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Nietzsches Beziehung zu dem Gehalt dessen, was sich mit dem Namen ,Spi-
noza‘ verbinden läßt, haftet bis in den Tod hinein etwas Irreales und Geister-
haftes, ja sogar Gespenstisches an. So sieht sich Peter Gast am Grab Nietzsches
dazu genötigt, mahnend die Erinnerung an Spinoza zu beschwören, damit dem
einen die Behandlung durch eine unmittelbare Nachwelt erspart bleibt, die den
anderen als einen ,toten Hund‘ (Lessing) aus der Gemeinschaft der Philosophen
auszuschließen versuchte: „Du (sc. Nietzsche) warst einer der edelsten, der lau-
tersten Menschen, die je über diese Erde gegangen sind. Und obschon dies
Feind wie Freund weiss, so halte ich es doch nicht für überflüssig, dies Zeugniss
laut an Deiner Gruft abzulegen. Denn wir kennen die Welt, wir kennen das
Schicksal Spinoza’s.“ 1
Hinter einem solchen Gestus der Heiligsprechung verbirgt sich nicht bloß
die Strategie, die Radikalität eines Denkens durch den Hinweis auf die morali-
sche Integrität seines Urhebers zu mildern und diskursfähig zu erhalten, wofür
man ebenfalls die Legende vom untadeligen Lebenswandel Spinozas herangezo-
gen hat. Darüber hinaus scheint dieses Vorgehen, eine posthume Stigmatisierung
von Nietzsche abzuwehren, die Spinoza widerfahren ist, wegen des vergleich-
baren Versuchs beider Philosophen notwendig, herrschend gewordene Begriff-
schemata zu durchbrechen. Wenn Peter Gast also unbewußt eine geistige Ver-
wandtschaft zwischen Spinoza und Nietzsche nahelegt, dann gibt ihm letzterer
selbst Recht, der auf einer Postkarte vom 30. Juli 1881 an seinen Freund und
ehemaligen Basler Kollegen Franz Overbeck ausdrücklich bekennt: „Ich bin ganz
erstaunt, ganz entzückt! Ich habe einen Vorg äng er und was für einen! Ich
kannte Spinoza fast nicht: daß mich jetzt nach ihm verlangte, war eine ,Instinkt-
handlung‘.“ (KSB 6, Nr. 135) Aufgrund eigenen Zeugnisses besaß Nietzsche
demzufolge vor dem Sommer 1881, in dem er sich den Band von Kuno Fischer
1 Bekenntnis Peter Gast’s am Grab Nietzsche’s. Zitiert nach: Janz, Carl Paul: Friedrich Nietzsche.
Biographie. Bd 3: Die Jahre des Siechtums. Dokumente. Register. München, Wien 1981. S. 357.
Nietzsche und der Geist Spinozas 45
über Spinoza am 8. Juli von Overbeck zur Lektüre bestellte 2, keine ausreichend
inhaltlichen Kenntnisse zu dessen Philosophie. Aus diesem biographischen Zu-
geständnis darf man jedoch nicht schließen, daß vor dem gerade erwähnten
Zeitpunkt alle Erwähnungen Spinozas sachlich irrelevant oder ohne Wert für das
leitende Anliegen Nietzsches sind. 3 Obwohl spärlich genug, geben sie Aufschluß
darüber, wie Nietzsche einen Blickwinkel gewinnt, von dem aus er seine Hin-
wendung zu Spinoza als eine ,Instinkthandlung‘ begreifen konnte. Da Nietzsche
ein Autodidakt in bezug auf die Philosophiegeschichte war, die ihm weitest-
gehend andere Autoren oder Kompendien vermittelt haben, ist zunächst nach
den Einflüssen und Umständen zu fragen, aus denen sich sein Bild vom Genius
des spinozianischen Denkens zusammensetzte.
I. Auf dem Weg zu Spinoza: Die meditatio vitae eines freien Geistes
Erste Konturen einer geistigen Gestalt Spinozas zeichnen sich bei Nietzsche
am Ende seiner kunstphilosophischen Periode ab, die eine Erneuerung der Kul-
tur aus der durch die Tragödie offenbarten, dionysischen Alleinheitserfahrung
propagierte, bei dem sich das aus dem Urschmerz geborene Sein der Welt selbst
noch im Untergang bejaht. Sofern Nietzsche die vom Kunstwerk metaphysisch
ermöglichte Intuition des Dionysischen zum absoluten Maßstab erhebt, relati-
viert sie jeden Versuch einer streng rational vorgehenden Welterklärung. Unter
der Voraussetzung eines unmittelbar zugänglichen, tragisch-affirmativen Seins
vermag Nietzsche in einer Notiz, die er wahrscheinlich gegen Ende 1872 nieder-
geschrieben hat, die „starre mathematische Formel (wie bei Spinoza)“ lediglich
als ein „ästhetisches Ausdrucksmittel“ (Nachlaß 1872/73, KSA 7, 19[47]) anzu-
erkennen. Wenn Nietzsche damit den mos geometricus gleichsam auf die artisti-
sche Erzeugung einer Dichtung aus Begriffen reduziert, reflektiert er ein Diktum
aus Goethes Dichtung und Wahrheit, wonach die mathematische Methode Spi-
nozas bloß das Widerspiel seiner „poetischen Sinnes- und Darstellungsweise“ 4
bildete.
2 Vgl. die Postkarte an Franz Overbeck vom 8. Juli 1881 in KSB 6, S. 100 f.
3 Zu dieser Auffassung vgl. Ohms, Jan: Zu Nietzsches Spinoza-Deutung. In: Philosophie der
Toleranz. Festschrift zum 65. Geburtstag von Konstantin Radakovic. Überreicht von Mitarbei-
tern und Schülern. Graz 1959. S. 62. Die These, daß Nietzsches Urteile über Spinoza vor dem
Sommer 1881 auch für „Nietzsches Philosophieren weitgehend entwertet“ (ebd.) sind, konnte
Ohms nur vertreten, weil er keine entwicklungsgeschichtliche Forschung betrieb. In dieser Hin-
sicht ist die Arbeit von Wurzer, William S.: Nietzsche und Spinoza. Meisenheim am Glan 1975
wegweisend, deren Verdienste jedoch - abgesehen von bloßen Erwähnungen - bislang keine
zureichende sachliche Würdigung erfahren hat.
4 Goethe, Johann Wolfgang: Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. München 1982. Bd 10. S. 35.
Obwohl Wurzer die entsprechenden Stellen aus Goethes Dichtung und Wahrheit anführt, vermag
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er sie nicht mit der im Text zitierten Notiz von Nietzsche in Verbindung zu bringen. So über-
sieht er leider den entscheidenden Beleg seiner These, daß Goethe für Nietzsche eine einfüh-
rende Bekanntschaft ermöglichte. Vgl. Wurzer: Nietzsche und Spinoza, a. a. O., S. 15 f.
5 Rée, Paul: Der Ursprung der moralischen Empfindung. Chemnitz 1877. S. VIII, zitiert bei
Nietzsche in: MA I 37.
6 Schultz, Fritz: Rezension zu: Paul Rée: Der Ursprung der moralischen Empfindung. In: Jenaer
Literaturzeitung 47 (1877). S. 628.
7 Vgl. dazu die Postkarte Nietzsches vom 25. November 1875 an den Verleger Ernst Schmeltzer,
bei dem auch das Buch von Rée erschienen war, in: KSB 5, S. 468.
Nietzsche und der Geist Spinozas 47
8 Siehe KSA 8, 19[68]), zitiert bei Fischer, Kuno: Geschichte der neuern Philosophie. Bd. 1. Das
classische Zeitalter der dogmatischen Philosophie. Mannheim 1854. S. 534 Anm.
48 Hans-Jürgen Gawoll
9 Vgl. dazu Wurzer: Nietzsche und Spinoza, a. a. O., S. 13 ff. zu Schopenhauer und Lange, S. 38 f.
zu African Spir, dessen Werk: Spir, African: Denken und Wirklichkeit. Versuch der Erneuerung
der kritischen Philosophie. Leipzig 1873, Nietzsche im März 1873 und 1874 von der Basler
Bibliothek ausgeliehen hat. Spir, der sich um eine sachlich-objektive Darstellung von Spinozas
Ethica bemüht, lokalisiert sie als Denktypus zwischen einem eleatischen Akosmismus und einem
reinen Atheismus. Vgl. dazu: Spir: Denken und Wirklichkeit. 2. Aufl. Leipzig 1876, S. 361 f.
Nietzsche und der Geist Spinozas 49
zension hinwies. In der rationalen Weisheit einer meditatio vitae erkannte Nietz-
sche einen Vorläufer der eigenen Aufklärung, durch eine historische Vernunft-
analyse die Potentialität des Lebens freizusetzen. Er sah in Spinoza einen Gei-
stesverwandten, der mit den überlieferten Formen der Metaphysik zu brechen
versuchte, um einen neuen Anfang setzen zu können. Unter der bereits von
Goethe ausgerichteten Perspektive bedeutet Spinozismus für Nietzsche fort-
schreitend einen kritischen Denktypus, der es ermöglichte, psychische Erlebnisse
im Dienst einer zur Autonomie befreiten Gestaltung der Kultur zu objektivieren.
Von Anfang an geht es Nietzsche daher nicht um ein philosophiegeschichtlich
adäquates Verständnis Spinozas, sondern er gehört für ihn zu einer Reihe von
Autoren, die danach befragt werden, was sie im Hinblick auf eine rationale
Durchdringung der eigenen Existenz leisten:
Vier Paare waren es, welche sich mir, dem Opfernden nicht versagten: Epikur und
Montaigne, Goethe und Spinoza, Plato und Rousseau, Pascal und Schopenhauer. Mit
diesen muss ich mich auseinandersetzen, wenn ich lange allein gewandert bin, von
ihnen will ich mir Recht und Unrecht geben lassen, ihnen will ich zuhören, wenn sie
sich dabei selber untereinander Recht und Unrecht geben. Was ich auch nur sage,
beschliesse, für mich und andere ausdenke: auf jene Acht hefte ich die Augen und
sehe die ihrigen auf mich geheftet. (VM 408)
An diesen geistigen Paaren der Geschichte fasziniert Nietzsche vor allem ihre
,ewige Lebendigkeit‘, die sie gerade nach ihrem Tod als denkerische Energie
weiterwirken läßt. Sofern er hier seine Auseinandersetzung mit Autoren der
Vergangenheit zu einer philosophischen Hadesfahrt verklärt, scheint Nietzsche
von Kuno Fischer beeinflußt, der in seinem Spinoza-Buch die Systeme der Phi-
losophie darin mit Kunstwerken vergleicht, „daß sie einen bestimmten Geist
offenbaren und darum als lebendige Charaktere betrachtet werden wollen.“ 10
10 Fischer: Geschichte der neuern Philosophie. Erster Band, a. a. O., S. 538. Zusammen mit der
lateinischen Fassung des homo-liber-Zitats (vgl. Anm. 8) gibt Fischers Auffassung der Philoso-
phiegeschichte einen entscheidenden Hinweis darauf, daß Nietzsche dessen Spinoza-Darstellung
bereits vor dem Sommer 1881, wenigstens kursorisch, gelesen hat, was bislang in der Forschung
nicht beachtet wurde.
50 Hans-Jürgen Gawoll
Nicht nur, daß seine Gesamttendenz gleich der meinen ist - die Erkenntniß zum
mächtigsten Affekt zu machen - in fünf Hauptpunkten seiner Lehre finde ich
mich wieder, dieser abnormste und einsamste Denker ist mir gerade in diesen Din-
gen am nächsten: er leugnet die Willensfreiheit -; die Zwecke -; die sittliche Welt-
ordnung -; das Unegoistische -; das Böse -; wenn freilich auch die Verschieden-
heiten ungeheuer sind, so liegen diese mehr in dem Unterschiede der Zeit, der Cultur,
der Wissenschaft. (KSB 6, Nr. 135)
Obwohl Nietzsche summarisch Spinoza eine philosophiehistorische Gerech-
tigkeit widerfahren zu lassen scheint, kündigt sich aber kaum merklich die Stoß-
richtung einer Kritik an. Nietzsche unterstreicht nämlich nur solche inhaltlichen
Aspekte, die einen emanzipativen, freigeistigen Wert besitzen und den eigenen
Positionen von Menschliches, Allzumenschliches sowie der Morgenröthe entsprechen.
Damit verengt er seine Beurteilung Spinozas auf eine vorbereitende Kraft der
Desillusionierung, während die Ethica eher die Funktion einer medicina mentis
impliziert, die ein geglücktes Leben nach den Maßstäben der Vernunft erlaubt. 11
Aufgrund dieses Unterschiedes wird es verständlich, warum Nietzsche den ihm
durch Kuno Fischer nahegebrachten Spinoza, den er in nachgelassenen Auf-
zeichnungen weiterhin zu seinen intellektuellen Vorfahren zählt 12, öffentlich ei-
ner scharfen Polemik unterzieht. Nietzsches gleichsam exoterische Abrechnung
mit Spinoza in den publizierten Werken richtet sich gegen die Denkweise eines
methodischen Rationalismus, dessen lebenspraktische Voraussetzungen und vi-
tale Konsequenzen aufgedeckt werden sollen.
Ein erster sachlicher Einwand betrifft Spinozas Auffassung von Erkenntnis,
die eine leidenschaftslos objektivierende Vernunft aus sich allein zustande bringt:
Non ridere, non lugere, neque detestari, sed intelligere! sagt Spinoza, so schlicht und
erhaben, wie es seine Art ist. Indessen: was ist diess intelligere im letzten Grunde
Anderes, als die Form, in der uns eben jene Drei auf Einmal frühlbar werden? Ein
Resultat aus den verschiedenen und sich widerstrebenden Trieben des Verlachen-,
Beklagen-, Verwünschen-wollens? Bevor ein Erkennen möglich ist, muss jeder dieser
Triebe erst seine einseitige Ansicht über das Ding oder Vorkommniss vorgebracht
haben; (FW 333)
Eine spinozistische Hypostasierung des bewußten Denkens, die Nietzsche
mit einem Zitat aus dem Vorwort zum Tractatus politicus unterstützt 13, verkennt
11 Diesen Unterschied zwischen Nietzsche und Spinoza hebt hervor: Yovel, Yirmiyahu: Spinoza.
Das Abenteuer der Immanenz. Aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Flicker. Göttingen
1994, S. 386.
12 Vgl. dazu KSA 9, 12[52] und 15[17].
13 Aus welcher Quelle Nietzsches Kenntnis der lateinischen Fassung des Zitates aus dem Tracta-
tus Politicus stammt, konnte von mir bislang nicht nachgewiesen werden. Dieses Zitat stammt
nicht aus Nietzsches sonstiger Quelle zu Spinoza, dem Buch Kuno Fischers, das lediglich die
deutsche Übersetzung enthält (vgl. Fischer: Geschichte der neuern Philosophie. Bd. 1, a. a. O.,
S. 277). Hier wäre sogar danach zu fragen, ob die Bezugnahme auf den Tractatus Politicus nicht
einen Hinweis darauf gibt, daß Nietzsche zumindest ein Werk Spinozas direkt zu Rate gezogen
hat. Auf jeden Fall wirkte der spinozianische Titel auf Nietzsche seit dem Herbst 1887 so
Nietzsche und der Geist Spinozas 51
inspirierend nach, daß er einem geplanten Buch „Wie man der Tugend zur Herrschaft verhilft“ den
Untertitel „Ein tractatus politicus“ gab. Vgl. KSA 12, 10[14]. Die hier zu behandelnde Thematik
beschreibt Nietzsche in dem Entwurf zu einer Vorrede, die er 1888 konzipiert hat: „Dieser
tractatus politicus ist nicht für Jedermanns Ohren: er handelt von der Politik der Tugend, von
ihren Mitteln und Wegen zur Macht.“ (KSA 13, 11[54]).
14 Vgl. dazu Spinoza, Baruch de: Ethica. Kap. III., Def. 3 bzw. Prop. 12.
52 Hans-Jürgen Gawoll
Auch wenn Nietzsche auf den ersten Blick lediglich psychologisch ad hominem
Spinozam zu argumentieren scheint, kritisiert er jedoch prinzipiell eine durch
die Methode gedeckte Dogmatisierung einer Wahrheit, die den Weg zur intellek-
tuellen Unabhängigkeit versperrt. Mit der rationalen Methode camoufliert Spi-
noza eine reaktive Geisteshaltung, wie sie insbesondere das Martyrium um einer
Überzeugung willen charakterisiert. Wer sich gezwungen sieht, seine Wahrheit
zu verteidigen, verliert nach Nietzsche jene feine Neutralität, die es einem wahr-
haft freien Geist erlaubt, Einwände anzunehmen:
Diese Ausgestossenen der Gesellschaft, diese Lang-Verfolgten, Schlimm-Gehetzten,
- auch die Zwangs-Einsiedler, die Spinoza’s oder Giordano Bruno’s - werden zu-
letzt immer, und sei es unter der geistigsten Maskerade, und vielleicht ohne dass sie
selbst es wissen, zu raffinirten Rachsüchtigen und Giftmischern (man grabe doch
einmal den Grund der Ethik und Theologie Spinoza’s auf!) - gar nicht zu reden
von der Tölpelei der moralischen Entrüstung, welche an einem Philosophen das un-
fehlbare Zeichen dafür ist, dass ihm der philosophische Humor davon lief. ( JGB 25)
Die Aufopferung für die Wahrheit, sein Leben in der Abgeschiedenheit einer
meditativen Existenzweise zu führen, wehrt nicht nur alle Zweifel an der eigenen
Überzeugung ab. Sie begünstigt nach Nietzsche darüber hinaus die Reflexionsstra-
tegie des asketischen Ideals, das sich von der Vitalität des Leibes zurückzieht. In
der Logik dieses Ideals, das die Genealogie der Moral ausführlich analysiert, verschafft
man sich dadurch einen Zugang zur Wahrheit, daß man während des Erkenntnis-
prozesses jegliche sinnlichen und affektiven Momente subtrahiert. Diesem asketi-
schen Ressentiment der reinen Wahrheit gegen die Sinnlichkeit, das seit Platon
das abendländische Denken bestimmte, ist laut Nietzsche auch Spinoza verfallen.
Fühlt ihr nicht an solchen Gestalten, wie noch der Spinoza’s, etwas tief Änigmatisches
und Unheimliches? Seht ihr das Schauspiel nicht, das sich hier abspielt, das beständige
Blässer-werden -, die immer idealischer ausgelegte Entsinnlichung? Ahnt ihr nicht
im Hintergrunde irgend eine lange verborgene Blutaussaugerin, welche mit den
Sinnen ihren Anfang macht und zuletzt Knochen und Geklapper übrig behält, übrig
lässt? - ich meine Kategorien, Formeln, Wor te (denn, man vergebe mir, das was
von Spinoza übrig blieb, amor intellectualis dei, ist ein Geklapper, nichts mehr! was
ist amor, was deus, wenn ihnen jeder Tropfen Blut fehlt? …) (FW 372)
Einerseits betont Nietzsche zu Recht bei Spinoza das Streben nach einer
sinnesfreien Vernunfterkenntnis des Wahren und Guten, aber andererseits über-
sieht er hier geflissentlich dessen innovative Lehre von Gott als einer immanen-
ten Ursache der welthaften Dinge, um die Ethica desto leichter in die Geschichte
einer reaktiven Asketisierung des Denkens einzufügen. Sofern man das mathe-
matische Verfahren einer reinen Vernunft beim Wort nimmt und die Erkenntnis-
objekte unter dem Ägyptizismus einer zeitenthobenen Ewigkeit betrachtet, ver-
wandelt man sie in leblos mumifizierte Dinge an sich, wie Nietzsche an der
Rationalisierung des christlichen Gottesbegriffs deutlich macht, die man „sub
specie Spinozae“ (AC 17) vollzog.
Nietzsche und der Geist Spinozas 53
15 Vgl. dazu: Fischer: Die Geschichte der neuern Philosophie. Bd. 1, a. a. O., S. 509 ff. sowie
Wurzer: Nietzsche und Spinoza, a. a. O., S. 109 ff., wo er die Bezüge eines Exzerptes aus dem
Nachlaß (KSA 12, 7[4]) zu Fischers Spinoza-Buch im einzelnen aufschlüsselt.
54 Hans-Jürgen Gawoll
hauptet wurde, bei Nietzsche die antimetaphysische Pluralität von Machtquanta überzeugend
herausgearbeitet hat. Vgl. Müller-Lauter, Wolfgang: Nietzsche. Seine Philosophie der Gegen-
sätze und die Gegensätze seiner Philosophie. Berlin, New York 1971. S. 30.
19 Vgl. dazu KSA 10, 8[17]: „der Sinn für Wirklichkeit bei Mächtigen (bei Unterdrückten als Rache,
Rechtfertigung - Spinoza).“ sowie KSA 13, 18[16].
20 Auf diesen biographischen Zusammenhang hat nachdrücklich hingewiesen Snel, Robert: Het
hermetisch Universum. Nietzsches verhouding tot Spinoza en de moderne ontologie. Meedelin-
gen vanwege het Spinozahuis 60. Delft 1989. S. 3 f.
56 Hans-Jürgen Gawoll
daß die kostbarsten Dinge zum zweiten Male da sind! - Alle Philosophen! Es sind
Menschen, die etwas Außerordentliches erlebt haben (Nachlaß 1884, KSA 11,
26[416]) 21
Die Wiederkunftslehre, zu dessen Intuition er Anfang August 1881 22, also
nur wenige Tage nach der Lektüre des Werkes von Kuno Fischer geführt wurde,
stellt laut Nietzsches Aussage einen Versuch dar, den spinozianischen Gedanken
der amor dei erneut zu aktualisieren.
Während für Nietzsche die Geschichte der abendländischen Metaphysik da-
durch gekennzeichnet ist, daß sie logisch die wahre Welt eines Immerwährenden
etabliert, kraft deren man implizit die empirische Wirklichkeit der Sinne und die
menschlichen Leidenschaften verneint, soll die Annahme einer ewigen Wieder-
kunft die transzendente Verdoppelung des Seins unterbinden. Ihr gemäß be-
deuten die sinnfällig werdenden Dinge nicht länger das von der Zeit aufgezehrte
Nichtige, das die metaphysische Zweiweltenlehre einer übergeordneten Wahrheit
ontologisch disqualifiziert. Statt das bloß Vergängliche zu sein, werden die fak-
tisch wirklichen Dinge in der Weise remundanisiert und aufgewertet, daß sie
den Status einer wiederkehrenden Präsenz von Vergehendem erhalten. Sie ge-
hören einer zyklischen Unendlichkeit an, in der jede scheinbar kontingente Exi-
stenz eine nachfolgende Reihe bestimmt, die zu ihrem determinierenden Aus-
gangspunkt zurückläuft. Am besten ließe sich die Zirkularität der Wiederkehr
laut Nietzsche als eine „unver nünftig e Nothwendigkeit“ (Nachlaß 1881,
KSA 9, 11[225]) 23 erzählen, wenn man darunter versteht, daß sie keinen Fort-
schritt zu einer ästhetischen, moralischen oder metaphysischen Vervollkomm-
nung realisiert. Abgesehen von dem Problem, ob sie Nietzsche zu einer kosmo-
logischen Theorie ausarbeiten wollte, bedeutet die ewige Wiederkehr hauptsäch-
lich eine ontologische Fabel, die der neuen, antiplatonischen Welterfahrung Aus-
druck verleiht, ohne mit einem transzendenten Sinn und Trost auskommen zu
müssen. 24
Eine derartig von allem Vernunftzweck gereinigte und letztinstanzlich freie
Weltimmanenz der Dinge hat für Nietzsche in der neueren Geistesgeschichte
erstmalig der spinozianische Pantheismus antizipiert, der ebenfalls „zu einem
Glauben an die „ewig e Wiederkunft“ “ zwingt. (Nachlaß 1886/87, KSA
12, 5[71], S. 213) Seine pantheistische Variante, bei der Spinoza unter Verzicht
21 Auf welches Buch von Gustav Teichmüller, der bis 1877 Professor der Philosophie in Basel
war, Nietzsche sich hier bezieht, konnte von mir nicht nachgewiesen werden.
22 Vgl. dazu das von Nietzsche auf Anfang August datierte Fragment in: KSA 9, 11[141] sowie
EH, KSA 6, S. 335.
23 Sofern die ewige Wiederkehr jede Zweckmäßigkeit ausschließt, läßt sie sich nach Nietzsche in
einem spinozistischen Geist als entmenschlichtes „chaos sive natura“ beschreiben. Vgl. dazu
KSA 9, 11[197].
24 Diese Interpretation vertritt überzeugend Yovel: Spinoza, a. a. O., S. 408.
Nietzsche und der Geist Spinozas 57
ständnis nach umschreibt der Name Spinozas für Nietzsche auch die auf Platon
zurückgehende Bestimmung der Philosophie, durch eine Parusie des Göttlichen
und Ewigen im Erkennen glückselig zu werden. Daher teilt Spinozas freudige
Hingabe des amor dei intellectualis mit der platonischen Ausrichtung auf ein
ideales Sein eine Verachtung des Wechselnden und Vergehenden, das bei ihm
vor der Macht einer quasi göttlichen Substanz keinen wahrhaften Bestand hat.
Wenn Nietzsche an Spinoza außer dem pseudo-religiösen Glauben an eine
mechanische Kausalität zugleich die Fixierung auf ein zeitloses Ansichsein der
Vernunft kritisiert, streicht er radikal den ontologischen Wert des „Kürzesten
und Vergänglichsten“ heraus, das als „das verführerische Goldaufblitzen am
Bauch der Schlange vita -“ (Nachlaß 1887, KSA 12, 9[26]) erscheint. In Um-
kehrung Spinozas, der das Sein der Welt als einen ewigen und substantiellen
Strukturzusammenhang begreift, denkt Nietzsche gleichsam von den Modi her.
Obwohl für Nietzsche - analog zu Spinoza - die endlichen Dinge keine iso-
lierte Substanzialität besitzen, ist jedoch deren Eigenwert dermaßen groß, daß
ihre vergehende Singularität den wiederkehrenden Bestand der Welt im ganzen
ausmacht. So wertet Nietzsche die Metaphysik des Platonismus durch eine neue
Sehnsucht „nach dem Endlichen“ (Nachlaß 1884, KSA 11, 26[287]) um, das
gemäß der Wiederkunftslehre in einer Totalität steht, bei der jedes Moment das
Ganze und die permanente Iteration seiner selbst bedingt. Den spinozianischen
Monismus, der die Seinshaftigkeit der Modi von der Affirmation der einen,
absoluten Substanz abhängig machte, verwandelt Nietzsche in einen Pankosmis-
mus: Kosmos kai pan könnte in Anlehnung an Lessings Diktum die Überzeugung
von Nietzsche lauten, für den die überlieferten Begriffe nicht mehr gültig sind.
Entsprechend ist das von Spinoza noch in ein logisches Jenseits gesetzte, wahre
Sein bei Nietzsche die Faktizität der Welt, die es, sofern man unter Einschluß
der bisher verachteten Aspekte des Lebens immanent alles aus allem begreift,
zu bejahen gilt.
Führt man an diesem Punkt die exoterische und esoterische Thematisierung
Spinozas zusammen, dann fällt auf, daß Nietzsche aus der amor dei intellectualis,
auf die er sich positiv kapriziert, die beiden Bestandteile „Gott“ und „geistig“
herausgestrichen hat. An ihre Stelle setzt er das fatum, das nun seinerseits Spi-
noza ausdrücklich ablehnt, weil es entweder eine vernunftlose Herrschaft oder
eine geheimnisvolle Vorherbestimmung präsupponiert, die für den rational
durchsichtig gemachten Begriff der all-einen Substanz ein Skandalon darstellen
würde. 28 Diese Substitution, die die Bedeutsamkeit der mit Spinoza gemachten
dem Philosophietypus des Platonismus (vgl. ebd. S. 145). Aufgrund von Teichmüllers Interpre-
tation ist es also historisch korrekt und nur konsequent, wenn Nietzsche die Philosophie einer
an sich vorhandenen Wahrheit, für die auch Spinoza einsteht, mit Platon beginnen läßt.
28 Spinoza, Baruch de: Ethica, Kap. I. Prop. 33. Anm. 2.
60 Hans-Jürgen Gawoll
Horizonten; er löste sich nicht vom Leben ab, er stellte sich hinein; er war nicht
verzagt und nahm so viel als möglich auf sich, über sich, in sich. Was er wollte, das
war Totalität; […] er disciplinirte sich zur Ganzheit, er schuf sich … (GD, Streif-
züge eines Unzeitgemässen 49)
Ebenso wie Spinoza von Goethe dazu gebraucht wurde, um eine ihm gemäße
Lebensform zu finden, stellt er für Nietzsche einen historischen Schlüssel für
die eigenen Intentionen dar. Da er Spinoza wahrscheinlich realiter niemals im
Original gelesen hat, konnte er ihn weder adäquat verstehen noch produktiv
mißverstehen, wobei man immer von der theologischen Annahme eines kano-
nischen Urtextes ausgeht, dessen intentio recta man verfehlt. In diesem Sinn
weicht Nietzsche überhaupt nicht vom Denken Spinozas ab, sondern aus dem,
was er darüber hauptsächlich durch die Vermittlung von Kuno Fischer wußte,
verständigte er sich über das zentrale Anliegen seiner Philosophie. Obwohl Spi-
noza exoterisch bloßgestellt von einem asketischen Idealismus und esoterisch
betrachtet von der tradierten Metaphysik einer wahren Welt abhängig blieb, ist
er für Nietzsche zugleich der erste Denker des Abendlandes, der die Philosophie
aus der Verneinung der Welt sowie des Lebens zu befreien versuchte. Während
bei Platon der Zweck des Philosophierens die Vorbereitung auf den Tod ist, um
in den Besitz einer idealen Wahrheit zu gelangen, sieht Nietzsche durch das, was
er über Spinoza zur Kenntnis nimmt, einen ihm verwandten Geist am Werke,
der diese Ausrichtung des Denkens mit einer affirmativen Ontologie umzukeh-
ren strebt. Im Angesicht eines passiven Nihilismus, für den Gott und Welt nichts
mehr bedeuten, besinnt sich Nietzsche auf den innovativen Geist der spinozia-
nischen Philosophie. Von ihr empfing Nietzsche die existentiellen Impulse zu
einer meditatio vitae, die er weiterführt, radikalisiert und überbieten will:
Es macht mich glücklich, zu sehen, dass die Menschen den Gedanken an den Tod
durchaus nicht denken wollen! Ich möchte gern Etwas dazu thun, ihnen den Gedan-
ken an das Leben noch hundertmal denkenswer ther zu machen. (FW 278)