Académique Documents
Professionnel Documents
Culture Documents
net/publication/316189171
Islam dynamisch gedacht Ideen und Konzepte von Muhammad Iqbal und
Muhammad Asad
CITATIONS READS
0 35
1 author:
Fabian Schmidmeier
Friedrich-Alexander-University of Erlangen-Nürnberg
4 PUBLICATIONS 0 CITATIONS
SEE PROFILE
Some of the authors of this publication are also working on these related projects:
All content following this page was uploaded by Fabian Schmidmeier on 18 April 2017.
1
4.3.1 Historischer fiqh und dessen Rolle beim Erstarren der islamischen
Dynamik .............................................................................................................. 66
4.3.2 Scharia, islamisches Recht und moderner fiqh ........................................... 67
4.3.2 Die Rolle des iǧtihād als Praxis islamischer Dynamik ............................... 70
4.3.4 Islamischer Staat und Pakistan-Idee ........................................................... 72
4.3.4.1 Warum ein islamischer Staat?.......................................................................... 75
4.3.4.2 Muhammad Asads Positionen zum Säkularismus ........................................... 78
4.3.4.3 Der islamische Staat als Theokratie? ............................................................... 79
4.3.4.4 Der islamische Staat als parlamentarische Demokratie islamischer Prägung . 79
4.3.4.5 Souveränität im islamischen Staat ................................................................... 82
4.3.4.6 Die Rolle des Kalifen in der dynamischen Interpretation von Muhammad Asad
..................................................................................................................................... 83
4.3.4.7 Legislative und Exekutive im islamischen Staat ............................................. 85
4.3.4.8 Die Stellung nichtmuslimischer Minderheiten ................................................ 87
4.3.5 Nationalismuskritik..................................................................................... 89
4.3.6 Kritik am Abendland und „dem Westen“ ................................................... 89
4.3.7 Der bewaffnete Dschihad und religiöser Extremismus .............................. 92
4.3.8 Kritik am Wahhabismus ............................................................................. 95
4.3.9 Das Kopftuch der Frau................................................................................ 96
4.4 Fazit: Der Grenzgänger Muhammad Asad als Theoretiker einer
islamischen Renaissance ........................................................................................ 98
5. Die „Wanderer zwischen den Welten“ als Verfechter islamischer
Dynamik .......................................................................................................... 99
6. Literaturverzeichnis:................................................................................ 102
6.2 Monografien, Sammelbände, Encyclopädieeinträge und Aufsätze ........... 102
6.2 Internetquellen ............................................................................................... 104
2
1. Thema der Masterarbeit
Die Geschichte Europas und der islamischen Welt ist geprägt von
gegenseitigem kulturellem, wissenschaftlichem und ökonomischem Austausch,
aber auch von zahlreichen Konflikten politischer und religiös begründeter
Natur. Diese Ambivalenz prägt seit Jahrhunderten positive wie negative
Diskurse im mehrheitlich nichtmuslimischen Europa und Staaten mit
muslimischer Bevölkerungsmehrheit. Derzeit dominieren in zeitgenössischen
Debatten in Deutschland tatsächliche oder wahrgenommene Wertekonflikte in
den Bereichen Islam und Europa oder der Frage, ob Islam und Moderne in
Einklang zu bringen seien. Die seit Thilo Sarrazins Buch Deutschland schafft
sich ab (2010) verstärkt auftretende Einwanderungs- und Islamdebatte wird
durch die Umbrüche des Arabischen Frühlings seit 2011, das Erstarken von al-
Qaida und IS und die Flüchtlingskrise ab Mitte 2015 stark angefacht.
Gleichzeitig gibt es heftige innerislamische Diskurse bezüglich Islam und
Moderne, aber auch über islamische Antworten auf dschihadistische
Terrorgruppen. Starke Migrationsbewegungen aus der islamischen Welt nach
Europa sorgen für innerislamische Debatten, zum Beispiel bezüglich der
Herausforderung, in einem mehrheitlich nichtmuslimischen Umfeld islamisch
leben zu können.
3
Muhammad Iqbal, der bei zahlreichen Muslimen als „der Poet des Ostens“
bekannt ist, 1 ging als indischer Muslim „aus dem Osten in den Westen“,
studierte und arbeitete in Heidelberg, München und London, bevor er wieder
nach Lahore im damals britischen Indien zurückkehrte. Anders herum verlief
es bei Muhammad Asad, der in einer jüdischen Familie im damals österreich-
ungarischen Lemberg geboren wurde, in Berlin zum Islam konvertierte und
lange Zeit in Arabien und Britisch-Indien lebte, also „vom Westen in den
Osten“ ging. Moderne islamische Denker, die sowohl mit Lebens- und
Denkweisen mehrheitlich muslimischer Staaten in Nordafrika und Asien, als
auch gleichzeitig mit europäisch-nichtmuslimischen Lebensweisen und
Denktraditionen vertraut waren, könnten gerade heutzutage, in einer „Welt des
steten Wandels“ 2 , wieder an Bedeutung gewinnen. Muhammad Iqbal und
Muhammad Asad scheinen für eine Betrachtung dieser Thematik prädestiniert
zu sein.
Die vorliegende Masterarbeit trägt den Titel Islam dynamisch gedacht – Ideen
und Konzepte von Muhammad Iqbal und Muhammad Asad. Sie beschäftigt sich
inhaltlich mit der Dynamik islamischer Werte und Normen und dynamischen
Konzepten der Denker Muhammad Iqbal und Muhammad Asad. Der Begriff
Dynamik bezieht sich hier speziell auf eine zeitgemäße Neuinterpretation
islamischer Werte und Normen und daraus abgeleitete Konzepte und die
Beschaffenheit des Islams an sich aus Sicht der beiden Gelehrten. Im
Folgenden werden daher deren Positionen zur islamisch-religiösen Dynamik
1
Vgl. Orhon, Kaan und Fadil Minden: „Der Poet des Ostens“ – Erinnerungen an Muhammad
Iqbal (1877-1938), in: Rat Muslimischer Studierender und Akademiker (RAMSA),
2
Iqbal, Muhammad: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, Schiler:
Berlin/Ungarn 2003 (k. O.), S. 175.
4
und daraus abgeleitete Konzepte anhand ausgewählter Beispiele aus Primär-
und Sekundärliteratur in einer qualitativen Inhaltsanalyse untersucht.
Als Material hierfür dienten sowohl Primärquellen von Muhammad Iqbal und
Muhammad Asad in englischer und deutscher Übersetzung als auch
Sekundärquellen, wie zum Beispiel wissenschaftliche Arbeiten, Monografien
oder Artikel in Fachzeitschriften oder –portalen. Zur Begriffserklärung dienten
insbesondere Mathias Rohes Das islamische Recht. Geschichte und
Gegenwart, Abbas Poyas Anerkennung des Iǧtihād - Legitimation der
Toleranz. Möglichkeiten innerer und äußerer Toleranz im Islam am Beispiel
der Iǧtihād-Diskussion und Einträge der Encyclopaedia of Islam.
Die meisten Werke von und über Muhammad Iqbal liegen in Urdu und
Persisch vor, was für europäische Leser in der Regel Schwierigkeiten aufwirft.
Es gibt diverse Forscher, die englischsprachige Studien zu Muhammad Iqbal
verfasst haben. Das Thema der Dynamik, speziell iǧtihād, bearbeitete der
5
Generaldirektor des Islamic Research Institute an der International Islamic
University Islamabad in Pakistan, Muhammad Khalid Mas’ud, 1995 in Iqbal’s
Reconstruction of Ijtihad. Assistant Professor Mohd Abdul Razak von der
International Islamic University of Malaysia in Petaling Jaya veröffentlichte
im Juni 2011 im Journal of Islam in Asia ein Paper zu Iqbal’s Ideas for the
Restoration of Muslim Dynamism. Ansonsten finden sich Themen der
Dynamik in anderen wissenschaftlichen Arbeiten mit jedoch nicht
dynamikbezogenen Fokus und in den Primärquellen selbst. Auf Deutsch finden
sich keine speziellen wissenschaftlichen Abhandlungen zu Muhammad Iqbal
und dessen Sichtweise auf Dynamik islamischer Werte und Normen und
daraus abgeleitete Konzepte. Schwierigkeiten bereitete der Umstand, dass
zahlreiche Werke ausschließlich in Originalsprache Urdu und Persisch und
weder in Deutsch noch Englisch vorhanden sind. In der deutschsprachigen
Iqbal-Forschung ist insbesondere die Islamwissenschaftlerin Annemarie
Schimmel zu nennen, die Werke Iqbals ins Deutsche übersetzte. Dazu gehören
beispielsweise das Buch der Ewigkeit (pers. Ǧavīdnāma), das sie direkt aus
dem Persischen übertrug. Doch selbst ihr Meisterwerk Gabriel's Wing: Study
into the Religious Ideas of Sir Muhammad Iqbal (Originaltitel von Iqbals
Werk: Bāl-i Ǧibrīl („Gabriels Schwinge“) verfasste Annemarie Schimmel
nicht auf Deutsch, sondern in englischer Sprache. An der Westfälischen
Wilhelms-Universität Münster erfreut sich Muhammad Iqbal inzwischen
erhöhter Aufmerksamkeit. 2015 wurde dort unter der Federführung des
Zentrums für Islamische Theologie ein Muhammad Iqbal Symposium
abgehalten.
Noch dürftiger ist der Forschungsstand bezüglich Muhammad Asad und dessen
3
Vgl. Schimmel, Annemarie: Muhammad Iqbal. Prophetischer Poet und Philosoph,
Diederichs: München 1989, S. 23.
6
Sichtweise zu Dynamik im Islam und davon abgeleitete Konzepte. Speziell
dazu gibt es keine wissenschaftlichen Arbeiten auf Deutsch oder Englisch.
Trotz seiner wichtigen Stellung in Gelehrsamkeit und insbesondere in der
Politik Pakistans sind nicht einmal alle Werke Asads auf Deutsch verfügbar
oder auf Englisch verlegt. 2002 veröffentlichte Günther Windhager Leopold
Weiss alias Muhammad Asad: Von Galizien nach Arabien 1900–1927. 2015
erschien die Dissertation Lebensgesetz und Vergemeinschaftungsform:
Muḥammad Asad (1900-1992) und sein Islamverständnis von Dominik
Schlosser, die Asads Islamverständnis sehr umfassend beleuchtet und dabei das
islamische Staatskonzept und die Ansichten von Asad zum iǧtihād behandelt.
Ansonsten gibt es auf Deutsch zwar zahlreiche Artikel, aber kaum allgemeine
wissenschaftliche Beiträge zu Muhammad Asad, geschweige denn zu seinen
dynamisch-islamischen Ansichten und Konzepten.
Asads Werken wird seit Beginn der 2000er wieder stärker Aufmerksamkeit im
deutschsprachigen Raum geschenkt. 2007 publizierte Edition Bukhara sein
Islam am Scheideweg (Islam at the crossroads) und 2009 verlegte der Patmos-
Verlag eine deutsche Übersetzung seiner Botschaft des Koran mit angefügter
Koranexegese (arab. tafsīr). Im gleichen Jahr erschien in selbigem Verlag
Asads Autobiographie Der Weg nach Mekka. Reporter, Diplomat, islamischer
Gelehrter. Das Abenteuer eines Lebens. 2011 erschien, erneut in der Edition
Bukhara, das Werk Die Prinzipien von Staat und Regierung im Islam (The
principles of state and government in Islam). Eines seiner Hauptwerke, The
early years of Islam. Being the historical chapters of the Kitâb al-jāmiʿ aṣ-
ṣaḥîḥ. Compiled by Imâm Abû ʿAbd-Allâh Muḥammad ibn Ismâʿîl al-Bukhârî.
Translated and explained by Muhammad Asad (1938), eine englische
Übersetzung der ḥadīṯ-Sammlung des ṣaḥīḥ al-buḫārī mit Kommentar,
erschien zwar 1981 in zweiter Auflage, wurde jedoch nie ins Deutsche
übersetzt und ist heute auch auf Englisch kaum im Handel erhältlich.
3. Muhammad Iqbal
7
schottischen Missionsschule. Zur damaligen Zeit befindet sich der
Subkontinent unter britischer Kolonialherrschaft. In Lahore studiert Iqbal
Philosophie. Nach seinem Abschluss zieht es ihn nach Europa. In Cambrigde,
Großbritannien, erwirbt er einen Abschluss in Jura und Philosophie.
Anschließend lässt er sich in München und Heidelberg in Deutschland nieder.
Zurück in London widmet sich Iqbal dem Arabisch-Studium, um anschließend
in seine Heimat Britisch-Indien zurückzukehren.4
Iqbal schließt sich sehr früh der 1906 gegründeten Partei der Muslimliga an.
Insbesondere in der Provinz Pandschab engagiert sich Muhammad Iqbal
politisch und wird 1927 in die dortige Gesetzgebende Versammlung gewählt.
Ab 1928 kommt es erneut verstärkt zu Spannungen zwischen Muslimen und
4
Vgl. Hafez, Farid: Islamisch-politische Denker. Eine Einführung in die islamisch-politische
Ideengeschichte, Peter Lang Verlag: Frankfurt am Main 2014, S. 115.
5
Vgl. Hassan, Parveen: The Political Philosophy of Iqbal, Publishers United Printing Press:
Lahore 1970, S. 11.
6
Vgl. ebd., S. 310.
7
Vgl. ebd., S. 304-310.
8
8
Hindus. Am 30. Dezember 1930 spricht Iqbal als Präsident der
Jahresversammlung der Muslimliga erstmals von der Idee eines unabhängigen
muslimischen Staates in Nordwest-Indien.9
1931 wird Muhammad Iqbal zu einer Konferenz nach London berufen, bei der
mit verschiedenen indischen Führungspersönlichkeiten Kompromisse für eine
friedliche Gestaltung der Zukunft Indiens ausgehandelt werden sollen. Die
Konferenz scheitert an Fragen der Status von Minderheiten. 10 In London
arbeitet Iqbal als Jurist und lehrt am dortigen Government College.11
8
Vgl. Schimmel, Annemarie: Muhammad Iqbal. Prophetischer Poet und Philosoph,
Diederichs: München 1989, S. 35.
9
Vgl. ebd., S. 36.
10
Vgl. Hassan, Parveen: The Political Philosophy of Iqbal, Publishers United Printing Press:
Lahore 1970, S. 312.
11
Vgl. Schimmel, Annemarie: Muhammad Iqbal. Prophetischer Poet und Philosoph,
Diederichs: München 1989, S. 19.
12
Vgl. ebd., S. 40.
13
Vgl. ebd., S. 41.
14
Vgl. ebd., S. 44.
9
englischen Begriff reconstruction für Wiedererrichtung, da es ihm explizit um
eine Wiederbelebung der Dynamik des Islam geht.15 Dieses Anliegen wird in
den folgenden Kapiteln anhand konkreter Beispiele genauer untersucht.
Muhammad Iqbals wichtigster Kontext in Bezug auf sein Gesamtwerk ist die
Kolonialgeschichte Indiens. Seit 1757, nach der Schlacht von Plassey, hatten
sich die Briten dort immer mehr Macht gesichert und hatten diese Schritt für
Schritt über den gesamten Subkontinent ausgedehnt. Die alte muslimische
Herrscherelite war dadurch entmachtet worden und die hinduistische Mehrheit
hatte deshalb aufsteigen können. In Bengalen hatte seit 1905 eine Teilung der
Provinz in einen muslimischen und einen hinduistischen Teil bestanden, was
durch die britische Kolonialmacht 1911 wieder aufgehoben wird. Im Anschluss
kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden großen
Religionsgruppen. Mit der Auflösung muslimischer Stiftungen durch die
britischen Behörden wird der kulturellen Basis und der muslimischen
Bildungsarbeit ein herber Schlag versetzt. Als politischer Repräsentant im
Pandschab prangert Iqbal im Zusammenhang mit der britischen
Benachteiligungspolitik explizit die finanziellen Zuwendungen an Schulen in
seiner Provinz an. Dort seien zwischen 1928 und 1929 21 Schulen gefördert
worden, davon 13 für Hindus, 6 für Sikhs und nur 2 für Muslime.16 Die
Wahrnehmung einer institutionalisierten und gezielten Benachteiligung der
Muslime und deren Minderheitenstatus gegenüber den Hindus muss Iqbal zu
einem Verfechter muslimischer Unabhängigkeit gemacht haben. Die
konfessionelle Gewalt, die Unterdrückung und der wahrgenommene
Niedergang einstiger islamischer Pracht müssen der Hauptantrieb Iqbals
gewesen sein, sich sowohl antikolonialistisch als auch für eine islamische
Renaissance einzusetzen.
In der islamischen Religion sieht Muhammad Iqbal die beste politische und
soziale Ordnung für die Menschheit veranlagt. Der Ist-Zustand sei aber von
15
Vgl. Mas’ud, Muhammad Khalid: Iqbal’s Reconstruction of Ijtihad, Iqbal Academy
Pakistan: Lahore 1995, S. 121.
16
Vgl. Hassan, Parveen: The Political Philosophy of Iqbal, Publishers United Printing Press:
Lahore 1970, S. 329.
10
Stagnation und Verfall gekennzeichnet. Das Potenzial müsse wiedererweckt
werden. Dafür sei eine Rückkehr zu der dem Islam innewohnenden Dynamik
vonnöten, die mit der Zeit verloren gegangen sei.17 Nur in diesem Kontext ist
seine politische Forderung nach der Einrichtung eines Lehrstuhls für moderne
Islamforschung zu verstehen. 18 Dem tawḥīd des Islam seien „Gleichheit,
Solidarität und Freiheit“19 implizit und durch den Islam progressive Dynamik
entfesselbar. Der Mensch könne durch die Religion Freiheit erlangen.20 Das
Tragische an dem Verfall und der Stagnation in der islamischen Welt sei
weniger der Verlust von Macht als der von islamischer Tradition und Wissen.21
Die „islamische Welt“ sei von Dekadenz gekennzeichnet. Diese rühre daher,
dass die Muslime den Islam nicht als ein Gesellschaftsprinzip erachten
würden.22 Daher müsse jedwede Reform sowohl politischer als auch religiöser
Natur sein.23
Annemarie Schimmel beschreibt Iqbals Rolle als die einer „‚Glocke am Kamel
des Propheten’ (...), um die Karawane der verwirrten Seelen endlich zum
Zentralheiligtum des Islam, nach Mekka, zu führen“24. In seinen Gedichten um
1910 sei vermehrt „das Übergleiten von träumerisch-romantischer zu aktiv-
vitalistischer Lebensauffassung“ 25 zu verzeichnen. Der persische Mystiker
Ǧalāl ad-Dīn Muḥammad ar-Rūmī (1207-1273) ist für Iqbal ein „Verkünder
einer dynamischen Lebensauffassung, einer Höherentwicklung des Selbst“26
und damit ein Inspirator für seine eigene islamische Philosophie. In The New
Age schreibt Iqbal im Jahre 1917: „Die Regeneration der muslimischen Welt
liegt in dem kompromißlosen ethischen Monotheismus, der den Arabern vor
1300 Jahren gepredigt worden ist. Kommt denn aus den Nebeln persischen
17
Vgl. Sattar, Abdul: Das Verhältnis von Religion und Politik im Denken Muhammad Iqbals,
Wagner: Gelnhausen 2011, S. 41.
18
Vgl. ebd., S. 43.
19
Sattar, Abdul ebd., S. 46.
20
Sattar, Abdul ebd., S. 46.
21
Vgl. ebd., S. 48.
22
Vgl. Hafez, Farid: Islamisch-politische Denker. Eine Einführung in die islamisch-politische
Ideengeschichte, Peter Lang Verlag: Frankfurt am Main 2014, S. 119.
23
Vgl. ebd., 120.
24
Schimmel, Annemarie: Muhammad Iqbal. Prophetischer Poet und Philosoph, Diederichs:
München 1989, S. 24.
25
Schimmel, Annemarie ebd., S. 25.
26
Schimmel, Annemarie ebd., S. 26.
11
Wesens und wandelt im strahlenden Wüstensonnenschein Arabiens!“ 27 .
Muhammad Iqbal möchte die Muslime von ihrem Joch befreien und den Islam
zu neuem Leben erwecken.
Die religiöse Einordnung von Muhammad Iqbal ist indes nicht einfach.
Mehrfach nimmt er Bezug auf historische Denkschulen, wie zum Beispiel
Muʿtazilīten und Ašʿarīten. Iqbal lehnt die Muʿtazilīten als zu unrealistisch
ausgerichtet ab und sieht ihre Wurzeln weniger im griechischen, mehr aber im
altpersischen Denken. Ihm widerstrebt das Gottesbild dieser Denkschule,
weswegen er sich eher den Ašʿarīten zuwendet. Hieran wird erkennbar, dass
Iqbal sich sowohl gegen den strikten Traditionalismus als auch gegen die für
ihn zu rationalistischen Muʿtazilīten wendet und damit eine Mittelstellung
einnimmt.28 Seine positive Grundhaltung gegenüber den Ašʿarīten bleibt aber
kritisch, da sich diese der griechischen Dialektik bedient hätten, um ihre
eigenen Ansichten zu verteidigen. 29 In Die Wiederbelebung des religiösen
Denkens im Islam wirft Iqbal der griechischen Philosophie vor, dass sie
„während sie die Sicht der muslimischen Denker verbreiterte, ihre Vision des
Korans verdunkelte“30. Der Koran sei in seinem Wesen antiklassisch. Die
Dynamik im islamischen Denken und die großen wissenschaftlichen
Errungenschaften der islamischen Welt seien auf eine Rebellion gegen das
griechische Denken zurückzuführen. Diese intellektuelle Revolte erkennt Iqbal
deutlich bei den Ašʿarīten und den Kritikern griechischer Logik.31 Insofern
kann Iqbal eine deutliche Neigung zu ašʿarītischem Denken bescheinigt
werden, ohne jedoch die Muʿtazilīten gänzlich zu verwerfen. Eindeutig
positioniert er sich sunnitisch.32
Drei Konzepte tauchen in Iqbals Werken immer wieder auf: Muʾmin (in seinen
Texten häufig „Momin“, „der perfekte Mensch“), ḫūdī (in seinen Texten
27
Iqbal, Muhammad nach Schimmel, Annemarie: Muhammad Iqbal. Prophetischer Poet und
Philosoph, Diederichs: München 1989, S. 27-28.
28
Vgl. Sattar, Abdul: Das Verhältnis von Religion und Politik im Denken Muhammad Iqbals,
Wagner: Gelnhausen 2011, S. 19ff.
29
Vgl. Iqbal, Muhammad: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, Schiler:
Berlin/Ungarn (k. O.), S. 26
30
Iqbal, Muhammad ebd., S. 26.
31
Vgl. ebd., S. 156.
32
Vgl. ebd., S. 191.
12
häufig „Khodi“ geschrieben, „das menschliche Selbst“) und faqr
(„Gleichgültigkeit gegenüber materiellem Besitz“). Diese stehen in direktem
Zusammenhang mit Dynamik im islamischen Denken Muhammad Iqbals. Das
Konzept des muʾmin kann für den äußeren Betrachter befremdlich wirken, gilt
doch der Prophet Muḥammad als der perfekte Mensch und damit als Vorbild
für alle Menschen. Ein Mensch könnte, so gesehen, nie perfekt sein, auch wenn
ihm aufgrund seiner außerordentlichen Fähigkeiten von Gott die Herrschaft
über die Welt anvertraut worden sei. Eines seiner zentralen Anliegen ist die
Stärkung des menschlichen Selbst (ḫūdī). Iqbals Aufruf zur Stärkung des ḫūdī
ist ein Aufruf zur Tat, zur Teilnahme in einer Welt der Teilnahmslosigkeit.
Ḫūdī bedeute Kraft. Jegliche Vision in politischer und religiöser Hinsicht setze
die Stärkung des Selbst voraus, da sich Vision nur mit Kraft durchsetzen lassen
könne.33 Hieraus erklärt sich auch Muhammad Iqbals kritische Einstellung
gegenüber bestimmten Formen islamischer Mystik. Zahlreiche Sufi-Orden und
-Anhänger sahen und sehen die Selbstaufgabe, das heißt die Aufgabe des für
Iqbal politisch-religiös bedeutsamen ḫūdī, als ihr Ziel. Auf einem solchen
Verständnis von Sufismus könne niemals Dynamik aufbauen. Eine Stagnation
sei die zwangsläufige Folge.34 Selbstaufgabe darf hierbei allerdings nicht mit
Selbstlosigkeit (be-ḫūdī) verwechselt werden, der Iqbal eine große Bedeutung
35
beimisst. So entsteht ein symbiotisches Verhältnis von Selbst und
Selbstlosigkeit, die einander bedingen würden. Die Stärkung des Selbst würde
unter anderem für die notwendige Dynamik sorgen, die Selbstlosigkeit für
Aufopferungsbereitschaft und das Aufgehen des muslimischen Individuums in
der Umma.36 Der Koran stehe gerade nicht für die Selbstaufgabe, sondern für
die Stärkung des menschlichen Individuums in einer Gemeinschaft.37
13
der „Umformung und Anleitung des inneren und äußeren Lebens des
Menschen“ 38 . Religion sei dabei per se eine Form der Dynamik. Diese
dynamische Grundausrichtung von Religion bedinge zudem „in größerem
Maße eine rationale Begründung ihrer letzten Prinzipien als dies sogar bei den
Dogmen der Wissenschaft der Fall ist. Die Wissenschaft könnte durchaus eine
rationale Metaphysik ignorieren (...) Die Religion kann es sich kaum leisten“39.
Eine Religion mit ihrem dynamischen Uranspruch könne ohne Vernunft somit
gar nicht existieren. Keineswegs bedeute dies aber, dass Religion der
Philosophie unterlegen sei und sich dieser unterordnen müsse.40 Iqbal versteht
den Islam als rationale Religion. Diesen Grundsatz der Rationalität im Islam
begründet Iqbal mit dem Prophetenausspruch „Oh, Gott, gewähre mir das
Wissen der höchsten Natur der Dinge!“41. Auch das menschliche Denken an
sich sei gezwungenermaßen dynamisch, da es immer an Ort und Zeit gebunden
sei.42
Wie der Islam habe das Christentum ebenfalls den dynamischen Charakter, die
Einheit der Menschheit anzustreben, doch sei es „das Ziel des Islam als
gesellschaftliche Bewegung [Hervorhebung F.S.], die Idee zu einem lebendigen
Faktor im täglichen Leben der Muslime zu machen, und sie so still und
unbemerkt zu größerer Erfüllung zu bringen“43 . Sich auf den islamischen
Historiker Walī ad-Dīn ibn Ḫaldūn (1332-1406) beziehend, begreift
Muhammad Iqbal Geschichte als „eine stete Bewegung in der Zeit (die) eine
genuin schöpferische Bewegung ist, und nicht eine Bewegung, deren Pfad
bereits festgelegt ist“44. Auf dieses dynamische Geschichtsbild könne auch
Dynamik im islamischen Recht aufbauen, da der gesamte Prozess als stetig
schöpferisch und nicht starr verstanden werde.45 Die Dynamik des islamischen
38
Iqbal, Muhammad: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, Schiler:
Berlin/Ungarn (k. O.), S. 25.
39
Iqbal, Muhammad ebd., S. 25.
40
Vgl. ebd., S. 25.
41
Ḥadīṯ nach Iqbal, Muhammad ebd., S. 26.
42
Vgl. ebd. , S. 29.
43
Iqbal, Muhammad ebd., S. 169.
44
Iqbal, Muhammad ebd., S. 170.
45
Vgl. ebd., S. 170ff.
14
Denkens laufe mit einer dynamischen Konzeption des gesamten Universums
zusammen.46
Die Synthese aus Altem und Neuem fasst Muhammad Iqbal in mehreren
Vorlesungen zur Wiederbelegung des religiösen Denkens ab dem Jahr 1924
zusammen, die später als Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam
veröffentlicht werden. Der Islam müsse in „seiner Vorwärtsbewegung (...) auf
seine Vergangenheit zurückblicken (...) Der menschliche Geist wird in seiner
Vorwärtsbewegung von Kräften gebremst, die in die entgegengesetzte
Richtung arbeiten ... dies ist nur eine andere Art auszudrücken, dass sich das
Leben mit dem Gewicht seiner eigenen Vergangenheit auf dem Rücken bewegt
und dass man bei jedem Blick auf den sozialen Wandel den Wert und die
46
Vgl. Mas’ud, Muhammad Khalid: Iqbal’s Reconstruction of Ijtihad, Iqbal Academy
Pakistan: Lahore 1995, S. 110.
47
Vgl. Sattar, Abdul: Das Verhältnis von Religion und Politik im Denken Muhammad Iqbals,
Wagner: Gelnhausen 2011, S. 67.
48
Iqbal, Muhammad nach Hassan, Parveen: The Political Philosophy of Iqbal, Publishers
United Printing Press: Lahore 1970, S. 25.
49
Iqbal, Muhammad: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, Schiler:
Berlin/Ungarn 2003 (k. O.), S. 179.
15
Funktion der konservativen Kräfte nicht aus dem Blick verlieren darf. Mit
dieser organischen Einsicht in die wesentliche Lehre des Korans sollte der
moderne Rationalismus sich unseren existierenden Institutionen nähern“50. In
Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam übt Muhammad Iqbal
trotz seiner Konservatismus gegenüber versöhnlichen Grundhaltung sehr
scharfe Kritik an überzogen konservativer Einstellung: „Konservativismus ist
in der Religion ebenso schlecht wie in jedem anderen Bereich menschlicher
Tätigkeit. Er zerstört die schöpferische Freiheit des Ego und verstopft die
Wege frischer spiritueller Unternehmungen“ 51 . Die Wiederbelebung der
muslimischen Denktradition heiße dann „zu beobachten; / nachzudenken; /
seinen Verstand zu gebrauchen“52.
3.4.4 Iǧtihād
Das Wort iǧtihād leitet sich aus der arabischen Wortwurzel ǧ-h-d für „sich
anstrengen“ ab. Iǧtihād ist dabei der Infinitiv des VIII. Stammes. Derjenige,
der den iǧtihād betreibt ist, Partizip Aktiv, muǧtahid, was im modernen
Arabisch unter anderem mit „fleißig“ übersetzt wird.53
50
Iqbal, Muhammad nach Sattar, Abdul: Das Verhältnis von Religion und Politik im Denken
Muhammad Iqbals, Wagner: Gelnhausen 2011, S. 70.
51
Iqbal, Muhammad nach Sattar, Abdul ebd., S. 211.
52
Sattar, Abdul ebd., S. 73.
53
Vgl. Wehr, Hans: Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart. Arabisch-
Deutsch, Harrassowitz Verlag: Wiesbaden 1985, S.209ff.
16
Urteil. In zahlreichen uṣūl-Werken und Schriften der Islamwissenschaft
fungiert iǧtihād schlicht als Begriff für die Ermittlung der schariatischen
Regeln durch einen islamischen Rechtsgelehrten. Der iǧtihād erhält dabei erst
dann den Status der vierten Rechtsquelle, wenn ein Fall nur durch eigenes
Können eines ausgebildeten Rechtsgelehrten und ohne direkte Bezugnahme
auf einen naṣṣ oder iǧmāʿ erörtert wird. Der iǧtihād kommt also nach dieser
Definition dann zum Zuge, wenn es weder naṣṣ noch iǧmāʿ zu einem
bestimmten Fall gibt.54
Muhammad Iqbal hält am 13. Dezember 1924 eine Vorlesung zum Thema
iǧtihād, die dann Teil des Werkes Die Wiederbelebung des religiösen Denkens
im Islam werden sollte. Muhammad Khalid Mas’ud gliedert die iǧtihād-
Definition Iqbals in drei Punkte: „1. Ijtihad is a principle of dynamism (...). 2.
Ijtihad means indipendent opinion and decision (...). 3. Ijtihad means complete
authority in law making“55. Nach dieser Einteilung werden Muhammad Iqbals
Interpretationen von iǧtihād im Folgenden untersucht.
54
Vgl. Poya, Abbas: Anerkennung des Iǧtihād - Legitimation der Toleranz. Möglichkeiten
innerer und äußerer Toleranz im Islam am Beispiel der Iǧtihād-Diskussion, Klaus Schwarz:
Berlin 2003, S. 40ff. und S. 54.
55
Mas’ud, Muhammad Khalid: Iqbal’s Reconstruction of Ijtihad, Iqbal Academy Pakistan:
Lahore 1995, S. 103.
56
Vgl. Iqbal, Muhammad: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, Schiler:
Berlin/Ungarn 2003 (k. O.), S. 174.
57
Vgl. Hafez, Farid: Islamisch-politische Denker. Eine Einführung in die islamisch-politische
Ideengeschichte, Peter Lang Verlag: Frankfurt am Main 2014, S. 124.
58
Q 29:69; Übersetzung nach Hartmut Bobzin.
17
nā la-nahdiyannahum subulanā wa-inna Llāha la-maʿa l-muḥsinīn) als eine
Legitimationsgrundlage für den iǧtihād. Des Weiteren begründet er den iǧtihād
mit dem ḥadīṯ über eine Unterhaltung zwischen dem Propheten Muḥammad
und seinem designierten Richter für den Jemen Muʿāḏ ibn Ǧabal (605-639).59
Dieser ḥadīṯ ist wohl die berühmteste Überlieferung für die Begründung des
iǧtihād. Bevor der Prophet Muḥammad seinen künftigen Richter für den
Jemen, Muʿāḏ ibn Ǧabal, in die Region entsandte, habe sich folgendes
Gespräch über die Wege der Rechtsfindung zugetragen: „Der Prophet fragte
Muadh ibn Dschabal (...) : ‚Worauf wirst du dein Urteil gründen?‘ Muadh
antwortete: ‚Auf das Buch Gottes.‘ Muhammad fragte weiter: ‚Und wenn du
im Buch Gottes nichts findest?‘ Muadh antwortete: ‚Dann auf die
Überlieferung [sunna] des Propheten.‘ Muhammad fragte noch einmal: ‚Und
wenn du auch dort nichts findest?‘ Muadh antwortete voller Selbstvertrauen:
‚Dann werde ich mich nach Kräften bemühen [adschtahidu], mir eine eigene
Meinung zu bilden.‘ Die Antwort stellte den Propheten zufrieden und er
schloss mit den Worten: ‚Gelobt sei Gott, Der den Gesandten Seines
Gesandten angeleitet hat. Der Gesandte Gottes ist zufrieden mit seiner
Antwort‘“60. Ungeachtet der Tatsache, dass dieser ḥadīṯ weder im großen ṣaḥīḥ
al-Buḫārī noch im ṣaḥīḥ muslim, sondern erst im Werk aṭ-ṭabaqāt al-kubrā
von Muḥammad ibn Saʿd Kātib al-Wāqidī (gest. 845) und in der Sammlung
von Aḥmad ibn Ḥanbal (780-855) erwähnt wird, findet er trotzdem häufig
Anwendung. Der ḥadīṯ selbst wird als schwach (arab. ḍaʿīf) klassifiziert, denn
er weist eine Lücke (arab. „lückenhaft“ munqaṭiʿ) in der Überliefererkette
auf. 61 Mas’ud Muhammad Khalid fasst die Punkte dieses ersten iǧtihād-
Verständnisses von Iqbal wie folgt zusammen: „1. Qur’an as anti-classical
spirit / 2. The dynamic concept of universe, society and culture in Islam / 3.
59
Vgl. Iqbal, Muhammad: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, Schiler:
Berlin/Ungarn 2003 (k. O.), S. 176.
60
Ḥadīṯ über die Begegnung von Muḥammad und Muʿāḏ ibn Ǧabal in Ramadan, Tariq:
Muhammad. Auf den Spuren des Propheten, Diederichs Verlag: München 2009, S. 257.
61
Vgl. Poya, Abbas: Anerkennung des Iǧtihād - Legitimation der Toleranz. Möglichkeiten
innerer und äußerer Toleranz im Islam am Beispiel der Iǧtihād-Diskussion, Klaus Schwarz:
Berlin 2003, S. 50.
18
The idea of changeability of life / 4. The realism of juristic reasoning in Islam /
5. The evolutionary and dynamic concept of intellect and thought in Islam“62.
„(1) Mit absoluter Gültigkeit für die Rechtssprechung, die praktisch auf die
Gründer der Rechtsschulen beschränkt ist,
(2) mit relativer Gültigkeit, wie es innerhalb der Grenzen einer bestimmten
Schule geübt wird,
(3) mit spezifischer Gültigkeit, die regelt, welches Gesetz auf einen
bestimmten Fall angewandt wird, zu dem von den Gründern der Rechtsschulen
nichts festgelegt wurde.“65. In Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im
Islam beschränkt sich Muhammad Iqbal weitgehend auf den ersten Grad.
62
Mas’ud, Muhammad Khalid: Iqbal’s Reconstruction of Ijtihad, Iqbal Academy Pakistan:
Lahore 1995, S. 111.
63
Vgl. ebd., S. 113.
64
Vgl. Iqbal, Muhammad: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, Schiler:
Berlin/Ungarn (k. O.), S. 177-178.
65
Iqbal, Muhammad ebd., S. 176-177.
19
Iqbal sieht es als die große Aufgabe des „moderne(n) Muslim(s) (...) das
gesamte System des Islam neu (zu) denken, ohne völlig mit der Vergangenheit
66
zu brechen“ . Muhammad Iqbal schwebt eine islamische
Gesellschaftsordnung vor, in der keine Starrheit sondern Dynamik als
Herzstück herrscht: „Die letzte spirituelle Grundlage allen Lebens, wie sie der
Islam begreift, ist ewig und offenbart sich in Vielfalt und Wandel. Eine
Gesellschaft, die auf einem solchen Konzept der Wirklichkeit gründet, muß in
ihrem Leben die Kategorien von Beständigkeit und Wandel versöhnen. Sie
muss über ewige Prinzipien verfügen, um ihr kollektives Leben zu regeln, denn
das Ewige gibt uns Halt in der Welt des steten Wandels“67.
20
geschlossen worden sei.69 Nach Montgomery Watt sei das „Tor des iǧtihād“
geschlossen worden, da die Machthaber diesen nur für ihre eigenen Zwecke
missbraucht hätten und die Gelehrten sich dann geweigert hätten, ihn
weiterhin auszuführen. Die Schließung des „Tores des iǧtihād“ wäre demnach
eine reine Vorsichtsmaßnahme islamischer ʿulamāʾ gewesen.70
Muhammad Iqbal macht als Grund für Stagnation speziell bei den Muslimen in
seiner indo-pakistanischen Heimat eine mangelnde Kenntnis der arabischen
Sprache aus. Dadurch seien die Menschen geradezu abgeschnitten von
religiöser Interpretation und damit von islamischer Dynamik. Doch auch
andere Gründe hätten einen Niedergang herbeigeführt. So sei in den arabisch-
69
Vgl. Schacht, Joseph: Idjtihād, Encyclopaedia of Islam II, Brill: Leiden.
70
Vgl. Hassan, Parveen: The Political Philosophy of Iqbal, Publishers United Printing Press:
Lahore 1970, S. 149.
71
Hassan, Parveen ebd., S. 149.
72
Vgl. ebd., S. 149.
73
Iqbal, Muhammad: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, Schiler:
Berlin/Ungarn 2003 (k. O.), S. 179-180.
21
sprachigen Ländern die Situation nicht besser als auf dem indischen
Subkontinent. In Nordafrika und Arabien würden die Menschen blind dem
„Westen“ nacheifern, ihn imitieren und die Verbindung zu ihren Wurzeln
74
verlieren. In diesem Zusammenhang wird Iqbals antikolonialistische
Einstellung deutlich.
Muhammad Iqbal sieht die Gefahr der Willkür eines zu freien iǧtihād.
Dynamik und eigenständiges Raisonnement knüpft Iqbal daher an koranische
Prinzipien, die vor korrumpierenden Eigenschaften der Macht und vor
Tyrannei in jeglicher Hinsicht schützen sollen. Der Koran fungiert bei Iqbal als
Korrektiv der Dynamik.76 Grundsätzlich heißt er „die liberale Bewegung im
modernen Islam von Herzen willkommen“ 77 . Liberale Ideen würden aber
immer auch die Gefahr bergen, destruktive Kräfte freizusetzen und im Eifer
notwendige Grenzen zu überschreiten. Als mahnendes Beispiel führt Iqbal die
Reformbewegung Martin Luthers (1483-1546) an, die im Ergebnis die
universale Ethik des Christentums zerstört und durch nationale Ethiken ersetzt
habe. Resultat dieser nationalen Ethiken sei wiederum letztlich der Erste
Weltkrieg gewesen, weswegen die muslimischen Führer sorgfältig und
vorsichtig mit Reformbestrebungen umgehen sollten. 78
22
sei die „Lehre des Koran, daß das Leben ein Prozeß fortschreitender
Schöpfung ist (...) (Dies) macht es notwendig, daß es jeder Generation erlaubt
sein muß, von der Arbeit ihrer Vorgänger geleitet aber nicht behindert, ihre
eigenen Probleme zu lösen“79.
79
Iqbal, Muhammad: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, Schiler:
Berlin/Ungarn 2003 (k. O.), S. 197.
80
Gimaret, D.: Tawḥīd, Encyclopaedia of Islam II, Brill: Leiden.
81
Vgl. Rohe, Mathias: Islam und säkularer Rechtsstaat. Grundlagen und gesellschaftlicher
Diskurs, in: Bundeszentrale für politische Bildung, http://www.bpb.de/apuz/33391/islam-und-
saekularer-rechtsstaat-grundlagen-und-gesellschaftlicher-diskurs?p=all, abgerufen am 1. Juni
2016.
23
philosophen auch Bischof Wolfgang Huber zu den geladenen
Sachverständigen gehörte.82
Die Religion nimmt bei Iqbal zunächst eher die Stellung eines Korrektivs
gegen Korruption und andere negative Begleiterscheinung einer Politik ohne
spirituelle Grundlage ein.85 Entscheidend sind in diesem Punkt die Erfahrungen
Iqbals mit dem europäischen Kolonialismus in Indien. Aus seiner Sicht habe
der Dualismus von Religion und Politik die europäischen Herrscher von
ethischen Bindungen entfernt, weswegen sie später andere Völker unterdrückt
hätten. Die vollzogene Trennung von Kirche und Staat habe die Religion in das
Privatleben verbannt, eine ethische Basis zerstört und so zur Tyrannei
europäischer Mächte in fremden Ländern geführt.86 Dieser Destruktivismus
soll durch die Koppelung von Religion und Politik verhindert werden. Für
Iqbal ist es nicht von Bedeutung, um welche Staatsform es sich dabei handelt.
Aus seiner Sicht können sich sowohl Monarchien als auch Demokratien in
tyrannische Systeme verwandeln.87 Trotz Iqbals Kritik an westlichen Systemen
betont er, dass „die letzte Wirklichkeit (...) gemäß des Koran spirituell“88 ist.
Zudem schreibt er „Der Geist findet seine Möglichkeiten im Natürlichen, im
82
Vgl. Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages: Sterbehilfe-
Entwürfe im Urteil der Fachleute, in: bundestag.de,
https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2015/kw39_pa_recht_sterbebegleitung/38448
6, abgerufen am 1. Juni 2016.
83
Vgl. Rohe, Mathias: Islam und säkularer Rechtsstaat. Grundlagen und gesellschaftlicher
Diskurs, in: Bundeszentrale für politische Bildung, http://www.bpb.de/apuz/33391/islam-und-
saekularer-rechtsstaat-grundlagen-und-gesellschaftlicher-diskurs?p=all, abgerufen am 1. Juni
2016.
84
Vgl. Hassan, Parveen: The Political Philosophy of Iqbal, Publishers United Printing Press:
Lahore 1970, S. 90.
85
Vgl. ebd., S. 90-91.
86
Vgl. ebd., S. 95.
87
Vgl. ebd., S. 96.
88
Iqbal, Muhammad: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, Schiler:
Berlin/Ungarn 2003 (k. O.), S. 183.
24
Materiellen, im Säkularen. Alles Säkulare ist daher in den Wurzeln seines
Seins heilig“89. Grundsätzlich besteht bei Iqbal also eine Offenheit gegenüber
jeglichen Staatsformen, sofern in ihnen religiöse Ideale prinzipiell verankert
sind und die Religion nicht von der Politik und dem Staat entkoppelt ist.90
3.5.2 Die Frage nach dem „warum“ einer islamischen Unabhängigkeit und
die Pakistan-Idee
Nach einer indisch-patriotischen Phase wendet sich Muhammad Iqbal der Idee
der Gründung eines islamischen Staates auf dem indischen Subkontinent zu.
Diese politischen Ambitionen muslimischer Führer in Indien, im Falle der
Unabhängigkeit von Großbritannien eine ebenso von der hinduistischen
Bevölkerungsmehrheit unabhängige staatlichen Entität zu schaffen, führten
später zur Pakistan-Idee.91 Die Muslime Indiens hatten bis dahin eine aktive
Verwestlichungspolitik durch die britischen Kolonialherren erfahren, die
nachhaltige Auswirkungen auf ihre gelebte muslimische Kultur und Identität
hatte. 1835 wird mit dem Macauley-Edikt die bis dahin offizielle
Verkehrssprache Persisch durch das Englische ersetzt. 92 Der Wechsel zum
Englischen kommt für die Muslime einem Abbruch mit zentralen
Bestandteilen ihrer Tradition, die zu einem großen Teil auf Persisch
93
niedergeschrieben worden war, gleich. Insbesondere britische
Steuerrechtsreformen fügen muslimischen waqf-Strukturen und den religiösen
Stiftungen, die bis dato steuerfrei gewesen waren und Studierende sowie
Professoren finanziert hatten, irreparable Schäden zu.94
89
Iqbal, Muhammad: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, Schiler:
Berlin/Ungarn 2003 (k. O.), S. 183.
90
Vgl. ebd., S. 183.
91
Vgl. Schimmel, Annemarie: Muhammad Iqbal. Prophetischer Poet und Philosoph,
Diederichs: München 1989, S. 21.
92
Vgl. Schimmel, Annemarie: Der Islam. Eine Einführung, Reclam: Stuttgart 1991, S. 117.
93
Vgl. Hassan, Parveen: The Political Philosophy of Iqbal, Publishers United Printing Press:
Lahore 1970, S. 289.
94
Vgl. Schimmel, Annemarie: Der Islam. Eine Einführung, Reclam: Stuttgart 1991, S. 117.
95
Vgl. Hassan, Parveen: The Political Philosophy of Iqbal, Publishers United Printing Press:
Lahore 1970, S. 292.
25
bereitwilliger westlich erziehen als Muslime. Nach und nach drängen Hindus
die Muslime aus den wichtigen Verwaltungsämtern.96
Für die Zukunft sieht Iqbal keine andere Lösung mehr als die Teilung Indiens.
Für seine Glaubensbrüder macht er die Möglichkeit aus, mithilfe eines
islamischen Sozialsystems und eines islamischen Wirtschaftssystems die
96
Vgl. Schimmel, Annemarie: Muhammad Iqbal. Prophetischer Poet und Philosoph,
Diederichs: München 1989, S. 22.
97
Vgl. Hassan, Parveen: The Political Philosophy of Iqbal, Publishers United Printing Press:
Lahore 1970, S. 332.
98
Iqbal, Muhammad nach Hassan, Parveen: The Political Philosophy of Iqbal, Publishers
United Printing Press: Lahore 1970, S. 332.
99
Iqbal, Muhammad nach Hassan, Parveen ebd., S. 332.
26
Muslime Indiens aus der Massenarmut zu führen.100 Dieses sozio-ökonomische
islamische System mit den Anforderungen der Moderne in Einklang zu
bringen, solle wiederum mithilfe von iǧtihād erreicht werden.101 In einem Brief
an seinen Kollegen Muhammad Ali Jinnah vom 28. Mai 1937 schreibt Iqbal:
„Happily there is a solution in the enforcement of the Law of Islam and its
further development in the light of modern ideas. After a long and careful
study of Islamic Law I have come to the conclusion that if this system of Law
is properly understood and applied, at last the right to subsistence is secured to
every body. But the enforcement and development of the Shariat of Islam is
impossible in this country without a free Muslim state or states.“102, woraus
seine feste Überzeugung der Notwendigkeit der Unabhängigkeit der Muslime
Indiens in Verknüpfung mit seinem Verlangen nach islamischer Dynamik
deutlich zum Ausdruck kommt. Der Brief verdeutlicht Iqbals Hinwendung zu
einem politischen Islam, der den islamischen Staat zu einer der
Grundvoraussetzungen für die Dynamik der islamischen Werte und Normen
und deren konsequente Anwendung macht.
Daran, dass es eine Wahl eines Kalifen nach den Prinzipien des sunnitisch-
islamischen Rechts geben müsse, hegt Muhammad Iqbal keinen Zweifel.
103
Daran führe kein Weg vorbei. Allerdings plädiert er für eine
Neuinterpretation des Kalifatsgedankens. Da er, wie bereits ausgeführt, eine
Willkürherrschaft durch einen Despoten ablehnt, geht er soweit, dass das
Kalifat auch durch mehr als nur einen Kalifen, sprich eine Menschengruppe,
geleitet werden könne. Diese Neuinterpretation sei ein notwendiges Gebot
zeitlicher Dynamik und Veränderung.104 In Die Wiederbelebung des religiösen
Denkens im Islam verweist Iqbal auf die Praxis des iǧtihād in der Türkei, nach
dem „das Kalifat oder Imamat im Einklang mit dem Geiste des Islam von einer
100
Vgl. Hassan, Parveen: The Political Philosophy of Iqbal, Publishers United Printing Press:
Lahore 1970, S. 342.
101
Vgl. ebd., S. 343.
102
Iqbal, Muhammad in: Two letters from Iqbal to Jinnah (1937), in: Columbia University
http://www.columbia.edu/itc/mealac/pritchett/00islamlinks/txt_iqbal_tojinnah_1937.html,
abgerufen am 03. Mai 2016.
103
Iqbal, Muhammad: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, Schiler:
Berlin/Ungarn 2003 (k. O.), S. 185.
104
Vgl. Hafez, Farid: Islamisch-politische Denker. Eine Einführung in die islamisch-politische
Ideengeschichte, Peter Lang Verlag: Frankfurt am Main 2014, S. 127.
27
Gruppe von Personen oder einer gewählten Versammlung ausgeübt werden
kann (...) Ich persönlich bin der Überzeugung, daß die türkische Auffassung
völlig korrekt ist“105. Eine Nähe zur Idee der muʿtazilītischen Kalifatsvariante,
die „das universale Imamat lediglich als eine Frage der Zweckmäßigkeit“106
betrachtet hätte, bewertet Iqbal dabei nicht negativ. Vielmehr habe „die Idee
des Universalen [sic!] Imamats in der Praxis versagt“ 107 , sei also nur
theoretisch gut. In der Praxis würde das universale Kalifat der Dynamik des
Islam im Wege stehen.108
Die dem Islam am meisten entsprechende Staatsform sei die Demokratie, eine
islamische Republik:109 „Die republikanische Regierungsform stimmt nicht nur
vollkommen mit dem Geist des Islam überein, sondern ist auch zu einer
Notwendigkeit geworden, angesichts der neuen Kräfte, die in der islamischen
110
Welt freigesetzt werden“ . Dies korrespondiert mit Iqbals
Grundüberzeugung, dass Politik primär dazu tendiere, Menschen zu
korrumpieren, und absolute Politik entprechend absolut zu korrumpieren. 111
Eine republikanische Regierungsform solle diesen negativen Dynamiken
Einhalt gebieten. Einer Kalifats-Bewegung, die im Zuge des Ersten
Weltkrieges einsetzt und der sogar der hinduistische Aktivist Mahatmar
Gandhi beitritt, bleibt Iqbal fern. 112 Muhammad Iqbal plädiert für eine
islamische Demokratie. Diese sei direkt an das frühislamische Kalifat
angelehnt und baue auf folgenden Punkten auf:
„1. Election was the only way to express the will of the people, and partial
expression of peoples’ will was considered null and void.
105
Iqbal, Muhammad: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, Schiler:
Berlin/Ungarn 2003 (k. O.), S. 185.
106
Iqbal, Muhammad ebd., S. 185.
107
Iqbal, Muhammad ebd., S. 186.
108
Iqbal, Muhammad ebd., S. 186.
109
Vgl. Hafez, Farid: Islamisch-politische Denker. Eine Einführung in die islamisch-politische
Ideengeschichte, Peter Lang Verlag: Frankfurt am Main 2014, S. 130.
110
Iqbal, Muhammad: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, Schiler:
Berlin/Ungarn 2003 (k. O.), S. 185.
111
Vgl. Hassan, Parveen: The Political Philosophy of Iqbal, Publishers United Printing Press:
Lahore 1970, S. 16.
112
Vgl. ebd., S. 7.
28
3. The Muslim Commonwealth was based on the absolute equality of all
Muslims.
4. The Caliph was not necessarily the high-priest of Islam. He was not the
representative of God on earth. He was fallible like every other Muslim and
subject to the same impersonal authority of Divine Law.
5. Although the Caliph was the head of the State, he could be directly sued in
an ordinary law court.
6. The Caliph could indicate his successor but the nomination was not valid
without confirmation by the people.
7. The elector had the right to demand the deposition of the Caliph, or the
dismissal of his officials if their behaviour was in contravention to the laws of
the Sharia.“113
Diese sieben Punkte beinhalten ein enormes Potenzial für politische Dynamik
und Erneuerung. Die Legitimität eines Herrschers und wichtiger
Entscheidungen sollen dabei auf Wahlergebnissen beruhen. Wahlen können
zwar an sich auch nur Scheinwahlen sein, wie es in diktatorischen Systemen
der Fall ist, doch ist die Forderung nach Wahlen im Kontext eines islamischen
Staatssystems für die damalige Zeit beachtlich. Auch wenn sich die
Souveränitätsfrage mit einer freiheitlichen „westlichen“ Demokratie dadurch
unvereinbar zeige, dass im islamischen Staat Gott der oberste Souverän sei,
gesteht Iqbal dem Volk trotzdem die faktische Souveränität zu. Eine solche
Defacto-Souveränität betont Iqbal auch in seinem Artikel Political Thought in
Islam in der Zeitschrift The Socologial Review. Die ašʿarītische Position, dass
sich die Mehrheit der Gemeinde in ihrer Wahl nicht irren könne, verdeutliche
diesen islamischen Grundsatz.114 Iqbal sieht den Muslim als partizipierendes,
aktives Individuum im islamischen Staat. Muhammad Iqbals Egalitarismus
zielt darauf ab, von vornherein zu verhindern, dass sich eine vom Volk
entfernte Politiker- und Herrscherkaste entwickelt. Der Kalif wäre unter
113
Hassan, Parveen: The Political Philosophy of Iqbal, Publishers United Printing Press:
Lahore 1970, S. 282.
114
Vgl. Iqbal, Muhammad: Political Thought in Islam, in: The Sociologial Review, Verlag:
London 1908, in: http://www.koranselskab.dk/profiler/iqbal/political.htm, abgerufen am
28.07.2016.
29
Beachtung dieser Punkter kein absoluter Herrscher, ein Führerprinzip wäre in
der Theorie ausgeschlossen. Der Gedanke der Souveränität Gottes (ḥākimīya)
kann dabei zur Schlussfolgerung führen, der Islam fordere eine Theokratie.
Iqbal verwirft diese Kritik von Nichtmuslimen als Ignoranz, da der Begriff im
„Westen“ völlig anders verstanden werde als im islamischen Kontext. Aus
seiner Sicht ist eine Theokratie im Sinne einer autoritären Herrschaft einer
Priesterkaste nicht mit dem Islam vereinbar. Die ḥākimīya sei eine Frage der
Loyalität nur zu Gott und, so schlussfolgert Iqbal, in logischer Konsequenz
eine Frage der Loyalität des Menschen zu sich selbst.115
Den Monotheismusbegriff des Islam, den tawḥīd, überträgt Iqbal auf die
Menschheit: „Die Essenz von tauhid als eine funktionierende Idee ist
Gleichheit, Solidarität und Freiheit. Der Staat ist nach islamischem Verständnis
das Bestreben, diese idealen Prinzipien in Kräfte von Zeit und Raum
umzuwandeln, und das Verlangen, sie in einer bestimmten menschlichen
Organisation zu verwirklichen“116. Es gebe nur einen Gott (tawḥīd) und daraus
abgeleitet müsse auch in der Kategorie einer einzigen Menschheit gedacht
werden.
115
Iqbal, Muhammad: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, Schiler:
Berlin/Ungarn 2003 (k. O.), S. 175.
116
Iqbal, Muhammad ebd., S. 182.
117
Vgl. Sherwani, Latif Ahmed: Speeches, Writings and Statements of Iqbal, Iqbal Academy
Pakistan: Lahore 1977 (1. Aufl. 1944), S. 191ff.
118
Vgl. Hassan, Parveen: The Political Philosophy of Iqbal, Publishers United Printing Press:
Lahore 1970, S. 219ff.
119
Iqbal Muhammad nach Hassan, Parveen ebd., S. 221.
30
gegen die rigiden ʿulamāʾ, die jeglichem iǧtihād feindlich gegenüber gestanden
hätten.120
120
Vgl. Sherwani, Latif Ahmed: Speeches, Writings and Statements of Iqbal, Iqbal Academy
Pakistan: Lahore 1977 (1. Aufl. 1944), S. 191.
121
Vgl. Hafez, Farid: Islamisch-politische Denker. Eine Einführung in die islamisch-politische
Ideengeschichte, Peter Lang Verlag: Frankfurt am Main 2014, S. 116.
122
Vgl. ebd., S. 116.
123
Iqbal, Muhammad: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, Schiler:
Berlin/Ungarn 2003 (k. O.), S. 187.
124
Iqbal, Muhammad ebd., S. 208.
125
Iqbal, Muhammad: Political Thought in Islam, in: The Sociologial Review, Verlag: London
1908, in: http://www.koranselskab.dk/profiler/iqbal/political.htm, abgerufen am 28.07.2016.
31
3.5.6 Minderheiten und „Häretiker“ im islamischen Staat
Trotz dieses modern anmutenden Konzeptes mit Rückgriff auf die Frühzeit des
Islam bleiben einige Punkte ungeklärt. Dazu gehören insbesondere die
Minderheitenrechte. Offen bleibt beispielsweise, ob es für Christen, Hindus
oder Andersgläubige ein gleiches Wahlrecht geben würde und ob diese den
Muslimen gleichgestellt wären. Zudem ist unklar, was, gerade im Bezug auf
die Pakistan-Idee, mit Gruppen wie der aḥmadīya oder bahāʾī oder schiitischen
Muslimen geschehen solle. Was wäre mit den Religionen, die nicht zu den ahl
al-kitāb gehören?
Muhammad Iqbal legt viel Wert auf die gelebte Tat und verurteilt eine
intellektuelle Abgehobenheit. Seine Bewunderung für Menschen der Tat geht
sogar soweit, dass er als Häretikern verurteilten Aktivisten durchaus positiv
gegenüber steht, so zum Beispiel dem Begründer der bahāʾī-Religion
Muḥammad Bāb (1819-1850). Von entscheidender Bedeutung für die
Würdigung dieser und auch anderer Persönlichkeiten war für Iqbal ihr
standhafter Charakter. Muhammad Iqbal erwähnt Bāb daher in seinem Gedicht
ḍarb-i kalīm (1936, dt. „Die Rute von Moses“) und spricht Muḥammad Bāb
einen positiven Umgang mit dem koranischen Text zu, da dieser der
Interpretation neue Dynamik verliehen habe.126
126
Vgl. Hassan, Parveen: The Political Philosophy of Iqbal, Publishers United Printing Press:
Lahore 1970, S. 160-161.
127
Iqbal, Muhammad nach Hassan, Parveen ebd., S. 318.
32
war.128 „It is my genuine opinion, that Hindus and Muslims by eliminating
their differences can live in peace as brothers“129, so Iqbal.
33
Wiederkehr mittelalterlichen Mystizismus gleich, der die Muslime ihrer
Dynamik im Denken beraube. Der Islam könne dies nicht erneut tolerieren.136
Trotz positiver Bezugspunkte sind die genannten Abspaltungen des Islam für
Iqbal Feinde der islamischen Dynamik. Genauere Angaben zu politischen
Maßnahmen gegen „Häretiker“ und Nichtmuslime bleibt Iqbal aber schuldig.
136
Vgl. Sherwani, Latif Ahmed: Speeches, Writings and Statements of Iqbal, Iqbal Academy
Pakistan: Lahore 1977 (1. Aufl. 1944), S. 188-189.
137
Iqbal, Muhammad: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, Schiler:
Berlin/Ungarn 2003 (k. O.), S. 185.
138
Iqbal, Muhammad ebd., S. 196.
139
Iqbal, Muhammad ebd., S. 196.
140
Iqbal, Muhammad ebd., S. 190-191.
141
Vgl. ebd., S. 191.
34
einhundert theologische(n) Systeme(n) im Islam“142 zwischen 800 und 1100 n.
Chr.. Für Iqbal ist dies ein Beweis für die intellektuellen Aktivitäten der frühen
muslimischen Denker und der Dynamik, die dem islamischen Recht
innewohnt.
Besonders bei den Rechtsquellen werde deutlich, dass die Rigidität der
zeitgenössischen Rechtsschulen dem inneren Anspruch des Islams
entgegenstünde. Der Koran sei „kein Gesetzestext“146. Diese Aussage ist im
142
Iqbal, Muhammad: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, Schiler:
Berlin/Ungarn 2003 (k. O.), S. 192.
143
Vgl. ebd., S. 192.
144
Vgl. ebd., S. 193.
145
Vgl. ebd., S. 193.
146
Iqbal, Muhammad ebd., S. 194.
35
Zusammenhang mit zeitgenössischen Debatten, sowohl von islamistischer als
auch islamkritischer Seite, ein bemerkenswerter Standpunkt.
36
mit Erkenntnis und dem Zugewinn von Wissen des Einzelmenschen
thematisieren.155
Für Iqbal „handelt (es) sich nicht um ein Universum aus einem Guß, um ein
vollendetes Produkt, das unbeweglich und unfähig zur Veränderung ist“156. Der
Koran beinhalte die Aufforderung für den Menschen, sich Wissen anzueignen,
Erkenntnisse zu sammeln und aktiv zu werden, denn „Sollte er nicht die
Initiative ergreifen, sollte er nicht den inneren Reichtum seines Seins
entwickeln, sollte er den inwendigen Druck des weiterschreitenden Lebens
nicht mehr empfinden, verhärtet sich der Geist in ihm zu Stein und er wird auf
das Niveau toter Materie herabgesetzt“157. Gott befähige den Menschen zum
Gebrauch des Verstandes und es sei damit seine Pflicht diesen einzusetzen.
Abdul Sattar sieht bei der Grundposition Iqbals, der Mensch möge seine
Geschicke selbst aktiv in die Hand nehmen, eine Analogie zu Immanuel Kants
(1724-1804) Kategorischem Imperativ, eingebettet in islamisches
Glaubensgefüge. Wichtig hierbei: Die Geschicke der Menschheit ändern sich
durch ihre Annäherung an Gott, was dem Ganzen eine islamische Komponente
verleihe. 158 Je näher das menschliche Selbst dem Selbst Gottes komme, desto
freier werde der Mensch.159
37
dem Jahre 1890 die Prophetenüberlieferungen einer historisch-kritischen
Untersuchung unterzogen und war zu dem Schluss gekommen, dass diese
insgesamt nicht zuverlässig seien.160 So schreibt Goldziher im zweiten Teil
seiner Muhammedanischen Studien: „Wie leicht man es nahm, dem
Muhammed ohne viel Scrupel moralische Aussprüche beizulegen, die nicht
von ihm selbst stammen, wird durch eine der Beachtung besonders würdige
Erscheinung beleuchtet. Es ist nämlich in der Traditionsliteratur gar nicht
selten, Aussprüche auf den Prophet zurückgeführt zu finden, die im Islam
lange Zeit unter der Autorität eines andern Namens cirkuliert hatten.
Sogenannte Aḥadîth mauḳûfa, d.h. Aussprüche, welche bloss an einen
Genossen oder gar Nachfolger angelehnt waren, hat man mit grosser
Leichtigkeit in Aḥadîth marfûʿa, d.h. bis auf den Propheten zurückgeführte
Aussprüche, umgewandelt, indem man ohne viel Bedenken ein Paar Namen,
die noch in der Kette nöthig waren, nach Bedarf und Belieben ergänzte. Dies
hat man auch auf dem Gebiete der gesetzlichen Traditionen vielfach
übernommen”161 (Anm. F.S., alte Rechtschreibung beibehalten). Muhammad
Iqbal nimmt eine deutlich moderatere Position ein. Er unterteilt die aḥādīṯ in
jene, denen der Prophet Muḥammad rechtliche oder jene, welchen er nicht-
rechtliche Bedeutung beimaß. Auch bei den rechtlichen aḥādīṯ sei zu prüfen,
ob der Prophet Muḥammad damit einigen vorislamischen Traditionen Raum
gegeben habe. Doch sei dies dahingehend zu verstehen, dass ein Prophet
immer allumfassende Prinzipien verkünde, die für jedes Volk der Erde gelten.
Um diese „universale Schari’a“ 162 überhaupt verkünden zu können, müsse
diese einem bestimmten Volk mit bestimmten historischen Kontexten und
Brauchtümern offenbart werden. Die universalen Prinzipien nähmen so Gestalt
an, seien dann wiederum an Ort und Zeit gebunden: „Die Werte der Schari’a,
die sich aus diesen Fällen ergeben (zum Beispiel Gesetze in bezug auf Strafen
für Verbrechen) sind in gewissem Sinne spezifisch für dieses Volk; und da ihre
Befolgung kein Selbstzweck ist, können sie nicht strikt auf die zukünftigen
Generationen angewandt werden“. Liberale Ansätze, die die Überlieferungen
160
Vgl. Iqbal, Muhammad: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, Schiler:
Berlin/Ungarn 2003 (k. O.), S. 199.
161
Goldziher, Ignaz: Muhammedanische Studien. Zweiter Teil, Max Niemeyer: Halle 1890, S.
156-157.
162
Iqbal, Muhammad: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, Schiler:
Berlin/Ungarn 2003 (k. O.), S. 200.
38
in den Hintergrund treten lassen, findet Muhammad Iqbal, mit Verweis auf
Abū Ḥanīfa (699-767), legitim. Dieser habe dem istiḥsān gerade im Hinblick
auf den universalen Charakter islamischer Prinzipien eine bedeutende Stellung
eingeräumt. Wenn also „der moderne Liberalismus es für sicherer hält, sie
(Anm., die aḥādīṯ) nicht unbesehen als Quelle des Rechts zu benutzen, dann
folgt er damit lediglich einem der größten Exponenten (Anm., gemeint ist Abū
Ḥanīfa) des islamischen Rechts der Sunniten“163. Muhammad Iqbal betont
überdies, dass ein ḥadīṯ den Koran nicht aufheben könne.164
Die dritte Rechtsquelle im Islam, der Gelehrtenkonsens (arab. iǧmāʿ), ist für
Muhammad Iqbal die bedeutendste Rechtsquelle. Daher wundert er sich, dass
diese wichtige Rechtsquelle im Istzustand der islamischen Welt so
unterentwickelt sei, obwohl diese in der Frühzeit des Islams „große
akademische Diskussionen hervorgerufen hat“165. Muhammad Iqbal wünscht
sich, den Gelehrtenkonsens zu einer konkreten muslimischen Institution zu
machen. Für die historischen Entwicklungen macht Iqbal politische Interessen
der Kalifen aus der Ummayaden- (661-750) und der Abbasidenzeit (750-1258,
entgültig 1517) verantwortlich, da diese den iǧtihād lieber individuellen
muǧtahidūn überlassen hätten. Eine ständige Institution iǧmāʿ hätte die Macht
der Kalifen einschränken können, was diese hätten verhindern wollen.166
Bei Iqbal spielt der Gelehrtenkonsens auch deswegen eine zentrale Rolle, da
dieser eine geordnete Dynamik des islamischen Rechts gewährleiste. Dieser
iǧmāʿ solle auf dem bereits erwähnten iǧtihād basieren. Die muslimischen
Individuen würden hierfür die gesetzgebende Jurisprudenz auf Basis des
iǧtihād an eine gesetzgebende Versammlung abgeben, die so für die
163
Iqbal, Muhammad: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, Schiler:
Berlin/Ungarn 2003 (k. O.), S. 201.
164
Vgl. ebd., S. 202.
165
Iqbal, Muhammad ebd., S. 201.
166
Vgl. ebd., S. 201-202.
167
Vgl. Hassan, Parveen: The Political Philosophy of Iqbal, Publishers United Printing Press:
Lahore 1970, S. 150ff.
39
Gesellschaft verbindliche Gesetze erarbeiten könne. Islamgelehrte sollten in
dieser Versammlung nur einen Teil ausmachen. Zudem sollten ebenso
Vertreter der unterschiedlichen Rechtsschulen vertreten sein. Ein in einer
solchen Versammlung ausgehandelter Konsens sei die einzig mögliche Form
eines iǧmāʿ in der modernen Zeit, da auch die muslimische Umma durch
Zersplitterung gekennzeichnet sei. Um die islamischen Gelehrten auf diese
Aufgabe vorzubereiten, müsse allerdings deren Ausbildung stark reformiert
und dafür mit einem weltlichen Jurastudium kombiniert werden.168 Die iǧmāʿ-
Versammlung solle in einem islamischen Staat die Legislative darstellen: „Das
ist der einzige Weg, den in unseren Rechtsschulen schlummernden Lebensgeist
zur Aktivität zu erwecken und ihm eine evolutionäre Ausrichtung zu geben“169.
In der Versammlung sieht Muhammad den Kalif der Moderne. 170 Gefahr
bestünde darin, dass sich negativer westlicher Einfluss, als iǧtihād getarnt, in
der islamischen Welt verbreiten könnte.171 Tatsächlich sei aber eine negative
Verwestlichung eine Form des taqlīd.172 Die Neuinterpretierung des iǧmāʿ im
Sinne eines Gremiums, das auch gleichzeitig die Funktion des Kalifen
übernehmen würde, verdeutlicht Iqbals dynamischen Ansatz in der
Interpretation von Rechtsquellen und Funktionen in einem islamischen Staat.
168
Vgl. Hafez, Farid: Islamisch-politische Denker. Eine Einführung in die islamisch-politische
Ideengeschichte, Peter Lang Verlag: Frankfurt am Main 2014, S. 129.
169
Iqbal, Muhammad: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, Schiler:
Berlin/Ungarn 2003 (k. O.), S. 202.
170
Vgl. ebd., S. 185.
171
Vgl. Hassan, Parveen: The Political Philosophy of Iqbal, Publishers United Printing Press:
Lahore 1970, S. 151.
172
Vgl. ebd., S. 152.
173
Vgl. Poya, Abbas: Anerkennung des Iǧtihād - Legitimation der Toleranz. Möglichkeiten
innerer und äußerer Toleranz im Islam am Beispiel der Iǧtihād-Diskussion, Klaus Schwarz:
Berlin 2003, S. 20.
174
Vgl. Schacht, Joseph: Idjtihād, Encyclopaedia of Islam II, Brill: Leiden.
40
Für Iqbal ist der qiyās die „vierte Grundlage von fiqh“175. Muhammad Iqbal
schließt sich der šāfiʿītischen Rechtsschule an, die die Begriffe iǧtihād und
qiyās synonym verwendet.176
175
Iqbal, Muhammad: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, Schiler:
Berlin/Ungarn 2003 (k. O.), S. 204.
176
Vgl. ebd., S. 206.
177
Iqbal, Muhammad ebd., S. 206.
178
Vgl. ebd., S. 206.
179
Vgl. Sherwani, Latif Ahmed: Speeches, Writings and Statements of Iqbal, Iqbal Academy
Pakistan: Lahore 1977 (1. Aufl. 1944), S. 197.
41
3.7.2 Ḥadd-Strafen
3.7.3 Takfīr
Takfīr ist das Verbalnomen des II. Stammes der Wortwurzel k-f-r und bedeutet
„jemanden zum kāfir erklären“.181 Muhammad Iqbal sieht den takfīr als eine
rechtliche Frage, die im Rahmen einer islamischen Rechtsfindung, und nur
dann, erfolgen sollte. Der indische Politiker Pandit Ǧavāharlāl Nehrū bewerte,
so Iqbal, die Neuerungen in der Türkei dahingehend, dass diese sich vom Islam
gelöst hätten. Iqbal entgegnet auf diese Anschuldigung: „As long as a person is
loyal to the two basic principles of Islam, i.e. the Unity of God and Finality of
the Holy Prophet, not even the strictest mulla can turn him outside the pale of
Islam even though his interpretations of the Law or of the text of the Quran are
believed to be erroneous“182. Damit positioniert sich Iqbal strikt gegen die
Praxis des Takfīrismus, wie er insbesondere bei zeitgenössischen Bewegungen,
wie der Terrororganisation Islamischer Staat oder anderen dschihadistischen
Salafistenorganisationen, an Bedeutung gewinnt. Gänzlich schließt Iqbal
allerdings eine Exkommunikation von Personen oder Gemeinschaften damit
nicht aus. Der Spielraum seiner Formulierung, dass jeder, der die
180
Vgl. Sattar, Abdul: Das Verhältnis von Religion und Politik im Denken Muhammad Iqbals,
Wagner: Gelnhausen 2011, S. 22.
181
Vgl. Hunwick, J.O.: Takfīr. Encyclopaedia of Islam II, Brill: Leiden.
182
Iqbal, Muhammad nach Sherwani, Latif Ahmed: Speeches, Writings and Statements of
Iqbal, Iqbal Academy Pakistan: Lahore 1977 (1. Aufl. 1944), S. 193.
42
grundsätzlichen Prinzipien des Monotheismus und Muḥammad als letzten
Prophet anerkenne, nicht zum Nichtmuslim erklärt werden könne, ist damit
recht weit gefasst. Diese wirft jedoch Probleme gerade bezüglich in Indien
relevanter Gruppierungen, wie der aḥmadīya, auf, da diese nach Muḥammad
einen weiteren Propheten verehren. Auch ist hier nicht klar, welche Strafe
Iqbal für Apostasie vorsieht.
So energisch sich Iqbal auch gegen Hass und Gewalt ausspricht, übt er
fundamentale Kritik an der neuen Bewegung der aḥmadīya, die er selbst
qādiyānī-Bewegung nennt, angelehnt an den Geburtsort des aḥmadīya-
Gründers Mirzā Ġulām Aḥmad (1835-1908), Qadiyān. Diese Bezeichnung ist
für die aḥmadīya-Anhänger pejorativ belegt. Diese würde die Gesamtheit des
Islams, außer sich selbst, als kāfir begreifen.183 Bei der aḥmadīya-Bewegung
184
würden Grenzen der innerislamischen Pluralität überschritten. Die
Offenbarungsbasis der aḥmadīya, deren Anführer für sich den Prophetenstatus
beansprucht, beinhalte gleichzeitig, dass diejenigen, die die Grundsätze dieser
angeblichen Offenbarung nicht akzepierten, kuffār, und damit für das
Höllenfeuer bestimmt, seien.185
Die Idee des ḫātam al-ʾanbīyāʾ Muḥammads fasst Iqbal zusammen: „Its
meaning is simple: No spiritual surrender to any human being after
Muhammad who emancipated his followers by giving them a law which is
realisable as arising from the very core of human conscience“ 186 . Der
Begründer der aḥmadīya-Bewegung, Mirzā Ġulām Aḥmad, beanspruche für
sich selbst allerdings einen Prophetentitel, weswegen er mit dem traditionellen
Islam, wonach auf den Propheten Muḥammad kein weiterer Prophet mehr
folgen könne, in heftigen Konflikt geraten sei. Auf den berühmten Sufi Muḥyī
d-Dīn ibn ʿArabī (1165-1240) anspielend kommt Iqbal bezüglich Mirzā Ġulām
Aḥmads Prophetieanspruch und der aḥmadīya-Bewegung zu dem Schluss:
„And if he had seen in his mystical vision that one day in the East some Indian
183
Vgl. Sherwani, Latif Ahmed: Speeches, Writings and Statements of Iqbal, Iqbal Academy
Pakistan: Lahore 1977, S. 178.
184
Vgl. ebd., S. 182.
185
Vgl. ebd., S. 187.
186
Iqbal, Muhammad nach Sherwani, Latif Ahmed ebd., S. 182.
43
amateur in Sufism would seek to destroy the Holy Prophet’s Finality under
cover of his mystical psychology, he would have certainly anticipated the
Indian ulema in warning the Muslims of the world against such traitors to
Islam“ 187. Die aḥmadīya seien nicht nur Verräter am Islam sondern auch
Verräter an Indien.188
Mit der Negation des Prinzips des ḫātam al-ʾanbīyāʾ und dem Verrat am Islam
wäre der Tatbestand des irtidād (Apostasie) erfüllt oder zumindest ein takfīr
inhaltlich berechtigt. Nach klassisch-islamischer Doktrin stünde hierauf
zunächst der Verlust der Bürgerrechte und im Anschluss die Vollstreckung der
Todesstrafe.189 Iqbal fordert hierfür nicht die Todesstrafe, bleibt jedoch einen
genauen Standpunkt zum Umgang mit Apostaten schuldig.
Diese Frontstellung richtet sich nicht gegen jegliche Form islamischer Mystik.
187
Iqbal, Muhammad nach Sherwani, Latif Ahmed: Speeches, Writings and Statements of
Iqbal, Iqbal Academy Pakistan: Lahore 1977 (1. Aufl. 1944), S. 184.
188
Vgl. ebd., S. 200.
189
Vgl. Rohe, Mathias: Das Islamische Recht. Geschichte und Gegenwart, C. H. Beck:
München 2009, S. 134-135.
190
Vgl. Hassan, Parveen: The Political Philosophy of Iqbal, Publishers United Printing Press:
Lahore 1970, S. 29-30.
191
Vgl. ebd., S. 31.
192
Vgl. ebd., S. 56.
193
Iqbal, Muhammad Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, Schiler:
Berlin/Ungarn (k. O.) 2003, S. 166.
44
Die Mystik habe „zweifelsohne neue Gebiete des Selbst enthüllt, indem sie
eine spezielle Studie dieser Erfahrung anstellte. Ihre Literatur ist erleuchtend
(...) Das Streben nach einem namenlosen Nichts, wie es in der neuplatonischen
Mystik, sei sie christlich oder muslimisch, aufgezeigt wird, kann den modernen
Geist nicht befriedigen, der mit seiner Gewohnheit des konkreten Denkens eine
konkrete lebendige Erfahrung Gottes verlangt“194. Gerade die mittelalterliche
Mystik habe das religiöse Leben weiterentwickelt. Danach habe sie jedoch
„praktisch versagt“ 195 und in der islamischen Welt zu großem Schaden
geführt.196 Sie habe ihn gelehrt „mit seiner Ignoranz und seiner spirituellen
Knechtschaft zufrieden zu sein“ 197. Es gebe vereinzelt aber auch positive
Reform-Sufis wie Aḥmad al-Fārūqī as-Sirhindī (1564-1624), der stets Kritik
am rückständigen Sufismus geübt hätte, und dessen Sufi-Methode dynamische
Inspiration für Muslime in Indien und Zentralasien sei. 198 Ahmad Milad
Karimi, Professor für Kalam, Islamische Philosophie und Mystik am Zentrum
für Islamische Theologie an der Universität Münster, forscht zu
erkenntnistheoretischer Grundlegung der dynamischen Mystik. Hierbei
untersucht er speziell Muhammad Iqbal, den er als einen Vertreter islamischer,
aber dynamischer, Mystik versteht.199 Zusammengefasst ist Muhammad Iqbal
also keineswegs genereller Gegner islamischer Mystik, sondern steht
ausschließlich dem griechisch inspirierten und der Dynamik im Wege
stehenden Mystizismus ablehnend gegenüber.
Die Form der für Muhammad Iqbal akzeptablen Mystik weitet dieser auch auf
andere Bereiche aus: „Die Wahrheit ist, daß alles Streben nach Erkenntnis
seinem Wesen nach eine Form des Gebets ist. Der wissenschaftliche
Beobachter der Natur ist eine Art mystischer Sucher im Akt des Gebets.“200.
194
Iqbal, Muhammad: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, Schiler:
Berlin/Ungarn (k. O.) 2003, S. 118.
195
Iqbal, Muhammad ebd., S. 216.
196
Vgl. ebd., S. 216.
197
Iqbal, Muhammad ebd., S. 216.
198
Vgl. ebd., S. 221.
199
Vgl. Karimi, Milad Ahmad: Erkenntnistheoretische Grundlegung dynamischer Mystik.
Muhammad Iqbal, in: Westfälische Wilhelms Universität Münster,
https://www.wwu.de/ZIT/Forschung/forschung_kalam_philosophie_mystik.html#1938,
abgerufen am 19. Juli 2016.
200
Iqbal, Muhammad: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, Schiler:
Berlin/Ungarn (k. O.) 2003, S. 118.
45
Das Gebet nimmt bei Muhammad Iqbal eine zentrale Stellung ein.
Insbesondere das gemeinschaftliche Gebet sei hierbei von enormer Bedeutung,
da „es (...) eine psychologische Wahrheit (ist), daß eine Gemeinschaft die
normale Wahrnehmungskraft des Menschen vervielfacht, sein Gefühl vertieft
und seinen Willen in einem Ausmaß, wie er es in der Privatheit seiner
Individualität nicht kennt, dynamisiert“201. Im Gebet erkenne das Individuum
„seinen eigenen Wert und seine Rechtfertigung als dynamischer Faktor im
Leben des Universums“ 202 . Das Gemeinschaftsgebet erfüllt für Iqbal eine
unmittelbare soziale Funktion. Es führe zum „Gefühl sozialer Gleichheit, da sie
(Anm. die Gemeinschaft) dazu neigt, das Empfinden von Standes- oder
Rassenüberlegenheit bei den Betenden zu zerstören. Welch ungeheuerlich
spirituelle Revolution wird augenblicklich stattfinden, wenn der stolze,
aristokratische Brahmane Südindiens täglich Schulter an Schuler mit dem
Unberührbaren stehen muß!“ 203 . Im islamischen Gebet sieht Iqbal den
progressiv-dynamischen Charakter des Islam verkörpert. Im Hinblick auf die
damalige Lebenswirklichkeit im indischen Subkontinent, geprägt vom
hinduistischen Kastenwesen, versteht er den Islam, und bereits das Gebet, als
eine Möglichkeit, festgefahrene und ungerechte Strukturen aufzubrechen. Das
Gebet wird so zu einem Symbol für eine Menschheit ohne ethnischen Hass
oder Klassenunterschiede und für die Gleichheit aller Menschen vor Gott.
201
Iqbal, Muhammad: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, Schiler:
Berlin/Ungarn (k. O.) 2003, S. 119.
202
Iqbal, Muhammad ebd., S. 120.
203
Iqbal, Muhammad ebd., S. 120-121.
204
Vgl. Hassan, Parveen: The Political Philosophy of Iqbal, Publishers United Printing Press:
Lahore 1970, S. 99-100.
46
Lebensführung.205 Der Prophet Muḥammad wird damit zum Inbegriff des die
Dynamik des Islam praktizierenden Menschen. Zudem dient er Iqbal als
Legitimation für Rationalität im Islam und die Verknüpfung von Philosophie
mit muslimischem Denken.206 In Die Wiederbelegung des religiösen Denkens
im Islam beschreibt Muhammad Iqbal den Propheten Muhammad als ein
Bindeglied zwischen Antike und Moderne: „ (...) dann scheint der Prophet des
Islam zwischen der antiken und der modernen Welt zu stehen. Was die Quelle
seiner Offenbarung betrifft, gehört er der antiken Welt an; was den Geist seiner
Offenbarung angeht, gehört er zu der modernen Welt“207. Der Islam ist für
Iqbal der Schritt zur Individualisierung und der Punkt, an dem der Mensch
nach der Vollendung der Prophetie seinen Verstand selbst einsetzen muss: „Im
Islam gelangt das Prophetentum zur Vollendung, indem es die Notwendigkeit
seiner eigenen Abschaffung erkennt (...) und daß das Leben, um volles
Selbstbewußtsein zu erlangen, letztlich auf seine eigenen Ressourcen
zurückgeworfen werden muss.“ 208 Gerade der Punkt der Finalität von
Muḥammads Prophetentum sei ein Garant für Dynamik, da einer starren und
autoritären Führung mittels Gottesgnadentum oder anderweitiger Berufung auf
209
eine eigene „übernatürliche Herkunft“ vorgebeugt werde und neue
Möglichkeiten der menschlichen Erkenntnis eröffnet würden.210
3.7.8 Sklaverei
205
Vgl. Hassan, Parveen: The Political Philosophy of Iqbal, Publishers United Printing Press:
Lahore 1970, S. 125.
206
Vgl. Iqbal, Muhammad: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, Schiler:
Berlin/Ungarn (k. O.), S. 26.
207
Iqbal, Muhammad ebd., S. 154.
208
Iqbal, Muhammad ebd., S. 154.
209
Iqbal, Muhammad ebd., S. 155.
210
Vgl. ebd., S. 155.
211
Sattar, Abdul: Das Verhältnis von Religion und Politik im Denken Muhammad Iqbals,
Wagner: Gelnhausen 2011, S. 63.
47
abgeschafft, als letztes 1972 in Saudi Arabien. 212 Insofern schließt sich
Muhammad Iqbal der dynamischen Tendenz zur Abschaffung der Sklaverei an
und interpretiert damit das islamische Recht in dieser Hinsicht neu.
Bei der Frage, ob dies eine Ungleichbehandlung sei, zitiert Iqbal den
Begründer der Almohaden-Herrschaft (1121-1269) im Maghreb und Spanien,
Abū ʿAbdallāh Muḥammad ibn Tūmart, (1077-1130), als einen
strenggläubigen aber stets iǧtihād betreibenden Herrscher. Dieser habe sich
gegen Ungleichbehandlung und eine niedere Wertigkeit von Frauen gewandt:
„Daher ist Gleichheit bei drei Dingen notwendig – bei Scheidung, bei
Trennung und bei Erbschaft“214. Da das „Fundament von Volk und Staat (...)
die Familie“215 sei, müsse das „Großziehen einer Familie (...) mit Gerechtigkeit
übereinstimmen“216.
48
Gleichberechtigung. So könne die Frau das Scheidungsrecht im Ehevertrag
festlegen und sei damit dem Gatten eingestellt. Berücksichtige man die
Unterhaltsverpflichtungen der Männer, so sei zum Beispiel auch die
Erbschaftsregelung trotz augenscheinlicher Ungleichheit so ausgelegt, dass es
in „der ökonomischen Position von Söhnen und Töchtern keinen materiellen
Unterschied gibt“ 217 . Mahr, Lebensunterhaltsverpflichtungen und andere
Zahlungsverpflichtungen des Mannes, machten diese unterschiedlichen
Erbschaftsansprüche zu einem Gebot der Gerechtigkeit. In diesen Positionen
wird der Konservatismus Muhammad Iqbals deutlich, von dem er sich trotz
allen Eifers zu Neuinterpretationen nie abgewandt hatte. Iqbal ist allerdings der
Ansicht, dass diese Prinzipien der Gerechtigkeit von den zeitgenössischen
Richtern nicht ausreichend berücksichtigt werden. Dies sei mehr das
eigentliche Problem als eine augenscheinliche Ungleichheit im
Erbschaftsrecht. 218
217
Iqbal, Muhammad: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, Schiler:
Berlin/Ungarn 2003 (k. O.), S. 198.
218
Vgl. ebd., S. 198-199.
219
Vgl. Hassan, Parveen: The Political Philosophy of Iqbal, Publishers United Printing Press:
Lahore 1970, S. 176-177.
220
Vgl. ebd., S. 175ff.
221
Vgl. Sherwani, Latif Ahmed: Speeches, Writings and Statements of Iqbal, Iqbal Academy
Pakistan: Lahore 1977 (1. Aufl. 1944), S. 197.
49
Islamkritiker werfen dem Islam vor, nur in einem Kriegszustand existieren zu
können. Sich auf den Koran berufend betont Muhammad Iqbal, dem
widersprechend, ein Krieg dürfe ausschließlich zu Verteidigungszwecken
geführt werden. Kriegerische Aggression und Angriffskriege seien durch das
heilige Buch, den Koran, verboten worden. Der Prophet Muḥammad selbst
habe ausschließlich Verteidigungskriege geführt.222
Dies ist bereits eine dynamische Interpretation Iqbals, denn in der Geschichte
des Islam gab es sowohl defensive als auch offensive Interpretationen des
Dschihad (DMG ǧihād). Muḥammad habe, gemäß der nasḫ-Theorie, den
bewaffneten Dschihad zu jeder Zeit gegen die kuffār führen dürfen, auch wenn
diese zuvor keine Aggression begangen hätten, so die offensive Theorie. Dies
sei darauf zurückzuführen, dass die medinensischen Suren die mekkanischen
per se abrogieren würden.223 Zur Begründung dafür herangezogen wurden auch
die sogenannten „Schwertverse“ in Sure 9:29 ff. Die offensive Lehre ist jedoch
vor allem auf die Zeit der Ummayaden (661-750) und Abbasiden (750-1258,
entgültig 1517) zurückzuführen und vor allem zur Zeit militärischer
Expansion entstanden.224 Parallel dazu hatte es stets defensive Auslegungen
gegeben. Sufyān aṯ-Ṯawrī (716-778) hatte den Dschihad seinerzeit
ausschließlich als defensive Pflicht interpretiert. Die oben genannte Pflicht sei
nur auf die damaligen Bewohner Arabiens bezogen gewesen.225
222
Vgl. Abdul Vahid, Syed: Thoughts and Reflections of Iqbal, Ashraf Press: Lahore 1973, S.
47.
223
Vgl. Tyan, E.: Djihād, Encyclopaedia of Islam II, Brill: Leiden.
224
Vgl. Rohe, Mathias: Das Islamische Recht. Geschichte und Gegenwart, C.H.Beck:
München 2011, S. 149.
225
Vgl. Tyan, E.: Djihād, Encyclopaedia of Islam II,Brill: Leiden.
50
Schwert gesehen.226 Iqbal wäre damit in die Linie von Sufyān aṯ-Ṯawrī und
moderner defensiver Interpretationen einzuordnen.
226
Vgl. Rohe, Mathias: Das Islamische Recht. Geschichte und Gegenwart, C.H.Beck:
München 2011, S. 261ff.
227
Iqbal, Muhammad nach Hafez, Farid: Islamisch-politische Denker. Eine Einführung in die
islamisch-politische Ideengeschichte, Peter Lang Verlag: Frankfurt am Main 2014, S. 119.
228
Vgl. ebd., S. 118ff.
229
Iqbal, Muhammad nach Hafez, Farid ebd., S. 117.
230
Vgl. Gimaret, D.: Tawḥīd, in: Encyclopaedia of Islam II, Brill: Leiden.
51
zu einem Humanitarismus, der alle Menschen umfassen solle.231 Hier findet
sich einer seiner Hauptkritikpunkte an westlicher Ideengeschichte, da die
Konzepte des „Westens“ mit Nationalismus und Regionalismus für Konflikte
sorgen würden, anstatt sich für eine vereinte Welt und das Wohl aller Völker
einzusetzen.232 Die muslimische Umma verbinde in erster Linie Glaube und
gemeinsame Überzeugungen und keine ethnische und territoriale
Zugehörigkeit. Oberste Identität solle demnach der Islam sein und nicht das
jeweilige Herkunftsland. Vorbild darin sei der Prophet Muḥammad, da dieser,
um die muslimische Umma fest zu formen und zu erhalten, seine Heimat habe
verlassen müssen.233
231
Vgl. Hassan, Parveen: The Political Philosophy of Iqbal, Publishers United Printing Press:
Lahore 1970, S. 87-88.
232
Vgl. ebd., S. 88.
233
Vgl. ebd., S. 174.
234
Vgl. ebd., S. 182ff.
235
Vgl. ebd., S. 186.
236
Vgl. ebd., S. 198.
237
Vgl. Iqbal, Muhammad: Armaġān-i ḥiǧāz (Das Geschenk aus dem Hedschas), übersetzt von
Q. A. Kabir für die Iqbal Academy Pakistan, Teil XI, in:
http://www.allamaiqbal.com/works/poetry/persian/aramghan/translation/index.htm, abgerufen
am 1. Mai 2016.
52
Territorium des Staates, der somit alle Völker und Ethnien umfasse.238 Heimat
fühle der indische Muslim genauso in Marokko, obwohl ihn eigentlich nichts,
wie zum Beispiel Sprache, an dieses Land binde.239
Muhammad Iqbal vergleicht dabei die Geschichte des Islams mit der
Geschichte der katholischen Kirche. Martin Luthers Reformation sei eine
logische Konsequenz aus der Entwicklung der Religion hin zu einer
ordenshaften Organisation gewesen. Die Folge der Reformation, der dann
absolut jenseitigen Ausrichtung der Religion, sei gewesen, dass das
Nationalistische das Christliche habe überlagern können. Für den europäischen
Kontinent sagt Iqbal voraus, dass die Bedeutung des Christentums gänzlich in
die Privatsphäre zurückgedrängt werde „und nichts mit dem zu tun hat, was
man das weltliche Leben des Menschen nennt“ 240 . Reformation und
Nationalismus sind für Iqbal untrennbar miteinander verbunden. Das wiederum
sieht Iqbal als mahnendes Beispiel, sowohl gegen Nationalismus als auch
gegen eine Übernahme des Prinzips der Reformation in die islamische Welt. Er
befürchtet eine ähnliche Zersplitterung der islamischen Länder mit
nationalistischen Rivalitäten wie in Europa.241
Als Selbstkritik an der muslimischen Umma wirft er vor allem den Gelehrten
vor, die Botschaft des Koran nicht korrekt verstanden zu haben. In einem Brief
an Maulvi Zaffar Ahmad Siddiqui, vom 12. Dezember 1936, kommt er zu der
Schlussfolgerung, dass eine Art Konföderation der muslimischen Staaten sonst
bereits existieren würde, und das schon vor der Existenz des Völkerbunds, dem
Vorläufer der Vereinten Nationen.242 Den Islam sieht Iqbal als Gegenentwurf
zum Nationalismus, denn wahre Einheit manifestiere sich „in einer Vielheit
von freien unabhängigen Einheiten, deren Rassenrivalitäten durch ein
einigendes Band eines gemeinsamen spirituellen Strebens beigelegt und
harmonisiert sind“. Islam bedeute „weder Nationalismus noch Imperialismus
238
Vgl. Iqbal, Muhammad: Political Thought in Islam, in: The Sociologial Review, Verlag:
London 1908, in: http://www.koranselskab.dk/profiler/iqbal/political.htm, abgerufen am
28.07.2016.
239
Vgl. Sherwani, Latif Ahmed: Speeches, Writings and Statements of Iqbal, Iqbal Academy
Pakistan: Lahore 1977 (1. Aufl. 1944), S. 196.
240
Iqbal, Muhammad: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, Schiler:
Berlin/Ungarn 2003 (k. O.), S. 9.
241
Vgl. Mas’ud, Muhammad Khalid: Iqbal’s Reconstruction of Ijtihad, Iqbal Academy
Pakistan: Lahore 1995, S. 117.
242
Vgl. Hassan, Parveen: The Political Philosophy of Iqbal, Publishers United Printing Press:
Lahore 1970, S. 88.
53
(...), sondern eine Liga von Nationen, die künstliche Grenzen und
Rassenunterschiede nur zur Vereinfachung der Benennung kennt“ 243 . Das
eigene Nationenverständnis basiere nicht auf ökonomischen Interessen,
Sprache oder Land, sondern auf einer gemeinsamen Weltsicht, Ethik und
Religion:244 „The idea of Islam is, so to speak, our eternal home or country in
which we live, move, and have our being“245. Dem indischen Nationalismus
wirft Iqbal Realitätsferne vor und den Hang, mit einer aggressiven
Gleichmacherei die inneren kulturellen Unterschiede einebnen zu wollen, die
Indien zu einer reichen und nachhaltigen Kultur führen könnten. Der indische
Nationalismus sei per se unterdrückerisch, insbesondere gegen das Verlangen
nach mehr Selbstbestimmung der indischen Muslime im Nordwesten des
Subkontinents:246 „A nationalism achieved by such methods can mean nothing
but mutual bitternes and even oppression“247.
243
Iqbal, Muhammad: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, Schiler:
Berlin/Ungarn 2003 (k. O.), S. 187.
244
Vgl. Sherwani, Latif Ahmed: Speeches, Writings and Statements of Iqbal, Iqbal Academy
Pakistan: Lahore 1977 S. 104.
245
Iqbal Muhammad nach Abdul Vahid, Syed: Thoughts and Reflections of Iqbal, Ashraf
Press: Lahore 1973, S. 378.
246
Vgl. Sherwani, Latif Ahmed: Speeches, Writings and Statements of Iqbal, Iqbal Academy
Pakistan: Lahore 197), S. 176ff.
247
Iqbal, Muhammad nach Sherwani, Latif Ahmed ebd., S. 177.
248
Vgl. Sattar, Abdul: Das Verhältnis von Religion und Politik im Denken Muhammad Iqbals,
Wagner: Gelnhausen 2011, S. 50 ff.
54
politischen Macht in Indien“249. Iqbal favorisiert im Gegenzug zur Theokratie
eine islamische Demokratie:250 „Die beste Gesellschaftsform für eine solche
Gemeinschaft ist die Demokratie, deren Ideal es ist, es dem Menschen durch
ein Höchstmaß an Freiheit zu ermöglichen, das gesamte Potential seiner Natur
zu entfalten.“251.
Parveen Hassan schreibt im Bezug auf Iqbal von dem Grundsatz einer
Harmonie zwischen Säkularität und Spiritualität.252 Säkulare Tätigkeiten und
Säkularität an sich könnten selbst nie ohne Spiritualität existieren. Eine
spritualitätsfeindliche Säkularität europäischer Prägung, wie sie Iqbal in
westlichen Staaten zu erkennen glaubt, lehnt er strikt ab, denn die „Schaffung
einer künstlichen Trennung zwischen Religion und Politik würde einem [sic!]
253
dynamischen Glauben seiner praktischen Möglichkeiten berauben“ .
Religionsfeindliche Säkularität verhindere Dynamik. Es gebe aber auch eine
Art islamische Säkularität, die sich von der europäischen Form unterscheide.
Muhammad Iqbal verweist hier auf das schiitische Persien, in dem Ideen zur
Trennung von „Kirche“ und Staat bereits aufgekommen seien. Die „islamische
Welt“ sei demnach nicht ohne Ideen des Säkularismus. Doch gehe es bei
islamischer Säkularität nicht um eine vollständige Trennung von Staat und
jeglicher religiöser Idee, sondern um die Separierung von Funktionen:254 „It
cannot be maintained that in Muslim countries the separation of Church and
State means the freedom of Muslim legislative activity from the conscience of
the people which has for centuries been trained and developed by the
spirituality of Islam“255.
Zeit seines Lebens, insbesondere seit seinem Studium in Deutschland, ist Iqbal
durch europäische Philosophen geprägt. Dies wird besonders anhand eines von
Abdul Sattar ausgewählten Zitates deutlich, welches aus einem Briefwechsel
249
Iqbal, Muhammad nach Sattar, Abdul: Das Verhältnis von Religion und Politik im Denken
Muhammad Iqbals, Wagner: Gelnhausen 2011.
250
Sattar, Abdul ebd., S. 72.
251
Iqbal, Muhammad nach Malik, Muhammad im Vorwort zu Iqbal, Muhammad: Die
Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, Schiler: Berlin/Ungarn (k. O.) 2003, S. 15.
252
Vgl. Hassan, Parveen: The Political Philosophy of Iqbal, Publishers United Printing Press:
Lahore 1970, S. 90.
253
Malik, Muhammad im Vorwort von Iqbal, Muhammad: Die Wiederbelebung des religiösen
Denkens im Islam, Schiler: Berlin/Ungarn (k. O.) 2010, S. 11.
254
Vgl. Sherwani, Latif Ahmed: Speeches, Writings and Statements of Iqbal, Iqbal Academy
Pakistan: Lahore 1977 (1. Aufl. 1944), S. 194-195.
255
Iqbal, Muhammad nach Sherwani, Latif Ahmed ebd., S. 195.
55
zwischen Iqbal und Sufi Tabassum stammt: „Ich habe die meiste Zeit meines
Lebens damit verbracht, westliche Philosophie zu studieren. Diese Sichtweise
ist mir jetzt fast zur Gewohnheit geworden. Bewusst wie auch unbewusst
untersuche ich die Fakten des Islam aus diesem Blickwinkel. Als Folge davon
habe ich mehrmals erfahren, dass ich mich zu dieser Problematik auf Urdu
nicht adäquat ausdrücken kann“256.
Auf der einen Seite von europäischen Denkern fasziniert und in den Bann
gezogen, war Muhammad Iqbal andererseits ein vehementer Gegner jeglicher
Form europäischen Imperialismus’, welchen er in seiner Heimat hautnah
miterlebt hatte. Den herrschenden Europäern wirft Iqbal direkt vor, die Eliten
in der islamischen Welt gezielt von der islamischen Religion entfernt zu haben.
Gleichzeitig würden Theologen der großen ungebildeten Schicht Thesen als
islamisch präsentieren, die es in Wirklichkeit nicht seien, um so für eine
Entfremdung der Massen von der islamischen Religion zu sorgen. Iqbal sieht
demzufolge einen direkten Zusammenhang zwischen europäischem
Imperialismus und dem geistig-kulturellen Niedergang der islamischen Welt.
Die Religion des Islam als dynamische Kraft sei so blockiert worden.257
256
Iqbal, Muhammad nach Sattar, Abdul: Das Verhältnis von Religion und Politik im Denken
Muhammad Iqbals, Wagner: Gelnhausen 2011, S. 23.
257
Vgl. Hassan, Parveen: The Political Philosophy of Iqbal, Publishers United Printing Press:
Lahore 1970, S. 138ff.
258
Vgl. Iqbal, Muhammad: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, Schiler:
Berlin/Ungarn (k. O.) 2010, S. 207.
259
Iqbal, Muhammad ebd., S. 207.
56
die „islamische Welt“ von großer Bedeutung seien. Daher möchte Muhammad
Iqbal das von ihm erworbene europäisch-philosophische Wissen und Denken
mit dem Islam in Einklang bringen und den Islam auf der Basis moderner
philosophischer Begriffe reinterpretieren. Dadurch solle der Islam seine alte
Dynamik wiedergewinnen.260 So nimmt Iqbal an, dass die Dynamik des Islam
im westlichen philosophischen Denken konserviert überlebt habe.261
Trotz seiner Kritik am „Westen“ fordert Iqbal aber keine Feindlichkeit gegen
diesen zu hegen: „Das Ziel meiner persischen Gedichte ist nicht, die Sache des
Islam zu befördern (...) Ziel ist, schlicht und einfach eine soziale
Wiederbelebung zu finden und in diesem Bemühen halte ich es philosophisch
für unmöglich, ein soziales System zu ignorieren, das mit dem erklärten Ziel
existiert, alle Unterscheidungen von Kaste, Rang und Rasse zu beseitigen, und
das bei sorgfältiger Betrachtung der Angelegenheiten dieser Welt doch einen
Geist der Nicht-Weltlichkeit befördert, der so absolut wichtig für den
Menschen in seinen Beziehungen mit seinen Nachbarn ist. Genau dies fehlt
260
Vgl. Malik, Muhammad im Vorwort von Iqbal, Muhammad: Die Wiederbelebung des
religiösen Denkens im Islam, Schiler: Berlin/Ungarn (k. O.) 2010, S. 7.
261
Vgl. ebd. S. 30ff.
262
Iqbal, Muhammad nach Malik, Muhammad im Vorwort ebd., S. 171.
263
Vgl. Junge Freiheit (k. A.): Illustre Autorenrunde, in: Junge Freiheit,
https://jungefreiheit.de/kultur/2009/illustre-autorenrunde/, abgerufen am 20. Juli 2016.
264
Iqbal, Muhammad nach Malik, Muhammad im Vorwort zu Iqbal, Muhammad: Die
Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, Schiler: Berlin/Ungarn (k. O.) 2010, S. 171.
57
Europa und das kann es von uns noch lernen.“265. Muhammad Iqbal geht es
nicht um Polarisierung, sondern um einen gegenseitigen Lernprozess.
Prinzipiell hält er den Islam für die perfekte Religion, aber die Muslime nur
potenziell für die emanzipierteste Gemeinschaft der Welt. Wenn Muhammad
Iqbal von einer Vorbildhaftigkeit islamischer Dynamik spricht, von welcher
„der Westen“ lernen könne, ist dies auch eine Absage an militanten Islamismus
und islamisch begründeten Imperialismus. Iqbal betreibt keine Dämonisierung
des „Westens“, obwohl er ihm Ausbeutung der islamischen Welt vorwirft. Er
kritisiert dabei, dass Menschen andere Menschen unterjochen.266 Westlicher
Imperialismus wird klar als enormes Hindernis auf einem Weg zur
Wiederbelegung islamischer Dynamik gesehen. Intellektuelle westliche
Ansätze dagegen gelten als mögliche Wegbereiter für die Wiedergewinnung
dieser verloren gegangenen Dynamik.
Muhammad Iqbals Konzepte und Islamizität sind stark geprägt von den
historischen Kontexten seiner Zeit, das heißt von einer wahrgenommenen
Stagnation islamischer Werte und Normen und einem alles beherrschenden
europäischen Kolonialismus. Trotzdem ist er angetan von europäischer
Philosophie und möchte mit deren Hilfe zu einer islamischen Renaissance
beitragen. Erneuerung ist nicht im Sinne einer völlig neuschöpferischen
Reform des Islam zu verstehen. Es ist Muhammad Iqbals Ziel, das muslimische
Individuum zu stärken, zu bilden und über eine Wiederbelebung
eingeschlafener dynamischer Traditionen zu einer islamischen Renaissance zu
gelangen. Den Islam versteht Muhammad Iqbal als eine „Religion der Tat“ und
die Dynamik als Herzstück des Korans selbst. Als Praxis dieser Dynamik
fordert Iqbal die Wiederaufnahme des eigenständigen Raisonnements, des
iǧtihād, mit dem er die Muslime aus geistiger Stagnation führen möchte. Nach
einer indisch-nationalistischen Phase sieht Muhammad Iqbal die Lösung
wesentlicher Probleme der Muslime in Indien in der Gründung eines
islamischen Staates auf indischem Boden. Dieser islamische Staat solle jedoch
265
Iqbal, Muhammad nach Malik, Muhammad im Vorwort zu Iqbal, Muhammad: Die
Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, Schiler: Berlin/Ungarn (k. O.) 2010, S. 19.
266
Vgl. ebd., S. 20.
58
keine absolutistische Herrschaftsform haben, sondern als parlamentarische
muslimische Demokratie existieren. Die Souveränität in einer solchen
Demokratie liege, anders als im „Westen“, bei Gott, nur eine Defacto-
Souveränität bei den Bürgern des Staates. Muhammad Iqbal ist hierbei mehr
Philosoph als Staatstheoretiker, legt demnach islamisch-philosophische
Grundlagen und bleibt, obwohl auch aktiver Politiker, ein genauer formuliertes
islamisches Staatskonzept schuldig. Die dynamische Neuinterpretation des
Kalifen als Personengruppe, einer gesetzgebenden Versammlung, deren
Entscheidungen gleichzeitig die Rechtsquelle des iǧmāʿ seien sollen, sind
hierbei die genausten Entwürfe für den islamischen Staat. Zwar widmet sich
Iqbal auch umstrittenen Themen, wie den vier Rechtsquellen im Islam und
liefert im Anschluss neue Schariainterpretationen zu takfīr, der
Gleichberechtigung von Mann und Frau, ḥadd-Strafen oder Apostasie. Diese
werden von ihm aber mehr oberflächlich und aus einer politischen Meinung
heraus behandelt, nicht aber in ein islamisches Staatskonzept mit konkreter
rechtlicher Handhabung eingebettet. Muhammad Iqbal liefert allerdings
zahlreiche Anknüpfungspunkte islamisch-philosophischer Art, gerade im
Bereich der Dynamik islamischer Wertvorstellungen, die auch für die heutige
Zeit von inspirativer Bedeutung sein können. Gerade mit seiner
Nationalismuskritik und seiner Haltung gegen einen aggressiven Extremismus
mit einem bewaffneten Dschihad als Angriffskrieg ist Muhammad Iqbal in
seinen Positionen aktueller denn je.
59
this research intends to re-visit Iqbal’s ideas to remedy the awful situations
experienced by the Ummah“267. Da Muhammad Iqbal sein Engagement nicht
rein als Dienst an der Umma versteht, kann er auch für Nichtmuslime eine
philosophische Quelle der Inspiration sein. Er engagiert sich zum Wohl der
gesamten Menschheit, zu deren Wohl die Dynamik im Islam arbeite. Die
Dynamik des Islam solle nicht nur einer Nation zugute kommen, sondern der
gesamten Menschheit268. Dies macht Muhammad Iqbal zu einem Brückenbauer
zwischen Ost und West.
4. Muhammad Asad
Im Jahre 1900 wird Muhammad Asad als Leopold Weiss in eine jüdische
Familie der Stadt Lemberg geboren. Lemberg gehört in der damaligen Zeit zur
Donaumonarchie Österreich-Ungarn. Weiss entstammt einer Familie mit
zweihundertjähriger Rabbinergeschichte. Sein Großvater ist ein jüdisch-
orthodoxer Rabbi in Czernowitz. 269 Daher bekommt Weiss bereits von
Kindesbeinen an eine Ausbildung im traditionellen Judentum. Im Alter von 13
Jahren beherrscht er bereits das Hebräische fließend und die aramäische
Sprache sehr gut. Weiss studiert die hebräische Bibel, Mischna und Gemara
und kann über Unterschiede zwischen babylonischem und palästinischem
Talmud Diskussionen führen. Weiss erlernt zudem die jüdische Bibelexegese
(Targum).270 In der Familie ist es Normalität mit anderen Glaubensgruppen
zusammenzuleben und in geistigen Austausch zu treten. Leopolds Großvater
pflegt mit einem griechisch-orthodoxen Erzbischof regelmäßig Schach zu
spielen und im Anschluss über die Glaubensinhalte des orthodoxen Judentums
und des griechisch-orthodoxen Christentums zu sinnieren.271
267
Abdul Razak, Mohd Abbas: Iqbal’s Ideas for the Restoration of Muslim Dynamism, in:
Journal Of Islam In Asia, Nr. 2, 2011, S. 377.
268
Vgl. Sattar, Abdul: Das Verhältnis von Religion und Politik im Denken Muhammad Iqbals,
Wagner: Gelnhausen 2011, S. 71.
269
Vgl. Asad, Muhammad: Der Weg nach Mekka, Patmos: Ostfildern 1997 (orig. The Road to
Mecca 1954), S. 73ff.
270
Vgl. ebd., S. 76.
271
Vgl. ebd., S. 73.
60
Weiss zieht es nach Wien, wo er Philosophie und Kunstgeschichte studiert.272
Anfang der 1920er siedelt er nach Berlin über, wo er von alten Wiener
Freunden in die literarisch-künstlerische Caféhauskultur eingeführt wird.273 Ihn
zieht es zu den Kreisen der Wiener Literaten und zu den Schülern Siegmund
Freuds.274 Neben Deutsch und Polnisch beherrscht Weiss auch Französisch,
beginnt als Nahostkorrespondent unter anderem für die Frankfurter Zeitung zu
arbeiten.275 Er verkehrt gern in Literatenkreisen, beispielsweise mit Künstlern
des Expressionismus. Über seine Reisen in den nahöstlichen und
nordafrikanischen Raum kommt Weiss mit dem Islam in Verbindung.
Persönlicher Wendepunkt wird die Einladung seines Onkels Dorian
Feigenbaum (1887-1937) nach Jerusalem im damals britischen Mandatsgebiet
Palästina, denn dort lernt er das Leben der arabischen Beduinen kennen und
lieben. Der zionistischen Bewegung steht Weiss sehr kritisch gegenüber. 276
61
übersetzen. 280 Darüberhinaus kommt Asad mit Vertretern der indischen
Unabhängigkeitsbewegung und den stark puristisch ausgerichteten Anhängern
der ahl-i ḥadīṯ-Bewegung in Kontakt. Attraktiv ist für Asad insbesondere der
antikolonialistische und freiheitliche Ansatz dieser Strömung und deren Wille,
dem islamischen Denken neue Dynamik einzuhauchen. Asad nimmt im Jahre
1928 bei der von ibn Saʿūd einberufenen Gründungsveranstaltung des
Weltbundes für islamische Einheit teil.281 Die ahl-i ḥadīṯ Indiens unterhalten
gute Kontakte zu den Wahhabiten in Saudi Arabien.282 Asad entfernt sich
zusehends von seinem Journalistenberuf und wächst in die Rolle eines
muslimischen Gelehrten. 1933 beginnt er mit dem Verfassen von Islam am
Scheideweg (Islam at the Crossroads) und schreibt hier primär für ein
englischsprachiges indisch-muslimisches Publikum. Im Anschluss übersetzt
und kommentiert Asad die ḥadīṯ-Sammlung ṣaḥīḥ al-buḫārī ins Englische. Mit
der Unterstützung von muslimischen Fürsten gründet Asad den Verlag Arafat
Publications und eine Druckerei in Lahore. Asad bekommt in Indien als
Gelehrter unter den Muslimen relativ wenig Einfluss. 283 Dies unterscheidet ihn
von Muhammad Iqbal. Asad hat dahingegen mehr Erfolg als politisch-
islamischer Autor.284
280
Vgl. Gropp, Lewis: Ein jüdischer Lawrence von Arabien, in: Qantara,
http://de.qantara.de/inhalt/muhammad-asad-der-weg-nach-mekka-ein-juedischer-lawrence-
von-arabien-0, abgerufen am 11. Juni 2016 und Kurzbiographie des Autors in Asad,
Muhammad: Islam am Scheideweg, Bukhara: Mössingen 2009 (orig. Islam at the Crossroads
1934), S. 7-8.
281
Vgl. Windhager: Vom Journalisten zum islamischen Denker und pakistanischen
Diplomaten. Muhammad Asad (geb. Leopold Weiss) in Indien und Pakistan 1932-1952, in:
Franz, Margit und Heimo Halbrainer: Going East – Going South. Österreichisches Exil in
Asien und Afrika, Clio: Graz 2014, S. 436ff.
282
Vgl. ebd., S. 439.
283
Vgl. ebd., S. 441-443.
284
Vgl. ebd., S. 443.
62
Kriegsbeginn eine Anstellung als Hauslehrerin seiner Tochter.285 Mithilfe des
Chief Minister der Provinz Punjab, Sikandar Ḥayāt Ḫān (1882-1942), bemüht
sich Asad zudem um Einreisevisa für seinen Vater, seine Stiefmutter und
seinen Stiefbruder.286 Nicht eindeutig geklärt ist, ob Muhammad Asad unter
seinem alten Namen Leopold Weiss 1939 nach Europa gereist ist, um sich um
die Ausreise seiner Angehörigen zu bemühen. Ende August verliert Rachel das
Blatt mit der schriftlichen Garantie in Britisch-Indien Hauslehrerin werden zu
können und beantragt ein Duplikat. Der Vater weigert sich ohne seine Tochter
auszureisen. Kurze Zeit später bricht schließlich der Zweite Weltkrieg aus,
Deutschland und Großbritannien befinden sich im Krieg und die Angehörigen
Asads können keine Visa mehr erhalten.287
Alle Versuche, die Familie aus Deutschland zu holen, scheitern tragisch. 1942
wird der Vater Karl Weiss mitsamt der Familie in das KZ Theresienstadt
deportiert. Karl Weiss wird dort sehr bald ermordet. Muhammads Schwester
Rachel und seine Stiefmutter werden nach Auschwitz und in das KZ Stutthof
verschleppt, wo sie noch im letzten Kriegsjahr sterben. Zur gleichen Zeit,
während Stiefmutter und Schwester in den Konzentrationslagern der Nazis
gefangen sind, wird Muhammad Asad von den britischen Behörden
festgenommen und ebenfalls interniert. Als Österreicher gilt er ihnen defacto
als Deutscher und damit als „feindlicher Ausländer“.288 Von dieser rechtlichen
Regelung sind österreichische Missionare in Indien oder deutsche
Sympathisanten der Nazis genauso betroffen wie österreichische Juden. Die
Gesetzgebung macht hierbei keinerlei Unterschied, nicht einmal bei jüdischen
Flüchtlingen.289 Erst im Dezember 1945 wird Asad als letzter Gefangener aus
dem Lager Purandhar entlassen.290
63
muslimischen Staates nach dessen Unabhängigkeit 1947, wirkt bei der
Ausarbeitung der Verfassung mit und wird erster Gesandter Pakistans bei der
UNO.291 Asad wird der erste Mensch mit pakistanischem Pass.292
Sein Lebenswerk ist die Übersetzung des Koran The Message of the Qur’an
mit angefügtem tafsīr, welche 1980 fertiggestellt wird. Muhammad Asad hält
es nicht in Pakistan. Er siedelt nach Marokko über und verstirbt am 20. Februar
1992 in Spanien, einsam und enttäuscht über die Muslime. Asad wird auf
einem kleinen islamischen Friedhof in Granada beigesetzt.293
Muhammad Asad verfasst Texte und Bücher über den Zustand der islamischen
Welt. Religion sei im Allgemeinen auf dem Rückzug, auch im „Westen“.
Dabei sei die Natur des Menschen keineswegs besser geworden, sondern
genauso gut und schlecht, wie vor dem Rückgang der Bedeutung der
Religion.294 Eine Lösung für Probleme sei die Verdrängung der Religion im
Alltag der Menschen nicht. Doch trotz eines konstatierten Niedergangs der
islamischen Welt macht Asad in ihrem Kern eine Vitalität aus, die es sonst in
keiner anderen Kultur je gegeben habe. In Islam am Scheideweg (1934)
vergleicht Asad die alte römische Kultur mit der islamischen. Während das
Römische Reich etwa tausend Jahre zum Aufbau seiner kulturellen Blüte
gebraucht habe und innerhalb weniger Jahrzehnte zusammengebrochen sei,
habe das frühislamische Reich nur etwa 80 Jahre für seinen Aufstieg gebraucht
und sei über einen Zeitraum von 1000 Jahren schwach geworden. Für Asad ist
dies ein Beweis für die besondere Widerstandskraft, Dynamik und Vitalität im
Islam. Nicht einmal die Mongolen hätten das Kalifenreich letztendlich
zerstören können, während Rom an den Folgen der Einwanderung von Goten
291
Vgl. Hanimann, Joseph: The Yiddish Jokes of Muhammad Asad, in: Qantara,
http://en.qantara.de/content/from-lemberg-to-pakistan-the-yiddish-jokes-of-mohammad-asad,
abgerufen am 11. Juni 2016.
292
Vgl. Toheed, Ahmad: Muhammad Asad: The Story of a Story of a Story, in: Criterion
Quarterly, http://www.criterion-quarterly.com/muhammad-asad-the-story-of-a-story-of-a-
story/, abgerufen am 11. Juni 2016.
293
Vgl. Kurzbiographie des Autors in Asad, Muhammad: Islam am Scheideweg, Bukhara:
Mössingen 2009 (orig. Islam at the Crossroads 1934), S. 8-9.
294
Vgl. Asad, Muhammad: Is Religion a Thing of the Past?, in: Islamic Studies, Vol. 49 Nr. 2,
Islamic Research Institute: Islamabad 2010, S. 256.
64
und Hunnen gescheitert sei. 295 Mit dieser Vitalität und dem Potenzial an
Dynamik könne demnach eine Wiederbelebung des Islam erwirkt werden.
Muhammad Asad sieht den Islam als eine intellektuelle Bewegung und
weniger auf Emotionen basiert. Er belegt dies anhand zahlreicher koranischer
Aufforderungen zum Denken, wie zum Beispiel la-ʿallakum taʿqilūn (dt.
„damit ihr euren Verstand benutzen könnt“) oder la-ʿallakum tatafakkarūn (dt.
„damit ihr denken könnt“).296 In seinem tafsīr zu seiner Übersetzung von Q
12:108 „Sag (o Prophet): ‚Dies ist mein Weg: Gestützt auf bewußte, der
Vernunft zugängliche Einsicht, rufe ich (euch alle) zu Gott – ich und
diejenigen, die mir folgen’“297 (qul hāḏihi sabīlī adʿū ilā Llāhi ʿalā baṣīratin
anā wa-mani ttabaʿanī wa-subḥāna Llāhi wa-mā anā mina l-mušrikīna)
widmet sich Asad einer Erklärung dieser Abschnitte. Den in dieser āya
beschriebenen Ruf zu Gott interpretiert Asad als „Ergebnis einer bewußten
Einsicht, die der Vernunft des Menschen zugänglich und durch sie verifizierbar
ist“298. Der Koran wird so zum Hort islamischer Dynamik, ähnlich wie bei
Muhammad Iqbal.
295
Vgl. Asad, Muhammad: Islam am Scheideweg, Bukhara: Mössingen 2009 (orig. Islam at
the Crossroads 1934), S. 45-47.
296
Vgl. Asad, Muhammad: This Law Of Ours. And Other Essays, Islamic Book Trust: Kuala
Lumpur 2001, S. 34-35.
297
Q 12:108; Übersetzung nach Muhammad Asad.
298
Asad Muhammad im Tafsīr zu Q 12:108, Fußnote 104, in: Die Botschaft des Koran,
Patmos: Düsseldorf 2009, S. 453.
299
Vgl. Asad, Muhammad: Is Religion a Thing of the Past?, in: Islamic Studies Vol. 49 Nr. 2,
Islamic Research Institute: Islamabad 2010, S. 253-255.
65
nicht habe erfüllen können. 300 Viele hätten daher realisiert „that science has no
direct connection with man’s moral life“301. Fragen der Moralität hätten keinen
Platz innerhalb der Wissenschaft. Sie hätten ihren Platz ausschließlich in der
Religion.302 In Europa sei der wissenschaftliche Fortschritt keinesfalls auf das
Christentum selbst zurückzuführen. Jeglicher Fortschritt und damit auch
jegliche Dynamik sei im Kampf gegen die christlichen Kirchen erfolgt. Diese
hätten Dynamik und Fortschritt in Europa behindert. 303 Fortschritt und
Dynamik seien im Gegensatz zum Verständnis der christlichen Kirchen ein
Prinzip der islamischen Religion. Ein Muslim, der seine Religion ernst nehme,
könne somit nicht umher, nach wissenschaftlichem und ökonomischem
Fortschritt zu streben.304
Asad ruft das Periodikum Arafat. A Monthly Critique of Muslim Thought ins
Leben, in dem er sich konkret dem Vorhaben der Revitalisierung und
Erneuerung islamischen Denkens widmet. Darin werden zudem Grundlagen
für eine mögliche zukünftige Verfassung eines islamischen Staates in Indien
formuliert.305
4.3.1 Historischer fiqh und dessen Rolle beim Erstarren der islamischen
Dynamik
300
Vgl. Asad, Muhammad: Is Religion a Thing of the Past?, in: Islamic Studies Vol. 49 Nr. 2,
Islamic Research Institute: Islamabad 2010, S. 255.
301
Asad, Muhammad ebd., S. 255.
302
Vgl. ebd., S. 256.
303
Vgl. Asad, Muhammad: Islam am Scheideweg, Bukhara: Mössingen 2009 (orig. Islam at
the Crossroads 1934), S. 49.
304
Vgl. ebd., S. 79.
305
Vgl. Windhager, Günther: Vom Journalisten zum islamischen Denker und pakistanischen
Diplomaten. Muhammad Asad (geb. Leopold Weiss) in Indien und Pakistan 1932-1952, in:
Franz, Margit und Heimo Halbrainer: Going East – Going South. Österreichisches Exil in
Asien und Afrika, Clio: Graz 2014, S. 453.
306
Asad, Muhammad: Die Prinzipien von Staat und Regierung im Islam, Edition Bukhara:
Mössingen 2011 (orig. The Principles of state and government in Islam 1961), S. 28.
66
unterschiedliche Raum-Zeit-Gegebenheiten und individuelle Prägungen eine
dauerhafte Diversität und Pluralität im fiqh zur Folge haben müssen. Asad
konstatiert für den zeitgenössischen fiqh demnach, „dass einige dieser
‚abgeleiteten’ Schlüsse von den aktuell gezogenen Schlussfolgerungen
abweichen“307 können. Die unterschiedlichen Meinungen sollten die Prinzipien
der Scharia auf bestimmte Fragen anwendbar machen und das Leben der
Muslime erleichtern. Doch die Dynamik des islamischen Rechts sei
insbesondere dadurch erstarrt, dass Meinungen der Gelehrten im Volk den
Status der „unantastbare(n) Gültigkeit“308 erhalten hätten. Fälschlicherweise sei
der fiqh so defacto zu einem Teil der Scharia geworden, was Asad als völlige
Willkür kritisiert, die weder durch Koran noch Sunna zu rechtfertigen wäre.309
Koran und Sunna würden islamische Dynamik aber zu einem kreativen Prozess
machen.310 Islamische Dynamik sei „positive Bewegung“, die Hinwendung zu
westlichen Denkweisen und Staatskonzepten eine jedoch negative Variante
von Dynamik. 311 Auch die Wissenschaft solle dazu genutzt werden, die
islamische „Kultur zu neuem Leben (zu) erwecken“ 312 . Die Freiheit der
Forschung sei daher unabdingbar. Es gelte selbst aktiv zu werden, die
islamischen Quellen selbst zu lesen und zu interpretieren und sich nicht auf die
Urteile alter Rechtsgelehrter zu verlassen. Die Muslime müssten aktiv
gestalten.313 Eine ständige Dynamik, insbesondere in der Findung zeitgemäßer
Gesetze, sieht Muhammad Asad als ein der Scharia innewohnendes Prinzip.314
Der fiqh muss demnach dringend redynamisiert und von alter Starrheit befreit
werden.
Während Asad vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges den Themenfeldern
der Scharia und der islamischen Jurisprudenz vergleichsweise wenig
Beachtung schenkt, nimmt dies seit den 1940ern merklich zu. Dominik
Schlosser schreibt in seiner Dissertation Lebensgesetz und
307
Asad, Muhammad: Die Prinzipien von Staat und Regierung im Islam, Edition Bukhara:
Mössingen 2011 (orig. The Principles of state and government in Islam 1961), S. 28.
308
Asad, Muhammad ebd., S.28.
309
Vgl. ebd., S.29.
310
Vgl. ebd., S. 35.
311
Vgl. ebd., S. 34-35.
312
Asad, Muhammad ebd., S. 35.
313
Vgl. ebd., S. 35.
314
Vgl. ebd., S. 70.
67
Vergemeinschaftungsform. Muḥammad Asad (1900-1992) und sein
Islamverständnis von einer Entwicklung hin zu Scharia als „‚Lebensthema
Muḥammad Asads“315. In Is Religion a Thing of the Past erwähnt Muhammad
Asad direkt zu Beginn die Notwendigkeit „of reexamining our current concept
of the shari’ah with the view to restoring the Law of Islam to its erstwhile
simplicity“316. Muhammad Asad verwendet jedoch ein enges Verständnis des
Begriffes Scharia. Insbesondere in der Islamwissenschaft wird darunter die
Gesamtheit des islamischen Werte- und Normengefüges verstanden, wovon
islamisches Recht nur einen Teil darstellt. 317 In Islam am Scheideweg
gebraucht Asad den Begriff Scharia als Synonym für islamisches Recht.318 In
dem Beitrag That Business of Imitation in seinem Periodikum Arafat
bezeichnet Asad die Scharia als „religious law“ 319. Die nuṣūṣ, die klaren
Anweisungen in Koran und Sunna, seien die „wahre Scharia“.320 Die Scharia
selbst beschrieb er in The Outline of a Problem als „the core and backbone of
Islam“.321 Sie sei, mit den Worten Dominik Schlossers, „über alle kontingenten
historischen Bedingungen hinweg für alle Zeiten und an jedem Ort gültig, also
weder an Zeit noch Raum gebunden“322.
Die Gefährten des Propheten seien in ihrer Rechtsfindung auf die nuṣūṣ, also
die „wahre Scharia“ konzentriert gewesen.323 Sei ein Thema in Koran und
Sunna nicht vorhanden gewesen, hätten die Gefährten mithilfe des iǧtihād
islamkonforme Lösungen gefunden.324
68
alle denkbaren Eventualitäten des Lebens detailliert zu regeln“325. Dies ist eine
fiqh-kritische Grundgaltung, die Dominik Schlosser dem islamischen Denker
Asad attestiert.326 Schlosser spricht dabei von „einer strikten Differenzierung
zwischen Offenbarungsrecht einerseits und dem von Menschen gesetzten,
tradierten Juristenrecht andererseits und (...) damit eine systematische
Separierung von šarīʿa und fiqh“327.
Gott habe den Koran nur mit einer begrenzten Anzahl an eindeutigen Aussagen
versehen, was eine Dynamik des islamischen Rechts zu einem gottgewollten
Aspekt islamischer Jurisprudenz mache. Für Asad ist Scharia demnach nicht
die Gesamtheit aller Werte und Normen sondern nur die „wahre Scharia“,
welche sich in den klaren Aussagen im Koran manifestiere: „Deshalb ist die
wahre Scharia weitaus präziser und im Umfang wesentlich kleiner als die
Auslegungen des fiqhs durch die verschiedenen islamischen Rechtsschulen“328.
Diese klaren Aussagen der nuṣūṣ seien aber, im Gegensatz zu den Meinungen
der Rechtsgelehrten, für alle Zeit gültig und unverrückbar.329 Muhammad Asad
beruft sich hinsichtlich der Flexibilität islamischer Jurisprudenz und was die
geringe Anzahl der klaren Passagen im Koran betrifft, auf den Gelehrten Abū
Muḥammad ʿAlī ibn Aḥmad Ibn Ḥazm aẓ-Ẓāhirī (994-1064), der sich selbst
auf einen im ṣaḥīḥ muslim durch Abū Hurayra überlieferten ḥadīṯ beruft:
„Fragt mich nicht nach Angelegenheiten, die ich unausgesprochen gelassen
habe (...)“330.
325
Asad, Muhammad: Die Prinzipien von Staat und Regierung im Islam, Edition Bukhara:
Mössingen 2011 (orig. The Principles of state and government in Islam 1961), S. 29.
326
Vgl. Schlosser, Dominik: Lebensgesetz und Vergemeinschaftungsform. Muḥammad Asad
(1900-1992) und sein Islamverständnis, EB-Verlag: Bonn 2015, S. 229.
327
Schlosser, Dominik ebd., S. 232.
328
Asad, Muhammad: Die Prinzipien von Staat und Regierung im Islam, Edition Bukhara:
Mössingen 2011 (orig. The Principles of state and government in Islam 1961), S. 29.
329
Vgl. ebd., S. 30.
330
Ḥadīṯ in Ṣaḥīḥ Muslim nach der Überlieferung von Abū Hurayra nach Asad, Muhammad
ebd., S. 31.
69
geben. 331 Bei Fragen, die Regierung, die Wirtschaft oder die Technologie
betreffen, gebe die Scharia kein detailliertes Gesetz vor, weswegen eine
„idschtihadische Gesetzgebung in Kraft“332 treten könne. Asad begründet dies
mit dem Versteil von Q 5:48 „Für jeden von euch haben Wir ein Göttliches
Recht und einen offenen Weg bestimmt“333 (li-kullin ǧaʿalnā minkum širʿatan
wa-minhāǧan). Ein Teil sei demnach klar vorgegeben und der Rest dynamisch
interpretierbar. Fest steht für Asad, dass die Menschen sich „aus freien Stücken
dem göttlichen Recht des Islam unterwerfen“334 sollen.
331
Vgl. Asad, Muhammad: Die Prinzipien von Staat und Regierung im Islam, Edition
Bukhara: Mössingen 2011 (orig. The Principles of state and government in Islam 1961), S. 33.
332
Asad, Muhammad ebd., S. 33.
333
Q 5:48 nach Asad, Muhammad ebd., S. 34.
334
Asad, Muhammad ebd., S. 67.
335
Asad, Muhammad ebd., S. 32.
336
Asad, Muhammad ebd., S. 32.
337
Asad, Muhammad: This Law of Ours. And Other Essays, Islamic Book Trust: Kuala
Lumpur 2001, S. 62.
338
Vgl. Schlosser, Dominik: Lebensgesetz und Vergemeinschaftungsform. Muḥammad Asad
(1900-1992) und sein Islamverständnis, EB-Verlag: Bonn 2015, S. 239-240.
339
Vgl. Asad, Muhammad: This Law of Ours. And Other Essays, Islamic Book Trust: Kuala
Lumpur 2001, S. 62-63.
340
Asad, Muhammad ebd., S. 63.
70
Propheten Muḥammad über den Ablauf der islamischen Rechtsfindung
unterhält. Dem iǧtihād habe von Beginn an ein Moment der Dynamik
innegewohnt. Muhammad Asad erwähnt den Gefährten-iǧtihād, bei dem die
Einzelmeinungen der Gefährten des Propheten (ṣaḥāba) untereinander
selbstverständlicherweise verschieden gewesen seien.341 Damit nutzt er den
iǧtihād der Prophetengefährten (ṣaḥāba), den diese direkt vom Propheten
vermittelt bekommen haben sollen, als Begründung für die Legitimität eines
zeitgenössischen iǧtihād. Die Mehrheit der Rechtsgelehrten geht davon aus,
dass während der Zeit der ṣaḥāba tatsächlich iǧtihād praktiziert worden ist.342
Diese Form des iǧtihād sei nicht bindend für die Zukunft gewesen: „Sie waren
mit tiefster Bescheidenheit gesegnet; niemand von ihnen maßte sich je an, ein
Gesetzgeber für alle Zeiten zu sein“ 343 . In der Zwischenzeit sei in der
islamischen Welt diese Dynamik der islamischen Rechtsfindung in Form des
iǧtihād jedoch erstarrt, da der iǧtihād der Gefährten als bindend interpretiert
worden sei, was „weder die Scharia noch der gesunde Menschenverstand
rechtfertigt“ 344 . Die Ewigkeit der Botschaft des Islam fordere deren
Zugänglichkeit zum menschlichen Verstand. Heutige wissenschaftliche
Methoden könnten zu einem besseren Verständnis dieser Botschaft führen:345
„Auf der Grundlage von Koran und Sunna selbstständig idschtihad betreiben
zu dürfen, ist demnach also nicht nur zulässig, sondern auch zwingend
notwendig“346. Islam an sich sei „sowohl in sozialer wie geistiger, demzufolge
auch in politischer Hinsicht, eine Aufforderung zu ewiger Erneuerung“347.
Einen Staat in derselben Form wie der der ṣaḥāba aufbauen zu wollen, sei „ein
Verrat an der Kreativität der Gefährten“348. Der iǧtihād sei der Schlüssel zu
islamischer Wiedergeburt: „nothing but a legitimate ijtihād can cure our
341
Vgl. Asad, Muhammad: Die Prinzipien von Staat und Regierung im Islam, Edition
Bukhara: Mössingen 2011 (orig. The Principles of state and government in Islam 1961), S.
46ff.
342
Vgl. Krawietz, Birgit: Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam,
Duncker & Humblot: Berlin 2002, S: 27ff.
343
Asad, Muhammad: Die Prinzipien von Staat und Regierung im Islam, Edition Bukhara:
Mössingen 2011 (orig. The Principles of state and government in Islam 1961), S. 47.
344
Vgl. ebd., S. 47.
345
Vgl. ebd., S. 48.
346
Asad, Muhammad ebd., S. 48.
347
Asad, Muhammad ebd., S. 51.
348
Asad, Muhammad ebd., S. 52.
71
illness“349. So positioniert sich Asad in der Debatte um fatḥ bāb al-ʾiǧtihād und
insdidād bāb al-ʾiǧtihād zugunsten der „Öffnung des Tores des iǧtihād“.
72
Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Weltanschauung aneinander
gebunden“ 354 sind. Muhammad Asads Idee, wie ein Pakistan idealerweise
ausschauen könnte, sind in Die Prinzipien von Staat und Regierung im Islam
1961 ausführlich niedergeschrieben, aber bereits zuvor im Periodikum Arafat
und in Islamic Constitution-Making (1948) formuliert worden.
1947 kommt für den indischen Subkontinent das Jahr der Unabhängigkeit. Das
ehemalige Kolonialgebiet wird geteilt und neben einem mehrheitlich
hinduistischen Indien wird Pakistan als Staat für die Muslime gegründet.
Muhammad Asad wird im selben Jahr zum Direktor des Amtes für Islamischen
Aufbau ernannt. Er soll den Zustand der Gesellschaft im Hinblick auf deren
Islamizität analysieren und die Grundlage für eine künftige Verfassung
Pakistans schaffen. Im Anschluss daran leitet er als Unterstaatssekretär die
Mittelost-Abteilung, um Verbindungen zwischen Pakistan und der übrigen
islamischen Welt zu verstärken. 355
354
Asad, Muhammad: Der Weg nach Mekka, Patmos: Ostfildern 1997 (orig. The Road to
Mecca 1954), S. 14.
355
Vgl. ebd., S. 14.
356
Asad, Muhammad: This Law of Ours. And Other Essays, Islamic Book Trust: Kuala
Lumpur 2001, S. 92.
73
becomes reality“357. Von der Realisierung der Pakistan-Idee erhofft sich Asad
eine Signalwirkung in die „islamische Welt“ und eine spirituelle Revolution.
Erst die Gründung eines eigenen Staates der Muslime Indiens beinhalte die
Möglichkeit eine islamische Gesellschaft zu errichten und, nach den Worten
Asads, „to translate the tenets of Islam into terms of practical life“358. Das Ein-
Mann-Projekt Arafat. A Monthly Critique of Muslim Thought soll der
innerislamischen Kritik und der Wiederbelebung muslimischer Intellektualität
dienen.359
In seinem 1961 publizierten Werk Die Prinzipien von Staat und Regierung im
Islam bedauert Asad allerdings, dass seine zurückliegenden Vorschläge in der
pakistanischen Verfassung kaum berücksichtigt worden waren. 360 Zwischen
Asad und pakistanischen Politikern von hohem Rang beginnt es Spannungen
zu geben.361 Die Rolle der Religion im zukünftigen Pakistan ist keineswegs
unumstritten. Während Asad dauerhaft die Errichtung eines islamischen
Staates favorisiert, sind andere Denker daran interessiert, die sozialen,
kulturellen und wirtschaftlichen Interessen der Muslime zu sichern, nicht aber
einen islamischen Staat zu gründen.362 Diesem Vorhaben, nur die Muslime
Indiens aus der Vorherrschaft der Hindus zu befreien und so zu ökonomischem
Glück zu führen, erteilt Asad eine klare Absage. Für diese Aktivisten käme der
Islam nur in sofern als Grundlage für eine Befreiungsbewegung zum Tragen,
wie dies etwa für den Katholizismus in Irland sei. Genau dies will Asad aber
vermeiden. Es geht ihm um ein umfassendes islamisches Gesellschaftskonzept,
um von Pakistan ausgehend die „islamische Welt“ zu revitalisieren, nicht nur
darum, die indischen Muslime zur Unabhängigkeit zu führen, was aus seiner
Sicht nationalistischen Motiven nahe komme.363
357
Asad, Muhammad: This Law Of Ours. And Other Essays, Islamic Book Trust: Kuala
Lumpur 2001), S. 72.
358
Asad, Muhammad ebd., S. 72-73.
359
Vgl. Schlosser, Dominik: Lebensgesetz und Vergemeinschaftungsform. Muḥammad Asad
(1900-1992) und sein Islamverständnis, EB-Verlag: Bonn 2015, S. 225-227.
360
Vgl. Windhager, Günther: Vom Journalisten zum islamischen Denker und pakistanischen
Diplomaten. Muhammad Asad (geb. Leopold Weiss) in Indien und Pakistan 1932-1952, in:
Franz, Margit und Heimo Halbrainer: Going East – Going South. Österreichisches Exil in
Asien und Afrika, Clio: Graz 2014, S. 457.
361
Vgl. ebd., S. 459.
362
Vgl. ebd., S. 456.
363
Asad, Muhammad: This Law Of Ours. And Other Essays, Islamic Book Trust: Kuala
Lumpur 2001, S. 72-73.
74
Asad gleicht Iqbal insbesondere bei seinem Legitimationsansatz für einen
islamischen Staat. Die Muslime seien eine Gemeinschaft mit einer
gemeinsamen Ideologie und hätten somit das Recht auf ein eigenes
Gemeinwesen. Dies sei gerade nicht auf eine gemeinsame Ethnie aufgebaut,
sondern auf den Islam und die Scharia als „visible expression of their
nationhood“364. Asad hofft, die Gründung des islamischen Staates Pakistan sei
ein „prelude to an Islamic reorientation in many parts of the world“365 . Die
Pakistan-Bewegung solle der Schlüssel zu einer islamischen Renaissance
sein. 366 Es bestehe allerdings die Gefahr, dass die Pakistan-Idee zu einer
nationalen Bewegung verkomme und Pakistan nur eine Nation unter vielen
zersplitterten Nationen werde.367 Die Schlüsselfrage sei daher: Wird Pakistan
ein Projekt nationaler Unabhängigkeit indischer Muslime oder ein Projekt zur
Revitalisierung des Islams und der islamischen Welt?368
Muhammad Asad sieht für die Nationen der Welt stets kleine Zeitfenster für
deren Selbstbestimmung. 1961 erscheint Die Prinzipien von Staat und
Regierung im Islam, in dem er insbesondere staatspolitische Überlegungen von
Islamic Constitution-Making (1948) näher ausführt.369 In ersterem bringt er
zum Ausdruck, dass er den „Zeitpunkt der freien Wahl jetzt für die Nationen
der muslimischen Welt“370 gekommen sieht. Asad steht unter dem Eindruck
der zurückliegenden Zeit, in der zahlreiche muslimische Gebiete aus der
Kolonialherrschaft in die Unabhängigkeit getreten sind. In dieser
Umbruchsphase sind sich Intellektuelle dieser Regionen nicht über mögliche
Staatsformen einig. Wie zahlreiche andere Denker plädiert Muhammad Asad
für eine Synthese aus Religion und Staat, für die Implementierung eines
islamischen Staates. Für die Muslime stellten sich, so Asad, zwei
entscheidende Fragen bezüglich künftiger Staatsformen: „Soll ihr neuer
364
Asad, Muhammad: This Law Of Ours. And Other Essays, Islamic Book Trust: Kuala
Lumpur 2001, S. 74.
365
Asad, Muhammad ebd., S. 76.
366
Vgl. ebd., S. 76.
367
Vgl. ebd., S. 83.
368
Vgl. ebd., S. 86.
369
Vgl. Asad, Muhammad: The Principles of state and government in Islam, Islamic Book
Trust: Selangor 1980, Preface ix.
370
Asad, Muhammad: Die Prinzipien von Staat und Regierung im Islam, Edition Bukhara:
Mössingen 2011 (orig. The Principles of state and government in Islam 1961), S. 15.
75
unabhängiger Staat modernen westlichen Vorstellungen folgen, die der
Religion das Recht absprechen, das praktische Leben der Nation zu gestalten,
oder soll wirklich ein islamisches Staatswesen im wahren Sinn des Wortes
entstehen?“371. Ein Staat sei nicht schon islamisch, wenn die Bevölkerung
ausschließlich muslimischen Glaubens sei, sondern ein islamischer Staat müsse
die „soziopolitischen Grundsätze des Islam im Leben der Nation (anwenden)
und (...) (diese) Grundsätze in die Verfassung des Landes (implementieren)“372.
Asad diskutiert die Frage, ob ein islamischer Staat und die Vermischung von
Religion und Politik eine tatsächliche Forderung im Islam darstelle. Aus seiner
Sicht „macht der Koran in aller Deutlichkeit klar, dass der eigentliche Zweck
der gesamten Schöpfung in der Einhaltung des Schöpferwillens durch die
Erschaffenen liegt. Bezüglich des Menschen bedeutet diese – auf Arabisch
islām genannte – Fügsamkeit: „die Bedürfnisse und das Verhalten des
Menschen bewusst in Einklang mit den Lebensregeln des Schöpfers zu
bringen“ 373 . Bei dieser klaren Vorstellung über den Sinn des Lebens
schlussfolgert Asad, dass es demnach auch klare gesellschaftliche
Vorstellungen über „Richtig und Falsch“ geben sollte. Diese können nicht
allein von Menschen geschaffen werden. In einem nicht-islamischen Staat
könne demnach eine eindeutige Kenntlichmachung von „Richtig und Falsch“
nicht erfolgen, also auch die Einhaltung des Schöpferwillens nicht
gewährleistet werden. Notwendig sei also „ein eindeutiges Gesetzeswerk, das
allgemein jeden Bereich des menschlichen Lebens unter jedem Blickwinkel
regelt“374.
Erst in einem islamischen Staat könne der Muslim ein „wahrhaft islamisches
Leben im weitesten Sinne“ 375 führen. Koran und Sunna erfüllten diese
Kriterien: „Allein sie geben eindeutig Auskunft darüber, was wir Menschen
nach Gottes Willen sein lassen sollen und was wir tun sollen“ 376 . Die
Entscheidung, der Scharia zu folgen oder nicht, liege zunächst beim
371
Asad, Muhammad: Die Prinzipien von Staat und Regierung im Islam, Edition Bukhara:
Mössingen 2011 (orig. The Principles of state and government in Islam 1961), S. 15-16.
372
Asad, Muhammad ebd., S. 16.
373
Asad, Muhammad ebd., S. 17.
374
Asad, Muhammad ebd., S. 17.
375
Asad, Muhammad: This Law of Ours. And Other Essays, Islamic Book Trust: Kuala
Lumpur 2001, S. 81.; Übersetzung F.S..
376
Asad, Muhammad: Die Prinzipien von Staat und Regierung im Islam, Edition Bukhara:
Mössingen 2011 (orig. The Principles of state and government in Islam 1961), S. 18.
76
Individuum alleine. Doch selbst Menschen, die sich dazu bewusst entscheiden
würden, könnten nicht ständig den islamischen Ansprüchen gerecht werden.377
In einem Gemeinwesen werde dies bei den divergierenden Wertvorstellungen
schwierig, da der Einzelmensch mit anderen Einzelmenschen koexistieren
müsse. Der Schöpfungsanspruch könne unmöglich durch eine nichtislamische
Gesellschaft gewährleistet werden: „Wie gut ihre Absichten auch immer sein
mögen – eine Einzelperson kann unmöglich privat im Einvernehmen mit den
Anforderungen des Islam leben, sofern und solange ihr gesellschaftliches
Umfeld nicht nach dem Vorbild des Islam ausgerichtet ist“ 378 . Die
Notwendigkeit des islamischen Staates resultiert bei Muhammad Asad
offensichtlich aus der Annahme, dass der Islam nur dann richtig ausgelebt
werden kann, wenn der Muslim in einem islamischen Staat lebt. Dieser
islamische Staat müsse aber „nicht notwendigerweise einem historischen
Präzedenzfall entsprechen“379. Das heißt, ein islamischer Staat solle durchaus
den aktuellen Gegebenheiten angepasst sein, was den Vorstellungen Iqbals
entspricht. Dies verdeutlicht Asads dynamischen Ansatz gerade im Hinblick
auf die Findung eines islamischen Staatswesens. Zudem solle darauf geachtet
werden, dass westliche Staatsbegriffe mit westlicher Definition nicht eins zu
eins auf das islamische Staatswesen angewandt werden könnten, da diese in
einem völlig anderen Kontext stünden. Der These westlicher Islamkritiker, eine
islamische Herrschaft müsste zwangsläufig zu einer totalitären Diktatur führen,
erteilt Muhammad Asad eine entschiedene Absage. 380 Der Islam sei „keine
Religion der Unterdrückung“381.
Muhammad Asad teilt die Ansicht, dass das muslimische Leben nur in einem
eigenen Staatswesen gänzlich zu voller Entfaltung kommen kann. Damit wird
der islamische Staat zur Bedingung für die volle Entfaltung islamischer
Dynamik.
377
Vgl. Asad, Muhammad: Die Prinzipien von Staat und Regierung im Islam, Edition
Bukhara: Mössingen 2011 (orig. The Principles of state and government in Islam 1961), S.
16ff.
378
Asad, Muhammad ebd., S. 18.
379
Asad, Muhammad ebd., S. 36.
380
Asad, Muhammad ebd., S. 37.
381
Asad, Muhammad: Islam am Scheideweg, Bukhara: Mössingen 2009 (orig. Islam at the
Crossroads 1934), S. 34.
77
4.3.4.2 Muhammad Asads Positionen zum Säkularismus
Muhammad Asad sieht ein Problem in der Verknüpfung von Säkularismus und
Fortschrittlichkeit und der daraus resultierenden negativen Bewertung der
Verknüpfung von Religion und Politik. Durch westlichen Einfluss hätten
zahlreiche Muslime diese Denkweise übernommen.382 In Die Prinzipien von
Staat und Religion setzt Asad das Wort Säkularismus aber bewusst in
Klammern. Dies kann so interpretiert werden, dass Asad explizit die
europäischen Varianten des Säkularismus kritisiert. 383 In einem westlich-
säkularen Staat gebe es „keine feste Norm, um zwischen gut und böse, richtig
und falsch zu unterscheiden“. 384 Einziger Maßstab könne dabei nationales
Interesse sein. Hierbei wird Asads Verknüpfung des europäischen
Nationalismus mit dem Begriff des Säkularismus deutlich. Der Eindruck
nationaler Rivalitäten und nationalistisch und rassistisch motivierter Kriege in
Europa, gerade auch im Zusammenhang mit der Ermordung eines Teils seiner
Familie durch die Nationalsozialisten, scheint sich bei ihm eingebrannt zu
haben. Die fehlende Basis gemeinsamer Wertvorstellungen führe auch
innerhalb nationaler Interessen zu innerer Zersplitterung in unterschiedliche
Lager.385 Ebenso im Hinblick auf die Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg und
den darauf folgenden Ost-West-Konflikt vertritt Asad den Standpunkt, „dass
keines der heutigen westlichen politischen Ideensysteme –
Wirtschaftsliberalismus, Kommunismus, Nationalsozialismus,
Sozialdemokratie usw. – in der Lage ist, dieses Chaos in eine harmonische
Ordnung zu überführen“386. Insbesondere Kapitalismus und Sozialismus seien
ausschließlich durch Materialismus geprägt. Dies führe zu Uneinigkeit, Chaos
und Auseinandersetzungen der Menschen untereinander. „Richtig“ und
„falsch“ seien dadurch inhaltslose Begriffe, da diese nicht an ein dauerhaftes
Wertesystem gebunden, sondern stets abhängig vom Zeitgeist seien. 387 Einzig
und allein die Religion könne ein „absolut geltende(s) Sittengesetz“ aufstellen
„und damit die Grundlage für eine Übereinkunft innerhalb jeder Gruppe auf
382
Vgl. Asad, Muhammad: Die Prinzipien von Staat und Regierung im Islam, Edition
Bukhara: Mössingen 2011 (orig. The Principles of state and government in Islam 1961), S. 19-
20.
383
Vgl. ebd., S. 20.
384
Asad, Muhammad ebd., S. 20.
385
Vgl. ebd., S. 20-21.
386
Asad, Muhammad ebd., S. 21.
387
Vgl. ebd., S. 20ff.
78
eine bindende Moral“388, da die Wissenschaft es bisher nicht vollbracht habe,
in der notwendigen „Kenntnis des Zweckes menschlicher Existenz zu
stehen“389. Ein Staat, der auf religiösen Prinzipien fuße, könne zudem besser
für die Zufriedenheit seiner Bürger sorgen als ein Staat nach europäisch-
säkularem Vorbild.390
Die Reformbewegung der salafīya des 19. und frühen 20. Jahrhunderts will,
was sich in ihrem Namen ausdrückt, zu den Wurzeln der as-salaf aṣ-ṣāliḥ, der
frommen Altvorderen der ersten drei Generationen der Muslime, zurückkehren
und nach diesen Vorbildern die Gesellschaft und damit auch einen islamischen
Staat gestalten. Muhammad Asad widerspricht diesem Vorhaben energisch.
Zwar sei es der Wille des Propheten Muḥammad gewesen, dass sich die
Muslime an seinen Gefährten ein Beispiel nähmen, diese Beispielhaftigkeit
jedoch liege mehr in ihrem Charakter, ihren vorbildlichen Persönlichkeiten und
388
Asad, Muhammad: Die Prinzipien von Staat und Regierung im Islam, Edition Bukhara:
Mössingen 2011 (orig. The Principles of state and government in Islam 1961), S. 22.
389
Asad, Muhammad ebd., S. 25.
390
Vgl. ebd., S. 27.
391
Vgl. Asad, Muhammad: Islam und Politik, Islamisches Zentrum Genf: Genf 1963, S. 11.
79
ihrer Stärke im islamischen Glauben, als in der damaligen Staatsform.
Keinesfalls könne dies „in der Art liegen, wie sie den Staat organisierten“392.
Die Gesetze und Staatsformen der Altvorderen seien „ein Ergebnis von
zeitbedingten Erfordernissen und individuellem idschtihad“393 gewesen. Der
moderne islamische Staat könne logischerweise gar nicht so aufgebaut werden
wie bei den Altvorderen, da ein Staat nicht ausschließlich von den nuṣūṣ
abhängen könne, sondern viel mehr von an Ort und Zeit angepassten Gesetzen.
Neue Kontexte würden demnach auch neue Gesetze und Staatsformen
erfordern, weswegen die Forderung nach einem Staat entsprechend der
Ausprägung des 7. Jahrhunderts absurd sei. 394 Selbst die rechtgeleiteten
Kalifen hätten in der kurzen Zeit ihrer Regierung die Staatsverfassungen
mehrfach geändert.395 Die Dynamik des islamischen Rechts habe demnach
immer bestanden und müsse heutzutage ebenso gepflegt werden wie in den
Generationen der Altvorderen.
Um sich der Loyalität der Bevölkerung sicher sein zu können, sollten die
Regierungen in freien Wahlen ermittelt werden. Dadurch solle der Volkswille
in Gänze repräsentiert werden können. Dass damit die gesamte Umma gemeint
sei, folgert Asad aus Q 4:59 „Oh Ihr Gläubigen! Gehorcht Gott und gehorcht
Seinem Gesandten und denen unter euch, die Befehlsgewalt haben“396 (yā-
ʿayyuhā llaḏīna āmanū aṭīʿū Llāha wa-ʾaṭīʿū r-rasūla wa-ʾ ūlī l-ʾamri minkum
fa-ʾin tanāzaʿtum fī-šayʾin fa-ruddūhu ilā Llāhi wa-r-rasūli in kuntum
tuʾminūna bi-Llāhi wa-l-yawmi l-ʾāḫiri ḏālika ḫayrun wa-ʾaḥsanu taʾwīlan).
Die Passage „unter euch“ (minkum) beziehe sich auf die gesamte Umma und
nicht nur auf einen Teil der Muslime. Eine erbliche Monarchie sieht Asad,
ähnlich wie Muhammad Iqbal, als mit dem Islam unvereinbar an.397 Beispiele
für Meinungsunterschiede und Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip
fänden sich zudem in der Sunna. Asad argumentiert hierbei auf Basis des von
as-Suyūṭī im al-ǧāmiʿ aṣ-ṣaġīr überlieferten ḥadīṯ „die Meinungsunterschiede
392
Asad, Muhammad: Die Prinzipien von Staat und Regierung im Islam, Edition Bukhara:
Mössingen 2011 (orig. The Principles of state and government in Islam 1961), S. 45.
393
Asad, Muhammad ebd., S. 45.
394
Vgl. ebd., S. 45.
395
Vgl. ebd., S. 49.
396
Q 4:59; Übersetzung nach Muhammad Asad.
397
Vgl. Asad, Muhammad: Die Prinzipien von Staat und Regierung im Islam, Edition
Bukhara: Mössingen 2011 (orig. The Principles of state and government in Islam 1961), S. 62.
80
der Gelehrten meiner Gemeinde sind von Gottes Gnade“ 398 (inna iḫtilāf
ʿulamāʾ ummatī raḥmatan). Aus dem Koranvers Q 42:38 „Deren [die
Gläubigen] gemeinschaftliche Aufgabe [amr] muss durch Beratung unter sich
[umgesetzt] sein“399 (amruhum šūrā baynahum) leitet Asad die Pflicht zu einer
Ratsversammlung ab. Die Legislative müsse eine von der Umma gewählte
Versammlung sein. Diese maǧlis aš-šūrā solle von Männern und Frauen
gleichermaßen gebildet werden, welche durch freie und allgemeine Wahlen
ermittelt werden sollen. Die Komplexität der zeitgenössischen Gesellschaft sei
dafür ausschlaggebend, dass unter šūrā nur ein Parlament verstanden werden
könne.400 In diesem Parlament seien Meinungsunterschiede im Hinblick auf die
Lösung von Problemen ohne spezielle nuṣūṣ natürlich. Fortschritt bedinge
Pluralismus. Im Hinblick auf allgemeine Entscheidungen schlägt Asad eine
einfache Mehrheit und bei Entscheidungen von besonderer Tragweite eine 2/3-
Mehrheit vor.401 Asad stimmt dabei Kritikern zu, die einem Mehrheitsprinzip
auch Fehlerhaftigkeit unterstellen. Selbstverständlich könne nicht garantiert
werden, dass eine Versammlung, bestehend aus fehlerhaften Individuen, nicht
auch fehlerhafte Entscheidungen treffe. Doch sieht Asad keine Alternative zu
einem Mehrheitsprinzip, denn selbst der Kalif sei als Mensch fehlerhaft. Der
Kalif könne die Ratsversammlung deshalb nicht ersetzen. In einem Parlament
gebe es zudem die größte Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit einer
Abstimmung. Asad untermauert diese Ansicht mit den aḥādīṯ „Folgt der
größten Gruppe“402 und „Es ist eure Pflicht bei der vereinten Gemeinschaft zu
stehen und der Mehrheit (...)“403. Iqbal hatte bezüglich des Mehrheitsprinzips
eine positivere Haltung eingenommen und sich dabei auf die ašʿarītische
Position bezogen, wonach die Entscheidung der Mehrheit immer richtig sei.404
In dieser Ratsversammlung sollen zudem nicht nur Abgeordnete sitzen, der
398
Ḥadīṯ nach as-Suyūṭī nach Asad, Muhammad: Die Prinzipien von Staat und Regierung im
Islam, Edition Bukhara: Mössingen 2011 (orig. The Principles of state and government in
Islam 1961), S. 78.
399
Q 42:38; Übersetzung nach Muhammad Asad.
400
Vgl. Asad, Muhammad: Die Prinzipien von Staat und Regierung im Islam, Edition
Bukhara: Mössingen 2011 (orig. The Principles of state and government in Islam 1961), S. 73-
74.
401
Vgl. ebd., S. 77-78.
402
Ḥadīṯ nach Asad, Muhammad ebd., S. 80
403
Ḥadīṯ von Aḥmad ibn Ḥandal, nach der Überlieferung von Muʿāḏ ibn Ǧabal nach Asad,
Muhammad ebd., S. 80.
404
Vgl. Iqbal, Muhammad: Political Thought in Islam, in: The Sociologial Review, Verlag:
London 1908, in: http://www.koranselskab.dk/profiler/iqbal/political.htm, abgerufen am
28.07.2016.
81
šūrā-Rat solle Parteien umfassen.405 Jegliche Mehrheitsentscheidungen sollen
nicht nur beratende Funktion erfüllen, sondern für den Kalifen rechtlich
bindend sein.406 Anders als für Iqbal scheint für Asad die Anwesenheit der
ʿulamāʾ im šūrā-Rat nicht von entscheidender Bedeutung gewesen zu sein.
Vielmehr beschreibt Asad nur sein Grundverständnis von dieser
Ratsversammlung, legt sich aber auf deren genaue Beschaffenheit und die
möglichen Repräsentanten nicht fest. Dynamisch und neu ist sein Grundsatz,
dass es in einem solchen Staat auch Parteien geben müsse, da sie eine Basis der
Freiheit darstellten.407 Diese Form der islamischen Demokratie stehe allerdings
im Gegensatz zu den Prinzipien der westlichen Demokratie. Die Volksvertreter
könnten demnach nicht nur nach dem Mehrheitsprinzip Gesetze beschließen.
Koran und Sunna müssten beachtet werden und kein Beschluss dürfe hier
islamischen Grundsätzen widersprechen.408
Im Kontrast zu Mawdūdī plädiert Asad für ein aktives und passives Wahlrecht
für Männer und Frauen gleichermaßen, was für eine patriarchale Gesellschaft
durchaus dynamisch-revolutionären Charakter hat. 409 Asads Ideen für eine
solche Ratsversammlung entsprechen dabei weitgehend Iqbals Überlegungen.
Beiden geht es um eine „Kollektivierung des iǧtihād“ 410 . Asad sieht, im
Unterschied zu Iqbal, in dieser Legislativversammlung allerdings nicht den
„modernen Kalif“ und bezeichnet diesen auch nicht als modernen iǧmāʿ.
82
begründe sich auf Gott und manifestiere sich in der Scharia.413 Dies entspricht
Iqbals Vorstellung von der ḥākimīya, der göttlichen Souveränität.
Iqbal spricht, anders als Asad, von der Defacto-Souveränität der Menschen.
Muhammad Asad bezieht in der Frage nach der Souveränitätsquelle des Staates
Position auch gegen jene islamischen Denker, die im iǧmāʿ als Form eines
Konsenses im Volk die absolute Souveränität zu finden glauben. Diese hatten
sich auf einen von ʿAbd Allāh ibn ʿUmar überlieferten ḥadīṯ „Niemals wird
Gott es zulassen, dass meine Gemeinschaft sich auf einen falschen Weg
einigt“ 414 berufen. Asad interpretiert diesen Satz völlig anders, als es die
ašʿarītische Position tut. Nach ihm sei der ḥadīṯ so gemeint, dass, selbst wenn
sich die Mehrheit falsch entscheide, immer ein paar wenige richtig lägen.415
Uneingeschränkte Souveränität des Volkes sei genauso unislamisch wie die bis
dato herrschenden Autokratien. Vollständige Volkssouveränität und göttliches
Recht würden sich gegenseitig ausschließen. 416 Das Staatsvolk sei nur der
Treuhänder der Souveränität.417
In der Frage, ob es einen Kalifen geben müsse, sprächen Koran und Sunna
eindeutig dafür. Wie die Wahl ablaufen solle, stehe allerdings nicht fest,
weswegen sich die Art und Weise der Wahl den zeitlichen Umständen
anpassen könne.418 Das Prinzip der Wahl bleibe für alle Zeiten gegeben, das
Wahlsystem verfüge über eine Dynamik der Anpassung an soziopolitische
Umgebungen. Dabei verweist Asad auf die unterschiedlichen Wahlverfahren
der Altvorderen. Abū Bakr (573-634), sei durch die Oberhäupter von
muhaǧirūn und anṣār zum ersten Kalifen nach dem Tode des Propheten
Muḥammad gewählt worden. Dessen Nachfolger ʿUmar ibn al-Ḫaṭṭāb (592-
644) sei zunächst von Abū Bakr empfohlen und dann von der Umma gewählt
worden. ʿUmar selbst habe seinen Nachfolger Uṯmān ibn ʿAffān (574-656)
413
Vgl. Asad, Muhammad: Die Prinzipien von Staat und Regierung im Islam, Edition
Bukhara: Mössingen 2011 (orig. The Principles of state and government in Islam 1961), S. 66.
414
Ḥadīṯ bei Tirmiḏī überliefert von ʿAbd Allāh ibn ʿUmar nach Asad, Muhammad ebd., S. 64.
415
Vgl. ebd., S. 64.
416
Vgl. ebd., S. 65.
417
Vgl. ebd., S. 65.
418
Vgl. ebd., S. 49.
83
einem Wahlgremium aus sechs Prophetengefährten vorgeschlagen, das diesen
dann gewählt habe. Der vierte rechtgeleitete Kalif, ʿAlī (600-661), sei von
einer Versammlung in der Propheten-Moschee ernannt und anschließend von
der Gemeinschaft der Gläubigen zum Kalifen gewählt worden.419 Die Dynamik
der Frühzeit des Islam sei ohne Probleme auf die heutige Zeit zu übertragen.
419
Vgl. Asad, Muhammad: Die Prinzipien von Staat und Regierung im Islam, Edition
Bukhara: Mössingen 2011 (orig. The Principles of state and government in Islam 1961), S. 50.
420
Q 42:38; Übersetzung nach Muhammad Asad.
421
Vgl. Asad, Muhammad: Die Prinzipien von Staat und Regierung im Islam, Edition
Bukhara: Mössingen 2011 (orig. The Principles of state and government in Islam 1961), S. 79.
422
Ḥadīṯ im ṣaḥīḥ al-buḫārī überliefert von Abū Hurayra nach Asad, Muhammad ebd., S. 91.
84
islamischer Staat mehr. Damit sei es für den islamische Staat unabdingbar, die
423
Hauptkompetenzen der Exekutive dem amīr zuzugestehen. Hier
unterscheidet sich Asad von Iqbal. Letzterer sieht es als zeitgemäße
Möglichkeit an, dass der Kalif auch in Form einer Versammlung existieren
könne.424 Der amīr nach Asads Prinzip hätte eine stark dominante Stellung und
die Richtlinienkompetenz in der Regierung. Um einer Willkürherrschaft durch
den Kalifen vorzubeugen, könne der amīr bei offener Zuwiderhandlung gegen
das islamische Recht mit einem durch einen Gerichtshof initiierten
Amtsenthebungsverfahren und einer darauf folgenden
425
Amtsenthebungsvolksabstimmung abgesetzt werden. Sobald sich die
Mehrheit der Muslime jedoch einmal auf einen amīr al-muʾminīn geeinigt
habe, sei jeder Muslim dazu verpflichtet, diesem Kalif die Treue zu schwören.
Diese stünde dem Kalif zu, was im ḥadīṯ „Der, der mir gehorcht, gehorcht
Gott; und der, der mich missachtet, missachtet Gott. Und der, der dem Amir
[d.h., dem Staatsoberhaupt] gehorcht, gehorcht mir; und der, der den Amir
missachtet, missachtet mich“426 zum Ausdruck kommt. Dieser ist sowohl in
ṣaḥīḥ muslim als auch im ṣaḥīḥ al-buḫārī zu finden. Nur ein Muslim könne die
Funktion des Staatsoberhauptes ausüben, da nur jemand den Staat lenken
könne, der an die Göttlichkeit und Wahrheit der Scharia glaube.427
423
Vgl. Asad, Muhammad: Die Prinzipien von Staat und Regierung im Islam, Edition
Bukhara: Mössingen 2011 (orig. The Principles of state and government in Islam 1961), S. 96.
424
Vgl. Hafez, Farid: Islamisch-politische Denker. Eine Einführung in die islamisch-politische
Ideengeschichte, Peter Lang Verlag: Frankfurt am Main 2014, S. 127.
425
Vgl. Asad, Muhammad: Die Prinzipien von Staat und Regierung im Islam, Edition
Bukhara: Mössingen 2011 (orig. The Principles of state and government in Islam 1961), S. 120
ff.
426
Ḥadīṯ nach Asad, Muhammad ebd., S. 66.
427
Vgl. ebd., S. 66.
428
Vgl. ebd., S. 81.
85
islamischen Staat ein Mittelweg gegangen werden. Durch die Verschränkung
solle die Schwäche westlicher Staaten vermieden werden, da sich dort
Exekutive und Legislative in ihrem Handeln gegenseitig häufig einschränken
würden. Der amīr solle gleichzeitig Vorsitzender des legislativen šūrā-Rates
sein und auch die Exekutive darstellen. Die Kontrollfunktion liege im naṣṣ-
Versteil Q 42:38 „(...) und deren Regel (in allen Angelegenheiten von
429
allgemeinem Interesse) Beratung untereinander ist“ (amruhum šūrā
baynahum) beschrieben und damit in der Rechtsverbindlichkeit der
Mehrheitsbeschlüsse des šūrā-Rates.430
Trotz der Richtlinienkompetenz des amīr bliebe das šūrā-Prinzip zentral und
damit die Möglichkeit, dass der Rat mit einer Entscheidung des amīr nicht
einverstanden sei. Der amīr dürfe die Mehrheitsentscheidung der šūrā nicht
einfach ignorieren, der šūrā-Rat könne aber, im Gegensatz zu vielen
westlichen Demokratien, dem amīr auch nicht einfach das Vertrauen entziehen.
Insofern schlussfolgert Asad, dass ein überparteiliches Vermittlungsgremium,
also eine Art Schiedsgericht, darüber befinden solle, welche Partei sich im
Streitfall näher an Koran und Sunna befinde. Neben der Ausübung einer
Vermittlerrolle könne dieser Gerichtshof auch gegen Verwaltungsakte des
amīrs vorgehen, sollte dieser gegen naṣṣ-Anordnungen aus dem Koran
verstoßen. Dementsprechend müssten die Juristen an einem solchen
Gerichtshof umfassend gelehrte Personen sein, die fiqh, jegliche Form der
ḥadīṯ-Wissenschaft und Koranexegese beherrschen. Trotz der Unabhängigkeit
dieses Gremiums gegenüber dem Staatsoberhaupt müssten die Juristen vom
amīr zuvor ausgewählt und auf Lebenszeit ernannt werden, was ihre
Unabhängigkeit in der Praxis allerdings nachhaltig unterminieren dürfte. Die
Urteile sollten nicht zeitlos gültig sein, sondern dem iǧtihād unterliegen und
damit revidier- und veränderbar bleiben.431
429
Q 42:38; Übersetzung nach Muhammad Asad.
430
Vgl. Asad, Muhammad: Die Prinzipien von Staat und Regierung im Islam, Edition
Bukhara: Mössingen 2011 (orig. The Principles of state and government in Islam 1961), S. 82-
83
431
Vgl. ebd., S. 101ff.
86
4.3.4.8 Die Stellung nichtmuslimischer Minderheiten
In einem islamischen Staat müsse das Amt des Staatsoberhauptes von einem
Muslim bekleidet werden, da dieser an die Göttlichkeit der Scharia glauben
müsse. Daher könne, nach Asads Konzept, kein Nichtmuslim in das höchste
432
Amt des Staates gewählt werden. Dies kommt einer faktischen
Ungleichbehandlung von Muslimen und Nichtmuslimen, zumindest in Bezug
auf dieses Amt, gleich. Das Problem der potenziellen Diskriminierung erkennt
Muhammad Asad und erwähnt dies in Die Prinzipien von Staat und Regierung
im Islam. In Ländern wie Saudi-Arabien oder Afghanistan könne eine
Diskriminierung praktisch ausgeschlossen werden, da dort keine größeren
nichtmuslimischen Minderheiten lebten. In den meisten vornehmlich
muslimischen Ländern gebe es jedoch größere nichtmuslimische
Bevölkerungsanteile. Die Frage von Diskriminierung in mehrheitlich
muslimischen Staaten sei jedoch mehr theoretischer Natur und gerade unter
dem Eindruck westlicher Theorien zu erklären. Asad lehnt die darin für ihn
enthaltene Gleichmacherei ab und betont, es sei ein Fakt, dass nach Koran und
Sunna in jeglichem islamischen Staat „in einem gewissen Grad Muslime und
Nichtmuslime unterschiedliche Rechte haben“433. Paradoxerweise betont Asad
gleichzeitig, dass dies keine Benachteiligung im alltäglichen Leben bedeute.434
Nur diese Schlüsselposition dürfe nicht in nichtmuslimische Hände gelangen.
Es wäre ein Widerspruch in sich, wenn eine politische Organisation ihre
Führung an jemanden abgebe, der nicht von den Grundsätzen der Organisation
überzeug sei. So sei dies auch im Staate. Man müsse den Mut haben, den
„falschen ‚Liberalismus’“435 ad acta zu legen und dazu zu stehen, dass nur ein
Muslim amīr werden könne. So deutet Asad auch Q 49:13 „Siehe, der Edelste
unter euch vor Gott ist der rechtschaffenste unter euch“436 (inna akramakum
ʿinda Llāhi atqākum).
432
Vgl. Asad, Muhammad: Die Prinzipien von Staat und Regierung im Islam, Edition
Bukhara: Mössingen 2011 (orig. The Principles of state and government in Islam 1961), S. 66.
433
Asad, Muhammad ebd., S. 67.
434
Vgl. ebd., S. 67.
435
Asad, Muhammad ebd., S. 69.
436
Q 49:13 nach Asad, Muhammad ebd., S. 69.
87
Die ǧizya übersetzt Asad als „Freistellungssteuer“437, nicht als Kopfsteuer. Im
zugehörigen tafsīr zu Q 9:29 „(Und) kämpft gegen jene, die – obwohl ihnen
(vordem) Offenbarung gewährt wurde – nicht an Gott, und nicht an den
Letzten Tag (wahrhaft) glauben und nicht als verboten erachten, was Gott und
Sein Gesandte verboten haben, und nicht der Religion der Wahrheit folgen (die
Gott ihnen aufgetragen hat), bis sie (zustimmen) die Freistellungssteuer mit
williger Hand zu entrichten, nachdem sie (im Krieg) gedemütigt wurden“438
(qātilū llaḏīna lā yuʾminūna bi-Llāhi wa-lā bi-l-yawmi l-ʾāḫiri wa-lā
yuḥarrimūna mā ḥarrama Llāhu wa-rasūluhū wa-lā yadīnūna dīna l-ḥaqqi
mina llaḏīna ūtū l-kitāba ḥattā yuʿṭū l-ǧizya ʿan yadin wa-hum ṣāġirūna)
betont Asad die enge Verbindung dieser Steuer zum islamischen Staat. Diese
sei „nicht mehr und nicht weniger als eine Freistellungssteuer anstelle des
439
Militärdienstes und zum Ausgleich für den ‚Schutzvertrag’“ . Von
Nichtmuslimen könne nicht verlangt werden, dass diese in einem islamischen
Staat Militärdienst leisteten, da dies nur eine religiöse Pflicht der Muslime sei.
Würden Nichtmuslime aber freiwillig Militärdienst leisten, wären sie
automatisch von der ǧizya befreit.440
Asad kritisiert, ähnlich wie Muhammad Iqbal, die massive Ungerechtigkeit des
hinduistischen Kastenwesens. Der Fortschritt Indiens hinge von dessen
Abschaffung ab. Politische Probleme in Indien führt Asad, neben der britischen
Kolonialpolitik, auf die Gegensätze zwischen Hindus und Muslimen des
Subkontinents zurück: 441 „Auf der einen Seite ein System von starren
Kastengesetzen, die die Gesellschaft in unvereinbare Gruppen zerspalten und
die eine für die andere unberührbar machen; auf der andern Seite die
Anschauung, daß der ethische Sinn der Religion in der brüderlichen Gleichheit
und Gemeinsamkeit von Menschen beruht, die vor der gleichen Idee sich
verneigen“442. Insbesondere diese Passage erinnert stark an Muhammad Iqbals
Abhandlungen über die Rolle des muslimischen Gebets bezüglich der
437
Q 9:29; Übersetzung nach Muhammad Asad.
438
Q 9:29; Übersetzung nach Muhammad Asad.
439
Asad, Muhammad in seinem tafsīr zu Q 9:29, Fußnote 43.
440
Vgl. ebd.
441
Vgl. Windhager: Vom Journalisten zum islamischen Denker und pakistanischen
Diplomaten. Muhammad Asad (geb. Leopold Weiss) in Indien und Pakistan 1932-1952, in:
Franz, Margit und Heimo Halbrainer: Going East – Going South. Österreichisches Exil in
Asien und Afrika, Clio: Graz 2014, S. 439-440.
442
Asad, Muhammad nach Windhager, Günther ebd., S. 441.
88
Gleichheit aller Menschen: „Welch ungeheuerlich spirituelle Revolution wird
augenblicklich stattfinden, wenn der stolze, aristokratische Brahmane
Südindiens täglich Schulter an Schuler mit dem Unberührbaren stehen
muß!“443. Insofern lässt sich hier eine ähnlich ablehnende Haltungen gegenüber
hinduistischen Positionen und Traditionen wie bei Muhammad Iqbal
nachweisen. Asads grundsätzlich auf Ethnie bezogener Egalitarismus
berücksichtigt nicht die Religion. Muslime und Nichtmuslime wären im
islamischen Staat von Muhammad Asad demzufolge nicht gänzlich
gleichgestellt.
4.3.5 Nationalismuskritik
Die Modernisierung der Welt habe dazu geführt, dass keine Nation mehr
vollständig von anderen zu trennen sei, da alle wirtschaftlich voneinander
abhängig und miteinander verbunden seien. 444 Asad teilt, wie Iqbal, einen
ethnischen Egalitarismus und begründet diesen mit dem ḥadīṯ „Höre und
gehorche, auch wenn dein Amir ein abessinischer Sklave mit krausem Haar
ist“ 445 . Rassismus und Nationalismus stehen demnach Muhammad Asads
Grundhaltung ebenso entgegen wie Muhammad Iqbal. Allerdings verneint
Asad das Prinzip „Geben und Nehmen“, das er vor allem auf die
Weltwirtschaft bezieht, für die Kultur. Kulturelle Beeinflussung habe mit
diesem Prinzip zunächst nicht notwendigerweise etwas zu tun und falle in
einen anderen Bereich.446 Kulturräume könnten demnach strikter voneinander
abgetrennt werden als die Bereiche der Weltwirtschaft und der Weltpolitik.
89
Zivilisation“447. Diese sei der Urgrund für das Überlegenheitsgefühl gegenüber
den Muslimen und den anderen kolonisierten Völkern. 448 Das Übel der
Kreuzzüge seien nicht nur die vielen Opfer gewesen, vielmehr aber „eine
Verhetzung des abendländischen Geistes gegen die „islamische Welt“ durch
eine bewußte Mißdeutung der islamischen Lehre“449. Muhammad Asad nach
sei Europa insgesamt im ethischen Sinne auf dem falschen Weg. Innere
Freiheit könne es nur erlangen, „wenn es den Mut (...) (fände), die seelischen
und ethischen Wurzeln seiner eigenen Kultur in Frage zu stellen“450. Die
abendländische Kulturauffassung sieht Asad als egozentrisch an. 451 Die
Denktradition des Abendlandes käme aus dieser Sicht einer negativen
Dynamik gleich. Zudem sei der Mensch im „Westen“ hinsichtlich einer
fortschrittlichen Dynamik, anders als der Islam, kollektivistisch ausgerichtet.
Geistig-moralische Entwicklung sei aber nichts Kollektives, sondern rein
individuell: „Jeder muss als Individuum in Richtung des geistigen Ziels streben
und jeder muss bei sich anfangen und aufhören“452.
90
ihren Systemformen habe Gott keinen Platz. Das Christentum basiere zwar auf
einer religiösen Ethik, doch nicht das Christentum sei die Basis westlicher
Zivilisation, sondern das Römische Reich. 457 Insbesondere die Annahme von
Griechen und Römern, nur sie seien zivilisiert, habe sich im Abendland
konserviert und habe dazu geführt, dass „die Okzidentalen (glauben), ihre
rassische Überlegenheit über den Rest der Menschheit sei eine Tatsache“458.
Rassismus und Verachtung nichteuropäischer Völker seien Teil des Wesens
des Abendlandes.459
Grundsätzlich beinhalte das Christentum als Religion durchaus auch eine mit
dem Islam vergleichbare Ethik. Jedoch sieht Asad gerade in der Frage des
Fortschritts und der Dynamik die wesentlichsten Unterschiede zwischen der
islamischen Welt und dem christlich geprägten Abendland. Insbesondere die
Leibesfeindlichkeit, die Trennung von Seele und Körper, die Erbsünde und
weitere Punkte der Lehre der christlichen Kirchen seien jeglichem Fortschritt
im Wege gestanden.460 Viel schlimmer noch sei die Rolle der Kirche selbst
gewesen: „Als die Kirche im Mittelalter allmächtig war, hatte Europa keine
Vitalität und überhaupt keinen Platz für wissenschaftliche Forschung“461. Die
„islamische Welt“ und die Wissenschaftsgeschichte der Araber seien geradezu
ein Gegenentwurf. Wie Iqbal sieht er die moderne Wissenschaft als arabisch-
islamischen Ursprungs an: „Das moderne wissenschaftliche Zeitalter, in dem
wir gegenwärtig leben, wurde nicht in Städten des christlichen Europas
eingeführt, sondern in islamischen Zentren wie Damaskus, Bagdad, Kairo,
Cordoba, Nishapur und Samarkand“462. Gleich Iqbal sieht Asad die Dynamik
des „Westens“, insbesondere in der Wissenschaft, in erheblichen Maße als
genuin islamisch-arabisch an.463 Diese Dynamik sei jedoch zwangsläufig eine
Gegenbewegung zur Kirche und damit zur christlichen Religion selbst
gewesen.464 Eine religiöse Renaissance, so spekuliert Asad, könne auch direkt
durch religiöse Dogmen wie das der Gottessohnschaft Jesu Christi verhindert
457
Vgl. Asad, Muhammad: Islam am Scheideweg, Bukhara: Mössingen 2009 (orig. Islam at
the Crossroads 1934), S. 48.
458
Asad, Muhammad ebd., S. 61.
459
Vgl. ebd., S. 61.
460
Vgl. ebd., S. 49.
461
Asad, Muhammad ebd., S. 49.
462
Asad, Muhammad ebd., S. 51.
463
Vgl. ebd., S. 67.
464
Vgl. ebd., S. 51.
91
worden sein. Die Gottessohnschaft sei falsch interpretiert worden und bedeute
tatsächlich ausschließlich „Offenbarung der Barmherzigkeit Gottes in
menschlicher Form“465.
Der Gott der westlichen Welt sei inzwischen längst der materielle
Fortschritt.466 Die Kriterien für Gut und Böse seien rein materieller Natur.467 Es
fehle eine Erdung, ein ethisch-moralisches Korrektiv, das für Asad nur die
islamische Religion sein kann. Die moralische Basis des „Westens“ sei
unvereinbar mit der des Islam. Der Islam sehe grundsätzlich den moralischen
Fortschritt als wichtigen Richtwert an. Gegenüber der westlichen Kultur sollten
sich die Muslime, bis auf die Übernahme nützlicher Errungenschaften,
weitgehend abgrenzen. Einzelne Impulse für die eigene Dynamik könnten
durchaus aufgenommen werden.468 Hier findet sich bei Muhammad Asad einer
der prägnantesten Unterschiede zum Werk Muhammad Iqbals. Während Iqbal
versucht, die Dynamik im Islam auch durch dessen Erklärung und
Verknüpfung mit westlicher Philosophie zu erreichen, nimmt Asad eine strikte
Gegenposition zur Rolle westlicher Philosophie in der islamischen Welt ein.
Anders als bei den Naturwissenschaften sollten europäische Philosophie,
Literatur und Geschichte ihren gegenwärtigen Stellenwert verlieren. 469 Die
bisherige Schieflage in der Bildung und die Glorifizierung des „Westens“
müsse ein Ende haben, da „die westliche Zivilisation (...) niemals mit dem
Geist des Islam zusammengehen kann“470.
Muhammad Asad beruft sich auf einen ḥadīṯ, in dem der Prophet Muḥammad
das innere Ringen des Menschen mit dem eigenen Ego als den größten
Dschihad bezeichnet habe. Muhammad Asad bezeichnet diesen auch als ǧihād
an-nafs, ein Dschihad mit sich selbst, mit der eigenen Seele.471 Dies entspricht
dem, was die Encyclopedia of Islam als „an effort directed upon oneself for the
465
Asad, Muhammad: Islam am Scheideweg, Bukhara: Mössingen 2009 (orig. Islam at the
Crossroads 1934), S. 53.
466
Vgl. ebd., S. 55.
467
Vgl. ebd., S. 56.
468
Vgl. ebd., S. 59.
469
Vgl. ebd., S. 81.
470
Asad, Muhammad ebd., S. 82.
471
Vgl. Asad, Muhammad: Die Prinzipien von Staat und Regierung im Islam, Edition
Bukhara: Mössingen 2011 (orig. The Principles of state and government in Islam 1961), S.
107.
92
attainment of moral and religious perfection“472 beschreibt. Asad versteht unter
dem Akt des Dschihad also in erster Linie keinen Kampf gegen kuffār und
keinen „heiligen Krieg“. Die historischen Eroberungsfeldzüge in der Frühzeit
des Islam verklärt Asad dahingehend, dass ihr Antrieb kein Imperialismus in
wirtschaftlicher, nationaler oder religiös-unterdrückerischer Hinsicht gewesen
sei, sondern nur dem Ziel, „einen weltlichen Rahmen für die bestmögliche
geistige Entwicklung des Menschen (...) errichten“473 zu wollen, folgte.
93
Muslim niemals einen Angriffskrieg führen dürfe: „Und kämpft auf dem Wege
Gottes gegen jene, die Krieg gegen euch führen, aber begeht keine Aggression
- denn wahrlich, Gott liebt Aggressoren nicht“477. Nur der Verteidigungskrieg
wäre somit schariakonform: „Im Lichte dieser im Wesentlichen selbst
erklärenden Passagen des Koran müssen alle Überlieferungen gelesen werden,
die den Muslimen den Dschihad auferlegen“478. Expansion und Imperialismus
seien unislamisch und verboten. Einer Staatsführung, die dies missachten
würde, dürfe der Staatsbürger die Loyalität verweigern, da er sonst eine Sünde
begehe. Kriegsdienstverweigerung im Verteidigungsfall dürfe es aber nicht
geben.479
477
Q 2:190; Übersetzung nach Muhammad Asad.
478
Asad, Muhammad: Die Prinzipien von Staat und Regierung im Islam, Edition Bukhara:
Mössingen 2011 (orig. The Principles of state and government in Islam 1961), S. 109.
479
Vgl. ebd., S. 110.
480
Asad, Muhammad ebd., S. 110.
481
Vgl. ebd., S. 146ff.
482
Q 3:110; Übersetzung nach Muhammad Asad.
94
ihnen lebenden Nichtmuslimen sein“483.
Muhammad Asad gewinnt als Vertrauensmann des saudischen Königs ʿAbd al-
ʿAzīz ibn ʿAbd ar-Raḥmān ibn Faiṣal Āl Saʿūd (1876-1953) Kontakt zu
Wahhabīten und über sein Engagement in Britisch-Indien zu Puristen der ahl-i
ḥadīṯ. Die positiven dynamisierenden Impulse des Auftretens Muḥammad ibn
ʿAbd al-Wahhābs (1703-1792) für die „islamische Welt“ zunächst würdigend,
kritisiert Asad den Fanatismus der Wahhabīten, insbesondere im Süden
Arabiens: „die nedschdische Entwicklung seiner Lehre krankt an zwei Übeln
(...). Das eine liegt in der Einseitigkeit der wahhabitischen Auffassung, welche
nur in der buchstabentreuen Befolgung des Glaubensgesetzes, nicht aber auch
in der Durchdringung seines geistigen Gehalts den Sinn alles Strebens
sieht“484. Asad sieht in einer „zelotischen, rechthaberischen Einstellung des
Gefühls, die dem Nebenmenschen kein Recht zugesteht, anderer Meinung zu
sein“485, eine problematische arabische Eigenart, die die Wahhabīten präge.
Der „geistige Sinn des Wahhabismus“ sei „das Streben nach innerer
Erneuerung der islamischen Welt“486 gewesen. Diese Idee sei jedoch sofort
nach der Machtergreifung der Wahhabīten gescheitert: „Die Geschichte des
wahhabītischen Nedschd ist die Geschichte einer religiösen Idee, welche
rauschend, in Begeisterung, begann und schließlich – um dem Zwiespalt
zwischen Geist und Macht zu entgehen – aus der Sphäre kämpferischer
Sehnsucht ins Flachland pharisäischer Selbstbewunderung versank und damit
ihren Wert verlor“487.
483
Asad, Muhammad: Die Prinzipien von Staat und Regierung im Islam, Edition Bukhara:
Mössingen 2011 (orig. The Principles of state and government in Islam 1961), S. 146.147.
484
Asad, Muhammad: Der Weg nach Mekka, Patmos: Ostfildern 1997 (orig. The Road to
Mecca 1954), S. 200.
485
Asad, Muhammad ebd., S. 200.
486
Asad, Muhammad ebd., S. 200.
487
Asad, Muhammad ebd., S. 200.
95
4.3.9 Das Kopftuch der Frau
488
Q 24:31; Übersetzung nach Muhammad Asad.
489
Q 33:59; Übersetzung nach Muhamad Asad.
96
Muhammad Asad widmet ersterem Vers gleich vier Erklärungspunkte in
seinem tafsīr, woran deutlich erkennbar wird, wie wichtig ihm dieses Thema
ist. Die Aufforderung auf Keuschheit zu achten und den Blick zu senken sei für
beide Geschlechter gleichermaßen bestimmt und der entscheidende Aspekt von
Q 24:31. Im Gegensatz zu den traditionellen Exegeten sieht Muhammad Asad
in der Passage „was davon (schicklicherweise) sichtbar sein mag“490 (illā mā
ẓahara minhā), die die Körperregionen meint, die nach islamischer Auffassung
in der Öffentlichkeit gezeigt werden dürften, eine „absichtliche
Unbestimmtheit dieser Wendung (, die) all den zeitgebundenen Veränderungen
Raum geben soll, die zum moralischen und gesellschaftlichen Wachstum des
Menschen notwendig sind“491.
Die Aufforderung in Q 33:59, die Frauen sollten ihren ḫimār über den Busen
ziehen, bedeute schlichtweg, dass die Frau ihre Brüste bedecken solle, nicht
aber, dass sie notwendigerweise einen ḫimār tragen müsse. Der ḫimār sei als
Kopfbedeckung bereits in vorislamischer Zeit als modisches Kleidungsstück
getragen worden.492 Der Fokus liege aber demnach nicht auf der Bedeckung
der Haare, sondern auf einer Verdeckung des Decolletés. Die Passage „O
Prophet! Sage deinen Ehefrauen und deinen Töchtern wie auch allen (anderen)
gläubigen Frauen, daß sie (in der Öffentlichkeit) etwas von ihren äußeren
Gewändern über sich ziehen sollen: dies wird eher förderlich sein, daß sie (als
anständige Frauen) erkannt und nicht belästigt werden“493 interpretiert Asad als
zeitgebunden und auf den historischen Kontext der Gesellschaft zur Zeit des
Propheten Muḥammad bezogen. Darauf würden gerade der Prophet als direkter
Adressat des Verses und die Formulierung „von ihren äußeren Gewändern“
(min ǧalābībihinna) hindeuten. Asad schreibt nicht explizit, dass die
muslimische Frau kein Kopftuch tragen müsse, doch ist dies eine logische
Schlussfolgerung aus seinem tafsīr. In der Dokumentation Der Weg nach
Mekka (2008) bestätigt der ehemalige saudische Ölminister Aḥmad Zakī
Yamānī diese Auslegung des Korantextes durch Asad und schließt sich dieser
Interpretation an. 494 Asads Positionen zum Kopftuch stehen konträr zu
490
Q 24:31; Übersetzung nach Muhammad Asad.
491
Asad, Muhammad in seinem tafsīr zu Q 24:31, Fußnote 37.
492
Vgl. Asad, Muhammad in seinem tafsīr zu Q 24:31, Fußnote 38.
493
Q 33:59; Übersetzung nach Muhammad Asad.
494
Vgl. Ausschnitt aus der Dokumentation Der Weg nach Mekka in: Der Ölminister Sheikh
Ahmed Zaki Yamani unterstützt M. Asad's Kopftuch Auslegung, in: Youtube,
97
klassischen Exegeten und dem konservativen Mainstream. Gerade in der
Betonung der Zeitgebundenheit diesbezüglicher Koranpassagen verdeutlicht
Asad die Möglichkeit der Dynamik des islamischen Rechts, sogar in dieser
Thematik, und eine quasi gottgewollte Offenheit der
Interpretationsmöglichkeiten.
98
auch nachhaltig der tragischen Familiengeschichte während der Nazizeit und
seinen Erfahrungen mit den britischen Kolonisten Indiens geschuldet sein
dürfte. Zu einzelnen spezifischen Scharia-Positionen finden sich wenige
öffentlich zugängliche Ausführungen. In Asads Positionen zeigt sich in Bezug
auf die Dynamik des islamischen Rechts ein außerordentlicher Pragmatismus
bezüglich Islam und Moderne. Dynamische Interpretationen, wie zum Beispiel
zum Kopftuch, bieten einen intellektuell und theologisch untermauerten Ansatz
für innerislamische Diskussionen. Insbesondere seine Positionen zu militanten
Extremisten liefern Anknüpfungspunkte für zeitgenössisch-islamische
Diskurse gegen Dschihadismus.
Muhammad Iqbal und Muhammad Asad sind aufgrund ihrer Biographien und
Herangehensweisen an den Koran, die Sunna und allgemein muslimische
Belange Wanderer zwischen den Welten, geprägt durch Orient und Okzident.
Für Muhammad Iqbal zeigt sich dies gerade auch in seiner Liebe zu Europa,
speziell zu Deutschland. In einem Brief vom 17. Januar 1932 schreibt Iqbal an
Emma Wengenast „Das Vaterland Goethes hat einen immerwährenden Platz in
meiner Seele gefunden“496.
Weder Iqbal noch Asad schreiben aus der Perspektive von Reformern. Diesen
Titel beanspruchen sie nicht für sich. Beiden geht es zwar durchaus um neue
Konzepte, wie einen islamischen Staat, jedoch primär im Zusammenhang mit
495
Vgl. Windhager: Vom Journalisten zum islamischen Denker und pakistanischen
Diplomaten. Muhammad Asad (geb. Leopold Weiss) in Indien und Pakistan 1932-1952, in:
Franz, Margit und Heimo Halbrainer: Going East – Going South. Österreichisches Exil in
Asien und Afrika, Clio: Graz 2014, S. 433ff.
496
Iqbal, Muhammad nach Schimmel, Annemarie: Muhammad Iqbal. Prophetischer Poet und
Philosoph, Diederichs: München 1989, S. 20.
99
einer Wiederbelebung verloren gegangener islamischer Prinzipien, wie der
Dynamik. Beide wollen diese mithilfe des eigenständigen Raisonnements
erreichen. Durch ihre Schriften wollen sie, durch die Anknüpfung an das
Wesen des Islam und an seine Traditionen, einer islamischen Renaissance
Vorarbeit leisten. Beide betrachten westliche Errungenschaften als islamischen
Ursprungs. Die europäische Geistesgeschichte baue auf islamischen
Traditionen auf. Während Muhammad Iqbal gerade im Bereich der Philosophie
versucht, europäische Traditionen mit islamischer Intellektualität zu verbinden,
formuliert Asad strikt antiwestlich. Zwar übt auch Iqbal starke Kritik an
europäischen Konzepten und besonders am Imperialismus der Kolonialzeit,
doch wirkt Asads Kritik fundamentaler. Beide kritisieren gleichermaßen
jeglichen Nationalismus und sind Verfechter eines unabhängigen islamischen
Staates als Grundlage für die Wiederbelebung der Dynamik in der
„islamischen Welt“.
Während sich beide Denker auf die „islamische Welt“ konzentrieren, fehlt
beiden gänzlich ein fiqh al-ʾaqallīyāt für Muslime, die in mehrheitlich
nichtmuslimischen Ländern leben. Charakteristisch für Iqbal und Asad sind der
Alltagspragmatismus und der Wille, selbst einen politischen Islam nicht
unterdrückerisch für Nichtmuslime werden zu lassen. Insofern können ihre
Positionen, wie zum Beispiel Asads Ansichten zum Kopftuch und die Kritik
beider an einem übersteigerten Nationalismus, zur Vitalisierung
innerislamischer Diskussionen beitragen. Im Spannungsfeld Islam und
Moderne ist für beide die Praxis des iǧtihād unerlässlich. Iqbal und Asad bieten
wertvolle Begründungen für die Legitimität des eigenständigen Raisonnements
und zeigen ihren persönlichen iǧtihād anhand der ausgearbeiteten Scharia-
bzw. Koraninterpretationen.
100
Auch Iqbal bietet, aufgrund seiner akademischen Karriere in Deutschland und
der Verbindung europäischer und islamischer Philosophie in seinem Denken,
zahlreiche Anknüpfungspunkte für einen interkulturellen Dialog.
101
6. Literaturverzeichnis:
• Asad, Muhammad: This Law Of Ours. And Other Essays, Islamic Book
Trust: Kuala Lumpur 2001.
102
• Hallaq, Wael: Was the Gate of Ijtihad closed?, in: International Journal
of Middle Eastern Studies 16/1984.
103
• Schlosser, Dominik: Lebensgesetz und Vergemeinschaftungsform.
Muḥammad Asad (1900-1992) und sein Islamverständnis, EB-Verlag:
Bonn 2015.
6.2 Internetquellen
• Abdul Razak, Mohd Abbas: Iqbal’s Ideas for the Restoration of Muslim
Dynamism, in: Journal Of Islam In Asia, Nr. 2, 2011.
104
• Baycan, Yanar: Ausschnitt aus der Dokumentation Der Weg nach
Mekka in: Der Ölminister Sheikh Ahmed Zaki Yamani unterstützt M.
Asad's Kopftuch Auslegung, in: Youtube,
https://www.youtube.com/watch?v=0T2zl4S2SoI, abgerufen am 29.
Juli 2016.
105
Studierender und Akademiker (RAMSA), http://www.ramsa-
deutschland.org/gedanken-zum-freitag/„der-poet-des-ostens“-
erinnerungen-muhammad-iqbal-1877-1938, abgerufen am 10. Juli
2016.
106
Ich erkläre hiermit, dass ich die vorstehende Masterarbeit selbstständig verfasst
habe und keine anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt
wurden, dass Zitate kenntlich gemacht sind und die Arbeit noch in keinem
anderen Prüfungsverfahren vorgelegt wurde und dass die in unveränderbarer
maschinenlesbarer Form eingereichte Fassung mit der schriftlichen Fassung
identisch ist.
107