem subjektiven Besitz zu entziehen, ver-
suchte die frühneuzeitliche Alchemie nie zu erreichen. Selbst der Stein der Wei-
sen, der sich aus heutiger Sicht noch am ehesten als Kandidat einer objektivier-
ten Finalität des alchemistischen Transmutationsprozesses anbietet, entpuppt
sich bei näherer Betrachtung in dieser Zurichtung als moderne Projektion eines
Endpunktes. Ein allgemeines Wissen über die Herstellung des Steins der Wei-
sen war jedoch keineswegs ein Ziel der Alchemie. Im Gegenteil, durch die indi-
viduelle Aneignung des Steins der Weisen durch einen Adepten in einem –
wenn man denn hier in der modernen epistemologischen Dichotomie von Sub-
jekt und Objekt beschreibend verharren möchte – subjektiv vollzogenen Pro-
zess war „das Werk vollbracht“, die Transmutation vollzogen.

35
Lässt man diese Eigenlogik der alchemistischen Transmutationspraxis in der
Rückschau ausser Acht – sprich die epistemische Individualität eines jeden ein-
zelnen Transmutationsprozesses – so entsteht eine nicht zu schliessende epis-
temologische Kluft zwischen dem tatsächlichen Unternehmen der Alchemie
und der historischen Darstellung. Hieraus rührt, so das Argument, die ver-
meintliche epistemische Unterbestimmtheit, der die dargelegte Vieldeutigkeit
in der historischen Rezeption der Alchemie entspringt.

Das Verständnis alchemistischer Texte und Traktate, also der Hauptquellen der
historischen Rekonstruktion, wird durch den individualepistemologischen Cha-
rakter des Transmutationsprozesses grundlegend erschwert. Die Texte er-
scheinen mysteriös, dunkel, unvollständig und verunklarend, was in der Rezep-
tionsgeschichte je nach Deutungsinteresse unterschiedlich ausgelegt und be-
wertet worden ist. Versteht man die Transmutation jedoch als individualepis-
temischen Prozess, so lässt sich dennoch einiges Licht ins Dunkel bringen,
wenn nicht in Hinblick auf eine voll umfänglich objektivierende Lektüre einzel-
ner Texte, so doch in Hinblick auf deren Einbettung im alchemistischen Unter-
nehmen. Die alchemistische Sprache und mit ihr die alchemistischen Texte
sind anders als in den modernen Wissenschaften nicht darauf ausgelegt, den
individuellen Adepten aus einem dann objektivierten Wissen zu tilgen. Die
Sprache ist und bleibt hier individueller Einsatz und Besitz. Und wenn in die-
sem individualisierten Sprachgebrauch und der in und mit ihm gewonnen Er-
kenntnisse Deutungsfreiheiten zu kommunikativen Abkopplungen und Un-
schärfen führen, so ist die potenzierte Mehrdeutigkeit der Alchemie im Verlauf
ihrer Geschichte und ihrer Rezeption wenig verwunderlich. Die Frage nach dem
Wesenskern der Alchemie stellt sich aus Sicht der Metachrosis also anders:
nicht als Suche nach einer vermeintlich objektivierbaren Finalität alchemisti-
schen Wissens, sondern als performative Vielfalt individualepistemischer Vari-
ationen eines transmutationsalchemischen Farbspiels, die sich in der zu be-
obachtenden Mehrdeutigkeit seiner Rezeptions- und Deutungsgeschichte
fortpflanzt.

36
Um die Metachrosis der Alchemie weiter herauszuarbeiten, werde ich mich
zunächst genauer mit den verschiedenen historischen Rezeptionsweisen und
ihren interpretatorischen Einfärbungen auseinandersetzen. Der Anspruch be-
steht nicht darin, eine vollständige Geschichte aller Auseinandersetzungen mit
der Alchemie darzulegen, die wesentlich umfangreicher, differenzierter und
detailreicher in ihrer Genese historiografisch aufzubereiten wäre. Es geht mir
vielmehr aus einer spezifisch philosophischen Perspektive darum, die Metach-
rosis der Alchemie in ihrer historischen Bandbreite und Wirkweise sichtbar zu
machen. Dazu werde ich vier wirkmächtige interpretatorische Zugriffe auf die
Alchemie betrachten, welche die Spannbreite der modernen wissenschaftshis-
torischen Deutungen der Alchemie abstecken: Die Sicht der entstehenden mo-
dernen Chemie auf die Alchemie, die wissenschaftshistorischen Narrativierun-
gen George Sartons und Alexandre Koyrés, die tiefenpsychologische Interpreta-
tion C.G. Jungs sowie den Zugriff der neueren praxeologischen Wissenschafts-
forschung.

Der erste historisch deutende Zugriff auf die Alchemie, der herausgearbeitet
werden soll, ist die Universalgeschichte der Wissenschaften, wie sie von Geor-
ge Sarton, einem der Gründerväter der akademischen Wissenschaftsgeschich-
te, im frühen 20. Jahrhundert in Anschluss an chemiehistorische Arbeiten von
Chemikern des 19. Jahrhunderts entwickelt, propagiert und institutionalisiert
wurde. George Sarton urteilte vor dem Hintergrund seines eigenen Erkenntnis-
interesses, der Suche nach der einen und wahren Zivilisations- und Mensch-
heitsgeschichte wissenschaftlicher Erkenntnis, abschätzig über das Unterneh-
men der Alchemie und degradierte sie zu einem unnützen, wenn nicht sogar
gefährlichem Machwerk von Betrügern und Scharlatanen. Die Alchemie hatte
aus Sicht Sartons nichts zum zivilisatorischen Fortschritt der Wissenschaften
beigetragen, wurde daher als historische Verirrung der Geistesgeschichte be-
griffen und konnte dementsprechend historiografisch vernachlässigt und aus-
sen vor gelassen werden.

Der zweite historisch deutende Zugriff auf die Alchemie, der herausgearbeitet
werden soll, kann als ein Rehabilitationsversuch des alchemistischen Unter-
nehmens gedeutet werden, der von den Arbeiten des Sarton Schülers Alexand-
re Koyré ausgeht. Anders als sein Lehrer verfolgte Koyré eine stärker metaphy-
37
sisch ausgerichtete Wissenschaftsgeschichte, die von den konkreten Methoden
und Inhalten weitestgehend zu abstrahieren versuchte und vielmehr davon
ausging, dass es vor allem die epochal übergeordneten Ideen und Vorstellun-
gen waren, die zum Verständnis einzelner Wissensphänomene und Methoden
herangezogen werden müssten und die eine Epoche prägten. Ausgehend von
einem starken Epochenbegriff betrachtete er die Alchemie vor allem als Kind
ihrer Zeit, der Renaissance. Nach Koyré sollte die Renaissance als eine Zeit des
Umbruchs, der grenzenlosen Neugierde und epistemischen Offenheit verstan-
den werden, ohne die es die wissenschaftliche Revolution, mit der das geozent-
rische vom heliozentrischen Weltbild verdrängt wurde, nie gegeben hätte. Die
Renaissance und mit ihr die frühneuzeitliche Alchemie werden in dieser Lesart
aus dem strikten Exil der Pseudowissenschaften befreit, indem sie zumindest
zu einer historischen Vorbedingung moderner Wissenschaften aufgewertet
werden. Jedoch hatte die Alchemie laut Koyré in ihren konkreten Inhalten, Zie-
len und Methoden wissenschaftlich letztlich nichts Bemerkenswertes hervor-
gebracht. Während Koyré den von ihm als ungestüm und grenzenlos beschrie-
benen Wesenskern der Alchemie positiv bewertet, da er dazu beitragen habe,
die alten scholastisch verknöcherten Denkweisen aufzubrechen, spricht er den
Adepten somit gleichzeitig aber auch diejenige praktische und theoretische
Vernunft ab, die dann gerade die modernen Wissenschaften ausmacht.

Ein weiteres Feld, in dem die Alchemie rezipiert und deutend verarbeitet wur-
de, ist die Psychologie. Seit Mitte des 19. Jahrhundert und damit früher als in
der akademischen Wissenschaftsgeschichte lässt sich die Herausbildung eines
gleichsam exotisierenden und romantisierenden Bildes der Alchemie feststell-
ten, das im Hinblick auf deren vermeintlich tiefenpsychologischen Effekte mit
einer partiellen Aufwertung der alchemistischen Praxis einhergeht. C.G. Jung
war somit zwar nicht der erste Psychologe, der sich einer entsprechenden Deu-
tung der Alchemie zuwandte – erwähnt seien hier beispielsweise die Arbeiten
Ethan Allen Hitchcocks und auch Herbert Silberers –,37 aber sicherlich der pro-
                                                                                                           
37
Vgl. dazu : Hitchcock, Ethan Allen 1857 : Remarks upon Alchemy and the Al-
chemists, indicating a Method of Discovering the True Nature of Hermetic Phi-
losophy; And showing that the Search after the Philosopher’s Stone had not for
its object the Discovery of an Agent for the Transmutation of Metals. Being also
an Attempt to rescue from undeserved Opprobrium the Reputation of a Class
38
minenteste und wirkmächtigste. Jungs tiefenpsychologische Deutung geht
davon aus, dass es der Alchemie nie wirklich um die materielle Transmutation
realer Stoffe ging. Die Arbeit im alchemistischen Laboratorium diente vielmehr
dem Zweck, eine materielle Projektionsfläche oder Bühne zu erschaffen, auf der
ein geistiger Prozess inszeniert und ins Rollen gebracht werden konnte, bei
dem sich in Jungianischer Termininologie Anima und Animus, die unbewussten
und die bewussten Anteile im Denken des Alchemisten, vereinigen konnten.
Diesen Prozess der geistigen Vereinigung des Bewussten und Unbewussten
bezeichnete Jung als tiefenpsychologischen Prozess der Individuation, den er
bereits in den alten Texten der Alchemie vorweggenommen sieht. Im Gegen-
satz zu den chemischen und wissenschaftshistorischen Formen der Rezeption
der frühneuzeitlichen Alchemie, war Jung weder an den konkreten Praktiken
und Zielen der Alchemie, noch an ihrem möglichen Beitrag zur Herausbildung
der modernen Wissenschaft interessiert. Sein Fokus war einzig der tiefenpsy-
chologische Prozess des Adepten, den er anhand eindrücklich detaillierter Text-
studien als Vorgänger seiner eigenen Archetypenlehre und Tiefenpsychologie
stilisiert.

Die letzte Deutung, die es in Hinblick auf die Metachrosis der Alchemie zu ent-
wickeln gilt, hat sich im Zuge einer verstärkt praxeologisch ausgelegten neue-
ren Wissenschaftsforschung formiert. Der sogenannte practical turn, der in den
letzten Jahrzehnten in den historischen geistes-, sozial- und kulturwissen-
schaftlichen Wissens- und Wissenschaftsforschung vollzogen wurde, hat seit
einigen Jahren auch in den Bereich der Alchemieforschung Einzug gehalten.38

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 
of extraordinary Thinkers in the past Ages, Boston. Wie bereits am Titel dieser
Arbeit zu erkennen ist, handelt es sich um einen Rehabilitationsversuch der als
unwissenschaftlich angesehenen Alchemie mit Hinblick auf deren psychologi-
sche Aspekte.
38
Vgl. dazu beispielsweise nochmals die Arbeiten von:: Historische Epistemolo-
gie zur Einführung. Hamburg, 2007; Rheinberger, Hans-Jörg 1992: Experiment,
Differenz, Schrift. Zur Geschichte epistemischer Dinge. Marburg/Lahn; Rhein-
berger, Hans-Jörg 2001: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine
Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas. Göttingen; Galison, Peter
1987: How Experiments End. Chicago, IL; Knorr-Cetina, Karin 2002: Wissenskul-
turen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen. Frankfurt.

39
Die Alchemie wird aus dieser Perspektive weniger auf ihre Ideen, Vorstellungen
und Theorien hin untersucht, im Fokus des Interesses stehen vielmehr das
Handwerk der Adepten, ihre Kunstfertigkeit und die Materialität der Praxis.
Auch einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der alchemistischen Praxis wird
in diesem Kontext verstärkt Beachtung geschenkt. Zentrale Fragen wären hier
beispielsweise: Wie erlernte man das Handwerk der Alchemie? Welche Geräte
und Verfahren wurden dazu verwendet? Wer wurde Adept? In welchen sozio-
kulturellen und ökonomischen Kontexten realisierten sich alchemistische Pro-
jekte? Wer zählte zu den finanziellen Unterstützern der Alchemisten? Welche
technischen Anwendungen generierte die Alchemie? Die frühneuzeitliche Al-
chemie erscheint aus Sicht dieser neueren Alchemieforschung weniger als
mysteriöses und schwer fassbares Erkenntnisunternehmen, sondern wird in
das kulturelle und wirtschaftliche Leben der Zeit eingebettet. Auch die Figur
des Adepten wirkt somit weniger geheimnisvoll. Sie wird anschlussfähiger an
die Figur des Kaufmanns, der nach materiellem Gewinn strebt, und des Hand-
werkers, der mit seinen Händen schafft. Die Alchemisten leisteten aus dieser
Sicht einen nicht zu gering einzuschätzenden Beitrag zum Entstehen und Er-
folg der modernen Wissenschaften und Technologien, etwa indem sie Verfah-
ren wie die Destillation erfanden, die letztlich die Grundlage der modernen
Chemie bildeten. Die praxeologische Perspektive auf die Alchemiegeschichte
ebnet demnach diverse historische Abgrenzungen und Einhegungen ein. Sie
stellt insbesondere zwischen Alchemie und Chemie auf materieller, praxeologi-
scher Ebene eine historische Kontinuität her. Dabei lässt sich eine thematische
Ausdifferenzierung und Schwerpunktsetzung in der Alchemieforschung aus-
machen: Autoren wie Tara Nummedal und Pamela Smith verfolgen eher die
konkrete ökonomische Kontextualisierung der frühneuzeitlichen Alchemie,
etwa an Höfen von Kaisern wie Rudolf II in Prag oder auch in Habsburg.39 Des
Weiteren gibt es in der Forschung einen besonderen Fokus auf die materielle
Kultur, wie es exemplarisch in Bruce T. Morans 2005 erschienenen und weg-
weisenden Buch „Distilling Knowledge: Alchemy, Chemistry, and the Scientific

                                                                                                           
39
Smith, Pamela H. 1994: The Business of Alchemy. Science and Culture in the
Holy Roman Empire. Princeton, NJ; Tara Nummedal 2007: Alchemy and Author-
ity in the Holy Roman Empire. Chicago, IL.
40
Revolution“ beschrieben wurde.40 Der Alchemieforscher William R. Newman
entwickelte die technologische Perspektive weiter und vertritt in seinem Buch
„Promethean Ambitions“ die These, dass in der Alchemie der Frühen Neuzeit
die technologische Denkweise erfunden wurde. Dies veränderte das Verhältnis
von Kunst und Natur, so Newman, nachhaltig, da die Alchemisten im Gegen-
satz zu den damaligen Künstlern nicht nur davon ausgingen, dass sie die Natur
imitieren konnten, sondern sich imstande sahen, Neues zu erschaffen, um die-
se zu verbessern.41 Die Adepten hätten, so gesehen, nicht nur wichtige Instru-
mente und Verfahren auf einer konkreten materiellen Ebene erfunden, son-
dern gleichsam auch den Kerngedanken moderner Technologie schlechthin
hervorgebracht: die Möglichkeit und Fähigkeit der menschlichen Kunst die Na-
tur zu perfektionieren.

Im Folgenden wird die Metachrosis der Alchemie anhand der vier skizzierten
historischen Deutungen im Detail entwickelt.

                                                                                                           
40
Moran, Bruce T. 2005: Distilling Knowledge. Alchemy, Chemistry, and the Sci-
entific Revolution. Cambridge, MA.
41
Newman, William R. 2004: Promethean Ambitions. Alchemy and the Quest to
Perfect Nature. Chicago, IL.
41
2.1 Idioten und Betrüger

„Die Alchemisten haben einige Principien, aber sie


missbrauchen sie. Der Missbrauch der Wahrheiten
muss aber eben so sehr gestraft werden als die Ein-
führung der Lüge.“42

Es ist nicht lange her, da wurde die Geschichte der modernen Wissenschaften
von ihren Vertretern noch mehrheitlich als Geschichte der großen Figuren und
der großen Erfindungen inszeniert. Sie wurde als Erfolgsgeschichte zelebriert,
in der eine Erkenntnis und Entdeckung der anderen folgte und in der durch
Überwindung falscher Weltbilder, Theorien und Ideen immer mehr – und
weltweit einzigartig – wahres Wissen über die Welt hervorgebracht und kumu-
liert wurde. Dass es sich auch tatsächlich um eine Fortschrittsgeschichte han-
delte, liess sich am gesellschaftlichen Siegeszug der Technik und Naturwissen-
schaften direkt beobachten und erfahren. Die modernen Wissenschaften ge-
langen zu einem wahren Bild der Welt, weil sie es ermöglichen, diese nach den
Wünschen und Bedürfnissen der Menschen zu verändern. Die technologische
Gestaltbarkeit und Kontrolle der Umwelt wird hier mit der erfolgreichen Suche
nach der Wahrheit gleichgesetzt. Die kontinuierliche Enthüllung der einen wis-
senschaftlichen Wahrheit über die Welt durch immer ausgefeiltere Methoden
und Technologien bringt wiederum neue Methoden und Technologien hervor,
die diesem Wahrheitsspiel eingeprägt sind. Das wissenschaftliche Weltbild
verstärkt und vergewissert sich so autopoetisch. Gäbe es mehr als nur eine
wissenschaftlich bestimmbare Wahrheit über die Gesetzmäßigkeiten der Na-
tur, so wären Technologien ambivalent und damit letztlich unberechenbar und
wirkungslos. Wenn Naturgesetze ebenso variieren würden, wie Meinungen,
dann böte keine Brücke sicheren Überweg, so das technowissenschaftliche Evi-

                                                                                                           
42
Blaise, Pascal 1840: Pensée. Gedanken über die Religion und einige andere
Gegenstände. Berlin, S, 190-203. Zehnter Abschnitt: verschiedene Gedanken
über die Philosophie und Literatur, 40.

42
denzprinzip. Doch auch die Geschichtsschreibung, die Vorstellung vom Werden
der Wissenschaften schreibt sich in der Hochzeit der Moderne in diese selbst-
verstärkende Dynamik mit ein. Die Vorstellung von der Existenz einer einzigen
Wahrheit über die Welt spiegelt sich im historischen Narrativ einer einzigen
Geschichte dieser Suche nach Wahrheit wider. Es handelt sich somit um eine
Wissenschaftsgeschichte, in der nach und nach die falschen und pseudowis-
senschaftlichen Zugriffe auf die Welt eliminiert werden. Die Wahrheit wird hier
strikt im Singular angesprochen, so dass kein Raum bleibt, für unterschiedliche,
sich gar widersprechende Ansichten, Handlungsstränge und Weltbilder. Fal-
sches Wissen kann es in dieser Logik nicht gegeben haben, nur immer schon
falsche Überzeugungen, rückwirkend zu erkennende Irrwege und Sackgassen,
entlarvte Scharlatane und Quacksalber. Die Annahme einer universalen Gültig-
keit der Naturgesetze und die Universalgeschichte der wissenschaftlichen
Wahrheitssuche, die im frühen 20. Jahrhundert sodann zum Ausgangspunkt
der akademischen Wissenschaftsgeschichte wird, bedingen sich gegenseitig.

Die Vorstellung von der einen Geschichte der modernen Wissenschaften, die
den Aufdeckungsprozess der einen Wahrheit darlegt, wurde durch das Wirken
George Sartons (1884–1956), der als einer der Gründerväter der Disziplin Wis-
senschaftsgeschichte angesehen werden kann, akademisch institutionalisiert.
Bereits in der ersten Auflage des von ihm im Jahr 1912 gegründeten und bis
heute existierenden wissenschaftshistorischen Zentralorgans, der Zeitschrift
Isis, brachte er seine Pläne für sein Fach folgendermaßen auf den Punkt:

„La revue Isis a l'ambition de réunir (Hervorheb., S.B.) et


de soumettre à la critique les études relatives à l'histo-
ire de la science.“43

Sartons Projekt zielte auf eine Verdichtung der Menschheits- auf eine Wissen-
schaftsgeschichte ab, auf ein vereinigtes zivilisationshistorisches Grossnarrativ
im Medium des wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts. Die heterogene
Koexistenz vieler kleiner, voneinander unabhängiger, sich womöglich sogar
widersprechender Erzählungen und Geschichten, eine grundlegende epistemo-
                                                                                                           
43
Sarton, George 1913: L’histoire de la science. In: Isis 1 (1), S.3.
43
logische Pluralität also war für Sarton undenkbar, und: in gewisser Hinsicht
sogar gefährlich. Die Einheit der menschlichen Kultur wäre, so Sarton, gefähr-
det; man hätte nichts mehr, auf dem man zivilisatorisch aufbauen konnte.44
Sarton liess keine Zweifel daran, dass er den Grund für seine letztlich platonis-
tische Form der Geschichtsschreibung im Gegenstand der Wissenschaftsge-
schichte verankert sah:

„Le caractère synthetique de la revue est évident; il


résulte de la nature même de son objet.“45

Es gilt für Sarton also tatsächlich nur eine Geschichte der modernen Wissen-
schaften zu schreiben, da es nur eine geben kann. Schliesslich hätte die
Menschheit nur diese einen Naturgesetze entdeckt, mit denen die Welt be-
herrschbar gemacht werden konnte und keine anderen. Aus der wissenschaft-
lichen Wahrheit folgt nach Sarton auch ihre wahre Geschichte, die zu schrei-
ben ist. Der Rest ist Irrtum. Sartons Projekt eines New Humanism, und diese
Seite seines Projekts sollte hier nicht unerwähnt bleiben, schrieb sich eine pazi-
fistische Mission zu, die in Anbetracht des Zeitalters der Extreme in der Wis-
senschaft eine gemeinsame vereinigende Kraft für die Menschheit sah. Gab es
nur eine Wahrheit in einer Geschichte der Wissenschaften, so barg dies laut
Sarton weniger Konfliktpotential als ein Widerstreit vieler verschiedener
Wahrheiten, die nur in einen historischen Relativismus führen würden. Für Sar-
ton hatte die Wissenschaftsgeschichte somit eine zentrale Funktion für das
Wohl der Menschheit: Ihr vereinigendes Narrativ der Suche nach Wahrheit soll-
te die Welt zusammenhalten.

Sartons stark synthetisierende und monolithische Geschichtsvorstellung um-


fasste ein Stufenmodell der Wissenschaftsgeschichte. Er identifizierte Entwick-
lungsstufen der wissenschaftlichen Erkenntnis, die mehr oder weniger scharf
voneinander unterscheidbar sein sollten, etwa am Übergang von Renaissance
und Moderne. Was laut Sarton die Renaissance und damit auch die Epoche der

                                                                                                           
44
Vgl. dazu Sarton, George 1937: The History of Science and the New Human-
ism, Cambridge, MA.
45
Sarton, George 1913: L’histoire de la science. In: Isis 1 (1), S. 42.
44
Alchemie maßgeblich von der wissenschaftlichen Moderne unterschied, war
ihre grenzenlose Imaginationskraft und frivole Masslosigkeit im Denken, bei
gleichzeitigem Fehlen jeglicher Systematisierungs- und Abstraktionsleistung.46
Ideen wurden laut Sarton in der Renaissance zwar rege kultiviert und gesam-
melt, aber eben nicht in einem kohärenten Weltbild angeordnet. Die Renais-
sance war die Epoche der neugierigen Sammler und metaphysischen Träumer.
Auch gab es in der Renaissance in diesem Sinne kein einheitliches Erkenntnis-
ziel, wie etwa die vereinigte Erforschung und Erkenntnis der Natur in der Mo-
derne, die unity of natural science. Die Welt der Renaissance quoll zudem gera-
dezu über vor übersinnlichen Objekten, Geistern und fantastischen Geschich-
ten. Die intellektuell ausschweifende und hedonistische Epoche der Renais-
sance wurde laut Sarton mithilfe der wissenschaftlichen Revolution hinüber-
wunden, zum Wohle der Menschheit, so seine Wertung, und auf diese Weise
Platz geschaffen für die reine wissenschaftliche Erkenntnis. Die Moderne er-
scheint in Sartons zivilisations- und wissenschaftshistorischen Universalnarra-
tiv als ein vom magischen Aberglauben bereinigtes Zeitalter der wissenschaft-
lichen und technischen Vernunft.47 Berechenbare Technologien treten an Stelle
der Verheissungen und Verblendungen der Magie, um die Wünsche und Be-
dürfnisse der Menschheit zu befriedigen. Der Mensch erkennt und dominiert

                                                                                                           
46
Vgl. dazu Koyré, Alexandre, 1966/1988: Galilei. Die Anfänge der neuzeitlichen
Wissenschaft, Berlin, S. 86: „Alles ist möglich: so, meine ich, lässt sich die Men-
talität der Renaissance auf den Begriff bringen.“
47
George Sarton ist sich bis zu einem gewissen Grad darüber bewusst, dass die
Leistungen der Alchemie nicht vollständig bedeutungslos sind. So schrieb er in
seiner „Introduction to the History of Science“: „Thus did the alchemical facts
outlast the alchemical structure; many of them are now integral parts of our
chemical knowledge.“ In Sarton, George 1927: Introduction to the History of
Science. Vol.I, Baltimore, MD, S. 19. Sarton erkennt durch die Unterscheidung
von „alchemical structure“ und „alchemical facts“, also dem generellen Ductus
und Ton der Alchemie sowie den mehr oder weniger isolierbaren Fakten und
Techniken, dass durchaus eine gewisse Kontinuität zwischen Alchemie und
moderner Naturwissenschaft gegeben ist. Im Laufe des 20. Jahrhunderts konn-
te eine Aufwertung der konkreten Methoden und Techniken einer wissen-
schaftlichen Tätigkeit gegenüber den Theorien stattfinden, so dass sich eine
neue, andere Form der Wissenschaftsgeschichte durchzusetzen begann, die
keinen harten Bruch zwischen Früher Neuzeit und Moderne erkennt. Vgl. dazu
Abschnitt 5 dieses Kapitels zur praxeologischen Deutung der Alchemie.
45
die Welt. Wissenschaft bedeutet Wahrheit und Fortschritt, Alchemie und Ma-
gie, Irrtum und Stillstand, so das dichotome wissenschaftliche Weltbild George
Sartons:

„The historians of science can not devote much at-


tention to the study of superstition and magic, that is,
of unreason, because this does not help him very
much to understand human progress. Magic is essen-
tially unprogressive and conservative; science is essen-
tially progressive; the former goes backwards; the lat-
ter, forward. […] Human folly being at once unprogres-
sive, unchangeable, and unlimited, its study is a ho-
peless undertaking. There can not be much incentive
to encompass that which is indefinite and to investi-
gate the history of something which did not deve-
lop.“48

George Sarton war nicht der erste, der sich in historischer Rückschau abwer-
tend über die Alchemie äusserte und sie dem irrationalen Reich der Magie und
Pseudowissenschaft zuschrieb.

Auch schon zur Blütezeit der Alchemie selbst gab es Kritiker alchemistischen
Denkens und Handelns, wie sich vor allem an zeitgenössischen Karikaturen der
Adepten sehen lässt. Im untenstehenden Kupferstich des Vergilius Polydorus
von 1537 erkennt man eine typische „Alchemistenküche“ des 16ten Jahrhun-
derts. Alles wirkt chaotisch und unorganisiert, überall liegen Gerätschaften und
Gefässe herum, zum Teil zerbrochen. Die Gewänder der beiden Alchemisten
wirken alt, schmutzig und sind von Löchern übersäht. Der im hinteren Bildteil
stehende Alchemist scheint sich unwissend und unsicher am Kopf zu kratzen,
wo hingegen der am Ofen hantierende Adept ein regelrechtes Chaos anzurich-
ten scheint. Alles in allem verkörpern die beiden Alchemisten in der Darstellung
des Kupferstichs nicht gerade den vorbildlichen Prototyp eines erfolgreichen
                                                                                                           
48
George Sarton 1927: Introduction to the History of Science. Vol.I, Baltimore, S.
19.
46
Wissenschaftlers, sondern eher das Sarton’sche Bild eines ärmlichen, unwis-
senden Chaoten und „Goldmischers“.

Abbildung 1 Kupferstich von 1537 Vergilius Polydorus, Der Dinge Erfindung. Augsburg.

Aber auch die zahlreichen Chemiehistoriker des 19ten und frühen 20ten Jahr-
hunderts scheinen Sartons Einschätzung der Alchemie zu teilen – will heissen:
Chemiker, welche die Geschichte ihres sich professionalisierenden Faches
schrieben, also in gewisser Hinsicht disziplinäres nation-building betrieben –
liessen kaum ein gutes Haar an den Tätigkeiten und Bestrebungen der Adep-
ten. Von einem stark positivistischen Standpunkt aus wurden die Adepten der
Alchemie nahezu durchgängig als zwielichtige Gestalten und Betrüger, und bei

47
Sarton sogar als „Idioten und Betrüger“ bezeichnet.49 Die Alchemisten würden
sich unredlicher und unwissenschaftlicher Methoden zur Erreichung ihrer Ziele
bedienen, sie verblieben bei „oberflächlichen Beobachtungen“, verwendeten
„völlig rätselhafter Ausdrücke“, bedienten sich „der merkwürdigsten Stoffe“
und „Naturprodukte verschiedenster Art“, wie etwa der Chemiker Thor Eke-
crantz 1913 schrieb.50 Ekecrantz geht in seiner Geschichte der Chemie sogar
noch weiter, und meint, einen grundsätzlich fortschrittshemmenden Impetus
im gesamten alchemistischen Unterfangen der Frühen Neuzeit zu erkennen.
So hätte das „verführerische Problem, die Kunst Gold zu machen, zu lösen“,
viele eigentlich anständige Wissenschaftler auf Abwege gebracht und daran
gehindert, dem vorgesehenen Fortschritt der wissenschaftlichen Vernunft zu-
zuarbeiten. Die magische Verführungskraft der Alchemie hätte diejenigen,
welche sie betrieben, auf undurchsichtige Art von der Arbeit an wahren wis-
senschaftlichen Problemen zurückhalten. Denn die Alchemie, so der Chemie-
historiker weiter, „zog eine Menge tüchtiger Arbeitskräfte an sich“ und „be-
schlagnahmte das Interesse einer Menge Gelehrter, die sonst zweifellos mit
ihrer Forschung viel zur Entwicklung des chemischen Erkenntnisgebietes hät-
ten beitragen können“.51

„Von der Möglichkeit, eine solche Transmutation aus-


zuführen, war man […] während dieser langen Zeit so
lebhaft überzeugt, daß fast alle, die sich mit Chemie
beschäftigten, ihre Kräfte diesem Reich der Habsucht
und der fehlgeschlagenen Hoffnungen widmeten.“52

Geht man zurück bis in die erste Hälfte des 19ten Jahrhunderts, so finden sich
vergleichbare abwertende Deutungen der Alchemie. So zum Beispiel in Thomas

                                                                                                           
49
So beschrieb Sarton die Alchemisten Mitte des 20. Jahrhunderts noch fol-
gendermassen:„[…] fools or knaves, or more often a combination of both in var-
ious proportions.“ Sarton zitiert nach Principe, Lawrence 2011: Alchemy Re-
stored. In: Isis 102, S.307.
50
Ekecrantz, Thor 1913: Geschichte der Chemie. Leipzig, S. 17.
51
Ebd. S. 20.
52
Ebd., S. 19.
48
Thomsons „The History of Chemistry“ von 1830.53 Thomson, der als Professor
der Chemie an der Universität von Glasgow wirkte, beschäftigt sich im ersten
Teil seiner Geschichte der Chemie ausschliesslich mit der Alchemie als einem
magischen und abergläubischen Vorgänger der Chemie. Mit dezidierter Ver-
achtung schreibt Thomson, dass die Alchemie eine so grosse Verirrung
menschlichen Denkens darstellte, dass er die Fanatiker und Betrüger, die sie
praktizierten, in seiner Darstellung allein schon als Warnung an seine Leser
schlichtweg nicht ignorieren könnte.54 Einzig in Paracelsus erkennt er, wie viele
andere Chemiehistoriker seiner Zeit auch, eine herausragende historische Per-
son im Dunstkreis der sonst unwissenschaftlichen Alchemisten. Paracelsus
hatte den Anstoss in Richtung Iatrochemie gegeben, die Thomsons Ansicht
nach wissenschaftlicher war als die Transmutationsalchemie. Bei ihr ginge es
weniger um den krankhaften Versuch Gold bzw. den Stein der Weisen herzu-
stellen, so seine Begründung, als um das Heilen von Kranken und die dazu
notwendige Herstellung geeigneter Arzneien und Mittel.

„[...] it was long before it [chemistry, Anm. SB] could


shake off the trammels of alchymy, which hung upon
it like a nightmare, cramping and blunting all its ener-
gies [...] It was not till about the middle of the eighte-
enth century that it was able to free itself from these
delusions, and to venture abroad in all the native dig-
nity of a useful science.“55

In ähnlicher Weise schrieb der Chemiker Samuel Brown in seinen 1858 erschie-
nen „Lectures on the Atomic Theory“:

„Wherefore, I warn them away from that vulgary so-


called alchemy and its foolish hopes, for it were surely
absurd to hope that God would make a man rich be-

                                                                                                           
53
Thomson, Thomas 1830: The History of Chemistry. London.
54
Vgl. dazu ebd. S. i-ii.
55
Ebd. S. 1.
49
cause he has made him wise: and as doing good with
it, that is mere knavery to be spit upon.”56

Solche Warnungen und Schimpftiraden über das aus einer derartigen Perspek-
tivierung gefährlich, absurd und betrügerisch zugleich erscheinende Unter-
nehmen der Alchemie finden sich nicht nur bei Thomson und Brown, sondern
auch bei einer Reihe weiterer Chemiker und Chemiehistoriker, wie beispiels-
weise Johann Friedrich Gmelin und Henry Mirchin Noad.57

Sartons stark negativ gefärbte Sichtweise auf die frühneuzeitlichen Adepten ist
daher als eine Fortsetzung einer bereits bestehenden und etablierten Deutung
der Alchemie zu verstehen, die vom Siegeszug wissenschaftlicher Erkenntnis
ausging und die auch über Sartons Lebzeiten hinaus Bestand hat. So geht der
Wissenschaftshistoriker Maurice Crosland bis heute davon aus, dass die Al-
chemie als betrügerisches Unterfangen aufzufassen sei und man ihr keinen
wissenschaftlichen Wert zuschreiben könne, und dürfe.58

Sarton mag zwar in seiner Kritik an der frühneuzeitlichen Alchemie in einer


langen Tradition stehen und kann damit nicht als Einzel- oder gar Sonderfall
behandelt werden. Gleichzeitig sollte man nicht übersehen, dass Sarton diese
kritische Deutung in einem neuen übergeordnet verstandenen wissen-
schaftshistorischen Zusammenhang ausbuchstabierte und der etablierten Kri-
tik an der Alchemie zivilisatorische Relevanz zu verleihen imstande war. Sarton
ging, wie oben beschrieben, davon aus, dass es nur eine Geschichte der Wis-
senschaften und der in ihr realisierten wahren Erkenntnis gab, bzw. geben
durfte, um der vermeintlichen Gefahr eines wissenschaftlichen Relativismus
und damit einer Entzweiung der Menschheit zu entgehen. Die Alchemie wurde
damit nicht nur zum absoluten Gegenteil von Wahrheit und wissenschaftlicher
Erkenntnis stilisiert, sondern gleichzeitig auch als eine vermeintlich homogene
                                                                                                           
56
Brown, Samuel 1858: Lectures on the Atomic Theory. London, S. 207.
57
Vgl. dazu Gmelin, Johann Friedrich 1797-99: Geschichte der Chemie. 3 Bände.
Göttingen. Sowie: Noad, Henry Mirchin 1843: Lectures on Chemistry. London, S.
1 ff.
58
Crosland Maurice 1990: Chemical Revolution of the Eighteenth Century and
the Eclipse of Alchemy in the ‚Age of Enlightment’. In: von Martels ,W.M.R.
(Hg.): Alchemy Revisited. Leiden, S. 67-77.
50
Einheit dargestellt, die man als Ganzes betrachten, beschreiben und eben auch
kritisieren konnte. Unterschiede und Differenzen in verschiedenen alchemisti-
schen Texten und Traktaten, die grundlegende Metachrosis individualepiste-
mischer Farbspiele also, verschwanden hinter dieser Blaupause ebenso wie die
unterschiedlichen Persönlichkeiten, die sich der alchemistischen Tätigkeiten
verschrieben hatten. Es gibt nach Sarton keine individuellen Alchemisten, son-
dern nur den Alchemisten an sich. Und ebenso gab es die Alchemie nur noch im
monolithischen Kollektivsingular.59

Diese Radikalisierung der Alchemiekritik durch George Sarton sowie deren


überzeichnete Homogenisierung in der historischen Betrachtung führten unter
anderem dazu, dass die Alchemie durch die Forschung der Wissenschaftsge-
schichte lange Zeit nicht nur vernachlässigt, sondern geradezu missachtet
wurde. Die hieraus folgenden Versäumnisse prägen die historische Alchemie-
forschung bis heute. Nach wie vor findet sich die Rede von dem Alchemisten
und der Alchemie. Viel zu selten finden sich detaillierte Fallstudien zu einzelnen
Texten, Autoren und Belegen, die in der Zusammenschau einen angemessen
differenzierteren Blick auf die Alchemie der Frühen Neuzeit ermöglichen könn-
ten.

Bereits im Jahr 1956 entwickelte Wilhelm Ganzenmüller, einer der wenigen


Chemiehistoriker seiner Zeit, die diese Schieflage der Alchemieforschung er-
kannten und zu lösen versuchten, in seinem Buch „Beiträge zur Geschichte der
Technologie und der Alchemie“ ein Programm über die „Zukunftsaufgaben der
Geschichte der Alchemie“.60 Zu diesen Zukunftsaufgaben zählten insbesonde-

                                                                                                           
59
Wie im Abschnitt zuvor beschrieben wurde, äusserten sich erste Chemiker
um 1800 zwar kritisch zur Alchemie, indem beispielsweise der zugrunde geleg-
te Elementbegriff hinterfragt wurde, doch gingen die meisten von ihnen nach
wie vor davon aus, dass Transmutationen möglich sind und übten sich daher in
alchemistischen Tätigkeiten wie eben auch Boyle. Die Alchemie wurde hier an-
ders als von Sarton nicht als Einheit betrachtet, sondern es ging vielmehr da-
rum, manche ihrer Annahmen und Methoden zu revidieren.
60
Ganzenmüller, Wilhelm 1956: Beiträge zur Geschichte der Technologie und
Alchemie. Weinheim. S. 360f. Ganzenmüller begründet seine Aufgeschlossen-
heit gegenüber der Alchemie folgendermassen: „Unsere heutige Zeit ist stärker
für die Probleme der Alchemie aufgeschlossen, als das im 19. Jahrhundert der
Fall war. So lange die Chemie die Elemente als die unzerlegbaren und daher
51
re: die „Katalogisierung sämtlicher alchemistischer Handschriften“, die Erstel-
lung eines „beschreibenden Katalogs aller alchemistischen Bilderhandschrif-
ten“ sowie eines „Sachwörterbuches der Alchemie“ und eine „Bibliographie zur
Geschichte der Alchemie“.61 Nicht eines dieser Ziele kann heute als annähernd
befriedigend abgeschlossen betrachtet werden. Dies ist mitunter auf die
Wirkmacht des Sarton’schen Deutung in der Wissenschaftsgeschichte zurück-
zuführen, die nichts anderes als Verachtung für eine überaus komplexe und
mehrere Jahrhunderte durchziehende Geschichte der Alchemie übrig hatte. Bis
heute wird die Alchemie, bezeichnender Weise, im bibliografischen Index der
Zeitschrift Isis unter dem Stichwort „Pseudo-Science“ geführt.62

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 
auch unwandelbaren Bausteine der Materie betrachtete, erschien das Bestre-
ben der Alchemie, ein Element in ein anderes zu verwandeln, als so unsinnig,
daß die Beschäftigung mit ihr dem wissenschaftlich Denkenden kaum lohnend
erschien. Nachdem aber die Atomforschung der neuesten Zeit gezeigt hat, daß
die Verwandlung eines Elements in ein anderes theoretisch möglich ist, konnte
auch die Stellung zur Alchemie eine andere werden.“ Ebd. S. 360.
61
Ebd. S. 361-363.
62
Vgl. dazu Sarton, George 1927: Introduction to the History of Science. Vol.I,
Baltimore, MD, S. 6: „Thus it will be necessary to outline the development of
some pseudo-sciences, such as astrology, alchemy, physiognomy, and oneirol-
ogy.“ Sowie Principe, Lawrence M. 1998: The Aspiring Adept. Robert Boyle and
His Alchemical Quest. Princeton, NJ, S. 19: „Alchemy came to be classed with
magic, witchcraft, and astrology; still today, the unfortunate survival of George
Sarton's indexing scheme for the Isis Bibliography continues to class alchemy
under the rubric of pseudo-science Accordingly, the notion that respected his-
torical figures dabbled in alchemical explorations was not generally pursued.”
52
2.2 Grenzenlose Neugier

„Scholastic philosophy with its infinitely subtle argu-


ments, theology with its ambiguous phraseology, ast-
rology – so vast and complicated – are only child’s play
compared with alchemy.“63

Eine Historiografie, die sich vor allem auf die „Sieger“ historischer Entwicklun-
gen konzentriert und die vermeintlichen Sackgassen und Irrwege ignoriert, um
eine Geschichte zu erzählen, die von kontinuierlichem Fortschritt geprägt ist,
bezeichnet man seit 1931 nach Herbert Butterfield, dem bekannten englischen
Historiker, Geschichtsphilosophen und Autor des Werkes „ Origins of Modern
Science (1949)“ allgemein als „whig history“.64 Nicht erst spätestens seit Ernst
Mayrs Aufsatz „When is Historiography Whiggish?“ aus dem Jahr 1990, stößt
somit der Begriff whig history auch in der Wissenschaftsphilosophie auf immer
größeren Anklang.65 Man versteht darunter eine spezifische Art von Wissen-
schaftsgeschichte, die sich vorrangig der Genese historisch erfolgreicher wis-
senschaftlicher Ideen, Theorien, Experimente und Methoden widmet. Als histo-
risch erfolgreich wird eine Idee im Sinne der whig history genau dann bezeich-
net, wenn sie dazu beitragen konnte, den heutigen Stand der Wissenschaften
zu befördern, wenn sich also in der Rückschau eine kontinuierliche Trajektorie
von heute bis zu dieser Idee in der Vergangenheit ziehen lässt. Unweigerlich
wird hier das Bild der Fussspuren im Schnee evoziert, die im Rückblick immer
schon auf den Wanderer ausgerichtet sind. Geschichtsschreibung beginnt im
Heute; die Gegenwart besitzt die Deutungshoheit über die Vergangenheit.

Wissenschaftsgeschichte im Stile Geogre Sartons kann vor dem Hintergrund


dieser Definition also als whig history bezeichnet werden. Sie wird getragen
von den Hauptdarstellern, den grossen Männern, im Prozess der wissenschaftli-
                                                                                                           
63
Albert Poisson zitiert nach Read, John 1995: From Alchemy to Chemistry. New
York, S. 73.
64
Butterfield, Herbert 1931: The Whig Interpretation of History. London.
65
Mayr, Ernst 1990: When Is Historiography Whiggish? In: Journal of the Histo-
ry of Ideas (51) 2, S. 301–309.
53
chen Entwicklung, wie Robert Boyle, Galileo Galilei, Isaac Newton und Antoine
Lavoisier. Weiterhin gibt es weniger bedeutenden Nebendarsteller und obskure
Randfiguren, die im Feld der Pseudowissenschaften ein Schattendasein fristen
und gewissermassen unter epistemologischer Quarantäne gestellt sind. Neben
Magiern und Hexen zählen hierzu auch die Adepten der Frühen Neuzeit. Im
Sinne einer aus der Gegenwart der Wissenschaften heraus geschriebenen whig
history wäre der Versuch, die Geschichte der Alchemie zu schreiben gerade kei-
ne Wissenschaftsgeschichte. Alchemieforschung ist so gesehen und in Anbe-
tracht wichtigerer historiografischer Aufgaben reine Zeit- und Ressourcenver-
schwendung. Sie wäre zumindest erklärungsbedürftig, mehr noch – und dies
stellte eben jener Historiograph der Entstehungsgeschichte moderner Wissen-
schaften Herber Butterfield heraus: ein gefährliches Unterfangen. Butterfield
beschrieb das Schicksal derjenigen, die sich dem Studium der Alchemie wid-
men wollten folgendermaßen, sie würden von demselben Irrsinn „eingefärbt“,
den sie zu beschreiben versuchten, „tinctured [Hervorheb., SB] by the same sort
of lunacy they set out to describe.“66

Kontrastiert man nun das Narrativ des linearen Erkenntnisfortschritts, mit dem
von Stephen Toulmin gewählten evolutionären Bild eines sich entlang der Zeit-
achse verästelndendes Baumes der Ideengeschichte, oder genauer: einer evolu-
tion of concepts, 67 so erkennt man das Dilemma einer whig history of science
im Umgang mit der Alchemie. Im Baum der Ideengeschichte gibt es viele Äste,
die verenden, die nicht weiterwachsen, die irgendwo, wie die Alchemie, entlang
der Zeitachse aus dem Rampenlicht der Historie, oder, um im Bild zu bleiben,
aus der Hauptwuchsrichtung des Baumes gen Sonne und Licht der Erkenntnis
abgezweigt und ausgeschert sind. Folgt man nun blind dem Hauptstamm heu-
tiger Wissenschaften gegen die Wuchsrichtung zurück in die Vergangenheit,
so stößt man erst dann auf die Alchemie, als Alchemie und Chemie noch nicht

                                                                                                           
66
Butterfield, Herbert 1952: The Origins of Modern Science, 1300-1800. New
York, S. 98.
67
Vgl. zur anschaulichen Darstellung einer Wissenschaftsgeschichte, die sich
die Vergangenheit als einen sich aufspaltenden Baum bis ins heute denkt und
damit auf der starken Individualisierbarkeit von Ideen beruht: Stephen Toulmin
1968: Voraussicht und Verstehen. Ein Versuch über die Ziele der Wissenschaft.
Frankfurt.
54
unterschieden waren. Die Zeitspanne, in der beide Unternehmungen nebenei-
nander existiert und sich gegenseitig womöglich auch befruchtet haben,
kommt aus der whig-Perspektive nicht in den Blick. In der Ausblendung all der
alternativen Trajektorien in die Vergangenheit müssen die Verzweigungen hier
als unvermittelte Brüche und scharfe Abgrenzungen erscheinen, die dann in
Epochen und ihre Übergänge eingeteilt werden können: Frühe Neuzeit, wis-
senschaftliche Revolution, Moderne. Umso erstaunlicher ist es, dass genau die-
ses starke Epochenverständnis in George Sartons „whig history“ letzten Endes
dazu beigetragen hat, die Alchemie als Forschungsobjekt der Wissenschaftsge-
schichte zu rehabilitieren. Insbesondere Alexandre Koyré, einer der herausra-
genden Schüler Sartons, kommt in diesem Prozess der Rehabilitierung eine
wichtige Rolle zu. Er definierte dabei den Begriff der Epoche anders als sein
akademischer Lehrer, so dass die Alchemie in einem anderen Licht erscheinen
konnte als bisher. Im Gegensatz zu Sarton schreibt Koyré der Alchemie eine
tragende und zentrale Rolle im Prozess der wissenschaftlichen Revolution zu:
als eine ihrer Möglichkeitsbedingungen.

Bevor ich dazu komme, Alexandre Koyrés Epochenbegriff sowie die damit ein-
hergehende Umdeutung der Alchemie-Geschichtsschreibung ab den späten
1930er Jahren zu erläutern, ist es ebenso wie im letzten Abschnitt wichtig, zu
sehen, dass auch Koyré in einer Tradition steht. Er konnte sich auf Vorarbeiten
berufen, die durch eine Reihe von Chemiehistorikern geleistet worden waren,
wie beispielsweise noch im 19. Jahrhundert von Marcelin Berthelot und Ed-
mund Oskar von Lippmann und dann im 20. Jahrhundert durch Zeitgenossen
Koyrés wie Julius Ruska, Paul Kraus und Walter Pagel.68 Deren empirischen Stu-
dien zur Alchemiegeschichte, die sich nicht in das Sarton’sche Narrativ einfüg-
                                                                                                           
68
Vgl. dazu: Ruska, Julius 1935: Uebersetzung und Bearbeitung von al-Rāzis
Buch Geheimnis der Geheimnisse. Berlin; Ruska, Julius 1931: Turba Philosopho-
rum. Ein Beitrag zur Geschichte der Alchemie. Berlin; Ruska, Julius 1926: Tabula
Smaragdina. Ein Beitrag zur Geschichte der Hermetischen Literatur.
Heidelberg; Ruska, Julius 1937: Al-Rāzī's Buch Geheimnis der Geheimnisse.
Berlin; Kraus, Paul 1942-43: Ǧābir Ibn Ḥayyān. Contribution à l'histoire des idées
scientifiques dans l'islam. Kairo; Pagel, Walter 1944: William Harvey. Some Ne-
glected Aspects of Medical History. o.O; Pagel, Walter 1961: The Prime Matter of
Paracelsus. London; Pagel, Walter 1986: From Paracelsus to Van Helmont. Lon-
don.
55
ten, stellten der Alchemie einen Weg zurück in die Aufmerksamkeit der aka-
demischen Wissenschaftsgeschichte in Aussicht. Was diese Arbeiten allesamt
auszeichnet ist eine beeindruckende historiografische Detailschärfe, die ohne
negative Wertungen hinsichtlich vermeintlich falscher epistemischer Tugen-
den, Methoden, Vorstellungen und Ziele der Alchemie auskommt. Auch die
Gründung der Zeitschrift Ambix Ende der 1930er Jahre durch Frank Sherwood
Taylor, der einige Jahre später das wegweisende Buch „The Alchemists. Foun-
ders of Modern Chemistry“ veröffentlichte, stellen wichtige Einschnitte in der
Rezeptionsgeschichte der Alchemie dar. Das Vorurteil der Zauberei und des
Betrugs, das sich bis heute hartnäckig hält, wurde in dieser Zeit zunehmend
auch hinterfragt:69

“We have all heard of alchemists, and most of us have


a picture of them, somewhat confused with that of
magicians or wizards. But this is a total error, for as far
as we know the alchemists sought to accomplish their
work by discovering and utilizing the laws of nature,
and they never, or at least very rarely, attempted to
bring about results by ‘magical’ processes – by charms,
spells, invocations of demons, etc.”70

Alexandre Koyré, dessen Arbeiten in diesem Kontext einer aufkommenden em-


pirischen Arbeiten mit der Alchemiegeschichte zu verorten sind, wurde jedoch
wie sein Lehrer George Sarton durch einen starken Epochenbegriff geleitet, der
mehr auf die grossen Zusammenhänge als auf das historisch-empirische Detail
abzielte. Anders als Sarton richtete er seinen Blick nicht ausschliesslich auf das
Kriterium der wissenschaftlichen Wahrheit von Theorien und Ideen, sondern
vielmehr auf übergreifende metaphysische Vorstelllungen und Überzeugun-
gen, die seiner Ansicht nach eine Epoche kennzeichnen. Er steht damit in der
Tradition einer historistischen Geschichtswissenschaft, die sich seit dem 19.
Jahrhundert akademisch etablieren konnte. Alexandre Koyrés historische Un-

                                                                                                           
69
Taylor, Frank Sherwood: The Alchemists. New York, 1952.
70
Ebd. S. 1
56
tersuchungen waren von der Vorannahme geprägt, dass jeder Epoche eine
spezifische Denkweise zugrunde liegt, die in den historischen Quellen zwar
nicht expliziert wird und trotzdem so wirkmächtig ist, dass sie die gesamte
Forschungskultur einer Epoche zu affizieren vermag. Mehr noch: sie kommt in
der gesamten Kultur und in ihren Praktiken zum Ausdruck und durchwirkt die-
se.

„L’évolution de la pensée scientifique […] ne formait


pas […] une série indépendante, mais était, au
contraire, très étroitement liée à celle des idées
transscientifiques, philosophiques, métaphysiques, re-
ligieuses.“71

Der Wissenschaftshistoriker sollte laut Koyré seinen Blick daher weniger auf
die konkreten Inhalte und Theorien der jeweiligen Epoche und ihrer Forscher
richten, dieser müsse vielmehr auf den spezifischen Stil oder auch die Atmo-
sphäre des Denkens und des Kulturlebens einer Zeit achten. Anders als Sarton
verfolgte er daher die Geschichte der Wissenschaften nicht ausschließlich aus
der Gegenwart zurück in die rückprojizierte Vergangenheit. Er versuchte histo-
ristisch jeder Epoche eine gewisse eigenständige und wertzuschätzende Eigen-
logik des Denkens zu zuschreiben, die man nur erkennen könne, wenn man
sich vom heutigen Stand der wissenschaftlichen Forschung in gewissem Masse
löst und distanziert.

Welche positiven Eigenschaften Koyré der Renaissance zuschreibt, ist dennoch


auf den ersten Blick nicht immer leicht zu erkennen. In einem seiner Haupt-
werke, der Galilei-Studie von 1966, schreibt er sogar:

„Wir wissen heute, dass der kritische Geist in der Re-


naissance einen selten schwachen Stand hatte; da

                                                                                                           
71
Zitiert nach Cohen, Bernhard / Clagett, Marshall 1966: Alexandre Koyré (1892-
1964). Commemoration, in: Isis 57 (2), S. 160.
57
gibt es kaum eine vergleichbare Epoche. Finsterer
Aberglaube herrschte […].“72

Hier spricht der Schüler George Sartons, geprägt von der Überzeugung, dass
die wissenschaftliche Revolution als eine Fortschrittsgeschichte zu erzählen sei.
Und in der Tat findet sich bei Koyré keine Textstelle, in der er in anerkennender
Art und Weise über die konkrete Praxis der Alchemie spricht oder gar Adepten
als zentrale Figuren der wissenschaftlichen Revolution deutet. Er geht vielmehr
davon aus, dass dem Denken der Renaissance weniger den Ergebnissen nach
eine Leistung zugesprochen werden sollte, sondern wenn, dann aufgrund sei-
ner Prämissen. In seiner berühmten Studie zu Paracelsus, gleich zu Beginn sei-
ner Ausführungen,73 beschreibt Koyré die Frühe Neuzeit als „eine Zeit, die so
voller Neugier, Leben und Leidenschaft war“.74

Alte, verschollen geglaubte Texte, zum Beispiel von Ptolemäus wurden gegen
Ende des 15. Jahrhunderts wieder neu entdeckt, ebenso wie das von Marsilio
Ficino erstmals ins Lateinische übersetzte Corpus Hermeticum, eine der wert-
vollsten Schriftsammlungen für Alchemisten, mit theologischen, kosmologi-
schen, moralischen, aber auch astrologischen und magischen Inhalten. Ameri-
ka wurde entdeckt, Afrika erstmals umsegelt. Und auch die anatomischen Auf-
zeichnungen Leonardo da Vincis und des Andreas Vesalius trugen laut Koyré zu
einem geistigen Klima bei, das sich voller Entdeckungslust dem unerschöpfli-
chen Reichtum der Welt hingab.

                                                                                                           
72
Koyré, Alexandre 1988: Galilei. Die Anfänge der neuzeitlichen Wissenschaft
(1966). Berlin, S. 84.
73
Koyré Alexandre 2012: Paracelsus (1933). Aus dem Französischem von Thomas
Laugstien. Zürich.
74
Ebd., S. 7.
58
Abbildung 2 Francis Bacon - Novum Organum 1620

Besonders deutlich wird dieses geistige Klima der Neugier und Entdeckungs-
lust, auf das sich Koyré immer wieder bezieht, im Frontispiz des „Novum Or-
ganum“, dem Manifest der neuen Wissenschaften von Francis Bacon aus dem
Jahre 1620.75 Zu sehen ist, wie ein Expeditionsschiff die Meeresenge von Gibral-
tar durch die zwei Säulen des Herkules verlässt, die das Ende der bekannten
Welt versinnbildlichen, und ohne erkennbares oder näher bestimmtes Ziel dem
offenen Horizont entgegensegelt. Diese Neugierde und Lust auf alles Unbe-
kannte zeichneten nach Koyré die Epoche der Renaissance aus.

                                                                                                           
75
Bacon, Francis 1620: Novum Organum. London.
59
„Es gehört zu den eigentümlichsten Merkmalen jener
Zeit, dass dem Denken jeder Begriff des Unmöglichen
fehlte. Alles ist möglich. Das ergibt eine grenzenlose
und kritiklose Gläubigkeit.“76

Doch was die Renaissance als Epoche der leidenschaftlichen Neugier in Hin-
blick auf rationalistische Prozesse des wissenschaftlichen Erkenntnisfort-
schritts zu bewirken vermochte, wird wiederum nur klar vor dem Hintergrund
der Koyré’schen These, dass im Zuge der wissenschaftlichen Revolution unser
Denken „nachhaltig verändert wurde“, indem dessen „Rahmen“ und „innerste
Struktur“ geradezu gewaltsam durchbrochen wurde. Die spezifische Leistung
der Renaissance und damit auch der Alchemie besteht konkret darin, dass sie
einerseits durch ihr ausschweifendes Denken in Unmöglichkeiten die bis dato
festgefahrene und auf Aristoteles zurückgehende mittelalterliche Ontologie
und Kosmologie zerstörte. Damit wurde dem geozentrischen Weltbild ein Ende
bereitet und die geschlossene Welt eines wohlgeordneten mittelalterlichen
Kosmos in die unendliche Weite des gleichsam unbekannten Universum ge-
öffnet, so Koyrés bekannte These:

„Dachten die Menschen vor der wissenschaftlichen


Revolution die Welt noch als geschlossen, endlich,
wohlgeordnet und hierarchisch, so war dies in der Fol-
ge nicht mehr der Fall. Mit Galileo Galilei zerfiel die
Welt in eine bloss sinnlich wahrnehmbare und in eine
wahre Welt, die nur noch mit den Mitteln der Geomet-
rie, der exakten Wissenschaft, beschrieben und ver-
standen werden konnte und in welcher die Erde nichts
Besonderes mehr war, sondern nur ein Stern unter vie-

                                                                                                           
76
Koyré Alexandre 2012: Paracelsus (1933). Zürich, S.31, Fussnote 44.
60
len im unendlichen Universum; bestenfalls eine stella
nobilis im Sinne Cusanus.“77

Die wissenschaftliche Revolution, so Koyré, konnte erst dann stattfinden, als


dieser Prozess der Zerstörung des mittelalterlichen Denkens vollzogen wurde.
Unweigerlich kommt einem hier die Theorie der „schöpferischen Zerstörung“
in den Sinn, die Joseph Schumpeter für die erfolgreiche ökonomische Entwick-
lung in derselben Zeit formulierte.78 Das Denken der Renaissance leistete dies
durch seine grenzenlose Neugierde und Furchtlosigkeit vor dem Unbekannten
und vermeintlich Unmöglichen. Wissenschaftliche Theoriebildung war zwar so
nicht möglich, aber gleichzeitig öffneten sich bis dato unerschlossene Denk-
räume, die mit zahlreichen neuen Ideen und Theorien gefüllt werden konnten:
die heliozentrische Theorie des Nikolaus Kopernikus, Johannes Keplers Überle-
gungen zur Weltharmonik, Giordano Brunos Ausführungen zur Unendlichkeit
des Alls und schliesslich die Physik eines Galileo Galilei. Die Renaissance war die
Möglichkeitsbedingung, die Vorbereiterin, oder weniger wohlwollend formu-
liert: die Steigbügelhalterin der wissenschaftlichen Revolution. Es erscheint
paradox: Ohne die zügellose geistige Freizügigkeit und Frivolität, die Leiden-
schaft am Umdenken und der intellektuelle Eklektizismus, wäre die wissen-
schaftliche Revolution, das heisst das Aufkommen der strengen, weil exakten
und disziplinierten Wissenschaften laut Koyré nicht möglich gewesen.

Die Alchemie war nach dieser Deutung Koyrés in der Tat nicht nur ein irrele-
vanter Hinterhof der wissenschaftlichen Revolution, sondern vielmehr ein
wichtiger Impulsgeber. Er schreibt den konkreten Inhalten und Überzeugungen
der Alchemie zwar, wie gesagt, keinen großen Wert zu, deutet jedoch die von
Sarton identifizierten Schwächen der Renaissance, das leidenschaftliche Den-
ken des Unmöglichen, auch hier positiv um. Er schwächt so, mit Gaston Ba-
chelard gesprochen, den epistemischen Bruch zwischen den Epochen ab, in-
dem er die eine als Möglichkeitsbedingung der nachfolgenden versteht, elimi-

                                                                                                           
77
Koyré, Alexandre 2008: Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Uni-
versum (1957), Frankfurt, S.7
78
Schumpeter, Joseph 1942: Capitalism, Socialism, and Democracy, New York /
London.
61
niert ihn aber keinesfalls vollständig. In Koyrés Arbeiten zur Frühen Neuzeit
wurde jedoch, und dies ist ein Wendepunkt in der Rezeptionsgeschichte die
Alchemie, als ernstzunehmendes Forschungsobjekt der Wissenschaftsge-
schichte erstmals, wenngleich mit den genannten Einschränkungen, rehabili-
tiert.

Die größte Stärke der ideengeschichtlichen Deutung der Alchemie im Stil Ale-
xandre Koyrés ist aber mit Sicherheit die Erkenntnis, dass Alchemieforschung
nicht im klassischen Stile einer „whig history“ betrieben werden darf. In den
historischen Studien zu alchemistischen Texte muss davon ausgegangen wer-
den, dass diese in einer spezifischen Vorstellungswelt einer autonomen Denk-
kultur entstanden sind, die es zu verstehen gilt, bevor vorschnelle Wertungen
vor dem Deutungshintergrund heutigen wissenschaftlichen Wissens eine his-
torisch angemessene Sicht auf die Adepten und ihre alchemistischen Unter-
nehmungen verstellen. Diese historistische Neujustierung und Sensibilisierung
der Wissenschaftsgeschichte in Hinblick auf das Studium epochenspezifischer
Denkweisen lässt sich über Michel Foucaults Arbeiten zu den sogenannten
„Epistemen“ in seinem selbst epochemachenden Werk „Die Ordnung der Din-
ge“ bis hin zur heutigen Renaissanceforschung verfolgen.79 Foucault beschreibt
im zweiten Kapitel der Ordnung der Dinge die Renaissance anders als Koyré
nicht nur als Epoche zügellosen Denkens sondern spezifischer als ein „Zeitalter
der Ähnlichkeit“. Laut Foucault vollzog sich jedes Denken und Forschen dieser
Zeit in Analogieschlüssen, die auf äusserlichen Ähnlichkeiten beruhen. Vor-
nehmlich wurden hier die Bereiche des Mikro- und Makrokosmos kurzge-
schlossen. Prinzipiell aber konnten alle Dinge und Orte auf der Welt miteinan-
der verbunden und in Beziehung gesetzt werden. Die Alchemie erscheint in
diesem Lichte als Prototyp eines Denkunternehmens im Zeitalter der Ähnlich-
keiten. Dies lässt sich am Beispiel der alchemistischen Metalllehre aufzeigen:
Adepten gingen davon aus, dass jedes der ihnen bekannten Metalle aufgrund
äusserlicher Eigenschaften in Verbindung mit einem Himmelskörper steht. So
wurde das Gold wegen seiner warmen Farbe und Leuchtkraft mit der Sonne
verbunden, das Silber analog mit dem Mond. Sogar das alchemistische Schrift-

                                                                                                           
79
Foucault, Michel 1966: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Hu-
manwissenschaften. Frankfurt.
62
symbol für das Analogiepaar Sonne/Gold war dasselbe: Der Circumpunkt: das
heisst ein Kreis mit einem Punkt in der Mitte.80

In der neueren Renaissanceforschung wird das Vorhaben Koyrés und Foucaults,


das Denken der Renaissance in seinem Kern zu erfassen, weiter fortgeführt und
spezifiziert. Michel Foucaults Annahme einer Episteme der Ähnlichkeiten in der
Renaissance wird nun im Hinblick auf eine sowohl wirkmächtige als auch in
doppelter Hinsicht für das Denken sinnbildlichen Darstellungsform präzisiert.
William B. Ashworth, Jr. argumentiert, dass sich das Denken der Renaissance in
einem „emblematischen Weltbild“ ausprägt.81 Ashworth beschreibt den Kern
dieses Weltbildes wie folgt:

„The essence of this [emblematic, SB] view is the belief


that every kind of thing in the cosmos has myriad hid-
den meanings and that knowledge consists of an at-
tempt to comprehend as many of these as possible.
[...].82

Der Wunsch, den versteckten Sinn der Dinge und all ihrer Beziehungen unter-
einander aufzudecken, realisierte sich im Medium des Symbolischen im Span-
                                                                                                           
80
Foucaults Annahmen trafen auf einige Kritikpunkte, insbesondere, dass die
zwei großen, von ihm beobachteten Brüche in der Entwicklung des menschli-
chen Denkens, einmal in der Mitte des 17. Jahrhunderts und dann um 1800,
historisch nicht haltbar sind, sobald eine Detailanalyse betrieben wird. Ebenso
wie seine Beschreibung der Renaissance als Zeitalter der Ähnlichkeit. Vgl. dazu
bspw: Dreyfus, Hubert / Rabinow, Paul 1982: Michel Foucault. Beyond Structur-
alism and Hermeneutics. Chicago, IL. Sowie: Huppert, George 1974: ‚Divinatio et
eruditio’. Thoughts on Foucault. In: History and Theory 13, S. 191-207.
81
Ashworth Jr., William B. 1990: Natural History and the Emblematic World
View. In: Lindberg, David C. / Westman, Robert S. (Hg.): Reappraisals of the Sci-
entific Revolution. Cambridge, S. 303-332.
82
Ebd., S. 312. Ashworth kritisiert mithilfe dieser Definition die noch bis heute
häufig vorkommende Annahme, dass das Weltbild der Renaissance vor allem
als „magisches“ zu verstehen sei, da seiner Meinung nach das magische Den-
ken lediglich Teil eines als weiter gefassten emblematischen Weltbildes zu ver-
stehen sei, das sich nicht ausschließlich um Magie drehte, sondern eben auch
Verbindungen jedes einzelnen Dinges zu antiker Geschichtsschreibung, Fabeln,
Rezepten, Etymologien, geographische Eigenheiten usw. mit in Betracht zog.
63
nungsfeld von Bild und Text. Im Zusammenhang mit der zunehmenden Entde-
ckung und Verbreitung altägyptischer Hieroglyphen, antiker Sprichwörter, Fa-
beln und Münzen und der damit verbundenen Praxis der Deutung und Dechiff-
rierung verdichtet sich in der Darstellungsform des Emblems das Weltbild der
Renaissance ab 1530 medial. Ein typisches Emblem dieser Zeit verband Bild und
Text, es umfasste eine Abbildung, einen Sinnspruch sowie zuweilen ein länge-
res Epigramm und verwies deutungsbedürftig von sich weg auf unterschied-
lichste Bereiche menschlichen Lebens, der Natur und Schöpfung. Um 1600
herum kursierten bereits hunderte solcher Embleme in verschiedensten Dru-
cken und blieben in Folge für mehrere Jahrzehnte im Umlauf, bevor die emb-
lematische Kultur ab 1650 langsam abebbte. Die Charakterisierung der Renais-
sance als eine spezifisch emblematische Kultur ist insbesondere auch in Hin-
blick auf die Auseinandersetzung mit der Alchemie sinnvoll. Embleme sind in-
tegrale Bestandteile der alchemistischen Traktate und damit des Transmutati-
onsprozesses selbst.83 Anhand der Emblemkultur lässt sich auch die Wechsel-
beziehung und Einbettung der Alchemie in die Denk- und Vorstellungswelt der
Renaissance besser verstehen. So spielen hier etwa bestimmte Motive, wie et-
wa Tiere, eine übergreifend wichtige Rolle. Ein sehr schönes Exemplar ist das
folgende Emblem aus Peter Iselburgs „Emblemata politica“ von 1617.

                                                                                                           
83
Insbesondere im weiter unten im Text von mir im Detail betrachteten alche-
mistischen Rosarium, welches, vom emblematischen Bildgedicht „Sol und Lu-
na“ begleitet, durch den Prozess der Transmutation führt.
64
Abbildung 3 Nosce teipsum - Emblem nach Peter Iselburg 161784

Man sieht gerahmt einen männlichen Pfau mit aufgefächertem Schwanz, der
sich selbst, trotz seines edlen Gefieders beschämt auf die vergleichsweise un-
ansehnlichen Füsse blickt. Überschrieben ist das Ganze durch das Motto: „No-
sce teipsum“ – Kenne Dich selbst. In dem Emblem verdichten sich unterschied-
liche Wissensformen, Mythologien, Naturkunden, Lebensweisheiten etc., die
sich zugleich aber nicht von selbst darbieten, sondern nach einer aktiven Deu-
tung des Betrachters verlangen. Das Deuten der Symbole und ihrer verborge-
nen Bedeutungen ist den Emblemen als Handlungsskript eingeschrieben. Ihr
Sinn ist dabei nicht isoliert und begegrenzt, sondern eingewoben in das Bedeu-
tungsgewebe der Welt mit all seinen analogischen Querbezügen und Ähnlich-
keiten.

                                                                                                           
84
Iselburg, Peter 1617: Emblemata politica. Nürnberg. Nr. 3.
65
„In the ideal emblem, each element was necessary,
but not sufficient, for comprehension; taken together,
they provided a pleasing and useful insight.“85

Der Pfau ist in der Renaissance mithin nicht nur ein Tier, verstanden als leben-
diger Organismus, sondern ein Zugang, ein Schlüssel zum Weltwissen. Wie
bereits angedeutet spielte der Pfau als Namensgeber einer der Stufen des al-
chemistischen Werkes auch eine wichtige Rolle in der Transmutationsalche-
mie, speziell auch im alchemistischen Traktat Rosarium Philosophorum, das
dann im nächsten Kapitel der vorliegenden Studie genauer betrachtet wird.

William B. Ashworth vertieft seinen Begriff des emblematischen Weltbildes in


der Renaissance entsprechend am Beispiel der Naturgeschichte. Die Auseinan-
dersetzung mit Tieren beschränkte sich hier nicht auf das, was heutzutage un-
ter Zoologie verstanden würde, sondern stellte sich als integraler Aspekt inner-
halb eines hochkomplizierten Beziehungszusammenhangs von Dingen und
Symbolen dar.86 So beschreibt beispielsweise auch der Zürcher Universalgelehr-
te Conrad Gesner den Pfau in seiner „Historia animalium“ von 1555.87 Man er-
wartet heutzutage von einer zoologischen Arbeit, etwas über den körperlichen
Aufbau des Tieres oder etwa sein Fortpflanzungsverhalten zu erfahren. Statt-
dessen bietet sich dem modernen Leser eine aus heutiger Sicht überraschende
Zusammenstellung von naturkundlichen Erörterungen, Historien, Fabeln und
Mythologien des Pfaus. Ashworth schreibt hierzu:

„The article begins with an attractive woodcut, follo-


wed by a list of the bird’s names in different langu-
ages, and a description, pieced together from ancient
authorities such as Aristotle and Pliny. Attention is
then given to the peacock’s habits and characteristics,

                                                                                                           
85
Ashworth Jr., William B. 1990: Natural History and the Emblematic World
View. In: Lindberg, David C. / Westman, Robert S. (Hg.): Reappraisals of the Sci-
entific Revolution. Cambridge, S. 311.
86
Ebd. S. 305.
87
Gesner, Conrad 1555: Historica animalium Lib III. De Avium. Zürich, S. 630-639.
66
where we learn, for example, that its flesh does not
decay after death and that it`s ashamed of its feet. On
subsequent pages we encounter a discussion of all
known peacock adjectives and their origins, such as
‚peacock blue’, or the Peacock River in India, or the
‚peacock stone’. We are told that the peacock was
associated with the goddess Juno and appeared with
her on ancient coins, and we are treated several fables
involving the pair. We are informed of the myths of
Argus, who had one hundred eyes, which were trans-
formed, after his death, into the peacock’s tail. We also
encounter peacock proverbs, peacock recipes, peacock
medicines, and peacock legends. Every single state-
ment is supported by a named authority, usually clas-
sical, but often contemporary. Gesner has provided us
with the ultimate peacock concordance.“88

Anders als in modernen zoologischen Studien wird der Pfau in Gesners Historia
animalium nicht erst von seiner natürlichen Umgebung und von den anderen
Kontexten, in denen er vorkommt, isoliert und dann betrachtet. Im Sinne des
emblematischen Weltbildes erforderte die adäquate Beschreibung des Pfaus
durch Gesner gerade die Zusammenschau sämtlicher Bezüge. Eine isolierte
Betrachtung eines Aspektes wäre im Gegenteil als unzureichend befunden
worden, da sie den Pfau sozusagen aus seinem kosmischen Zusammenhang,
zu dem eben nicht nur die biologische Umwelt zählte, herausgerissen hätte.
Ein für sich isolierter Pfau kommt in der Welt nicht vor, daher wurde eine ent-
sprechende Betrachtungsweise im Weltbild der Renaissance auch nicht als er-
kenntnisbringend angesehen:

[...] The notion that a peacock should be studied in iso-


lation from the rest of the universe, and that inquiry
                                                                                                           
88
Ashworth Jr., William B. 1990: Natural History and the Emblematic World
View. In: Lindberg, David C. / Westman, Robert S. (Hg.): Reappraisals of the Sci-
entific Revolution. Cambridge, S. 305-306.
67
should be limited to anatomy, physiology, and physical
description, was a notion completely foreign to Re-
naissance thought.“89

Was Alexandre Koyré als das „grenzenlose“ und „irrationale“ Moment der Re-
naissance und damit auch der Alchemie beschreibt und was bei Foucault als
epistemische Präferenz von Ähnlichkeitsbeziehungen schon spezifischer ge-
fasst wurde, erhält nun in der Annahme eines emblematischen Weltbildes eine
konkrete mediale Form und sinnbildliche Verdichtung. Die von Koyré konsta-
tierte grenzenlose Neugierde, die seiner Ansicht nach essenziell dazu beigetra-
gen hatte, das moderne naturwissenschaftliche Denken zu ermöglichen, kann
so präzisier gefasst werden. Doch gleichzeitig muss man feststellen, dass die
Alchemie, wenngleich sie in diesem Sinne wild, analogisch und emblematisch
war, bereits über eine so verstandene Renaissance hinausweist. Dieser Punkt
wurde vor der starken historisch-epistemologischen Annahme einer letztlich
für sich abgeschlossenen Epoche, oder Episteme, oder Weltsicht übersehen. Die
Adepten waren nämlich die ersten, die trotz der Situierung des Transmutati-
onsprozesses in einem allbezüglichen kosmischen Geschehen ganz im Sinne
der Renaissance, zugleich die Notwendigkeit der Isolation, der Eingrenzung im
Prozess der Erkenntniserzeugung im Laboratorium praktizierten und, was fast
noch wichtiger erscheint, auch konzeptuell reflektierten.90 Hier deutet sich eine
grundlegende Grenze im Verständnis der Alchemie durch Koyrés Deutung an,
die sich dann auch in der Tradition einer historistischen Epistemologie der Re-
naissance, wie eben gezeigt, reproduziert.

                                                                                                           
89
Ebd., S. 312. Ashworth kritisiert mithilfe dieser Definition die noch bis heute
häufig vorkommende Annahme, dass das Weltbild der Renaissance vor allem
als „magisches“ zu verstehen sei, da seiner Meinung nach das magische Den-
ken lediglich Teil eines als weiter gefassten emblematischen Weltbildes zu ver-
stehen sei, das sich nicht ausschließlich um Magie drehte, sondern eben auch
Verbindungen jedes einzelnen Dinges zu antiker Geschichtsschreibung, Fabeln,
Rezepten, Etymologien, geographische Eigenheiten usw. mit in Betracht zog.
90
Vgl. dazu meine Ausführungen zum Umgang der Alchemisten mit dem
„Flüchtigen“ in Kapitel 3 dieser Arbeit.
68
Auch wenn Alexandre Koyré einen nicht zu gering einzuschätzenden Beitrag
zur historisch-epistemologischen Rehabilitierung in der gegenwärtigen Alche-
mieforschung geleistet hat, so bedurfte es gleichzeitig noch einer historischen
Revision der kanonischen Figuren der wissenschaftlichen Revolution, wie Ro-
bert Boyle und Isaac Newton.91 Die Entdeckung und das Studium „apokrypher“
Schriften dieser Heroen der modernen Wissenschaften, in denen diese sich mit
alchemistischen Ideen und Experimenten beschäftigen, gaben seit den 1970er
Jahren konkreten Anlass dazu. In diesem Kontext sind bislang zahlreiche Veröf-
fentlichungen entstanden, in denen die Arbeiten dieser im Sinne der whig his-
tory of science bislang als fortschrittlich gefeierten Wissenschaftler nunmehr in
einem völlig anderen, obskuren Licht erschienen.92

So setzt sich etwa Lawrence Principe in seinem Buch „The Aspiring Adept. Ro-
bert Boyle and His Alchemical Quest“ mit den alchemistischen Tätigkeiten Ro-
bert Boyles auseinander. Boyle publizierte zwar zu Lebzeiten keine seiner Arbei-
ten zur Transmutationsalchemie, doch verfasste er mehrere Texte und Dialoge
dazu, welche zum Teil erhalten und in Principes Arbeit abgedruckt sind sowie
diskutiert werden.93 Obwohl Robert Boyle die Alchemie vor allem für ihre Vier-
Elemente-Lehre und die von den Adepten verwendeten Methoden zur Errei-
chung einer Transmutation kritisierte, kann kein Zweifel bestehen, dass er an
die Möglichkeit der Transmutation glaubte. Sie sollte seiner Meinung nach le-
diglich mit anderen Mitteln erreicht werden, als mit denen der alten Alchemis-
ten. Insbesondere der Schritt vom „Philosophischen Merkur“ der Alchemisten,
dem Quecksilber als zentraler Ausgangsstoff einer jeden alchemistischen
Transmutation, hin zum Stein der Weisen beschäftigte Boyle sehr, so dass er
sich in intensive Studien zu alchemistischen Texten vertiefte und sich mit sei-

                                                                                                           
91
Vgl. dazu Principe, Lawrence M. 2011: Alchemy Restored. In: Isis 102, S.305-312.
92
Vgl. dazu: Principe, Lawrence 1998: The Aspiring Adept. Robert Boyle and His
Alchemical Quest. Princeton, NJ. Sowie: Osler, Margaret (Hg.): Rethinking the
Scientific Revolution. Cambridge, 2000. Hierin insbesondere der Beitrag: Prin-
cipe, Lawrence: The Alchemies of Robert Boyle and Isaac Newton. Alternate Ap-
proaches and Divergent Deployments. S. 201-221.
93
Vgl. dazu Principe 1998, S. 65 ff., Principe diskutiert und beschreibt hier Boyles
“Dialogue on the Transmutation of Metals”. Insbesondere S. 76: „It is clear from
the Dialogue that Boyle sides strongly with the Lapidists in favor of the reality
of alchemical transmutation.“
69
nen Zeitgenossen darüber austauschte. Principe kann anhand der wieder ent-
deckten Texte nicht nur belegen, dass Boyle alchemistische Autoren studierte,
sondern dass er sogar selbst mehrere alchemistische Versuche, wenngleich er
sie nicht durchführte, so doch mit dem Gedanken spielte.94 Er kann weiter zei-
gen, dass Boyle in seinen Texten über die Alchemisten sowie in seinen eigenen
alchemistischen Arbeiten, eine andere Sprache verwendete als in seinen natur-
philosophischen Schriften. Boyle bediente sich in der Auseinandersetzung mit
der Transmutation und Spagyrik der typisch chrysopoetischen Ausdrucksweise
der Alchemisten,95 die von begrifflicher Unterbestimmtheit und einem symbol-
haften vor allem auf Performanz ausgelegten Sprachgebrauch geprägt war.
Dies steht im krassen Gegensatz zu dem sonst von Boyle propagierten und
praktizierten Wissenschaftsidealen der Offenheit, Transparenz und Verständ-
lichkeit.96 Zugleich wird der veränderte Sprachgebrauch im Übergang zum
Adepten durch die eingangs entwickelte These eines individualepistemischen
Prozesses der Transmutationsalchemie plausibilisiert. Und so schliesst Principe
nach seiner Analyse der lange Zeit apokryphen Schriften Robert Boyles, dass
kein Zweifel an dessen bis zu seinem Tode andauernden und intensivem Enga-
gement auf dem Gebiet der Alchemie bestehen kann, “[it] leaves no doubt as to
Boyle’s continued and intense involvement and belief in traditional chrysopo-
etic alchemy.“97

                                                                                                           
94
Ebd. S. 138ff.: „I have already shown that Boyle was an alchemical author, not
only writing the Dialogue on the Transmutation of Metals but also at least
planning several additional works in the subject […].”
95
Der Begriff chrysopoesis stammt vom griechischen Wort für „Gold“ und dem
Verb „machen“ ab, und verweist auf den Prozess der Transmutation.
96
Vgl. dazu ebd. S. 148ff: „In terms of traditional alchemy, Boyle not only made
allowances for the secrecy of others but indulged in it himself, often employing
traditional methods of concealment.” Oder auch ebd. S. 179: „ Similarly, Boyle’s
addiction to secrecy – revealed by his extensive use of ciphers and codes solely
in chrysopeia-related topics, his employment of the classical tequnique of ‘dis-
persion of knowledge’, and his remarkable ‘reservedness’ with Newton – shows
that he invested traditional alchemy with a special privileged status.”
97
Ebd. S. 180. Die Gründe für Boyle’s alchemistische Studien sieht Principe vor
allem auf dem Gebiet der Religion, der Medizin und der Wahrheitssuche lie-
gend. So versprach der Stein der Weisen nicht nur die Kommunikation mit En-
geln zu ermöglichen, so dass gleichzeitig deren Existenz belegt werden könnte,
70
Der bis dahin von der Wissenschaftsgeschichte als „Vater der modernen Che-
mie“ gefeierte Robert Boyle konnte in Anbetracht dieser Sachlage entweder
nicht mehr als der strikt rational denkende Wissenschaftler angesehen werden,
wie man ihn oft stilisiert hatte, oder aber die Alchemie war vielleicht doch nicht
ganz so irrational, wie man bis dato angenommen hatte. So oder so, der starke
Bruch zwischen Alchemie und Chemie war aufgrund der Forschungslage hier
nicht mehr haltbar und musste überdacht werden.

Eine ähnliche Entwicklung findet sich bei Isaac Newtons Beziehung zur Alche-
mie. Schon im 19ten Jahrhundert wusste man, dass sich Newton bisweilen –
wie man damals annahm – mit alchemistischen Themen auseinandergesetzt
hatte. Der berühmte Physiker und Newton-Biograf David Brewster ging zwar
wie selbstverständlich davon aus, dass Newton sich, was die Frage der Trans-
mutationsalchemie anging, ohne jeden Zweifel mit den Arbeiten der „Idioten
und Betrüger“ beschäftigt hatte, dass man dem aber nicht allzu viel Beachtung
schenken musste und sollte.98 Im ersten Drittel des 20ten Jahrhunderts tauch-
ten dann allerdings erneut Texte und Arbeiten Newtons zur Alchemie auf und
so wurde zu deren Begutachtung eine entsprechende Kommission an der
Cambridge University einberufen. Nach eingehendem Studium der relevanten
Texte kam die Kommission zu dem Ergebnis, dass die Arbeiten „von geringem
Interesse“ und „von geringem Wert“ waren. Die Schriftstücke wurden zum Ver-
kauf freigegeben und versteigert.99 Newtons alchemistische Bemühungen
blieben daher in den folgenden Jahrzehnten weiter unbeachtet. Erst Mitte der
1970er Jahre, im Umfeld einer sich zunehmend auch kritisch selbstreflektieren-
den Wissenschaftsgeschichte griffen Historikerinnen und Historiker wie Betty
J. T. Dobbs und Richard S. Westfall diese Frage wieder auf, veröffentlichten

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 
sondern auch ewige Gesundheit. Vgl dazu ebd. S. 213: „ Indeed, he was so
moved; his dogged pursuit of traditional chrysopoetic alchemy from the time
of his earliest forays into experimental natural philosophy to his death-bed is
neither curious nor surprising in view of the matchless prizes he expected to
reap from it.”
98
Brewster, Sir David 1855: Memoirs of the Life, Writings, and Discoveries of Sir
Isaac Newton. 2 Bde. London. Bd. 2, S. 374-375. Offensichtlich stützte sich Sarton
in seiner Formulierung hier auf Brewster. Vgl. dazu weiter oben im Text.
99
Vgl. dazu Principe, Lawrence 2011: Alchemy Restored. In: Isis 102, S. 308.

71
neue Studien zu Newtons alchemistischer Untersuchungen und entfachten so
nachhaltig eine Debatte über die Neubewertung dessen, was lange als wissen-
100
schaftliche Revolution bezeichnet worden war. Im Jahr 2011 schrieb Law-
rence Principe bereits rückblickend auf diese Entwicklung:

„[…] it is now common knowledge that Sir Isaac


Newton’s alchemy occupied him as seriously as optics
or mathematics, just as his theological pursuits rivaled
his physics in terms of the time and energy he spent
on them.“101

So „selbstverständlich“ es heute in der gegenwärtigen Wissenschaftsphiloso-


phie sein mag, dass Robert Boyle und Isaac Newton sich neben ihren chemi-
schen und physikalischen Arbeiten genauso intensiv mit religiösen und alche-
mistischen Themen auseinandersetzten,102 so darf nicht unterschätzt werden,
auf welchen Widerstand dieser wissenschaftshistorische Perspektivwechsel
traf und zum Teil noch heute trifft. Lawrence Principe beschreibt recht ein-
drücklich, wie er noch in den 1990er Jahren für seine „verleumderischen“ Arbei-
ten beschimpft wurde:

„I recall being yelled at during an international con-


ference in the 1990s for ‚defaming‘ Boyle and more re-
cently have had my claims about Boyle and alchemy
attributed to the use of hallucinatory drugs.“103

                                                                                                           
100
Vgl. dazu beispielsweise: Fanning, Philip Ashley 2009: Isaac Newton and The
Transmutation of Alchemy: An Alternate View of The Scientific Revolution.
Berkeley, CA. Sowie: Dobbs Betty J. T. 1991: The Janus Faces of Genius. The Role
of Alchemy in Newton's Thought. Cambridge.
101
Principe, Lawrence 2011: Alchemy Restored. In: Isis 102, S. 308
102
Vgl. dazu auch Wagner, Lioba 2011: Alchemie und Naturwissenschaft. Über
die Entstehung neuer Ideen an der Reibungsfläche zweier Weltbilder. Gezeigt
an Paracelsus, Robert Boyle und Isaac Newton. Würzburg.
103
Ebd. S. 309.
72
Die angebliche „Diffamierung“ der Väter der Wissenschaften verdeutlichte, wie
verbreitet die alchemistischen Praktiken der Adepten nicht nur in den ver-
meintlich ebenso abseitigen wie dunklen Laboratorien der Frühen Neuzeit wa-
ren, sondern auch dass diese im alltäglichen, nicht-wissenschaftlichen und hö-
fischen Leben des 17. Jahrhunderts eine wichtige und geradezu zentrale Rolle
spielten.104 In Anbetracht dieser Ergebnisse der neueren Alchemieforschung
musste das alte Narrativ der wissenschaftlichen Revolution und der darin an-
gelegten Exilierung der Alchemie grundlegend revidiert werden. Sowohl die
Rede von der dunklen Obsession der Alchemie, die einige wenige befiel und
diese von ihren anständigen wissenschaftlichen Bestrebungen abgehalten ha-
be, als auch die Rede von dem vermeintlich homogenen Gebilde einer irregelei-
teten und betrügerischen Alchemie, die im Sinne einer „whig history“ hatte
überwunden werden müssen, sind zumindest in der akademischen Wissen-
schaftsforschung seit jüngster Zeit obsolet.

                                                                                                           
104
Vgl. dazu: Moran, Bruce T. 1991: The Alchemical World of the German Court.
Stuttgart; Nummedal, Tara 2007: Alchemy and Authority in the Holy Roman
Empire. Chicago, IL 2007. Smith, Pamela 1994: The Business of Alchemy. Science
and Culture in the Holy Roman Empire. Princeton, NL. Eamon, William 1994:
Science and The Secrets of Nature. Books of Secrets in Medieval and Early Mod-
ern Culture. Princeton, NJ.
73
2.3 Transmutation des Geistes

„Wissenschaft muß dienen: sie irrt, wenn sie einen


Thron usurpiert.“105

Georges Sarton und Alexandre Koyré beschrieben das Aufkommen und Auf-
blühen der modernen Natur- und Technikwissenschaften als Erfolgsgeschichte.
Für Carl Gustav Jung, Schüler Sigmund Freuds und Begründer der Tiefenpsy-
chologie,106 stellte sich die Sache zur selben Zeit grundlegend anders dar. Der
von der noch jungen akademischen Wissenschaftsgeschichte in der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts diagnostizierte Bruch zwischen Alchemie und
Chemie sowie zwischen Moderne und Früher Neuzeit spielte auch für C. G.
Jungs eher antimodernistisches Denken eine zentrale Rolle. Die Alchemie war
für ihn ebenso wie für die Wissenschaftshistoriografie das schlechthin Andere,
eine grundlegende Antithese der Moderne und des wissenschaftlichen Fort-
schritts. Doch Jungs tiefenpsychologische Wertung dieser Andersartigkeit der
Alchemie wich radikal von Koyrés und Sartons Deutung ab. Er nahm einen ge-
radezu diametral entgegengesetzten Standpunkt ein. Im Gegensatz zu den
modernen Wissenschaften war die Alchemie, so Jung, der Archetyp eines ge-
sunden Bewusstwerdungs- und Selbstverwirklichungsprozesses des Men-
schen, in dem Bewusstsein und Unbewusstes noch in einem ausgewogenen
Verhältnis zu einander standen.

C.G. Jung war nicht der erste, der eine psychologische Deutung der Alchemie
entwickelte. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Alchemie zunächst im
Rahmen spiritualistischer, okkultistischer und religiöser Arbeiten als positiv

                                                                                                           
105
Jung, C.G. 2006: Studien über alchemistische Vorstellungen. Düsseldorf, S.
16.
106
Jung und Freud verband eine enge Freundschaft, bis zur Veröffentlichung
von Jungs Buch „Wandlungen und Symbole der Libido“ im Jahre 1912, im dem
er Freuds Libido-Begriff heftig kritisierte.
74
besetzter Bezugspunkt intellektueller Auseinandersetzung wiederentdeckt.107
Gleichzeitig fanden sich hier auch schon Arbeiten, in denen die Alchemie weni-
ger als Naturforschung denn als protopsychologisches Unterfangen gedeutet
wurde.108 Mit diesen Studien setzte sich im frühen 20. Jahrhundert dann auch
C.G. Jung auseinander. Dessen Studien zur Alchemie begannen 1928, als ihm
der Sinologe Richard Wilhelm die deutsche Übersetzung des taoistisch-
alchemistischen Traktates „Das Geheimnis der Goldenen Blüte“ zusandte und
ihn um einen Kommentar bat.109 Jung, der bereits zu okkulten Phänomenen
promoviert hatte, setzte sich bis zu seinem Lebensende in zahlreichen Werken
intensiv mit der Alchemie auseinander und entwickelte eine eigene tiefenpsy-
chologische Deutung, die im Folgenden dargestellt werden soll und die eine
weitere historische Einfärbung in der Metachrosis der Alchemie darstellt.

Die moderne Inflation des Bewusstseins

Das Weltbild der Alchemie, so Jung, war ein animistisches. Alles, was die Men-
schen der Frühen Neuzeit umgab, war beseelt. Eingehegt und aufgehoben im
panpsychischen Allzusammenhang des Kosmos konnten sie sich sicher fühlen

                                                                                                           
107
Atwood, Mary Anne 1918: A Suggestive Inquiry into the Hermetic Mystery.
With a Dissertation on The More Celebrated of The Alchemical Philosophers,
Belfast; Waite, Arthur Edwart 1970: The Turba Philosophorum. Or Assembly of
the Sages, Called also The Book of Truth in The Art and The Third Pythagorical
Synod; an Ancient Alchemical Treatise (1896). London; Waite, Arthur Edwart
1969: The Secret Tradition in Alchemy. Its Development and Records (1922).
London; Waite, Arthur Edwart 1992: The Hermetic Museum, Restored and
Enlarged. Most Faithfully Instructing all Disciples of the Sopho-spagyric Art
How That Greatest and Truest Medicine of The Philosopher's Stone May Be
Found and Held (1893). London.
108
Hitchcock, Ethan Allen 1857: Remarks upon Alchemy and the Alchemists. Bos-
ton, MA. Silberer, Herbert 1961: Probleme der Mystik und ihre Symbolik. Darm-
stadt. Siehe weiterhin Eliade, Mircea 1956: Schmiede und Alchemisten. Stutt-
gart; Metzger Hélène 1922: L'évolution du règne métallique d'après les alchi-
mistes du XVIIe siècle. Bruxelles; Merchant, Carloyn 1980: The Death of Nature.
San Francisco, CA; Keller, Evelyn Fox 1985: Reflections on Gender and Science.
New Haven, CT.
109
Jung, C. G. 1962: Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung. Hg. von
Aniela Jaffé. Meilen.
75
und bewegen. Laut Jung wurde die Welt, die die Menschen umgab, durch das
Aufkommen der Wissenschaften und der Technologie, zunehmend von allem
Seelischen befreit. Der Kosmos wandelte sich zur kalten anorganischen Natur,
dem seelenlosen Reich physiko-chemischer Notwendigkeit. Gleichzeitig wurde
das menschliche Bewusstsein in Jungs tiefenpsychologischer Deutung durch
diese Entseelung der Welt auf sich selbst zurückgeworfen. Es wurde egozent-
risch und avancierte zu dem ausgezeichneten Rückzugsort menschlicher Exis-
tenz. Während die Menschen nun äusserlich von nichts Seelischem mehr um-
geben waren, verlagerte sich die Seele nunmehr vollständig in das Innenleben
der Menschen. Seele und Bewusstsein fielen zusammen.

„Was aber war die ‚Seele’ seit den Zeiten der Aufklä-
rung und in den Zeiten des wissenschaftlichen Ratio-
nalismus? Seele wurde das, was ich weiß. Seele war
nirgends außerhalb des Ich. […] Jene Zeiten, wo die
Seele noch zum größeren Teil ,außerhalb des Körpers’
war, […] waren gründlichst vergangen.”110

Für Jung führten sowohl die Aufklärung als auch der mit ihr einhergehende
„wissenschaftliche Rationalismus” somit zu einer letztlich krankhaften „Inflati-
on des Bewusstseins“, die die psychische Gesundheit des modernen Menschen
nachhaltig gefährdet. Die Übermacht des Bewusstseins führt zu pathologi-
schen „Bewusstseinskrämpfen“, deren Therapierung laut Jung die Aufgabe des
Psychologen ist.

Die psychologische Grundhaltung der Menschen zur Zeit der Alchemie gegen-
über der eigenen Existenz unterschied sich laut Jung in diesem Sinne erheblich
von der Moderne. Sie war – und das ist für Jung zentral – im Hinblick auf die
geistige Gesundheit des Menschen vorzuziehen. Die Beseelung der Welt hatte
den vormodernen Menschen psychologisch entlastet, während der moderne
Mensch begann, innerlich an zu viel Seele zu leiden. Neurosen, Psychosen und
andere psychologische Störungen waren die Folge. Jungs Umwertung des wis-
senschaftlich-technischen Fortschritts, dessen Verkehrung in einen pathologi-
                                                                                                           
110
Jung, C. G. 1937: Die Erlösungsvorstellungen in der Alchemie. Zürich, S. 108.
76
schen Prozess der egozentrischen Übersteigerung des modernen Subjekts fin-
det sich in der Zeit im Kern durchaus auch bei anderen gegenüber der Moderne
kritischen Denkern wieder.111

Durch Jungs Aufwertung der Alchemie kam man zumindest im Bereich der Tie-
fenpsychologie weg von einer Vorstellung der Alchemie als geistige Verirrung
oder, im besten Fall, „Steigbügelhalterin“ der modernen Wissenschaften. Die-
ser konzeptuelle Perspektivwandel beförderte zugleich eine inhaltliche Ausei-
nandersetzung mit der Alchemie und ihren Werken. Jung nahm die alchemisti-
schen Traktate, anders als Koyré und Sarton, der für die Alchemisten vor allem
Verachtung übrig hatte, ernst und studierte sie ausgiebig. Die Alchemie war für
Jung weder Irrtum noch „atmosphärische“ Möglichkeitsbedingung wissen-
schaftlichen Fortschritts, sondern Ausdruck einer anderen, gesünderen
menschlichen Existenzweise und mehr noch, Alchemie war in gewisser Hin-
sicht Protopsychologie. Die Entstehungsgeschichte moderner Wissenschaften
muss nach Jung somit genau andersherum gedeutet werden: nicht als Fort-
schritt vom vormodernen Denken der Alchemie hin zum wissenschaftlich auf-
geklärten Geist der Moderne, sondern als Degeneration von einem gesunden
Weltbezug der Alchemisten, hin zum aufgeblasenen (Selbst-)Bewusstsein einer
rationalistisch überformten Moderne, befördert durch das Aufkommen der
Wissenschaften. Jung war sich selbstverständlich durchaus im Klaren darüber,
dass der Fortschritt der modernen Wissenschaften und die damit einherge-
hende Inflation des Bewusstseins nicht rückgängig gemacht werden können.
Er ging auch nicht davon aus, dass diese Entwicklung ausschliesslich Schlech-
tes mit sich gebracht hatte. Er wusste die Verstandesleistungen der modernen
Wissenschaften durchaus zu schätzen. Die Erhöhung der Bewusstseinsleistun-
gen habe einen kontrollierten Umgang mit dem Unbewussten ermöglicht.
Vormoderne Kulturen seien zwar seelisch gesünder, aber ihren unbewussten
                                                                                                           
111
Siehe hierzu etwa die Arbeiten Johann Jakob von Uexkülls, in dessen Umwelt-
lehre ein analoges Narrativ zur Entseelung der Welt ausmachen lässt. Der mo-
derne Mensch vergisst, dass die vermeintlich objektive Welt der Wissenschaft
letztlich seine eigene Bedeutungswelt ist. Der nunmehr objektivierte grenzen-
lose Weltraum wird zur unendlichen „Einöde“ aufgebläht, während der
Mensch egozentrisch auf sich zurück geworfen wird. von Uexküll, Johann Jakob
1931: Der Organismus und die Umwelt. In: Driesch, Hans / Woltereck, H. (Hg.):
Das Lebensproblem im Lichte der modernen Forschung, Leipzig, S. 190f.
77
Projektionen ausgeliefert gewesen.112 Dabei projizierte Jung selbst seine Unter-
scheidung vormoderner und moderner Kulturen in orientalistisch-exotistischer
Tradition erstaunlich „unbewusst“ und unkritisch auf die Unterscheidung von
fortschrittlichen westlichen und vermeintlich primitiveren östlichen Kulturen.

Jungs stark vereinfachte und antimodernistische Lesart regte ihn bis zu seinem
Tode zum intensiven Studium der Alchemie an. Er publizierte nicht nur zahlrei-
che Arbeiten zur Alchemie, sondern baute zudem systematisch eine umfang-
reiche Privatbibliothek mit alchemistischen Traktaten auf.113 Trotz seiner histo-
rischen Studien zur Alchemie hatte Jung, und dies gilt es, im Auge zu behalten,
kein genuin historisches Erkenntnisinteresse. Jung war kein Historiker und
dementsprechend ging es ihm in seinen alchemistischen Studien auch nicht
um eine Rekonstruktion dessen, „wie die Alchemie wirklich war“. Jung war Psy-
chologe. Insofern ging es ihm um die seelische Gesundheit und persönliche
Entwicklung des Menschen. Es ging darum, Wege zu finden, diejenigen psycho-
logischen Störungen zu behandeln, die sich als Folge des „Bewusstseinskramp-
fes“ im Laufe eines individuellen modernen Lebensweges herausbilden. Zu die-
sem Zweck setzte er sich in seiner Tiefenpsychologie mit dem komplexen Zu-
sammenhang von Bewusstem und Unbewusstem auseinander. Die Funktion
der historischen Narrative C.G. Jungs ist nur vor diesem Hintergrund seines
                                                                                                           
112
Er schrieb er in seinen „Studien über alchemistische Vorstellungen“ im
Kommentar zum „Geheimnis der Goldenen Blüte“, einem taoistisch-
alchemistischen Traktat, die mündlich ab dem 8. Jahrhundert überliefert wur-
de: „Es liegt mir fern, die ungeheure Differenzierung des westlichen Intellektes
zu unterschätzen; an ihm gemessen ist der östliche Intellekt als kindlich zu be-
zeichnen. (Das hat natürlich mit Intelligenz nichts zu tun!) Wenn es uns gelin-
gen sollte, eine andere […] seelische Funktion zu solcher Dignität zu bringen,
wie es mit dem Intellekt geschehen ist, so hat der Westen alle Anwartschaft
darauf, den Osten um ein beträchtliches zu überflügeln.“ In Jung 2006, S. 19.
Die Gegensätze aus Unbewusstem und Bewusstem, so Jung, hielten sich in der
chinesischen Ganzheitslehre, ebenso wie in alchemistischen Traktaten der Frü-
hen Neuzeit „stets die Waage“, was von hoher Kultur zeugen würde. Einseitig-
keit, wie es die Fokussierung des Westens auf bewusste Verstandesleistungen
erziele, verleihe zwar immer „Stoßkraft“, sei dafür aber auch ein Zeichen für
„Barbarei“, da die Seele auf der Strecke bleibe. Ebd. S. 19.
113
Die Sammlung „Alchemie, Magie und Kabbala (Stiftung der Werke C.G.
Jung)“ ist seit kurzem digital einsehbar unter folgendem Link:
http://www.e-rara.ch/alch/nav/classification/1133851 (aufgerufen: 01.02.2014)
78
eigentlichen psychologischen Erkenntnisinteresses angemessen zu verstehen.
Der frühneuzeitlichen Alchemie kam hierbei weniger eine Rolle in der Meister-
erzählung moderner Wissenschaftsgeschichte zu, sie fungierte in Jungs Den-
ken vielmehr als historische Evidenz und in gewisser Hinsicht auch als pro-
topsychologischer Vorläufer.114 Jung erkannte in der Alchemie grundlegende
Elemente seiner eigenen tiefenpsychologischen Lehre wieder. So schrieb Jung
in seiner Biografie „Erinnerungen, Träume und Gedanken“115:

„Die Erfahrungen der Alchemisten waren meine Erfah-


rungen, und ihre Welt war in gewissem Sinne meine
Welt. Das war für mich natürlich eine ideale Entde-
ckung, denn damit hatte ich das historische Gegen-
stück zu meiner Psychologie des Unterbewußten ge-
funden.“116

                                                                                                           
114
Wenngleich der Jung’schen Historisierung vor dem Hintergrund seiner Psy-
chologie des Unbewussten eine gewisse Plausibilität zugeschrieben werden
kann, so kann dennoch nicht von der Kritik abgesehen werden, dass Jung auf
stark vereinfachte, ihm stets entgegenkommende narrative Figuren zurück-
griff, die vor einem genuin historischen Erkenntnisinteresse nicht haltbar sind.
An dieser Stelle sei beispielsweise auf seine vereinfachende Rede vom „Wes-
ten“ und „Osten“ verwiesen, sowie vom „Primitiven“. Sowohl der „Osten“ als
auch das „primitive Denken“ mancher Kulturen erfahren durch Jung zwar eine
auf orientalistisch-exotisierenden Motiven beruhende Aufwertung (seelische
Gesundheit, besser ausgeprägte Intuitionen und Instinkte, etc.), doch gleichzei-
tig betont er immer wieder die rationale Überlegenheit des „Westens“, die im
Moment zwar an ihren eigenen Errungenschaften der Technik und Wissen-
schaften seelisch krankt, dadurch aber gleichzeitig zu einer noch höheren Stufe
des Geistes fähig ist, sobald sie diese erst einmal realisiert hat. Ebenfalls prob-
lematisch erscheint die Übernahme von Biologismen, wie „Triebe“, „Instinkte“,
etc., in seine Psychologie des Unbewussten. s.u. im Text.
115
Jung, C. G. 1962: Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung. Hg. von
Aniela Jaffé. Meilen.
116
Ebd. S. 208ff.
79
Die Archetypenlehre

Was Jung damit meint, wenn er die Alchemie als historisches Gegenstück zu
seiner Psychologie des Unbewussten beschreibt, verdeutlicht sich erst mit Blick
auf den komplexen Zusammenhang zwischen seiner Archetypenlehre und sei-
nem Konzept des kollektiven Unbewussten. Archetypen sind für Jung mit Ins-
tinkten vergleichbar, die als urwüchsige Vorbilder des Handelns bzw. des Vor-
stellens und Imaginierens verstanden werden können. Einige der wirkmäch-
tigsten Archetypen sind beispielsweise „die Frau“ und „der Mann“ sowie „die
Mutter“ und „der Vater“, aber auch „Tod“, „Geburt“, „der weise Alte“ und „das
Kind“. Archetypen sind dem Menschen bereits bei seiner Geburt gegeben und
werden bei Bedarf aktiviert. Da Menschen seit Urzeiten mit immer wieder glei-
chen existenziellen Situationen konfrontiert waren, haben sich laut Jung Ins-
tinkte herausgebildet, die von Generation zu Generation vererbt werden. Ar-
chetypen bilden den Urgrund menschlicher Existenz, sie sind anthropologische
Konstanten:

„Alles bewußte Vorstellen und Handeln hat sich über


diesen unbewußten Vorbildern (den Archetypen, SB)
entwickelt und hängt stetig mit ihnen zusammen,
namentlich dann, wenn das Bewußtsein noch keinen
allzu hohen Helligkeitsgrad erreicht hat, das heißt
wenn es noch in allen seinen Funktionen vom Trieb
mehr abhängig ist als vom bewußten Willen, vom Af-
fekt mehr als vom rationalen Urteil. Dieser Zustand
garantiert eine primitive seelische Gesundheit, die
aber sofort zur Unangepaßtheit wird, sobald Umstän-
de eintreten, die höhere moralische Leistungen erfor-
dern. Instinkte genügen eben nur für eine im großen
und ganzen gleichbleibende Natur.“117

Archetypen können also ihrer Natur nach nie von konkreten Situationen, son-
dern immer nur von grundlegenden Rollen, Themen und Problematiken han-
                                                                                                           
117
Ebd. S. 21.
80
deln, mit denen Menschen im Laufe ihres Lebens konfrontiert werden und sich
dazu verhalten müssen, wenn der persönliche Entwicklungsprozess nicht ins
Stocken geraten soll. Archetypen sind naturgemäss unspezifisch, werden von
der Menschheit geteilt und sind nie individualisiert, da sie sonst nicht genera-
tionenübergreifend weitergegeben werden könnten. Sie existieren nach Jung
im kollektiven Unbewussten, womit ein „jenseits aller Kultur- und Bewußt-
seinsunterschiede“ bestehendes „gemeinsames Substrat“ gemeint ist, das wie
der menschliche Körper „über alle Rassenunterschiede hinaus eine gemeinsa-
me Anatomie“ aufweise.118 Geraten Menschen in existentielle Situationen, so
melden sich die Archetypen nahezu selbständig aus dem Unbewussten zu
Wort, um uns zu helfen, ebenso wie sich das Lid unbewusst verschliesst, um
das Auge bei Gefahr zu schützen. Die Mobilisierung der Archetypen geschieht
unbewusst und instinktiv. In gewisser Weise kann die Jung’sche Archetypen-
lehre daher als eine Reflextheorie der Psyche verstanden werden.119

Eine der wichtigsten Krisensituationen, in der Archetypen laut Jung für ge-
wöhnlich wirksam werden, ist die Umbruchsphase zur Mitte eines Lebens, zwi-
schen dem 35. und 45. Lebensjahr. In diesem Zeitraum kann eine grundlegende
Persönlichkeitskrise auftreten, da einerseits das bereits Erreichte im Leben in
Frage gestellt wird und andererseits die Ausrichtung und Gestaltung der zwei-
                                                                                                           
118
Ebd. S. 20.
119
Jung verlässt sich auf die symbolhaften Meldungen der Archetypen aus dem
Unbewussten, sobald eine persönliche Krise eingetreten ist. Es ist nicht klar,
inwiefern die Archetypen, insbesondere da sie dem Zitat folgend nur bei
gleichbleibenden Naturbedingungen wirksam werden können, bei veränderten
Umständen, wie sie beispielsweise das moderne, westliche Bewusstsein vor-
findet, überhaupt helfen können. Jung äußert sich zu diesem Problem nicht
und beruft sich vorrangig auf das „instinktlose“ moderne Bewusstsein, das eine
Ablehnung gegenüber allem Unbewussten empfindet. Doch selbst wenn das
moderne Bewusstsein dazu gebracht werden kann, den Symbolen der Archety-
pen Gehör zu schenken (bspw. im Studium alchemistischer Texte, etc.), so
bleibt dennoch unklar, wie genau diese Archetypen, die ja einer gleichbleiben-
den Natur entstammten und sich nur in ihr vollständig entfalten können, unter
veränderten, modernen Bedingungen weiterhelfen können. Jung geht also ei-
nerseits davon aus, dass sich seit dem Aufkommen des wissenschaftlichen Ra-
tionalismus die Seele aufgrund veränderter Grundbedingungen in einer Art
Schieflage befindet und dennoch die Archetypen, welche der alten Zeit ent-
stammen, die Lösung sind.
81
ten Lebenshälfte und der verbleibenden Zeit zur Disposition steht. Das Bewuss-
te sowie das Unbewusste geraten hier in einen „dramatischen Konflikt“, der
nach Jung gerade in unserer Zeit vor allem durch das krankhaft übersteigerte
Bewusstsein dominiert wird. Rationale Ziele wie der „Ehestand“, die „Geldma-
cherei“ und der „berufliche Erfolg“ werden zum Massstab der Lebensführung
erhoben. Gelingt es dem Individuum nicht, diese Krise mithilfe der sich aus
dem Unbewussten meldenden Archetypen zu überwinden, weil es sich zu sehr
dem rational denkenden, bewussten Teil seiner Persönlichkeit mit seiner na-
turwüchsigen Ablehnung gegenüber dem irrationalen Unbewussten beugt, so
entgeht ihm letztlich die Chance auf einen gesunden Alterungsprozess. Dieser
sei, so Jung, von gelebter Erfahrung, Wissen und Weisheit geprägt und ermög-
liche ein friedliches „Sterben im Leben“. Laut Jung ist jedoch keine Auflösung
dieses immerwährenden Konfliktes von Bewusstem und Unbewusstem anzu-
streben. Dies sei schlichtweg nicht möglich. Der Konflikt zwischen diesen bei-
den Polen könne nicht gelöst, sondern nur überwunden werden. Es gilt viel-
mehr, eine höhere geistige Ebene zu erreichen, aus deren Perspektive der zuvor
als dramatisch wahrgenommene Konflikt plötzlich nichtig und unbedeutend
erscheint.120 Hier setzt auch die therapeutische Arbeit der Jung’schen Tiefen-
psychologie ein.

„Ähnliche Fälle von einseitiger Überspannung des be-


wußten Standpunktes (auch Bewusstseinskrampf ge-
nannt, Anm. SB) [...] bilden einen erheblichen Bestand-
teil der nervenärztlichen Praxis in unserer Zeit der
Überbewertung des bewußten Willens (‚Wo ein Wille
                                                                                                           
120
. Vgl. dazu Jung: „Was auf tieferer Stufe Anlaß zu den wildesten Konflikten
und zu panischen Affektstürmen gegeben hätte, erschien nun, vom höheren
Niveau der Persönlichkeit betrachtet, wie ein Talgewitter, vom Gipfel eines ho-
hen Berges aus gesehen. Damit ist dem Gewittersturm nichts von seiner Wirk-
lichkeit genommen, aber man ist nicht mehr darin, sondern darüber. [...] Ich
hatte nämlich inzwischen einsehen gelernt, daß die größten und wichtigsten
Lebensprobleme im Grunde genommen alle unlösbar sind; sie müssen es auch
sein, denn sie drücken die notwendige Polarität, welche jedem selbstregulie-
renden System immanent ist, aus. Sie können nie gelöst, sondern nur über-
wachsen werden.“ In: Jung, C.G. 2006: Studien über alchemistische Vorstellun-
gen. Düsseldorf, S. 24.
82
ist, ist auch ein Weg!). Wohlverstanden, ich möchte
nichts vom hohen sittlichen Werte des bewußten Wol-
lens wegnehmen. Bewußtsein und Wille mögen als
höchst Kulturerrungenschaften der Menschheit unge-
schmälert erhalten bleiben. Aber was nützt eine Sitt-
lichkeit, die den Menschen zerstört? Moral à tout prix
– ein Zeichen der Barberei? Des öfteren erscheint mir
Weisheit besser. Vielleicht ist es die professionelle Bril-
le des Arztes, durch welche er die Dinge anders sieht.
Er hat ja die Schäden zu flicken, welche im Kielwasser
der übertriebenen Kulturleistung folgen.“121

Archetypen sind für Jung also ebenso real wie Gegenstände im Alltag, Häuser,
Bäume, Brücken, Arme, Beine. Für ihn gibt es nicht nur eine bewusste, rational
und chronologisch organisierte Welt, sondern eben auch die „Welt in uns“, die
ganz anderen Gesetzmässigkeiten folgt und beispielsweise weder Zeitlichkeit
noch das Gesetz der Widerspruchsfreiheit kennt. Diese überaus vielfältige in-
nere Welt ist genauso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger als die uns umge-
bende Welt, vor allem, wenn wir in Lebenskrisen geraten. Auch darf nach Jung
nie übersehen werden, dass das Psychische jederzeit real im Sinne einer äusser-
lichen Existenz werden kann. In einer Sekunde fantasieren wir noch und in der
anderen haben wir bereits gehandelt. Jede Kulturleistung hat ihren Ursprung
letztlich in der Psyche eines Menschen, so Jung. Die Welt in uns birgt das Po-
tenzial, sich zu realisieren. Die eigentliche Gefahr der Moderne bestehe daher
nicht mehr in äusseren Bedrohungen wie bspw. Naturkatastrophen, sondern
darin, dass wir unsere innere Welt nicht gut genug kennen, obwohl ihr eine
derart grosse realitätsbildende Macht zukommt.

Was hat diese Archetypenlehre nun mit der Alchemie zu tun? Wie bringt Jung
beides zusammen? Wenn sich die Archetypen äussern, dann in unverständli-
cher, nicht selten beängstigender, zugleich aber faszinierend wahrgenomme-
ner Symbolsprache. Hier sieht Jung die Parallelen zur Alchemie. In den hermeti-
schen Texten und Bildern der Adepten erkannte er seine tiefenpsychologische
                                                                                                           
121
Ebd., S. 22.
83
Archetypenlehre wieder. Die Alchemie bestätigte ihm seine Annahme, dass die
Menschheit über ein überzeitliches kollektives Unbewusstes verfügt, einen
reichhaltigen und geteilten Schatz von Archetypen. Studiert man alchemisti-
sche Traktate im Sinne Jungs, dann bestätigt sich in der Tat die zentrale Bedeu-
tung archetypischer Symbole wie „ die Hochzeit“, „ der Tod“, „die Geburt“, „das
Kind“, „die Vereinigung von Mann und Frau“, „Begehren“, „Hass“ usw. Erzählt
wird hier bisweilen ein gesamter Lebenszyklus, von der Geburt, über alle Höhen
und Tiefen des Lebens hinweg, bis hin zum Tode. Geht man wie Jung nun da-
von aus, dass Archetypen als überhistorische Konstanten der menschlichen
Psyche im kollektiven Unbewusstsein überdauern und dort zum Abruf bereit
stehen, so liefert die Vorstellungswelt der Alchemie den lebendigen histori-
schen Beweis. Was für Koyré und Sarton die grösste Schwäche und mithin das
genuin Unwissenschaftliche der Alchemie darstellt, nämlich deren konfuse,
weniger begriffliche denn symbolische, „dunkle“ weil unspezifische Aus-
drucksweise, macht für Jung gerade die Bedeutung der Alchemie aus. Er er-
kennt hier die Archetypen, die, dem Unbewussten entstammend, ihrer Natur
nach eben nicht den Gesetzen des Bewusstseins und damit der Rationalität,
der Evidenz sowie der Chronologie folgen. Im Gegenteil, als ein Teil der Alche-
mie begann, sich in Chemie und Iatrochemie zu transformieren und ein ande-
rer Teil zum Mystizismus überging, war laut Jung ihr Untergang besiegelt:122

„Die Alchemie hat ihre eigentliche Lebenssubstanz in


dem Moment verloren, als die einen der Alchemisten
vom ‚laboratorium’ ins ‚oratorium’, und die anderen
von diesem in jenes übersiedelten, die einen, um sich
in einen zunehmend vageren Mystizismus zu verirren,
die anderen, um die Chemie zu entdecken. Wir bedau-
ern die ersten und bewundern die letzteren, und nie-
mand fragt nach dem Schicksal der Seele, welche bei

                                                                                                           
122
Vgl. dazu Abbildung 4.
84
dieser Gelegenheit auf Jahrhunderte hinaus in der
Versenkung verschwunden ist.“123

Die ursprüngliche Einheit, welche die Chemie zwischen technischem Wissen


einerseits und Philosophie andererseits noch verkörpert haben soll, liest Jung
unter anderem auch an folgender Abbildung ab, die rechts und links der Bild-
mitte räumlich entsprechend aufgeteilt ist:

Abbildung 4 Titelblatt des Tripus Aureus von 1677124


                                                                                                           
123
Ebd., S. 376. Vgl. dazu auch: „An Paracelsus und Boehme hat sich die Alche-
mie gespalten in die Naturwissenschaft einerseits und die christlich-
protestantische Mystik andererseits.“ Jung, C.G. 1937: Die Erlösungsvorstellun-
gen in der Alchemie. Zürich, S. 101. Anders als Sarton und Koyré bewertet Jung
den Richtungswechsel, welchen die Alchemie durch den stark iatrochemischen
Charakter der paracelsischen Studien erfuhr, folglich nicht positiv im Sinne des
naturwissenschaftlichen Fortschrittes, sondern als Anfang vom Ende der Al-
chemie, welche zugunsten der gesunden Seele, immer das Unbewusste mit
dem Bewussten zu einer Ganzheit zu vereinen strebte. Sowie: „obscurum per
obscurius, ignotum per ignotius (Dunkles durch Dunkleres, Unbekanntes durch
Unbekannteres) vertrug sich schlecht mit dem Geiste der Aufklärung und im
besonderen mit der gegen Ende des [18., SB] Jahrhunderts sich läuternden Wis-
senschaftlichkeit der Chemie.“ Ebd., S. 13.
85
Wenn Jung von der Alchemie als historisches Gegenstück zu seiner Psychologie
des Unbewussten spricht, so ist damit zunächst weniger die Vorstellung einer
historischen Genealogie der Wissenschaften im Sinne Sartons und Koyrés ge-
meint. Die Frage nach einer chronologischen, gar kontinuierlichen Geschichte
stellt sich für Jung in Bezug auf die Existenz und Wirkweise der Archetypen per
Definition nicht. Archetypen entstammen dem kollektiven Unbewussten, das
den Gesetzen der Zeit und des Raumes nicht unterliegt. Erst das moderne Be-
wusstsein nimmt die Alchemie als „historisch“ wahr, da sie der Gegenwart
„zeitlich vorgeordnet“ ist und somit Vergangenheit sein muss. Das Unbewuss-
te hingegen kennt keine historischen Entwicklungspfade und Kausalketten. Es
konstituiert sich vielmehr in der ewigen Wiederkehr immer gleicher Archety-
pen. Es erkennt sich in der Lektüre bzw. im Vollzug alchemistischer Werke wie-
der. Der Jung’sche Gedanke, dass das moderne Individuum in den Archetypen
der Alchemie lediglich etwas wiedererkennt, was es selbst immer schon ge-
wusst hat, erinnert stark an die Beschreibung des Erkenntnisprozesses als Wie-
dererkennen bei der Platonischen Ideenschau. Doch anders als bei Platon wird
das Wiedererkennen der Archetypen bei Jung nicht notwendigerweise von ei-
nem klaren und hellen Evidenzgefühl begleitet, sondern im Gegenteil: Das Un-
bewusste drückt sich seiner Natur nach unklar, widersprüchlich und dunkel
aus, so dass es in mühevoller Arbeit in einem lebenslang andauernden Lern-
prozess (wieder-)enträtselt werden muss.125 Oder, wie Jung es oft formuliert: Es
ist schon immer „alles da“, was wir brauchen.

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 
124
Maier, Michael / Valentinus, Basilius / Norton, Thomas / Cremer, John 1677:
Tripus Aureus. Frankfurt. Vollständig einsehbar unter: http://www.e-
rara.ch/doi/10.3931/e-rara-7704 (aufgerufen: 01.02.2014) „Die Titelvignette des
Tripus Aureus von 1677 verdeutlicht in anschaulicher Weise das Doppelgesicht
der Alchemie: das Bild ist in zwei Teile geteilt, rechts ist ein Laboratorium, in
welchem ein nur mit kurzer Hose bekleideter Mann am Feuer hantiert, links ist
eine Bibliothek, in welcher ein Bischof, ein Philosoph und ein Weltlicher, ver-
mutlich ein Arzt, miteinander konferieren.“ Jung, C.G. 1937: Die Erlösungsvor-
stellungen in der Alchemie. Zürich, S. 42.
125
Vgl. dazu Platons Dialog Phaidon sowie: Jung, C.G. 2006: Studien über al-
chemistische Vorstellungen. Düsseldorf, S. 264: Archetypen, so Jung, werden
„nie erfunden, sondern“ immer „erfahren. Sie waren vor aller Erkenntnis schon
da.“
86
„Wenn man sich auf die Psychologie des alchemisti-
schen Denkens überhaupt einläßt, so kommen Zu-
sammenhänge in Betracht, welche vom historischen
Stoff, rein äußerlich betrachtet, fernab zu liegen
scheinen. Wenn wir aber die historische Erscheinung
von Innen, d.h. vom seelischen Standpunkt aus zu ver-
stehen suchen, so gehen wir von einer Zentralstelle
aus, wo äußerlich fernste Dinge in nächster Nachbar-
schaft zusammenlaufen. Wir begegnen dort jener
menschlichen Seele, die unähnlich dem Bewußtsein,
sich auch in vielen Jahrhunderten kaum merklich än-
dert und wo eine zweitausendjahralte Wahrheit noch
die Wahrheit von heute, d.h. noch lebendig und wirk-
sam ist.“126

Die Jung’sche Psychologie, seine Archetypenlehre sowie seine Deutung der Al-
chemie sind nur vor dem Hintergrund seiner Unterscheidung von Bewusstem
und Unbewusstem bzw. zwischen den wandelbaren Begebenheiten und den
unwandelbaren Elementen des menschlichen Lebens angemessen zu verste-
hen. Den Archetypen, die der Welt des Unbewussten zugehörig sind, kommt
die Funktion eines beständigen a priori zu, und zwar in dem Sinne, dass sie den
Menschen angeboren sind, deren Wahrnehmungen im Laufe des Lebens orga-
nisieren und ihnen ein Fundament zur Verfügung stellen, vergleichbar mit den
Formen der Anschauung und Kategorien der Wahrnehmung bei Kant, mit dem
sich Jung intensiv auseinandergesetzt hat.127 Doch anders als bei Kant gehorcht
das Jung’sche a priori, der Archetyp, nicht den Gesetzen der Rationalität, son-
dern gehört zum Reich des Unbewussten. Das Unbewusste ist frei von Zeit und
Raum, während sich das Bewusste in Zeit und Raum konstituiert. Die Aus-
drucksformen des Unbewussten wirken aus diesem Grund auf das Bewusst-
sein unlogisch, widersprüchlich, anachronistisch und nicht zuletzt „verrückt“.

                                                                                                           
126
Jung, C.G. 1937: Die Erlösungsvorstellungen in der Alchemie. Zürich, S. 103.
127
Die zu seiner Zeit weit verbreitete tabula rasa-These des Neugeborenen hat
Jung daher auch nie unterstützt.
87
Prozess der Individuation

Die Auseinandersetzung mit der frühneuzeitlichen Alchemie entpuppte sich


für Jung nicht nur in Hinblick auf die Archetypenlehre als wertvoll, sondern
auch in Hinblick auf den von ihm thematisierten Individuationsprozess.

Individuation bedeutet für Jung den lebenslangen Prozess der Vereinigung des
Unbewussten mit dem Bewussten. Am Ende des erfolgreichen Individuations-
prozesses steht das Selbst, das von einer bemerkenswerten Einzigartigkeit und
einer stabilen, in sich selbst ruhenden psychischen Gesundheit geprägt ist. Die
jeweils nächst höhere Stufe der Individuation auf dem Weg zur Selbstwerdung
beginnt meist mit einer Krise, die auf den ersten Blick unlösbar zu sein scheint.
Und in der Tat ist sie nach Jung auch nie lösbar, sondern immer nur überwind-
bar. Das heisst konkret: Das Individuum muss sich im Verlauf der Krise in seine
Bewusstseinskomponenten auflösen, so dass diese auf einer höheren Bewusst-
seinsebene wieder neu zusammengesetzt werden können und sich ein höherer
und weiterer Blick auf die zuvor akut empfundene Krise ergibt. Selbstwerdung
bzw. Individuation kann daher als schöpferisches Über-sich-hinaus-Wachsen
verstanden werden, dem immer eine Zersetzung der alten Person vorausgeht.

Vor diesem Hintergrund deutet Jung den Transmutationsprozess in der Al-


chemie als protopsychologischen Individuationsprozess. Nach Jung ging es der
Alchemie somit letztlich nicht um chemische Ergebnisse, sondern um „psychi-
sche Vorgänge, die in pseudochemischer Sprache ausgedrückt werden“.128

„Gewiß war das Goldmachen und überhaupt die Er-


forschung der chemischen Natur ein großes Anliegen
der Alchemie. Ein noch größeres, noch passionierende-
                                                                                                           
128
Ebd., S. 17. Sowie: „Tatsache ist, daß die Alchemisten auch gar nichts zu verra-
ten hatten, am allerwenigsten das Goldmachen.“ Ebd., S. 19. Interessant er-
scheint an dieser Stelle, anzumerken, dass Jung ebenso wie Sarton und Koyré
auch von „einer“ Alchemie ausgehen. Von einer der Vielfalt und Differenziert-
heit gerechten Deutung alchemistischer Texte kann auch hier nicht die Rede
sein. Keiner der dargestellten Zugriffe auf die Alchemie gibt den inhaltlichen
Reichtum frühneuzeitlicher Texte der Alchemie angemessen wieder, der von
praktischen Tipps für den Haushalt, über theologische Überlegungen bis hin zu
ausgefeilten Naturphilosophien des Werdens und Entstehens reicht.
88
res aber scheint – man kann nicht wohl sagen: die ‚Er-
forschung’, sondern vielmehr das Erlebnis des Unbe-
wußten gewesen zu sein. Daß man diese Seite der Al-
chemie [...] so lange nicht verstanden hat, liegt einzig
und allein an dem Umstand, daß man nichts von der
Psychologie, insbesondere nichts vom überpersönli-
chen und kollektiven Unbewußten gewußt hat.“129

Es bedurfte demnach der tiefenpsychologischen Erkenntnisse Jungs, um das


wahre Wesen der Alchemie zu Tage zu befördern, ihm eine Sprache zu geben,
die der Alchemie selbst als unbewusstes protopsychologisches Unterfangen
noch nicht zur Verfügung stand, wenngleich sie eine höhere Bewusstseinsstu-
fe mithilfe der von ihr behandelten Materie erreichte. Diese Seelenverwandt-
schaft zwischen Jungs Psychologie und der frühneuzeitlichen Alchemie veran-
lasste ihn zu zahlreichen detaillierten Studien zum Transmutationsprozess. Im
Gegensatz zu Sarton und Koyré beschäftigte sich Jung nicht nur sehr ausführ-
lich mit der Alchemie, sondern nahm sie auch auf inhaltlicher Ebene ernst. Er
entwickelte so eine ungleich vielschichtigere Deutung der Alchemie als in der
Wissenschaftsgeschichte der Zeit, wenngleich er sie nicht zuletzt auch nur als
Kontrastfolie modernen Denkens in Anschlag brachte.

Jung ging davon aus, dass sich der Adept der Frühen Neuzeit anders als der
moderne Mensch im Zustand des Unbewussten befand. Ersterer war nicht in
der Lage, zwischen Bewusstem und Unbewusstem zu unterscheiden,130 die wis-
senschaftliche Revolution hatte noch nicht stattgefunden und die damit ver-
bundene Entseelung der Welt war noch nicht vollzogen. Aus diesem Grund war
                                                                                                           
129
Jung, C.G. 2006: Studien über alchemistische Vorstellungen. Düsseldorf, S.
255.
130
Der Individuationsprozess findet nach Jung nicht nur im Menschen selbst
statt, sondern – getreu der alchemistischen Mikrokosmos-Makrokosmos-
Analogie – auch in der gesamten Menschheit. So kann die Geschichte der
Menschheit als fortschreitender Prozess der Bewusstwerdung verstanden wer-
den. Jung schreibt: „Neuzeit und Gegenwart erscheinen [...] als Episoden eines
in grauer Vorzeit begonnenen Dramas, das sich durch alle Jahrhunderte in eine
ferne Zukunft erstreckt. Dieses Drama ist [...] die Bewußtwerdung der Mensch-
heit.“ Jung 1937, S. 103.
89
es dem Alchemisten, so Jung, nicht möglich, bzw. es bestand auch keine Not-
wendigkeit dazu, den Individuationsprozess egozentrisch in sich selbst anzu-
setzen. Der Adept projizierte sein Unbewusstes vielmehr auf die ihm vorlie-
genden Stoffe und Dinge.131 Da der gesamte Prozess der alchemistischen
Transmutation und Individuation im Unbewussten abläuft, ist er aus Sicht
modernen Bewusstseins nur sehr schwer zu verstehen geschweige denn zu
beschreiben.132 Andersherum formuliert ist die von Jung behauptete Unver-
ständlichkeit alchemistischer Traktate seiner Meinung nach gerade ein Hin-
weis darauf, dass es sich hier um Individuationsprozesse handelt. Trotz dieser
Schwierigkeiten im Verständnis der konkreten Transmutationsprozesse lassen
sich laut Jung aus den Stufen des alchemistischen Werkes auch die Stufen der
Individuation ablesen. 133

Um den Prozess der Individuation zu initiieren, muss in Jungs Vorstellung zu-


nächst eine „Selbstauflösung“ der Person in Gang gesetzt werden. In alchemis-
tischen Texten ist zwar als erste Stufe der Transmutation von der „Tötung“
bzw. „Zersetzung“ von Stoffen die Rede, doch eigentlich ging es den Adepten,
so Jung, letztlich um die Auflösung ihrer eigenen Bewusstseinskomponenten.
Die alchemistische Transmutation beginnt mit dem sogenannten nigredo, in
dem alle Ausgangsstoffe durch Verbrennung schwarz werden. In dem Schwarz,
                                                                                                           
131
So erklärte sich Jung auch die wissenschaftshistorischen Schwierigkeiten, die
konkreten chemischen Stoffen und Prozesse im Werk der Adepten zu identifi-
zieren. Es ging laut Jung eben lediglich darum, eine geeignete Projektionsfläche
herzustellen und nicht um chemische Prozesse. Vgl. dazu Jung 1937. S. 39-40:
„Es ist m. E. völlig aussichtslos, in das unendliche Chaos der behandelten Stoffe
und Prozeduren irgendwelche Ordnung bringen zu wollen. Man kann sich sel-
ten auch nur ein annäherndes Bild davon machen, wie und mit was für Stoffen
gearbeitet und was für Resultate erzielt wurden.“ Wie sich im Zuge des späte-
ren praxeologischen Zugriffs auf die Geschichte der Alchemie gezeigt hat, sind
solche Identifikationen durchaus möglich und auch aus moderner Perspektive
bis zu einem gewissen Grad chemisch durchaus nachvollziehbar. Vgl. dazu Ab-
schnitt 2.5
132
Jung, C.G. 1937: Die Erlösungsvorstellungen in der Alchemie. Zürich, S. 40-41:
„Die tiefe Finsternis, welche die chemische Prozedur bedeckt, rührt davon her,
daß der Alchemist in Tat und Wahrheit sich für den rein chemischen Teil wenig
interessiert, ja diesen nur benützt, um eine neue Nomenklatur für die ihn ei-
gentlich faszinierenden seelischen Veränderungen aufzufinden.“
133
Vgl. dazu auch Kap. 3 dieser Arbeit.
90
der Farbe des Todes und der damit einhergehenden Zersetzung, projiziert sich
unbewusst die existenzielle Furcht des Adepten vor der Abtötung seines alten
Selbst, das seiner Selbstwerdung auf einer höheren Stufe vorangehen muss.

„Jene Scheu und jener Widerstand, den jeder natürli-


che Mensch gegen ein zu tiefes Versinken in sich
selbst empfindet, ist im Grunde genommen die Angst
vor der Hadesfahrt. Wenn man nur Widerstand emp-
fände, so wäre die Sache nicht so schlimm. In Wirk-
lichkeit aber geht vom seelischen Hintergrund, eben
von jenem dunklen, unbekannten Raum eine faszinie-
rende Anziehung aus, welche um so überwältigender
zu werden droht, je weiter man eindringt. Die psycho-
logische Gefahr, die dabei eintritt, ist eine Auflösung
der bewußten Persönlichkeit in ihre funktionalen
Komponenten, wie einzelne Bewußtseinsfunktionen,
Komplexe, Erbeinheiten, etc. Die Zersetzung ist eine
funktionale, auch manchmal wirkliche Schizophrenie
[...]“134

Doch so sehr sich der Alchemist auch vor der „Hadesfahrt“ der eigenen „Ver-
selbstung“ fürchtet, so birgt der Individuationsprozess doch auch eine tiefe
„Faszination“135, ohne die man das Wagnis nicht eingehen und die Schmerzen
der Bewusstwerdung nicht ertragen würde. Zwischen dem Bewusstsein und
dem unbewusst auf die Stoffe projizierten Inhalt wirkt eine starke „Anzie-
hung“. Um jedoch der damit verbundenen Versuchung nachgeben zu können,
muss man sich allerdings laut Jung zunächst von der „Masse“ der anderen

                                                                                                           
134
Ebd., S. 67-68.
135
Auch Sarton und Koyré gingen davon aus, dass die Texte der frühneuzeitli-
chen Alchemie über eine gewisse Anziehungskraft verfügen, der selbst die bes-
ten und aufrichtigsten Wissenschaftler oftmals nicht widerstehen konnten
und zum Opfer fielen. Vgl. dazu Abschnitte 2.3 und 2.2.
91
Menschen lossagen.136 Hierin sieht Jung auch den eigentlichen Grund dafür,
warum Adepten die Transmutation immer allein in der Abgeschiedenheit ihres
Laboratoriums vollzogen.137 Das Werk musste allein vollbracht werden. Das al-
chemistische Symbol für die besondere Anziehungskraft zwischen Bewusstem
und Unbewusstem, die die Anfangshürde zum schmerzhaften Prozess der Indi-
viduation absenkt, ist laut Jung der Einverleibungsvorgang. In der Tat findet
man die Einverleibung in den unterschiedlichsten alchemistischen Allegorien,
etwa wenn der Wolf einen alten König frisst oder aber ein Vater seinen Sohn,
etc. Diese Einverleibung geht als initialisierendes Moment der eigentlichen Ab-
tötung des alten Selbst, dem nigredo voraus.

                                                                                                           
136
Im Zustand der Krise und im Bedürfnis des Menschen nach „Geborgenheit“
geschehe es nämlich zu häufig, dass sich die Person an die „Massen“ wendet,
welche vermeintlich Linderung verschaffen, letztlich nach Jung aber keine indi-
viduierten Personen hervorbringen können. Massen seien nunmal keine ein-
zigartigen Individuen, sondern wie man „zur Genüge wisse“ nichts anderes als
„blinde Tiere“, so Jung in seinem Text über die Erlösungsvorstellungen der Al-
chemie. Vgl. dazu: „Besonders in der vertechnisierten westlichen Welt, in der
für echte Gefühle stets weniger Raum bleibt, sucht der Mensch um so be-
drängter nach Geborgenheit und hofft, sie im Schoß des Kollektivs zu finden. Er
fürchtet die Einsamkeit, die ihn zu einer Besinnung zwingen könnte“ Jacobi,
Jolande 1971: Mensch und Seele, Olten, S. 104. Sowie: „Individuation bedeutet:
zum Einzelwesen werden, und, insofern wir unter Individualität unsere inners-
te, letzte und unvergleichbare Einzigartigkeit verstehen, zum eigenen Selbst
werden. Man könnte ,Individuation' darum auch als ‚Verselbstung' oder als
‚Selbstverwirklichung' übersetzen.“ Jung, C.G. 2011: Gesammelte Werke, Band 7:
Zwei Schriften über analytische Psychologie. Zürich, §266 f. Sowie auch: „Jeder
hat für sich laboriert und an seiner Einsamkeit gelitten.“ C.G. Jung 1937: Die Er-
lösungsvorstellungen in der Alchemie. Zürich, S. 58. Und: „Das ist Vereinsa-
mung [...] und davon befreit auch keine noch so erfolgreiche Anpassung oder
noch so reibungslose Einpassung in die bestehende Umgebung, keine Familie,
keine Gesellschaft und keine Position" (Jung in Jacobi, Jolande 1971: Mensch
und Seele, Olten, S. 105.
137
Ebd. S. 64.
92
Abbildung 5 Wolf verschlingt König, welcher später im nigredo verbrannt wird. Aus: Michael
Maier: Atalanta fugiens 1618

Auf das nigredo folgen weitere Stufen des transmutatorischen Prozesses, je-
doch beschränke ich mich hier auf jene Stufen, für die sich Jung besonders in-
teressierte. In Hinblick auf die Jung’sche Engführung der Transmutation mit
der Individuation soll hier abschliessend noch die letzte Stufe, die Wiederverei-
nigung umrissen werden.138 Die finale Zusammenführung der Selbstwerdung
kommt laut Jung in der Alchemie im Archetyp des Geschlechtsakts und der Ge-
burt eines Hermaphroditen zum Ausdruck. Ermöglicht wird diese Stufe durch
die Tätigkeit der „aktiven Imagination“, die zu Schlüsselmomenten der Über-
windung und Vereinigung führt. Nach der Auflösung befindet sich das Indivi-
duum in einem unsicheren, vagen Zustand. Alle Persönlichkeitskomponenten
                                                                                                           
138
Zwischen dem alchemistischen Ausgangszustand des nigredo und rubedo,
dem Endziel jeder Transmutation, gibt es eine von Adept zu Adept variierende
Anzahl an Zwischenschritten, etwa citrinas und cauda pavonis.
93
scheinen vermengt, nichts gibt Halt. In diesem Moment greift die aktive Imagi-
nation, indem sie sich auf Meldungen der Archetypen stützt, die den Weg zur
Überwindung aufzeigen können. Aktive Imagination kann daher nie als ratio-
naler Vorgang verstanden werden, sondern immer nur als kreatives Erfahren
und Erleben. Bei vorangehendem starken „Bewusstseinskrampf“ solle sich der
Patien, so Jung, auf die Tätigkeiten seines Körpers und der Hände verlassen,
indem frei gemalt, geformt oder einer anderen, vorrangig körperlichen Tätig-
keit nachgegangen wird. Der Endpunkt der aktiven Imagination und Vereini-
gung ist in der Stufe des sogenannten rubedo erreicht: Der Adept hält nunmehr
den begehrten lapis philosophorum, den roten Stein der Weisen in den Händen.
In ihm ist die Widersprüchlichkeit von Bewusstem und Unbewusstem über-
wunden bzw. auf höherer Ebene aufgehoben und vereint.

„Da der psychologische Zustand eines unbewußten


Inhaltes eine potentielle Wirklichkeit ist [...], so spielt
die Vereinigung der Gegensätze im alchemischen Pro-
zeß eine ausschlaggebende Rolle. Dem Resultat des
Prozesses kommt daher die Bedeutung eines vereini-
genden Symbols zu. Ein solches hat fast in der Regel
numinosen Charakter. Aus dieser psychologischen Tat-
sache geht sozusagen mit Notwendigkeit die Projekti-
on des Erlöserbildes, d.h. die Lapis-Christusparallele
hervor [...]“139

In der häufigen Gleichsetzung des Steins der Weisen mit Christus in alchemis-
tischen Texten erkennt Jung den zentralen Gedanken seiner Tiefenpsychologie:
der Mensch und seine Seele sind nicht nur – passiv – erlösungsbedürftig, der
Mensch kann sich selbst durch ein kreatives Schöpfungswerk im Diesseits erlö-
sen:

„Der Christ verdient sich ex opere operanto die Gna-


denfrüchte; der Alchemist hingegen erschafft sich ex
                                                                                                           
139
Jung, C.G. 1937: Die Erlösungsvorstellungen in der Alchemie. Zürich, S. 104
94
opere operantis (im wörtlichsten Sinne) ein ‚Heilmittel
des Lebens’ [...]“140

Der Mensch, durch Gottes Hand erschaffen,141 wurde nach dem Sündenfall zur
physis verdammt und daher in der christlichen Theologie als erlösungsbedürf-
tiges Wesen gedeutet.142 Um sich mit den Menschen zu versöhnen, opferte
Gott seinen Sohn, den „Gottmenschen“. Durch diesen einmaligen Erlösungsakt
stehe, so Jung, prinzipiell allen gläubigen Menschen die Erlösung in potentia
zu.143 Doch, wie er bemerkt, kann der Mensch dabei „eigentlich nichts Entschei-
dendes tun“, außer zu versuchen, sich prinzipiell erlösungswürdig zu verhalten.
Der Priester hingegen wiederholt den christlichen Erlösungsakt, indem er im
Messopfer die „Kreatur des Brotes und des Weines von ihrer elementarischen
Unvollkommenheit“ immer wieder aufs Neue erlöst.144 Der Gläubige kann

                                                                                                           
140
Ebd., S. 104f.
141
Es darf an dieser Stelle nicht vergessen werden, das Jung sich seiner eigenen
christlichen Sozialisation bewusst war und sich auch als gläubig bezeichnete,
aber mehr im Sinne eines Glaubens an den „Inbegriff der Liebe“, der sich im
Begriff Gottes äußere. Gott selbst spielt aber vor allem als Archetyp in seiner
Psychologie des Unbewussten eine Rolle: „Der Gottesbegriff ist eine schlecht-
hin notwendige psychologische Funktion irrationaler Natur, die mit der Frage
nach der Existenz Gottes überhaupt nichts zu tun hat. Denn diese letzte Frage
kann der menschliche Intellekt niemals beantworten, noch weniger kann es
irgendeinen Gottesbeweis geben. Überdies ist ein solcher auch gänzlich über-
flüssig, denn die Idee eines übermächtigen göttlichen Wesens ist überall vor-
handen, wenn nicht bewußt, so doch unbewußt, denn sie ist ein Archetypus.“
In: Jung, C. G. 1926: Das Unbewußte im normalen und im kranken Seelenleben.
Ein Überblick über die moderne Theorie und Methode der analytischen Psycho-
logie. Zürich, S. 103 f.
142
Vgl. dazu Jung, C.G. 1937: Die Erlösungsvorstellungen in der Alchemie. Zürich,
S. 50ff.
143
Jung geht davon aus, dass der göttliche Erlösungsakt einerseits als historisch
einmaliger Vorgang zu verstehen sei, gleichzeitig aber auf der Ebene des raum-
zeitlich befreiten Unbewussten dauerhaft existiere, wodurch eine Verbindung
des Menschen auf Erden mit Gott prinzipiell möglich ist, aber immer wieder
aufs Neue realisiert werden muss, indem der Priester auf Erden das Christusop-
fer im Messopfer ritualisiert wiederholt. So schreibt Ebd., S. 53: „Sein Opfertod
erschien zwar in der Zeit, ist aber ein überzeitliches Geschehen [...]“
144
Ebd., S. 57.
95
durch das Verspeisen des erlösten Brotes und Weines an diesem Werk teilha-
ben.

An dieser Stelle schlägt für Jung die ganze „Erlösungsproblematik“ um, denn es
ist nicht mehr länger der Mensch, der erlöst werden muss, sondern der Stoff
(das Brot und der Wein). Das ursprüngliche Erlösungswerk Gottes durch die
Opferung seines Sohnes wird als einmaliges „Vorbild“ auch für den Adepten
aufgefasst. Dieser setzt sich dabei nicht mit Christus gleich, sondern erschafft
ihn im Stein der Weisen von Neuem.145 Wenn man mit Jung davon ausgeht,
dass sich der Adept als Schöpfer des Steins der Weisen verstehen konnte, so
liegt der Schluss nahe, dass der Mensch allgemein zur Schöpfung auf Erden,
ungeachtet dessen, was genau darunter verstanden werden kann und soll, fä-
hig ist. Jung geht hier noch einen Schritt weiter und bringt die alchemistische
Analogie von Laborarbeit und christlichen Erlösungsvorstellungen mit dem
Prozess der psychologischen Individuation im Menschen in Verbindung, bzw.
setzt Transmutation, Erlösung und Individuation gleich. Die Erlösung durch
Christus wurde als Auftrag zum je individuellen opus verstanden, das der Adept
allein und für sich selbst vollziehen musste. Jung sieht seine These etwa durch
folgendes alchemistisches Zitat bestärkt:

„Wer durch den Geist eines Andern und durch eine be-
zahlte Hand arbeitet, der wird Resultate sehen, die der
Wahrheit fern sind, und umgekehrt, wird der, welcher
einem andern wie ein Laboratoriumsgehilfe Dienste
leistet, niemals zu den Mysterien zugelassen wer-
den.“146

Als weiteren Beleg für den individuellen Erlösungscharakter des alchemisti-


schen Werkes führt Jung an, dass die Adepten sich nicht in „Polemik“, „Recht-
haberei“ und „Begriffsspalterei“ verfangen hätten, sondern tiefes Misstrauen

                                                                                                           
145
Ebd., S. 78: „Er (der Adept, SB) denkt nicht daran, sich mit Christus zu identifi-
zieren, im Gegenteil parallelisiert die Alchemie die gesuchte Substanz, den La-
pis, mit Christus.“
146
Der Alchemist Michael Maier, zitiert und übersetzt nach Jung in: ebd., S. 57.
96
gegenüber jeder vorgefertigten und rezepthaften Anleitung zur Transmutation
empfanden.147 Jung deutet dies als Hinweis darauf, dass jeder Adept den Pro-
zess ebenso selbst vollziehen musste, wie die Individuation nicht an ein Kollek-
tiv delegiert werden kann. Das Ziel der Individuation ist kein kollektives, son-
dern die Selbstwerdung eines einzigartigen Wesens, das Kraft seiner selbst
zum Ausdruck kommt:

„Man hat den Eindruck, als ob jeder Einzelne (Alche-


mist, SB) versucht hätte, seiner besonderen Erfahrung
Ausdruck zu verleihen [...]“148

Kehrt man an dieser Stelle zurück zur eingangs beschriebenen Diagnose Jungs,
dass das Bewusstsein heute an massloser Inflation kranke, ausgelöst durch den
Entseelungsprozess des wissenschaftlichen Rationalismus und der fortschrei-
tenden Technisierung der menschlichen Lebenswelt, so beantwortet er die
Frage, was wir im Heute von den Alchemisten der Frühen Neuzeit lernen kön-
nen abschliessend wie folgt:

„Was wir aus unseren Vorbildern lernen können, ist


vor Allem die Tatsache, daß die Seele Inhalte birgt, o-
der unter Einflüssen steht, deren Assimilation mit
größten Gefahren verknüpft ist. Wenn also die alten
Alchemisten ihr Geheimnis dem Stoff zuschrieben und
uns Faust sowohl wie Zarathustra keineswegs ermun-
tern, dieses uns selber einzuverleiben, so bleibt wohl
nichts anderes übrig, als den arroganten Bewußt-
seinsanspruch, selber Seele zu sein, zurückzuweisen
und der Seele eine Wirklichkeit zuzuerkennen, die wir

                                                                                                           
147
Ebd., S. 58 ff.
148
Ebd., S. 58.
97
mit unsern derzeitigen Verstandesmitteln nicht zu er-
fassen vermögen.“149

Ausgehend von seiner Diagnose des beklagenswerten Zustandes modernen


Seelenlebens und mithilfe eines komplexen psychologischen Theoriegebäudes,
nutzt Jung seine Auseinandersetzung mit der frühneuzeitlichen Alchemie da-
zu, den in seiner Wahrnehmung durch die Wissenschaften eingeforderten um-
fassenden Deutungs- und Herrschaftsanspruchs in die Schranken zu weisen.
Das Glück des Menschen und dessen geistige und körperliche Gesundheit hän-
gen für Jung nicht nur an den Mitteln der Technik und Wissenschaften, wenn-
gleich er deren Errungenschaften und „Stoßkraft“ durchaus nicht negiert. Es
bedarf vielmehr eines individuell vollzogenen Selbstwerdungsprozesses, der
das Unbewusste, Irrationale, Emotionen, Intuition sowie Instinkte zulässt und
dadurch versucht, die Erfahrung des selbst gelebten Lebens zum Ausdruck zu
bringen. Um eine pathogene Inflation des Bewusstseins zu vermeiden, darf das
Seelische, bzw. das Unbewusste nicht ausschliesslich in sich selbst verortet
werden. Die Alchemie dient daher zugleich als Beweis und selbst als Archetyp
eines innerhalb einer panpsychistisch verstandenen Welt stattfindenden Indi-
viduationsprozesses. Dieser Prozess muss als aktiver, schöpferischer „Gestal-
tungsvorgang“ gedacht werden, bzw. in den Worten der Adepten: als „Kunst“.
Individuationsprozesse können ihrem Wesen nach immer nur im „Erleben wirk-
lich erfaßt“, „intellektuell aber nur bezeichnet“ werden.150

Die Alchemie ist für Jung, wie insbesondere auch für Georges Sarton, die Anti-
these der Moderne. Allerdings bewertet Jung diese Gegensätzlichkeit positiv.
Die chemischen Errungenschaften und Bestrebungen der Alchemie hingegen
vernachlässigt Jung nicht nur vollständig, sondern er geht sogar davon aus,
dass es bei der Suche nach der „Tinktur des Goldes“ – dem Lapis – nie um che-
misch-stoffliche Prozesse ging, sondern immer nur um Tiefenpsychologie. Die
frühneuzeitliche Alchemie wird bei Jung im Vergleich zur Behandlung in der
Wissenschaftsgeschichte grundlegend aufgewertet und so zum Gegenstand

                                                                                                           
149
Ebd., S. 110.
150
Ebd. S. 111. Sowie: „Vergessen wir nicht, dass die Alchemie auch das Dictum
prägte: Rumpite libros, ne corda vestra rumpantur.“ Ebd.
98
detaillierter Quellenstudien. Gleichzeitig wird sie hier aber auch als Kontrastfo-
lie zum modernen Denken instrumentalisiert. Die Metachrosis der Alchemie
kommt auch hier zum Tragen. Oder um es in der Terminologie der Tiefenpsy-
chologie zu sagen: Jung projiziert unbewusst seine eigene psychologische Vor-
stellungswelt auf einen historischen Gegenstand. Die frühneuzeitliche Alche-
mie muss bei Jung als archetypisches Medium der Bewusstwerdung und
Selbstverwirklichung seiner eigenen tiefenpsychologischen Lehre herhalten.

99
2.4 Technologisches Wunschdenken

„Der Stein der Weisen, den die Alten im dunkeln unbe-


stimmten Drange suchten, ist in seiner Vollkommen-
heit nichts anderes gewesen, als die Wissenschaft der
Chemie.“151

So gross die Unterschiede in der Deutung der Alchemie in den bisherigen An-
sätzen auch sein mögen, eines haben sie gemeinsam: Sie alle streiten die na-
turphilosophische, bzw. naturwissenschaftliche Leistung der Alchemie ab. Sar-
ton betrachtete sie als Idiotie, Koyré als ungezügeltes, irrationales Unterfan-
gen, das immerhin dazu gut war, alte Traditionen aufzubrechen, um Platz zu
schaffen für die „richtige“, empirisch und rational vorgehende Naturwissen-
schaft. Jung hingegen bezieht sich zwar in der Tat auf die Traktate der Alche-
mie, deutete sie allerdings als rein psychologisches Unterfangen und betont
vor allem den Wert ihrer unbewussten, irrationalen Vorgehensweise. Der ma-
terielle Umgang des Adepten im Laboratorium, so Jung, diente lediglich als
psychische Projektionsfläche, um das eigentliche Ziel der Individuation, die
Selbstwerdung zu erreichen. So oder so: Zwischen Alchemie und Chemie, zwi-
schen Früher Neuzeit und Moderne bleibt ein Bruch, sowohl aus der tiefenpsy-
chologischen wie auch der ideenhistorischen Perspektive.

Doch es gab und gibt durchaus auch wissenschaftshistorische Ansätze, die sich
um ein kontinuierlicheres Bild bemühen, so dass sich ein fliessendender Über-
gang zwischen Alchemie und Chemie ergibt. 1742 versuchte sich Lenglet du
Fresnoy als erster an einer mehr an historischen Kontinuitäten denn an Brü-
chen orientierten Geschichtsschreibung der Alchemie. Bis zu diesem Datum
gab es durchaus schon einzelne Beiträge zur Geschichte der Alchemie, die sich
vor allem einzelnen, spezifischen Aspekten widmeten. Von einer umfassende-
ren historischen Einordnung der Alchemie kann bis zu du Fresnoy daher nicht
                                                                                                           
151
Liebig, Justus 1878: Chemische Briefe. Dritter Brief. S. 40. Ursprünglich abge-
druckt in Augsburger Allgemeinen Zeitung, mittlerweile elektronisch vollstän-
dig einsehbar unter http://www.liebig- museum.de/justus_liebig/
chemische_briefe/ (aufgerufen: 01.02.2014).
100
die Rede sein. In seiner „Historie de la philosophie hermétique“152 versuchte du
Fresnoy in drei Bänden sowohl die Geschichte als auch die Praxis der Alchemie
sowie ihr literarisches Verzeichnis zu berücksichtigen. Insbesondere im zweiten
Band zählt er die seiner Meinung nach geglückten chemischen Probierstücke
und Transmutationsversuche einiger Alchemisten auf und bewertet diese posi-
tiv. Ähnlich selektiv gehen dann im 19. Jahrhundert die an der Historie ihres
Fachs interessierten Chemiker Hermann Kopp sowie Marcelin Berthelot vor.153
Beide Wissenschaftler beschäftigte vor allem die Frage, welche konkreten Bei-
träge die Alchemie für die Entstehung der Chemie geleistet hatte. Es ging da-
rum, letztlich ein klares Bild von den „guten“ weil im weitesten Sinne rationa-
listisch verfahrenden Adepten und Versuchen zu erstellen und dabei auch
„schlechten“ Alchemisten zu erfassen, die irrational dachten und bisweilen so-
gar eine Verquickung mit spiritualistischen und religiösen Themen anstrebten.
Letztere disqualifiziert Berthelot vollständig als „purement mystique“.

Auch Justus Liebig, vielleicht der bedeutsamste Chemiker des 19ten Jahrhun-
derts und Gründervater der organischen Chemie, versuchte sich an einer konti-
nuierlichen Deutung des historischen Verhältnisses von Alchemie und Chemie.
Er ging sogar davon aus, dass die „Alchemie [...] niemals etwas anderes als
Chemie gewesen [sei, SB]; ihre beständige Verwechslung mit der Goldmacherei
des 16ten und 17ten Jahrhunderts ist die grösste Ungerechtigkeit“.154

Liebig begründete diese Aussage in mehreren Schritten: Zum einen ging er da-
von aus, dass die vor allem von französischen Chemikern, allen voran Antoine
Lavoisier, stammende neue Nomenklatur für bereits bekannte Prozesse und
Elemente, künstlich eine „scheinbar grosse Kluft zwischen der gegenwärtigen
und früheren Chemie“155 erzeugt hatte. Da nun alles mit einem neuen Namen
versehen war, entstand nach Liebig der Eindruck eines tiefen Bruchs zwischen
Alchemie und Chemie, der jedoch auf der tatsächlichen Verfahrensebene nie
existiert habe. So schreibt er:
                                                                                                           
152
Du Fresnoy, Lenglet 1742: Historie de la philosophie hermétique. Den Haag.
153
Kopp, Herrmann 1845: Geschichte der Chemie. Braunschweig. Sowie Berthe-
lot, Marcelin 1887-1888: Collection des anciens alchimistes grecs. Paris; Berthe-
lot, Marcelin 1906: Archéologie et histoire des sciences. Paris.
154
Liebig, Justus 1878: Chemische Briefe. Dritter Brief. S. 38.
155
Ebd. S. 27
101
„Der Ursprung einer jeden wichtigen Entdeckung, ei-
ner jeden gesonderten Beobachtung, welche bis zu La-
voisier’s Zeit in irgend einem andern Theil Europa’s
gemacht worden war, war verwischt, die neuen Na-
men und geänderten Vorstellungen zerrissen allen
Zusammenhang mit der Vergangenheit, unser ge-
genwärtiger Besitz scheint Vielen nur das Erbe der
damaligen französischen Schule zu sein und die Ge-
schichte nicht über diese hinaus zu reichen. Dies eben
ist ein Irrthum.“156

Es bleibt zu vermuten, inwiefern Liebigs Kritik am Bruch mit der Alchemie hier
zum Teil auch einer nationalistischen Rivalität zwischen deutscher und franzö-
sischer Chemie geschuldet war. Dessen ungeachtet, lieferte Liebig aber durch-
aus stichhaltige inhaltliche Gründe, weshalb zwischen Alchemie und Chemie
eine historische Kontinuität anzunehmen war. In gewisser Weise bedient er
sich des berühmten Diktums Isaac Newtons in einem Brief an Hooke, wo er
schreibt: „Wenn ich weiter geblickt habe, so deshalb, weil ich auf den Schultern
von Riesen stehe.“157 Für Liebig steht die Chemie zwar nicht auf den Schultern
einiger weniger Riesen, aber doch auf den zahllosen Rücken unermüdlicher
Vorarbeiter in der Frühen Neuzeit. Diese namenlosen vorwissenschaftlichen
Studien zu Stoffen und ihrem Verhalten hatten überhaupt erst das Fundament
errichtet, auf dem dann die wissenschaftliche Chemie glorreich aufbauen
konnte.

„Um zu den chemischen Kenntnissen zu gelangen,


über die wir heute verfügen, war es nöthig, dass Tau-
sende von Männern, mit allem Wissen ihrer Zeit aus-
gerüstet, von einer unbezwinglichen, in ihrer Heftig-
keit an Raserei grenzenden Leidenschaft erfüllt, ihr Le-
ben und Vermögen und alle ihre Kräfte daransetzten,
                                                                                                           
156
Ebd. S. 27:
157
Zitiert nach: Westfall, Richard 1996: Isaac Newton. Eine Biographie. Heidel-
berg/Berlin/Oxford, S. 143.
102
um die Erde nach allen Richtungen zu durchwühlen,
dass sie, ohne müde zu werden oder zu erlahmen, alle
bekannten Körper und Materien, organische und un-
organische, auf die verschiedenartigste und mannig-
faltigste Weise miteinander in Berührung brachten; es
war erforderlich, dass dies fünfzehn Jahrhunderte
hindurch geschah.“158

Liebig schätzte die Anstrengungen der Alchemisten nicht nur, sondern kontex-
tualisierte sie auch, um etwaige Differenzen zu moderner chemischer For-
schung zu plausibilisieren. So ging er beispielsweise davon aus, dass die Erfah-
rung der Veränderlichkeit von Materie der eigentliche Ausgangspunkt der Na-
turforschung war, da sie den alltäglichen Umgang mit Stofflichkeit stärker
präge als die Annahme von unveränderlichen Elementen.

„Man ist in unserer Zeit nur zu sehr geneigt, die An-


sichten [...] der Alchemisten über Metallverwandlung
als eine Verirrung des menschlichen Geistes anzuse-
hen und seltsamer Weise zu beklagen; aber der Begriff
des Wandelbaren und Veränderlichen entspricht der
allgemeinsten Erfahrung und geht dem des Unverän-
derlichen stets voraus.“ 159

Es gab daher auch für die Alchemisten keinen Grund, nicht an die Möglichkeit
der Transmutation zu glauben. Die Annahme, dass Stoffe beim Einfärben in

                                                                                                           
158
Liebig 1878: Chemische Briefe. Dritter Brief, S. 28. Sowie: „Es ist unmöglich,
sich eine richtige Vorstellung von den Schwierigkeiten zu machen, welche die
Alchemisten in ihren Arbeiten zu überwinden hatten; sie warn die Erfinder der
Werkzeuge und der Processe, welche zur Gewinnung ihrer Präparate dienten,
sie waren genöthigt, alles was sie brauchten, mit ihren eigenen Händen darzu-
stellen. [...] Die Alchemie war die Wissenschaft, sie schloss alle technisch-
chemischen Gewerbzweige in sich ein. Was Glauber, Böttger, Kunkel in dieser
Richtung leisteten, kann kühn den grössten Entdeckungen unseres Jahrhun-
derts an die Seite gestellt werden.“ Ebd. S. 38.
159
Ebd. S. 36
103
andere Stoffe überführt werden, sei so vor dem Hintergrund des „unerfahrenen
Geistes“ der Adepten, des fehlenden Wissens um Elemente und deren chemi-
schen Eigenschaften zunächst völlig berechtig und vor allem rational nachvoll-
ziehbar gewesen.160

Liebig stützte seine Aufwertung der Alchemie zudem auf wissenschaftliche


Autoritäten, auf die „kenntnisreichsten“ und „scharfsinnigsten Männer“161 der
Wissenschaftsgeschichte wie etwa Spinoza und Leibniz, die der Alchemie
Glauben geschenkt hatten und sich unmöglich alle geirrt haben können. Des
Weiteren hob er aber vor allem auch die besondere Rolle des Steins der Weisen
im Hinblick auf das kontinuierliche Fortschreiten der Chemie im Laufe der Zeit
hervor.

                                                                                                           
160
Ebd. S. 32: „Noch heute setzt die gewöhnliche Erfahrung in vielen Stoffen,
welche eine Farbe besitzen, einen Farbstoff voraus; die rote Farbe des Rubins,
die grüne des Smaragds, die blaue des Saphirs beruht auf ähnlichen Ursachen
wie die Farbe der gefärbten Zeuge. Das weiche Eisen kann durch eine kleine
Beimischung eines fremden Körpers hart, das harte Roheisen durch eine gewis-
se Behandlung weich und dehnbar gemacht werden; das rothe Kupfer kann
durch Behandlung mit Galmei eine dem Golde ähnliche Farbe erhalten, dassel-
be Metall durch Arsenik silberweiss erhalten werden; das Gold erhält durch
Erhitzen mit Salmiak eine rothgelbe Farbe, durch Borax wird es bleich; in ge-
wöhnlicher Tinte (welche Kupfervitriol enthält) verwandeln unsere Kinder noch
heute das Eisen in Kupfer, indem jenes für die Wahrnehmung verschwindet;
aus dem Sand gewisser Flüsse erhielt man Gold, aus rothem Lehm mit Oel ge-
glüht bekam man Eisen. Was war dem unerfahrenen Geiste natürlicher, als zu
glauben, dass die Eigenschaften der Metalle von Dingen, von gewissen Be-
standtheilen herrühren, dass durch Entziehung oder Hinzuführung von gewis-
sen Stoffen das Blei oder Kupfer die Eigenschaft des Silbers oder Goldes erlan-
gen könnte? Die unvollkommene Tinctur gab die Farbe, eine vollkommenere
konnte die fehlenden Eigenschaften geben!“
161
Ebd. S. 37„Die Unkenntnis der Chemie und ihrer Geschichte ist der Grund der
sehr lächerlichen Selbstüberschätzung mit welcher Viele auf das Zeitalter der
Alchemie zurückblicken wie wenn es möglich oder überhaupt denkbar wäre,
dass über tausend Jahre lang die kenntnisreichsten und scharfsinnigsten Män-
ner, ein Baco von Verulam, Spinoza, Leibniz eine Ansicht für wahr hätten halten
können, der aller Boden gefehlt und welche keine Wurzel gehabt hätte! Muss
nicht im Gegentheil als ganz unzweifelhaft vorausgesetzt werden, dass die
Idee der Metallverwandlung mit allen Beobachtungen dieser Zeit in vollkom-
menster Uebereinstimmung und mit keiner im Widerspruch stand?“
104
Die Erfindung des Steins der Weisen sei eine „wunderbare Fügung“ gewesen,
so Liebig, da er die chemische Tätigkeit mit den „höchsten Wünschen der höhe-
ren Sinnlichkeit“ in Einklang brachte: namentlich das Streben nach „Gold“, „Ge-
sundheit“ und einem „langen Leben“. An das Gold sei die Macht gekoppelt, oh-
ne die Gesundheit gäbe es keinen Genuss und „das lange Leben tritt an die
Stelle der Unsterblichkeit“.162 Die Alchemie materialisierte diese Ideen in einen
Stoff, der im Verborgenen existierte, so dass er aufgefunden und besessen
werden konnte. Die Vergegenständlichung des Geheimnisses der Materie und
der Glückseligkeit im Stein der Weisen war Liebig zufolge unter anderem des-
wegen so wichtig gewesen, weil die Chemie, anders als die Physik, ständig mit
den „verborgensten“ Kräften der Natur zu tun hatte. Die Kräfte waren, so Lie-
big, nicht offensichtlich und unmittelbar. Es bedurfte einer besonderen Ver-
sinnbildlichung, um die Neugierde und den Forschungsdrang anzuregen.163

„Es war ein mächtiger und unwiderstehlicher Reiz, der


die Menschen antrieb sich mit einer Geduld und Aus-
dauer, die ohne Beispiel in der Geschichte ist, mit Ar-
beiten zu beschäftigen, welche kein Bedürfniss der
Zeit befriedigten. Es war das Streben nach irdischer
Glückseligkeit.“164

Doch anders als dieses Zitat Liebigs vermuten lässt, bestand der eigentliche
Beitrag der Idee des Steins der Weisen nicht darin, diese irdische Glückseligkeit
dann auch unmittelbar durch dessen Herstellung zu befördern. Liebig deutet
den Stein der Weisen um: Dessen Herstellung sei nicht das eigentliche Er-
kenntnisziel der Alchemisten gewesen, auch wenn diese das selbst bisweilen
glauben wollten. Der Stein der Weise habe vielmehr als ultimativer Anreiz ge-
                                                                                                           
162
Vgl. dazu ebd. S. 28
163
Vgl. dazu ebd.: „Die Chemie umfasst die Wirkungen von Naturkräften der
verborgensten Art, die sich nicht wie viele physikalische Kräfte, wie das Licht,
die Schwere, durch Thätigkeiten kund geben, welche täglich die Aufmerksam-
keit der Menschen auf sich ziehen; es sind Kräfte, welche nicht in Entfernungen
wirken, deren Aeusserungen nur bei der unmittelbaren Berührung verschie-
denartiger Materien wahrnehmbar sind.“
164
Ebd. S. 28
105
dient, der die Adepten zum beständigen und intensiven Arbeiten anhielt und
dadurch wissenschaftliche Erkenntnisse hervorbrachte, die ohne deren Streben
nach irdischer Glückseligkeit vielleicht nie entdeckt worden wären.

„Eine jede Ansicht, welche zum Arbeiten antreibt, den


Scharfsinn weckt und die Beharrlichkeit erhält, ist für
die Wissenschaft ein Gewinn; denn die Arbeit ist es,
welche zu Entdeckungen führt. [...] Die lebhafteste
Einbildungskraft, der schärfste Verstand ist nicht fä-
hig, einen Gedanken zu ersinnen, welcher vermögend
gewesen wäre, mächtiger und nachhaltiger auf den
Geist und die Kräfte des Menschen einzuwirken, als
wie die Idee des Steins der Weisen.“165

Angeregt durch die Suche nach dem Stein der Weisen als eigentliches Objekt
der Begierde waren die Alchemisten imstande, eine ganze Reihe wichtiger und
bis zu Liebigs Lebzeiten wissenschaftlich gültiger Entdeckungen zu machen,
wie beispielweise das Verfahren der Destillation. Die „Verwechslung“ der Al-
chemie mit der „Goldmacherei des 16ten und 17ten Jahrhunderts“ sei daher, so
Liebig, „die grösste Ungerechtigkeit. Unter den Alchemisten befand sich stets
ein Kern echter Naturforscher, die sich in ihren theoretischen Ansichten häufig
selbst täuschten, während die fahrenden Goldköche sich und andere betro-
gen.“166

Liebigs Versuch, die Geschichte der Chemie in einer Weise zu verstehen, die von
Kontinuitäten ausging und daher einen grundlegenden Bruch zwischen vor-
moderner Alchemie und moderner Chemie ablehnte, bedingte eine ganz be-
stimmte Lesart der Alchemie. Das spezifische Erkenntnisinteresse Liebigs führ-
te zu einer äusserst selektiven Wahrnehmung und Umdeutung einer der zent-
ralen Ideen der Alchemie. Ähnlich wie bei Jung erfüllt der Stein der Weisen für

                                                                                                           
165
Ebd. S. 37. Vgl. dazu auf derselben Seite: „Man sagt, dass die Vorstellung des
Steins der Weisen ein Irrthum gewesen sei; aber alle Ansichten sind aus
Irrthümern hervorgegangen.“
166
Ebd. S. 38
106
Liebig damit eine praktische Funktion. Er diente als Projektionsfläche eines „ei-
gentlichen“ Strebens der Alchemie. Eine Folge dieser Herangehensweise ist,
wie auch schon bei Berthelot und Kopp, die wertende Unterscheidung zwi-
schen „guten“ und „schlechten“ Alchemisten; zwischen einem „Kern echter
Naturforscher“ und den betrügerischen, pseudowissenschaftlichen und letzt-
lich erkenntnisverhindernden „Goldköchen“. Der Preis der aus einer spezifi-
schen Gegenwart heraus gedachten historischen Kontinuität zur Chemie, die
Liebig darlegt, ist eine Abwertung, Vernachlässigung oder bestenfalls eine
funktionale Umdeutung, scheinbar „sperriger“ und „ornamentaler“ Ideen der
Alchemie, die sich nicht so recht in die Fortschrittsgeschichte der Chemie ein-
passen lassen wollen.

Praxeologische Alchemieforschung im 20. Jahrhundert

Die Liebig’sche Lesart der Alchemie als Urahn der modernen Chemie hat sich
im kollektiven Gedächtnis bzw. der Erinnerungskultur der chemischen Wissen-
schaft seit dem 19. Jahrhundert etablieren können. Sie bedient das Bedürfnis
nach historischer Tradition zwecks disziplinärer Identitätsbildung. Dement-
sprechend finden sich seit dem 19. Jahrhundert bis heute immer wieder Che-
miker, die sich neben ihrer eigentlichen Forschung mit historischen Studien zur
Alchemie auseinandersetzen. Ebenso wie Liebig entdecken sie in der Alchemie
einen historischen Vorläufer ihres eigenen Tuns, zumindest in Hinblick auf die
stofflich-praktischen Errungenschaften der Adepten, ihre technischen Verfah-
ren, Instrumente und Handgriffe.

Eine solche praxeologische Sicht auf die Alchemie der Frühen Neuzeit hat sich
nun in den letzten Jahrzehnten auch in der Wissenschaftsgeschichte durchge-
setzt. Im Zuge des sogenannten practical turns der Wissenschaftsforschung,167
der den Fokus von der theoretischen Ebene der Erkenntnis auf die Frage nach
der Forschungspraxis verschoben hat, wird nun auch in der historischen Al-

                                                                                                           
167
Vgl. dazu beispielsweise die bereits geannten Arbeiten von Hans-Jörg Rhein-
berger sowie Galison, Peter: How Experiments End. Chicago, IL 1987; Knorr-
Cetina, Karin 2002: Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher
Wissensformen. Frankfurt.
107
chemieforschung weniger der grundlegende Bruch zwischen Früher Neuzeit
und moderner Wissenschaft betont, als vielmehr die praktische Kontinuität
perspektiviert. Es handelt sich hierbei vornehmlich um Arbeiten, die die Alche-
mie im Sinne eines positivistischen Geschichtsverständnisses vor allem auf
dessen technisch-praktischen und wirtschaftlich-sozialen Aspekte hin abklop-
fen und die metaphysische Dimension mehr oder weniger bewusst ausser Acht
lassen. Die beiden wichtigsten Vertreter dieser praxeologischen Zugangsweise
zur Geschichte der Alchemie sind die bereits vorgestellten Lawrence M. Prin-
cipe sowie William R. Newman.

In welcher Weise diese neuere Alchemieforschung mit denjenigen Aspekten


der Alchemie umgeht, die Jung ebenso wie Sarton als „dunkel“ und geheimnis-
voll beschreibt, kann anhand einer Arbeit von Lawrence M. Principe zur Rolle
von Symboliken der Geschlechtlichkeit in der Transmutationsalchemie ver-
deutlichen. In seinem 2011 erschienen Aufsatz „Revealing Analogies: The
Descriptive and Deceptive Roles of Sexuality and Gender in Latin Alchemy“168
setzt Principe sich in exemplarischer Weise mit der Funktion sexueller und ge-
schlechtsspezifischer Bilder in der alchemistischen Sprache auseinander. Sexu-
elle Bilder und Namen sind in der alchemistischen Literatur offensichtlich om-
nipräsent, so dass hier auch aus einer pragmatistisch-praxeologischen Sicht
auf das Handwerk der Alchemie Erklärungsbedarf besteht. Jeder Stoff, jeder
Vorgang wird mit Geschlechtlichkeit und Sexualität assoziiert. Anders als bis-
herige Ansätze, die lediglich „Dunkles durch noch Dunkleres“ zu erklären ver-
suchten, schlägt Principe, gemäss seines positivistischen Geschichtsverständ-
nisses eine historisch kontextualisierende Deutung vor.169 Seine Grundthese
lautet, dass es sich bei der Verwendung dieser Bilder um eine rein metaphori-
sche Sprechweise handle. Ebenso wie in der modernen Forschung kämen Me-
                                                                                                           
168
Principe, Lawrence M. 2011: Revealing Analogies. The Descriptive and Decep-
tive Roles of Sexuality and Gender in Latin Alchemy. In: Hanegraaff, Wouter J. /
Kripal, Jeffrey J. (Hg.). Hidden Intercourse. Eros and Sexuality in the History of
Western Esotericism. New York, S. 202–229.
169
„Indeed, while the subject of sexuality in alchemy has long been a subject of
study, much of the writing on this topic [...] gives unnecessarily contrived rea-
dings or attempts to explain obscura per obscuriem. In contrast, [..., I strive, SB]
to present more historically contextualized and more plausible origins and ro-
les for the gendered and sexual language of alchemy.“ Ebd. S. 210.
108
taphern als Erkenntnistechnik immer dann ins Spiel, wenn ein neues For-
schungsfeld erschlossen werden muss, das nicht direkt anschaulich ist. Um
Metallverwandlungen durchführen zu können, mussten die Adepten, so Prin-
cipe, eine valide Theorie stofflicher Veränderung entwickeln. Da diese Prozesse
aber nicht unmittelbar mit den Körpersinnen erkennbar und einsichtig sind,
waren die Alchemisten dazu gezwungen, auf Metaphern und Analogien zu-
rückzugreifen.

„Given any subject whose explanatory principles lie


outside of direct sense perception, it is natural – inde-
ed unavoidable – to turn to analogy for explanation
and clarification, that is, to explain the unknown by
means of the known, the unfamiliar by means of the
familiar. Scientists today are familiar with this techni-
que, even if they are not always as aware as they
might be of the degree of implicitly metaphorical usa-
ge in their daily thought and work.“170

Principe geht grundlegend davon aus, dass es sich bei der frühneuzeitlichen
Alchemie um ein Unternehmen handelt, dass sich im Prinzip nicht vom heuti-
gen Wissenschaftsgeschäft unterscheidet. Es geht darum, Unbekanntes zu
erklären und aufgrund dieses Wissens handhabbar zu machen und technolo-
gisch kontrollieren zu können. Bisweilen entsteht in diesem Prozess des Erklä-
rens und Manipulierens eine Kluft zwischen der Wahrnehmung und Darstell-
barkeit, so dass auf Metaphern, Analogien und Illustrationen zurückgegriffen
werden muss, wie es laut Principe im Übrigen bis heute bei jeder strukturellen
Darstellung eines chemischen Moleküls geschehe. Sinnvollerweise greife man
bei der Auswahl eines geeigneten Bildes auf Bekanntes zurück. In dieser Weise
plausibilisiert er auch den umfassenden Gebrauch von Sexualitätsmetaphori-
ken in der Alchemie:

                                                                                                           
170
Ebd. S. 215.
109
„... there is hardly a more common human experience
than that of gender and sexuality. Higher animals, in-
cluding human beings, are most obviously divided into
two groups on the basis of biological sex. Thus the bi-
nary of male/female provides an ever-ready means of
labeling or classifying anything that falls into two
subcategories.“171

Alchemisten verstanden ihre Tätigkeit als schöpferische Tätigkeit und die na-
heliegende Analogie dafür sei, nach Principe, nun einmal die geschlechtliche
Fortpflanzung. Die dunkle Kraft der Sexualitätssymboliken, die C.G. Jung und
viele andere so fasziniert hat, wird hier im Sinne einer Denkökonomie regel-
recht banalisiert. Allerdings ergeben sich aus einer derart pragmatistischen
Lesart des alchemistischen Denkens offensichtliche Widersprüche, die Principe
erklären muss. So bringen Adepten den sogenannten Mercurius als stoffliches
Prinzip des Quecksilbers zuweilen mit Männlichkeit, dann wieder mit Weiblich-
keit oder gar mit beidem gleichzeitig in Verbindung. Eine eindeutige Zuord-
nung von Geschlecht und damit mit einer klaren Funktion im Fortpflanzungs-
prozess ist in der Alchemie zumeist gerade nicht möglich. Diesen Widerspruch
löst Principe durch eine Erweiterung seiner Erklärung. Er konstatiert bei den
Alchemisten ein Bedürfnis nach Geheimhaltung. Die uneindeutige Geschlecht-
lichkeit des alchemistischen Mercurius sei also nicht etwa wirklich auf das We-
sen des Metalls zurückzuführen, etwa auf dessen Wandelbarkeit und erstaun-
liche Bindungsaffinität, sondern habe vielmehr einem praktischen Zweck ge-
dient, nämlich dem der Verschleierung. Metaphern wurden laut Principe von
den Alchemisten bewusst dazu verwendet, Prozesse und Sachverhalte zu erklä-
ren, paradoxerweise aber auch, um sie gleichzeitig zu verdecken. Im Unter-
schied zu den heutigen Wissenschaften formulierten die Adepten, so Principe,
ihre Lehre auch deshalb in geheimnisumwobener Sprache, da ihr schlichtweg
nicht jeder „würdig“ war. Alchemistische Tätigkeit sei als donum dei begriffen
worden und nicht jeder habe sie daher erlernen bzw. ausführen können und
dürfen. Ein zweiter wichtiger Grund für das Bedürfnis nach Geheimhaltung sei

                                                                                                           
171
Ebd.
110
die Tatsache, dass Alchemisten als Gefahr für die gesellschaftliche Ordnung
angesehen wurden.172 Für Principe war das alchemistische Unternehmen in
seinem historischen soziokulturellen Kontext höchst riskant und konnte für die
Adepten sogar gefährlich werden. 173 Die Metaphorik der Alchemie habe sowohl
als Erkenntnisinstrument gedient als auch zu ihrer Verschleierung beigetragen.

Principe rekonstruiert den frühneuzeitlichen Adepten nach dem Bild eines mo-
dernen Wissenschaftlers, der gewisse Zwecke verfolgt, vornehmlich Erkennt-
nisgewinn mittels Theorien und Erklärungen aber auch technisch-
ökonomische Anwendungen, und sich dazu geeigneter Hilfs- und Darstel-
lungsmittel bedient. Die zunächst befremdliche psychische, sexuelle und ge-
schlechtliche Sprechweise der Transmutationsalchemie in Bezug auf das Ver-
halten von Metallen im Laboratorium wird dadurch epistemologisch entschärft
und in eine retrospektiv konstruierte positivistische Genealogie moderner Wis-
senschaften eingereiht. Die frühneuzeitliche Alchemie wirkt in diesem kontinu-
ierlichen Erzählstrang ebenso „modern“ wie die heutigen Naturwissenschaf-
ten, sie erscheint als moderne Naturwissenschaft in nuce und der Adept als
modern-rationaler Akteur und frühneuzeitlicher homo oeconomicus.

Die neuere Alchemieforschung geht jedoch über eine praxeologische Erfor-


schung der Alchemie hinaus. In den Arbeiten eines zweiten führenden Alche-
mieforschers, William Newman, geht es weniger darum, eine Kontinuität zwi-
schen der Praxis der Alchemie und der Praxis moderner Naturwissenschaft zu
rekonstruieren. In der frühneuzeitlichen Alchemie entsteht für Newman das
moderne technologische Weltverständnisses schlechthin, das sich in der Baco-
nischen Formel Wissens ist Macht zur modernen gesellschaftlichen Program-
matik erhob.

Vom Spätmittelalter bis weit in die Frühe Neuzeit ging man davon aus, dass es
zwischen den Menschen und den göttlichen Wesen noch Zwischengeschöpfe
gab: die Dämonen. Anders als göttliche Wesen oder der allmächtige Gott
                                                                                                           
172
„Alchemical knowledge was potentially as dangerous then as the knowledge
of nuclear weapons is today.“ Ebd., S. 217-218.
173
„I propose that the use of sexual imagery in alchemy results, paradoxically,
from two opposing desires on the part of its creators: the desire to explain and
the desire to conceal.“ Ebd., S. 213.
111
selbst, waren sie nur in der Lage, maximal das zu vollbringen, was auch Men-
schen auf Erden zu vollbringen imstande sind. Vermeintlich übernatürliche
Kräfte der Dämonen entpuppen sich bei genauerer Betrachtung als Täuschun-
gen und Taschenspielertricks. Gleichzeitig verkörperten die Dämonen daher
das Potenzial, das Menschen bei voller Entfaltung ihrer Möglichkeiten zur Ver-
fügung stand. Jede Tätigkeit, die in dieser Zeit die Reichweite und die Grenzen
menschlicher Kunst auszuloten versuchte, war daher auch hilfreich für das
Verständnis von Dämonen. Man konnte so abschätzen, welches Leid sie im-
stande waren den Menschen anzutun, aber auch, was man gegen sie unter-
nehmen konnte, wenn man ihre Macht erst einmal durchschaut hatte.

Die Alchemie, so führt William Newman in seinem einschlägigen Buch „Prome-


thean Ambitions“ von 2004 aus, habe sich genau an dieser Grenze zwischen
Kunst und Natur bewegt, zwischen menschlich-dämonischer Machbarkeit und
übernatürlich-göttlicher Allmacht. Die Alchemie betrieb daher, so Newman,
nicht nur Dämonenkunde, sondern war der ausgezeichnete Schauplatz, auf
dem das Verhältnis von Kunst und Natur in der Frühen Neuzeit neu verhandelt
werden konnte. Newman beschreibt in seiner Arbeit die Rolle der Alchemie vor
dem Hintergrund dieses historischen Wandels. Er setzt sich dabei vor allem
anhand von drei grundlegenden Aspekten mit dem Verhältnis von Natur und
Kultur in der frühneuzeitlichen Alchemie auseinander: Er untersucht erstens
die Beziehung der bildenden Künste der Zeit zur Alchemie, zweitens die alche-
mistische Idee des Homunculus als maximale Obergrenze menschlicher Schaf-
fenskraft sowie drittens, die Erfindung des Experiments durch die Alchemie.

Die bildende Kunst der Frühen Neuzeit sah sich in einem imitierenden Verhält-
nis zur Natur. Die Natur galt als einzige Quelle des genuin Neuen, während der
Mensch lediglich bereits vorhandenes abzubilden vermochte. Man ging etwa
davon aus, dass die Natur einen Pfau wirklich hervorbringt, während selbiger in
der Malerei, dem Holzschnitt oder der Bildhauerei nur nachgebildet werden
kann. Aus diesem Grund war auch das Verhältnis der bildenden Künste der
Frühen Neuzeit zur Alchemie zwiegespalten. Auf der einen Seite schätzten die
Künstler die Alchemie, da sie es verstand, Farben und Pigmente herzustellen.
Durch die praktischen Leistungen der Alchemie wurden Farben und Pigmente,
die zu dieser Zeit überaus teuer waren, zugänglicher und erschwinglicher. Ob
112
die so hergestellten Farben wirklich „echt“ waren, war für die Kunst irrelevant,
da man sowieso davon ausging, dass Kunst nur zu imitieren imstande war. Auf
der anderen Seite ging es insbesondere der Transmutationsalchemie offen-
sichtlich um mehr als das bloße Herstellen von Farben. Die Farben waren viel-
mehr Teil eines viel umfassenderen alchemistischen Werkes, in dem es nicht
nur um den stofflichen Schein und die oberflächlichen Merkmale ging, sondern
um das Wesen der Farben schlechthin. Alchemistisch hergestellte Farben imi-
tierten somit nicht nur natürliche Farbpigmente, beispielsweise das teure Pur-
pur, das mühevoll und kostspielig mit Hilfe von Purpurschnecken gewonnen
werden musste. Alchemistisch hergestelltes Purpur war Purpur. Die Alchemie
beanspruchte nicht nur, dass ihre Substanzen dem natürlichen Original
gleichwertig waren, sie waren diesem sogar überlegen. Im Farbspiel der
Transmutation vollzog sich die Perfektionierung der natürlichen Materie.

Die Transmutationsalchemie der Frühen Neuzeit überschritt die Grenze der


Naturimitation und setzte sich damit in Widerspruch zu den bildenden Küns-
ten. Leonardo da Vinci pflegte daher auch ein überaus ambivalentes Verhältnis
zur Alchemie.174 In Anbetracht der fast schon inflationären Affinität gegenwär-
tiger Kunst zur Alchemie überrascht diese von Newman aufgezeigte Rivalität
zwischen diesen beiden Tätigkeitsfeldern in der Zeit der Renaissance.

Der zweite Aspekt, dem Newman sich zuwendet, um den frühmodernen Wan-
del des Verhältnisses von Kunst und Natur anhand der Alchemie zu beleuchten
ist die Idee des Homunculus. Newman versteht die Idee der Menschschaffung
als ultimativen Fluchtpunkt eines technologischen Weltverständnisses und
versucht an dieser Figur dessen historische Entwicklung abzulesen. Auch hier
führt er die frühneuzeitliche Alchemie als wichtigen Ausgangspunkt an. So fin-
det er Belege für die Idee der künstlichen Schöpfung des Menschen durch den
Menschen einerseits bereits in ein paar Texten der frühen islamischen Alche-
mie sowie andererseits vor allem bei Paracelsus in dessen Werken „De ho-
munculis“ und „De natura rerum“ aus den 1520er und 1530er Jahren.175
Newman argumentiert, dass in diesen Schriften spätere, bis heute anhaltende
                                                                                                           
174
Vgl. dazu Newman, William R. 2004: Promethean Ambitions. Alchemy and
the Quest to Perfect Nature. Chicago, IL; Kapitel 3, ab S. 115.
175
Vgl. dazu ebd., S. 164
113
bioethische und eugenische Diskussionen bereits vorweggenommen wurden.
Wenngleich Newmans Argumentation vor dem Hintergrund der ausgewählten
Texte plausibel erscheint, so ist die Homunculus-Idee im Kontext des äußerst
umfangreichen Schriftenkorpus der frühneuzeitlichen Alchemie tatsächlich
doch nur ein Randphänomen. Im Allgemeinen ging es der Alchemie und insbe-
sondere der Transmutationsalchemie nicht um die künstliche Herstellung des
Menschen, sondern um den Stein der Weisen.

Ein ähnliches Problem ergibt sich auch bei Newmans Überlegungen zur Expe-
rimentalkultur der Alchemie. Die Adepten hätten, so Newman, als erste ein
experimentelles Verhältnis zur Natur aus einem modernen Erkenntnisinteresse
heraus entwickelt und legitimiert, lange vor Francis Bacon und Robert Boyle.
Newman betont hier vor allem die positive Haltung der Adepten gegenüber
Techniken und Methoden der experimentellen Intervention in stoffliche Pro-
zesse. Wie die Alchemiehistorikerin Tara Nummedal jedoch richtig kritisiert,
muss davon ausgegangen werden, dass Bacon und Boyle in ihren Überlegun-
gen zur experimental philosophy eben auch von anderen Quellen und Kontex-
ten maßgeblich beeinflusst wurden und nicht nur durch das Studium alche-
mistischer Traktate.176 Ganz abgesehen davon, reduziert sich das Grundprinzip
des wissenschaftlichen Experimentierens nicht auf den praktisch-
instrumentelle Eingriff des Forschers in natürliche Vorgänge. Ganz zentral ist
hierbei auch das Ziel des Erkenntnisgewinns, dass sich so nicht einfach auf die
Alchemie übertragen lässt. Das Telos des Transmutationsprozesses war aber
keine objektivierte Wissensproduktion. Zudem bezieht sich das moderne Expe-
riment immer schon funktional auf einen theoretischen Wissensbestand, sei es
in explorativer, deduktiver, induktiver, metrologischer oder gar simulierender
Weise. Auch dieser funktionale Bezug von Experiment und Erkenntnis lässt sich
in der Alchemie nicht erkennen.177 Sicherlich intervenierten die Adepten in die

                                                                                                           
176
Nummedal, Tara E. 2007: Promethean Ambitions. Alchemy and the Quest to
Perfect Nature (review). S. 587. In: Journal of Interdisciplinary History (37) 4, S.
586f.
177
Ganz abgesehen davon, dass moderne Ansätze des wissenschaftlichen Er-
kenntnisgewinns sowieso nicht mehr von einer Trennung zwischen Natur und
Kultur ausgehen, so dass sich die Frage nach intervenierenden Methoden an-
ders stellt. Vgl. dazu bspw. Latour, Bruno 2008: Wir sind nie modern gewesen.
114
stofflichen Prozesse in ihrem Laboratorium, doch ob es sich hier um experi-
mentelle Forschung im Sinne der von Boyle, Bacon und anderen entwickelten
Programmatik handelt, muss massiv in Frage gestellt werden. Würde man das
Experiment im obigen Sinne weiter fassen und einfach als bewusste Interven-
tion des Menschen in eine natürliche Umwelt bzw. materielle Umgebung defi-
nieren, dann würde sich das Feld schnell auf alle möglichen menschlichen Tä-
tigkeiten ausweiten und somit seine Trennschärfe vollends verlieren, sowohl
epistemologisch wie auch historisch. Dann böten sich neben der Alchemie
auch das Handwerk, der Ackerbau, die Nahrungszubereitung, der Bergbau, die
Werkzeugherstellung, die Baukunst etc. als mögliche Vorläufer wissenschaftli-
chen Experimentierens an. Eine solche Herleitung des wissenschaftlichen Ex-
periments aus den alltäglichen materiellen Interventionen und Problemlö-
sungstechniken der Menschen im Sinne John Deweys stellt zwar in der Tat eine
plausible historische Erklärung dar,178 in Hinblick auf die Geschichte der Alche-
mie wäre ein Alleinstellungsmerkmal im Sinne Newmans jedoch kaum zu
rechtfertigen.

Zudem wäre noch zu klären, inwiefern die intervenierende Haltung beispiels-


weise in einem typischen alchemistischen Kunstbüchlein oder Probierbuch, das
ja vor allem aus Rezepten für alltäglich anfallende Haushaltsfragen oder spezi-
elle Probleme des Bergbaus bestand, in Verbindung zu theoretischen Erklä-
rungsansätzen im Sinne einer modernen Theoriebildung steht und ob hier
nicht eher von überliefertem Erfahrungswissen anstelle einer methodisch ge-
regelten Naturbefragung im Sinne eines Experimentes ausgegangen werden
muss. Am ehesten scheint noch die Transmutationsalchemie als Kandidat für
den Vorläufer moderner Experimentalkultur in Frage zu kommen, die im Ver-
gleich zur Kultur der alchemistischen Probierbüchlein am stärksten naturphilo-
sophisch ausgerichtet war. Doch lässt sich die Herstellung des Steins der Wei-
sen im Transmutationsprozess wie allein schon die dargelegten Arbeiten von
Sarton, Koyré, Jung und Liebig anzeigen, nicht einfach als experimenteller Er-
kenntnisgewinn im Sinne modernen Naturforschung deuten. Die Frage ver-

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 
Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt. Sowie Kapitel 3 dieser
Arbeit.
178
Dewey, John 2002: Logik. Die Theorie der Forschung, Frankfurt.
115
kompliziert sich noch weiter, wenn man sich vor Augen hält, dass Newman
durchgängig mit einem ahistorischen Naturbegriff operiert, der speziell vor
dem Hintergrund neuerer Ergebnisse der Wissenschaftsgeschichte und -
philosophie kritisch hinterfragt werden müsste.179 In welche Natur interveniert
die Alchemie und welcher modernen Experimentalwissenschaft hat sie den
Weg bereitet? Diese Fragen werden bei Newman ausgeblendet. In seiner Rück-
schau auf die Geschichte der Alchemie werden offensichtlich gewisse Elemen-
te als historische Konstanten auf die Frühe Neuzeit projiziert. Erst in einem sol-
chen, spezifisch retrospektiven Zugriff erscheint der Weg von Alchemie hin zu
den modernen Experimentalwissenschaften als eine kontinuierliche Entwick-
lung.

Die Kosten der Herstellung einer historischen Kontinuität von der Alchemie der
Frühen Neuzeit bis heute werden bei Newman ebenso wie schon bei Liebig und
Principe deutlich sichtbar. Einzelne Komponenten eines eigentlich komplexen
historischen Unternehmens müssen vor dem Hintergrund eines heutigen se-
lektiven Erkenntnisinteresses entweder funktional umgedeutet, betont bzw.
schlichtweg ausser Acht gelassen werden. Sicherlich benutzten und entwickel-
ten die Adepten Geräte und Verfahren für ihre alchemistischen Tätigkeiten, die
sie weit über ihre Zeit hinweg überlebten. Selbst die Idee des Homunculus, so
marginal sie auch in frühneuzeitlichen Schriften sein mag, hat insbesondere ab
dem 19ten Jahrhundert eine Relevanz für das moderne Imaginäre entwickelt,
die kaum bestritten werden kann.180 Doch Anbetracht dieser aus dem heute
zurückverfolgten Kontinuitätslinien zu behaupten, dass die zentrale Bedeu-
tung der Homunculus-Idee schon in der frühneuzeitlichen Alchemie angelegt
war und somit etwa in Goethes Faust, in den Science Fiction Hefte des frühen
20. Jahrhunderts oder etwa in Fritz Langs Film Metropolis nur „repräsentiert“
wurde, führt in die Irre. Ein solcher Ansatz verkennt einerseits die eigentliche
Historizität des alchemistischen Denkens und andererseits die Tatsache, dass
die heutige Alchemieforschung selbst durch eine spezifisch moderne Wahr-
nehmung und Vorstellung von Alchemie geprägt ist, die sich mit der Heraus-
bildung moderner Naturwissenschaft zunehmend als imaginative Kontrastfo-

                                                                                                           
179
Vgl. dazu vorangehende Fussnote.
180
Stichwort „Frankenfood“.
116
lie und Projektionsfläche für Romantisierungen von Wissenschaft aber auch für
Ängste vor deren prometheischer Macht etabliert hat.

Abbildung 6 Rotwangs Laboratorium (1927) Quelle: Filmstill aus Metropolis

117
2.5 The Coral of Life

Seit dem Aufkommen der Darwin’schen Lehre im 19. Jahrhundert wird die Evo-
lution der Arten bis heute wirkmächtig im Bild eines Stammbaums imaginiert.
Insbesondere Ernst Haeckel, ein gewichtiger Verfechter und Popularisierer der
Darwin’schen Evolutionstheorie, stellte die im Menschen krönende Entwick-
lung alles Lebendigen in seinem Buch „Anthropogenie“ (1874) folgendermassen
dar181:

Abbildung 7 Der Stammbaum des Menschen. Aus "Anthropogenie" von Ernst Haeckel, 1874

                                                                                                           
181
Haeckel, Ernst 1879: The Evolution of Men. New York.
118
Aus dem Baum des Lebens gehen nach und nach höher entwickelte Arten her-
vor. Im Zuge der Entwicklung gehen dabei vom Stamm immer wieder Seiten-
triebe ab, die sich dann weiter verästeln. Doch der Haupttrieb, der von den
Wurzeln bis in die Baumkrone reicht, gibt die eigentliche Wuchsrichtung an,
von den niederen Arten bis hin zum Menschen, der Krone der Evolution. Doch
auch wenn sich Haeckel auf Darwin bezog und sich als Wegbereiter seiner
Theorie verstand, Darwins Evolutionslehre beinhaltete keine derart ausge-
zeichnete Richtung der Evolution, aus der eine hierarchische Ordnung der Ar-
ten hätte folgen müssen. Darwins Evolutionslehre basierte vielmehr auf der
Idee blinden Zufalls aus der sich dann erst die natürliche Selektion ergab.182 In
seinen Notizbüchern von 1837 findet man daher auch noch eine andere Meta-
pher, um die von ihm angedachte zeitliche Entwicklung der Evolution auf eine
räumliche Ordnung zu projizieren. Bezeichnenderweise bevorzugte er nicht
den Baum, sondern die Koralle:183

„The tree of life should perhaps be called the coral of


life, base of branches dead; so that passages cannot be
seen.“184

                                                                                                           
182
Vgl. hierzu weiterführend Sarasin, Philipp 2009: Darwin und Foucault. Gene-
alogie und Geschichte im Zeichen der Biologie. Frankfurt.
183
An anderen Stellen in Darwins Texten redet er zwar immer vom „Baum des
Lebens“, doch seine Zeichnungen indessen zeigen eindeutig korallenartige
Strukturen, anhand deren sich keine Hierarchie oder Spitze ausmachen lässt.
Vgl. zu dieser Differenz in Schrift und Zeichnung Darwins die Arbeiten von
Horst Bredekamp sowie Julia Voss: Bredekamp, Horst 2005: Darwins Korallen.
Frühe Evolutionsmodelle und die Tradition der Naturgeschichte. Berlin; Voss,
Julia 2007: Darwins Bilder. Ansichten der Evolutionstheorie 1837-1874. Frank-
furt.
184
Darwin, Charles 1837-38: Notebook B: Transmutation of Species. S. 25. In: Bar-
rett, David Kohn u.a. (Hg.) 1987: Charles Darwin’s Notebooks, 1836-1844. Geolo-
gy, Transmutation of Species, Metaphysical Enquiries. Cambridge.
119
Abbildung 8 Darwins Koralle des Lebens von 1837

Weder ist bei der Koralle ein verwurzelter Stamm ausmachbar, noch eine ein-
deutige Wuchsrichtung, noch eine Krone. Die Triebe sind neutral mit Buchsta-
ben von A bis D bezeichnet und scheinen sich in alle möglichen Richtungen zu
verästeln. Im Gegensatz zum Stammbaume fallen im Bild der Koralle also zwei
zentrale Komponenten weg: die Entwicklungsrichtung in Hinblick auf eine
vermeintliche Höherentwicklung der Arten sowie die sich daraus ergebende
Hierarchisierung. Bildet sich bei der Koralle ein neuer Trieb, so bedeutet dies
nicht, dass dieser als „Seitentrieb“ aus der eigentlichen Wuchsrichtung aus-
schert. Verschiedene Äste können koexistieren, keine Astkrone ist vor der ande-
ren ausgezeichnet. In einer Zeit, in der sich die Vorstellung der Geschichte im
Kollektivsingular herausbildete und der Hauptstrom der Geschichte zuneh-
mend mit der Höherentwicklung des Weltgeistes zusammenfiel, verwundert
es nicht, dass sich die Baummetaphorik als Sinnbild historischer Entwicklung
durchsetzen konnte und nicht die Koralle. Erst postmoderne Denker haben die
ihr zugrundeliegende, weniger hierarchische denn chaotisch-vielfältige Vor-
stellung historischen Werdens wieder in eine verwandte rhizomatische Form
übertragen.185

Baum und Koralle versinnbildlichen auch unterschiedliche Zugänge zur Ge-


schichte der Alchemie. Die in diesem Kapitel vorgestellten Deutungsperspekti-

                                                                                                           
185
Vgl. dazu bspw. Deleuze, Gilles / Guattari, Felix 1977: Rhizom. Berlin.
120
ven des historischen Verhältnisses von Alchemie und Chemie sind vor allem im
Bild des Baumes zu verzeichnen. So unterschiedlich die Deutungen der Alche-
mie von Sarton über Koyré bis hin zu Jung und Newman auch sein mögen, ei-
nes haben sie gemeinsam: Sie alle betrachten die Geschichte der Chemie bzw.
der modernen Wissenschaften als einen verwurzelten Baum mit Haupttrieb
und Krone. Sarton ging in der Vorstellung eines radikalen Bruchs sogar davon
aus, dass der historische Baum der Wissenschaften erst mit dem Einsetzen der
wissenschaftlichen Revolution zu existieren und zu wachsen begann. Sowohl
die Wuchsrichtung als auch das Telos des Fortschritts ergeben sich wie im
Haeckel’schen Baum erst im Rückblick aus der Gegenwart. Bei Sarton würde an
der Spitze des Baumes die moderne Naturwissenschaft stehen und jede Er-
kenntnisregung in der Vergangenheit, die sich nicht in den Haupttrieb des
Fortschritt einspeist, der zum Licht strebt, ist ein Seitentrieb, der auf Abwege
und in die Irre führt. Dies gilt im Sinne Sartons auch für die Alchemie. Sie er-
scheint bei Sarton als abstruses Gewächs, das überwunden und abgetötet
werden musste, damit die Geschichte der Chemie überhaupt erst beginnen
und der Baum der Wissenschaften sich entfalten konnte. Sarton zieht nicht in
Erwägung, dass die frühneuzeitliche Alchemie vielleicht gar nicht deswegen
existierte, um ein damals noch unbekanntes Telos des modernen Erkenntnis-
fortschritts zu erfüllen oder dass sie gar im Sinne einer historischen Vielfalt im
Bild der Koralle einem ganz anderen, eigenen Trieb folgte, jenseits der Entwick-
lung moderner Wissenschaftlichkeit. Das Bild des monopodialen Baumes legt
ein Absterben der Seitentriebe nahe oder zumindest eine sich rasch erschöp-
fende Entwicklung abseits der Hauptwuchsrichtung. Doch warum sollte der
jahrhundertealte Trieb der Alchemie mit dem Aufkommen des modernen wis-
senschaftlichen Unternehmens überhaupt abgestorben sein? Wäre es nicht
plausibler anzunehmen, dass er sich getrennt vom Trieb der Wissenschaften
weiterentwickelt und neue Formen angenommen hat?

Alexandre Koyré leistete zwar einen entscheidenden Beitrag zur Rehabilitie-


rung der Alchemie, doch besteht ihr Verdienst bei ihm letztlich nur darin, die
moderne Naturwissenschaft ermöglicht zu haben. Sie kann als der fruchtbare
Boden verstanden werden, auf dem der Baum der modernen wissenschaftli-
chen Erkenntnis wachsen konnte, doch sie selbst ist nicht Teil des Baumes. Es

121
war die zügellose Neugierde der Alchemie, die deren Samen nährte. Doch die
eigentliche Vorstellungswelt der Alchemie ging nicht in den Baum der Wissen-
schaften über. Die Existenz und die historische Funktion der Alchemie werden
auch bei Koyré in der Rückschau aus der Gegenwart heraus gedacht, in ihr wur-
zelte der Entwicklungstrieb, der sich in den modernen Wissenschaften krönte.

C. G. Jung hingegen nimmt die Alchemie in ihren Inhalten ernster, als Koyré
und Sarton es getan haben. Doch auch er erschafft sich seinen eigenen histori-
schen Deutungshorizont in Form eines Baumes, an dessen Spitze jedoch nicht
mehr die modernen Wissenschaften, sondern seine eigene Tiefenpsychologie
steht. Aus dieser Umdeutung des historischen Telos als Bewusstwerdung des
Unbewussten ergibt sich auch seine von Sarton und Koyré abweichende Wer-
tung der wissenschaftlichen Entwicklung, nicht als Fortschrittsgeschichte,
sondern eher kulturpessimistisch als zunehmende Pathogenese. Strukturell
gesehen geht er dabei dennoch ähnlich vor, indem er die historische Existenz
und Funktion der Alchemie, vor dem Hintergrund seines spezifischen Erkennt-
nisinteresses deutet, als Bestätigung seiner Tiefenpsychologie. Auch hier ver-
gewissert sich ein spezifisch modernes Erkenntnisunternehmen im Medium
der historischen Auseinandersetzung mit der Alchemie.

Der Einsatz der neueren Alchemieforschung in der Auseinandersetzung mit


ihrem historischen Gegenstand erscheint weniger hoch. Die Alchemie wird hier
als ein kulturelles Unternehmen unter vielen weder verteufelt noch überhöht,
sondern in Hinblick auf seine praktischen, technischen, ökonomischen und so-
zialen Aspekte in die Lebenswelt der Frühen Neuzeit eingegliedert. Doch auch
Newman und Principe, als führende Vertreter der neueren Alchemiegeschichte
gehen von einer Kontinuität wissenschaftlichen Fortschritts aus. Bei ihnen fügt
sich die Alchemie wie schon bei Justus Liebigs historischen Überlegungen in
den Haupttrieb wissenschaftlicher Entwicklung als wichtiger Vorläufer der
Chemie ein. Dementsprechend finden hier vor allem diejenigen Elemente der
Alchemie Beachtung, die sich in eine solche Genealogie einspeisen lassen,
stoffliche Verfahren, Laborgerätschaften, Handgriffe etc. Alchemie und Chemie
wären aus dieser Sicht ebenso verwandt wie Primaten und Menschen. Principe
schreibt zur Reintegration der Alchemie in den historischen Stammbaum mo-
derner wissenschaftlicher Evolution:
122
„Alchemy’s exclusion illustrates strategic redefinitions
of science, while its rehabilitation points to the
contextual nature of those definitions. One gift offe-
red by the history of science is the recognition that
science is a far messier process than simple models,
wishful thinking, or programmatic philosophies will
allow. It collects elements from unexpected sources
and synthesizes them in unexpected and unpredictab-
le ways. It is never a mechanical or impersonal process
– nor would we want it to be. While the laws of nature
exist independently of us, the way we choose to con-
ceive of them, to explore or not to explore them, to
describe or not to describe them – that is to say, sci-
ence – is a very human affair, filled with all the com-
plexities and simplicities, errors and insights, pettiness
and nobility that customarily attend human activity.
And, to be sure, alchemy forms an important part of
that story.“186

Was könnte es nun bedeuten, die Geschichte der Alchemie nicht in Bezug zu
einem historischen Stammbaum zu modellieren – sei es als fehlgeleiteter Sei-
tentrieb, als Boden, auf dem der Baum wächst, oder als Haupttrieb – sondern
im evolutionären Bild der Koralle? Erstens muss dann davon ausgegangen
werden, dass unterschiedliche kulturelle Unternehmungen mit eigenen Ent-
wicklungssträngen koexistieren können, mit je unterschiedlichem Telos. Der
Alchemie der Frühen Neuzeit ging es eben womöglich um etwas genuin ande-
res als den parallel aufkommenden modernen Naturwissenschaften oder etwa
auch der Tiefenpsychologie des 20. Jahrhunderts, so dass nicht alles, was Al-
chemisten taten und dachten in den Stamm der Naturwissenschaften einge-
speist werden kann. Dieser Aspekt hat Konsequenzen für historistische Be-
trachtungsweisen, die von einer Abfolge geschichtlicher Epochen ausgehen.
Grundsätzlich ist das Epochennarrativ, das auf historische Brüche rekurriert,

                                                                                                           
186
Principe, Lawrence M. 2011: Alchemy Restored. In: Isis 102, S.312.
123
schwer mit evolutionären Geschichtsmodellen zu vereinbaren. Doch kann eine
Epoche der nächsten, wie bei Koyré dargelegt, durchaus den „Boden bereiten“.
Im Bild des Stammbaums können Einschnitte und Brüche als Verästelungen
gedacht werden. Im Bild der Koralle erscheinen Epochen weniger als vertikal-
hierarchische Abfolgen denn als parallele horizontale Triebe mit ihren jeweili-
gen Verästelungen. Jede Astkrone ist in ihrer Entwicklung besonders und wie
eine Epoche in sich historisch einzigartig. Auch die zeitliche Ordnung der histo-
rischen Entwicklung wird im Bild der Koralle pluralisiert. Anstelle des gerichte-
ten Zeitpfeils eines eindeutigen evolutionären Fortschritts, wie er sich etwa bei
Haeckel findet, tritt ein Neben- und Durcheinander unterschiedlicher Zeitlich-
keiten. Die Alchemie muss nicht vergehen, wenn die moderne Chemie ent-
steht, sie muss auch nicht in ihr aufgehen oder in sie eingehen. Sie kann ihren
eigenen Trieb ausschlagen, sich verästeln, weiterentwickeln, umformen. Be-
trachtet man gerade die im vorliegenden Kapitel dargelegten historischen
Auseinandersetzungen mit der Alchemie, so sind sie sich alle darin einig, dass
es sich bei der Alchemie um ein historisches, das heißt in der Vergangenheit
abgeschlossenes Unterfangen handelt. Insbesondere vor dem Hintergrund ei-
ner bis heute wirksamen Metachrosis der Alchemie scheint es aber einen ge-
wissen Sinn zu haben, davon auszugehen, dass die Alchemie eben nicht aufge-
hört hat, zu existieren, sondern sich als kulturelle Unternehmung in einem ei-
genen Entwicklungstrieb weiter fortgepflanzt und vervielfältigt hat. Der al-
chemistische Trieb mag daher Formen angenommen haben, die wir mit Blick
auf die in der Tat „abgestorbene“ alchemistische Praxis der Frühen Neuzeit
nicht mehr mit der Alchemie direkt in Verbindung bringen würden. So bezieht
sich etwa die moderne Kunst und Literatur in vielfältiger Weise auf das Denken
und Wirken der Alchemie, ohne sie entweder als Erzfeindin oder als zu erfor-
schendes, totes Objekt zu begreifen. Durch das Bild der Metachrosis verkehrt
sich die Rolle der Alchemie vom Forschungsobjekt, das unterschiedlich gedeu-
tet und einsortiert werden kann, hin zu einem Subjekt, besser gesagt, einer
Praxis, die ihre eigene polychrome Deutungsgeschichte antizipierte.

124
Metachrosis

„Was nicht reizt, ist tot“, hat Goethe einmal geschrieben.187 Die frühneuzeitliche
Alchemie reizt das moderne Denken bis in die Gegenwart in erstaunlicher Wei-
se. Die Alchemie wäre dann im Goethe’schen Sinne gerade nicht tot. Die Al-
chemie scheint in einer Weise verfasst zu sein, die es erlaubt, in unterschied-
lichster Weise auf sie Bezug zunehmen, sie zu deuten, Vorstellungen und Er-
kenntnisinteressen in sie hineinzulesen. Diese Metachrosis der Alchemie, wie
ich es zu Beginn des Kapitels genannt habe, hat längst eine Vielfalt an Formen
der kulturellen Auseinandersetzung mit alchemistischem Denken hervorge-
bracht, von der ich nur eine kleine Auswahl behandeln konnte. So habe ich
mich insbesondere auf paradigmatische Versuche konzentriert, die Alchemie in
historische Genealogien des modernen Denkens einzufügen. Kaum ein anderes
wissenshistorisches Unternehmen ließe sich in so unterschiedlichen histori-
schen Einfärbungen zugleich als Antithese, Möglichkeitsbedingung, gesundes
Gegenmodell und Vorläufer moderner Wissenschaften deuten. Dieses Fortle-
ben der Alchemie im modernen Denken widerlegt gerade die Vorstellung, es
handle sich hier um einen „toten“ historischen Gegenstand aus grauer Vorzeit.
Die besprochenen Zugriffe auf die Alchemie deuten vielmehr darauf hin, dass
ihr Entwicklungstrieb im Bild der Koralle durchaus fortlebt und ein kulturelles
Eigenleben entwickelt hat. Wie ich bereits einführend dargelegt habe, hat die
Metachrosis der Alchemie Ursachen, die in der frühneuzeitlichen Tätigkeit der
Alchemie selbst begründet liegen. Im folgenden Kapitel werde ich diesen Zu-
sammenhang genauer beschrieben. Und zwar werde ich mich anhand eines
der zentralen transmutationsalchemistischen Traktate aus dem 16. Jahrhun-
dert, dem Rosarium Philosophorum, mit dem individualepistemischen Charak-
ter alchemistischen Tuns als performative Metaphysik des Neuen und Schöpfe-
rischen auseinandersetzen. Dabei gilt es, die methodologischen Ratschläge des
Alchemiehistorikers Wilhelm Ganzenmüller zu befolgen, der wie kein anderer
im 20. Jahrhundert, der historischen Eigen- und Einzigartigkeit des alchemisti-
schen Unternehmens auf der Spur gewesen ist.

                                                                                                           
187
Goethe, Johann Wolfgang von 1790: Torquato Tasso. II,1. (Prinzessin). E-Book
Projekt Gutenberg http://www.gutenberg.org/files/10425/10425-8.txt (aufge-
rufen: 01.02.2014).
125
„Weder darf die Alchemie nur als Vorstufe der Chemie
betrachtet und alles nicht auf Chemie Bezügliche als
Mystik und Aberglauben beiseite gelassen werden,
noch geht es an, in den alchemistischen Schriften nur
Material für die Geistesgeschichte zu suchen und alles
Chemische als unverständlich, unsinnig oder als bloße
Tarnung einer Geheimtradition unbeachtet zu lassen.
Wie im Geist der alten Alchemisten die chemisch-
praktische Einstellung untrennbar verbunden war mit
philosophischen Ideen, so muß auch der heutige For-
scher die Alchemie als Einheit anerkennen, deren We-
sen sich nur dem erschließt, der ihr mit kongenialem
Verständnis entgegenkommt.”188

                                                                                                           
188
Ganzenmüller, Wilhelm 1956: Beiträge zur Geschichte der Technologie und
Alchemie. Weinheim, S. 365.
126
3 Der Rosengarten der Philosophie

„[...] daß alle Rezepte in unserer Kunst abzulehnen sind.“189

Im Zentrum des alchemistischen Projekts steht die Frage: Wie kann der Mensch
als Naturwesen in der Natur Neues erschaffen? Es geht der Alchemie also um
Schöpfung, um Schöpfung durch den Menschen. Doch wie vollzieht sich diese
Schöpfung in der Praxis der Alchemie? Aus der praxeologischen Perspektive
würde sich die Antwort wie folgt gestalten: Alchemistische Schöpfung vollzieht
sich als transmutatorischer Stufenprozess. Die Identifikation der jeweils er-
reichten Stufe erfolgt über eine charakteristische Farbgebung. Die wichtigsten
Farben sind hier schwarz, rot, und weiss, bzw. alchemistischer gesprochen: nig-
redo, rubedo und albedo. In diesem Stufenprozess ist das Zusammenspiel und
Verhältnis der prima materia und der Form eines Stoffes von zentraler Bedeu-
tung. Prima materia ist die formlose Ausgangsmaterie, aus dem alle konkreten
Dinge und Stoffe der Welt bestehen. Was die konkreten Stoffe von der prima
materia unterscheidet, ist, laut Aristoteles, auf den sich dieses Denken bezieht,
die spezifische Form. Um einen Stoff in einen anderen zu verwandeln, ist als
erster Schritt folgerichtig die Zerstörung der bestehenden Stoffform unab-
dingbar (nigredo oder auch „Tötung“), um dann der so erhaltenen prima mate-
ria, in einem weiteren Schritt, eine neue Form einprägen zu können: die Form
des Silbers (albedo) also, oder, die noch noblere, die Form des Goldes (rubedo).
Dazu nötig sind entsprechende alchemistische Geräte, Vorrichtungen und Ver-
fahren (Phiole, Pferdemistofen, Wacholderfeuer, Destillation, Kalzination, Sub-
limation, etc.), sowie, auch dies entnimmt man den frühneuzeitlichen Trakta-
ten der Adepten, ein rechter Glaube, angemessene Gottesfürchtigkeit, Klugheit
und ein moralisch verstanden reiner Geist, bei denjenigen, die die alchemisti-
sche Kunst betreiben.

Eine derartige Beschreibung des alchemistischen Schöpfungsprozesses wirkt


auf den ersten Blick lehrreich und aus heutiger Sicht nachvollziehbar: die

                                                                                                           
189
RP, S. 26.
127
Transmutation wäre demnach ein mehrstufiger stofflicher Produktionsprozess.
Es ist, als hätte man es bei den Traktakten der Adepten mit antiquierten Fluss-
diagrammen chemischer Verfahrenstechnik zu tun. Ein solcher Zugang mag
sich beim geneigten modernen Leser durch eine epistemisch-psychologische
Befriedigung legitimieren, die das Wiedererkennen des Bekannten im Fremden
bekanntlich hervorruft. Es stellt sich also das Gefühl ein, die Alchemie verstan-
den zu haben. Am Kern der Sache jedoch geht diese Deutung vorbei.

Wie die vorangehende ausführliche Auseinandersetzung mit der Metachrosis


der Alchemie anhand ihrer polychromen historischen Rezeption jedoch zeigen
konnte, ist zu einem adäquaten Verständnis der alchemistischen Texte und
Inhalte zu bedenken, dass es sich bei der Alchemie nicht nur um das Projekt
einer vergangenen Epoche handelt. Die Dynamik alchemistischen Denkens hat
sich in gewisser Hinsicht kulturell fortgepflanzt. Wir haben es hier mit einem
Projekt zu tun, das gerade durch die andauernde und vielfältige historische
Rezeption tief in unser kulturelles Wissen eingelassen ist und das bis in unsere
Gegenwart in unterschiedlichen Formen, Semantiken, Praktiken und Imagina-
tionen wirkt und fortlebt. Insbesondere die Frage nach menschlicher Schöp-
fungskraft bzw. technowissenschaftlicher Innovation führt uns auf die Spur
dieses Nachlebens. Die Metachrosis der Alchemie, wie sie im vorangehenden
Kapitel entwickelt wurde, ist daher weder als konstruktivistisch-historischer
Relativismus noch als gefällige Entscheidung aufzufassen, sich nicht für eine
Deutungsweise zu entscheiden. Im exemplarischen Vollzug der unterschiedli-
chen Weisen, in der die Alchemie von Sarton über Jung bis hin zu Newman und
Principe rezipiert wurde, ging es mir nicht darum, den Standpunkt zu vertreten,
es sei prinzipiell unmöglich, festzustellen, was die Alchemie „wirklich“ gewesen
ist. Im Gegenteil, die Metachrosis der Alchemie soll hier gerade nicht als rein
nachträglicher Effekt immer schon pluralisierender historischer Lektüre ver-
standen werden, sondern als ein eigentlicher Wesenskern des alchemistischen
Unternehmens, der dann aber eben auch in der Rezeption als schöpferisches
Moment zum Ausdruck kommt. Die Annahme einer Metachrosis der Alchemie
vermag damit im Unterschied zu anderen Deutungen die Polyphonie und Wi-
dersprüchlichkeit der historischen Rezeption aufzufangen und zu erklären. Im

128
folgenden Kapitel wird es nun darum gehen, die Ursachen der Metachrosis aus
der Transmutionsalchemie selbst herauszuarbeiten.

Die Metachrosis der Alchemie ist, so wird im folgenden Kapitel entwickelt wer-
den, konstitutiv mit der Frage der Schöpfung von Neuem durch den Menschen
verbunden. Es gilt also, diesem Zusammenhang nachzugehen und zu fragen:
Was heisst für die Alchemie Schöpfung? Dabei geht es mir weniger nur um das
Ziel einer angemessenen historischen Darlegung eines spezifischen alchemis-
tischen Traktates. Vielmehr bietet sich der abermalige Rückgriff auf diese früh-
neuzeitliche Wissenskultur an, um sich mit der modernen Transposition der
Frage nach menschlicher Schöpfungskraft in eine Kultur der Innovation ausei-
nanderzusetzen. Die historistisch-epochale Fundamentalgrenzziehung zur
Frühmoderne soll hier also bewusst aufgehoben werden. Es geht darum auszu-
loten, was für einen Mehrwert die Lektüre alchemistischer Texte für die heuti-
ge philosophische Debatte um Innovation und die Produktion von Neuem an-
bieten kann.

Ein solcher Zugriff auf die Alchemie ist dabei mitnichten mit Esoterik gleichzu-
setzen oder zu verwechseln. Es geht nicht um eine exotisierende Vereinnah-
mung, sondern um eine für die Philosophie durchaus typische Reflexionsform:
die Auseinandersetzung mit vergangenem Denken. In dem Fall allerdings nicht
mit den grossen Männern des klassisch-philosophischen Kanons, wie Plato,
Aristoteles, Kant & Co., sondern mit der philosophiehistorisch kaum mehr als
marginal wahrgenommenen Alchemie. Im folgenden Kapitel werde ich anhand
einer dichten Lektüre des Rosarium philosophorum der Metachrosis der Alche-
mie nachspüren und mich dabei insbesondere mit dem Schöpfungsakt in der
Transmutation auseinandersetzen.

Als methodologische Grundannahme der Lektüre gilt es zu beachten, dass ein


alchemistischer Text niemals vollständig mit der Intention abschliessender
Objektivierung geschrieben wurde, als imaginierter epistemischer Endpunkt
sozusagen, sondern selbst als ein Element unter vielen, als eine reine Passage
im schöpferischen Prozess der Transmutation. Wirft man zunächst einen Blick
ans Ende des Rosariums, so lässt sich dieser – wie ich es nennen möchte – indi-

129
vidualepistemische Charakter der Transmutation hier einführend entwickeln:
Kurz vor Schluss des Textes gibt der unbekannte Autor einige explizite Hinwei-
se zur Lektüre seines Traktates, die epistemologisch gesehen von höchstem
Interesse sind und einen alternativen, weniger konservativen und traditionel-
len Umgang mit alchemistischen Texten nahe legen.

„Ein weiser Künstler studiere also in unseren Büchern


und sammle unsere verstreut dargebotene Lehre (dis-
persa intentio); wir haben sie an weit auseinanderlie-
genden Stellen und immer nur zu Teilen vorgetragen
[...] Hat er (der Weise) sie zusammengesucht, so soll er
sie solange untersuchen, bis er durch Studium und
Versuch bei unablässiger scharfsinniger Bemühung zu
ihrer vollständigen Kenntnis gelangt ist. Der Künstler
soll sich also üben und er wird finden was er sucht.

Damit wir nicht von mißgünstigen Gemütern ange-


griffen werden, verkünden wir: Wir haben unsere Wis-
senschaft nicht in fortlaufender Darstellung weiter-
gegeben, sondern sie in verschiedenen Kapitel ver-
streut dargeboten. Wir haben sie (die Kunst) in einer
Darstellungsform beschrieben, wie sie nur dem Geiste
des allerhöchsten, gepriesenen, erhabenen und ruhm-
reichen Gottes und dem unsrigen, wie wir sie verfaßt
haben, zugänglich ist [...]. Nicht verzweifeln soll also
der Sohn der Lehre; denn wenn er sie sucht, so wird er
sie finden, und zwar nicht durch bloßes Erforschen der
Lehre, sondern durch Erforschen der Natur aus eige-
nem Antrieb. Wer nämlich für sich mit gutem Fleiß
sucht, wird das Wissen finden; wer es aber durch blo-
ßes Nachforschen in Büchern sucht, wird nur ganz
langsam zu dieser höchst wertvollen Kunst gelangen.
Wir haben die Kunst, die wir selbst erforscht haben,
nur für unsereins und nicht für andere, gleichwohl
130
ganz ehrlich und völlig unbezweifelbar, schriftlich
festgehalten. Wir haben also nur die Klugen auf die
Kunst hingewiesen und denselben durch von uns wei-
tergegebene Ratschläge den Weg der Forschung ge-
wiesen.“190

Nach einem eher traditionellen Ansatz wäre diese Textstelle mit der gemeinhin
bekannten „Geheimtuerei“ der Alchemie in Verbindung gebracht worden. Nun
kann man dieses Charakteristikum alchemistischer Traktate als Mangel deuten
und im Sinne einer wissenschaftlichen Fortschrittsideologie die Meinung ver-
treten, dass die Alchemie in ihren Ansätzen und Forderungen schlicht noch
nicht weit genug entwickelt war. Stünden in einem modernen wissenschaftli-
chen Paper beispielsweise nur ein paar „verstreut“ dargebotene Hinweise da-
rauf, wie sich ein bestimmter Sachverhalt gestaltet, bzw. würde das Paper nur
vage Anknüpfungspunkte vermitteln, die der Leser dann noch in mühevoller
Arbeit verbinden muss, so wäre mit Sicherheit kein wissenschaftliches Journal
der Gegenwart davon zu überzeugen, es abzudrucken. Man könnte weiterhin
davon ausgehen, dass historisch gewisse Zwänge vorlagen und dass die Al-
chemie ohne diese Zwänge wahrscheinlich durchaus transparenter hätte
kommunizieren können. So geht etwa Principe davon aus, dass die Alchemisten
als Akteure in der Welt der Frühen Neuzeit aufgrund ihrer Einbindung in das
höfische Leben sowie der grossen Bedeutung möglicher Goldmacherei auf Ge-
heimhaltung achten. Man könnte aber auch wie C. G. Jung davon ausgehen,
dass es der Alchemie gar nicht um Erkenntnis ging, sondern um die Heilung der
menschliche Seele. Oder, eine weitere mögliche Deutung: Man könnte die Al-
chemie „esoterisieren“, sprich sie aus der Gegenwart heraus als Gewährsin-
stanz und Bezugspunkt für das Projekt einer grundlegenden Verweigerung
moderner Rationalität vereinnahmen und „empathisch“ besetzen.

Doch der Autor des Rosariums liefert in der zitierten Textpassage einen Hin-
weis, der eine alternative Deutung nahelegt. Es handelt sich hierbei um die Un-
terscheidung von reinen Bücherphilosophen auf der einen Seite und prakti-
schen Feuerphilosophen auf der anderen. Die Lehre der Alchemie, so der Ver-
                                                                                                           
190
RP, S. 141f.
131
fasser, lasse sich nie alleine durch das „bloße“ Studium der Bücher erreichen.
Vielmehr muss der Adept selbst tätig werden und die Natur der Transmutation
aus eigenem Antrieb erforschen. Ein alchemistisches Traktat kann gerade nicht
als objektivierter Endpunkt und letztes Ziel eines Forschungs- bzw. Erkenntnis-
prozesses im modernen Sinne angesehen werden.

Ich möchte vorschlagen, diesen expliziten epistemologischen Hinweis des Ver-


fassers des Rosariums ernst zu nehmen und die Alchemie als ein eigenständi-
ges Unternehmen anzusehen, bei dem von einem grundlegend anderen telos
auszugehen ist, als in der heutigen Wissenschaft. Es geht nicht um objektivier-
baren Wissensoutput, sondern um Vollzug eines Schöpfungsprozesses.

Eine erste methodologische Konsequenz für die Auseinandersetzung mit Tex-


ten einer „feuerphilosophischen“ Transmutationsalchemie wie dem Rosarium
ist, dass diese weder linear gelesen, noch linear verstanden werden dürfen, da
die Lehre ohnehin „verstreut“ dargeboten und nicht „fortlaufend“ geschrieben
ist. Sogar vermeintlich klare sukzessive Abfolge alchemistischer Verarbeitungs-
stufen, die eine gewissen Linearität des „Werkes“ nahezulegen schien, verliert
sich bei genauerer Betrachtung in Uneindeutigkeit, wenn der Autor des Rosari-
ums schreibt:

„Überlege auch, daß Weichmachen, Fixieren und Sub-


limieren dasselbe sind; auch, daß es dieselben Vor-
gänge sind.“191

Zunächst werden also gewisse Handgriffe und stoffliche Prozesse unterschie-


den, nur um sie dann wieder als „dasselbe“ zu verstehen. Die in der Einführung
bereits erläuterte Polyphonie des Rosariums als „Florilegium“, die Vielzahl an
Redundanzen, aber auch Aporien wie die Aufhebung des Unterschiedes von
Einheit und Differenz, die in obigem Zitat zum Ausdruck kommt, mögen die
besondere Widerständigkeit verdeutlichen, die transmutationsalchemistische
Traktate einer heutigen Lektüre entgegensetzen. Es soll damit nicht behauptet
                                                                                                           
191
RP, S. 131. Der Verfasser bezieht sich in diesem spezifischen Zitat weniger auf
die klassischen Farbbezeichnungen der Stufe, denn auf die jeweils in ihr ange-
wendeten Verfahren.
132
werden, dass etwa die Unterscheidung der transmutatorischen Stufen, nigre-
do, rubedo, etc. im Zuge des alchemistischen Werkes keine Bedeutung habe,
sondern, dass die Identifikation dieser Stufen innerhalb des alchemistischen
Textes nicht auf eindeutige und lineare Art und Weise erfolgen kann. Aussagen
zum nigredo finden sich sowohl ganz zu Anfang des Textes, als auch an dessen
Ende, und bisweilen wird dieser Vorgang mit „Weichmachen“, ein wenig später
mit „Sublimation“ bezeichnet. Eine eindeutige Kennzeichnung alchemistischer
Vorgänge durch vorherige verbindliche Definitionen sucht man in einem
Transmutationstraktat vergeblich. Insofern schlage ich vor, den alchemisti-
schen Prozess der Erschaffung des Neuen nicht mittels der typischen alchemis-
tischen Stufen zu erforschen, sondern in Hinblick auf naturphilosophische
Konzepte und Ideen, die der Transmutationsalchemie zugrunde liegen, wie
beispielsweise der Naturbegriff.

Die Frage der richtigen Lektüre alchemistischer Traktate und ihrer Rolle im
Transmutationsprozess, ist, wenngleich in der Forschung eher die alchemisti-
schen Stufen betont werden, auf das Engste mit der Frage des Naturbegriffs
der Alchemie verbunden. Es ist die Natur, an deren Erforschung sich der Adept
aus eigenem Antrieb als Feuerphilosoph begeben soll und nicht an das bloße
Studium der Bücher. Über das ganze Rosarium hinweg verteilt wird der Verfas-
ser nicht müde, die Bedeutung der Naturkenntnis für das alchemistische Werk
zu betonen und darauf hinzuweisen, dass alchemistisches Schaffen nur „in-
nerhalb der Natur“ vollbracht werden kann. Es gilt daher im folgenden Ab-
schnitt zu klären, was genau unter dem Konzept einer in der Natur immanen-
ten Schöpfung verstanden werden kann,192 welches besagt, dass die Natur für
die Alchemisten als schöpferische Akteurin verstanden wurde, die alles mit sich
selbst ausmachen kann und wird. Die Alchemisten verstanden die Natur im
Sinne der Terminologie Spinozas als natura naturans und nicht als natura natu-

                                                                                                           
192
Vgl. zum Konzept der Naturimmanenz der Frühen Neuzeit bspw.: Hartbecke,
Karin 2005: Natur und Selbstbewegung. Die Umdeutung des galenische Na-
turbegriffs durch den Anatomen Francis Glisson. In: Leinkauf, Thomas / Karin
Hartbecke (Hg.): Der Naturbegriff in der Frühen Neuzeit. Semantische Perspek-
tiven zwischen 1500 und 1700. Tübingen, S. 283-298.
133
rata. Im ersten Abschnitt des folgenden Kapitels widme ich mich daher dem
Naturbegriff der Alchemie. Von besonderem Interesse wird dabei die Frage
sein, wie die Schöpfung des Neuen im Zusammenhang mit der Natur gedacht
wird und in welchem Verhältnis der schaffende Adept und die schaffende Na-
tur stehen.

Ein zweiter zentraler epistemischer Aspekt bezüglich der Schöpfung des Neuen
im Rosarium betrifft die Dauer, bzw. die Zeitlichkeit des „grossen Werkes“.
Neues entsteht für die Alchemie in der Zeit, aber: Es finden sich im Buch ab-
weichende Angaben dazu, die von ein paar Tagen über Wochen bis hin zu Mo-
naten oder gar einem Jahr reichen, so dass keine verlässliche Aussage darüber
getroffen werden kann, in welchen Zeiträumen das alchemistische Werk ge-
dacht wurde bzw. sich vollziehen sollte. Einzig ein Hinweis taucht, ähnlich wie
der Verweis auf die Naturimmanenz des Werkes, immer wieder und an unter-
schiedlichsten Stellen auf: die Betonung der Geduld im alchemistischen Schaf-
fen. Der zweite Abschnitt des Kapitels beschäftigt sich daher mit der Zeitlich-
keit im Verhältnis zur Schaffung des Neuen in der Alchemie. Es gilt zu klären,
welches Zeitverständnis die Alchemie voraussetzt und verwendet.

Im letzten Kapitel dieser Arbeit gehe ich der aus dem eingangs aufgeführten
Zitat abgeleiteten These nach, dass es sich bei alchemistischer Schöpfung um
einen individualepistemischen Prozess des Adepten handelt, so dass das „bloße
Nachforschen in Büchern“ nicht ausreichen kann und die Alchemie vielmehr als
„Feuerphilosophie“ ernst genommen und verstanden werden muss. Vor dem
Hintergrund der herausgearbeiteten alchemistischen Vorstellungen von der
Schöpfung des Neuen lassen sich dann abschliessend auch grundlegende As-
pekte des heutigen Diskurses um Innovation, Kreativität und Produktion von
Neuen kritisch reflektieren.

134
3.1 Das Neue der Alchemie

„[...] die ganze Welt sucht mich und läuft mir nach.“193

Das Neue liesse sich in planvoller Weise produzieren – so eine heute etablierte
Vorstellung von Innovation und Kreativität. Die gezielte Suche nach Neuem
zahle sich aus. In dem hier zum Ausdruck kommenden Produktionsverhältnis
avanciert die neue Idee im Idealfall zur vielversprechenden Invention, deren
Potenzial sich dann in Form einer zur Marktreife hochgezüchteten Innovation
technologisch noch realisieren muss. Das Neue wird zum Gegenstand eines
technokratischen Innovationsmanagements, dessen Wert sich vornehmlich an
ökonomischer Verwertbarkeit bemisst. Die Bedeutung des Neuen als basales
Medium des Fortschritts hin zu einer besseren Gesellschaft, ein Grundmerkmal
moderner Innovation also, scheint demgegenüber in den Hintergrund zu rü-
cken.194

Die Wissenschaften spielen im gesellschaftlichen Innovationprozess bekann-


termassen eine zentrale Rolle, sei es direkt, in Form angewandter Forschung,
oder eher indirekt, in Form einer Grundlagenforschung, die sich mit dem Ver-
sprechen rechtfertigen und verpflichten muss, dass heutige Einsichten zu ei-
nem späteren Zeitpunkt innovative Anwendungen generieren werden. Die
Wissenschaften, insbesondere die modernen Natur-und Technikwissenschaf-
ten gelten als Rohstofflieferanten der ökonomisierte Innovationskultur
schlechthin.195 Doch die Verwertungskette von der Idee über die Invention bis
hin zur Innovation bleibt im Kern höchst zerbrechlich und kann trotz aller poli-
tisch-ökonomischen Wunschvorstellungen letztlich nicht technokratisch de-
terminiert und automatisiert werden. Das Herzstück des Innovationsprozesses,
das Neue, entzieht sich hartnäckig seiner Erfassung. Ein wichtiger Grund hier-
                                                                                                           
193
RP, S. 156.
194
Vgl. hierzu bspw.: Wohlstand durch Forschung. Bilanz und Perspektiven der
Hightech-Strategie. Eine Publikation des Deutschen Bundesministeriums für
Bildung und Forschung. 2013. Berlin.
195
Vgl. dazu Nowotny, Helga 2005: Unersättliche Neugier. Innovation in einer
fragilen Zukunft. Berlin.
135
für ist sicherlich die Tatsache, dass es weiterhin schwierig ist, das Wesen des
Neuen genau zu bestimmen und zu erklären, wie es entsteht. Auf der einen
Seite scheint das Neue eine gewisse Selbstevidenz aufzuweisen. Wir erkennen
das Neue, wenn wir es sehen. Aus dieser Alltagsphänomenologie des Neuen
lassen sich dann auch Logiken ableiten, die das Neue zum Beispiel zwischen
hinreichender Abweichung vom Bekannten einerseits und notwendiger kultu-
reller Anschlussfähigkeit andererseits verorten. Das Neue stellt sich in einem
derartigen Zugriff als fragile Gestalt zwischen Differenz und Wiederholung
dar.196

Doch selbst wenn so geklärt werden kann, was wir heute praktisch unter neu
verstehen und was kulturell als neu gelten kann, so bleibt doch weiter unge-
klärt, wie Menschen Neues erschaffen können. Die Frage, wie das Neue in die
Welt gelangt, ist dabei selbst nicht neu. Es gibt unterschiedliche Richtungen, in
die man zur Klärung der Frage denken könnte und in die bereits gedacht wur-
de. So könnte man etwa, in der Tradition von der Genietheorie, Heuristiken der
Entdeckung des Neuen, bis zu Anleitungen zu Kreativitätstechniken der heuti-
gen Kreativitätspsychologie, davon ausgehen, dass das Neue spontan und au-
tonom im Individuum entsteht, oder doch, so zumindest die Idee, durch geeig-
nete Anleitung realisiert werden kann.197 Doch wie und wo entsteht das Neue
                                                                                                           
196
Vgl. dazu Deleuze, Gilles 2007: Differenz und Wiederholung. München. so-
wie Rheinberger, Hans-Jörg 2006: Experimentalsysteme und epistemische
Dinge. Frankfurt.
197
Vgl. dazu beispielsweise folgende Werke aus Philosophie, Psychologie und
Wirtschaftsforschung zum Thema Kreativität: Mahrenholz, Simone 2011: Krea-
tivität. Eine philosophische Analyse. Berlin. Abel, Günter 2006: Die Kunst des
Neuen. Kreativität als Problem der Philosophie. In: Abel, Günter: Kreativität. XX.
Deutscher Kongreß für Philosophie. 26.–30. September 2005 in Berlin. S. 1-21.
Dutton, Dennis / Krausz, Michael (Hg.) 1981: The Concept of Creativity in Sci-
ence and Art. Den Haag, Boston, London; Gigerenzer, Gerd 1994: Where Do
New Ideas Come From? In: Boden, Margret (Hg.) 1994: Dimension of Creativity.
Boston; Bohm, David 2000: On Creativity. London; Csikzentmihalyi, Mihaly
1998: Creativity and Genius. A Systems Perspective. In: Steptoe, Andres 1998:
Genius and the Mind. Studies of Creativity and Temperament. Oxford, S. 39-66;
Gordon, William 1961: Synectics. The Development of Creative Capacity. New
York; Hubig, Christoph 1983: ‚Genie’ - Typus oder Original? Vom Paradigma der
Kreativität zum Kult des Individuums. In: Propyläen. Geschichte der Literatur.
Bd. 4: Aufklärung und Romantik 1700-1830. Berlin, S. 187-210; Joas, Hans 1996:
136
im Menschen genau? Und wenn der menschliche Geist der Ort der Kreativität
ist, in welchem Verhältnis steht er zu der ihn umgebenden Welt? Sind es nicht
eher die Konstellationen von Mensch und Umwelt, natürliche wie kulturelle, in
denen sich das Neue in einer Kombinatorik oder wahlweise Dialektik der Dinge
herauskristallisiert und zu Erkennen gibt? Die genuin schöpferische Kraft liesse
sich aber auch gänzlich ausserhalb des Menschen suchen. Dem Menschen
würde das Neue aus dieser Sicht wenn dann höchstens zufallen, als Gabe im
wörtlichen Sinne einer höheren schöpferischen Kraft, sei es das Göttliche oder
die Natur.

In diesen sehr basalen Grundüberlegungen deutet sich an, dass die Frage nach
der Beschaffenheit des Neuen in einer historischen Tradition steht, die sich
kaum ausblenden lässt. Mehr noch, will man die Formen verstehen, in denen
das Neue – nunmehr verstanden als je spezifische kulturelle Figuration – im
Heute zutage tritt, dann gilt es, diese historische Genealogie zu vergegenwär-
tigen. Die Frühe Neuzeit ist in dieser Geschichte des Neuen ein neuralgischer
Punkt, in der in der Rückschau grundlegende Weichen für die Moderne gestellt
wurden. Wie im ersten Kapitel bereits gezeigt wurde, bietet sich die Alchemie
ganz allgemein als historische Kontrast- und Deutungsfolie modernen Den-
kens an. Im Folgenden soll nun anhand von zwei Beispielen, William Newman
und Bruno Latour, speziell die Rolle der Alchemie für den Innovationsdiskurs in
der Moderne beleuchtet werden. Vor dem Hintergrund dieser beiden unter-
schiedlichen Lesarten der Alchemie wird dann in einem weiteren Schritt das
Rosarium in Hinblick auf die Frage des Neuen analysiert.

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 
Die Kreativität des Handelns. Frankfurt; Kannenberg, Alex 2003: Kreativitäts-
techniken und ihre theoretische Fundierung. München; Koestler, Arthur 1964:
The Act of Creation. New York; Kronfeldner, Maria 2009: Creativity Naturalized.
In: The Philosophical Quarterly 59 (237), S. 577-592; Lenk, Hans 2000: Kreative
Aufstiege. Zur Philosophie und Psychologie der Kreativität. Frankfurt; Ma-
jetschak, Stefan 2006: Genialität. Zur philosophischen Deutung der Kreativität.
In: Abel, Günter: Kreativität. XX. Deutscher Kongreß für Philosophie. 26.–30.
September 2005 in Berlin, S. 1169-1184; Pierer, Heinrich von / Oetinger, Bolko
von (Hg.) 1999: Wie kommt das Neue in die Welt? Hamburg; Schmidinger,
Heinrich / Semak, Clemens (Hg.) 2008: Der Mensch – ein kreatives Wesen?
Kunst – Technik – Innovation. Darmstadt.

137
Das Neue als Überwindung der Natur

In den Arbeiten des Alchemiehistorikers William Newman wird die Alchemie –


ganz im Sinne der von ihm angenommen historischen Kontinuität zwischen
Alchemie und modernen Technowissenschaften – als Begründerin eines tech-
nologischen Weltverständnisses verstanden, die dem Menschen erstmals ein
genuines kreatives Potenzial zur Innovation zuschreibt. Seiner Ansicht nach
handelte es sich bei der Alchemie um die erste Praxis, die einen Naturbezug
entwickelte, der über den bloss mimetischen Anspruch der bildenden Künste
hinausging. Die Alchemie maß sich an, die Natur nicht nur zu imitieren, son-
dern auch zu perfektionieren und damit wahrhaft Neues erschaffen zu kön-
nen.198 Dieses Projekt verdinglicht sich dabei laut Newman im Stein der Weisen.
Wirft man einen Blick auf die Beschreibung des Steins der Weisen im Rosarium
Philosophorum, so findet Newmans These durchaus Resonanz. Der Stein wird
hier als ein Stoff aufgefasst, den „die ganze Welt sucht“ und ihm „nachläuft“.199
Er sei der Stein des unerschöpflichen Reichtums und Ruhms, der Heilung aller
Beschwerden, der ewigen Jugend, Liebe, Gesundheit und Macht auf Erden.200
Der Stein der Weisen sei eine Verheissung, die größte von allen. Er verspräche
das Leben der Menschen zu verbessern, es angenehmer zu gestalten, es über
die Notdurft zu erheben, kurz: technologischen Fortschritt. Der Stein der Wei-
sen, der den Schlüssel zur lebensverbessernden Innovation birgt, war für die
Adepten damit ein „unvergleichlicher, äußerst wertvoller Schatz“201, den der
Autor des Rosariums an manchen Stellen bisweilen sogar selbst zu Wort kom-
men lässt:
                                                                                                           
198
Der Begriff der „perfektionierenden Künste“ war, wie Newman richtig be-
schreibt, auch schon Aristoteles bekannt, doch waren es die Alchemisten, so
Newman, welche sich als erste ernsthaft an eine tatsächliche Reflexion und
technologische Umsetzung begaben und damit als die eigentlichen Vorläufer
der modernen Wissenschaften, die er als die Technologieproduzenten
schlechthin charakterisiert, anzusehen sind. Unklar bleibt, weshalb Newman
dennoch die Alchemie und nicht auch die Medizin als Vorläuferin des techno-
logischen Weltbezuges beschreibt, da auch letztere eine die Natur verbessern-
de, bzw. heilende Perspektive einnimmt. Vgl. dazu Newman, William R. 2004:
Promethean Ambitions. Alchemy and the Quest to Perfect Nature. Chicago, IL.
199
RP, S. 156.
200
Vgl. dazu RP S. 73.
201
RP, S. 160.
138
„Die Erde kann mich mit all ihren Gewalten nicht de-
mütigen, vielmehr bin ich erhaben über sie [...] ich ent-
kleide sie ihrer Macht und Natur und tue sie mit mei-
nem Glanz und schönen Licht an [...]. Ich bin nämlich
der Erhabene, der ich alles erhöhe und erniedrige.“202

Interpretiert man das Selbstbekenntnis des Steins der Weisen in diesem Zitat
im Sinne Newmans, so kann er durchaus als eine Technologie zur Perfektionie-
rung der Natur, bzw. Erde203, und der Überwindung verstanden werden. Das
stilistische Mittel des Autors, den Stein sprechen zu lassen, betont dessen
grenzenlose Macht. Er ist imstande, alles Mangelhafte zu „erhöhen“ und die
Menschen aus der Not zu erheben, sie nicht mehr altern zu lassen, sie weiser
und reicher zu machen, ihnen Macht über die Natur zu verleihen. Der Stein der
Weisen muss demnach „stärker“ sein als die Natur, um sie zum Wohle der
Menschen „neu“ formen zu können.

Um diesen mächtigen Stein der Weisen erschaffen zu können, muss der Adept
die Natur jedoch zunächst genau beobachten und studieren:

„Daher wirst du dich vor allem darauf verstehen müs-


sen, die Natureigenschaften der Dinge zu erkennen,
damit du zu unterscheiden weißt, was das Bessere o-
der Schlechtere in der Natur ist, und wodurch etwas
vervollkommnet und wodurch es in seiner Vervoll-
kommnung behindert wird [...]“204

Der Schlüssel zur menschlichen Schöpfungskraft besteht Newmans These fol-


gend damals wie heute aus zwei Schritten: Naturerkenntnis und Naturverän-
derung, bzw. Wissen und Anwendung, Wissenschaft und Technik. Erkennen
wir erst die unveränderlichen Naturgesetzlichkeiten und deren Wirkmecha-
nismen, so können wir mit ihrer Hilfe unsere Wünsche entsprechend umset-
                                                                                                           
202
RP, S. 156-157.
203
Vgl. dazu den Abschnitt „Elemente und Prinzipien“ in 3.2.
204
RP, S. 87.
139
zen. Das Neue wäre in diesem Sinne die durch den Menschen modifizierte und
für seine Zwecke eingespannte Natur. Diese uns allzu bekannte technologische
Weltsicht sei, so William Newman, in der Frühen Neuzeit von der Alchemie er-
funden worden.

Doch auch wenn sich für diese These William Newmans in einer entsprechen-
den Lektüre des Rosariums Belege anführen lassen, so darf man nicht ausser
Acht lassen, welche Vorannahmen einer solchen Deutung und Lektüre der Al-
chemie zugrunde liegen. Insbesondere das Naturverständnis, dass Newman
voraussetzt – auch bei der Alchemie – erweist sich hierbei als höchst problema-
tisch. Newmans implizites Naturverständnis ist szientistisch und damit befan-
gen in der Deutung. Es basiert auf der Idee, dass Wissenschaften das Unwan-
delbare der Natur im Wandel der Erscheinungen erkennen. Newman steht da-
mit in einer langen wissenschaftshistorischen Tradition, schrieb doch schon
1894 der Chemiker und Wissenschaftshistoriker Matthew Muir die Alchemie in
dieses naturkundliche Grossprojekt der Menschheit ein:

„Amid the rush of changing appearances, and the shif-


ting scenes wherein they move, men have always dre-
amt of the unchangeable, and have sought for some
sure resting-place. Their conceptions of human life,
and duty, and suffering, have assumed different forms
at different times; and as they have represented their
various ideals as shadowings forth of an immutable
reality, so they have pictured the movements of mat-
ter as superficial manifestations of underlying uni-
ty.“205

                                                                                                           
205
Muir, Matthew Moncrieff Pattison 1894: The Alchemical Essence and the
Chemical Element. An Episode in the Quest of the Unchanging. London, New
York, S. 1.
140
Haben wir die verborgene Konstanz, oder auch Gesetzlichkeit,206 im permanen-
ten Wandel der Natur erst einmal erkannt, so ist es ein leichtes, aufgrund die-
ser Erkenntnisse neue technologische Anwendungen zu produzieren, um da-
mit die Natur zu verbessern. Hier wird eine zentrale Annahme deutlich, die
auch Newman stillschweigend setzt, wenn er den technologischen Charakter
der Alchemie herausarbeitet. Er geht davon aus, dass es auch ihr letztlich um
die Enthüllung der Natur als eine in ihrem Innersten und trotz ihrer so vielfälti-
gen und wandelbaren Erscheinung eigentlich unwandelbare Einheit ging. Die
Alchemie wurde, so legt es Newmans Lesart nahe, durch das laut Muir zutiefst
menschliche Bedürfnis angetrieben, der Natur ihre bedrohlich wirkende Wan-
delbarkeit zu nehmen, um sie technologisch nutzbar zu machen. Newman
selbst versteht die Natur als natura naturata, als eine objektive Gegebenheit,
die es zu erkennen gilt. Erst die Rückprojektion eines solchen Naturverständnis-
ses auf die Alchemie lässt diese als Urahn des technologischen Weltbildes er-
scheinen. So plausibel diese historische Genealogie auch ist, so legitimiert sie
sich doch aus der Gegenwart und verkennt die Eigenheiten, die Unterschiede
von Alchemie und moderner Technologie und vergibt damit ein reflexives Po-
tenzial auch in Hinblick auf die Beschaffenheit des Neuen. Mit Newman basiert
das Neue, die technologische Innovation, zwar auf der Kenntnis dieses natürli-
chen Faktums, vollzieht sich dann aber eigentlich im menschlichen Eingriff, in
der Überwindung der Natur durch die Technik. Doch bevor diese Deutung mit
dem Rosarium abgeglichen wird, gilt es, noch eine zweite, gegenläufige Deu-
tung alchemistischer Schöpfungskraft in den Blick zu nehmen.

Das Neue als Hybride

In seinem Buch „Wir sind nie modern gewesen“207 von 1991 entwickelt Bruno
Latour eine sehr wirkmächtige Kritik am modernen Naturverständnis. Er kann
aufzeigen, dass die Natur moderner wissenschaftlicher Erkenntnis der Kultur
nicht einfach als objektiv gegebener Gegenstand äusserlich ist bzw. ihr gegen-
                                                                                                           
206
Vgl. dazu bspw: Hampe, Michael 2007: Eine kleine Geschichte des Naturge-
setzbegriffs. Frankfurt.
207
Latour, Bruno 1991/1995: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer sym-
metrischen Anthropologie. Berlin.
141
übersteht. Sie sei vielmehr selbst ein Produkt moderner wissenschaftlicher For-
schung. Latour unterscheidet in ideologiekritischer Haltung zwei Ebenen der
Wissenschaft als zentrales Projekt der Moderne: Zum einen stellt er fest, dass
sich in der modernen Gesellschaft die Vorstellung etablieren konnte, dass es
sich bei der Natur und der Kultur um zwei grundlegende separate Sphären
handelt, die sich auf die Erkenntnisrelation von Objekt und Subjekt abbilden
lassen. Zum anderen konstatiert er, dass sich diese Dichotomie von Natur und
Kultur in der eigentlichen Praxis wissenschaftlicher Forschung zunächst nicht
beobachten lässt. Vielmehr begegnet man dort heterogenen Gemengelagen
unterschiedlicher Akteure, die sich nicht eindeutig den beiden Sphären zuwei-
sen lassen. Wissenschaftliche Forschung sei in dem Sinne zunächst Vermi-
schungsarbeit. Lebewesen, Dinge, Instrumente, Wissen, Verfahren, Zeichen
fügen sich zu dynamischen Akteursnetzwerken zusammen. Parallel zu diesem
Vermischungsprozess findet, so Latour, jedoch in der Wahrnehmung dessen,
was im Forschungsprozess stattfindet, eine Trennung statt. Die hier generier-
ten Wissensobjekte werden zunehmend individuiert und der Sphäre der Natur
zugeordnet, während die Vorrichtungen des Forschens zur Kultur gezählt wer-
den. Latour spricht hier von moderner „Reinigungsarbeit“. Die Reinigung
schafft „zwei vollkommen getrennte ontologische Zonen, die der Menschen
einerseits, die der nicht-menschlichen Wesen andererseits“208.

Laut Latour ist die Scheidung alles (für den Menschen) Existierenden in Natur
und Kultur, die das Denken der Moderne so grundlegend prägt, ontologisch
gesehen sekundär. Primär ist in der Welt hingegen die Vernetzung und Verbin-
dung alles Seienden. Wenn also Latour schreibt, wir seien „niemals modern“
gewesen, dann bezieht er sich zum einen auf diese ontologische Setzung. Zum
anderen macht er so auf eine historische Kontinuität von Früher Neuzeit und
Moderne aufmerksam. Die Episteme der Analogie, wie Foucault es genannt
hat, in der alles im Kosmos miteinander verbunden ist und aufeinander ver-
weist, wäre somit nicht durch eine neue, moderne Episteme vollständig abge-
löst worden, sondern sie lebt laut Latour weiter fort. Der Unterschied ist jedoch,
dass die Menschen der Vormoderne, wie zum Beispiel auch die Adepten der
frühneuzeitlichen Alchemie, ihre Welt auch wirklich als Kosmos imaginierten,
                                                                                                           
208
Ebd., S. 19.
142
in dem alles mit allem verbunden war, „oben wie unten“. Die Moderne ver-
kennt ihre eigentliche Existenzweise. Auch wenn Latour selbst nicht zur Frühen
Neuzeit gearbeitet hat und speziell auch nicht zur Alchemie, so entwickelt er
seine Theorie doch vor dem Hintergrund einer spezifischen historischen Vor-
stellung über diese Zeit und verbindet hierbei Kontinuität und Bruch zu einem
doppelten Narrativ. Doch wie kommt bei Latours Theorie der Moderne das
Neue ins Spiel?

Das Neue entsteht bei Latour im Unterschied zu Newman nicht auf Seiten der
Technologie, also der Kultur, sondern in dem Raum zwischen Natur und Kultur.
Auch wenn Latour die strikte Trennung der Sphären kritisiert, in der Spannung,
die hier anliegt, birgt sich produktives Potenzial. In dem Dazwischen entstehen
die sogenannten Hybriden: Mischwesen, die sowohl dem Reich der Natur als
auch dem Reich der Kultur zugehörig sind. Ein typisches Beispiel für einen Hyb-
riden ist für Latour das Ozonloch. Es ist sowohl natürlich als auch artifiziell.
Doch diese Paradoxie kennzeichnet die Moderne, die sich als Reinigungspro-
zess definiert und gleichzeitig mehr und mehr dieser Hybriden produziert:

„Darin liegt das ganze moderne Paradox: Wenn wir die


Hybriden betrachten, haben wir es mit Mischungen
von Natur und Kultur zu tun; wenn wir die Reini-
gungsarbeit betrachten, sind wie mit einer totalen
Trennung zwischen Natur und Kultur konfrontiert.“209

Doch mit welchem Zweck werden in der Moderne zwei separate Bereiche defi-
niert, die getrennt behandelt und betrachtet werden konnten. Latour beschäf-
tigt sich in seinem Buch ausführlich mit dieser Problematik und löst dieses
vermeintliche Paradoxon von gleichzeitiger Reinigungs- und Vermischungsar-
beit in der Moderne als eine Art epistemologischen Trick auf. Der Vorteil einer
solchen Trennung besteht für ihn vor allem darin, dass auf mögliche Konse-
quenzen des Handelns und Eingreifens nicht mehr geachtet werden musste.

                                                                                                           
209
Ebd., S. 44.
143
Mussten die Vormodernen bei jeder Intervention in die Natur, bzw. das kosmi-
sche Netz der Welt, davon ausgehen, dass ihr Handeln – womöglich unange-
nehme – Konsequenzen haben könnte und früher oder später, über längere
oder kürzere Wege wieder auf sie zurückfallen würde, so konnten die Moder-
nen aufgrund der Trennung lange Zeit ohne moralische Bedenken und Selbst-
sorge mit der Natur hantieren, beruhend auf dem festen Glauben, dass die
Sphären der Natur und der Kultur grundlegend getrennt sind.210 So war es den
Modernen möglich, sich ungehindert durch das dichte Netz alles Seienden zu
bewegen und dabei sogar immer mehr neue Hybride zu erschaffen:

„Während die Modernen sich absichern, indem sie die


Folgen ihrer Innovationen für die Gesellschaftsord-
nung außer acht lassen, sind die Vormodernen, wenn
wir den Anthropologen Glauben schenken, fortwäh-
rend mit dem sorgfältigen Durchdenken der Verbin-
dungen zwischen Natur und Kultur beschäftigt. Um es
vereinfacht zu sagen: Wer am meisten über die Hybri-
den nachdenkt, verbietet sie soweit wie möglich; wer
sie dagegen ignoriert, indem er alle gefährlichen Kon-
sequenzen ausblendet, entwickelt sie, soweit er
kann.“211

Je weiter die Trennung von Natur und Kultur in der Moderne fortschreitet, des-
to grösser wird gleichzeitig der Zwischenraum, so dass die Produktion der Hyb-
riden nicht nur ermöglicht, sondern sogar maximal vorangetrieben wurde.
Derartige „Quasi-Objekte“, wie sie Latour auch nennt, umgeben uns heute
überall und entsprechend auch die mit ihnen einhergehenden Gefahren. Und
                                                                                                           
210
Vgl. dazu: „Ich behaupte nicht, daß die Modernen nicht wissen, was sie tun.
Ich sage nur, daß ihr Tun – Innovationen in einem großen Maßstab in der Pro-
duktion von Hybriden – nur möglich ist, weil sie eisern an der Dichotomie zwi-
schen Natur- und Gesellschaftsordnung festhalten.“ Ebd., S. 57.
211
Ebd., S. 59. Vgl. dazu auch: „Man muß gestehen, daß es eine recht geschickte
Konstruktion ist, die erlaubt, alles zu tun, ohne durch irgend etwas einge-
schränkt zu sein. Es ist nicht verwunderlich, daß diese Verfassung es erlaubt
hat, einige – wie es früher hieß – Produktivkräfte freizusetzen...“. Ebd., S. 47.
144
obwohl Hybride unsere Realität prägen, so werden sie diskursiv entweder aus
der Perspektive der Natur oder der Kultur adressiert.

Die Vorteile der Trennung und der Reinigungsarbeit überwiegen die verheim-
lichten Gefahren und Zusammenhänge so sehr, so dass sich nach Latour die
Modernen entschieden, ihre „Verfassung“ beizubehalten. Doch die so freige-
setzte „Produktivkraft“ und die mit ihr einhergehenden Freiheiten hatten ihren
Preis in Hinblick auf die historische Selbstverortung der Moderne.

„Die Modernen blieben unfähig, sich in Kontinuität


mit den Vormodernen zu denken. Sie mußten sich für
absolut verschieden halten, sie mußten die Große
Trennung erfinden [...]“212

Diese „Große Trennung“ sowie ihre Konsequenzen für den historischen Um-
gang mit der Alchemie als vormodernes Unterfangen habe ich bereits im vo-
rangehenden Kapitel ausführlicher in Bezug auf George Sarton und Alexandre
Koyré behandelt. Und wie man bei C.G. Jung sehen konnte, ist Latour nicht der
einzige, der diese Trennung sowohl diagnostiziert hat als auch für problema-
tisch erachtet.

Als Lösung schlägt Latour nun nicht vor, wieder zu der vormodernen Welt zu-
rück zu kehren, da diese per se besser gewesen sei, was einem kulturpessimis-
tischen Ansatz entsprechen würde. Vielmehr sieht er die Notwendigkeit, die
Relationalität der Welt und der menschlichen Existenz in der Welt anzuerken-
nen sowie zu der bereits bestehenden Praktik der Reinigung eine weitere hinzu
zu fügen. Die Aufgabe einer sogenannten „Übersetzungsarbeit“, das ständige
Durchdenken aller Konsequenzen wie sie bereits von den Vormodernen ausge-
übt wurde, besteht darin, das zuvor durch die Reinigungspraxis Getrennte wie-
der zusammenzuführen, so dass die durch Mischungen entstandenen Hybride
in ihrer Existenz sowohl sichtbar gemacht als auch beschrieben und verstan-
den werden können. Das Neue entsteht bei Latour in der Moderne im parado-
xen Wechselspiel von Vermischung und Reinigung, die es dann je nach Zuord-

                                                                                                           
212
Ebd., S. 56.
145
nung entweder als Entdeckung oder Erfindung ablegt. Die nachträgliche Über-
setzung zwischen den beiden Sphären soll dieses Neue in seinem Werden
sichtbar machen und bedarf so einer neuen Ausdrucksform, die diese Span-
nung aushält. Die Aufgabe einer Wissenschaftsphilosophie und Wissen-
schaftsgeschichte im Sinne Latours wäre es nun, die moderne Reinigungsarbeit
um die Übersetzungsarbeit zu ergänzen, die sich an der vormodernen Praktik
des Denkens der „Nicht-Trennbarkeit der Dinge und Zeichen“, also der Natur
und der Kultur, anlehnt.213 Latours Vokabular des Hybriden und des Netzwerkes
kann als ein solcher Versuch der Rückübersetzung ex post gedeutet werden.

Interessanterweise setzt sich Latour trotz der starken historischen Rahmenset-


zung selbst nicht mit vormodernen Formen der Übersetzung auseinander. Es
gilt daher genauer zu analysieren, ob und in welcher Hinsicht sich die vormo-
derne Verfassung, wie es Latour nennen würde, der Alchemie wirklich von der
modernen unterscheidet? Dies wäre aber notwendig, um zu verstehen, inwie-
fern der moderne Umgang mit dem Neuen, den Hybriden, mit vormodernen
Praktiken im Zusammenhang steht. Insbesondere soll hier also die Frage nach
der Entstehung des Neuen, den Latour’schen Hybriden sowie das zugrundelie-
gende Naturverständnis untersucht werden. Hätte Latour recht, so wäre die
Alchemie im Netz ihres kosmischen Weltbildes derart gefangen gewesen, dass
sie kaum einen Schritt der Intervention in die Natur hätte wagen können, ge-
schweige denn, sich die Erschaffung des Neuen angemasst hätte.

Mit Newman und Latour liegen also zwei Deutungen des Umgangs der Alche-
mie mit dem Neuen vor. Newman schreibt der Alchemie die Erfindung des
technologischen Zugangs zur Natur zu, was in keiner Weise auf eine zurückhal-
tende Einstellung gegenüber möglichen Eingriffen in die Natur schliessen lässt,
sondern vielmehr die Alchemie zur ersten Produzentin des über die Natur hin-
ausgehenden Neuen schlechthin macht. Alchemie ist damit, gemäss dem pra-
xeologisch geprägten Zugang Newmans, als der Anfang der modernen Tech-
nowissenschaften zu beschreiben. Das Naturbild, das Newman der Alchemie
zuschreibt, ist das der geschaffenen, einer natura naturata und die Kraft zur
Innovation wird daher nur auf Seiten der Kultur bzw. der Technologie verortet.

                                                                                                           
213
Vgl. dazu Latour 1991/1995, S. 180.
146
Latour hingegen definiert die Alchemie als vormodernes Unterfangen. Laut
ihrer vormodernen Verfassung mussten sich die Adepten der Alchemie in einer
engen Welt des kosmischen Zusammenhangs befunden haben, so dass jeder
noch so kleine Eingriff sorgfältig auf dessen Konsequenzen hin beleuchtet
werden musste. Das historische Narrativ der wissenschaftlichen Revolution,
befördert durch Wissenschaftshistoriker wie George Sarton und Alexandre
Koyré, wirkte an der Illusion einer „Großen Trennung“ und der damit verbun-
denen Reinigungsarbeit maßgeblich mit. Die modernen Wissenschaften dis-
tanzierten sich aus dieser Sicht maximal vom Weltbild der Alchemie. Das vor-
moderne Denken in Zusammenhängen verschwand bzw. wurde verschleiert.
Im Schatten dieses Vergessens wurde ein Raum eröffnet, der es den modernen
Technowissenschaften erlaubte, das grosse Netz des Seienden nicht mehr nur
zu bewohnen – wie noch die Vormodernen –, sondern in zunehmendem Masse
zu bearbeiten, zu gestalten, zu manipulieren, zu instrumentalisieren. Das Neue
entsteht hier als Wechselspiel von Mischung und Reinigung, doch die Kraft zur
Produktion von mehr und mehr Hybriden geht auch bei Latour letztlich vom
Menschen aus. Newman und Latour lassen sich an diesem Punkt durchaus zu-
sammenbringen, doch stehen ihre Deutungen zur Innovationskraft der Alche-
mie in einem direktem Widerspruch, der nun im Folgenden mit der Lektüre des
Rosariums abgeglichen werden soll.

147
3.2 Die schöpferische Natur

Vor dem Hintergrund der beiden Deutungen über die Entstehung des Neuen in
und durch die Alchemie bei Newman und Latour soll nun ein genauer Blick auf
das Denken des Neuen im Rosarium geworfen werden. Zu diesem Zweck gehe
ich im Folgenden insbesondere auch auf das alchemistische Naturverständnis
ein, hatte sich der Adept doch bei der Erschaffung des Steins der Weisen be-
kanntlich an die „ehrenwürdige Natur“ zu halten.

Ziel eines jeden transmutationsalchemistischen Werkes war die Herstellung


des Steins der Weisen. Er gilt als der unvergleichliche „Schatz aller Schätze“, der
über jedes „Arcanum der Wissenschaften der Welt erhabene“:

„Wer den Stein besitzt, ist so reich wie der, der das
Feuer hat; er kann Feuer geben, wem er will, wann er
will und wieviel er will, ohne eigene Gefährdung oder
Schwund.“214

Es wurde bereits dargelegt, dass die „Goldmacherei“ entgegen der verbreiteten


Vorstellung nicht das eigentliche Ziel der Alchemie war. Wer über das Wissen
zur Herstellung des Steins der Weisen verfügte, konnte soviel Gold herstellen
wie er wollte, ohne dabei selbst ärmer zu werden. So, wie man Feuer weiterge-
ben kann, ohne es dabei selbst zu verlieren. Doch es ging der Alchemie nicht
nur um das wertvolle Metall und den damit einhergehenden Reichtum. Es ging
auch und vor allem um ewige Gesundheit, Heilung bei Krankheit, Jugendlich-
keit, Liebe und Macht. Der Stein der Weisen ist dabei jedoch keine spezifische
technologische Antwort also auf spezifische menschliche Bedürfnisse und
Problemstellungen, sondern darüber hinaus eine Verkörperung der Erneuerung
in Form einer Tätigkeit. Es ging um eine Prozedur, vielmehr als um eine Tech-
nik.

                                                                                                           
214
RP, S. 31.
148
Schaut man sich die Stellen im Rosarium an, an denen die Herstellung des
Steins der Weisen beschrieben wird, so findet man zwar in der Tat methodi-
sche Anleitungen, doch anders als in Newmans Deutung erhält der Adept den
Stein der Weisen nicht, indem er sich die Naturgesetzlichkeiten zu Dienste
macht und so das Natürliche durch Technik überwindet. Der Stein der Weisen
ist auch nicht als technologische Optimierung der natürlichen Schöpfungskraft
zu verstehen, im Sinne einer moderne Vorstellung, dass eine auf wissenschaft-
licher Forschung basierende Technik imstande wäre, die Mängel des natürli-
chen Lebens zu beheben. Der Adept verstand sich nicht als Schöpfer des Steins
der Weisen, ja durfte sich nicht als dessen Schöpfer verstehen, um ihn erfolg-
reich erschaffen zu können. Dies mag auf den ersten Blick widersprüchlich er-
scheinen: Wie kann der Adept den Stein der Weisen erschaffen und gleichzeitig
nicht dessen Schöpfer sein?

Der Verfasser des Rosariums schreibt hierzu:

„Und das folgende Wort ist überaus wertvoll: Dies (der


Stein der Weisen, Anm. SB) ist ganz von Natur ge-
schaffen; man darf nicht glauben, daß er mittels ir-
gendeiner Kunst hergestellt werden könne, wie man-
che Toren geglaubt haben und noch glauben.“215

„Haltet euch deshalb an die verehrungswürdige Natur,


weil aus ihr, durch sie und in ihr unsere Kunst entsteht
und nicht in etwas anderem. Daher ist unsere Meis-
terschaft ein Werk der Natur und nicht das eines
Handwerkers.“216

                                                                                                           
215
RP, S. 56.
216
RP, S. 23.
149
„Wir tun also zuerst kund, daß alle, die außerhalb der
Natur arbeiten, Betrüger sind und auf einem ihnen
nicht zustehenden Gebiet arbeiten.“217

Wie durch diese Zitate deutlich wird, kann der Stein der Weisen weder durch
Kunst, noch Handwerk, noch eine Art Magie im Sinne einer reinen Sprechhand-
lung erschaffen werden. Er entsteht einzig und allein aus, durch und in der Na-
tur und nicht durch die Hände eines „Handwerkers“ oder gar Technikers. Dies
widerspricht ganz klar der Vorstellung Newmans, dass der Adept, sich selbst in
der Rolle eines der Natur überlegenen Technologen sehend in selbige eingrei-
fen konnte, um sie nach seinen Vorstellungen zu formen und zu verbessern.
Die Natur der Alchemisten ist keine objektiv feststehende Gegebenheit im Sin-
ne einer natura naturata, sondern vielmehr die Schöpfungskraft schlechthin,
sie ist natura naturans. Als Schöpfer des Steins der Weisen gilt in der Alchemie
daher die Natur und nicht der Adept oder dessen technologische Fähigkeiten.

Dennoch ist nicht abzustreiten, dass der Adept offensichtlich an dem Prozess
beteiligt ist, in dem der Stein der Weisen geschaffen wird. Auch die Existenz
des transmutationsalchemistischen Traktates liesse sich sonst kaum erklären,
zumal der Verfasser des Rosariums zu Anfang explizit schreibt, dass er das Wis-
sen um den „geheimsten Schatz unter allen Geheimnissen der Welt“ auf „ganz
durchsichtige und menschlichem Verständnis angemessene Weise“ offenba-
ren möchte, so dass jeder, der sein Büchlein aufmerksam liest und studiert,
auch den „gewünschten Erfolg“ erzielen wird.218

Um verstehen zu können, wie sich alchemistische Schöpfung vollzieht, muss


man, so möchte ich argumentieren, zwei Dinge bei der Alchemie auseinander
halten, die bei Newman vermischt werden: Und zwar besteht ein Unterschied
zwischen der eigentlichen Schöpfungskraft und dem Prozess, in dem etwas
erschaffen wird. Anders als bei heutigen technologischen Vorstellungen oder
aber auch in der Kreativitätsphilosophie und -psychologie fallen bei der Alche-
mie Schöpfungskraft und Schöpfungsakt also nicht im Subjekt, etwa dem For-

                                                                                                           
217
RP, S. 11.
218
Vgl. dazu RP, S. 10.
150
scher, zusammen, sondern sind anders zu verorten und in Beziehung zu setzen.
Die Schöpfungskraft liegt im alchemistischen Denken zweifelsohne nicht in
den Händen des Adepten und Technologen, sondern ausschließlich in der Na-
tur selbst. Dennoch ist der Adept imstande, einen natürlichen Schöpfungsakt
zu beginnen, der jedoch nicht auf der Ausführung des modernen Zweischritts
von Naturerkennung und technischer Umsetzung/Anwendung, Entdeckung
und Erfindung beruht. Der Technologe ist sowohl Quelle der Kreativität als
auch Praktiker der Innovation. Eine solche Zusammenführung von Schöp-
fungskraft und Schöpfungsakt in der Person des Adepten wäre der Alchemie
nicht nur methodisch falsch, sondern als Anmassung auch moralisch verwerf-
lich erschienen. Doch wie lässt sich unter diesen Voraussetzungen die Herstel-
lung des Steins der Weisen beschreiben? Zunächst muss in einem solchen Pro-
zess die Natur selbst als, wie Latour sagen würde, Akteur auftreten. Andernfalls
würde man der alchemistischen Vorstellung einer natura naturans nicht ge-
recht werden. Sowohl der Adept als auch die Natur spielen im Prozess der Er-
schaffung des Neuen eine Rolle, die zwar nicht symmetrisch ist, aber zumin-
dest beide Seiten involviert. Vorstellungen, die davon ausgehen, dass durch
„bloßes Nachdenken“ des Adepten der Weg der Erschaffung des Neuen er-
kannt, begonnen und ausgeführt werden könne, lagen dem alchemistischen
Denken fern.

Agens et patiens / solve et coagula

Um den Prozess der Erschaffung des Neuen in der Alchemie nun im Detail zu
beschreiben, beginne ich, wie es der Verfasser des Rosariums fordert, bei der
Natur. Sie ist die einzige schöpferische Kraft und daher auch selbständig im-
stande, Neues zu erschaffen. Sie bedarf keines Adepten:

„Denn in Wirklichkeit enthält die Natur schon in sich


natürliches Feuer, das reifen läßt.“219

                                                                                                           
219
RP, S. 91.
151
Dieses „Feuer“, die Schöpfungskraft der Natur, die alles in ihr und durch sie rei-
fen und entstehen lässt, ist der Natur also wesentlich gegeben. Doch wie ge-
nau gestaltet sich die natürliche Schöpfung?

„Es gibt keine wirkliche Zeugung außer durch Zusam-


menpassendes in der Natur. Dinge können nur ent-
sprechend ihrer Natur entstehen. So bringt Holunder
niemals Birnen hervor noch die Brombeerstaude Gra-
natäpfel, noch kann ein schlechter Baum gute Früchte
erzeugen.“220

Natürliche Schöpfung ist für die Alchemie dem Wesen nach Zeugung.221 Dies
bedeutet aber auch, dass Gleiches immer nur mit Gleichem wiederum Gleiches
erzeugen kann, ebenso wie aus Brombeerstauden immer nur Brombeerstau-
den hervorgehen, Menschen immer nur Menschen gebären. Es ist in der natür-
lichen Schöpfung nicht möglich, Fremdes durch Gleiches zu erschaffen. Es be-
darf eines Paares der gleichen Art, um Neues zeugen zu können. Der Adept
muss bei seinem Werk dementsprechend berücksichtigen, dass er den natürli-
chen Dingen, mit denen er arbeitet, nichts Fremdes hinzufügt, da sonst der
Prozess der Schöpfung, bzw. Zeugung, nicht begonnen und vollendet werden
kann. So steht im Rosarium:

„Wer daher in der Kunst versucht, außerhalb der Natur


künstlich etwas anderes in die Substanz einzubringen,
was in ihr von Natur aus nicht vorhanden ist, der irrt
und wird seinen Irrtum bereuen.“222

                                                                                                           
220
RP, S. 35.
221
Auf eine gendertheoretische Auseinandersetzung mit der Vorstellung einer
Schöpfung als Zeugung wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit verzichtet, da
sie in dem Fall an der Fragestellung vorbeigeht. Siehe hierzu für die paracelsi-
sche Alchemie: Frietsch, Ute 2013: Häresie und Wissenschaft. Eine Genealogie
der paracelsischen Alchemie. München.
222
RP, S. 138.
152
„Denn andersartige Naturen verbessern unseren Stein
nicht, und es geht auch nichts in ihn ein, was nicht aus
ihm entstanden ist. Denn wenn ihm etwas Fremdes
zugesetzt wird, wird er auf der Stelle zerstört, und es
entsteht aus ihm nichts Neues.“223

Im Rosarium findet sich keine Anleitung, wie das Gold oder gar der Stein der
Weisen Schritt für Schritt erschaffen werden könnte, denn die Kraft dazu be-
sitzt nur die Natur, bzw. der Stein der Weisen verkörpert das Wirken dieser na-
türlichen Schöpfungskraft. Bei der Deutung dieser Textstellen muss man dem-
nach im Blick behalten, dass es sich beim transmutationsalchemistischen
Schaffensprozess um keinen konkreten Produktionsprozess handelt. Es geht im
Rosarium also vielmehr um eine Kunst des Erschaffens durch den Menschen im
alchemistischen Tun. Es geht um eine performative Metaphysik der Schöpfung
von Neuem. So lässt sich plausibilisieren, warum es im Rosarium vor allem um
die Frage geht, in welcher Art und Weise der Adept den Prozess der Erschaffung
beginnen muss, so dass die für sich vorhandene natürliche Schöpfungskraft
auch im alchemistischen Laboratorium wirken und sich ihrer Bestimmung
nach entfalten kann. Hierzu zählt etwa die Frage, welche Haltung der Adept
gegenüber dem Schöpfungsprozess einnehmen sollte, ebenso wie die prakti-
schen Konsequenzen dieser Haltung. Inwiefern unterscheidet sich nun die ein-
zunehmende Haltung des Adepten von einem modernen technologischen Ein-
griff in die Natur? Der moderne Technologe geht davon aus, dass er auf Grund-
lage seines Wissens über die Beschaffenheit der Natur auf sie einwirken und
sie so zu seinem Zwecke umgestalten und einrichten kann. Wie verhält es sich
beim Alchemisten?

Der grösste Unterschied zwischen Alchemie und Technologie besteht darin,


dass der Adept sich nicht als etwas der Natur gegenüberstehendes denkt, als
ein Subjekt, das auf das Erkenntnisobjekt Natur einwirkt, sondern als ein mit
und in der Natur arbeitender Akteur, gemäss dem alchemistischen Leitsatz,
dass Gleiches mit Gleichem zusammenkommen muss. Das heisst, der mensch-
liche Schaffensprozesses muss sich – anders als bei modernen Innovations-
                                                                                                           
223
RP, S. 17.
153
und Kreativitätstheorien – dem schöpferischen Wirken der Natur praktisch an-
erbieten und angleichen. Die Trennung von aktivem Subjekt und passivem Ob-
jekt – von Kultur und Natur –, wie sie die moderne Technologieproduktion bzw.
Reinigungsarbeit voraussetzt, widerspräche der Vorstellung der Alchemie. Für
sie fällt das Wissen von der Schöpfung mit der natürlichen Schöpfung im Labo-
ratorium zusammen, da die Schöpfung von Neuen nicht auf ein finales End-
produkt hin, sondern vom Prozess her zu denken ist. In der Alchemie fallen
Epistemologie und Ontologie in der Performanz der Transmutation zusammen.
Der Adept muss sich daher bei der Erschaffung des Steins der Weisen bemü-
hen, dem Prinzip natürlicher Schöpfungskraft genüge zu leisten. Das heisst, es
in der Praxis nachzuvollziehen:

„In die Natur wird nichts hineingebracht, was nicht


schon in ihr enthalten ist aus ihrer eigenen Natur. Es
ist darum unbedingt notwendig, daß das Wirkende
(agens, der Adept, Anm. SB) und das die Einwirkung Er-
fahrende (patiens, die Natur, Anm. SB) seiner Art nach
ein und dasselbe sind; dem Äußeren nach aber sind sie
zweierlei und verschieden.“224

Obwohl also der einwirkende Adept als auch die Einwirkung erfahrende Natur
dem Äußeren nach zu Anfang des Werkes verschieden sind und auch so er-
scheinen, müssen sie, um den Schöpfungsprozess der Natur beginnen lassen
zu können, in einem ersten Schritt einander gleich gemacht werden.

Konkret bedeutet dies für den Adepten, dass er einerseits Neues immer nur
durch Zeugung mit der Natur erschaffen kann, und andererseits, dass er sich
der Natur gefällig machen muss, um überhaupt etwas mit ihrer Hilfe erreichen
zu können. Diese epistemische Haltung gegenüber der Natur hat, obwohl der
Adept als Initiator eines Schöpfungsprozesses in der Natur verstanden wird,
nichts mit modernen Vorstellungen zu tun, die darauf beruhen, dass die Natur
technologisch überwunden wird. Ganz im Gegenteil, der Adept, obwohl er sich
der Natur „dem Äußeren“ nach als ein Fremdes mit einem eigenen Anliegen
                                                                                                           
224
RP, S. 12.
154
nähert, wird nichts erreichen, wenn er sich ihr nicht in einem ersten Schritt an-
gleicht, wenn er ihr nicht „gefällt“. Ist das Werk allerdings erst einmal begon-
nen, so wird sich auch die Natur dem Adepten angleichen. Das Rosarium stellt
diesen Vorgang des sich gegenseitigen Angleichens im bildlichen Medium ei-
nes stofflichen Auflösungsprozesses dar:

„Wenn Wasser mit Erde zusammengebracht wird, ver-


sucht das Wasser mit seiner Feuchtigkeit und Wir-
kungskraft sie aufzulösen. Denn es macht die Erde fei-
ner als sie vorher war, und es macht sie somit sich sel-
ber ähnlich; Wasser ist ja feiner als Erde. Und auf die
gleiche Art und Weise wird Wasser mit Erde verdickt
und wird so der verdichteten Erde ähnlich: Erde ist ja
dichter als Wasser. So ist also zwischen der Lösung des
Körpers und der Verfestigung des Geistes kein We-
sensunterschied, und es besteht nicht etwa ein an-
dersartiges Verfahren in einem von beiden Prozessen,
so daß das eine ohne das andere stattfände. So gibt es
auch bei der Verbindung zwischen Wasser und Erde
keine unterschiedlichen Zeitpunkte, daß das eine vom
anderen unterscheidbar oder abtrennbar wäre in de-
ren jeweiligem Vorgang. Wie der Same des Mannes
nicht vom Samen der Frau trennbar ist in der Stunde
ihres Zusammenkommens, so ist es auch bei ihnen
nur ein gemeinsamer Zeitpunkt, ein Geschehen, und
ein und derselbe Vorgang wird gleichzeitig wahrge-
nommen bei diesen zwei unterschiedlichen Prozes-
sen.“225

In diesem Zitat tritt die zentrale Bedeutung des bekannten Diktums der Al-
chemie, „solve et coagula“, deutlich zu Tage. Sowohl die Natur als auch der

                                                                                                           
225
RP, S. 53-54. Vgl. zum alchemistischen Verständnis der Elemente auch Ab-
schnitt 3.4. dieser Arbeit.
155
Adept müssen sich – so der erste Schritt – ineinander „auflösen“, bevor sie sich
wirklich verbinden können und aus dieser Verbindung etwas Neues entstehen
kann. Das bereits erwähnte Zusammenfallen von Epistemologie, Ontologie
und Praxis im alchemistischen Schöpfungsprozess verstofflicht sich im alche-
mistischen Prinzip des solve et coagula. Der Adept muss, um das Werk zu be-
ginnen, ganz in der Natur denken und handeln, sich in ihr auflösen:

„Ich aber will, daß du ebenso handelst wie die Natur,


besser noch, daß dein Wirken gemäß der Natur sei [...]
Das stelle dir vor Augen in wirklicher, nicht in unwirkli-
cher Vorstellung.“226

Umgekehrt kann die Natur dann auch im Denken und Handeln des Adepten
wirken. Hält man sich diese Bedingung der vollständigen gegenseitigen
Durchdringung und Angleichung vor Augen, die sich in einem Prozess der Auf-
lösung vollzieht, so erklären sich auch die hohen moralischen Anforderungen,
die die Kunst der Alchemie an ihre Adepten stellt. Die Natur ist verehrungs-
würdig, sie ist das höchste und wichtigste Gut. Nur die Natur besitzt die Kraft
zur Schöpfung. Wer anfangen möchte, um mit und durch sie zu schöpfen,
muss sich ihrer herausragenden Vollkommenheit bewusst werden und sich
ihrer gleich würdig erweisen:

„An ihre Erforschung (der Natur) soll kein Künstler


herantreten, der von grobem und derbem Geist erfüllt
ist; er soll weder habgierig noch geizig sein in Kosten
und Ausgaben. Er soll auch nicht doppelzüngig sein im
Herzen, ohne Gehässigkeit und Dreistigkeit oder gar
sprunghaft im Geist, noch soll er allzu eilfertig oder
dickköpfig sein. Vielmehr sei er ein Sohn der Gelehr-
samkeit, ein Mann, den ein besonders feiner Geist
ziert, hinlänglich wohlhabend, großzügig, vernünftig

                                                                                                           
226
RP, S. 19.
156
und gesund, fest im Vorsatz und stetig im Charakter,
geduldig, sanft, langmütig und maßvoll.“227

Das alchemistische solve, das eine Angleichung und Auflösung der Natur sowie
des Adepten ineinander bedeutet, ist demnach zentral und bildet den Anfang
jedes Erschaffensprozesses. In der alchemistischen Bildsprache wird dieser
Vorgang als Brunnen dargestellt, bzw. als Bad, in dem sich die beteiligten Ak-
teure auflösen und angleichen, so dass in einem weiteren Schritt Gleiches mit
Gleichem zusammenkommen kann, um Neues zu zeugen.228

Abbildung 9 Das alchemistische Bad im Rosarium Philosophorum


                                                                                                           
227
RP, S. 30.
228
Man ist an dieser Stelle unweigerlich an Latours quasi-alchemistische Zu-
sammenführung von Pasteur und Whitehead im epistemologischen Milchsäu-
rebad erinnert. Latour, Bruno 1996: Haben auch Objekte eine Geschichte? Ein
Zusammentreffen von Pasteur und Whitehead in einem Milchsäurebad. In:
Latour, Bruno 1996: Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der
Wissenschaften. Berlin, S. 87–112.
157
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass alchemistische Schöpfung zwar
immer auf der Schöpfungskraft der Natur basiert, sie aber durch den Adepten
begonnen werden kann. Da es in dem Werk der Alchemie um die Herstellung
des Steins der Weisen geht, also um den praktischen Vollzug natürlicher
Schöpfung, und nicht um die Herstellung eines spezifischen konkreten Stoffes
wie dem Gold, kann das Rosarium vor allem als Element einer performativen
Metaphysik des Schöpferischen verstanden werden, bzw. als eine praktische
Reflexion auf die Erschaffung des Neuen. Da Schöpfung in der Alchemie als
Zeugung von Gleichen mit Gleichem gedacht wird, muss sich der Adept – der
anfangs dem Äußeren nach der Natur ungleich ist –, zunächst dem solve Prin-
zip der Alchemie folgend, der Natur angleichen, um das große Werk zu begin-
nen – sowohl in seinem Denken und Erkennen als auch im Handeln. Gleichzei-
tig wird dadurch aber auch die Natur dem Adepten ähnlicher und wirkt so
durch ihn hindurch. Der Gedanke, dass die Natur durch etwas der Natur Frem-
des erkannt oder gar nachgeahmt werden könnte, wäre im Sinne der Alchemie
der verehrungswürdigen Schöpfungskraft der Natur nicht angemessen gewe-
sen.

Das grosse Werk der Alchemie beginnt mit der Auflösung der Akteure im Bad,
dargestellt als Brunnen. Nach der erfolgreichen Lösung – dem solve – kann sich
Gleiches mit Gleichem verbinden und vereinigen, so dass der eigentliche Zeu-
gungsakt – coagula – durch die schöpferischen Kräfte der Natur vollzogen wer-
den kann. Das alchemistische Bild des coagula ist der Koitus.

158
Abbildung 10 Alchemistische Zeugung nach voriger Auflösung im alchemistischen Bad

Das Streben nach Vollkommenheit

Hält man sich den im Rosarium beschriebenen Prozess des solve et coagula vor
Augen, so fällt jedoch die grundlegende Asymmetrie zwischen Natur und
Adept ins Auge, die den Ausgangspunkt des alchemistischen Werkes bildet und
die der historischen Projektion der Latour’schen symmetrischen Anthropologie
auf das „vormoderne Denken“ widerspricht.

Weshalb sollte sich die Natur, wenn sie doch ihr eigenes Feuer der Schöpfung
besitzt, überhaupt auf eine solche „Liebschaft“ mit dem Alchemisten einlassen,
und gar den Zeugungsakt mit ihm vollziehen? Besteht durch den Beginn des
Werkes durch den Alchemisten also nicht doch eine Art „technologischer“
Zwang, mithilfe dessen die Natur zur Schöpfung genötigt wird, so dass sich
letztlich das Einwirkende und das Einwirkung Erfahrende, agens und patiens,

159
eben doch nicht gleichen? Das Rosarium beantwortet diese Frage in zwei
Schritten:

Die Natur bedarf in der Tat des Adepten nicht, Jedoch dauert es dem Rosarium
zufolge in der Natur sehr lange, bis etwas so vollkommenes wie der Stein der
Weisen erschaffen wird. Das Werk des Adepten sollte also als Beschleunigung,
und wenn modern gesprochen, dann als Katalysator verstanden werden und
nicht als Bezwingung der Natur:

„Bei den mineralischen Körpern haben die Alchemiker


nach Art des Vorgehens der Natur versucht, in kurzer
Zeit das zu bewirken, was die Natur in tausend Jahren
vollbringt.“229

Die Rechtfertigung für das Werk des Alchemisten wirkt auch aus heutiger Sicht
plausibel und im nächsten Abschnitt werde ich genauer auf die Frage der Zeit-
lichkeit des alchemistischen Werkes eingehen. Dennoch bleibt hier unklar,
weshalb die Alchemisten die Eigenzeit der ansonsten „verehrungswürdigen“
Natur nicht akzeptierten? Zudem ist die Natur ewig und bringt Neues hervor,
während Generationen von Menschen und speziell Adepten kommen und ge-
hen. Warum sollte die Natur, wenn sie im wahrsten Sinne des Wortes über alle
Zeit der Welt verfügt, sich überhaupt in das in menschlichen Zeitlichkeiten be-
wegende alchemistische Werk involvieren lassen?

Hier kommt den Adepten zufolge ein weiteres, in der Natur beobachtbares
Prinzip neben dem der Zeugung durch solve et coagula ins Spiel: das Streben
nach Vollkommenheit. Das Prinzip besagt, dass alles in der Natur danach
strebt, sich kontinuierlich zu vervollkommnen, indem es wächst und sich fort-
pflanzt. Nach der Zeugung einer neuen Pflanze oder eines neuen Tieres ist das
Werk der Natur demnach noch nicht zu Ende. Jedes Lebewesen beginnt nach
der Zeugung zu wachsen und strebt dabei danach, immer stärker und besser
zu werden und sich jeder Gefährdung und Zerstörung seines Wesens zu wider-
setzen.

                                                                                                           
229
RP, S. 78.
160
„Jede Natur strebt natürlicherweise danach, vollkom-
men zu werden, und verabscheut und vermeidet es,
zerstört zu werden. Deshalb hält sie gierig all jenes
fest, was ihr eigenes Verbesserungsmittel ist, und ver-
stößt das Gegenteil, so sehr sie nur kann. Dement-
sprechend muß die alchemistische Kunst die Natur
nachahmen, andernfalls irrt sie immerzu.“230

Erst durch dieses Streben der Natur nach Vollkommenheit erklärt sich einer-
seits, weshalb sie sich durch den Alchemisten dazu anregen lässt, ihre Schöp-
fung auch in dessen Laboratorium zu vollziehen und andererseits – und hier
holt die alchemistische Lehre sich selbst ein – auch die Suche des Adepten, der
ja auch Teil der Natur ist, nach dem Stein der Weisen. Die Alchemie strebt also
nicht nur nach der Perfektionierung der Natur, sie ist selbst Ausdruck dieses
allgemeinen Bestrebens. Würde der Adept nicht ebenso wie jedes andere We-
sen der Welt nach Vollkommenheit streben, so gäbe es keinen Grund, weshalb
er das alchemistische Werk wollen und in der Tat vollbringen sollte. Wie kann
sich der Adept nun das Streben der Natur nach Vollkommenheit bei der Her-
stellung des Steins der Weisen zunutze machen?

Zunächst einmal lässt sich durch diesen Aspekt erklären, warum Alchemisten
bevorzugt mit Metallen arbeiteten. Die Tatsache, dass sich die Transmutati-
onsalchemie vor allem mit Metallen beschäftigt, wird häufig schlicht als gege-
ben hingenommen, doch begründet sie sich für die Adepten aus dem Voll-
kommenheitsstreben der Natur. Wenn jedes Wesen und jeder Stoff in der Welt
nach Vollkommenheit strebt und die Natur dies ermöglicht, indem sie alle We-
sen und Stoffe in der Zeit wachsen und gedeihen lässt, so bedeutet dies, dass
man es auf Erden mit einer Vollkommenheitshierarchie zu tun hat. Es gibt ed-
lere, weil ältere und daher vollkommenere Wesen und Stoffe, und weniger ed-
le, die jünger, vergänglicher und unvollkommener sind. Gold galt den Adepten
als der edelste und älteste Stoff auf Erden und bildete für sie den vollkom-
mensten Endpunkt der Entwicklung und Reifung aller Metalle, der als Tiere und
Pflanzen nicht mehr vergeht. Und so liest man im Rosarium, dass es leichter
                                                                                                           
230
RP, S. 87.
161
sei, Gold herzustellen, als es zu zerstören, da das Metall den höchsten Voll-
kommenheitszustand auf Erden erreicht habe.231 Und weiter liest man dort,
dass sich diejenigen, die mit pflanzlichen und tierischen Stoffen arbeiten, irren,
da diese anders als das Gold allzu vergänglich seien und somit in der Vollkom-
menheitshierarchie weiter unten stünden.

„Viele Toren nämlich beschäftigten sich – früher und


auch heute noch – mit solchen pflanzlichen und tieri-
schen Stoffen.“232

Um das alchemistische Werk schon auf einer möglichst hohen Stufe der Voll-
kommenheit zu beginnen, arbeiteten die Alchemisten zur Herstellung des
Steins der Weisen mit Metallen. Sie verwendeten insbesondere auch immer
eine kleine Menge Gold, um einen ersten Samen der Vollkommenheit zu sä-
en.233 Doch es lässt sich sogar noch weiter argumentieren: Aufgrund der Mikro-
kosmos-Makrokosmos-Analogie der Alchemie stand das Gold in unmittelbarer
Verbindung mit der Vollkommenheit schlechthin: der Sonne. Sie ernährt,
wärmt und erhellt die Menschen ebenso wie die Pflanzen, Tiere und Stoffe der
Erde mit ihrem Licht. Im Prozess der natürlichen Schöpfung und Vervollkomm-
nung auf Erden kommt daher der Sonne, den Adepten folgend, eine ausserge-
wöhnliche Schlüsselrolle und grosse Wichtigkeit zu. In dieser Hinsicht kann
sogar von einem heliozentrischen Weltbild der Alchemie gesprochen werden:
Ohne die Sonne entsteht und wächst nichts auf Erden. Dem alten, Hermes
Trismegistos zugeschriebenem Diktum der Alchemie „Wie das Oben, so das
Unten“ folgend, repräsentiert, bzw. besser gesagt, ist das Gold die Sonne auf
Erden:

                                                                                                           
231
RP, S. 34. Vgl. dazu auch RP, S. 101: „Es allein [das Gold, Anm. SB] besitzt das,
wonach du suchst, und sonst nichts in der Welt; denn alles andere ist unrein
und weicht der Natur [es vergeht, Anm. SB] sowie bei der beständigen Einwir-
kung und Prüfung durch das Feuer.“
232
RP, S. 100.
233
Vgl. dazu 3.2.
162
„Wie die Sonne unter den Sternen, so steht das Gold
unter den Metallen: Die Sonne verleiht den Sternen
Licht und enthält jeden Nutzen, gleicherweise enthält
auch Gold jeden Nutzen.“234

Die Arbeit mit Metallen und vor allem mit einem kleinen „Goldsamen“ stand
daher im Mittelpunkt des alchemistischen Schöpfungswerkes. Denn wie ohne
Sonne nichts auf Erden wächst und reift, so auch nicht beim alchemistischen
Tun ohne ein wenig Gold, das wie die Sonne sein vollkommenes Licht auf alle
anderen Stoffe überträgt.

Doch abgesehen von dieser stofflichen Frage ergibt sich für die Alchemie aus
dem natürlichen Streben nach Vollkommenheit noch eine weitere metaphysi-
sche Problemstellung bei der Frage nach der Entstehung des Neuen. Sie be-
steht in einem scheinbaren Widerspruch zur eben beschriebenen Forderung
der Alchemie, mit etwas möglichst Vollkommenen und zu beginnen und zu
arbeiten, mit den Metallen. An mehreren Stellen des Rosariums betont der Ver-
fasser nämlich das genaue Gegenteil: Man solle nichts zu vollkommenes ver-
wenden, da aus dem Vollkommenen nichts mehr werden und entstehen kön-
ne:

„Aus Vollkommenen entsteht nichts, weil es schon


vollkommen ist.“235

„Vollkommenes verwandelt sich nicht, sondern ver-


geht. Aber Unvollkommenes kann sehr wohl verwan-

                                                                                                           
234
RP, S. 86. Vgl. dazu auch: RP, S. 158: „Ich [die Sonne, Anm. SB] erleuchte die
Luft mit meinem Licht, erwärme die Erde mit meiner Wärme, erzeuge und er-
nähre die Geschöpfe der Natur, die Pflanzen und Steine, nehme die Finsternis
der Nacht mit meiner Kraft hinweg und lasse die Tage der Zeitlichkeit dauern.“
235
RP, S. 36.
163
delt werden. Es ist also das Vergehen des Einen das
Entstehen des Anderen.“236

In der Vorstellungswelt der Alchemie entsteht, wie beschrieben wurde, Neues


durch Zeugung und daraus folgendem Wachstum. Beginnt man das alchemis-
tische Werk unter diesen Voraussetzungen mit etwas zu vollkommenem,
sprich mit etwas „ausgewachsenem“, so kann lediglich der Verfall und das Ver-
gehen einsetzen, nicht aber die Erschaffung von etwas Neuem. Beginnt man
aber mit etwas Unvollkommenen, so kann es noch wachsen, reifen und Neues
entstehen lassen.

Die widersprüchliche Forderung der Alchemie sowohl mit etwas Vollkomme-


nem als auch mit etwas Unvollkommenem zu arbeiten, kann aufgelöst wer-
den, wenn man die Entstehung des Neuen in dem Raum zwischen diesen bei-
den Extremen denkt:

„Aus Vollkommenen kann nichts werden, weil eine


vollkommene Spezies der Dinge sich in ihrer Natur
nicht mehr wandelt, sondern höchstens vergeht; und
auch aus durch und durch Unvollkommenem kann
sich entsprechend nichts entwickeln. [...]

Ähnlich wie Vollkommenes nichts Neues entstehen lassen kann, so kann auf
der anderen Seite auch das vollständig Unvollkommene nichts vollkommene-
res mehr werden. Will der Adept das Neue in seinem Laboratorium entstehen
lassen, so gibt es kein Rezept oder eine konkrete Massgabe an die er sich halten
kann, denn Neues entsteht für die Alchemie im vagen Raum zwischen Voll-
kommen- und Unvollkommenheiten. Die Erschaffung des Neuen ist in dem
Sinne auch nicht vollständig planbar und vorausschaubar, sondern kann ledig-
lich unter Einhaltung guter Voraussetzungen durch den Adepten begonnen
und durch die Natur vollbracht werden.

                                                                                                           
236
RP, S. 36-37.
164
Delegation der Schöpfungskraft

Wer über die Entstehung des Neuen nachdenken möchte, kommt an einer Ex-
plikation des zugrundeliegenden Naturbegriffs nicht vorbei. Das wusste auch
der Verfasser des Rosariums und betont daher immer wieder die Wichtigkeit
der Natur für das alchemistische Schaffen. Wie in den vorangehenden Ab-
schnitten gezeigt werden konnte, findet alchemistische Schöpfung immer nur
in und durch die Natur selbst statt. Sie ist die einzige schöpferische Kraft. Der
Adept kann allerdings einen alchemistischen Prozess in Gang setzen, in dem
die Natur zur Schöpfung veranlasst wird. Eine erste wichtige Unterscheidung,
welche durch das Studium des Rosariums für die Alchemie gemacht werden
kann, ist daher die Differenzierung zwischen Schöpfungskraft einerseits und
dem Prozess der Schöpfung andererseits. Darüber hinaus kann der Adept na-
türliche Schöpfungsprozesse zeitlich beschleunigen, worauf ich im nächsten
Abschnitt noch genauer eingehen werde.

Aufgrund dieser Beobachtungen habe ich in den vorangehenden Abschnitten


vor allem die stofflichen und mentalen Voraussetzungen betrachtet, welche
erfüllt sein müssen, dass natürliche Schöpfung angeregt durch den Alchemis-
ten beginnen kann. Sie sind es, die ein Beginnen des alchemistischen Werkes
ermöglichen, das dann als ein von der Natur ausgeführtes gedacht wird. Da der
Ort der Schöpfungskraft ausschliesslich in der Natur liegt, gewinnt die Alche-
mie diese Voraussetzungen aus dem Studium natürlicher Schöpfungsprozesse,
die – der Natur gemäss – als Zeugung verstanden werden müssen. Zeugung
funktioniert immer nur dann, wenn Gleiches mit Gleichem zusammengebracht
wird. Der Adept muss sich daher der Natur sowohl in seinem Denken, als auch
Handeln, möglichst angleichen, um als adäquater Schöpfungspartner in Frage
zu kommen. Dieses besondere Verhältnis des Alchemisten zur Natur kommt im
Prinzip des solve et coagula der Alchemie zum Ausdruck. Adept und Natur lösen
sich metaphysisch ineinander auf und erschaffen Neues durch Zeugung und
Vereinigung. Die von Lawrence Principe vorgeschlagene Deutung der Sexuali-
täts-Symbole der Alchemie als rein technisch-illustrative Metaphorik wird dem
Prozess nicht gerecht. Wenn Neues für die Alchemie nur durch Zeugung ent-
stehen kann, so ist der alchemistische Koitus viel mehr als nur eine simple, weil
naheliegende Repräsentation einer Dualität von Gegensätzen: Sie ist in der Tat
165
der Schlüssel, der wahrhafte Mechanismus der Entstehung des Neuen in der
Natur.

Diese Ergebnisse der Lektüre des Rosariums lassen sich nun nochmals mit der
Deutung der Innovationskraft der Alchemie in aktuellen Debatten abgleichen.
Es hat sich gezeigt, dass die Entstehung des Neuen in der Alchemie weder als
technische Beherrschung der Natur gedacht werden sollte, wie bei William
Newman, noch als Herstellung von Hybriden, wie bei Bruno Latour. Die Kraft
zur Schöpfung sowie der auslösende Prozess der Schöpfung wird bei Newman
beim Menschen bzw. in der Sphäre der Kultur und der Technik verortet. Um
technologisch innovativ zu sein, muss man nicht wissen, wie die Natur Neues
hervorbringt, noch muss man hier naturgemäss zur Schöpfung handeln. Die
Innovation stellt sich hier als ein eigenes kulturelles Projekt dar, zu dem es auf
Seiten der Natur keine Entsprechung gibt, ausser vielleicht als zufälliges Ergeb-
nis eines blinden evolutionären trial and error. Erst der Mensch ist innovativ
und benutzt sein Wissen über die Natur kreativ zu deren technologischen Be-
herrschung und Verbesserung in Hinblick auf die Lebenswelt des Menschen.
Der Natur mögen im etablierten wissenschaftlichen Weltbild gewisse Natur-
gesetzlichkeiten zugrunde liegen, die Emergenzen ermöglichen. Doch mit Krea-
tivität haben diese nichts zu tun. Kreativ ist einzig der Mensch.

Bei Latour hingegen ist die schöpfende Kraft in dem Raum zu verorten, der sich
zwischen den beiden Bereichen Natur und Kultur ergibt. Diesen Raum haben
allerdings die Menschen in der Moderne durch die „grosse“ Unterscheidung
der beiden Reiche überhaupt erst eröffnet. Die Schöpfung selbst findet im Netz
der menschlichen und nichtmenschlichen Akteure statt. Das eigentlich immer
schon Zusammengehörige und Zusammenhängende wird in der Moderne als
Getrenntes gedacht, wobei ein Handlungsraum entsteht, der sich vor allem in
der Ausblendung etwaiger Konsequenzen konstituiert und frei von Angst die
Schöpfung von Hybriden ermöglicht. Die eigentliche Schöpfungskraft liegt
auch bei Latour also wieder bei den Menschen, aber der Prozess vollzieht sich
symmetrisch im Akteurs-Netzwerk. Entsprechend kritisiert Latour die Vorstel-
lung einer „grossen Trennung“ zwischen Moderne und Vormoderne. Gleichzei-
tig geht er davon aus, dass die Vormodernen, zu denen auch die Alchemisten
zählen, sich deshalb nicht an Erschaffensprozesse herangewagt hätten, weil sie
166
ständig damit beschäftigt gewesen wären, in kosmischen Vernetzungen zu
denken:

„Die Modernen unterscheiden sich von den Vormo-


dernen nur durch ihre Weigerung, die Quasi-Objekte
als solche zu denken. Hybride stellen für sie etwas
Schreckliches dar, das es um jeden Preis zu vermeiden
gilt – durch unentwegte und sogar manische Reini-
gung.“237

In den vorangehenden Abschnitten konnte gezeigt werden, dass die Alchemie


in der Tat keine Trennung zwischen Natur und Kultur denkt, ja, sie sogar ver-
bietet, da eigentliche Schöpfung letztlich nur innerhalb und durch die Natur
stattfinden kann und nicht durch menschliche Kunst. Dieses Verbot begründet
sich aber weniger aus der Vorstellung, dass die künstliche Schöpfung ein fal-
scher Weg sei. Die Unterscheidung selbst ergibt schon keinen Sinn. Entspre-
chend ist auch ein Netz oder Geflecht aus Natur und Kultur der Alchemie un-
bekannt. Diejenigen Adepten, die denken, dass so etwas wie Schöpfung durch
Kunst möglich sei, gelten als töricht. Die Alchemie kennt nur die eine Natur, die
jedoch nicht als ontische Sphäre gedacht wird, in der sich der Adept bewegen
kann oder nicht, sondern als ein fortlaufender schöpferischer Prozess. Eine Un-
terscheidung, die die Alchemie aber durchaus kennt und berücksichtigt, ist die
zwischen Schöpfungskraft einerseits und dem Prozess des Erschaffens ande-
rerseits. Den Letzteren vermag der Mensch zu beginnen, eigentlich schöpfe-
risch ist jedoch nur die Natur.

Um einen Schöpfungsprozess in Gang setzen zu können, müssen zwar eine


Reihe oben beschriebener, Voraussetzungen erfüllt sein. Latour hat aber dem-
nach Unrecht damit, wenn er den vormodernen Alchemisten soviel Zaghaf-
tigkeit unterstellt, dass es zu keinem schöpferischen Akt gekommen wäre. Im
Gegenteil, wie beschrieben wurde, finden sich sehr konkrete Hinweise darauf,
wie der Adept das grosse Werk zusammen mit der Natur beginnen kann und
                                                                                                           
237
Latour, Bruno 1991/1995: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer sym-
metrischen Anthropologie. Berlin, S. 150.
167
soll. Der Unterschied zwischen Vormoderne und Moderne, bzw. Alchemie und
moderner Forschung läge, will man Latours Problemstellung aufgreifen, dem-
nach nicht in der Unterscheidung zwischen Natur und Kultur, sondern in der
Verortung der Schöpfungskraft und in dem Naturverständnis, als passives Er-
kenntnis- und Kontrollobjekt einerseits oder als schöpferisches Prinzip im fort-
laufenden Prozess aller Existenz.

Die Vorstellung, dass nicht der Mensch, sondern etwas ausserhalb des Men-
schen die eigentliche Quelle für Neues darstellt, mag aus moderner, szientisti-
scher Perspektive unbefriedigend erscheinen. Moderne Kriterien wie Planbar-
keit, Prognose und Kontrolle sowie technische Beherrschung und Enhance-
ment, oftmals vereint in der heroischen kulturellen Wahrnehmung des For-
schers/Technologen/Kreativen, werden in der Alchemie radikal abgelehnt. Der
Forscher und Technologe als Naturbeherrscher erscheint hier wenn dann als
Bittsteller. Die Rolle der Natur wird im Blick auf die Alchemie umgedeutet, von
der Beherrschten, hin zur selbstgenügsamen und zu umwerbenden, zu verfüh-
renden Geliebten. Und selbst wenn es dem Adepten gelingt, die Natur für sich
einzunehmen, so eröffnet sich lediglich ein Möglichkeitsraum der Schöpfung,
der dann zu Realisierung wieder der Natur überlassen werden muss.

Eine technizistische Betrachtungsweise übersieht, dass es nicht nur von Nach-


teil wäre, die Entstehung des Neuen in einer Kraft ausserhalb der menschli-
chen Macht zu verorten. Eine auf alchemistischen Vorstellungen beruhende
Theorie der Erschaffung des Neuen muss auch nicht zwangsläufig in esoteri-
scher Ehrfurcht münden, bei dem die personifizierte Natur unberechenbar
agiert und wir uns dieser „höheren Macht“ fügen müssten. Die Alchemie be-
schreibt an keiner Stelle eine solche undurchschaubare Herrschaft der Natur.
Ganz im Gegenteil: das libidöse solve et coagula-Prinzip garantiert eine engst-
mögliche Verbindung des Adepten mit der Natur, die sogar als Vereinigung
verstanden wird und die der modernen Gegenüberstellung von Natur und ihrer
technologischen Bezwingung ebenso zuwider läuft wie einer esoterisch ver-
klärten Überhöhung der Natur. Wie Latour richtig diagnostiziert, leidet die Mo-
derne an der von ihr selbst erschaffenen Trennung zwischen Natur und Kultur,
welche die Alchemie in der Tat nicht kannte.

168
Die alchemistische Vorstellung vom schöpferischen Naturverhältnis weist ein
entlastendes Moment auf. Schöpfungskraft und Schöpfungsakt müssen nicht
im Subjekt vereint sein, die Schöpfungskraft wird vielmehr delegiert. Diesen
Umstand hat C. G. Jung meines Erachtens richtig erkannt, wenn er schreibt,
dass die Welt des Alchemisten voll mit „Seele“ war, so dass er nicht an einer
Inflation des Bewusstseins leiden musste. Dieses Erfüllt-Sein der Welt mit Seele
kann vor dem Hintergrund meiner Ausführungen durchaus auch weniger tie-
fenpsychologisch denn als Entgrenzung und Dezentralisierung des Ortes der
Schöpfungskraft interpretiert werden. Für die Alchemie ergab sich auf die Fra-
ge nach dem Wie der Erschaffung des Neuen nicht der heutige, auf Geniali-
tätsvorstellungen beruhende Schluss, dass dies zwangsläufig durch und im
Menschen bzw. mittels der von ihn geschaffenen künstlichen Umwelten und
Vorrichtungen geschehen muss. Vielmehr ging sie davon aus, dass es die Natur
ist, die schöpft, und der Mensch sich durch eine Reihe von Vorkehrungen in
diesen Schöpfungsprozess einzuklinken, einzubringen und einzumischen ver-
mag. Auf den ersten Blick mag diese Vorstellung als Entmachtung des Men-
schen aufgefasst werden, doch eine alchemistische Theorie der Erschaffung
des Neuen mit einer Neuverortung und Delegation der Schöpfungskraft kann
auch als Anregung aufgefasst werden, verbissene Visionen einer technowis-
senschaftlichen Planwirtschaft des Neuen kritisch zu hinterfragen. Neues kann,
folgt man der Alchemie, nicht unmittelbar produziert werden. Diesen Gedan-
ken werde ich im nächsten Abschnitt weiterverfolgen und näher ausführen.

169
3.3 Die Zeit der Schöpfung

„Führe dein Werk nicht hastig aus. Achte darauf, daß


deine Tür gut und fest verschlossen sei, damit der, der
drinnen ist, nicht davonfliegen kann.“238

Neues entsteht in der Zeit. Es definiert eine Vorher-Nachher-Relation, die im


Entstehungsmoment aufgehängt ist: Zu einem beliebigen vorherigen Zeit-
punkt t1 ist das Neue noch nicht vorhanden, zu einem beliebigen Zeitpunkt t2
danach existiert es bereits. Lässt man das Zeitintervall zwischen t1 und t2 im
Grenzwert gegen 0 laufen, so gelangt man im Prinzip zum Entstehungsmo-
ment des Neuen. Im Jahre 1669 beispielsweise wurde Phosphor durch den Al-
chemisten Hennig Brand entdeckt, als er Urin im geschlossenen Gefäss ein-
dampfte und so unter Reduktion mit organischen Stoffen eine weissliche Sub-
stanz erhielt, welche die Eigenschaft der Chemolumineszenz hatte und somit
im Dunkeln leuchtete. Phosphor wurde entdeckt, ein neues Wissen wurde ge-
neriert. Vor dem Jahr 1669 wusste man noch nichts von dessen Existenz, da-
nach schon. Eine lineare und chronologische Betrachtung ermöglicht es uns
also, die Entstehung des Neuen in der Zeit zu markieren. Etwas, das es vorher
noch nicht gab und das in einem bestimmten Moment in die Welt kommt, be-
zeichnet man als „neu“. Das Neue bildet somit eine hinreichende, weil wahr-
nehmbare und ab einem bestimmten Zeitpunkt bewusst wahrgenommene
Differenz zum bereits Bestehenden.

Vor dem Hintergrund solch basaler Überlegungen zur Zeitlichkeit von Innova-
tionen liegt es nahe, neben der zentralen Rolle der Natur, die ich im vorange-
henden Abschnitt beschrieben habe, auch nach der Bedeutung der Zeit für den
Verfasser des Rosariums zu fragen. Und in der Tat spielt die Zeit hier, wie be-
reits angedeutet, eine wichtige Rolle. Der Verfasser mahnt wie im obigen Zitat
gleich an mehreren Stellen des Rosariums im Prozess des grossen Werkes zur
Geduld und warnt vor Hast. Doch in welchem spezifischen Verhältnis steht die
                                                                                                           
238
RP, S. 19.
170
Zeit zur alchemistischen Schöpfung im Rosarium? Im Text finden sich zunächst
einige allgemeine Hinweise. Zum Beispiel solle der Adept sein Werk nicht „has-
tig“239 ausführen, sich in „Geduld und Weile“ üben und „Eile“240 sei sowieso „des
Teufels“. Überstürzen sollte man das alchemistische Werk offensichtlich nicht.
Doch wie lange genau dauert es, den Stein der Weisen herzustellen? Und wel-
ches Zeitverständnis legte der Adept seinem Werk zugrunde, wenn er Neues
hervorbringt?

Es finden sich unterschiedliche Zeitangaben im Rosarium, die von ein paar Ta-
gen bis hin zu einem Jahr reichen, so dass nicht mit letzter Sicherheit gesagt
werden kann, wie lange eine Transmutation tatsächlich dauern mag, wie viel
Zeit es benötigt, um in diesem Prozess Neues zu erschaffen. Dieser Umstand
liesse sich als weiterer Beleg deuten, dass die Alchemisten gerade keine exak-
ten Wissenschaften betrieben hätten. Dies würde für einen szientistisch ge-
neigten Leser plausibel erklären, wie es zu den unterschiedlichen Zeitangaben
kommt. Die Alchemie wäre damit wiederum als ein den modernen Wissen-
schaften unterlegenes Unterfangen bestätigt. Doch der Autor des Rosariums
geht an einer Stelle des Textes explizit auf die Frage der Dauer der Transmuta-
tion ein und legt auch hier eine alternative Erklärung nahe. Er zählt zunächst
unterschiedliche Zeitangaben mehrerer, ihm bekannter Alchemistinnen und
Alchemisten auf und liefert daraufhin eine Erklärung, die auf der unterschiedli-
chen Wirksamkeit der jeweils verwendeten Stoffe und deren Mischung mitei-
nander beruht.241 So schreibt er:

„Dazu sage ich, daß der Grund für diese Unterschied-


lichkeit der Kürze bzw. Dauer möglicherweise in man-
gelnder Wirksamkeit des Wassers des Mercur lag [...]
                                                                                                           
239
Ebd.
240
RP, S. 76: „Geduld und Weile sind in unserer Meisterschaft erforderlich; Eile
jedenfalls ist in dieser Meisterschaft vom Teufel.“
241
RP, S. 62: „Ich frage, in welchem Zeitraum dieser gepriesene Stein hergestellt
werden kann; darauf läßt sich antworten, daß ein bekannter Autor, der Philo-
soph LILIUS, bezeugt, daß er sein Meisterstück binnen acht Tagen durchgeführt
habe; manche benötigen dafür sieben Tage, und manche drei Monate, andere
vier Monate, wieder andere ein halbes Jahr und andere ein ganzes Jahr. Und
MARIA sagt, sie habe es in drei Tagen bewältigt.“
171
Daraus resultiert die erwähnte Unterschiedlichkeit im
Vorgehen. Das Verfahren konnte darin bestehen, daß
man vom fixierten Körper mehr zusetzt als vom nicht-
fixierten, oder aber umgekehrt: weil vom Nichtfixier-
ten nicht mehr vorhanden war, stieg es dann schneller
auf, und wenn vom Fixierten mehr vorhanden war, so
stieg es langsamer auf.“242

Die Dauer des Werkes hängt also offenbar von der „Wirksamkeit des Wassers
des Mercur“ ab, sowie vom Verhältnis des „fixierten“ und dem „nicht fixierten“
Körper. Je nachdem, ob mehr vom fixierten Körper vorhanden war, dauerte das
Werk länger, und umgekehrt: Wenn mehr vom nicht-fixierten Körper vorhan-
den ist, geht es schneller, das heisst, es „stieg dann schneller auf“. In der mo-
dernen Rückschau wäre die Heterogenität der Zeitangaben, die Uneinigkeit der
Adepten hierin, ein weiterer Beleg für die wissenschaftliche Unbeholfenheit
der Alchemie, die schlichtweg noch nicht weiss, wie die quantitativ richtige
Mischung der Zutaten lautet. Sie wäre so gesehen unbeholfen, weil sie eben
noch kein exaktes Messinstrumentarium zur Verfügung hat und keine exakte
Sprache wie die moderne Chemie dann rund dreihundert Jahre später. Doch
eine solche Deutung der Auseinandersetzung im Rosarium mit den unter-
schiedlichen Eigenzeiten der Transmutation geht wiederum am Kern der Sache
vorbei.

Um im Folgenden verstehen zu können, was mit der Wirksamkeit des Wassers


des Mercur gemeint ist, was fixierte und nicht fixierte Körper sind, wie sie sich
im Prozess der Erschaffung des Neuen zueinander verhalten, was mit Auf- und
Absteigen gemeint ist und welchen Bezug dies alles zur Zeitlichkeit alchemisti-
scher Schöpfung hat, gilt es zunächst, einige alchemistische Begrifflichkeiten,
Konzepte und Methoden genauer zu erläutern. Im Unterschied zum letzten
Abschnitt, in dem ich mich anhand des Natur-Begriffs mit den naturphilosoph-
sichen Grundvoraussetzungen des alchemistischen Werks auseinandergesetzt
habe, führt der Weg nun mehr in die Tiefe des alchemistischen Laboratoriums,
in dem eine, wie ich beschreiben werde, performative Metaphysik vollzogen
                                                                                                           
242
RP, S. 62-63.
172
wird. Es geht also nicht um eine praxeologische Betrachtung der verwendeten
Stoffe, Gerätschaften und Verfahren, sondern um eine philosophische Betrach-
tung der im Medium des Stofflichen sich vollziehenden transmutationsalche-
mistischen Reflexion des Neuen. Um in der Frage der Zeitlichkeit des alchemis-
tischen Werkes weiterzukommen, bedarf es einer genauen Auseinanderset-
zung mit den konkreten Methoden und Verfahren des Adepten, die im Prozess
der performativen Metaphysik zum Einsatz kommen. Erst vor diesem Hinter-
grund wird es möglich sein, sich vom Kurzschluss einer szientistischen Rück-
schau loszusagen und nachzuvollziehen, was die Alchemie unter einem fixier-
ten und nicht fixierten Körper versteht, was das „Wasser des Mercurs“ ist und
welche Operation mit dem Auf- und Absteigen der Stoffe gemeint ist und wie
sie mit der Zeitlichkeit des Werkes zusammenhängt.

Ich werde im Folgenden aufzeigen, dass die Methode der wiederholten „Subli-
mation“ im verschlossen Gefäss dazu diente, durch eine „Fixierung“ der flüch-
tigen Schöpfungskraft der Natur Neues entstehen zu lassen. Die Begrifflichkeit
der Sublimation ist im modernen physikochemischen Sprachgebrauch be-
kannt. Es handelt sich um eine spezifische Form der Änderung des Aggregatzu-
standes eines Stoffes durch Wärmeveränderung. Der Begriff der Sublimation
erscheint uns somit vertraut. Er wähnt uns damit jedoch in falscher epistemi-
scher Sicherheit. Die oberflächliche Äquivalenz in der Terminologie darf nicht
dazu verleiten, die alchemistische Sublimation mit einer Änderung des Aggre-
gatszustandes eines Stoffes gleichzusetzen. Unter Sublimation verstand die
Alchemie zwar durchaus das „Aufsteigenlassen“ eines Stoffes im verschlosse-
nen Gefäss unter Hitzeeinwirkung, so dass dieser dann am oberen Teil des Ge-
fässes wieder „fest“ wird und dadurch wieder auf den Ausgangsstoff herab-
fällt. Bis hier hin liesse sich dies aus Sicht moderner Stoffkunde also mit der
Vorstellung vom Durchlauf der Materie durch verschiedene Aggregatzustände
in Deckung bringen. Die Materie bliebe in diesem Prozess dann jedoch im Kern
unverändert und würde nur fortlaufend seine Form verändern. Bei beständiger
Hitzeeinwirkung ergibt sich eine zyklische, also sich wiederholende Bewegung
im Gefäss. An diesem Punkt unterscheidet sich das alchemistische Stoffdenken
grundlegend vom modernen physikochemischen Stoffdenken. Im Zyklus der
Sublimation findet nicht nur periodisch Formveränderung statt, für die Alche-

173
mie entsteht in diesem Prozess Neues. Und nun zeichnet sich auch der Zu-
sammenhang zur Frage der Zeitlichkeit im alchemistischen Werk klarer ab. Die
Methode der wiederholten Sublimation verweist auf eine zyklische Zeitlichkeit
im alchemistischen Schaffen. Kurz gesagt: Die Entstehung des Neuen mag sich
in der zeitlich linearen Rückschau als Moment identifizieren, doch in der Innen-
ansicht des schöpferischen Prozesses nimmt das Neue im Zeitkreis Gestalt an,
so dass keine lineare Zeitangabe einer Dauer im Voraus möglich ist, sondern
immer nur im Nachhinein.

Die Erschaffung des Neuen im zyklischen Prozess der Sublimation muss aus
dieser Perspektive weniger als eine Absetzungsbewegung zu bereits Bestehen-
dem gedacht werden, also als Herstellung einer Differenz zum Bestehenden,
sondern vielmehr als ein Vermischungs- und Vereinigungsprozess. Es handelt
sich um die Vereinigung (coagula) von Prinzipien, von einem vollkommenen
geistigen, flüchtigen, mit einem unvollkommenen stofflichen, fixierten Prinzip.
Aus einer modernistischen Betrachtungsweise könnte man hier von einer
Schöpfung des Neuen durch Syntheseleistungen sprechen, die sich von einer
„ent-“ und „auf-“deckenden Schöpfung durch Analyse und Differenzierung di-
ametral unterscheidet. Allerdings geht der moderne chemische Synthese-
Begriff von einer Rekombinatorik einzelner Grundelemente aus. Kleinste, fest-
stehende und unveränderliche Materieeinheiten werden auf neue Art und
Weise miteinander verknüpft, etwa bei der Herstellung neuer Moleküle im La-
bor, so dass neue Verbindungen mit neuen Eigenschaften entstehen.

Die demiurgische Illusion

In der Transmutationsalchemie spielt wie dargestellt das Prinzip der Wiederho-


lung im Prozess der Erschaffung des Neuen eine zentrale Rolle. Auch in der ak-
tuellen Wissenschaftsphilosophie finden sich Ansätze, welche das innovative
Potenzial der Wiederholung betonen und reflektieren. Zu den bekanntesten
Vertretern eines solchen Ansatzes zählt Hans-Jörg Rheinbergers Beschreibung
moderner Experimentalsysteme. Unter einem Experimentalsystem versteht
Rheinberger ein komplexes Ensemble von Instrumenten, Verfahren, Wissens-
beständen, Fragestellungen, Geräten, Dingen, Architekturen, Stoffen und For-

174
schern, die in einem ergebnisoffenen Forschungsprozess mit einander intera-
gieren. Experimentalsysteme sind auf Spurenproduktion angelegt, das heisst,
sie bringen Messwerte, Graphen, Bilder hervor. Damit ein Experimentalsystem
produktiv ist, somit innovativ, muss es die Bedingung der sogenannten „diffe-
rentiellen Reproduktion“ erfüllen. Sprich: Zum einen sollten nicht nur Messer-
gebnisse hervorgebracht werden, die das bereits Bekannte wiederholen, denn
ohne Abweichungen vom Bekannten gäbe es keine Innovation. Zum anderen
muss jedoch das prekäre Gleichgewicht aus „Reproduktion“ von bereits be-
kannten Spuren und Produktion von „Differenzen“ gewahrt sein, damit das
Neue noch kommunikativ und epistemisch anschlussfähig zum Bekannten ist,
ansonsten würde das Experimentalsystem kulturell nur „Rauschen“ produzie-
ren. Neue Wissensobjekte werden also laut Rheinberger im Experimentalsys-
tem durch differentielle Reproduktion hervorgebracht.243 Er beschreibt diesen
Mechanismus in seiner wegweisenden Arbeit „Experimentalsysteme und epis-
temische Dinge“ anhand einer ausführlichen historisch-epistemologischen
Fallstudie zur Geschichte der Proteinsyntheseforschung Mitte des 20. Jahrhun-
derts. Es rekonstruiert hier exemplarisch Aufbau, Funktionsweise und Dynamik
eines erfolgreichen Experimentalsystems. Dabei widmet er sich insbesondere
auch der Rolle des mit und in dem Experimentalsystem operierenden For-
schers: Wie muss der Forscher sein Experimentalsystem anlegen, wie muss er
sich darauf einlassen und wie damit umgehen, um die Chance auf die Produk-
tion von Neuem möglichst zu erhöhen.

Ein Experimentalsystem muss, so Rheinberger, ganz bestimmte Eigenschaften


aufweisen, damit es das im „Bereich des Möglichen“ liegende Neue hervor-
bringen und realisieren kann. Die begriffliche Engführung des Neuen mit dem
Möglichen durch Rheinberger verweist hier auf ein spezifisches Verhältnis, das
nicht durch eindeutige Kontrolle und Planbarkeit gekennzeichnet ist. Im Ge-
genteil, das Neue ist bei Rheinberger gerade nicht das, was einfach gemacht
werden kann. Das Neue liegt für ihn zwar immer im Bereich des vor allem
technisch Möglichen, gleichzeitig ist es aber etwas, das „sich letztlich der Kon-
trolle entzieht“, so dass das Mögliche in einer „seltsamen und fragilen Verfas-

                                                                                                           
243
Rheinberger, Hans-Jörg 2006: Experimentalsysteme und epistemische Din-
ge. Frankfurt.
175
sung“ erscheint.244 Die „demiurgische Illusion“, so Rheinberger, dass jedes Tun
des Experimentalforschers eigentlich immer schon auf das dann letztlich ge-
fundene Neue hingewirkt und zu dessen Entdeckung beitragen habe, ist nach
Rheinberger als falsch verstandener „philosophischer Konstruktivismus “ strikt
zu verwerfen. Denn das Neue würde damit zum „Resultat einer Vorgeschichte“
erklärt werden, „die so gar nicht stattgefunden hat“.245 Wissenschaftler, die in
der Rückschau ihre Arbeit als einen linearen Prozess beschreiben, der letztlich
immer schon auf das von ihnen gefundene Resultat hinauslaufen musste, un-
terliegen für Rheinberger einem grundlegenden epistemologischen Kategori-
enfehler. Experimentalsysteme produzieren auf eine wesentlich komplexere,
von Wiederholungen und Zufällen geprägte Art Neues und sind damit in ihrer
Entwicklung weder determiniert und vorhersehbar, noch ist ihre Dynamik mit
der Intention des Forschers deckungsgleich. Und doch ist es nach Rheinberger
möglich, ein Experimentalsystem so zu konstruieren, dass die Wahrscheinlich-
keit erhöht wird, Neues hervorzubringen.

Um den genauen Aufbau eines solch Erfolg versprechenden, das heisst produk-
tiven und innovativen Experimentalsystems zu beschreiben, greift Rheinberger
auf drei anschauliche Vergleiche zurück: das Labyrinth, das Netz und die Arbeit
des Künstlers. Ein ideales Experimentalsystem sei für den Forscher so etwas
wie ein selbst gemachtes Labyrinth. Seine „Wände“ sind Grenzen und Festset-
zungen, die sowohl die „Richtung weisen als auch die Sicht verstellen“.
Zwangsläufig sei daher der „Bau eines Labyrinths, das diesen Namen verdient“
nicht geplant und „deshalb kann man auch nicht aus ihm herausfinden, indem

                                                                                                           
244
Ebd. S. 91: „Es [das Neue, Anm. SB] ist etwas, das, wie man sagt, im Bereich
des Möglichen liegt, und es ist zugleich etwas, das sich letztlich der Kontrolle
entzieht. Das Mögliche erscheint in einer seltsamen und fragilen Verfassung.“
245
Ebd. S. 234. Vgl. dazu auch: „Nach dem Unbekannten zu greifen ist ein Prozeß
des Herumbastelns; er geht nie so vor sich, daß Altes gänzlich weggeworfen
oder Neues ex nihilo eingeführt wird. [...] Wenn in der spontanen Geschichte
des Wissenschaftlers die jüngste Geschichte als diejenige erscheint, die eigent-
lich schon immer erzählt worden ist oder zumindest schon immer erzählt wer-
den wollte, so steckt keine Absicht dahinter. Es reflektiert vielmehr eine fortlau-
fende Marginalisierung früherer Anliegen und Absichten, die der Forschungs-
bewegung selbst innewohnt. [...] So bleibt die spontane historische Erzählung
der Signatur des Historialen unterworfen und verrät es zugleich.“ Ebd. S. 234.
176
man einem Prinzip folgt“. Ein gutes Labyrinth „zwingt uns zum Herumtasten
und Herumtappen“.246 Auch die Metapher des Netzes, welches der Experimen-
tator „auswirft“, um das Neue zu fangen, verweist auf ähnliche Eigenschaften
eines produktiven Experimentalsystems. Das Netz sollte so „geknüpft sein, daß
Aussicht auf unerwartete Beute besteht“. Es sollte „’sehen’ können“, was der
Experimentator selbst noch nicht sehen kann, darf andererseits aber auch
nicht zu „fein gesponnen sein“, so dass alle Fische in ihm hängen bleiben und
keine Unterscheidung mehr möglich ist.247 Ebenfalls analog versteht Rheinber-
ger die Arbeit des Künstlers, der immer im Dunkeln arbeite und lediglich einer
„Ader“ nachspüren könne, die eine Aussicht auf eine mögliche „Goldader“ ver-
spricht. „Die Metapher des Labyrinths“, so schreibt Rheinberger, „trifft sich hier
mit der einer Goldmine“.248

Lassen wir für einen Augenblick die fast schon alchemistisch anklingende An-
spielung der Goldsucherei in dieser Metapher zur Suche des Neuen durch den
Experimentator beiseite und fragen nach den konkreten Setzungen eines sol-
chen idealen Experimentalsystems. Wie muss es gebaut sein, damit es wie ein
Labyrinth oder Netz wirken kann?

Rheinberger nennt zwei Eigenschaften, die ein Experimentator in seinem eige-


nen Experimentalsystem realisiert sehen sollte: einerseits die Fähigkeit des Sys-
tems zur Reproduktion, sowie die hinreichende Fähigkeit zur relevanten Diffe-
renzbildung. Zur Reproduktion schreibt er:

                                                                                                           
246
Ebd. S. 88-89: „Ein Experimentalsystem kann ohne weiteres mit einem Laby-
rinth verglichen werden, dessen Wände dem Experimentator zugleich sowohl
die Richtung weisen als auch die Sicht verstellen. [...] Der Bau eines Labyrinths,
das diesen Namen verdient, ist nicht geplant, und deshalb kann man auch
nicht aus ihm herausfinden, indem man einen Prinzip folgt. Es zwingt uns zum
Herumtasten und Herumtappen.“
247
Ebd. S. 95: „Das Netz muß so geknüpft sein, daß Aussicht auf unerwartete
Beute besteht. Das Netz muß ‚sehen’ können, was die bloßen Sinne des Erbau-
ers nicht vorwegzunehmen vermögen. Aber es darf auch nicht zu fein gespon-
nen sein.“
248
Ebd. S. 89, sowie Kubler, George 1982: „Jeder Künstler arbeitet im Dunkeln
und wird nur von den Tunneln und Schächten früherer Werke geleitet, wäh-
rend er einer Ader folgt in der Hoffnung, auf eine Goldgrube zu stoßen.“ In: Die
Form der Zeit. Anmerkungen zur Geschichte der Dinge. Frankfurt, S. 71-78.
177
„Der reproduktive Charakter des Experimentalprozes-
ses hängt damit zusammen, daß er eine nicht abrei-
ßende Kette von Ereignissen darstellt, durch welche
die materiellen Bedingungen zur Fortsetzung eben
dieses Experimentalprozesses erhalten bleiben. Ein
Experimentalsystem zu reproduzieren heißt Bedin-
gungen aufrechterhalten – epistemische Objekte, Re-
gistriervorrichtungen, Modellorganismen, verkörper-
tes Wissen, Erfahrenheit –, auf deren Basis es weiter
proliferieren kann. Letztlich ist jede Innovation in ei-
nem grundlegenden Sinn ein Resultat – vielleicht eher
noch ein Zufall, ein Abfall – solcher Reproduktion.“249

Sind diese von Rheinberger genannten Bedingungen der Reproduktion nicht


gegeben, kann ein Experimentalsystem letztlich keine Ergebnisse generieren
und die Sicherheit bieten, dass es sich um eine exakte Auswertung von Experi-
mentalprozessen handelt. Kurz gesagt: Funktionieren die Messvorrichtungen
etc. nicht richtig, kann weder ein konsistentes, reproduzierbares Forschungser-
gebnis erzielt werden, noch ist es möglich – und das ist für Rheinberger letzt-
lich der wichtigere Punkt – eine relevante Abweichung, bzw. Differenz zur kon-
tinuierlichen Reproduktion als solche mit Sicherheit zu erkennen, womit die
Sicht auf Neue verstellt wäre. Die Kontrolle der sich kontinuierlich reproduzie-
renden materiellen Bedingungen des Experimentalprozesses führt nach Rhein-
berger zu dessen „Kohärenz“ und beruht auf der Methode der permanenten
„Wiederholung“ unter Rückgriff auf „Vorhandenes“.250 Dies kann sich einerseits
auf die Entwicklung neuer Experimentalsysteme beziehen, die ja selbst auch
nie als vollständig Neues in die Welt kommen, sondern immer schon Bekann-
tes und Vorhandenes aufgreifen, neu anordnen und in eigener Weise umset-
zen. Oder aber es kann auf die Funktion eines Experimentalsystems in sich
verweisen, da der Experimentator immer und immer wieder denselben Ver-
such durchführt. Durch diese permanente Wiederholung derselben Vorgänge

                                                                                                           
249
Ebd. S. 90.
250
Ebd. S. 89.
178
durch oder in dem Experimentalsystem taucht im besten Falle irgendwann
eine Differenz auf, eine Ungereimtheit, eine zwar erhoffte, aber nicht konkret
erwartete Abweichung. Es ist nach Rheinberger unmöglich, anhand des De-
signs des Experimentalsystems vorherzusagen, wie und wo diese relevante
Differenz, die das Neue als Gestalt vom Bekannten absetzt, entstehen wird, da
es „gerade nicht durch die dafür vorhergesehene Pforte, sondern durch den
unvorhergesehenen Riß in der Wand“ kommt.251 Das Neue entsteht bei Rhein-
berger also durch einen Mechanismus, der sowohl auf dem – planbaren – Prin-
zip der Wiederholung, als auch auf dem – nicht planbaren – Zufall der Differenz
beruht.

Nun kann man berechtigterweise fragen, ob es sich bei dieser Vorstellung der
Entstehung des Neuen durch differentielle Reproduktion, wie Rheinberges es
nennt, nicht um einen Widerspruch oder gar um ein Paradox handelt. Denn
einerseits fordert Rheinberger die kontinuierliche und exakte Reproduktion des
Experimentalsystems, verlangt dann aber auf der anderen Seite, dass es einen
„unvorhergesehenen Riß“ haben solle, so dass Neues, eine echte und relevante
Differenz durch das System entstehen kann. Wie lässt sich etwas nicht Geplan-
tes planen? Wie etwas Unvorhersehbares vorbereiten?

Rheinbergers Antwort auf diese Widersprüchlichkeit setzt sich aus zwei Teilen
zusammen. Zum einen bezieht er sich immer wieder auf die notwendige Erfah-
rung des agierenden Experimentators. Dieser sollte durch seine bisherige For-
schungspraxis im besten Fall über ein implizites, „stummes“ Handlungswissen
verfügen, so dass er in der Praxis des „Herumtappens“ und „Herumtastens“, die
nach Rheinberger besonders gut dazu geeignet sein soll, Differenzen zu gene-
rieren, bewandert ist.252 Letzten Endes geht mit der, wie man sagen könnte,
betont „handlastigen“ Praxis des Herumtappens nicht nur eine Abwertung der
klassisch begrifflichen und rein zeichenhaften Repräsentationspraxis253 der
                                                                                                           
251
Ebd. S. 133.
252
Vgl. dazu ebd. S. 89: Die Suche nach dem Neuen ist für Rheinberger abhän-
gig von der „tastenden Suche nach Differenzen“; ebenso S. 92: „Sich tastend
zurechtfinden erfordert vom Experimentator ‚Erfahrenheit’.“ Sowie: „mit den
Händen denken.“
253
Vgl. dazu ebd. Kapitel 6: Räume der Darstellung, S. 126-138. Rheinberger
schlägt anstelle von Repräsentationen vor, eher von „Spuren“ zu reden, die
179
Wirklichkeit durch das Experimentalsystem und den Experimentator einher,
sondern auch die Forderung einer „gemäßigten Schlampigkeit“, die schon der
Biophysiker Max Delbrück vor rund 60 Jahren beschrieben hat.254 Es ist also von
Vorteil, wenn der Experimentator es bei der Planung und Ausführung seines
Experimentalsystems nicht zu genau nimmt, da eine übertriebene Genauigkeit
lediglich belanglose, da bereits bekannte Replikate mit sich bringen würde.
Agiert der Experimentator hingegen etwas „schlampig“, so öffnet sich der
Raum für Risse und Zufälle, die für Rheinberger die Ausgangspunkte jeglicher
Innovation sind.

Der zweite Teil der Antwort auf die vermeintliche Widersprüchlichkeit ergibt
sich im Anschluss an die geforderte „gemäßigte Schlampigkeit“ des Experi-
mentators. Ebenso wie der Wissenschaftler sollte auch das Experimentalsys-
tem ein wenig „nachlässig“ gebaut sein, so dass Zufällen und damit dem Ent-
stehen des Neuen ein Raum gegeben wird. Alles in allem leisten die Antworten
Rheinbergers keine Auflösung des Widerspruchs zwischen Reproduktion und
Differenz, sondern tragen eher dazu bei, die Spannung zwischen ihnen zu er-
halten und sie als produktive Quelle des Neuen zu nutzen. Aus dieser Span-
nung ergeben sich aber auch die hohen Anforderungen sowohl an die prakti-
sche Virtuosität als auch an die epistemischen Tugenden des Experimentators.
Rheinberger gibt ein grosses Stück der Kontrolle in der objektivierenden Suche
nach dem Neuen im Experimentalsystem auf und muss diese dann durch eine
stärkere Betonung der individuellen Fähigkeiten des Experimentators zurück-
gewinnen.

Zusammenfassend kann man sagen, dass Innovationsprozesse im Experimen-


talsystem nicht determiniert werden können. Im Gegenteil: Eine zu engma-
schige Planung und Kontrolle des Experimentalsystems verfehlt laut Rheinber-
ger ihr Ziel, da „im Innersten“ jedes Experimentieren „viel mehr ein Geschehen-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 
durch das Experimentalsystem konfiguriert werden, da es „weder konzeptuell
noch materiell so etwas wie eine unproblematische Repräsentation eines Wis-
senschaftsobjekts im Sinne einer unmittelbaren Abbildung von etwas ‚da
draußen’ gibt.“ Ebd. S. 129.
254
Max Delbrück zitiert nach einem Brief an seinen Freund Salvador Luria im
Herbst 1948. In: Fischer, Ernst Peter 1988: Das Atom der Biologen. Max Delbrück
und der Ursprung der Molekulargenetik. München, S. 152.
180
lassen als ein streng geregeltes, direktes Ausgreifen und Vorpreschen“ sei. Die
„Ränder“ eines jeden Forschungsprojektes sollten daher „verschwommen“ sein
und „ein gewisses Maß an Ausfransung“ aufweisen.255 Neues entsteht hier also
einerseits in der engen und doch nur impliziten Verwebung des Experimenta-
tors mit seinem Experimentalsystem. Die andauernde Reproduktion, sprich
Wiederholung, des immer Selben im und durch das Experimentalsystem pro-
duziert das Neue als Differenz zu sich selbst. Die Entstehung des Neuen kann
damit im weitesten Sinne als ein Akt der Analyse, im wörtlichen Sinne der Her-
auslösung verstanden werden, bei dem das Unbekannte vom Bestehenden
durch beständige Wiederholung abgeschieden wird.

Im Folgenden gilt zu klären, ob und inwiefern die für das grosse Werk zentrale
alchemistische Wiederholung, die Sublimation, das Neue ebenfalls „analytisch“
als eine Differenz zum Bestehenden erzeugt, oder ob hier eine andere Vorstel-
lung von der Schöpfung des Neuen in der Wiederholung vorliegt.

Form und Materie

In Kapitel 3.1. und 3.2 wurden die für das alchemistische Werk relevanten epis-
temologischen Voraussetzungen beschrieben: die Unterscheidung zwischen
der eigentlichen Schöpfungskraft und dem Prozess der Schöpfung, die Veror-
tung der Schöpfungskraft in der Natur, das solve et coagula Prinzip sowie das
Prinzip des Strebens nach Vollkommenheit aller natürlicher Dinge und Wesen,
welche es dem Adepten ermöglichen, das alchemistische Werk zu beginnen,
auch wenn es die Natur ist, die letztlich schöpft. Insbesondere habe ich das al-
chemistische solve-Prinzip detailliert beschrieben, das auf einer Angleichung
des Adepten auf epistemologischer und methodischer Ebene beruht, so dass
die Natur mit ihm und durch ihn schöpfen kann. Hierzu muss Gleiches mit
Gleichem vereint werden, ebenso wie dies in der Natur auch ohne Einwirkung
des Adepten fortlaufend geschieht. Wären also sowohl der Adept als auch die

                                                                                                           
255
Rheinberger 2006, S. 95.: „Ein gewisses Maß an Ausfransung, etwas ver-
schwommene Ränder gehören zum experimentellen Unternehmen. Im Inners-
ten ist das Experimentieren viel mehr ein Geschehenlassen als ein streng gere-
geltes, direktes Ausgreifen und Vorpreschen.“
181
verwendeten Verfahren nicht naturgemäss, so würde das alchemistische Werk
nicht zum Ziel führen. Die Notwendigkeit der gegenseitigen Gleichmachung
drückt sich im solve-Prinzip der Alchemie aus, Schöpfung wird nur durch Zeu-
gung garantiert. Das Streben nach Vollkommenheit begünstigt dabei die Be-
reitschaft der an sich als vollkommen und selbständig gedachten Natur sich
auf ein solches Unterfangen mit dem Alchemisten einzulassen, da er ihr dabei
helfen kann, das Werk schneller auszuführen als ohne sein Dazutun. Nach der
Einlösung der sich aus dem solve-Prinzip ergebenden Forderungen, kann die
Vereinigung, sprich eigentliche Zeugung des Neuen beginnen, das coagula,
welches ich im letzten Kapitel zwar erwähnt und eingeordnet, aber nicht wei-
ter im Detail beschrieben habe. Dieses Kapitel beschäftigt sich daher einge-
hender mit dem coagula-Prinzip der Alchemie, das im Verfahren der Sublimati-
on praktisch und stofflich umgesetzt wird und eine Begründung der Dauer des
alchemistischen Werkes mit sich bringt.

Anders als das solve-Prinzip bezieht sich das coagula-Prinzip weniger auf die
epistemologischen Voraussetzungen, denn auf den konkreten Akt und Mo-
ment des Schöpfens bzw. Zeugens im alchemistischen Laboratorium. Mit der
Betrachtung des konkreten Aktes wird hier aber keine praxeologische Perspek-
tive in den Blick genommen, sondern die performative Metaphysik der Alche-
mie, die sich im und mit dem Stofflichen realisiert. Eine Praxeologie bemüht
sich um konkrete Aussagen zu allem Technisch-Stofflichen. Die performative
Metaphysik des Neuen hingegen beschreibt das Verhalten des Adepten als na-
turphilosophische Reflexion im Medium der Praxis. Das heisst, das alchemisti-
sche Werk wird weder ausschliesslich als materielle Praxis im Sinne Newmans
und Principes verstanden, noch als rein spiritualistisches und psychologisches
Projekt wie bei Jung. Es geht darum, die metaphysischen Überlegungen der
Alchemiker in einer stofflichen Praxis stattfinden zu lassen und nicht als „rei-
ne“, theoretische Metaphysik aufzufassen, wie es auch schon Ganzenmüller
forderte.

In Zentrum des alchemistischen coagula steht eine spezifische alchemistische


Operation, die Sublimation, die als eine Form der Wiederholung verstanden
werden kann. Durch Sublimation ist der Adept imstande, die an sich „flüchti-
ge“, weil selbständige Schöpfungskraft der Natur, auch als „Geist“ bezeichnet,
182
in einem bis dahin unvollkommenen Stoff – den Körper – zu fixieren, so dass er
in den Stein der Weisen verwandelt werden kann, bzw. in ihn eingeht. Die Sub-
limation findet dabei in einem verschlossenen Gefäss statt, so dass das Flüch-
tige, also die Schöpfungskraft der Natur, nicht entkommen und durch perma-
nente Hitzezufuhr dazu gebracht werden kann, sich mit dem Unvollkommenen
zu vereinigen. Im Laufe dieses zyklischen Prozesses der Erhitzung nimmt das
vollkommene, flüchtige Prinzip immer wieder einen Teil des unvollkommenen
in sich auf, steigt hinauf, das heisst es verdampft und regnet, bzw. tropft da-
nach wieder auf den restlichen Teil des unvollkommenen Körpers hinab, so
lange, bis beide Teile miteinander „vereint“ sind und nichts mehr „aufsteigen“
kann. Das Neue wird geschaffen, in dem Schöpfungskraft der Natur stofflich
fixiert wird. Anders als im Rheinberger’schen Modell ist die Wiederholung also
keine Reproduktion des Gleichen, von der sich in einem gegebenen Moment
das Neue als Differenz analytisch absetzt, sondern ein eher synthetisierendes
Unterfangen. Doch anders als bei modernen rekombinatorischen Synthese-
Vorstellungen von der Entstehung des Neuen, die für gewöhnlich auf einer
Elemente-Lehre und entsprechenden Syntheseprinzipien beruhen, forderte die
Alchemie im Gegenteil die maximale Formlosigkeit der Ausgangsmaterie (pri-
ma materia). Das Neue wird erschaffen, indem die zyklisch wirkende und nicht
fixierte Schöpfungskraft der Natur in der prima materia fixiert wird. Dieser
Vorgang vollzieht sich als wiederholte Fixierung eines flüchtigen Stoffes in ei-
nem festen, als Fixierung der Geister. (spiritus fixi). Der Stein der Weisen bildet
das emblematische Signum für die stoffliche Fixierung der Schöpfungskraft der
Natur.

Wie sich unschwer an dieser ersten Skizze des coagula-Prinzips erkennen lässt,
müssen einige Begriffe geklärt werden, um zu einem tieferen Verständnis der
Sublimation zu gelangen. Was ist ein alchemistischer Körper? Was ist ein al-
chemistischer Geist? Was genau bedeutet es, die Schöpfungskraft der Natur im
Stein der Weisen stofflich zu fixieren? Handelt es sich damit nicht doch um ein
objektiviertes Endprodukt? Und welchen Zusammenhang weisen diese Kon-
zepte mit Schöpfungszeit der auf, bzw. wie kann man diese beeinflussen?

183
Beginnen wir mit der einfachsten und grundlegendsten Unterscheidung der
alchemistischen Materievorstellung: der Unterscheidung zwischen Form und
Materie (Hylemorphismus). Diese Unterscheidung übernahmen die Alchemis-
ten von Aristoteles,256 der in seiner Naturphilosophie davon ausgeht, dass alles
Seiende in der Welt aus einer Art gemeinsamen, passiven Urstoff besteht, der
hylé, sowie einer bewegenden, aktiven Tätigkeit, der energeia. Erst die Form
(morphé), die der Urmaterie durch energeia aufgeprägt wird, bringt die uns be-
kannten Unterschiede der Dinge in der Welt hervor. Für die Alchemisten war
diese Unterscheidung zwischen Form und Materie insbesondere deshalb von
Bedeutung, da mit ihrer Hilfe die Umwandlung von Materie prinzipiell denkbar
und so das Werden und Vergehen überhaupt erst begreifbar gemacht werden
konnte. So kann beispielsweise der Mensch einem Stück Holz eine neue Form
geben, indem er es zerkleinert und einen Tisch daraus baut. Oder die Natur
kann einen trockenen Stein durch Regen in einen feuchten Stein verwandeln.
Erst die Form verleiht den konkreten Dingen in der Welt ihre spezifischen Ei-
genschaften. Die Materie hingegen birgt als reine Potenz die Möglichkeit, alles
zu sein und zu werden. Für die Transmutationsalchemie ist genau diese Eigen-
schaft der Materie von zentraler Bedeutung. In keiner einzigen Textstelle im
Rosariums wird diese zentrale Unterscheidung von Form und Materie in Frage
gestellt. Der Verfasser des Rosariums agiert, denkt und schreibt vor dem Hin-
tergrund dieser Unterscheidung.

Bei Aristoteles wird die prima materia, die formlose Urmaterie, als rein meta-
physisches Prinzip verstanden, das real nie ohne Form existieren kann. Reine
hylé gäbe es demnach nie greifbar. Doch die Alchemie entwickelte aufgrund
ihres transmutatorischen Interesses diesen ursprünglich rein metaphysischen
Gedankengang im Konkreten und Praktischen fort und ging davon aus, dass es
durchaus möglich sein müsste, einen beliebigen Körper durch geeignete Ver-
fahren in prima materia zu überführen, so dass dann eine neue Form auf die-
sen reinen Körper übertragen werden könnte. Um den Stein der Weisen aus
einer solchen prima materia herzustellen, benötigt der Alchemist neben dem

                                                                                                           
256
Vgl. dazu Aristoteles 1989/1991: Metaphysik. Griechisch–deutsch. Neubear-
beitung der Übersetzung von Hermann Bonitz. Griechischer Text in der Edition
von Wilhelm Christ, 3. verbesserte Auflage, Hamburg.
184
Körper auch eine Seele sowie den Geist257. Betrachten wir hierzu folgende Be-
schreibung aus dem Rosarium:

„Die Philosophen haben gesagt, daß unser Stein aus


Geist, Körper und Seele besteht; damit sagen sie die
Wahrheit. Sie haben nämlich den unvollkommenen
Körper als ‚Körper’ bezeichnet, das Ferment als ‚Seele’,
das Wasser als ‚Geist’, und sie haben gewiss recht.
Denn der unvollkommene Körper für sich ist ein
schwerer, kranker und toter Körper. Wasser ist Geist,
der den Körper reinigt, ihn verfeinert [...]. Ferment ist
die Seele, die dem unvollkommenen Körper Leben ver-
leiht, das es vorher nicht besessen hat und ihn in eine
bessere Form überführt.“258

Der Stein der Weisen besteht also aus Körper, Seele und Geist, wobei jeder die-
ser drei Bestandteile eine spezifische Rolle im alchemistischen Werk zu spielen
hat. Der Körper erscheint als mangelhaftes Wesen, das „krank“, „tot“ und
„schwer“ ist und daher geradezu um Verwandlung hin zum Besseren zu ersu-
chen scheint. Der Geist taucht als eine Art reinigendes Prinzip auf, ähnlich dem
Wasser, das den unvollkommenen Körper von seinen Beschwerden zu heilen
vermag. Was versteht der Autor des Rosariums unter einer alchemistischen
Seele?

Die alchemistische Seele: das Ferment der Schöpfung

Schöpfung findet in der Natur immer nur statt, wenn ein „Samen“ vorhanden
ist, aus dem Gleiches erwachsen kann. Das heisst, so wird im Rosarium ausge-
                                                                                                           
257
Die Verwendung der drei Bestandteile – Körper, Seele und Geist – im alche-
mistischen Werk legen eine Nähe des alchemistischen Denkens zur christlichen
Dreifaltigkeit nahe, die jedoch durch den Verfasser des Rosariums an keiner
Stelle des Textes Erwähnung findet und daher hier – anders als etwa bei C. G.
Jung –auch nicht weiterverfolgt wird.
258
RP, S. 39.
185
führt, um etwa eine neue Brombeerstaude zu erhalten, muss ein Samen in den
Boden gesät werden, ebenso wie der Esel nur dann einen neuen Esel mit einem
weiteren Esel zeugen kann, wenn ein „Eselssame“ vorhanden ist. Dieses Prinzip
konnten die Alchemisten in der Natur beobachten, und da alchemistische
Schöpfung als Zeugung gemäss natürlicher Schöpfung zu denken und zu voll-
ziehen war, benötigt auch das alchemistische Werk einen Samen. Um der Voll-
kommenheit der natürlichen Schöpfungskraft möglichst nahe zu kommen,
musste dieser Samen aus einem Metall bestehen, genauer gesagt aus Gold, als
edelstem, ältestem und vollkommenstem Stoff auf Erden. Das Gold war, wie
bereits dargelegt, die Sonne unter den Metallen und stellt die konkrete stoffli-
che Form der Perfektion auf Erden dar. Diese Form konnte sodann in den als
unvollkommen gedachten alchemistischen Körper eingehen und zu seiner
neuen Seele gedeihen. Diese Wirkungsweise des „Eingehens“ des Goldsamens
in einen Körper stellte sich der Verfasser des Rosariums ähnlich der des „Sauer-
teigs“ vor, der imstande ist, den ganzen Teig zu „zersetzen“ und zu „verwan-
deln“, sobald man ihm dem Teig zugibt.259 Analog sollte ein Goldsame einen
unvollkommenen Körper, wie zum Beispiel unedle Metalle, zersetzen und voll-
ständig verwandeln können.

Die alchemistische Seele wirkt demnach wie ein Samen oder Ferment und ist
daher imstande, seine eigene Form in einen anderen Körper einzubringen. Da
die Natur Neues nur durch die Vereinigung von Gleichem mit Gleichem erzeu-
gen kann, ergibt sich hier ein metaphysisches Problem, das bislang noch nicht
thematisiert wurde. Denn obwohl der Adept seine Methoden und Vorstellun-
gen der Natur angleichen kann, ein Unterschied bleibt immer bestehen: Um
vollständig im Bild der naturgemässen Zeugung zu bleiben, müsste der Alche-
mist bereits über einen Stein der Weisen verfügen, um einen neuen Stein der
Weisen durch Zeugung erschaffen zu können. Gleiches entsteht aus Gleichem.
Offensichtlich liegt den Alchemisten jedoch noch kein Stein der Weisen vor,

                                                                                                           
259
Vgl. dazu RP, S. 93: „Denn Gold ist das Ferment des Elixirs (Synonym Stein der
Weisen, Anm. SB), ohne das nichts zu erreichen ist.“ Sowie ebd., S. 104: „[...] da-
her heißt es (das Gold, Anm. SB) Ferment. Denn ohne dieses wird kein Wachs-
tum verbessert. Wie schon eine kleine Menge Sauerteigs (fermentum) den gan-
zen Teig zersetzt, d.h. verwandelt und aufgehen läßt, so geschieht es auch bei
unserem Stein.“
186
geht es doch darum, den ersten zu erschaffen. Dieses Dilemma steht im Zent-
rum des coagula-Prinzips. Der Adept mag imstande sein, Neues ebenso wie die
Natur durch Zeugung zu schöpfen, und daher sich selbst in seinem Denken
und Handeln sowie seine Verfahren, Gefässe und Methoden dieser Vorgabe
anzupassen, die grundlegende stoffliche Ungleichheit zwischen ihm, seinen
verwendeten Stoffen und Materialien und der Schöpfungskraft der Natur, die
es im Stein der Weisen zu materialisieren gilt, jedoch bleibt bestehen. Auf der
Seite der grundlegenden Verfahren (Schöpfung durch Zeugung, etc.) gelingt es
dem Alchemisten naturgemäss zu handeln und sich der Natur ein Gleiches zu
machen, doch auf der stofflichen Seite kann es ihm nicht gelingen. Um der na-
türlichen Schöpfungskraft dennoch Rechnung zu tragen, muss der Adept einen
Umweg gehen. Dieser Umweg besteht zum einen darin, dass gemäss der Na-
tur ein bestmöglicher Samen, die alchemistische Seele, im grossen Werk ver-
wendet wird, und zum anderen in einer spezifischen Behandlung des alchemis-
tischen Körpers.

Der alchemistische Körper: opus contra naturam

Schöpfung findet statt, wenn Gleiches mit Gleichem zusammenkommt. Der


bestmögliche Samen, der Goldsamen, lag den Alchemisten vor. Doch der Kör-
per, in dem dieser Samen wirken und seine Form einprägen sollte, hatte ge-
mäss des aristotelisch-alchemistischen Hylemorphismus bereits eine eigene
Form.

Die Schlussfolgerung des Alchemisten bestand in der Weiterentwicklung der


aristotelischen Lehre darin, dass in einem ersten Schritt, die bestehende Form
des unvollkommenen Körpers zerstört werden musste, um prima materia zu
erhalten. Erst die formlose prima materia war imstande, jedwede Form anzu-
nehmen, so auch die des Goldsamens. Doch was genau war der Ausgangskör-
per, der abgetötet werden musste? Welche Eigenschaften musste er haben,
um möglichst leicht in prima materia verwandelt werden zu können?

Anhand des Rosariums lässt sich nicht sagen, welchen konkreten Stoff die
Adepten als Ausgangstoff verwendeten. Der Verfasser äussert sich dazu nicht.

187
Vermutlich verwendeten die Alchemisten individuell verschieden unedle und
daher als unvollkommenen betrachtete Metalle wie Blei, Eisen, etc. oder auch
Schwefelverbindungen.260. Trotz dieser aus technowissenschaftlich interessier-
ter Sicht unbefriedigenden Antwort lässt sich durchaus eine wichtige Aussage
über den alchemistischen Körper als Ausgangsstoff der Transmutation treffen:
Er musste möglichst unvollkommen sein, möglichst weit vom Ideal eines per-
fekten Körpers, wie dem des Goldes, entfernt sein. Dies galt es deshalb zu be-
achten, da es für die Alchemisten eine Grundeigenschaft der Perfektion und
Vollkommenheit war, möglichst beständig zu sein, ebenso wie die Natur selbst.
Würde der Alchemist nun mit einem mehr oder weniger vollkommenen Körper
arbeiten, so wäre es sehr viel schwieriger, seine Form zu zerstören und ihn in
prima materia zu überführen. Nur durch die Verwendung eines unvollkomme-
nen Körpers konnte die Wahrscheinlichkeit erhöht werden, prima materia zu
erhalten. Dieser Moment des coagula wird auch als „Tötung“ (mortificatio),
nigredo oder „Zersetzung“ (putrefactio) beschrieben. Dem unvollkommenen
Körper seine Form zu entreissen, wird als Tod seiner Form, bzw. Seele verstan-
den. Da der Adept davon ausging, dass er den unvollkommenen Körper von
seiner unvollkommenen, „kranken“ Form befreite, wird dieser Moment des
Werkes bisweilen auch als „Reinigung“ und „Heilung“ beschrieben. Die dabei
zu beobachtende Farbe im alchemistischen Gefäss ist die Schwärze, das nigre-
do. Die hierbei eingesetzten konkreten Verfahren waren wahrscheinlich, hierzu
schweigt das Rosarium, jedwede Form von Hitzeeinwirkung, Verbrennung, Ko-
chen, Schmelzen, Auflösung, etc. Wiederum lässt sich der Prozess nicht einfach
in ein heutiges physikochemisches Vokabularium übersetzen. Im Sinne einer
performativen Metaphysik ging es auch nicht darum, ein spezifisches stoffli-
ches Verfahren festzuhalten, sondern darum, die Schöpfungskraft der Natur
nicht nur im Denken, sondern im Umgang mit Materie zu reflektieren. Bemer-
kenswert ist jedoch, dass das nigredo der einzige Moment im gesamten alche-
mistischen Werk ist, in dem der Alchemist nicht gemäss und mit der Natur
                                                                                                           
260
Es liesse sich an dieser Stelle einwenden, dass der Alchemist am besten
pflanzliche Stoffe oder tierisches Material verwenden sollte, da diese ja, wie
weiter oben im Text beschrieben, als ausgesprochen unvollkommen betrachtet
wurden. Dagegen spricht allerdings die Forderung, den Prozess im Dunkeln
und „unter der Erde“ stattfinden zu lassen. Siehe dazu den nächsten Abschnitt
zum alchemistischen Geist.
188
handelt. Wie oben beschrieben wurde verfolgt jeder Stoff in der Natur auf-
grund seines Strebens nach Vollkommenheit das Ziel, seine Form möglichst zu
erhalten.261 Durch die Zerstörung der Form des Körpers handelt der Alchemist
zum ersten und einzigen Mal im Laufe seines Werkes nicht mit, sondern gegen
die Natur, so dass dieser Teil des Werkes im Rosarium auch als „opus contra
naturam“ bezeichnet wird.262 Es sei daher auch „leichter, Gold herzustellen, als
es zu zerstören“, da es den höchsten Vollkommenheitsgrad bereits erreicht und
seine „Eigenschaften und Vorzüge mit Hilfe der Wärme der Himmels- und der
Planetenbewegung erworben“ hat, „die aus sich selbst hervorzubringen un-
möglich ist“.263 Wenn es schwerfällt, vollkommenere Körper auf Erden zu zer-
stören, so ergibt sich die Notwendigkeit, das Werk mit einem möglichst unvoll-
kommenen Körper zu beginnen. Und selbst dann, so betont der Verfasser die
ungemeine Schwierigkeit, die sich dem Adepten im Zuge dieser Zerstörung des
unvollkommenen Körpers hin zur prima materia stellt, und wie gross deshalb
die Freude sein sollte, sobald sich die „Schwärze“264 erst einmal einstellt:

„Und wenn du siehst, wie dein Stoff schwarz wird,


dann freue dich: denn das ist der Beginn deines Wer-
kes.“265

Einzig durch diesen Umweg über das nigredo hatte der Alchemist die Möglich-
keit, Neues zu schöpfen ohne Gleiches vorliegen zu haben. Dass die so erschaf-
fene prima materia bereit ist, die Form des Goldsamens in sich aufzunehmen,
begründet der Adept wiederum mit dem Streben nach Vollkommenheit, das
alle Dinge aufweisen. Es ist demnach ein Leichtes, einem von jeder Form befrei-

                                                                                                           
261
Vgl. dazu den Abschnitt zum Streben nach Vollkommenheit in dieser Arbeit.
262
Streng genommen zählt damit das opus contra naturam, beziehungsweise
nigredo, zum Teil auch zum solve-Prinzip der Alchemie, wurde allerdings aus
darstellerischen Gründen erst jetzt ausgeführt, da im vorherigen Kapitel der
Fokus auf den nichtstofflichen epistemologischen Voraussetzungen des al-
chemistischen Werkes lag.
263
RP, S. 34. sowie S. 35.
264
In der alchemistischen Bildsprache wird das nigredo häufig durch das Sym-
bol eines Raben oder auch Skeletts dargestellt.
265
RP, S. 55.
189
ten Körper eine neue Form zu verleihen, insbesondere, wenn es die höchste
Form ist, die des Goldes:

“Wird nämlich die eine Form zerstört, so nimmt die


Natur sofort eine andere Form an, die bessere und fei-
nere.“ 266

Der alchemistische Geist: die Sublimation

Dem Adepten liegt zu Beginn seines Werkes die Seele des Steins der Weisen vor
– in Form eines geeigneten Samens (das Gold) – sowie der abgetötete Körper,
als eine von allen Unvollkommenheiten befreite prima materia. Beide vereini-
gen sich miteinander und doch lässt sich daraus alleine noch kein Stein der
Weisen herstellen, denn es fehlt nach wie vor die Schöpfungskraft der Natur,
der alchemistische Geist. Zwar sind alle natürlichen Stoffe den Alchemisten
zufolge vom Schöpfungsgeist der Natur durchwirkt, da sie durch sie geschaffen
sind. Doch die Vereinigung von totem Körper und Seele mündet als Folge des
opus contra naturam in einem „Leychnam“. Schöpft der Alchemist gegen die
Natur, indem er dem unvollkommenen Körper seiner Seele und damit seiner
Form und Natur beraubt,267 so ist dies zwar einerseits erfreulich, da durch die so
erhaltene prima materia die Transmutation des Körpers überhaupt erst statt-
finden kann, gleichzeitig hat dieses Werk gegen die Natur seinen Preis: der Tod
des Stoffes.

                                                                                                           
266
RP, S. 56
267
RP, S. 58-59: „Denn die Form ist die Natur eines jeden Dings.“
190
Abbildung 11 Alchemistischer „Leychnam“ im Bildgedicht des Rosariums

Die beiden schwarzen Raben am Boden des sargähnlichen Gebildes verweisen


auf die vorangegangene Tötung des Körpers. Ein Rabe steckt daher noch halb
in der Erde fest, da die Erde ein weiteres Symbol der Schwärze des nigredo so-
wie gleichzeitig ein Hinweis auf die formlose hylé der Alchemie, auf die prima
materia ist. Der zweigeschlechtliche tote Hermaphrodit verweist auf den ge-
schlechtlichen Akt der Zeugung des Stoffes durch den Goldsamen mit der pri-
ma materia. Beide liegen nun im alchemistischen Hermaphroditen vereint als
Leichnam im Sarg.268 Oberhalb des Hermaphroditen erkennt man den alche-
mistischen Geist am Himmel, der sich aus den Wolken Richtung Leichnam her-
abzubewegen scheint, was der Beginn der zentralen alchemistischen Operati-
on ist: der Sublimation.

                                                                                                           
268
Vgl. hierzu auch Frietsch, Ute 2013: Häresie und Wissenschaft. Eine Genealo-
gie der paracelsischen Alchemie. München, S. 157ff.
191
Für die Alchemie war der Geist die Schöpfungskraft der Natur. Daher benötigte
ein alchemistisches Werk mehrere Körper, aber immer nur einen Geist, da es
nur eine Natur und entsprechend nur eine Schöpfungskraft gibt:

„Sie reden vom Körper in der Mehrzahl, weil es näm-


lich mindestens zwei sein müssen. Vom Geist reden
sie in der Einzahl, und das ist recht so, weil er nur ein
einziger ist.“269

Wenn die Herstellung des Stein der Weisen die stoffliche Fixierung der Schöp-
fungskraft der Natur ist und der Adept aufgrund der zuvor beschriebenen
stofflichen Differenz zum Umweg über ein opus contra naturam gezwungen
wurde, so erhält er zwar eine durch Zeugung erreichte Vereinigung („Körper in
der Mehrzahl“), die einen Hermaphroditen hervorbringt und Grundbedingung
jeder Schöpfung ist. Doch gleichzeitig ist dieser Hermaphrodit ohne Leben,
bzw. ohne Geist und tot, da gegen die Natur gehandelt wurde und Ungleiches
zusammengebracht wurde. Die Schöpfungskraft der Natur ist der Geist und die
lebendige Kraft, das alles Neue entstehen lässt. Wenn der Stein der Weisen
diese Kraft verkörpern soll, so muss der Geist in irgendeiner Art und Weise wie-
der in den Leichnam des abgetöteten Körpers hineingebracht werden. Diese
geschieht durch Sublimation.

Es ist an dieser Stelle bemerkenswert, wie sich die Alchemie sogar das ver-
meintlich Immateriellste der Natur, ihre Schöpfungskraft, in seiner stofflicher
Umsetzung imaginierte. So tritt dann auch der alchemistische Geist im Rosari-
um als Stoff auf, als Quecksilber, auch genannt „unser Merkur“, „unser Mercu-
rius“, „unser Wasser“. Ebenso wie durch das Gold die höchste Vollkommenheit
auf Erden stofflich verwirklicht wird, so ist dies auch im Falle des Quecksilbers
der Fall.270 Quecksilber verkörpert die Schöpfungskraft der Natur, ebenso wie
das Gold die Sonne auf Erden. Die Schöpfungskraft der Natur ist jedoch als

                                                                                                           
269
RP, S. 67.
270
Siehe hierzu im Kontrast das Quecksilber im paracelsischen Kontext in
Frietsch, Ute 2013: Häresie und Wissenschaft. Eine Genealogie der paracelsi-
schen Alchemie. München, S. 158ff.
192
höchst flüchtiges, nicht greif- und kontrollierbares Prinzip zu verstehen, als na-
tura naturans, so dass im Gegensatz zum Gold, das sich vor allem durch Be-
ständigkeit, hohes Alter und Schönheit auszeichnet, andere Qualitäten relevant
sind. Wieso schreiben die Alchemisten genau dem Quecksilber diese Eigen-
schaften der Schöpfungskraft zu?

Vergegenwärtigen wir uns nochmals das solve-Prinzip der Alchemie, das dem
alchemistischen coagula immer als Bedingung vorangestellt ist. Es besagt, dass
Schöpfung nur naturgemäss vollzogen und vollbracht werden kann. Die Frage,
die sich der Adept daher stellen muss, ist, wie sich der schöpferische Geist der
Natur stofflich äussert. Eine erste Antwort auf diese Frage lieferte das coagula-
Prinzip seinem Namen nach: Schöpfung ist Zeugung und läuft geschlechtlich
durch Paarung von Gleichem mit Gleichem ab. Diese Bedingung kann der Al-
chemist auf methodischer und imaginativer Ebene erfüllen, jedoch nie auf der
stofflichen, da ihm kein Stein der Weisen vorliegt, aus dem er einen weiteren
erzeugen könnte. Daher ist er gezwungen, die Zeugung mit Ungleichem zu
vollziehen. Doch das Ergebnis dieser Operation ist aufgrund des opus contra
naturam nicht ein lebendiges Neues, sondern ein toter Hermaphrodit, ein Stoff
mit Form und Seele, aber ohne Geist. Der Adept muss sich daher weiter fragen,
wie die Natur Schöpfung trotz Vereinigung des Ungleichen und dem daraus
resultierenden Tod realisieren kann. Dem solve-Prinzip weiterhin folgend, er-
kennt der Alchemist diese Antwort in der Natur:

Daser Prinzip der natürlichen Schöpfung findet sich in einem spezifischen Pro-
zess wieder, der Wiederholung. Alles Neue auf Erden entsteht für die Adepten
durch einen andauernden zyklischen Prozess des Geborenwerden, Wachsens,
Vereinigens und Sterbens,271 so vollzieht sich für gewöhnlich die Zeugung durch
Vereinigung von Gleichem mit Gleichem. Ein Mensch bringt einen Menschen
hervor, ebenso wie ein Tier ein Tier hervorbringt. Doch, so fährt der Adept fort,
                                                                                                           
271
Vgl. zur Ideengeschichte des Kreislauf-Denken: Schramm, Engelbert 1997: Im
Namen des Kreislaufs. Ideengeschichte der Modelle vom ökologischen Kreis-
lauf. Frankfurt; sowie: Baier, Sabine 2014: Fixierung der Geister. Alchemistische
Schöpfung und chemische Analyse durch stoffliche Bewegung. In: Espahangizi,
Kijan / Orland, Barbara: Stoffe in Bewegung. Beiträge zu einer Wissensge-
schichte der materiellen Welt. Zürich, S. 39-53.

193
gäbe es auch „Geschöpfe“, die ihrer „Herkunft unähnlich“ sind und dennoch
entstehen, das heisst Ungleiches kann unter gewissen Umständen auch aus
Ungleichem gemacht werden. Im Rosarium befindet sich eine bemerkenswerte
Textstelle, die beschreibt, wie Schöpfung realisiert wird, wenn Ungleiches mit
Ungleichem zusammenkommt:

„Öffne deine Augen und dein Herz, höre und erkenne:


ich will es dir zeigen und in einsichtigen Worten ver-
künden, die du wirst verstehen können, wenn du zu
den Einsichtigen gehörst! Du sollst wissen, dass aus
einem Menschen nichts anderes hervorgeht als wie-
derum ein Mensch; so entsteht auch aus jedem belie-
bigen Tier wieder nur Seinesgleichen. Wir sehen den-
noch, dass manche Geschöpfe (res natae) unähnlich
der Herkunft (radices) sind, aus der sie stammen. So
sehen wir Lebewesen (res), die Flügel besitzen, hervor-
gebracht von solchen, die keine Flügel haben. Wir se-
hen und wissen auch noch einige andere Dinge, die
die Menschen nicht verstehen, über die die Natur, die
wir kennen, hinausgeht. Uns genügt dies. Man ver-
steht es nicht, weil es ganz abgründige Dinge sind;
und wenn man darüber nachforscht, so liegt ihre Er-
klärung möglicherweise tief in der Erde verborgen. Du
sollst wissen, dass unsere Kunst aus dieser minerali-
schen Natur herrührt, aus nichts anderem. [...] Erkenne
die mineralischen Wurzeln und laß aus ihnen dein
Werk entstehen.“272

In diesem Zitat finden sich einige Bedingungen und Annahmen der Alchemie in
verdichteter Form und in einem weiteren Rahmen wieder, welche bereits be-
schrieben wurden. Es wird einerseits noch einmal deutlich herausgestellt, dass
sich Schöpfung in der Natur eigentlich immer nur dann vollzieht, wenn Glei-

                                                                                                           
272
Ebd. S.61f.
194
ches mit Gleichem zusammenkommt. Doch ließen sich, so der Verfasser des
Rosariums, auch Fälle beobachten, in denen die Geschöpfe unähnlich ihrer
Herkunft seien. In diesen spezifischen Fällen müsse die Schöpfung jedoch tief
verborgen im Inneren der Erde ablaufen, wo auch das Gold als „mineralische
Natur“ wohnt und wächst. Der Verfasser beschreibt in der zitierten Textstelle,
wie es dem alchemistischen Schöpfungsvorhaben trotz der Ausgangslage, die
von einer stofflichen Ungleichheit geprägt ist, dennoch möglich ist, die Er-
schaffung des Steins der Weisen zu vollziehen. Der zentrale Hinweis liegt in der
„mineralischen Natur“ einer Schöpfung aus Ungleichem, bzw. Unähnlichem
sowie einer Bewegung. Das heisst der Adept muss sich in seinem Werk den
Prozessen tief in der Erde zuwenden und annähern, um zu seinem Ziel zu
kommen. Ebenso deutlich wird hier, das der Stoff „Gold“ für die Alchemie nicht
nur als konkrete Verkörperung des Wertvollsten und Vollkommensten auf Er-
den so wichtig war, sondern, und das ist für alchemistisches Schöpfen ebenso
zentral, weil die mineralische Natur des Goldes den Weg weist, wie der Mensch
als ein zum Stein der Weisen ungleiches stoffliches Wesen, dennoch mit und in
der Natur in einem Zeugungsprozess etwas entstehen lassen kann.

Durch diese Beobachtung lässt sich meines Erachtens ein überaus wichtiger
Punkt der alchemistischen Schöpfungstheorie herausarbeiten, der die in der
historischen Rückschau oft stark verzerrte Rolle der „Goldmacherei“ der Alche-
mie in einem völlig anderen Licht erscheinen lässt. Dies gilt insbesondere dann,
wenn man den Stein der Weisen gemäss meiner These als emblematischen
Fluchtpunkt eines alchemistischen Vollzugs natürlicher Schöpfungskraft ver-
steht, so dass alchemistische Texte als Metareflexion über die Entstehung des
Neuen gelesen und gedeutet werden können: Alchemistische Texte beschrei-
ben nicht, wie man konkretes Gold macht, mithilfe dessen sich dann alle weite-
ren konkreten Wünsche wie Gesundheit, Macht, Jugend, usw. erfüllen bzw.
kaufen lassen. Sondern sie setzen sich mit der Frage auseinander, wie der
Mensch Neues mit und in der Natur erschaffen kann, trotz der eigenen stoffli-
chen Ungleichheit zum natürlichen Schöpfungsprinzip, das Gleiches zu Glei-
chem zu paaren fordert. Und genau in diesem Wissen liegt die grosse Macht
des Steins der Weisen, der die Schöpfungskraft materiell verdinglicht und
dadurch im wahrsten Sinne des Wortes „begreifbar“ macht, in Form eines täti-

195
gen Verstehens. Der Mensch kann in der Natur Neues hervorbringen, indem er
einen tief verborgenen, im Innersten der Erde liegenden natürlichen Schöp-
fungsprozess beginnt, der dem des Goldes entspricht.

Die Alchemie liefert damit eine differenzierte Reflexion auf die Erschaffung des
Neuen, die sowohl die Rolle und Eigenständigkeit der Natur als auch die Diffe-
renz zwischen natürlicher und menschlicher Schöpfung andenkt. Sie reflektiert,
dass die Entstehung des Neuen durch den Menschen immer bedeutet, dass
Ungleiches mit Ungleichem zusammen kommt und daher besondere Vorkeh-
rungen getroffen werden müssen. Mit simpler „Goldmacherei“ hat dies wenig
gemein.

Was geschieht tief in der Erde, in der das Gold wächst? Alles, was in ihrem
tiefsten Inneren wächst, tut dies, so die Adepten, nachdem Regen als Wasser
auf die Erde herabgefallen ist. Die Alchemisten beobachteten, dass alles, was in
der Erde wächst, auf vorangehender Bewässerung beruht. Sie gingen davon
aus, dass auch das Gold, wenn es wie die Pflanzen und Flügelwesen in der Erde
gedeiht, des Wassers bedarf. Dieser Prozess muss darüberhinaus zyklisch wie-
derholt werden, denn ein einzelner Regen ist nicht ausreichend. Auch Pflanzen
würden nicht weiter wachsen und müssen immer und immer wieder bewäs-
sert werden. Wasser fällt vom Himmel hinab in die Erde, die Pflanze „steigt
auf“ in Richtung Himmel, erneut fällt Wasser vom Himmel hinab usw. Da die
Alchemie sich den Geist der Natur als Stoff vorstellte, galt es, einen Stoff aus-
findig zu machen, der flüssig ist wie das Wasser, sich mit Gold und Erde wie bei
der „Bewässerung“273 verbinden vermochte und so flüchtig war, dass er auf-
steigen konnte, um danach wieder herabzufallen. Diese Eigenschaften kamen
den Adepten zufolge einzig dem Quecksilber zu, dem „Wasser der Philoso-
phen“. In physikochemischer Terminologie liegt es bei normalen Temperaturen
in flüssiger Form vor, weist eine starke Tendenz zur Bildung von Legierungen
mit anderen Metallen auf und verdampft im Gegensatz zu allen anderen Me-
tallen bereits bei geringen Temperaturen. Für die Alchemie heisst das, es ist
flüchtig und steigt auf, ebenso wie die Schöpfungskraft der Natur. Der Name „
Mercurius“ für alchemistisches Quecksilber stellt die Verbindung her zum be-
                                                                                                           
273
RP, S. 121:„Denn die Erde bringt nur unter häufiger Bewässerung (irrigatio)
Frucht.“
196
weglichsten, daher auch zu dem am seltensten zu beobachtenden „Wander-
planeten“ am Himmel, dem Merkur. Schöpfung heisst für die Alchemie leben-
dig, tätig und in Bewegung sein, so dass nur der schnellste „Wanderer“ am
Himmel als geeigneter Namensgeber des Quecksilbers für die Alchemisten in
Frage kam.

Der grundlegende Gedankengang ist hier analog zu dem oben beschriebenen


Verhältnis des Goldes zur Sonne. Wenn es das Ziel der Alchemie war, den Stein
der Weisen zu erschaffen und Gold das Epitom des Wertvollsten auf Erden dar-
stellt, so ergibt sich für die Alchemisten die logische Schlussfolgerung, dass im
Laboratorium mit Gold gearbeitet werden musste. Das Gold war die Seele des
Steins der Weisen, seine „Form“. Dieser Schluss von der Identität der Sonne mit
dem Gold hin zum konkreten Arbeiten der Alchemie mit Gold im Laboratorium
lässt sich nur verstehen, wenn man sich klar macht, dass Alchemisten sich
nicht damit begnügten, über die Metaphysik der Schöpfung zu spekulieren,
sondern diese Metaphysik praktisch performierten und in einer Tätigkeit reflek-
tierten. Das Denken der Alchemie, und dies erklärt, warum sie der heutigen
philosophischen Reflexion so fremd bleibt, vollzieht sich nicht im Text, sondern
in der Performanz des transmutatorischen Werkes.274

Durch eine solche Sichtweise löst sich auch ein weiteres Paradox im alchemis-
tischen Werk auf: Wenn dem Alchemisten mit dem Quecksilber bereits eine
verstofflichte Form der Schöpfungskraft der Natur vorlag, und es das Ziel war,
den Stein der Weisen als materialisierte Schöpfungskraft der Natur herzustel-
len, wieso begnügten sie sich nicht einfach mit der Schöpfungskraft in Form
des Quecksilbers? Die Antwort darauf hat einerseits damit zu tun, dass der al-
chemistische Geist, also die Schöpfungskraft, auch wenn sie selbst als Stoff
gedacht wird, für sich genommen eben keine Bedeutung hat. Ebenso wenig
wie der Regen ohne Erde und Samen etwas bewirken und schöpfen kann, kann
es das Quecksilber als isolierter Stoff. Für den Schöpfungsprozess müssen Kör-
per, Geist und Seele zusammenfinden. Ein weiterer Teil der Antwort liegt in der
Prozessualität der Schöpfungskraft der Natur. Schöpfung wurde von den Al-
chemisten als tätiger Prozess verstanden, ebenso wie im beständigen Wachsen

                                                                                                           
274
Vgl. hier die Ausführungen im letzten Kapitel der vorliegenden Arbeit.
197
und Vergehen allen Lebens niemals Stillstand herrscht und der Regen bestän-
dig auf die Erde fallen muss, um etwas in ihr entstehen zu lassen. Das Wesen
der Schöpfungskraft ist daher, auch wenn sie sich verstofflichen lässt , das ei-
ner Tätigkeit, eines beständigen Werdens und niemals das einer verdinglichten
Entität. Jede natürliche Schöpfung kommt zum Ende, wenn sie sich nicht mehr
vollzieht, ebenso realisiert sich die metaphysisch Reflexion dieser Schöpfungs-
kraft im praktischen Vollzug, durch eigenes Erforschen mit den Händen im La-
boratorium, nur im laufenden stofflichen Prozess. Wenn natürliche Schöpfung
ein Tätigsein ist, so muss auch die materialisierte Reflexion dieser Schöpfungs-
kraft ein Tätigsein sein und kann sich nicht mit dem Besitz eines bestimmten
Stoffes begnügen. Daher ist das alchemistische Quecksilber, obwohl es die
Schöpfungskraft der Natur verkörpert, auch nicht gleichzusetzen mit dem Stein
der Weisen, als emblematischer Fluchtpunkt der Transmutation. Ebenso wie
der Alchemist mit der Seele des Werkes, dem Goldsamen, noch etwas „ma-
chen“, sie einsetzen muss, so muss auch das Quecksilber in das Tun einfliessen.
Der Adept muss es einsetzen, um die Sublimation durchführen zu können und
so den alchemistischen Hermaphroditen Leben einflössen zu können. Das
Neue wird in der Alchemie von der Schöpfung her gedacht und nicht von ei-
nem verwertbaren Endprodukt. Und doch ist die Schöpfung auch immer
Schöpfung von Etwas. Diese Spannung wird in der Idee des Steins der Weisen
aufgehoben.

Zurück zum Prozess der Sublimation: Der Alchemist fügt dem „Leychnam“,
dem toten, mit der Seele des Goldes vereinten Körper Quecksilber zu, um ihn
mit dem alchemistischen Geist zu beleben. Da Quecksilber als ein Träger der
natürlichen Schöpfungskraft ebenso „flüchtig“ ist wie diese, muss die Sublima-
tion vollzogen werden, um den Geist im Körper zu fixieren. Dazu verwendet der
Adept ein fest verschlossenes Gefäss. Dies ist erforderlich, um einerseits der
Anforderung nachzukommen, dass Ungleiches tief im dunklen Innern im Ge-
fäss der Erde entsteht, sowie andererseits wegen der Flüchtigkeit des Geistes.
Das Quecksilber verdampft bei Raumtemperatur schleichend.275 Das Gemisch

                                                                                                           
275
Vgl. dazu RP, S. 125: „Die Öffnung des Unterteils (fundus) sei weit, damit Mer-
cur (der alchemistische Geist, Anm. SB) ganz ungehindert aufsteigen kann. Der
Destillierhelm freilich muß mit dem Kolben so verbunden werden, daß Mercur
198
wird im Gefäss dem Feuer ausgesetzt und erhitzt. Die geschieht in Massen, um
den Geist daran zu hindern, sich nicht vielleicht doch zu „verflüchtigen“. Es gilt,
langsam eine gewisse „Verträglichkeit“ zwischen dem Feuer und dem Wasser
(dem Quecksilber) herzustellen:

„Dabei ist aufs strengste darauf zu achten, daß sich


der Geist nicht in Rauch verwandle (das heisst auf-
steigt und verdampft, Anm. SB) und sich verflüchtige
infolge allzu starken Feuers.“276

Im Zuge dieser Zuführung von Hitze beginnt sich das Quecksilber mit dem
„Leychnam“ zu verbinden, das Feste mit dem Flüchtigen. Das Wasser der Philo-
sophen verhindert dabei, dass der tote Körper im Feuer verbrennt, da er sich in
ihm vor dem Feuer „verbergen“ kann. Der alchemistische Geist nimmt sodann
die Stoffe in „seinem Innern auf und wehrt die Feuerflamme von ihnen ab“.277

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 
nicht entweichen oder verdampfen kann, damit das Meisterwerk nicht zu-
schanden werde.“
276
RP, S. 61. sowie S. 29: „Denn allein die maßvolle Wärme verdichtet die Feuch-
tigkeit und vollendet die Mischung, nicht darüber hinaus gehende Wärme.“
277
Vgl. dazu: RP, S. 18-19: „Daher haben die Philosophen uns geheißen, die Öff-
nung des Gefäßes zu verschließen, damit unser gesegnetes Wasser nicht ver-
dunstet, sondern das, was sich im Gefäß befindet, vor dem Verbrennen be-
wahrt: das Wasser nämlich, das mit jenen Stoffen zusammengegeben wurde,
hat verhindert, daß das Feuer sie verbrennt [...] Je mehr sie von der Flamme des
Feuers bedrängt werden, desto mehr verbergen sie sich im Wasser, um nicht
an der Hitze des Feuers Schaden zu nehmen. Das Wasser nimmt die Stoffe in
seinem Innern auf und wehrt die Feuerflamme von ihnen ab. Ich heiße aber
alle Erforscher dieser Kunst, zu Beginn nur ein leichtes Feuer zu machen, bis
sich Verträglichkeit zwischen Feuer und Wasser hergestellt hat. Sobald Du
dann das Wasser fixiert siehst ohne irgendwelches Aufsteigen (ascensio), sollst
du dich nicht darum sorgen, wie das Feuer beschaffen ist; vielmehr ist es dann
gut, mit Geduld zu verfahren, bis Geist und Körper eins werden, so dass das
Körperliche unkörperlich wird und das Unkörperliche körperlich. [...] Wasser ist
es, das tötet und belebt; [...] Wasser ist es, das auflöst und fest werden läßt (dis-
solvit et congelat); Wasser ist es, das fault und neue, andersartige Dinge keimen
läßt (germinat). Daher ermahne ich dich, mein Sohn, daß deine ganze Aufmerk-
samkeit dem Abkochen des Wassers gelte und es dir nicht lästig werde, wenn
du Erfolg haben willst [...].“
199
Sobald alle Stoffe miteinander verbunden sind, wird die Hitze erhöht, so dass
die Mischung beginnt, aufzusteigen und zu verdampfen. Da sie sich aber in
einem verschlossenen Gefäss befindet, kann sie nicht entweichen. Sie verfes-
tigt sich am oberen Rand des Gefässes und tropft daraufhin wieder auf die
Stoffe hinab, ebenso wie der Regen auf die Erde. Diesen Prozess bezeichneten
die Adepten als Sublimation, bzw. als wiederholtes Aufsteigenlassen. Ziel war
es, den flüchtigen Geist so lange mit dem toten Körper zu erhitzen, bis beide
eins werden und nichts mehr aufsteigt.278

„Unsere Sublimation ist ein Aufsteigenlassen (elevati-


o) der flüchtigen Teile von den beständigen Teilen. Die
flüchtigen Teile steigen auf in Rauch und Wind. Wir
wollen freilich, daß diese beiden gemeinsam fixiert
werden und ein leichtes Schmelzen zeigen. [...] dann
werden sie ein Einziges und sind von da ab nicht mehr
voneinander zu trennen.“279

Dabei werden die Sublimationsrückstände am oberen Ende des Gefässes als


„flores“ bezeichnet, als Blüten also, so dass sich im Verlaufe der wiederholten
Sublimation ein ganzer „Rosengarten“ ergibt.280 Der Begriff des Florilegiums
gewinnt hier eine weitere Bedeutungsfacette. Die alchemistische Sublimation
verbindet das flüchtige Prinzip der natürlichen Schöpfungskraft, das alchemis-
tische Quecksilber, mit dem zuvor durch Vereinigung gewonnenen
                                                                                                           
278
Vgl. dazu RP, S. 118: „Die Festigung (fixio) besteht darin, daß der Körper den
färbenden Geist aufnimmt; sie nimmt ihm seine Flüchtigkeit (volatilitas) und
wird erreicht durch häufige Wiederholung, bis eine Asche von immerwähren-
der Dauerhaftigkeit entsteht und das ganze im Feuer Bestand hat (permanet).“
Sowie S. 65: „Mache das Beständige flüchtig und das Flüchtige beständig und
das Beständige flüchtig. Sie raten nämlich zu vielfacher Auflösung, weil das
ganze Werk mit der Auflösung steht und fällt.“ Sowie: S. 42: „Denn wenn das
Pulver (der Körper, Anm. SB) geistig wird, bleibt es unten im Gefäß.“
279
RP, S. 74.
280
RP, S. 72: „Wer immer unseren Rosengarten betreten will, die weißen und
roten Rosen dort sehen und haben möchte ohne diesen wertlosen Stoff, mit
dessen Hilfe unsere Erschließung stattfindet, der gleicht einem Menschen, der
herumgehen möchte ohne Füße.“
200
„Leychnam“. Durch häufiges Wiederholen dieser Sublimation verbinden sich
Körper und Geist schliesslich endgültig miteinander und sind fortan eins. Der
Stein der Weisen ist erschaffen. Die Flüchtige ist fixiert, das Prinzip der Schöp-
fung ist in einer performativen Metaphysik nachvollzogen.

Das alchemistische Symbol der Sublimation war der Ouroboros. Ein geflügelter,
sich selbst in den Schwanz beissender Drache. Die Kreisform des Ouroboros
verweist auf die permanente zyklische Bewegung durch die Sublimation, die
Flügel des Drachens auf das Aufsteigen der Stoffe, das Symbol des Drachens
selbst auf die Feuerfestigkeit des Steins der Weisen.

Abbildung 12 Ouroboros als alchemistisches Symbol der Sublimation, aus Michael Maier, A-
talanta Fugiens 1618

Dies führt uns zur Ausgangfrage des Kapitels zurück: Wie lange dauert es, den
Stein der Weisen mittels Sublimation zu erschaffen? Im Prinzip dauert es so
lange, bis das Flüchtige (der Geist) im Festen (dem toten Körper) fixiert ist. Je-
der Adept, der sich an diese Arbeit macht, sollte wissen, „daß dies ein sehr lan-
ger Weg ist, weshalb in unserer Meisterschaft Geduld und Zeit erforderlich

201
sind.“281 Die Betonung der langen Dauer des Werkes hat, wie gezeigt werden
konnte, mit den vorweg beschriebenen Schwierigkeiten zu tun, die sich aus der
Schöpfungsaufgabe ergeben, wenn aus Ungleichem mit Ungleichem ge-
schöpft werden soll, aber auch damit, dass die Schöpfungskraft der Natur als
flüchtiges Wesen, nicht einfach in einem Körper fixieren lässt. Dieser Vorgang
benötigt Geduld und Ausdauer, aber auch ein ausgeprägtes Fingerspitzenge-
fühl, eine Haltung, die nicht von Eile gekennzeichnet sein sollte, da dies den
flüchtigen Geist vertreiben würde. Das Sublimieren muss durch den Adepten
solange wiederholt werden, „bis alles fixiert“ und „nicht mehr fähig“ ist, „auf-
zusteigen“.282 So wie man die Pflanzen der Erde nicht zwingen kann, zu einem
gewissen Zeitpunkt Früchte tragen, so kann man auch den alchemistischen
Geist nicht zwingen, sich zum gewünschten Zeitpunkt mit dem Körper zu ver-
binden und fixiert zu werden. Anratend steht im Rosarium:

„Weh euch, ihr Söhne der Wissenschaft, die ihr hofft,


die Früchte einzusammeln, bevor sie reif sind, und die
ihr ernten wollt vor der Erntezeit.“283

Die Schöpfungskraft ist den alchemistischen Vorstellungen zufolge immer


schon in der Natur am Werke, muss also im Laboratorium „lediglich“ fixiert
werden. Dies mag auf den ersten Blick als eine einfachere Aufgabe erscheinen,
als eine creatio ex nihilo. Doch die Flüchtigkeit der natürlichen Schöpfungskraft,
die man auch als prinzipielle Unmöglichkeit der Planbarkeit und eine gewisse
Unverfügbarkeit deuten kann, verhindert letztlich die Vorhersage eines genau-
en Zeitrahmens der Schöpfung des Neuen. Das alchemistische Werk ist fertig,
wenn es fertig ist. So ernüchternd diese Antwort sein mag, so kann der Adept
gewisse Umstände der nicht determinierten Zeit der Schöpfung beeinflussen.
Ein Bauer und Gärtner kann beispielsweise die Pflanze giessen, auch wenn es
einmal nicht geregnet hat. Er kann sie von Verunreinigungen befreien und ihr

                                                                                                           
281
Vgl. dazu RP, S. 244.
282
RP, S. 63: „Sie wiederholten also das Sublimieren solange, bis alles fixiert
blieb und nicht mehr fähig war, aufzusteigen. Dann war der Geist fest an den
Körper gebunden.“
283
RP, S. 36.
202
eine optimale Erde zur Verfügung stellen, usw. Und so kann auch der Adept der
Erschaffung des Steins der Weisen zuarbeiten, etwa indem er ein geeignetes
Gefäss benutzt, die „Bewässerung“ der Stoffe durch Hinzugabe von ausrei-
chend viel „Wasser“, also alchemistischem Geist, garantiert, die Anzahl der
Sublimationsprozesse sprich Wiederholungen erhöht und dadurch beschleu-
nigt, indem er die Stoffe mit einem geeigneten Feuer erhitzt, etc.

„Wiederhole also das Werk viele Male, auch wenn es


lange dauert; denn du wirst keine Tinktur (Synonym
des Steins der Weisen, Anm. SB) und keinen rechten
Fortschritt erkennen können, bis das Werk seinen Ab-
schluß gefunden hat.“284

Wird die Schöpfungskraft nicht in uns, sondern in der Natur verortet und gibt
sich damit als flüchtiges Wesen, als Geist, der alles zu durchdringen vermag, so
verändert sich nicht nur das Verhältnis des Alchemisten zur erschaffenden Na-
tur, sondern eben auch das zur Zeit der Schöpfung. Vor dem Hintergrund der
Flüchtigkeit des Geistes erklärt sich auch, weshalb der Stein der Weisen über-
haupt als ein Stein beschrieben wird. Steine haben für den Adepten die Eigen-
schaft, nicht zu verbrennen oder zu verdampfen. Wenn es dem Adept gelingt
nach ausreichender Wiederholung der Sublimation den alchemistischen Geist
in einem Stein zu fixieren,285 der dem Feuer widersteht und der weder schmilzt,
noch verbrennt, noch verdampft, so kann er sich unter der Voraussetzung, dass
sein Gefäss während der Arbeit fest verschlossen war, sicher sein, dass dieser
Stein die Schöpfungskraft der Natur in sich aufgenommen hat. Und so wun-
dert es nicht, wenn der Verfasser des Rosariums Hermes Trismegistos zitiert
und lehrt, die „Steine zu verehren“, da sie die Eigenschaft hätten, „die Flüchti-

                                                                                                           
284
RP, S. 122.
285
Damit ist weniger gemeint, dass es sich beim Stein der Weisen um einen
„echten“ Stein handelte, sondern mehr die Eigenschaft des Steins, maximal
beständig zu sein, s.u. beim Abschnitt des Kapitels zu den Elementen der Al-
chemie
203
gen an sich zu binden“ und ihnen eine „Wohnung“ (mansio) bereit zustellen.286
Erst wenn er einen Stein erhält, kann sich der Adept über die Zeit der Schöp-
fung sicher sein.

                                                                                                           
286
Vgl. dazu RP, S. 121. Statt mit „Wohnung“ liesse sich „mansio“ hier auch als
„Rastplatz“ oder „Haus“ übersetzen (von lat. manere, bleiben ). Es scheint je-
denfalls so etwas wie ein sicherer Ort gemeint zu sein, an dem sich die „Flüch-
tigen“ aufhalten können.
204
3.4 Die vollkommene Mischung

„Human knowledge and human power meet in one“ schrieb Francis Bacon
1620 in seinem Werk „Novum Organum Scientarum“.287 Um die Natur „beherr-
schen“ zu können, müsse sie gründlich beobachtet werden288. Diese Beobach-
tung sollte in Form eines Experimentes stattfinden, das im besten Falle objek-
tiv und wiederholbar sei, so dass man in möglichst kleinen induktiven Schlüs-
sen, „voreilige“ „Sprünge“ oder „Flüge“ zu „Universalien“ und „Prinzipien“ ver-
meidend289, zu richtigen Erkenntnissen gelangen kann. Nur mit solch experi-
mentell gewonnenen Wahrheiten könnten wir die Natur auf richtige Art und
Weise verstehen sowie dadurch beherrschen und nach unserem Willen for-
men. Die rein spekulative Philosophie muss zugunsten einer experimentellen
Philosophie überwunden werden.

Auch wenn Bacon die Alchemisten prinzipiell den experimentellen Philosophen


zurechnet, so sieht er bei ihnen dennoch genau die oben angedeutete Gefahr
gegeben: Durch zu wenige Experimente, zu vorschnell durchgeführt in „Dun-
kelheit“ und „Begrenztheit“, würden die Adepten zu ihren Schlüssen und Aus-
sagen über die Natur gelangen.290 Und obwohl es richtig sei, dass sie der
Menschheit einiges an nützlichen und wertvollen Entdeckungen und Erfindun-

                                                                                                           
287
Bacon, Francis 1620: Novum Organum Scientarum. Aphorismen Buch 1, III.
http://www.constitution.org/bacon/nov_org.htm (aufgerufen 01.02.2014).
288
Ebd.: „Nature to be commanded must be obeyed.“
289
Ebd. LXIV: „Nevertheless, with regard to philosophies of this kind (experi-
mental philosophies, Anm. SB) there is one caution not to be omitted; for I
foresee that if ever men are roused by my admonitions to betake themselves
seriously to experiment and bid farewell to sophistical doctrines, then indeed
through the premature hurry of the understanding to leap or fly to universals
and principles of things, great danger may be apprehended from philosophies
of this kind, against which evil we ought even now to prepare.“
290
Ebd. LXIV: „But the Empirical school of philosophy gives birth to dogmas
more deformed and monstrous than the Sophistical or Rational school. For it
has its foundations not in the light of common notions [...] but in the narrow-
ness and darkness of a few experiments. To those therefore who are daily bus-
ied with these experiments and have infected their imagination with them,
such a philosophy seems probable and all but certain; to all men else incredible
and vain. Of this there is a notable instance in the alchemists and their dog-
mas, though it is hardly to be found elsewhere in these times [...]“
205
gen überliefert hätten, so sei ihre Arbeit doch mehr der Zufälligkeit, denn dem
gründlichen, zielgerichteten Experimentieren geschuldet. Sie würden hierbei
den Söhnen in der Fabel vom alten Mann gleichen, der seinen Söhnen von ei-
nem Goldschatz erzählte, den er in seinem Rebberg vergraben hätte, aber nicht
mehr genau wüsste wo. Daraufhin begaben sich die Söhne unermüdlich an die
Suche und begannen zu graben. Und obwohl die Söhne das Gold letztlich nie-
mals finden, sei doch der Weinberg durch das ständige Umgraben fruchtbarer
geworden.291 Bacon zufolge galt Ähnliches für die Alchemisten, die zwar nie das
begehrte Gold finden, das sie vermeintlich suchen, aber dennoch im Laufe ihrer
Suche zufällig auf einige andere Nützlichkeiten und Wahrheiten stossen. Rich-
tige wissenschaftliche Erkenntnis, hierin besteht für Bacon kein Zweifel, liesse
sich hingegen nur durch gezieltes, induktives Experimentieren erreichen.

Diese von Bacon propagierte Vorstellung einer auf experimentellen Methoden


beruhenden Naturerkenntnis durch Naturbeherrschung vertritt dann im 18.
Jahrhundert auch Immanuel Kant, wenn er in seiner „Kritik der reinen Ver-
nunft“ von 1781 über die Rolle und die Aufgaben des Experimentators schreibt.
Dieser solle zwar von der Natur „belehrt“ werden, aber „nicht in der Qualität
eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will“, sondern in
Form eines „bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu ant-
worten, die er ihnen vorlegt“.292

                                                                                                           
291
Ebd. LXXXV: „Not but that the alchemists have made a good many
discoveries and presented men with useful inventions. But their case may be
well compared to the fable of the old man who bequeathed to his sons gold
buried in a vineyard, pretending not to know the exact spot; whereupon the
sons applied themselves diligently to the digging of the vineyard, and though
no gold was found there, yet the vintage by that digging was made more
plentiful.“
292
Kant, Immanuel 1982: Kritik der reinen Vernunft (1781). Werkausgabe, hg. von
Wilhelm Weischedel, Bd.III, Frankfurt: „Die Vernunft muß mit ihren Prinzipien,
nach denen allein übereinkommende Erscheinungen für Gesetze gelten kön-
nen, in einer Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in
der anderen, an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber
nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer
will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu
antworten, die er ihnen vorlegt.“ Ebd., S. 23.

206
Sowohl Bacon als auch Kant teilen somit eine epistemologische Prämisse, die
der Alchemie fremd war. Beide gehen davon aus, dass Naturerkenntnis und
damit das neue Wissen durch ein methodisch striktes Verfahren, der Natur
abgerungen werden muss. Da die Natur ihre Geheimnisse nicht ganz freiwillig
preisgibt, bedarf es eines „bestallten Richters“, realisiert in der Figur des un-
nachgiebigen Experimentators, um die Natur zunächst zu den erwünschten
Antworten zu „nötigen“, um dann in einem zweiten Schritt über sie „herr-
schen“ zu können. Sowohl bei Francis Bacon als auch bei Immanuel Kant steht
das Experiment im Zentrum der Naturforschung und ihrer Methodik, das mit-
tels Induktion und Wiederholung zu den gewünschten präzisen Ergebnissen
führe. Befrage die Natur so lange und so oft, bis sie dir Rede und Antwort steht
und gefügig wird, so die epistemologische Vorstellung, auf der die Gleichset-
zung von Wissen und Macht beruht. Das Neue erscheint in diesen wissen-
schaftsphilosophischen Überlegungen als eine Auf- und Entdeckung von Na-
turgeheimnissen. Das neue Naturwissen wird der Natur im experimentellen
Verfahren abgewonnen. Von der epistemologischen Struktur her präsentiert
sich das Neue auch hier in Form einer Differenz des noch nicht Gewussten im
Kontrast zum bereits bekannten Naturwissen.

Wie bereits dargelegt wurde sieht Hans-Jörg Rheinberger das innovative Po-
tenzial des experimentellen Prozesses als eine projektierte und angestrebte
Differenzproduktion realisiert. Jedoch vollzieht sich dieser Prozess weniger im
Gewand einer inquisitorischer Naturbefragung denn als ein kontingentes Zu-
sammenspiel des Experimentators durch, mit und innerhalb eines Experimen-
talsystems im Labor. Das Experiment vollzieht sich also hier gewissermassen
nicht direkt im Schosse der Natur, sondern in einer höchst technischen und
konstitutiv artifiziellen Forschungsumgebung, deren Bezug und Erklärungs-
wert in Bezug auf die Natur in langen Übersetzungsketten mühsam hergestellt
werden muss. Auf der strukturellen Ebene einer Epistemologie der Innovation
gibt sich das Neue auch hier nur dann als das Neue zu erkennen, wenn es als
eine Differenz im fortlaufenden Prozess empirisch-experimenteller Reproduk-
tionsschleifen und Wiederholungen im Experimentalsystem zunächst als
ephemere Spur semiotisch in Erscheinung treten und dann in der Folge Bedeu-
tung gewinnen und stabilisieren kann.

207
Wie in vorangehenden Beschreibungen der alchemistischen Tätigkeit deutlich
wurde, spielt die Wiederholung in Form der Sublimation auch für die Alchemis-
ten eine wichtige, ja zentrale Rolle bei der Erschaffung des Neuen. Doch anders
als im modernen experimentellen Programm seit Bacon und Kant bis hin zu
Rheinbergers Theorie der Experimentalsysteme formiert sich das Neue hier
nicht in der Dynamik einer vereinheitlichenden experimentellen Reproduktion
hin zu einer Differenz als End- bzw. Durchgangspunkt wissenschaftlichen Ar-
beitens, sondern genau umgekehrt. Alchemistische Schöpfung erschafft Neues
aus anfangs Ungleichem, aus dem Heterogenen, das dann mithilfe zyklisch
wiederholter Sublimation in einer nicht mehr trennbaren Einheit aufgeht. Das
Neue der Alchemie ist keine Differenz, sondern eine Vereinigung, eine Zusam-
menführung, eine „vollkommene Mischung“, wie die Adepten es nennen. Da-
her sprechen sie auch nie von einer Entdeckung des Neuen, sondern immer nur
von seiner Erschaffung und von der Schöpfung. Das transmutationsalchemisti-
sche Unternehmen ist dadurch in seiner ganzen Ausrichtung und Denkart zu-
tiefst von, in heutiger Begrifflichkeit gefasst, synthetisierenden Zielen und Me-
thoden geprägt. Jede praktische analysierende Tätigkeit im alchemistischen
Laboratorium ist der „vollkommenen Mischung“ untergeordnet und mag zwar
letztlich der Erschaffung des Steins der Weisen dienen, entspricht aber niemals
dem eigentlichen Wesen des alchemistischen Werkes. Diese Überzeugung der
Alchemie beruht, wie gezeigt werden konnte, auf der durch und aus der Natur
gewonnen Einsicht, dass naturgemäss Neues erstens immer nur durch die Na-
tur selbst und nicht durch den Menschen entsteht und zweitens, dass sich
Schöpfung immer nur durch Gleiches mit Gleichem vollzieht. Der Adept sowie
seine Instrumente und Stoffe (obschon er in seinen Verfahren durchaus natur-
gemäss vorgehen kann) befinden sich dabei jedoch schon in einer gewissen,
nicht zu ignorierenden stofflichen Distanz zur Natur, der er sich stellen musste.
Die Adepten waren aus diesem Grund gezwungen, ein Verfahren zu entwi-
ckeln, das erlaubt, Ungleiches mit Ungleichem zusammenzubringen, so dass
aus einer ursprünglichen Heterogenität gezeugt werden konnte. Dieser Schritt
gelang der Alchemie durch die Einführung und praktische Umsetzung des pri-
ma materia-Gedankens in Verbindung mit der stofflichen Verortung der Schöp-
fungskraft der Natur im alchemistischen Geist (in Form alchemistischen
Quecksilbers) sowie durch die Akzeptanz eines, wenn auch nur zeitweiligen,
208
opus contra naturam (in Form der Tötung des alchemistischen Körpers). Erst
wenn alle diese Komponenten vereinigt werden, kann die Erschaffung des
Steins der Weisen gelingen und damit die Schöpfungskraft der Natur nachvoll-
zogen werden.

Der Stein der Weisen darf aber wiederum selbst nicht mit einem Endprodukt
des alchemistischen Schaffens verwechselt werden. Dies würde die alchemisti-
sche Tätigkeit letztlich wieder als ein technologisches Projekt deuten. Nur wür-
de die „Goldmacherei“ hier durch die Herstellung eines als verstofflichte Schöp-
fungskraft verstandenen Steins der Weisen substituiert werden. Dem wider-
spricht allein schon die Tatsache, dass sich für den Adepten die Schöpfungs-
kraft der Natur bereits im Quecksilber verstofflichte. Die technologische Deu-
tung der Transmutationsalchemie führt also zu Widersprüchen. Diese lassen
sich auflösen, wenn man die Erschaffung des Steins der Weisen in der Alche-
mie weniger von einem, wie auch immer gearteten stofflichen Endprodukt aus
denkt, sondern von der reflexiven Performativität des Transmutationsprozesses.
Der Prozess muss als praktisches Nachvollziehen der Schöpfungskraft der Na-
tur im Medium des Stofflichen verstanden werden. Die Fokussierung auf stoff-
liche Endprodukte eines Herstellungsprozesses, die sich überhaupt erst aus
einer modernen technologischen Perspektive ergibt, verfehlt hier den Kern der
Sache. Die Transmutationsalchemie ist kein Herstellungsprozess, sondern
vielmehr eine naturphilosophische Tätigkeit. Eine performative, das heisst sich
nicht im Medium des Textes, sondern vor allem in der Praxis realisierende me-
taphysische Reflexion auf die Frage der Möglichkeit einer Schöpfung von Neu-
em. Es geht hier darum, ausgehend von der grundlegenden Gegenüberstellung
des Adepten zur Natur die Schöpfung des Neuen in der Vereinigung des Un-
gleichen mittels wiederholender Sublimation zu denken. Das Neue der Alche-
mie ist die in der metaphysischen Praxis aufgehobene Heterogenität der Dinge.

Niemals würde der Adept es wagen, mittels der „Kunst“ die Natur auszubes-
sern oder gar im Bacon’schen experimentalistischen Sinne nötigen und beherr-
schen zu wollen. Im Gegenteil, für die Tötung des Körpers hat der Adept einen
hohen Preis zu bezahlen. Er muss grosse Geduld aufbringen und einen lang-
wierigen Sublimationsvorgang durchstehen, der so lange aufrecht erhalten
werden muss, bis sich der alchemistische Geist der Natur wieder mit dem toten
209
Körper verbindet. In diesem Sinne kann streng genommen nicht die Rede da-
von sein, dass die Alchemie Experimente verfolgte. Die Wiederholung der Sub-
limation hat nichts mit experimenteller Reproduzierbarkeit zu tun. Die Not-
wendigkeit zur Wiederholung ergibt sich aus dem opus contra naturam.

Wenn alchemistische Schöpfung nicht als Entdeckung und Analyse verstanden


werden sollte, sondern als vollkommene Mischung und Aufhebung der Diffe-
renz in einer Tätigkeit, so stellt sich die Frage, inwiefern sie sich dann von re-
kombinativen Theorien der Erschaffung des Neuen, wie etwa in der modernen
chemischen Synthese unterscheidet? Ist das Neue der Alchemie dann nicht
mehr als eine blosse Rekombination des Bestehenden? Aus zwei, drei, vielen
mach ein Neues? Nahm also die Alchemie das synthetisierende Erkenntnisziel
der modernen Chemie vorweg? Und wenn nicht, wie unterscheidet sie sich von
moderner chemischer Synthese?

Elemente und Prinzipien

Die Grundlage der modernen chemischen Synthese bildet die Existenz von
Elementen, den eigentlichen Bausteinen der Materie, aus denen alles Stoffliche
zusammengesetzt werden kann. Der Aufbau der stofflichen Welt stellt sich
somit als eine Kombinatorik der Elemente dar. Diese Sichtweise lässt sich be-
reits bei den vorsokratischen Lehren ausmachen. So erklärte Thales von Milet
das Element Wasser zum Ursprung aller Dinge. Empedokles293 hingegen be-
gründete die Lehre der vier Elemente Wasser, Feuer, Erde und Luft, auf die sich
später auch Aristoteles bezog. Die überaus komplexe und vielschichtige Ge-
schichte der Elementenlehren einerseits und der atomistischen Naturphiloso-
phien andererseits, die dann bis zum 19. Jahrhundert in einer umfassenden
chemischen Materietheorie zusammenlaufen, bilden die Grundlage der im
Prinzip rekombinativen chemischen Synthese im modernen Labor.294

                                                                                                           
293
Vgl. dazu bspw. Buchheim, Thomas 1994: Die Vorsokratiker. Ein philosophi-
sches Portrait. München.
294
Die Forschung dieser Entwicklung ist mittlerweile so ausdifferenziert, dass
hier eine lange Liste an Arbeiten zu unterschiedlichen historischen und epis-
temologischen Bruchstellen genannt werden müsste. Siehe hierzu stattdessen
210
Rekombinative Theorien der Erzeugung des Neuen basieren auf der Annahme
von rekombinierbaren Elementen und gehen davon aus, dass menschliches
Schaffen auf einer Zusammensetzung dieser Elemente, bzw. bei umgekehrtem
Erkenntnisinteresse – der Analyse – auf einer Trennung beruht. So schreibt
auch Francis Bacon:

„Toward the effecting of (scientific, Anm.SB) works, all


that man can do is to put together or put asunder na-
tural bodies.“295

Auch die Alchemie kannte und verwendete die Vier-Elemente-Lehre. Mit dem
Aufkommen der naturwissenschaftlichen Chemie ab dem 17ten Jahrhundert,
wurde die Alchemie jedoch vor allem für ihren vermeintlich unpräzisen Ele-
ment-Begriff scharf kritisiert. Nicht nur das anmassende Ziel der „Goldmache-
rei“ der Alchemie, sondern auch die zugrundeliegende Vorstellung der alche-
mistischen Elemente sei grundlegend falsch gewesen. Da die vier Elemente
Wasser, Erde, Feuer und Luft nicht die letzten unteilbaren Bestandteile der Ma-
terie sind, sei jedwedes Unterfangen, das auf dieser falschen Vorstellung beru-
he, immer schon zum Scheitern verurteilt gewesen. Der „Untergang“ der Al-
chemie wird unter anderem mit ihrer falschen Elementenlehre erklärt. So kriti-
sierte etwa schon Robert Boyle als eine der zentralen historischen Grenzfiguren
zwischen Alchemie und Chemie in seinem Buch „The Sceptical Chymist: or
Chymico-Physical Doubts & Paradoxes“ von 1661 sowohl das grundlegende Er-
kenntnisziel als auch die Elemente-Theorie der Alchemie.296 Der Begründer des
Begriffs der chemischen Analyse beruft sich in seiner Kritik der Alchemie vor
allem auf das experimentalistische Wissenschaftsideal Bacons und verwirft die
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 
die Einträge und Bibliografien zu „Ancient Atomism“ und „Modern Atomism“
online auf der Stanford Encyclopedia of Philosophy (http://plato.stanford.edu/,
aufgerufen: 01.02.2014)
295
Bacon, Francis 1620: Novum Organum Scientarum. Aphorismen Buch 1, IV.
296
Boyle, Robert 2000: Der skeptische Chemiker (The Skeptical Chymist, or Chy-
mico-Physical Doubts & Paradoxes, London 1661). Frankfurt. Boyle war nicht der
Erste, welcher die Alchemie für ihren Elemente-Begriff kritisierte, soll an dieser
Stelle aber als paradigmatische Figur in der Auseinandersetzung mit der Vier-
Elemente-Lehre der Alchemie dienen.
211
Vier-Elemente-Lehre der Alchemie. Moderner Chemie sollte es um eine gründli-
che chemische Analyse der letzten Naturkörper gehen und eben nicht um
„Goldmacherei“ – dieser Topos taucht immer wieder auf.297 Die erste Aufgabe,
die sich der Chemie nach Boyle daher stellt, sei die Entdeckung der „wahren“,
weil wirklich letzten und unteilbaren Elemente der Natur.298 Auch die alleinige
Verwendung des Feuers als Analysemittel in der Alchemie sei obsolet, da es
laut Boyle weitaus effizientere Verfahren der chemischen Analyse gab, die es
erlaubten, noch tiefer, das heisst bis zu den letzten Bestandteilen der Materie
vorzudringen.299

Doch ging es der Alchemie mit ihren Elementen überhaupt darum den Stein
der Weisen aus den letzten weil grundlegenden Elementen zusammenzuset-
zen? Muss sie als rekombinative Theorie der Schöpfung verstanden werden?

Wie bereits beschrieben wurde benötigte der Alchemist zur Erschaffung des
Steins der Weisen Körper, Seele und Geist, und nicht Wasser, Feuer, Erde und
Luft. Dennoch fallen die Begriffe der vier Elemente im Text des Rosariums häu-
fig, zum Beispiel wenn der alchemistische Geist als „Wasser“ beschrieben wird
oder auch vom Feuer die Sprache ist. Betrachten wir folgendes Zitat aus dem
Rosarium:

                                                                                                           
297
Obgleich Boyles Kritik ihn nicht davon abhielt selbst alchemistisch tätig zu
sein, wie in Kapitel 2 gezeigt wurde.
298
Ebd., S. 57: „So sehr sich auch die Chemiker auf die Erfahrung zu berufen und
so zuversichtlich sie auch die verschiedenen Substanzen, die durch das Feuer
von einem gemischten Körper erhalten werden, als einen genügenden Beweis
anzuführen pflegen, daß sie die Elemente sind, aus denen er besteht, so sind
doch viele dieser verschiedenen Substanzen von elementarer Einfachheit weit
entfernt und können immer noch als gemischte Körper angesehen werden
[…]“.
299
Ebd., S. 22: „Wir sollten in Erwägung ziehen, daß es verschiedene, durch an-
dere Mittel auszuführenden Analysen gibt, die durch Feuer allein entweder
überhaupt nicht oder doch nicht so gut ausgeführt werden können.“
212
„Alles nämlich heißt Feuer, was nicht vor dem Feuer
flieht und was nicht im Feuer vergeht oder verzehrt
wird.“300

Wenn die Alchemie von Elementen redet, so meint sie damit nicht letzte, un-
teilbare Körper. Der alchemistische Elemente-Begriff zielt vielmehr auf Prinzi-
pien ab. Die Identifikation eines alchemistischen Elementes erfolgte nicht über
die Eigenschaft der stofflichen Unteilbarkeit, sondern über andere direkt sinn-
lich zu beobachtende Prinzipien. Alles ist Feuer, was nicht im Feuer vergeht, so
besagt das Zitat aus dem Rosarium. Das Prinzip „Feuer“ definiert sich folglich
nach der Eigenschaft der Unvergänglichkeit im Feuer. Da auch Steine nicht im
Feuer vergehen, gelten auch sie feuerartig. Luft ist alles, was sich in der Luft
bewegt, so beispielsweise auch der alchemistische Geist, wenn er verdampft.
Liegt er hingegen in flüssiger Form vor, so ist er Wasser. Jeder feste Stoff ist
Erde und kann gleichzeitig, wenn er nicht verbrennt, Feuer sein, oder aber auch
Wasser, wenn er sich in einem Wasser auflöst usw. Gemäss diesen Deutungen
hat das alchemistische Element nichts mit den atomistischen Elementen der
modernen Chemie zu tun, sondern dient vielmehr der Beschreibung verschie-
denster Stoffeigenschaften und ihrer typischen Verhaltensweisen durch die
dargelegten Prinzipien. Das alchemistische Element definiert sich somit auch
nicht als Endpunkt einer Analyse. Zumal, wie wir gesehen haben, das grundle-
gende Ziel der Transmutationsalchemie ohnehin nicht die Analyse, sondern die
vollkommene Mischung im praktischen Vollzug natürlicher Schöpfungskraft
war. Insofern geht Boyles Kritik am Elemente-Begriff der Alchemie wohl auch
bewusst an der Sache vorbei.

In Hinblick auf die Frage nach dem möglicherweise (re-)kombinatorischen We-


sen des alchemistischen Werkes liesse sich nun aber dennoch einwenden, dass
alchemistische Synthese zwar nicht durch die vier Elemente, dafür aber durch
die vollkommene Mischung von Körper, Seele und Geist vollzogen wird. Wenn
sich Körper, Seele und Geist miteinander vereinen, entsteht der Stein der Wei-
sen. Auch wenn es sich hier nicht um die letzten und unteilbaren Elemente der
Natur handelt, so doch zumindest um Bestandteile, aus denen jedes Wesen
                                                                                                           
300
RP, S. 27.
213
und jeder Stoff der Natur besteht. Mit alchemistischer Synthese wäre dann
weniger die konkrete, chemische Kombinatorik elementar-atomistischer Na-
turkörper gemeint, sondern vielmehr die allgemein zu verstehende Zusam-
mensetzung von Teilen zu einem neuen Ganzen. Dies wäre dann im Sinne ei-
ner kreativen Mereologie wie sie beispielsweise in der neueren Philosophie bei
Nelson Goodman formuliert wird. In seinem Werk „Ways of Worldmaking“301
von 1978 beschreibt Goodman, strukturell ähnlich zu Bacons Gedankengang,
dass die Erschaffung „neuer Welten“ immer auf einem Prozess des Teilens und
Zusammensetzens besteht, der sich hier jedoch nicht zwangsläufig auf letzte
Naturkörper beziehen muss:

„[...] worldmaking consists of taking apart and putting


together, often conjointly: on the one hand, of dividing
wholes into parts and partitioning kinds into subspe-
cies, analyzing complexes into component features,
drawing distinctions; on the other hand, of composing
wholes and kinds out of parts and members and sub-
classes, combining features into complexes; and mak-
ing connections.“302

Im Zuge dieser auseinander- und zusammensetzenden Aspekte in der Tätigkeit


der Welterzeugung sind laut Goodman durchaus noch weitere Korrektive zu
beachten. Dies gilt etwa für den Fall, wenn ein und dasselbe Teil bzw. eine Ver-
bindung in einer alten Welt eine spezifische Bedeutung hatte, in der neuen
dann aber eine andere Bedeutung annimmt. Auch die hierarchische Zusam-
mensetzung der neuen Welt kann sich von der alten unterscheiden, so dass ein
Teil der alten Welt in der neuen Welt nach dem Rekombinationsakt nicht mehr
wichtig ist oder noch wichtiger wird. Diese Anpassungs- und Umdeutungspro-
zesse, die notwendigerweise bei der Rekombination neuer Welten anfallen,
ändern für Goodman nichts an der grundlegenden Überzeugung, dass neue
Welten prinzipiell aus den Teilen der alten Welten bestehen und lediglich neu

                                                                                                           
301
Goodman, Nelson 1978: Ways of Worldmaking. Indianapolis, IN.
302
Ebd. S. 7.
214
kombiniert werden: Jedes Erschaffen sei eigentlich ein Rekombinieren.303 Es
gibt nicht die eine Welt, sondern wir konstruieren permanent neue Welten, die
sich dann durch den unterschiedlichen Symbolgebrauch sowie die unterschied-
liche Perspektivität innerhalb dieser Welt von anderen unterscheiden.304

Vertrat die Transmutationsalchemie nun ein ähnlich rekombinatives System


der Welterzeugung bei der Erschaffung des Steins der Weisen? Zunächst muss
man herausstreichen, dass es sich beim alchemistischen Kosmos im Gegensatz
zu Goodman nicht um ein relativistisches Weltbild handelte. Die Alchemisten
wären niemals davon ausgegangen, dass es mehr als die eine „verehrungswür-
dige“ Natur geben könnte. Die Alchemie vertat im Gegenteil ein stark normati-
ves Naturbild, das eine absolute Vorrangstellung der Natur sowie ihrer einzig-
artigen Schöpfungskraft beinhaltete. So weit im alchemistischen Werk irgend
möglich, muss der Adept „gemäss der Natur“ denken und handeln. In dem Sin-
ne kannte die Alchemie keine Weltenvielfalt, sondern immer nur eine Natur.
Neue Welten aus anderen, alten Welten zu erzeugen, ist ein Gedanke, welcher
der Alchemie falsch erschienen wäre.

Darüber hinaus kann die Alchemie auch deshalb nicht als rekombinatives Un-
ternehmen verstanden werden, da sich, wie gezeigt wurde, gerade die Teile
ihrer Welt (Körper, Seele und Geist) nicht einfach miteinander kombinieren und
vermengen lassen. Der Adept stösst auf grosse Schwierigkeiten, wenn er ver-
sucht, den ungleichen Körper mit der ungleichen Seele zu vermischen, so dass
er letztlich einen toten Körper erhält, sobald er „wider der Natur“ operiert. Die
Idee, verschiedenes miteinander neu zu kombinieren, um eine neue Welt, ein
Neues, zu erhalten, funktionierte aufgrund des alchemistischen Natur- und

                                                                                                           
303
Ebd. S. 6: „Worldmaking as we know it always starts from worlds already on
hand; the making is a remaking.“
304
Weshalb Goodman auch die Abkehr vom Konzept der Wahrheit hin zur Rich-
tigkeit forderte: Denn wenn es nicht die eine Welt gibt, sondern viele unter-
schiedliche, die alle in sich logisch widerspruchsfrei sind, aber nicht, wenn man
sie gegeneinander ausspielt, so macht die Rede von Wahrheiten keinen Sinn
mehr, aber sehr wohl die Rede von Richtigkeiten innerhalb des jeweiligen Be-
zugssystems. Vgl. dazu Goodman, Nelson 1993: Revisionen. Philosophie und
andere Künste und Wissenschaften. Frankfurt.
215
Schöpfungsverständnisses sowie des solve & coagula- Prinzips schlichtweg
nicht. Für die Adepten wäre ein solches Werk „töricht“.

Was die Alchemie aber kannte, war der Umweg über die prima materia, um die
Problematik der Vereinigung eines Ungleichen mit einem Ungleichen zu um-
gehen. Alchemistische Schöpfung hat daher weniger mit der Logik eines Bau-
kastensystems gemein denn, um ein Alltagsbeispiel anzuführen, mit dem Ba-
cken. Auch hier wird aus Ungleichem zunächst eine homogene Masse erzeugt,
bevor diese in eine neue Form gebracht werden kann. Die alchemistische Vor-
stellung liesse sich demnach als eine Art materieller Existenzialismus verstehen,
bei dem die Existenz der Materie der Form des Neuen vorausgeht. Um das
Neue auf alchemistische Art und Weise zu erschaffen, muss zunächst die Ebe-
ne der reinen materiellen Existenz, der prima materia erreicht werden, der
dann durch die Seele des Goldes eine neue Form gegeben wird.

Der Anfang und Beginn des alchemistischen Werkes durch die prima materia
als reine materielle Existenz jenseits jeder Form ist daher auch zentral für die
Unterscheidung des rekombinierenden Handwerkers vom alchemistischen
Schöpfer:

„Daher ist unsere Meisterschaft ein Werk der Natur


und nicht eines Handwerkers. So erreicht der, der den
Anfang (prima materia, Anm.SB) nicht kennt, sein Ziel
nicht.“ 305

Die Rede von letzten Naturkörpern ebenso wie ihrer Rekombination ergibt im
Denken der Alchemie schlichtweg keinen Sinn. Die Erzeugung des Neuen in der
Alchemie ist immer eine Schöpfung, ein Erschaffen, aber nie eine Kombination,
geschweige denn eine Rekombination. Ingenieure und Bricoleure kombinieren
und rekombinieren und sind auf ein Endprodukt aus, Alchemisten hingegen
schöpfen und reflektieren dadurch die Metaphysik der Natur im Neuen.

Wann immer in der Alchemie die Rede vom Stein der Weisen ist, geht es nicht
um die Frage der Herstellung eines konkreten stofflichen Endproduktes, son-
                                                                                                           
305
RP, S. 23.
216
dern um praktische Metaphysik. Damit ist keine Metaphysik der Praxis ge-
meint, sondern eine Metaphysik durch eine stoffliche Praxis. Die Erschaffung
des Steins der Weisen ist nicht technologisch zu verstehen, sondern als eine
performative Reflexion auf die Frage, wie in und mit der Natur Neues erschaf-
fen werden kann. Die alchemistische Auseinandersetzung mit dieser Frage
vollzieht sich nicht im Medium einer rein theoretischen und spekulativen Phi-
losophie als eine Schreibpraxis, sondern im Laboratorium, in der Performanz
von Händen, Stoffen, Gerätschaften und Verfahren. Alchemistische Schöpfung
kann daher nur sehr bedingt mit dem Ziel einer modernen analytischen oder
synthetischen Chemie in Verbindung gebracht werden. Dies gilt nicht nur, weil
es sich bei der Schöpfung des Stein der Weisen wie dargelegt um eine prak-
tisch-metaphysische Reflexion auf die Schöpfungskraft der Natur handelte und
nicht um einen konkreten Stoff, den es herzustellen galt. Ein weiteres zentrales
Unterscheidungsmerkmal betrifft die Frage der Objektivität der Praxis in mo-
dernen Sinne einer intersubjektiv reproduzierbaren Wirklichkeit als Produkt
einer Forschungspraxis. Im Fall der Transmutationsalchemie steht eben nicht
das verdinglichte Endprodukt in Zentrum des Unternehmens, sondern der Pro-
zess selbst. Und dieser Prozess ist in dem Sinne nicht objektivierbar, als dass er
immer das Wirken eines spezifischen Subjekts, des jeweiligen Adepten um-
fasst. Die praktisch-metaphysische Reflexion auf den Stein der Weisen musste
von jedem einzelnen Adepten immer wieder aufs Neue ausgeführt werden.
Weder die Stoffe noch die Texte, noch der Stein der Weisen standen im Zent-
rum des alchemistischen Werkes, sondern die praktische Tätigkeit jedes ein-
zelnen Adepten. Das grosse Werk der Alchemie weist also immer einen grund-
legenden individualepistemischen Zug auf. Das heisst der Adept kann und soll
aus dem Werk nicht herausobjektiviert werden. Gleichzeitig sind die Texte der
Transmutationsalchemie wie das Rosarium, auch keine Repräsentationsfor-
men eines objektivierten und verallgemeinerten alchemistischen Wissens. Die
Fehldeutung alchemistischer Texte aus einer historischen Rückschau, die vom
telos der Versprachlichung oder Verdinglichung als Endpunkt einer For-
schungsprozesses ausgeht, lässt sich bis heute in der Rezeptionsgeschichte der
Alchemie nachweisen. Die Vieldeutigkeit der Alchemie, die im vorhergehenden
Kapitel unter dem Begriff der Metachrosis gefasst wurde, ergibt sich somit aus
dem Primat der individualepistemischen Praxis in Form einer stofflich vollzo-
217
genen metaphysischen Reflexion. Die Texte, die in historischen Rezeptionswei-
sen als Quellen anvisiert und als zentral erachtet werden, sind zwar durchaus
Elemente im individualepistemischen Prozess der Transmutation, erfassen
aber nicht den Tätigkeitsaspekt der Alchemie. Man könnte sich dies am Beispiel
von Reiseführern veranschaulichen, welche die Reiseerfahrungen unterschied-
licher Reisender zusammenstellen und zukünftigen Reisenden an die Hand
geben. Der Text mag zwar in deren Reisen ins Spiel kommen, aber die Reise
muss jeweils individuell vollzogen und erlebt werden. Es gibt keine allgemein
wahre Reise.

Alchemistische Texte fordern zum Tätigsein auf. Die Fixierung auf einen Out-
put war ihr fremd. Im Mittelpunkt alchemistischen Schaffens steht die Auffor-
derung zur individuellen praktisch-metaphysischen Reflexion der natürlichen
Schöpfungskraft, die von jedem Adepten auf Neue vollzogen werden musste.
Dies ist genau der Grund, weshalb alchemistische Texte bis heute gleichzeitig
so undurchsichtig und schwer nachvollziehbar erscheinen und dennoch im
Zuge der Rezeption bis heute ein kreatives Moment zeitigen, das in der unge-
wöhnlichen Breite der Deutungen zur Alchemie zum Ausdruck kommt. Im letz-
ten Kapitel sollen nun die Überlegungen zur Metachrosis und zum schöpferi-
schen Prozess der Transmutation zusammengeführt und abschliessend vor
dem Hintergrund der heutigen Debatten um die Innovation und Kreativität
einerseits und in Bezug auf die akademische „Buchphilosophie“ andererseits
diskutiert werden.

218
4 Das Feuerwerk

„Nimm dies und jenes und mache es so und so, und du


wirst das erhalten; das ist richtig so bei allen Philoso-
phen. Daher sagt ein PHILOSOPH: Dieses erste Wort
‚Nimm, nimm!’ hat schon viele Irrtümer verursacht.“306

Weder durch das bloße Nachlesen in Büchern, so der Verfasser des Rosariums,
noch durch die Lehre komme der Schüler dem Wissen der Alchemie, dem Stein
der Weisen, näher. Einzig durch eigene Forschung, durch eigenständiges Tun
und eine intensive, praktische Auseinandersetzung mit der Natur sei dieses Ziel
zu erreichen. Alchemistische Texte weisen den Klugen lediglich auf die Kunst
hin und vermögen gute Ratschläge und Hinweise zu geben. Sie sind jedoch
niemals „Rezepte“ der Erschaffung des Neuen. Sie verweisen auf eine einzulö-
sende Tätigkeit, die über das reine Verstehen oder Verfassen eines Textes hin-
ausgeht und der sich jeder Adept stellen muss, sofern er den Stein der Weisen
erschaffen möchte. Ein Text, der eindeutig und vollständig beschreibt, wie sich
der Stein der Weisen im Laboratorium zusammenmischen lässt, ist demnach
kein alchemistischer Text, weil er rein auf ein Endprodukt abzielt. Es gibt, wie
das obige Zitat nochmals betont, kein „nimm dies und jenes“ und „mache es so
und so“ und du kommst zum Ziel. Es gibt kein Rezept des Steins der Weisen.

Der Grund für diese beim Studium der Texte spürbare Unabgeschlossenheit
alchemistischer Werke, die sich stilistisch in vermeintlichen Überflüssigkeiten,
Wiederholungen, Widersprüchen und Abbrüchen des Textflusses äussert, wird
gemäss populärer kultureller Vorstellungen häufig in der „Geheimniskrämerei“
der Adepten gesucht, die sich auch in ihrer offensichtlichen Vorliebe für „Deck-

                                                                                                           
306
RP, S. 15.
219
namen“ äussert.307 Lawrence Principe geht in der Parallelisierung der histori-
schen Alchemie mit gegenwärtiger Forschung sogar soweit zu behaupten, dass
die Alchemie mit moderner Atomforschung mit ihren Risiken vergleichbar sei
und daher zu höchster Geheimhaltung verpflichtet war. Doch zu Anfang des
Rosariums widerspricht der Verfasser einer solchen Auffassung, indem er den
Leser des Textes auf die „ganz durchsichtige“ und dem „menschlichen Ver-
stande angemessene Weise“ seines Schreibens hinweist. Die erste Seite des
Rosariums beginnt mit folgenden Zeilen:

„Leute, die genaueste Kenntnis von der höheren Wis-


senschaft der philosophischen Kunst zu haben wün-
schen, mögen dieses Büchlein recht sorgfältig benut-
zen und es sehr oft ganz lesen, dann werden sie den
gewünschten Erfolg erzielen. [...] Ich jedenfalls möchte
euch, ohne alle Täuschung und Dunkelheit, jeden Ver-
such ganz offen und ehrlich vor Augen führen [...]“308

Dieses Zitat sowie die eben genannte Aufforderung, sich nicht auf das blosse
Studium der Texte zu verlassen ernst nehmend, erhält man eine andere Deu-
tung der vermeintlichen Geheimniskrämerei der Alchemie. Diese hätte weniger
mit einer Präferenz der Adepten für das Obskure und Mysteriöse oder aber mit
wirtschaftlichen Zwängen ihrer Zeit zu tun als mit der Aufforderung zur indivi-
duell zu vollziehenden Tätigkeit, die ich praktische Metaphysik nenne. Alche-
mie im Sinne des Rosariums bedeutet, so die These meiner Arbeit, als Adept
selbst tätig zu werden und im Laboratorium die Schöpfungskraft der Natur
nachzuvollziehen. Jede alchemistische Tätigkeit impliziert daher einen perfor-
mativen Zugang zur Schöpfung, der sich nicht auf den Text reduzieren lässt,
sondern von einem realen Tun, einer konkreten stofflichen Praxis lebt. Diese
Anforderung der Alchemie beruht letztlich auf der tiefen Überzeugung der
Adepten, dass die Schöpfungskraft der Natur sich in einer permanenten Leben-
                                                                                                           
307
Vgl. dazu bspw: Newman, William 1999: Alchemical Symbolism and Con-
cealment. The Chemical House of Libavius. In: Galison, Peter / Thompson, Emily
(Hg.): The Architecture of Science. Cambridge, MA, S. 59-77.
308
RP, S. 10-11.
220
digkeit und Tätigkeit äussert, über die nicht beliebig verfügt werden kann, wie
etwa über Instrumente, Gefässe und andere Gegenstände. Die Schöpfungs-
kraft der Natur ist ausserhalb des Menschen als selbständige natura naturans
verortet und kann nicht „beherrscht“ und manipuliert werden, wie Francis Ba-
con dies im 17. Jahrhundert forderte und hierbei das Programm einer technolo-
gischen Moderne prägte. Selbst wenn die Alchemisten davon ausgingen, dass
sich Schöpfungskraft der Natur etwa im Quecksilber verstofflicht, so gaben sie
sich nicht damit zufrieden, diese einfach zu besitzen oder darüber alles zu wis-
sen. Es reichte nicht aus, das alchemistische Quecksilber in den Händen zu hal-
ten, denn: Echte Schöpfung kann nur dann verstanden werden, wenn sie indi-
viduell nachvollzogen wird, da sie selbst ein permanentes Tätigsein ist. Der rei-
ne Besitz der Schöpfungskraft oder das Wissen um ihre Wirkweise bedeuten
dem wahren Adepten letztlich nichts. In der Alchemie kommt die natürliche
Schöpfungskraft bestenfalls im Tun der Menschen innerhalb und mit der Natur
zum Ausdruck, so dass Epistemologie, Ontologie und Kreativität hier zusam-
menfallen: Alchemistisches Tun ist Verstehen, Sein und Bewirken in Einem. Die
Vorstellung, dass ein verdinglichtes Endprodukt wie beispielsweise ein Text
oder ein Stoff der unendlichen Schöpfungskraft der Natur auch nur im Ansatz
entsprechen könnte, wäre der Alchemie grundlegend falsch erschienen, mehr
noch, ein solches Denken wäre ihr fremd. Wenn die Natur in einem beständi-
gen Prozess schöpft und um so vieles erhabener, grösser und mächtiger ist als
der Mensch, so kann der Adept dies sicherlich nicht einfach in einem Rezept
zusammenfassen und festhalten, sondern muss sich auf den tätigen Umgang
mit etwas genuin Flüchtigem gefasst machen, das sich weder beherrschen,
noch vorhersagen, noch dauerhaft einfangen lässt. Ganz im Gegenteil: Wie
durch das solve-Prinzip gezeigt werden konnte, muss der Adept alles daran set-
zen, sich der Natur ein Gleiches zu machen, damit sie überhaupt in Erwägung
zieht, mit ihm zusammen den Schöpfungsprozess zu vollziehen.

221
Metachrosis

Im ersten Teil der Arbeit wurde exemplarisch eine Bandbreite an historischen


Deutungen zum wahren Wesen der Alchemie vorgestellt, die wohl für kein an-
deres Sujet der Wissenschaftsgeschichte in dieser Weise beobachtbar ist. Es
besteht bis heute keine Einigkeit darüber, was die Alchemie „eigentlich“ war,
welche Ziele sie verfolgte, wie sie dachte und handelte. Trotz der stark praxeo-
logischen Besetzung der Thematik durch die Wissenschaftshistoriker William
Newman und Lawrence Principe in den letzten Jahren bestehen weiter berech-
tigte Zweifel, wie mit der Alchemie als historisches Sujet umgegangen werden
sollte. Man ist sich nicht nur nicht einig, worum es der Alchemie ging, sondern
es scheint grundlegende Uneinigkeit darüber zu bestehen, wie man die Alche-
mie historisch erforschen soll. Die Methoden und Annahmen der aktuellen
Wissenschaftsgeschichte und -philosophie wollen nicht recht zum historischen
Gegenstand passen. Anders als etwa bei der Physik Galileo Galileis lässt sich
hier kein eindeutiges epistemologisches Programm und keine stringente Me-
thodologie identifizieren. Die Alchemie hat etwas schwer Greifbares an sich,
das eine epistemologische Festlegung zu verhindern scheint. Sie wirkt flüchtig
und widerständig. Ebenso wie metachrome Tiere färbt sie sich je nach Zugriff
und Umgebung unterschiedlich ein. Doch wie kann man sich dann mit der Al-
chemie philosophisch auseinandersetzen?

Eine mögliche Antwort wäre, dass der wahre Wissensgrund der Alchemie
schlichtweg noch nicht entdeckt wurde. Eine andere Antwort, die ich in meiner
Arbeit verfolgt habe, besteht darin, alchemistische Texte anders zu betrachten
als bisher, nämlich nicht als finalisierte Destillate alchemistischen Denkens
und Handelns. Was ändert sich nun in der historischen Rückschau, wenn man
davon ausgeht, dass Text und Sprache der Alchemie eine grundlegend andere
Funktion haben als in heutigen verwissenschaftlichten Wissenskulturen?
Wenn weder Funktion noch Inhalt des Textes als „fixiert“ betrachtet werden?
Wenn Alchemie als eine performative Metaphysik und nicht als moderne Wis-
senschaft in nuce wahrgenommen wird?

Diese mögliche Deutung wurde in der Alchemieforschung bis dato nicht be-
dacht. Einzig die Lesart C.G. Jungs, bei dem die Alchemie als unbewusste tie-

222
fenpsychologische Praxis avant la lettre gelesen wird, böte hier gewisse An-
knüpfungspunkte.

Die perspektivischen Beschränkungen in der enger verstandenen akademi-


schen Forschung zur Alchemiegeschichte liessen sich als Symptom einer be-
dauerlichen Vernützlichungstendenz in den Wissenschaften des Modus 2.0
deuten.309Der damit verbundene Imperativ der planbaren Anwendungsorien-
tiertheit wirkt offensichtlich bis tief in den Denkraum der Geisteswissenschaf-
ten hinein. Mittlerweile scheint es auch in einer praxeologisch operierenden
Wissenschaftsforschung undenkbar zu sein, dass ein historisches Unterneh-
men wie die Alchemie inhaltlich, aber gerade auch auf einer epistemologi-
schen, praktischen und metaphysischen Ebene auf andere Rationalitäten be-
fragt und untersucht werden müsste, als in Hinblick auf Pragmatik, Wirtschaft-
lichkeit, technologische Anwendbarkeit und Innovationspotenzial. Es scheint
kaum möglich zu sein, die Alchemie als eigenständigen Teil eines historisch-
genealogischen Strangs in der „Koralle des Lebens“ wahrzunehmen, der sich in
der historisch-epistemologischen Rückschau nicht nur in Hinblick auf die Ent-
wicklung der modernen exakten Naturwissenschaften zu bewähren hat. Dabei
sollte das Werk der Adepten gerade nicht daran bemessen werden, ob und was
es in die historische Büchse des modernen wissenschaftlichen Fortschritts ein-
gezahlt hat. Auch die Idee des objektivierten „Outputs“, ob in Form von ver-
wertbaren „Anwendungen“ oder quantifizierbaren „Papers“, ist für die Alche-
mie unangemessen und hat hier schlichtweg keinen Sinn. Mehr noch: In der
performativen Metaphysik der Transmutationsalchemie kommt eine Idee, oder
besser gesagt, ein Ideal des Schöpferischen zum Ausdruck, das über das blosse
Entdecken, Beherrschen, Machen und Erfinden des Neuen hinausgeht und
stattdessen auf einem selbstständig tätigen Nachvollziehen und Reflektieren
der Schöpfungskraft der Natur beruht. Die im Rosarium klar geäusserten Be-
denken gegenüber einer Kultur des „nimm, nimm“ und des „mach dieses und

                                                                                                           
309
Vgl. dazu Nowotny, Helga / Scott, Peter / Gibbons, Michael 2003: 'Mode 2′
Revisited: The New Production of Knowledge, in: Minerva 41, S. 179-194. Sowie:
Nowotny, Helga 2005: Unersättliche Neugier. Innovationen in einer fragilen
Zukunft. Berlin.

223
jenes“ damit, erscheinen vor diesem Hintergrund mehr als gegenwartsrele-
vant. Sie führen uns zu der Frage, ob der heutige so drängende Wunsch nach
Innovation, die Frage nach dem Neuen nicht viel zu vorschnell auf Fragen der
Verwertbarkeit, der Macht, der Planbarkeit und Kontrolle festnagelt und in
Hinblick auf die Mehrung von Wohlstand, Gesundheit, Jugend instrumentell
verengt wird.

Die Sprache des alchemistischen Werkes

Trotz aller Bemühungen in der Rezeptionsgeschichte die Alchemie ihrer flüch-


tigen Erscheinung zu entkleiden und sie auf modernrationalistische Eindeutig-
keiten festzulegen, weist sie doch eine interessante Widerständigkeit gegen
dieses Vorhaben auf. Diese Beobachtung bildet den Ausgangspunkt zur These
einer alchemistischen Metachrosis, die sich auf textueller Ebene in einer hart-
näckigen Uneindeutigkeit der Sprache äussert. Ein alchemistisches Traktat zei-
tigt andere Lektüre- und Rezeptionseffekte als etwa eine Anleitung zur spezifi-
schen Molekülsynthese, die von der Darstellungsstrategie her bewusst auf
Klarheit, Eindeutigkeit, Vollzug und Objektivität ausgelegt ist. Die Alchemie
hingegen beschreibt nicht nur die Schöpfungskraft der Natur, sie realisiert sie
in einer Tätigkeit und jeder Versuch, diese Tätigkeit intellektuell zu fassen,
mündet in einem weiteren Ausdruck der Schöpfungskraft, ebenso, wie sich me-
tachrome Tiere beständig in ihrem Aussehen verändern, sobald man sich ihnen
zu nähern versucht. Alchemistische Texte sind dabei nicht einfach vieldeutig,
so dass unterschiedliche Deutungen in Frage kommen und ein relativistisches
Szenario erschaffen wird, sondern sie sind auf eine spezifisch performative Art
und Weise unvollständig, so dass sie schöpferisches Denken anzuregen vermö-
gen, das über eine philologisch bedingte Deutungsvielfalt hinausgeht. Der per-
formative Charakter der Alchemie kommt dabei an unterschiedlichsten Stellen
und Orten im alchemistischen Denken und Sprechen zum Ausdruck. Die ge-
nannte Unvollständigkeit, aber auch die Monologe der Stoffe und Analogien zu
natürlichen Phänomenen, die Wiederholungen, Widersprüche, Vergleiche, Ge-
dichte, Träume, sie alle zielen auf rein sprachlicher Ebene darauf ab, beim Rezi-
pienten eine schöpferische Tätigkeit auszulösen. Alchemistische Texte stellen

224
eine sprachliche Herausforderung dar, da sie die Erwartungen des Lesers nicht
erfüllen, sich eines übergreifenden Erzählbogens enthalten und einem Bedürf-
nis nach Klärung fast schon stur zuwider laufen. Der Leser wird somit in der
Schleife einer unaufgelösten Spannung gehalten, die ihn letztlich anregen soll,
tätig zu werden. Genau das ist damit gemeint, wenn der Verfasser des Rosari-
ums davon spricht, dass der „Stoff“ der Alchemie nur „in der Art“ weitergege-
ben werden darf, „wie die Poesie mit Fabeln und Parabeln arbeitet“.310 Der Stoff
muss so weitergegen werden, dass er im Leser einen reflexiven Prozess auszu-
lösen vermag. Diese Charakteristik der alchemistischen Sprache des Rosariums,
die weniger als Kommunikationsmittel fungiert denn als Einladung zum Tä-
tigsein, ist ein zentraler Grund für die Metachrosis in der historischen Rezepti-
on. Auch die Polyphonie des Rosariums, das sich selbst als Florilegium – als
Sammlung und Zusammenschau der wichtigsten alchemistischen „Blüten“
seit der Antike bis zu seiner Zeit – versteht, mit all den zitierten Autoren, vom
Altvater der Alchemisten Hermes Trismegistos über Platon und Aristoteles bis
hin zu Arnaldus selbst, zielt nicht auf intersubjektive Klärung, Entscheidung
und Abwägung von Positionen ab. Im Gegenteil die individualepistemologische
Vielfalt ist irreduzibel und lädt den lesenden Adepten dazu ein, seine eigene
Sprache zu entwickeln. Das Florilegium zeigt dem Leser auf, dass das Werk auf
viele Arten und Weisen vollbracht werden kann und soll ihn dazu anregen, das
Werk in seinem eigenen Tun und in seiner eigenen Sprache zu verfolgen. Es
geht nicht um kollektive (Re-)produktion von objektivierbarem Wissen, sondern
um das individuelle schöpferische Moment. Die eigene Sprache des Adepten ist
hierbei jedoch, und das ist ein weiterer zentraler Punkt, kein Selbstzweck. Das
alchemistische Werk dreht sich in seinem Kern nicht um den Adepten, wie Jung
dies in seiner tiefenpsychologischen Deutung denkt, sondern um den Vollzug
natürlicher Schöpfung. Da Schöpfung einerseits als fortlaufende Tätigkeit, als
natura naturans, gedacht wird, und sich der Adept andererseits nach dem sol-
ve-Prinzip der Natur angleichen soll, muss er in seiner Sprache tätig werden,
um mit der Natur schöpfen zu können, und nicht, um einfach nur selbst tätig zu
werden. Die Entwicklung einer eigenen Sprache ist für die Alchemie daher nur
insofern von Interesse, als dass sie dabei hilft, den Tätigkeitsaspekt natürlicher

                                                                                                           
310
RP, S. 69.
225
Schöpfung auf methodisch-epistemologischer Ebene aufzugreifen, so dass sich
der Adept in das Werk der Natur einklinken kann. Die eigenständige sprachli-
che Reflexion des grossen Werkes muss sich immer auf die Schöpfungskraft
der Natur beziehen. Die Eigenständigkeit der Sprache des Adepten ist damit
notwendige, aber keine hinreichende Bedingung des grossen Werkes. Der
Adept nähert sich seinem grossen Werk, wie gezeigt werden konnte, nicht nur
sprachlich, sondern eben auch und vor allem durch sein stoffliches Tun: durch
eigenständige Beobachtung der Natur, durch eigenständige Behandlung der
Stoffe, durch eine eigenständige Herstellung seiner Gerätschaften, durch eige-
ne Verfahren usw. Ohne die Stofflichkeit und Körperlichkeit des alchemisti-
schen Tuns, das gesamte naturgemässe „Wirken“311 des Adepten, wie es das
Rosarium beschreibt, wäre die Sprache allein für die erfolgreiche Suche nach
dem Stein der Weisen zu wenig. Die Sprache des Adepten steht nicht für sich
selbst, sondern wirkt immer schon im performativen Wechselbezug zum
schöpferischen Prozess. Die schöpferische Wirksamkeit des Adepten ist jedoch
nur dann wirklich gegeben, wenn es ihm durch seine Tätigkeit und durch seine
Sprache gelingt, sich in den fortlaufenden Schöpfungsprozess der Natur im
wahrsten Sinne des Wortes einzumischen. Ohne diese Einmischung in die Na-
tur verbliebe menschliche Tätigkeit sowie jede eigene Sprache in der Tat nur
eine reine Rekombination von Dingen und Worten, ohne wirklich schöpferisch
zu sein.

Neben der sprachlichen Komponente des alchemistischen Werkes habe ich in


meiner Fallstudie auch die inhaltlichen, sprich naturphilosophischen und epis-
temologischen Voraussetzungen des performativen Charakters der Alchemie in
der Tiefe reflektiert. Sowohl im Naturverständnis als auch im Verhältnis des
Adepten zur Natur und zu seinem Werk kommt der performative, individual-
epistemologische Charakter der Alchemie zum Ausdruck.

                                                                                                           
311
Vgl. dazu RP, S. 19: „Ich aber will, daß du ebenso handelst wie die Natur, bes-
ser noch, daß dein Wirken gemäß der Natur sei [...] Das stelle dir vor Augen in
wirklicher, nicht in unwirklicher Vorstellung.“
226
Schöpfung als Tätigkeit

Wer sich mit der Frage nach der Erschaffung des Neuen beschäftigt, sieht sich
schnell mit dem Problem konfrontiert, wie es dem Menschen überhaupt gelin-
gen kann, etwas wirklich Neues zu produzieren. Durch die eigentliche Veror-
tung der Schöpfungskraft in der Natur kehrt die Alchemie, wie ich in meinen
Ausführungen aufzeigen konnte, diese Fragestellung um und fragt nicht da-
nach, wie der Mensch Neues erschaffen kann, sondern wie die Natur schöpft
und was der Mensch dazu beitragen kann, indem er sich einbringt und ein-
mischt. Dazu ist in einem ersten Schritt eine Differenzierung zwischen einer-
seits der eigentlichen Schöpfungskraft und andererseits dem Prozess des Er-
schaffens notwendig, so dass die Schöpfungskraft in einem zweiten Schritt in
einen Bereich ausserhalb des Menschlichen gelegt werden kann, das heisst in
die Natur. Einzig die Natur schafft Neues. Der Mensch hingegen kann schöpfe-
rische Prozesse lediglich anregen und dann zusammen mit der Natur vollzie-
hen. Die Vorstellung, dass der Mensch ein von der Schöpfungskraft der Natur
unabhängiges Wesen sei, wäre der Alchemie „töricht“ erschienen.

Diese enge Verbindung zwischen Adept und Natur kann anhand des solve &
coagula-Prinzips der Alchemie beschrieben werden. Schöpfung entsteht in der
Natur, so die alltägliche Beobachtung der Adepten, immer nur durch Zeugung
von Gleichem mit Gleichem. Die Forderung nach einer möglichst grossen epis-
temologischen Annäherung des Adepten an das Naturgeschehen ergibt sich
als Konsequenz des solve-Prinzips, so dass jede alchemistische Schöpfung als
Zeugung vollführt werden muss. Neues durch ein anderes Prinzip als das der
Natur zu erschaffen, hätte dem solve-Prinzip der Alchemie widersprochen und
war deswegen nicht denkbar. Dies ist ein erster zentraler Hinweis auf die indi-
vidualepistemische Dimension in der Performanz des alchemistischen Werkes.
Das Prinzip der Zeugung fordert zum einen die maximale individuelle Betäti-
gung und Hingabe des Adepten und zum anderen der Natur. Diese wird als
natura naturans gedacht und tritt damit als Akteurin auf, der sich der Alche-
mist gefällig zeigen muss, damit sie die Schöpfung mit ihm vollzieht. Der Al-
chemist kann die Natur nicht einfach beherrschen, er muss ihr in einem ersten
Schritt zu Gefallen wissen und sie zur Schöpfung verführen. Alchemistische
Prozesse gehen demnach immer auch mit einer Veränderung des Adepten
227
selbst einher. Dabei geht es aber ebenso wie bei der eigenen Sprache nicht um
eine Art Selbstwerdung des Adepten, sondern darum, überhaupt erst als
Schöpfungspartner der Natur in Frage zu kommen.

Alchemistische Schöpfung folgt dem Prinzip „Alles oder Nichts“. Entweder man
schöpft mit der Natur, oder man schöpft überhaupt nichts. Die Vorstellung,
dass man schöpferisch tätig sei, wenn man ein alchemistisches Traktat ver-
fasst, darüber diskutiert, die Natur nur beobachtet oder Stoffe auf andere Art
und Weise zusammenführt als durch Zeugung, wird verneint. Weder Nachden-
ken noch Lesen noch Diskutieren noch Begründen und Erklären noch Beschrei-
ben noch Sprechen oder Schreiben sind für sich genommen schöpferische Tä-
tigkeiten. Schöpfung findet immer nur dann statt, wenn der Adept performativ
in ein Zeugungsverhältnis mit der Natur tritt und ihren Prinzipien der Schöp-
fung durch Zeugung folgt.

So ist der Stein der Weisen als Fluchtpunkt des alchemistischen Werkes, so eine
zentrale These meiner Arbeit, entgegen populärer Vorstellungen nicht als kon-
kreter stofflicher Output zu denken, und auch nicht als verdinglicht beherrsch-
bare Schöpfungskraft der Natur, sondern als ein Signum für den individualepis-
temologisch zu vollziehenden Prozess alchemistischer Schöpfung. Wer einen
konkreten Stoff herstellt, beispielsweise Gold, ist für die Alchemie nicht schöp-
ferisch tätig. Wer das alchemistische Quecksilber in seinen Händen hält, besitzt
die Schöpfungskraft der Natur nicht. Nur wer die Schöpfungskraft der Natur
mit ihr im Einklang tätig vollzieht, weiss, was schöpfen heisst und schöpft
gleichzeitig in diesem Moment. Eine Trennung von Ontologie, Epistemologie
und Kreativität existiert für die Alchemie im Prozess der Schöpfung nicht.

Aus dieser radikalen „Alles oder Nichts“-Forderung der alchemistischen Schöp-


fung auf epistemologischer Ebene folgt, wie gezeigt werden konnte, auf konk-
ret stofflicher Ebene ein grundsätzliches Problem: Die Ungleichheit von Adep-
ten und Natur, bzw. Adept und Stein der Weisen, die zu einem Werk „wider der
Natur“, einem opus contra naturam führen muss, in dem der alchemistische
Körper wider der Schöpfungskraft der Natur abgetötet wird. Dieser zerstöreri-
sche Moment im alchemistischen Werk wirkt auf den ersten Blick verstörend,
beinhaltet aber in Wirklichkeit eine komplexe Reflexion des Schöpfungsver-

228
hältnisses des Adepten zur Natur, das sich in einem ausgewogenen Verhältnis
zwischen dem Vollkommenen und dem Unvollkommenen im alchemistischen
Werk zeigt und sich darüber bewusst ist, dass der Mensch zur Natur in einer
stofflichen Differenz befindet.

Das Vollkommene und das Unvollkommene

Sowohl die Vollkommenheit der Schöpfungskraft, verstofflicht im Quecksilber


als auch das vollkommenste Ergebnis dieser Schöpfungskraft, das Gold, sind
auch ohne das alchemistische Werk in der Natur bereits vorhanden. Der Adept
befindet sich allerdings sowohl gegenüber dem alchemistischen Quecksilber
als auch gegenüber dem alchemistischen Gold in einer nicht hintergehbaren
Differenz. Er kann Gleiches nicht mit Gleichem zeugen lassen, da er stofflich
von anderer Art ist.

Die Lösung für dieses Dilemma bietet die prima materia-Theorie der Alchemie,
die davon ausgeht, dass es eine formlose Materie geben kann, der dann eine
Form eingeprägt werden kann. Materie, Form und schöpferische Kraft werden
hier als Trias aus Körper, Seele und Geist gefasst. In dem Sinne besteht auch
der Stein der Weisen aus Körper, Seele und Geist. Sowohl die Seele und damit
die Form des Steins der Weisen (das Gold) als auch der Geist (die Schöpfungs-
kraft der Natur in Form des alchemistischen Quecksilbers) sind bereits vorhan-
den. Um den Stein der Weisen trotz der stofflichen Differenz erschaffen zu
können, verwendet der Alchemist einen möglichst unvollkommenen Körper, da
dieser sich leichter in prima materia verwandeln lässt als ein vollkommener
Körper. Dies beruht auf der alchemistischen Vorstellung, dass aus etwas Voll-
kommenen nichts mehr werden kann, da es selbst bereits das Endprodukt der
schöpferischen Tätigkeit der Natur ist. Da jedoch Unvollkommenes noch zu
etwas Vollkommenen werden kann, also ein potenzielles Werden darstellt,
muss der Adept lediglich etwas Unvollkommenes beisteuern. Ist das Unvoll-
kommene erst einmal im opus contra naturam vollends „getötet“, das heisst
von seinem unvollkommenen „Körper“, der Form befreit, so kann der Alchemist
der so erhaltenen prima materia die Form des Goldes als Seele anbieten und
sodann den schöpferischen Geist in einer wiederholten Sublimation dem Kör-

229
per-Seele-Gemisch wieder hinzufügen. Dies entspricht dem alchemistischen
coagula-Moment. Alchemistische Schöpfung findet nur dann statt, wenn durch
den Adepten ein ausgewogenes Verhältnis von vollkommenen und unvoll-
kommenen Anteilen in den Schöpfungsprozess eingebracht wird, wobei insbe-
sondere gerade der unvollkommene Teil von zentraler Bedeutung für das Ge-
lingen des grossen Werks ist, da die bereits existierende Vollkommenheit kein
Werden mehr in sich birgt.

Transmutationsalchemistische Prozesse können als praktische Metaphysik,


bzw. als performative naturphilosophische Reflexion auf die Schöpfung des
Neuen verstanden werden, die im Stein der Weisen sinnbildlich zum Ausdruck
kommt. Dem Unvollkommenen kommt in dieser stofflichen Reflexion eine
zentrale Rolle zu, da der alchemistische Körper das Einzige ist, das der Adept
selbst herstellen muss. Es ist seine Aufgabe, mit einem möglichst unvollkom-
menen Körper zu beginnen, da nur aus einem Unvollkommenen etwas werden
kann und ihn im Feuer zu „töten“. Schöpfung ist ein permanentes Werden, eine
Tätigkeit der Natur, deshalb ist die Unvollkommenheit des Körpers für die
Transmutationsalchemie so bedeutsam.

Zu diesem Unvollkommenen zählen nicht nur die konkreten Materialien und


Ausgangsstoffe des Adepten, sondern, da wir uns mit der Idee des Steins der
Weisen immer auf der Ebene der Metaphysik der Schöpfung befinden, auch die
alchemistischen Texte selbst. Hier verbinden sich die naturphilosophischen
Vorstellung der Alchemie zur Schöpfung mit den Texten der Alchemie und ver-
einen dadurch das Konzept der Metachrosis mit dem Konzept der performati-
ven Metaphysik. Die naturphilosophisch begründete Idee der Unvollkommen-
heit ist in der Alchemie so stark an die Idee der Schöpfung als Tätigkeit gekop-
pelt, dass diese sich letztlich auch in den Texten zeigen muss, um den Adepten
zu einer Tätigkeit anregen zu können, indem sie selbst so unvollkommen wie
möglich sind. Das Rosarium begnügt sich deshalb damit, „den Klugen auf die
Kunst hinzuweisen“, da die Entstehung des Neuen untrennbar mit einem ei-
genständigen Tätigsein des Adepten vor dem Hintergrund der Unvollkommen-
heit verbunden ist.

230
An dieser Stelle holen sich die naturphilosophische und epistemologische Di-
mension der Alchemie in ihren eigenen Texten ein: Die Idee, dass ein alchemis-
tischer Text vollkommen sein sollte, bzw. ein Endprodukt eines Schöpfungspro-
zesses lässt sich nicht mit der alchemistischen Vorstellung der Schöpfungskraft
der Natur als eine Tätigkeit vereinbaren. Ein vollkommener Text wäre für die
Alchemie niemals imstande, beim Adepten ein Werden im Sinne einer selbst-
ständig tätigen Reflexion auszulösen. Die Erschaffung des Neuen ist ein indivi-
dualepistemisch und performativ zu vollziehender Prozess. Kein Text vermag
die flüchtige Schöpfungskraft der Natur zu fassen, die sich so wenig wie das
flüssige und flüchtige Quecksilber mit den Händen festhalten lässt. Selbst
wenn ein Adept das Werk dereinst erfolgreich vollbringen und daraufhin den
Weg dorthin im Detail in einem Text niederschreiben würde, so wäre dieser
Text keinem anderem Adepten ein wirkliche Hilfe, da er sich auf etwas bezöge,
das selbst permanent im Wandel ist.

Die Vorstellung vom alchemistischen Schöpfungsprozesses lässt sich mit der


Reise eines Nomaden durch eine Sandwüste veranschaulichen. Umgeben von
einer sich permanent in Veränderung und Bewegung befindlichen Dünenland-
schaft bleibt dem Reisenden nichts anderes übrig, als sich auf die momentanen
Begebenheiten einzulassen, sie bestmöglich zu erkennen und mit ihnen zu ge-
hen. Es gibt nichts Festes oder Beständiges, an das sich das Auge oder die Hand
halten könnte. Die alchemistischen Fixsterne der Sonne und des Merkurs, bzw.
das alchemistische Gold und Quecksilber sowie alle anderen der Alchemie be-
kannten Planeten und ihr zugehörigen Metalle, sind ihm in diesem Prozess
zwar eine grosse Hilfe, ändern aber letztlich nichts daran, dass sich der Reisen-
de mit den permanent bewegten Sandbergen auseinandersetzen muss. Ge-
langt die Reise des Adepten an ein Ende, wäre es sinnlos, dem nachfolgenden
Reisenden eine vollständige Beschreibung des gegangenen Weges zu hinter-
lassen, da sich die Landschaft in der Zwischenzeit bereits wieder verändert hät-
te. Man kann den „Klugen“ lediglich auf die Bedeutung und Hilfe der vollkom-
menen alchemistischen Fixsterne hinweisen und ihm ein paar hilfreiche Rat-
schläge mit auf die Reise geben, aber schlussendlich wird sich auch der neue
Adept, sobald er sich an den Prozess der Schöpfung begibt, der flüchtigen
Schöpfungskraft fügen und seinen eigenen Weg mit ihr gehen müssen. Es gibt

231
kein „nimm, nimm“ und „mache es so und so“ und du wirst dieses und jenes
erhalten. Es gibt keine Wegleitung.

Vor dem Hintergrund der alchemistischen Metachrosis und einem Verständnis


der Alchemie als performative Metaphysik stellt sich die vielfältige Rezeptions-
geschichte der Alchemie als Ausdruck eines besonderen schöpferischen Poten-
zials der Alchemie dar, deren bewusste und absichtliche Unvollkommenheit – so
dürftig, widersprüchlich, falsch, geheimnisvoll, unbewusst und vormodern sie
auf den ersten Blick auch wirken mag – bis heute in erstaunlicher Weise ein
„Werden“ und Tätigsein anzuregen vermag. Die Texte affizieren bis heute ihre
Leser. Reiht man daher die in dieser Arbeit vorgestellten Rezeptionsweisen und
historischen Deutungen der Alchemie von George Sarton, über Alexandre
Koyré bis hin zu C. G. Jung und William Newman nicht vorschnell in eine an
wissenschaftlichem Fortschritt bemessende Geschichte ein, so erscheint keine
dieser Deutungen „wahrer“ oder „falscher“. In ihrer Vielfalt sind sie jedoch
nicht einfach der Normalfall einer relativistischen Deutungsvielfalt oder Zeug-
nis eines unterentwickelten Forschungsstandes der Alchemieforschung, son-
dern allesamt Ausdruck einer bis heute zu beobachtenden praktischen und
performativen Reflexion des Schöpferischen im Medium der historischen Al-
chemie.

Das Wesen des Neuen

Gewiss können die Ideen und Vorstellungen der Alchemie über Schöpfungs-
prozesse nicht einfach auf aktuelle gesellschaftliche Debatten, Entwicklungen
und Verhältnisse übertragen werden. Die Alchemie bietet sich vielmehr als
„vormoderner“ Bezugspunkt an, als eine historisch-epistemologische Alteri-
tät,312 die es ermöglicht, das moderne technowissenschaftliche Denken aus ei-
nem zeitlich imaginierten Aussen zu reflektieren. In diesem Sinne kann eine
Auseinandersetzung mit der Frage des Neuen in der Alchemie perspektivische

                                                                                                           
312
Vgl. hierzu Ridder, Klaus / Patzold, Steffen (Hg.) 2013: Die Aktualität der Vor-
moderne. Epochenentwürfe zwischen Alterität und Kontinuität. Berlin.
232
Verengungen im gegenwärtigen Innovationsdiskurs beleuchten und im besten
Fall sogar alternative Möglichkeitsräume aufzeigen.

Zunächst fällt eine gewisse Anschlussfähigkeit heutiger Innovationsdiskurse


zum alchemistischen Denken auf. So wird Innovation zunehmend in seiner
Prozessualität anvisiert und weniger in Hinblick auf ein bestimmtes Endpro-
dukt. Jedoch sticht im Kontrast zur Alchemie sogleich die etablierte Vorstellung
ins Auge, Innovation und Kreativität liessen sich „managen“. Man könnte die
heutige Kultur der Innovation durchaus als eine Planwirtschaft beschreiben,
welche die Frage der Schöpfung des Neuen in ein gesellschaftliches Produkti-
onsverhältnis einspannt. Dabei ist das starke Narrativ des modernen Fort-
schritts, in dem das Neue als Träger eines Versprechens fungiert – eines Ver-
sprechens auf eine bessere Zukunft, wie Nowotny schreibt – längst durch eine
dominante Kultur der Verwertbarkeit überlagert. Die maximale Verzweckung
des Schöpferischen im Heute wird in der Auseinandersetzung mit der Trans-
mutationsalchemie umso deutlicher, als dass hier die Erschaffung des Neuen
ausschliesslich um seiner selbst Willen performiert und inszeniert wird. Willi-
am Newmans historische Deutung der Alchemie als Erfinderin eines instru-
mentell-technologischen Weltbezuges hat sich im Zuge der Studie als eine un-
angemessen überzeichnete historische Rückprojektion herausgestellt. Auch
wenn der Stein der Weisen in der Tat eine Verheissung bedeutet – auf Glückse-
ligkeit, Gesundheit und Reichtum –, so handelt es sich hier mitnichten um eine
verdinglichte und finalisierte Technologie, sondern um einen ideellen und
gleichzeitig materiell imaginierten Fluchtpunkt für den Vollzug des schöpferi-
schen Prozesses. Schon Liebig hat im 19. Jahrhundert darauf verwiesen, dass
ein starker telos wie der Stein der Weisen schöpferische Prozesse anzuregen
vermag, die dann durchaus verwertbare Effekte zeitigen. Dies gilt sicherlich
auch für heutige Innovationen. Die Suche nach dem grundlegenden Wesen der
Materie im CERN führte beispielsweise zum „Nebenprodukt World Wide
Web“.313 Auch der Heraklit’sche Topos des Krieges als Vater aller Dinge wurde
insbesondere in den neueren deutschen Kultur- und Medienwissenschaften in
diesem Sinne bemüht. Insbesondere die Weltkriege des 20. Jahrhunderts wer-

                                                                                                           
313
Vgl. dazu: Berners-Lee, Tim 2000: Weaving the Web. The Original Design and
Ultimate Destiny of the World Wide Web. New York.
233
den hier in durchaus problematischer Ausblendung des Kontexts als Generato-
ren von zahllosen technologischen „Nebenprodukten“ aufgefasst.314

Auch neuere epistemologische Konzepte wie etwa Hans-Jörg Rheinbergers


Theorie der Experimentalsysteme liessen sich als Einspruch gegen eine techno-
kratische Innovationspolitik lesen. Das Neue kann weder im Labor noch sonst
wo kalkuliert und determiniert werden. Gleichzeitig, so kann man mit Rhein-
berger argumentieren, lassen sich durchaus Ermöglichungsräume konstruie-
ren, in denen entsprechende Bedingungen in Kombination mit den Fähigkeiten
erfahrener Experimentatoren, das zufällige Auftreten des Neuen wahrscheinli-
cher machen. Hier trifft sich Rheinbergers Epistemologie des Experiments mit
der Toolbox des Innovationsmanagements. In den ambitionierten Unterneh-
men der Wissensgesellschaft werden längst Räume und Architekturen der Kre-
ativitätsermöglichung umgesetzt.315 Die hier zum Ausdruck kommende Verwis-
senschaftlichung und Technisierung des Innovationsmanagements basiert auf
der Annahme einer Verallgemeinerbarkeit des Wissens um Innovation, die je-
doch in Hinblick auf das individualepistemische Moment der alchemistischen
Schöpfung durchaus auch hinterfragt werden könnte. Kann es ein objektivier-
tes Skript und entsprechend allgemeingültiges Tool für die Produktion des
Neuen geben? Wenn Neues jedoch immer nur in individualisierten Instanzen
erschaffen werden kann, so haben homogenisierende Verordnungen einer
Makropolitik der Innovation keinen Sinn, die auf der Annahme beruhen, es gä-
be Naturgesetzlichkeiten in der Erzeugung des Neuen.

Dabei muss man beachten, dass die individualepistemische Dimension des


Schöpferischen nicht mit der individualpsychologischen Dimension verwech-
selt wird. Die Kritik an einer Planwirtschaft des Neuen, die auf Makropolitiken
objektivierter Innovation setzt, muss, wie die Alchemie zeigt, eben nicht
zwangsläufig mit einer Aufwertung des psychologischen Kreativitätsmanage-
ments einhergehen, das auf die einzelne Personen (oder systemisch: auf indivi-

                                                                                                           
314
Zentral für diese Art der technischen Mediengeschichte sind die Arbeiten von
Friedrich Kittler. Siehe hierzu etwa Kittler, Friedrich 1986: Grammophon Film
Typewriter. Berlin, S. 6.
315
Siehe hierzu die künstlerisch-dokumentarische Verarbeitung des Themas in
Carmen Losmanns Film „Work Hard Play Hard“ von 2011.
234
duelle Kollektive) abzielt. Wenngleich die romantische Idee des schöpferischen
Genies, zumindest in der alltäglichen Arbeitswelt, von der Idee des populären
„Jeder kann kreativ sein“316 abgelöst wurde, stehen doch beide Vorstellungen in
der Tradition einer psychologisierenden Verortung des Schöpferischen im
Menschen. Diese Entwicklung hin zu einem totalisierenden Kreativitätsdogma
erscheint vor dem Hintergrund alchemistischer Bescheidenheit gegenüber der
natürlichen Schöpfungskraft zugleich masslos überhöht und hoffnungslos
überfordernd. Die Dezentrierung des Schöpferischen durch Delegation an eine
äussere Instanz – in Fall der Alchemie an die Natur – verspräche hier eine gewi-
se Entlastung und Distanz. Auch liesse sich das Schöpferische so wieder aus
den allgegenwärtigen Selbstoptimierungstechniken herauslösen. Nimmt man
die obigen Überlegungen zusammen, so zeichnet sich die Frage der Verfügbar-
keit des Schöpferischen als zentraler Punkt in einer kritischen Auseinanderset-
zung mit aktuellen Innovationsdiskursen ab. Die alchemistische Vorstellung
des Schöpferischen als ein flüchtiges Moment, das dem Menschen äusserlich
ist, das es zu verführen und zu gewinnen gilt, regt dazu an, Phantasmen der
absoluten Verfügbarkeit des Neuen in Frage zu stellen. Zumindest als diskursi-
ves Korrektiv sollte die Möglichkeit einer Unverfügbarkeit des Neuen ernsthaft
diskutiert werden. Dazu wäre es erforderlich, sich auch nochmals zu verge-
genwärtigen, welche impliziten Vorstellungen vom Neuen hier zugrunde ge-
legt werden.

Die Auseinandersetzung mit der Alchemie schärft den Blick für unterschiedli-
che Typologien des Neuen. So findet sich die von Helga Nowotny problemati-
                                                                                                           
316
Vgl. dazu beispielsweise: Schönberger, Birgit 2009: Kreativität kann man ler-
nen. In: Psychologie Heute 9, S. 30-35; Scherer, Jiri / Chris, Brügger 2007: Kreati-
vitätstechniken. In 10 Schritten Ideen finden, bewerten, umsetzen. Offenbach;
Nölke, Matthias 2010: Kreativitätstechniken. Freiburg im Breisgau; Backerra,
Hendrik / Malorny, Christian / Schwarz, Wolfgang 2007: Kreativitätstechniken.
Kreative Prozesse anstoßen, Innovationen fördern. München; Boos, Evelyn
2007: Das große Buch der Kreativitätstechniken. München. Siehe weiterhin das
aktuelle wissenshistorische Forschungsprojekt von Claudia Mareis zu Kreativi-
tätstechniken als Wissenstechniken. Vgl. Mareis, Claudia 2013: Eine multidiszip-
linäre Geschichte. Designforschung, Kreativitätstechniken und Methodenfra-
gen. In: Mareis, Claudia / Windgätter, Christof (Hg.): Long Lost Friends. Wech-
selbeziehungen zwischen Design-, Medien- und Wissenschaftsforschung. Zü-
rich/Berlin, S. 207–224.
235
sierte Kluft zwischen dem Bestehenden und dem Neuen in unterschiedlichen
Formen wieder. In einer Welt der überbordenden Zeichenproduktion wird das
Neue vornehmlich als semiotische Differenz adressiert, von der Nachrichten-
produktion, den News, bis hin zum Experimentalsystem Hans-Jörg Rheinber-
gers. Das prekäre Spiel aus Wiederholung und Differenz, das sich in der Spann-
breite zwischen von gerade noch ausreichender und zu grosser kommunikati-
ver Anschlussfähigkeit, zwischen kontingenter Emergenz und bewusster Dis-
tinktion entfaltet, spielt sicherlich eine zentrale Rolle für heutige Innovations-
kulturen. Einen wirkmächtigen Arbeitsmodus des Schöpferischen stellen in
diesem Zusammenhang rekombinatorische Theorien dar, die vom physiko-
chemischen Baukastensystem der Materie etwa im synthetischen Molekülde-
sign, über künstlerische Bricolage- und Collage-Techniken bis hin zu Nelson
Goodmans Philosophie der Welterzeugung reichen. Die schöpferische Praxis
der Rekombinatorik basiert dabei immer auf einem initialen Akt der Aufhebung
bestehender Anordnungen. In der Theorie des Ökonomen Joseph Schumpeter
wird dieser Moment im frühen 20. Jahrhundert prominent als „Prozess der
schöpferischen Zerstörung“ beschrieben.317 Auch wenn in diesem Begriff ein
alchemistisches Denken anzuklingen scheint, so geht die Transmutationsal-
chemie hier in der Tat über eine blosse Rekombination hinaus. So wird dem
Schöpferischen nicht nur durch Umordnung bestehender Ordnungen der Weg
bereitet, sondern durch eine stoffliche tabula rasa im sogenannten nigredo. Die
Schöpfung wird von der nackten materiellen Existenz der prima materia aus
gedacht, die aller Formgebung vorgelagert ist. In Anbetracht der grossen Kriege
im 20. Jahrhundert ist jedoch eine vorschnelle Einstimmung auf die schöpferi-
sche Kraft der Zerstörung, wie etwa in ökonomischen Theorien bis heute, mehr
als kritisch zu sehen. Anders als bei Schumpeter wird in der Alchemie die Ver-
bindung von Schöpfung und Zerstörung jedoch durchaus problematisiert. Für
die Abtötung des Körpers in einem opus contra naturam ist ein hoher Preis zu
zahlen: der langwierige, möglicherweise auch zum Scheitern verurteilte Ver-
such, den Leichnam in wiederholter Sublimation mithilfe des alchemistischen
Geistes wiederzubeleben.

                                                                                                           
317
Vgl. dazu Schumpeter, Joseph A. 1912: Theorie der wirtschaftlichen Entwick-
lung. Berlin.
236
Das Neue erwächst in der Alchemie demnach nicht aus einer Rekombinatorik
bestehender Elemente, sondern in der vollkommenen Mischung von Materie,
Form und Geist im Verlauf der Sublimation. Dabei ergibt sich die Schöpfungs-
dynamik keineswegs aus einem linearen Fortschritt vom Unvollkommenen
zum Vollkommenen, sondern zyklisch und in der Gleichzeitigkeit des Ungleich-
zeitigen und Ungleichen. Es bedarf des Unvollkommenen ebenso wie des Voll-
kommenen um schöpferische Prozesse zu initiieren. Es würde lohnen, gesell-
schaftlich um sich greifende Exzellenzpolitiken in Hinblick auf diese Weisheit
der Alchemie zu befragen. Man könnte sie gerade auch im akademischen Kon-
text als Anregung lesen, dem Glauben abzuschwören, nur „herausragende“
Instanzen seien imstande, Neues hervorzubringen. Denn aus Exzellenz allein,
so könnte man mit der Alchemie argumentieren, kann nichts mehr werden. Es
braucht Heterogenität. Auch die Frage nach dem Verhältnis von Feuerphiloso-
phie und Buchphilosophie wird im Folgenden in Hinblick auf bestehende Ho-
mogenitäten in der heutigen akademischen Philosophie diskutiert.

Feuerphilosophie

Wie eingangs festgestellt, verstanden sich Alchemisten als „Philosophen“.


Doch weder sind ihre Werke in den Kanon der heutigen Philosophie eingegan-
gen, noch würde man heute die Arbeit mit Stoffen als Philosophie verstehen.
Ist das Projekt der Feuerphilosophie, einer stofflich operierenden performativen
Naturphilosophie historisch schlichtweg obsolet?

Die heutige akademische Philosophie arbeitet vor allem im Modus begrifflicher


Differenzierung. Sie steht damit in einer langen Tradition, mit zahlreichen
prominenten Unterscheidungen wie Materie / Geist, Physik / Metaphysik das
Sein / das Nichts, reine Vernunft / praktische Vernunft, das Ding an sich / die
Erscheinung, Recht / Unrecht, Zeichen / Sinn, Meinung / Wissen, wissenschaft-
lich / unwissenschaftlich usw. Insbesondere die heute akademisch internatio-
nal tonangebende analytische Philosophie hat sich seit dem frühen 20. Jahr-
hundert der Produktion immer elaborierterer sprachlich-logischer Unterschei-
dungen verschrieben. Gleichzeitig hat sich in den letzten Jahrzehnten in Teilen

237
der Philosophie, sicherlich auch befördert durch entsprechende Paradigmen-
wandel in den benachbarten Kulturwissenschaften, in der Kunst und auch auf-
grund gesellschaftspolitischer Entwicklungen,318 eine gesteigerte Aufmerksam-
keit für die „Praxis“ herausgebildet. Begriffspaare wie Theorie und Praxis, Text
und Aktion, Repräsentation und Intervention, Sprechen und Handeln, ebenso
wie die Frage nach Diskursen, Kommunikationsprozessen und Sprechakten
wurden längst von der philosophischen Reflexion eingeholt. Doch trotz dieser
Aufmerksamkeit für Fragen der Performativität, der Praxis und auch für die
unterschiedlichen Materialitäten, in denen sich spezifisch auch Denkpraxen
vollziehen, operiert die akademische Philosophie methodologisch als Buchphi-
losophie. Das ausgezeichnete Medium der philosophischen Reflexion ist der
Text. Akademisches Philosophieren vollzieht sich heute (nach dem Gespräch)
vornehmlich im Verfassen von Texten. Auch die Naturphilosophien des 20.
Jahrhunderts, welche die Natur in ihrem permanenten Wandel als einen fort-
laufenden kreativen Prozess beschreiben, etwa von Alfred North Whitehead
über Isabelle Stengers bis hin zu Bruno Latour,319 denken durch den Text und
nicht im Medium des Stofflichen. Allerdings liesse sich die Naturphilosophie
der Romantik im frühen 19. Jahrhundert, etwa bei Friedrich Wilhelm Joseph
Schelling und Johann Wolfgang von Goethe, in Anknüpfung an die vorliegende
Arbeit durchaus auch aus feuerphilosophischer Perspektive neu lesen.320

Heutige Naturphilosophen arbeiten in der Regel nicht mit Stoffen und heutige
Experimentalwissenschaftler verstehen sich nicht als performative Metaphysi-
ker. Diese moderne Arbeitsteilung hat sich vor allem in Hinblick auf die Ent-
wicklung der Wissenschaften und der Technologie als enorm produktiv erwie-

                                                                                                           
318
Siehe hier im Kontext der gesellschaftlichen Protestbewegungen seit den
späten 1950er und in den 1960er Jahren etwa die Aufwertung des Praxis-
Begriffs in der Epistemologie Louis Althussers sowie im Kontext der Situatio-
nistischen Internationale.
319
Vgl. dazu: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 2013: Ideen zu einer Philoso-
phie der Natur. Berlin; Whitehead, Alfred North 1987: Prozeß und Realität. Ent-
wurf einer Kosmologie. Frankfurt; Prigogyne, Ilya / Stengers / Isabelle 1981: Dia-
log mit der Natur. Neue Wege wissenschaftlichen Denkens. München. Latour,
Bruno 2001: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie. Frankfurt.
320
Vgl. hier Cunningham, Andrew / Jardine, Nicholas (Hg.) 1990: Romanticism
and the Sciences. Cambridge.
238
sen. Und doch liesse sich fragen, ob das Projekt einer Feuerphilosophie mit die-
ser historischen Entwicklung schlicht weg verschwunden ist oder ob sich nicht
vielleicht in anderen kulturellen Praxen feuerphilosophische Elemente ausma-
chen lassen. Die Ausweitung des Gegenstandsbereich des Philosophischen,
etwa bei Stanley Cavell,321 auf populäre kulturelle Ausdrucksformen wie Kunst,
Musik und Film mag dazu anregen, auf mögliche feuerphilosophische Reflexi-
onsformen jenseits des akademischen Diskurses zu achten.

In der Tat scheint es auf einen ersten Blick feuerphilosophische Anknüpfungs-


punkte in der künstlerischen Praxis zu geben. So gehen performative Künste
davon aus, dass in der vergänglichen Performativität des Kunstschaffens ein
Erkenntnismoment zum Ausdruck kommt, das sich nicht in Endprodukten wie
dem Gemälde oder der Plastik einfangen lässt.322 Insbesondere die stofflich ar-
beitende Performance-Kunst, die sich auf Naturphänomene bezieht, böte sich
als Vergleich zur Feuerphilosophie der Adepten an. Als eindrückliche Beispiele
seien hier die Arbeiten des Chinesischen Künstlers Cai Guo-Qiang sowie des
Schweizer Künstlers Roman Signer erwähnt. Beide setzen sich in ihrer künstle-
rischen Tätigkeit bevorzugt mit Naturphänomenen wie Wind, Sand, Licht und
Wasser auseinander. Zudem betreiben sie im wörtlichen Sinne ein Feuerwerk
(opus ignis war ein gängiges Synonym alchemistischer Tätigkeit).323 Guo-Qiang
                                                                                                           
321
Vgl. dazu bspw.: Cavell, Stanley 1981: Pursuits of Happiness. The Hollywood
Comedy of Remarriage. Harvard.
322
In den letzten Jahren wird für diesen epistemischen Aspekt des künstleri-
schen Schaffens auch zunehmend der Begriff der Forschung ins Spiel gebracht.
So sehr es hier sicherlich um wissenschaftspolitische Fragen, etwa um das
Promotionsrecht für Kunsthochschulen und um Forschungsförderung geht, so
liesse sich hier durchaus auch feuerphilosophisch argumentieren. Siehe hier
bspw.: Rey, A. / Schöbi, St. (Hg.) 2009: Künstlerische Forschung. Positionen und
Perspektiven. Zürich; Lesage, D. / Busch, K (Hg.) 2007: A Portrait of the Artist as
a Researcher. Antwerpen; Leavy, P 2009: Method Meets Art. Art-Based Research
Practice. New York; Fischer-Lichte, Erika 2004: Ästhetik des Performativen.
Frankfurt; Dewey, John 1980: Kunst als Erfahrung. Frankfurt. Sowie die Arbeiten
von Florian Dombois.
323
Vgl. zum Begriff des opus ignis: Telle, Joachim / Kühlmann, Wilhelm (Hg.)
2001: Der Frühparacelsismus. Teil 1 – Frühe Neuzeit. Tübingen, S. 277f; Kraus,
Ludwig August 1831: Kritisch-etymologisches medicinisches Lexikon oder Erklä-
rung des Ursprungs der besonders aus dem Griechischen in die Medicin und in
die zunächst damit verwandten Wissenschaften aufgenommenen Kunstaus-
239
beschreibt seine Kunst sogar selbst als „Alchemie“, da sie einen Dialog zwi-
schen ihm und unsichtbaren Kräften der Natur darstelle.324 Er arbeitet deshalb
zum Teil mit verschiedenen Arten und Anordnungen farbiger und schwarzer
Explosionen, um so die Naturkräfte in der Performance erfahrbar zu machen.
Roman Signer verwendet ebenfalls Explosionen,325 setzt aber auch weitere na-
türliche Eigenschaften und Kräfte, wie die des Wassers, des Windes, der Tiere
oder mechanischer Vorrichtungen usw. ein. Zumindest ein Teilbereich der
Kunst könnte daher durchaus als Fortleben einer alchemistischen Idee der per-
formativen Metaphysik des Schöpferischen verstanden und betrachtet werden.
Es könnte sich, so deuten die genannten Arbeiten an, lohnen, die performati-
ven Künste aus feuerphilosophischer Perspektive neu zu lesen.

Der Blick auf die Kunst soll nicht implizieren, dass sich akademische Naturphi-
losophie in Zukunft zur rein stofflich performativen Praxis umwandeln sollte.
Er diente vielmehr dazu, die Möglichkeit anzudenken, dass Elemente der Feu-
erphilosophie wenn nicht in der akademischen Philosophie so doch in anderen
kulturellen Unternehmungen fortleben. Auch geht es nicht darum, die Tren-
nung von Naturphilosophie und Naturwissenschaft aufheben zu wollen und
die Philosophen aufzufordern, wieder ins Labor zu gehen – auch wenn nicht
zuletzt Hans-Jörg Rheinbergers Experimentalsystemlehre aufzeigt, dass hier in
der Tat interessante interdisziplinäre Befruchtungen stattfinden können. Auch
die experimentelle Wissenschaftsgeschichte konnte aufzeigen, dass die stoffli-
che Praxis zuweilen auch für geistes- und kulturwissenschaftliche Fragestel-
lungen mit neuen Erkenntnismöglichkeiten aufwartet, zum Beispiel mit der

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 
drücke, zugleich als Beispielsammlung für jede künftige Physiologie der Spra-
che. Wien, S. 637; Eichhorn, Johann Gottfried 1814: Litterärgeschichte. Litterär-
geschichte der drey letzten Jahrhunderte, Band 2. Göttingen, S. 905; Pfingsten,
Johann Hermann 1786: Journal für Forst-, Bergwerks-, Salz-, Schmelzhütten-,
Fabrik ..., Bände 1-2, Hannover, S. 106.
324
vgl. dazu http://www.youtube.com/watch?v=ZFWb8YKCHho sowie:
http://www.qagoma.qld.gov.au/exhibitions/current/cai_guo-qiang sowie
http://www.caiguoqiang.com (beide aufgerufen: 01.02.2014)
325
Vgl. dazu: Mack, Gerhard / Bosch, Paula van den / Millar, Jeremy (Hg.) 2006:
Roman Signer. London, Paris, Berlin, New York, Tokyo. Sowie: Signer, Roman
2004: Signers Koffer. Unterwegs mit Roman Signer. Ein Film von Peter Liechti.
240
Sichtbarmachung impliziten Handlungswissens jenseits historischer Textquel-
len.326

Die Auseinandersetzung mit der alchemistischen Feuerphilosophie dient in der


vorliegenden Arbeit weniger als Aufruf zu einer Rückkehr der Philosophen zur
Retorte denn als kritische Kontrastfolie für heutige philosophische Praxis. Sie
bietet sich an, um insbesondere ihre praktische Textzentriertheit neu in den
Blick zu bekommen. Buchphilosophie ist konstitutiv logozentrisch und damit
medial und stofflich an das Papier bzw. heute an das Silizium gebunden. Die
Schwierigkeiten der heutigen Wissenschaftsphilosophie mit transmutationsal-
chemistischen Texten hängt, wie gezeigt werden konnte, gerade auch mit
selbstverständlichen epistemologischen Setzungen und methodologischen
Konventionen zusammen, etwa dass Texte als objektivierter Output und als
telos einer philosophischen Reflexion verstanden werden oder dass es der Phi-
losophie um eindeutige begriffliche Unterscheidungen gehen müsse und dass
entsprechende „Paper“ nicht unvollständig, widersprüchlich, fantastisch, bild-
haft, unstetig, irrational oder polyphon sein dürfen. Anders als die Buchphilo-
sophie zielt die Feuerphilosophie nicht auf ein „bloßes Nachforschen in Bü-
chern“ ab, sondern auf Erforschung „der Natur aus eigenem Antrieb“. Sie
möchte ihre Adepten zur Reise bewegen.

„Wer sich mit mir (dem Stein der Weisen, Anm. SB) be-
schäftigt, kümmert sich nicht um sonst etwas, doch er
wird nicht an mir satt.“327

                                                                                                           
326
Breidbach, Olaf / Heering, Peter / Müller, Matthias / Weber, Heiko (Hg.): Ex-
perimentelle Wissenschaftsgeschichte, Paderborn, 2010.
327
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255
6 Anhang
 
 
Danksagung

Diese Arbeit wurde an der Professur für Philosophie der ETH Zürich sowie im
anregenden Umfeld des Zentrum „Geschichte des Wissens“ (ETH & Universität
Zürich) geschrieben. Für die finanzielle Unterstützung zur Ausführung und Fer-
tigstellung der Arbeit danke ich dem Cooper Fonds sowie der Professur für Phi-
losophie der ETH Zürich.

Ich bedanke mich vorrangig bei meinem Betreuer Michael Hampe für bestän-
dige Unterstützung, zahlreiche Gespräche, Hinweise, Kritik und Anregungen
sowie die Bereitstellung eines intellektuellen und vertrauensvollen Freiraums,
ohne den diese Arbeit niemals entstanden wäre.
Ich danke weiterhin meinen Korreferenten Andreas Kilcher und Gerd Folkers
für vielfältige Kommentare, Hilfestellung und Gespräche sowie Lutz Wingert.

Mein Dank gilt folgenden Institutionen und Einrichtungen:


Der Stiftung der Werke von C.G. Jung, insbesondere Thomas Fischer, dem
Deutschen Museum München (Abteilung für Chemie) sowie den Mi-
tarbeiterInnen des Deutschen Museum Archivs, den MitarbeiterInnen der ETH
Bibliothek, den MitarbeiterInnen der Plattform e-rara.ch.

Ich danke weiterhin:


meinem langjährigen Büro- und Arbeitskollegen Ulrich Koch für unzählige
Gespräche, Victoria Laszlo für ihren unermüdlichen Einsatz im organisato-
rischen Bereich, meinen Kollegen Norman Sieroka, Patricia Purtschert und Jo-
nas Lüscher, Barbara Orland, Ute Frietsch, Natascha Wey, Martha Richards, Al-
fred Ribi, Mirjam Zeller, Ulrike & Kambiz Espahangizi sowie Eberhard Simons
(†).
Ich entschuldige mich bei allen, die ich an dieser Stelle vergessen habe zu
erwähnen.

Ohne die liebevolle Unterstützung meiner Familie – Kijan, Edith, Udo & Peter
Baier sowie Emma – wäre diese Arbeit niemals entstanden.

256

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