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Ulrich Kobbé
Zusammenfassung
Der Essay versucht, ausgehend von konkreten Erfahrungen und Beispielen unterschied-
liche Facetten der beruflichen und persönlichen Identität als Psychologe, des Selbstver-
ständnisses ‚des‘ Psychologen und der Missverständnisse seiner Wissenschaft aufzu-
zeigen1. Ausgehend von klinisch-psychologischen Problem- und Arbeitsfeldern werden
unterschiedliche Facetten und Implikationen theoretischer und angewandter Psycholo-
gie aufzuzeigen und einzelnen Problemstellungen grundsätzlicher Art nachzugehen ge-
sucht. Thematisiert werden Praxisaspekte der Integration und Differenzierung von Psy-
chologie und Psychotherapie sowie Psychoanalyse, der Interaktion von Psychologen
und Ärzten, des Zusammenhangs von Psychologie und Philosophie. Dabei bedingt und
fordert die Verschränkung von Praxis und Theorie gleichzeitige Untersuchungen bzw.
Skizzen von Fragen der Erkenntnistheorie, der Geisteswissenschaften, der Ethik und
der politischen Psychologie.
Damit entsteht ein Patchwork von Themen, von Befragungen der eigenen Profession
und Professionalität. Dieser diskursive Ansatz dient daher u. U. weniger der Beantwor-
tung, eher der Generierung von Fragen an das Selbst- und Fremdbild von ‚Psychologie'
und ‚Psychologen‘. Im Sinne der Herstellung bzw. Reaktualisierung von intrinsischer In-
terferenz2, auch einer Provokation zu weiterer Auseinandersetzung, werden neben dem
Stilmittel der Selbstthematisierung vereinzelt Zitate von Wittgenstein eingesetzt, denn:
»Der Mensch denkt, fürchtet sich, etc. etc.«: das könnte man etwa Einem antwor-
ten, der gefragt hat, welche Kapitel ein Buch über Psychologie enthalten soll (Witt-
genstein 1948, 223, Ziff. 19).
Das Selbst- und Fremdbild ‚der‘ Psychologie und PsychologInnen schlechthin lässt sich
in Umfragen und empirischen Untersuchungen, in deren statistischer Aufbereitung und
Interpretation hinsichtlich der diesbezüglichen sozialen Repräsentationen beschreiben;
gerade bezüglich des Verhältnisses von Selbstverständnis und Fremdwahrnehmung,
von Anspruch und Wirklichkeit, lassen sich differenzierte Untersuchungen vornehmen.
Und zugleich muss jede Psychologie - wenn sie sich denn als konkrete Psychologie
versteht - das Individuum zum Ausgangs- oder Bezugspunkt machen. Denn wenn die
konkreten Individuen „nicht nur als Marionetten in den gesellschaftlichen Strukturen zap-
peln, ist auch von Bedeutung, wie sie die Ereignisse erfahren, deren Verlauf sie zwar
nicht kontrollieren, aber doch bewirken“ (Füchtner 1978, 19). Diese Vorstellung einer am
1
Trotz dieser Verkürzung sind immer a) Diplom-Psychologen und b) zugleich Diplom-Psychologinnen gemeint.
2
Dabei geht es einerseits um die Thematisierung der Widersprüchlichkeiten der Realität, andererseits um die interferentielle Aufbre-
chung konventioneller Wahrnehmungs-, Beurteilungs- und Denkmuster. Insofern wird Interferenz eine erkenntnisvermittelnde - und
damit ethische - Funktion zugeschrieben und versucht, Widersprüche (der Realität, der Wissenschaften, der Subjekte usw.) nicht i.
S. harmonisch-stabilisierender Synthese aufzulösen, sondern i.S. sich gegenseitig beeinflussender Antagonismen virulent zu halten.
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Damit wird dieser Aufsatz um den subjektiven Pol einer - z. T. retrospektiven - Sicht auf
Psychologie oszillieren und den Verfasser als ‚ich‘ sagende Person einführen. Selbst-
thematisierungen jedoch sind in der wissenschaftlichen Literatur nicht nur unüblich, son-
dern gelten geradezu als anstößig. Doch wenn die Erörterung charakteristischer psy-
chologischer Erfahrungsbereiche, wenn die Darstellung einiger Selbst- und Fremdattri-
buierungen mehr sein soll als eine Aneinanderreihung abstrakt-generalisierter Aspekte,
muss ein selbstreflexiver Bezug zu einem konkreten Selbst und seiner Subjektivität her-
gestellt werden. Insofern gebietet die Aufgabenstellung den Versuch einer Selbstthema-
tisierung, zumal wir dies im Rahmen angewandter Psychologie, z.B. psychologischer
Beratung oder Behandlung, unseren Klienten oder Patienten wie selbstverständlich ab-
verlangen (Hahn 1987). Unweigerlich ist dies damit auch der Versuch einer Selbstbeur-
teilung und führt der Ansatz zu Vor-Urteilen des Lesers über den Verfasser:
Die Psychologie des Urteils. Denn auch das Urteil hat seine Psychologie.
Es ist wichtig, dass man sich denken kann, dass jedes Urteil mit dem Worte »Ich«
beginnt. »Ich urteile, dass ...«
So ist jedes Urteil eines über den Urteilenden? Insofern nicht, als ich nicht will,
dass die Hauptkonsequenzen über mich gezogen werden, sondern über den Ge-
genstand des Urteils. Sage ich »Es regnet«, so will ich im allgemeinen nicht, dass
man antworte: »Also so scheint es dir«. »Wir reden vom Wetter«, könnte ich sa-
gen, »nicht von mir« (Wittgenstein 1946/47, 745, Ziff. 750).
Psychologie
Das Bild des Psychologen - und ‚der‘ Psychologie schlechthin - als Untersuchungsge-
genstand sowie seine Einbettung in einen interdisziplinären und sozialpolitischen Rah-
men gestatten - so die Eingangsthese - keine ausschließlich psychologische Theorie-
konstruktion: „Ich würde gerne sagen: Die Psychologie hat es mit bestimmten Aspekten
des menschlichen Lebens zu tun. Oder auch: mit gewissen Erscheinungen - aber die
Wörter »denken«, »fürchten«, etc. etc. bezeichnen nicht diese Erscheinungen“ (Witt-
genstein 1948, 226, Ziff. 35).
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Darüber hinaus wäre - so die zweite These - das Herauspräparieren einzelner psycho-
logischer, interpretationsfreier Fakten ein dem Gegenstand nicht angemessenes Vorge-
hen. Es würde dem konkreten Bezugssystem des Psychologen im Verhältnis zu sich
wie zum Sozialen nicht gerecht. Als Essay, der auf die Untersuchung subjektiver berufli-
cher Erfahrungsaspekte und wissenschaftsimmanenter Prozesse hinorientiert ist, müs-
sen nicht nur die als naturwissenschaftlich begründet begriffenen - ungeschichtlichen -
psychologischen Kategorien benannt und verwendet werden: Vielmehr sind auch geis-
tes- und. geschichtswissenschaftlich orientierte psychologische Theorien und Ergebnis-
se zu berücksichtigen. Denn immerhin sind
sowohl die ordnungs-, sozial- und gesundheitspolitisch determinierten Dispositive so-
zialer Kontrolle, in die klinische u. a. praktisch tätige Psychologen eingebunden sind,
als auch die Beurteilungs- und Entscheidungsmaßstäbe der einzelnen Personen
in übergeordnete gesellschaftliche Strukturen eingebettet. Entsprechend sind sie nur im
Rahmen historisch-struktureller Regelsysteme verstehbar bzw. interpretationsfähig
(Hübner 1992).
Hier hat Psychologie ihren Ursprung in einem Projekt der aufklärerischen Vernunft. In
einem Fortschrittsprojekt, das zwar Vernunftkritik betreibt, jedoch als Psychologie
zugleich vergisst, „dass die »objektive« oder »positive« oder »wissenschaftliche« Psy-
chologie ihren Ursprung und ihren Grund in einer pathologischen Erfahrung gefunden
hat“. Oder „anders gewendet: der Mensch ist eine psychologisierbare Gattung erst ge-
worden, seit sein Verhältnis zum Wahnsinn eine Psychologie ermöglicht hat, d.h. seit
sein Verhältnis zum Wahnsinn äußerlich durch Ausschluss und Bestrafung und innerlich
durch Einordnung in die Moral und durch Schuld definiert ist“ (Foucault 1968, 113). So
besteht der Auftrag von Psychologie innerhalb der psychiatrischen Institution in einer
„Grenzsicherung" (Dörner) zwischen ungefährlichen Vernünftigen und gefährlichen Ver-
nünftigen, d.h. der Garantierung des ungestörten öffentlichen Diskurses. „Damit diese
Aufgabe ordnungsgemäß erfüllt wird, wurde es einmal als nützlich angesehen, Psychia-
ter und Psychotherapeuten von der philosophischen Reflexion abzukoppeln, damit sie
sich im positivistischen Glauben an ihre Wissenschaft nicht stören lassen" (Dörner 1988,
451). Gerade dies aber mache die Wiedereinführung auch philosophischen Reflektie-
rens in die Psychologie (und Psychiatrie) erforderlich, um ihre Praxis - ihr Denken und
Handeln - „gegen seine eigene Gefährlichkeit zu schützen" (Dörner 1988, 451-452).
Hinsichtlich der Frage Kants nach uns in diesem Moment der Geschichte, mit der er uns
auch unsere selbstverschuldeten Unmündigkeit vorhält, fordert Foucault (1984) generell
- und konkret uns - auf, nicht nur zu entdecken, sondern zugleich zu verweigern, was wir
sind ... Denn das Projekt der Aufklärung, das die Vermenschlichung jedes Menschen
zum Ziel hatte, scheint zu einem Gutteil selbst das Problem geworden zu sein, das es
zu lösen beabsichtigte: Wenn Kant versprach, die von der kritischen Vernunft eröffnete
Lücke mit Hilfe der instrumentellen Vernunft zu schließen, so ist dies mehr als gelungen
und zugleich dennoch Fiktion, ja, geradezu Wissenschaftsfiktion = ‚science fiction‘. Ge-
rade im gesellschaftspolitischen Bereich des kongenialen Zusammenspiels wissen-
schaftlicher, administrativer und therapeutischer Diskurse hat sich der instrumentelle
Charakter der Vernunft in einer Weise verselbständigt, dass er - im gesellschaftlichen
Alltag wie in den Wissenschaften - Aspekte des Irrationalen, Affektiven, Imaginären oder
Unbewussten in einer Weise denunziert und ausschließt, dass dieses Verdrängte in den
sozialen Repräsentationen unweigerlich wiederkehrt.
Die Frage nach dem Selbstverständnis und Selbstbild von klinisch-therapeutisch tätigen
Psychologen führt unweigerlich zur Frage nach dem Verhältnis von Psychologie und
Psychotherapie. Denn allzu leicht wird das eigene Berufsbild, wird die konkrete klinische
und therapeutische Praxis von theoretischen Modellen und be-handlungsbezogenen
Standards der jeweiligen Therapie‚schule‘ usurpiert. Bereits als das BDP-Zertifikat ‚Kli-
nischer Psychologe‘ durch den Berufsverband vor Jahren in ‚Klinischer Psychologe /
Psychotherapeut‘ erweitert wurde, macht der dem ‚Bastardfaden‘ der Heraldik gleichen-
de Schrägstrich unfreiwillig deutlich, dass diese Mischidentität ein Bastard3 ist, sprich,
eine Spaltung innerhalb der neuen Verbindung angibt. Entsprechend bekam die BDP-
Sektion ‚Klinische Psychologie‘ Konkurrenz durch den ‚Verband Psychologischer Psy-
chotherapeutInnen‘, kam es zu Doppelmitgliedschaften wie zu Übertritten, jedoch weder
3
d.h. quasi nichtlegitimer Herkunft
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zu einer hinreichenden Klärung der jeweiligen Schnittmenge von Sach- und Fachfragen
wie Interessen noch zur Herausbildung jeweils charakteristischer Profile. Diese Und/Oder-
Identität wird nunmehr durch die seit dem 01.01.99 mögliche und geforderte Approbati-
on neu definiert, wenngleich nicht ‚gelöst‘. Denn ‚Psycho~‘ ist nun ggf. per Gesetz und
Urkunde beides: Diplom-Psychologe und Psychotherapeut.
Zum Verhältnis von Psychologie und Psychotherapie formulierte Baumann (1996) jüngst
u. a. folgende Thesen:
„Psychologiedefinition impliziert Psychologie. Die wissenschaftliche Psychotherapie
ist eng mit der Wissenschaft Psychologie verzahnt, da Psychotherapie mit psycholo-
gischen Mitteln arbeitet; dies sind Methoden, die im Erleben und Verhalten ihren An-
satzpunkt haben.“
„Psychologie als besonders wichtige Determinante der Psychotherapie. Die Psycho-
logie als Wissenschaft erbringt maßgebend und umfassend wissenschaftliche Beiträ-
ge zur Psychotherapie, die als Methode im Erleben und Verhalten ansetzt: Sie ist da-
her in ihrer Bedeutung für die Psychotherapie nicht gleichrangig zu anderen Fächern
(u.a. Medizin, Pädagogik, Philosophie, Soziologie, Theologie) zu sehen.“
„Fundierung der allgemeinen Psychotherapie durch die Psychologie. Die Psychologie
mit der Breite an Erkenntnissen gewährleistet eine allgemeine Psychotherapie und
vermindert das Risiko des Schulendenkens.“
„Psychotherapie als Spezialfall klinisch-psychologischer Intervention. Psychotherapie
stellt einen Spezialfall klinisch-psychologischer Intervention dar und ist daher mit der
Psychologie verknüpft.“
„Psychologie als Voraussetzung für Psychotherapie. Psychotherapeuten/innen benö-
tigen ein breites Psychologiewissen auf universitärem Niveau, wie es im Psycholo-
giestudium der Hochschulen angeboten wird. Andere Berufsgruppen müssen daher
eine vergleichbare Psychologiekompetenz erwerben.“
„Beseelte, humane Psychotherapie und Wissenschaft. Psychotherapie ohne wissen-
schaftliche Fundierung ist eine inhumane Psychotherapie, eine Psychotherapie ohne
Seele. Humane Psychotherapie, Psychotherapie mit Seele setzt eine wissenschaftli-
che Fundierung, insbesondere mittels der Psychologie, voraus.“
der krankhaften Vorgänge, sondern Psychologie schlichtweg, gewiss nicht das Ganze
der Psychologie, sondern ihr Unterbau, vielleicht überhaupt ihr Fundament“ (Freud
1955b, 289). Selbst wenn man dieser Maßgabe als Anmaßung nicht folgt, ist die quasi
parallel zur Psychoanalyse entstandene Psychologie von dieser beeinflusst und umge-
kehrt. Psychologische wie psychoanalytische Modellvorstellungen und Begriffe haben
derart Eingang in heutiges Denken, in Erklärungsmuster und in Alltagssprache gefun-
den, dass - zumindest partiell - von einem dialektischen Verhältnis beider Psychologien
gesprochen werden muss. Bemerkenswert ist immerhin die von Rapaport (1973) ange-
gebene Struktur psychoanalytischer Theorie mit empirischen, Gestalt-, organismischen,
genetischen, dynamischen, ökonomischen, strukturellen, adaptiven, psychosozialen und
empirischen Gesichtspunkten, die sich mit folgenden Kernsätzen skizzieren lassen:
Das Objekt der Psychoanalyse ist Verhalten.
Jedes Verhalten ist integral und unteilbar. Die zu seiner Erklärung dienenden Begriffe
beziehen sich auf seine verschiedenen Komponenten und nicht auf verschiedene
Verhaltensweisen.
Kein Verhalten steht isoliert. Alles Verhalten ist das der integralen und unteilbaren
Gesamtpersönlichkeit.
Alles Verhalten ist Teil einer genetischen Reihe. Durch seine Vorläufer ist es Teil zeit-
licher Aufeinanderfolgen, die die gegenwärtige Form der Persönlichkeit hervorge-
bracht haben.
Die entscheidenden Determinanten des Verhaltens sind unbewusst.
Alles Verhalten ist letzten Endes triebbestimmt, doch die „letztliche Triebbestimmt-
heit“ des Verhaltens wird begrenzt durch die anderen Verhaltensdeterminanten.
Alles Verhalten führt seelische Energie ab und wird durch seelische Energie reguliert.
Alles Verhalten hat strukturelle Determinanten.
Alles Verhalten wird durch Realität bestimmt.
Gesellschaft ist notwendige Matrix der Entwicklung allen Verhaltens.
Dass die gegenseitige Beeinflussung von Psychologie und Psychoanalyse bereits früh
zu entsprechenden gegenseitigen Abgrenzungen wie Vereinnahmungen führte, wird an
folgender Formulierung Bühlers deutlich:
Was die Psychoanalyse angeht, so bin ich der Meinung, dass gewisse Tren-
nungsmauern zwischen ihr und der übrigen Psychologie fallen müssen (Bühler
1927, IX).
Hiernach wäre Psychoanalyse nicht Unterbau oder Fundament, sondern eben auch -
nur - eine Psychologie innerhalb des gesamten Feldes. „Ich möchte von einem Stamm-
baum der psychologischen Begriffe reden“ (Wittgenstein 1946/47, 138, Ziff. 722). In der
Tat bezeichnet denn auch Lacan (1936) Psychoanalyse als den Freudschen Weg einer
Psychologie, die er der anderen Auffassungen und Methoden damaliger Psychologie
gegenüberstellt, um dann 28 Jahre später zu behaupten, die Psychologie sei „das Vehi-
kel von Idealen: Die Psyche steht dabei nur Pate, wenn es darum geht, sie in den Rang
einer akademischen Wissenschaft zu erheben“ (Lacan 1964, 210). Denn Psychologie
unterwerfe sich den Gesetzen des Marktes, gebe „sich und mit ihr Freud“ in einer Weise
einem Interesse preis, dass „eine Psychoanalyse, die in den Schoß der «allgemeinen
Psychologie» zurückkehrt, [...] jener Mentalität Vorschub [leistet], die man gerade hier,
und nicht in der Ferne untergegangener Kolonien, mit Recht als primitiv bezeichnen
kann“ (Lacan 1964, 211). Jenseits dieser fraglos unzutreffenden - und insofern Psycho-
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Das eigene Studium in den Jahren 1972 bis 1977 wurde von einer manifest angloameri-
kanisch orientierten Psychologie geprägt, deren Wissenschaftsverständnis empirisch
und statistisch, naturwissenschaftlich und verhaltensorientiert war.
Die Verwirrung in der Psychologie ist nicht damit zu erklären, dass sie eine »junge
Wissenschaft« ist. Ihr Zustand ist mit dem einer Physik, z. B., in ihrer Frühzeit gar-
nicht zu vergleichen. Eher mit dem gewisser Zweige der Mathematik. (Mengenleh-
re.) Es besteht da nämlich einerseits eine gewisse experimentelle Methode, ander-
seits Begriffsverwirrung, so wie in manchen Teilen der Mathematik Begriffsverwir-
rung und Beweismethoden. Während man aber in der Mathematik ziemlich sicher
sein kann, dass ein Beweis von Wichtigkeit sein wird, auch wenn er noch nicht
recht verstanden ist, ist man in der Psychologie der Fruchtbarkeit der Experimente
durchaus nicht sicher. Vielmehr besteht in ihr Problematisches, und Experimente,
die man für die Methode der Lösung der Probleme ansieht, auch wenn sie an dem,
was uns beunruhigt, ganz vorbeigehen (Wittgenstein 1946/47, 186, Ziff. 1039).
Da dies zwar konsequent, aber damals eher implizit i. S. eines „hidden Curriculums“ ver-
treten wurde, war diese Einseitigkeit wenig spürbar. Erst als in der eigenen Diplomarbeit
auf phänomenologische Wahrnehmungs- und Bewusstseinstheorien der zwanziger und
dreißiger Jahre Bezug genommen wurde und die Arbeit vom damaligen Vertreter der
Professoren mit der ebenso lapidaren wie eindeutigen Begründung „Phänomenologie ist
keine Wissenschaft“ abgelehnt zu werden drohte, wurde diese einseitige Konstituierung
akademisch-wissenschaftlicher Psychologie transparent und ausgesprochen direkt er-
fahrbar. Um so mehr ist dem früh(er)en Credo Bühlers (1927, IX), „dass wir im Rahmen
des Ganzen die sogenannte geisteswissenschaftliche Psychologie nicht entbehren kön-
nen", zuzustimmen.
Inhaltlich und konkret bedeutet dies jedoch keineswegs eine Ablehnung empirischer Un-
tersuchungs- oder statistischer Forschungsmethoden, sondern weist die Kritik lediglich
darauf hin, dass zu der Anwendung dieser mathematischen Methoden eine hinreichen-
de Theoriebildung gehört, dass Statistik kein Selbstzweck sein darf und es auch erlaubt
sein muss, statistische Berechnungen zur Generierung von Hypothesen - und nicht nur
zu deren Verifizierung rspkt. Falsifizierung - anzuwenden.
Wenn Bühler vor 72 Jahren für eine Pluralität der Wissenschaft Psychologie plädiert, so
ist dies nicht nur i.S. einer Integration auseinanderdriftender Richtungen einer damals
noch jungen Wissenschaft indiziert: In seiner Arbeit über „die Notwendigkeit eines (er-
klärenden) »doppelten« Diskurses“ zeigte Devereux (1972, 19) überzeugend, dass die
gegenseitige Beziehung gegenseitiger Irreduzibilität und Komplementarität auch zwi-
schen verschiedenen psychologischen Diskursformen besteht, indem „jede zu weit ge-
triebene experimentelle Untersuchung [das] zerstört, was es zu bestimmen sucht“.
Quensel (1989, 397-398) zeigt zudem detailliert das auch bei der „Integration von Mikro-,
Meso- und Makroprozessen" wohl unvermeidbare Dilemma der interdisziplinären For-
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schungsstrategien auf: Das höchst ambivalente Verhältnis der Theorien wie der Theore-
tiker zur Praxis als Stigmatisierungs-, Ausgrenzungs-, Sanktions- wie Hilfepraxis, „die
man auf der einen Seite dezidiert von sich weist, um ihr auf der anderen Seite um so
unvermittelter zu verfallen", ist auch interdisziplinär nur unzureichend zu lösen. Diese
Skepsis wird vom Verfasser geteilt. Insofern bedarf es nicht einer gegenseitigen Aus-
schließung, sondern eines Differenz ebenso angebenden wie garantierenden Wider-
streits (Lyotard 1989). Dies, indem die unterschiedlichen Regelsystemen angehörenden
inkommensurablen Diskurse nicht gegeneinander ausgespielt, sondern i. S. gegenseiti-
ger Anerkennung und Ergänzung als gleichberechtigte, doppelte Diskurse geführt wer-
den.
Der Satz »Die Vorstellung ist dem Willen unterworfen« ist kein Satz der Psycholo-
gie (Wittgenstein 1948, 238, Ziff. 107).
Nicht nur, dass dieser Skandal einer verengten Wissenschaftsauffassung der - universi-
tären - Psychologie fortbesteht und an den Universitäten auch aktuell innerhalb „bornier-
te[r] universitäre[r] Fachgrenzen“ fortgesetzt wird (Vinnai 1993, 9), auch die zur damali-
gen Zeit häufig eingeführte Einseitigkeit klinisch-psychologischer Ausbildung trägt zur
Konfrontation therapeutischer ‚Schulen‘, zur Auf- und -Abwertung des jeweils anderen
psychologischen Psychotherapeuten bei.
Anders ausgedrückt: In den Jahren 1972-1975 bestand an der Universität Tübingen für
Psychologiestudenten die Möglichkeit, im Fachbereich Psychologie Grundausbildungen
in Gesprächspsychotherapie und Verhaltenstherapie und Einführungsseminare in Psy-
chodramatherapie zu machen sowie außerhalb des Fachbereichs am Lehrstuhl für Psy-
choanalyse an Vorlesungen teilzunehmen. Diese Theorie- und Methodenpluralität wurde
dann allerdings durch den neuen Lehrstuhlinhaber für Klinische Psychologie, Nils Bir-
baumer, radikal reduziert und im wesentlichen auf psychophysiologische Ergebnisse
und Methoden der Verhaltensmodifikation konzentriert. Doch:
Das Denken in den Begriffen physiologischer Vorgänge ist für die Klarstellung der
begrifflichen Probleme in der Psychologie höchst gefährlich. Das Denken in psy-
chologischen Hypothesen spiegelt uns manchmal falsche Schwierigkeiten,
manchmal falsche Lösungen vor. Die beste Kur dagegen ist der Gedanke, dass ich
garnicht weiss, ob die Menschen, die ich kenne, wirklich ein Nervensystem haben
(Wittgenstein 1946/47, 192, Ziff. 1063).
Hätte dieser Einschnitt derzeit nicht stattgefunden und wäre Verhaltenstherapie (zum
damaligen Zeitpunkt noch vor der sog. kognitiven Wende) in ihrer Entwicklung weiter,
weniger schematisch und deterministisch, mithin generell attraktiver gewesen, hätte die
eigene berufliche Entwicklung als klinisch und psychotherapeutisch tätiger Psychologe
eine zwar wohl nicht prinzipiell andere Richtung, so doch u.U. einen anderen Verlauf
genommen. Retrospektiv ist allerdings auch zu vermerken, dass Psychologie zum da-
maligen Zeitpunkt als anwendungsorientierte, (psycho-)therapeutische Wissenschaft er-
heblichen Legitimationszwängen unterworfen war und der ‚radikale‘ Entwurf Birbaumers
in diesen Kontext als strategisch sinnvolle, von den Betroffenen ob ihrer Unvermitteltheit
jedoch mitnichten akzeptierte Profilierung verstanden werden kann, bei der im Kontext
Kobbé (1999): Wechselbalg »Psychologie« - 9 / 22-
Phänomene des Sehens, - das ist, was der Psychologe beobachtet (Wittgenstein
1948, 243, Ziff. 133).
Das andere von Lacan zur Sprache gebrachte Thema ist das des erkenntnisleitenden
Interesses, das innerhalb der Psychologie z.T. nur bedingt reflektiert wird. In seiner
klassischen Arbeit zu dieser Frage formuliert Habermas (1973, 262), Psychoanalyse sei
für ihn „das einzige greifbare Beispiel einer methodisch Selbstreflexion in Anspruch
nehmenden Wissenschaft“, da sie ihre in der Praxis unterstellten Geltungsansprüche zu
prüfen und ihr erkenntnisleitendes Interesse anzugeben suche. Sie enthalte den zu for-
dernden „latenten Handlungsbezug des theoretischen Wissens“, indem sich auf empi-
risch-analytisches Wissen stützende Kausalerklärungen in praktisch verwertbares Wis-
sen und sich auf hermeneutisches Wissen stützende narrative Erklärungen in prakti-
sches Wissen umzusetzen sei bzw. versucht werde. Dennoch ist ebenfalls gegen die
Psychoanalyse als einer „emanzipatorischem Erkenntnisinteresse“ (Habermas 1973,
244) verpflichteter Erkenntnis- und Metatheorie einzuwenden, dass auch sie trotz ihrer
expliziten therapeutischen Programmatik und ihres entwicklungsbezogenen therapeuti-
schen Fixpunktes (Wittling 1980, 22-23) nicht anzugeben vermag, wie die kritische Prü-
fung eigener Apriori der Erfahrung und insbesondere der Argumentation durchzuführen
Kobbé (1999): Wechselbalg »Psychologie« - 10 / 22-
sei (Habermas 1973, 390-392). Immerhin könnte nur durch die Herausarbeitung und
Angabe der ‚Dollpunkte‘ eine Infragestellung „der erst (praxisunmittelbar) zu erfahren-
den Nötigung der Destruktion (auch eigener) ‚Pseudoaprioris‘“ vorwegnehmend antizi-
piert werden. Denn erst dieser Ansatz wäre in der Lage, „die Perspektive einer - in der
emanzipatorischen Pädagogik nicht eben seltenen - Instrumentalisierung des Praktikers
für erkenntnisleitende Interessen“ zu verbauen (Niemeyer 1987, 210).
Insofern ist nicht nur das Amalgam von Psychologie und Psychoanalyse schwerlich auf-
zulösen, sondern sind angesichts der latenten Verführung durch kritisch-emanzipato-
rische Metatheorien mit Anwendungsanspruch Bescheidenheit und Vorsicht angeraten.
Und selbst dies schützt nicht vor der Verführung durch die eigenen Ideale, die das Mit-
machen eines Versuches - einer Versuchung - durch das Modell institutioneller Psycho-
therapie innerhalb des therapeutischen Maßregelvollzuges beinhaltete. Zu diesem
ebenso utopisch-idealistischen wie konsequent psychotherapeutischen und zugleich
kooperativ4 verfassten Entwurf eines Behandlungsansatzes, der auf Überlegungen der
Milieutherapie Bettelheims5 und den Grundsätzen institutioneller Psychotherapie6 fußte,
schrieb ich selbst, dass dieser „Versuch der einer psychoanalytischen Theorie der Be-
handlung“ im freiheitsentziehenden Maßregelvollzug in Verbindung mit den o. g. Prinzi-
pien „aufgrund der Klarheit und Stringenz der Konzeption sowie der dem Autor erfolg-
versprechenden tiefenpsychologisch ausgerichteten Therapie und Reflektion des eige-
nen Handelns besticht“ (Kobbé 1985, 280). Die naive Wortwahl des Verbums ‚besticht‘
macht retrospektiv deutlich, wie sehr ebenso anspruchsvolle wie idealistische Absichts-
erklärungen zur ‚Bestechung‘ geeignet sind. In der Tat war das Behandlungskonzept
nicht nur nicht in der Lage, eine dauerhaft humanistisch-therapeutische Praxis zu garan-
tieren, sondern drohte es gerade durch seine „Stringenz“ zu einer Totalisierung der The-
rapieeinrichtung zu geraten: Ähnlich beschrieb Fabricius (1990, 338) für ein ähnlich
aufwendiges Projekt der rehabilitativen Behandlung von Straftätern7, hier wandele sich
„Psychoanalyse als ein im Kern selbstreflexives, auf Mündigkeit zielendes Verfahren im
Zuge ihrer Institutionalisierung“ dermaßen, dass sie statt Selbstfindung und Autonomie
vielmehr „Hierarchie und zunehmende Entmündigung nach unten“ produziere.
Diskursanalysen
Die Widersprüche lassen sich am ehesten durch eine diskursanalytisch formalisierte Be-
trachtung der ebenso konvergierenden wie divergierenden Disziplinen der Medizin und
der - analytischen - Psychotherapie (Schorsch 1992) verstehen. Hier lassen sich die von
Lacan (1969/70) herausgearbeiteten Diskursmatheme für die Unterscheidung von Dis-
kursen des Sozialen nutzen.
4
kooperativ i.S. einer weitgehend nicht-hierarchischen Institution
5
vgl. Kobbé 1989
6
Hofmann 1983; Hofman & Ledoux 1982
7
(Cornel 1987; Reinke 1987; Toussaint 1982; 1984)
8
Lacan bezieht sich hier auf das dialektische Paradigma von Herr und Knecht bei Hegel (1807, 145-159) und Kojève (1973)
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Dass diese Zuschreibung der real vorfindbaren Situation nicht (mehr) entspricht, ist
unterschiedlichen Faktoren zuzuschreiben, so u. a. der Reduzieren von Psychoanalyse
auf ein Behandlungsverfahren, ihrer Einbindung in das Leistungssystem des Gesund-
heitswesens usw. Diese Problematik ereilt aber auch alle anderen psychologischen
Wissenschaften, wenn sie im Kontext psychologischer Beratung, Behandlung und/oder
Psychotherapie zur angewandten Wissenschaft werden. Insofern ist einschränkend
festzustellen, dass psychotherapeutische Diskurse zwangsläufig mehr oder weniger teil-
weise dem medizinischen Diskurs nahe stehen bzw. mit ihm identisch sind, insbesonde-
re dann, wenn sie in psychischen Symptomen ein Objekt haben, der Normalität ver-
pflichtet sind und das Subjekt gerade diesbezüglich primär unter dem Gesichtspunkt
seiner Veränderbarkeit betrachten, folglich als normativ-strategische Machtdiskurse fun-
gieren.
Dies mag Puristen als Problem erscheinen, reflektiert jedoch lediglich die alltägliche Si-
tuation von psychologischer Behandlung und Psychotherapie, die mitnichten an neuroti-
schen Mittelschichtpatienten vom YAVIS-Typ orientiert ist, sondern insbesondere Men-
schen aus sehr einfachen Verhältnissen sowie aus sozial randständigem Milieu errei-
chen und sie dort ‚abholen‘ muss. Wenn darüber hinaus aktuell für Straffällige mit dem
stigmatisierenden Etikett ‚Sexualstraftäter‘ oder ‚Kinderschänder‘ eine Pflicht zur Be-
handlung eingeführt wird, betont dies den funktional-nachsozialisierenden Aspekt psy-
chologischer Behandlung im Strafvollzug und macht dies andererseits darauf aufmerk-
sam, dass es sich um ein Klientel handelt, dass von sich aus sonst nie in Behandlung
gekommen wäre. Anders formuliert, beinhalten hier ‚Sicherung‘ und ‚Behandlung‘ kei-
neswegs sich ausschließende Prinzipien, sondern stellt vielmehr der weiteres - delin-
quentes - Agieren verhindernde Freiheitsentzug die Voraussetzung für erste Schritte ei-
ner therapeutischen Beziehung dar. Um so mehr stellt sich die Frage einer Handlungs-
und Behandlungsethik im Kontext sozialtechnologischer Institutionen.
Kobbé (1999): Wechselbalg »Psychologie« - 12 / 22-
Diese Nähe von Psychologie und Psychotherapie zu den auf Veränderung des Gegen-
über, auf ‚Intervention‘ hin angelegten Techniken der Behandlung stellt gleichzeitig die
Frage nach der Abgrenzung von klinischen Psychologen und Ärzten. Zweifelsohne gibt
es ein historisches Machtverhältnis zwischen beiden Disziplinen, das auf dem Gebiet
der Psychotherapie durch Psychotherapeutengesetz und Approbation zumindest an-
satzweise reduziert wurde. Dennoch beinhaltet die konkrete Praxis ererbte Kränkungs-
potentiale, mit denen jede konkrete Psychologe umzugehen lernen muss.
Doch beinhaltet das Verhältnis von Psychiatern und Psychologen auch eine - zumeist
unausgesprochene - Konkurrenz: Waren Psychologen in den siebziger und achtziger
Jahren innerhalb der psychiatrischen Krankenhäuser willkommene Lückenbüßer, so ris-
kiert sich dieses Verhältnis bei zunehmender Professionalisierung umzukehren. Wenn
also Psychologen nicht mehr Ersatz von Ärzten sind, sondern mitunter mit deren Coa-
ching oder Supervision beauftragt werden, stülpt dies herkömmliche Selbstverständnis-
se um. Dies ist erst recht der Fall, wenn - wie in der oben benannten bereichsleitenden
Funktion - ein Psychologe zum Stuntman des Psychiaters wird, indem er dessen krisen-
geschüttelten Klinikbereich leitend übernimmt, allerdings kommissarisch, wohlgemerkt.
Als ‚Troubleshooter‘ einerseits willkommen und im konkreten Fall gesucht, zieht diese
exponierte Stellung andererseits unterschiedliche Anfeindungen auf sich. Während die
psychologischen Kollegen bislang klagten, keiner der unsrigen habe die Chance zum
hierarchischen Aufstieg, führte dieser mitunter bei einzelnen auch zu Reaktionen miss-
trauischer, neidvoller, allgemeiner Distanzierung. Im alltäglichen Kontakt drückt sich das
dann in Äußerungen wie „Dass Sie sich das zutrauen ...“ aus. Könnte es also sein, dass
zum Psychologenselbstbild in der Psychiatrie unweigerlich das beklagte Selbstver-
ständnis des karrierebehinderten, aufrechten ‚Losers‘ gehört, der sozusagen aufrecht
und sthenisch, aber in einer Pattsituation, ärztlicher Bevormundung trotzt?
Dabei ist aktuell in der Psychiatrie ein rückwärts gewandter Trend zur biologischen
Psychiatrie, zur einseitigen Akzentuierung neuroanatomischer, -physiologischer o.a.
Dispositionen erkennbar, der sich bereits in den Diagnosen einer "antisozialen" oder
"dissozialen" Persönlichkeitsstörung des ICD bzw. DSM ankündigt. Handelt es sich ei-
nerseits keineswegs um klinische Diagnosen einer psychischen Störung, sondern um
eine Art sozialer Diagnosestellung im klinischen Gewand, so führt diese diagnostische
Etikettierung ein a-dynamisches, überwunden geglaubtes Psychopathiekonzept wieder
ein, dessen negativistische Behandlungsprognose den geborenen Verbrecher Lombro-
sos in medikalisierter oder psychologisierter Gestalt wiederauferstehen lässt, dessen
Tod Psychiatrie zuvor als Wissenschaft der Moderne proklamierte (Strasser 1984, 82).
Erkenntnistheoretisch lässt sich anhand der Arbeiten von Canguilhem (1977) über das
Normale und das Pathologische aufzeigen, dass und in welcher Weise es sich einer-
seits um klinische Diagnosebegriffe handelt, die eine "Pathologie" oder "Krankheit" be-
Kobbé (1999): Wechselbalg »Psychologie« - 14 / 22-
zeichnen, und sich diese grundlegend von den sich auf das auf eine soziale Norm be-
zogene "Anormale" der Sozio- und Psychopathiekonzepte unterscheiden. Denn immer-
hin eröffnet diese Diagnostik eine realitätsgestaltende Wirkung, deren "moralische Wer-
tungen auf einem entsprechenden sozialen Hintergrund diagnoseträchtig sind: Die Ho-
mosexualität hat die Bühne der psychischen Störungen mit dem Erscheinen von DSM-III
verlassen; die antisoziale Persönlichkeit hat sie betreten. Ihre Umschreibung ist voller
sozialer Ressentiments, die jener des klassischen »Psychopathen« in vieler Hinsicht
recht nahekommen" (Finzen 1998, 76).
Doch cave! Dies bedeutet m. E., in der Abgrenzung von biologistischen Konzepten des
psychotherapiepessimistischen ‚Retro‘ keineswegs methodenpuristische, einseitig-psy-
chologistische Konzepte zu verfolgen, sondern vielmehr eine Entwicklung einzuleiten,
die „die methodologische Vielfalt, deren unsere Fachgebiete fähig sind, ausschöpfen
wird. Ideologisch bedingter Verzicht bedeutet stets Standardverlust“ (Mundt 1997, 29).
Wenngleich in etwas anderem Kontext macht Hoff (1998, 24) auf die Gefahr des Um-
schlagens von Professionalisierung aufmerksam und plädiert er für eine neue Professi-
onalisierung mit (Meta-)Ebenen der Reflexivität und Kommunikation: „Verwissenschaftli-
chung würde dann auch den stärkeren Einbezug sozialwissenschaftlicher Traditionen
sowie Vergleich, Austausch und Vermittlung angesichts einer Pluralität wissenschaftli-
cher Orientierung bedeuten.“ Für den konkreten Psychologen selbst erfordert dies, psy-
chologische Identität durch permanenten Diskurs aktiv selbst zu gestalten, transparent
zu machen und seine psychologische Tätigkeit darüber hinaus unter systemischen As-
pekten zu klären:
Bewusste Imagebildung setzt Identität voraus; Identität bedarf der Klarheit zu be-
rufsethischen und fachlichen Minimalforderungen, bedarf der Kenntnis der Rah-
menbedingungen und Erwartungen der beschäftigenden Institution (Storath & Dillig
1998, 251).
Kobbé (1999): Wechselbalg »Psychologie« - 15 / 22-
Zu dieser Identität als Psychologe gehört u.a. auch eine differentialdiagnostische Tä-
tigkeit, sei es durch Beobachtung und Beschreibung von Verhalten, Erhebung eines
psychischen / psychopathologischen Befundes, einer ausführlichen Anamnese und/oder
durch testpsychologische Untersuchungen.
So handelt die Psychologie (etwa) vom Benehmen, nicht von den See-
lenzustände des Menschen? Wer einen psychologischen Versuch
macht - was wird der berichten? - Was das Subjekt sagt, was es tut,
was ihm in der Vergangenheit geschehen ist und wie es darauf reagiert
hat. - Und nicht: was das Subjekt denkt, was es sieht, fühlt, glaubt, emp-
findet? (Wittgenstein 1946/47, 284, Ziff. 287).
Gerade diese letzte diagnostische Untersuchungsebene ist bei einer relativ großen Zahl
von Kollegen verpönt, da sie eine missbräuchlich-entwertende Reduzierung auf die
Funktion des ‚Testknechts‘ fürchten. Dies ist zwar historisch und machtdiskursiv in ge-
wisser Weise berechtigt, verweist bereits die negative Selbstattribution als ‚Testknecht‘
auf ein Herr-Knecht-Verhältnis9 von Arzt und Psychologe, doch verkennt die einseitige
Befürchtung den dialektischen Charakter der Herr-Knecht-Wippe und verhindert die vor-
auseilende Ablehnung jede professionelle und selbstbewusste Wahrnehmung dieser
zweifelsohne spezifisch psychologischen Tätigkeit.
Hieraus ergibt sich zwangsläufig parallel die Auseinandersetzung mit Fragen und Anfor-
derungen einer psychologischen Handlungs- und psychotherapeutischen Behandlungs-
ethik, weisen doch Sternberger, Storz und Süskind (1957, 88) in ihrem ‚Wörterbuch des
Unmenschen‘ darauf hin, dass „schon das Verbum »Behandeln« [...] eine Affinität ent-
weder zu schlechten, harten, gemeinen Subjekten oder aber zu schadhaften, ihrer le-
9
vgl. Fn 8
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Das bedeutet, nicht aus Approbation oder ähnlich attestierter therapeutischer Kunstfer-
tigkeit erlangen Psychologen die Befugnis der Behandlung von Menschen: Da sich, „wer
Menschen behandeln will, [...] selber über den Menschen setzt“, ist ihm - um „Gemein-
schaftsfähigkeit“ zu erlangen - als ‚un-bedingte’ Ethik auferlegt, sich der „Norm der Nor-
men“ zu unterwerfen (Ricoeur 1998), die uns Therapeuten anhält, jedem kranken, ge-
störten, leidenden Individuum adäquate Behandlung und Fürsorge zu garantieren, um
sich, nur diesen fachlichen Standards verpflichtet, allen ausgrenzenden, erzieherischen
oder ‚Behandlungserfolg‘ erzwingenden Absichten, d.h. sozialen Normierungen oder ak-
tuellen Ideologien, weitmöglichst zu entziehen. Und dennoch merkt Foucault (1968, 114)
an, Psychologie sei „nur eine dünne Haut über der ethischen Welt, in der der moderne
Mensch seine Wahrheit sucht - und verliert“. Einer Philosophie der Aufklärung entsprun-
gen, ist diese Konzeption zweifelsohne ‚elitär‘: „Ich möchte, dass es eine Erarbeitung
seiner selber durch sich selber sei, eine beflissene Umformung, eine langsame und
langwierige Modifikation durch beständige Sorge um die Wahrheit" (Foucault 1984a,
26)10.
10
Wie problematisch und schwer zu realisieren - zugleich aber auch psychiatriebezogen - diese Denkfigur und Haltung ist, wird an-
hand eines Bildes in der von Matti verfassten Biographie über Foucault ersichtlich: Es zeigt "das verhinderte ethische Subjekt, einen
knapp unter seiner Anstaltsjacke hervorglupschenden Psychiatrisierten" (Gröll 1991, 132).
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Wie ersichtlich, tragen die repressive Struktur und „zynisch" reglementierende Praxis
der Institutionen dazu bei, die therapeutischen Ideale zu destruieren (Sloterdijk 1983,
212) und sind gerade angesichts des Involviertseins von Psychologen in Mechanismen
und Institutionen staatlicher Macht Bescheidenheit und Selbstkritik vonnöten. Sich die-
sem Konfliktfeld dennoch zu stellen, politisiert unausweichlich jede psychologische, jede
psychotherapeutische - und speziell jede forensisch-psychotherapeutische - Berufsaus-
übung. Sie fordert zur Klärung eigener wie fremder Positionen, ggf. zur Neuformulierung
eigenen Selbstverständnisses heraus 11. Denn immerhin gibt jedes infrage stellende En-
gagement das „thematische Bewusstsein" (Berger 1980, 163-179) des sich so zwar im-
plizit und doch zwangsläufig exponierenden Erkenntnisinteresses an12.
Wir fragen uns: »Was interessiert uns an den psychologischen Äußerungen des
Menschen?« - Sieh’s nicht als so selbstverständlich an, dass uns diese Wortreak-
tionen interessieren (Wittgenstein 1946/47, 28, Ziff. 102).
11
vgl. Kobbé (1999)
12
Dahrendorf (1974, 79-80); Lyotard (1984, 41)
Kobbé (1999): Wechselbalg »Psychologie« - 18 / 22-
Anders ausgedrückt, ist diese Analyse und Beschreibung aktueller Systemdynamik we-
sentlich, um dem gesellschaftlich dezentrierten Therapeuten wie dem sozial ausge-
grenzten Patienten einen „Wandel vom dekontextualisierten zum kontextualisierten Ich"
in einer Weise zu ermöglichen, dass er wieder „in das historische soziale, kulturelle und
sprachliche Beziehungsgeflecht" reintegriert wird (Hellerich & White 1992, 10). Folglich
erweisen sich Identifikation und Distanzierung als komplementäre Charakteristika des
analytischen Engagements zwischen Ideologiekritik und kritischer Selbsthinterfragung
und bleibt nachzufragen, in wie weit angewandte Klinische Psychologie und Psychothe-
rapie nicht immer auch - feldabhängig mehr oder weniger - Sozialpsychologie und Politi-
sche Psychologie sind bzw. sein müss(t)en. So formuliert denn auch Vinnai (1993, 9),
seine Arbeit verknüpfe „psychologische Einsichten mit philosophischen, soziologischen
und historischen Befunden“, um „Problembewusstsein zu provozieren und neue Inter-
pretationshinweise aufzuzeigen“.
Wenn sich der Psychologe demzufolge als geschichtliches Subjekt begreift, bedarf auch
Psychologie als Wissenschaft, als Theorie-, Untersuchungs-, Erklärungs-, Verstehens-
und (Be-)Handlungsrahmen, einer historischen Einordnung: Wenn Entstehung und
Etablierung der Wissenschaft Psychologie als Projekt der Moderne im Sinne einer Phi-
losophie der Aufklärung begriffen werden können, so ging mit der Moderne eine Auflö-
sung überlieferter Weltbilder und Problemlösungen einher. Diese Überzeugungen und
Denkmodelle können nunmehr als Erkenntnis- und als Vernunftfragen, als Gerechtig-
keits- und als Geschmacksfragen behandelt werden und zur Ausdifferenzierung unter-
schiedlicher kultureller, vorwissenschaftlicher und wissenschaftlicher Handlungssysteme
führen. Diese werden in Form wissenschaftlicher, moral- und rechtstheoretischer Dis-
kurse als Angelegenheit von Fachleuten institutionalisiert. Hierbei haben sich die institu-
tionalisierte Wissenschaft und die in Rechtssystemen abgespaltene moralisch-prakti-
sche Erörterung soweit von der Lebenspraxis entfernt, dass das Programm der Aufklä-
rung in das der eigenen Aufhebung umschlagen kann.
Bezüglich des Apriori, Psychologie sei ein Projekt der Moderne, geht es also um eine
Anwendung psychologischer Wissenschaft, deren Denken im Dienst undogmatischer,
kritischer Vernunft steht. Diese selbstreflexive Anwendung macht die Bewältigung real
existierender Problemsituationen und gestellter Aufgaben zunächst nicht unbedingt ein-
facher. Sie macht sie dafür aber in der Wahrnehmung direkter und indirekter Resultate
psychologischer Vernunft bzw. der Erzeugung iatrogener Artefakte konkret und erst so
verantwortbar. Ziel wäre demzufolge der interessierte Gebrauch der Vernunft als „An-
schauung und Emanzipation, Einsicht und Befreiung“ aus wissenschaftlichen Dogmen
und politischen Zwängen (Habermas 1973, 256). Dies im Bewusstsein, dass angewand-
te Psychologie und praktizierte Psychotherapie häufig genug den Paradigmen instru-
menteller Vernunft unterliegen und sich i. S. einer - ihr inhärenten - negativen Dialektik
‚umstülpen‘. Just hierdurch verwirklicht sich angewandte Psychologie u. U. als eindi-
mensional-sozialtechnologische Methode bzw. lässt sie sich durch andere Wissenschaf-
ten in diesem Sinne ge- und missbrauchen. Gerade unter diesen Gesichtspunkten ist
aus der Makroperspektive wissenschaftstheoretischer Reflektion die Problematik psy-
chologischer Intervention zu untersuchen und darzulegen. Andererseits aber ist dem
Psychologen gleichzeitig eine Bereitschaft zu - nur individuell verantwortbarem - psy-
chologischem Handeln abzuverlangen, um in der Praxis dennoch handlungsfähig zu
bleiben. Dies bedeutet konkret bspw.,
dass in der forensisch-psychologischen Praxis einerseits die Unmöglichkeit wissen-
schaftlich abgesicherter, replizierbarer, (absolut) sicherer und zeitüberdauernder
Prognosen der Gefährlichkeit, des Behandlungserfolgs usw. zu formulieren ist (Kob-
bé 1998),
dass wir uns andererseits aber dennoch mit allem Vorbehalt der Anstrengung unter-
ziehen müssen, mit dem Risiko der falsch-positiven wie falsch-negativen „overpredic-
tion“ Prognosen zu stellen (Kobbé 1996) und darüber hinaus die vorhandenen Prog-
nosekriterien und -inventare zu verbessern.
Gibt es psychologische Konglomerate; und ist das Erwarten eines? Vielleicht das
Harren, aber nicht das Erwarten (Wittgenstein 1948, 252, Ziff 173).
Folgt man einerseits den zuvor zitierten Angaben Foucaults zur Entstehung der Psycho-
logie und berücksichtigt man andererseits die sozialen Dimensionen psychischer Phä-
nomene, so bezieht sich angewandte Psychologie fast immer nur auf die ‚Oberfläche‘
des Verhaltens und macht sich jeder therapeutisch arbeitende Psychologe immer nur an
den Symptomen zu schaffen: Selbst für die Psychoanalyse formuliert Caruso (1972,
142), diese sei „die Kunst, langsam und nur nach Maß der Möglichkeit das zerrissene
Gewebe der individuell gelebten Geschichte zu flicken. Sie ist eine mühsame Praxis mit
einem alltäglichen konkreten Menschen, der spektakuläre Erfolge in der Regel versagt
bleiben Und so hebt sich das Hoffnungslose in der Psychoanalyse wieder auf; sie ist
nämlich desillusionierende Skepsis, aber gleichzeitig auch eine hartnäckige, fast unsin-
nige Hoffnung darauf, dass der Mensch sich dazu aufrufe, mehr Mensch zu werden“.
Hieraus also wäre eine Ethik zu entwickeln, denn jeder einzelne, konkrete und somit ty-
pische Diskurs ist im Begehren, im Wissen einschließlich Nichtwissen, in den Macht-
Ohnmacht-Qualitäten des Eingreifens immer auf einen anderen bezogen. Aus der sub-
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Dies meint Lacan mit der Zuschreibung, psychoanalytisches Arbeiten könne sich als potentielle Umkehrung des Macht-Diskurses
verwirklichen.
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(eine verwirrende Vielfalt vielleicht) und nicht nur durch gegenseitig sich polarisierende
und zuspitzende begriffliche Gegensatzpaare gekennzeichnet ist".
Eine solche abgrenzende Haltung des Psychotherapeuten ist insb. in Institutionen ( z.B.
der allgemeinen oder forensischen Psychiatrie) immer auch ‚politisch‘, indem es
zwangsläufig generell darum geht, soziale Imperative, gesundheitspolitische Positionen
und fachliche Forderungen einer fortwährenden Prüfung zu unterziehen. Insofern tau-
gen Psychologie und Psychotherapie - wie an anderer Stelle bereits dargelegt (Kobbé
1995) weder als adäquate gesellschaftstherapeutische Interventionsstrategien im politi-
schen Kontext noch legitimiert die Verfügung über sie diesen Anspruch. Als Psychologe
den politischen Wissenschaftsdiskurs in Theorie, Analyse und/oder Praxis zu führen,
setzt dementsprechend eine Be(tr)achtung der irrationalen Positionierung von Ver-
nunft als instrumenteller innerhalb der sozialen, ökonomischen oder politischen Ord-
nung voraus,
geht also als Kritik von einer aufklärerischen Position i.S. Kants aus, „in welcher sich
das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befra-
gen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin" (Foucault 1978, 15),
wirkt in dieser widerständigen Analyse- und Betrachtungsweise der Systeme eher
problemgenerierend denn problemlösend,
verlangt eine differenzierte Kenntnis der historischen, imaginären und symbolischen
Aspekte vermeintlich rein ökonomisch-funktionalistisch determinierter gesellschaftli-
cher Institutionen,
eröffnet bei Einbeziehung psychoanalytischer Modelle Forschungsansätze im sozial-
politischen Raum,
versucht, Lebenspraxen als individual-historisch und gesellschaftlich-historisch de-
terminierte politische Prozesse zu verstehen und das phantasmatische Feld politi-
scher wie historischer Realität auf diese Phantasmen hin zu untersuchen,
bedarf eines ebenso desillusionierten wie verantwortungsbewuáten Widerstreits in-
nerhalb heterogener Wissenschaftsdiskurse,
übernimmt den ‚Traum' vom „Intellektuellen als dem Zerstörer der Evidenzen und
Universalien, der in den Trägheitsmomenten und Zwängen der Gegenwart die
Schwachstellen, Öffnungen und Kraftlinien kenntlich macht" (Foucault 1977, 198) und
kann daher - analog Schneiders Ausführung zur Psychoanalyse (1988, 70) - „wohl
nichts anderes heißen, als sich allen gestellten Konsenszumutungen gegenüber ab-
stinent, also kritisch zu verhalten".
Schlusspunkt
Zutreffend thematisieren Storath und Dillig (1998, 251) den Psychologen als „Hofnarr“
mit der Fragestellung, ob denn nun das System den Psychologen und/oder der Psycho-
loge das System narrt: „Eine Bedrohung des Psychologen als »Hofnarr« mit systemer-
haltenden Strategien kann dann leerlaufen, wenn transparent wird, dass sich das Sys-
tem mit eigenen Waffen schlägt, dass bei parasitärer Nutzung niemandem langfristig
gedient ist.“ Dies muss Psychologen - im Gegensatz zur Psychiatern - als Störer institu-
tioneller Routinen erscheinen lassen und fordert ihnen therapeutische Standhaftigkeit .-
einen ‚aufrechten Gang‘ - und Widerständigkeit gegen die Leere und „spektakelhaft
nachahmende Negativität" des Politischen (Lyotard) ab, und beinhaltet zugleich, ggf.
Kobbé (1999): Wechselbalg »Psychologie« - 22 / 22-
persönliche Unsicherheit wie soziale Distanz zu ertragen. Als zoon politicon habe der In-
tellektuelle - und hat damit auch der konkrete Psychologe - die ihm von der Gesellschaft
gewährten Privilegien, „um sie ständig neu zu riskieren“ (Gottschalch 1984, 84). Dieses
Selbstverständnis markiert in gewisser Weise einen Übergang von Psychologie und
Psychotherapie zu Politik und Ethik, indem die Aufgabe des Psychologen als Wissen-
schaftler wie als Psychotherapeut nicht darin bestehen kann, anderen zu sagen, was sie
zu tun haben, sprich ihre Ansichten zu modellieren, sondern - so Foucault (1984a, 27-
28) - „durch die Analysen, die er in seinen Bereichen anstellt, die Evidenzen und die
Postulate wieder zu befragen, die Gewohnheiten des Handelns und des Denkens aufzu-
rütteln, die eingebürgerten Selbstverständlichkeiten zu sprengen, die Regeln und die In-
stitutionen neu zu vermessen und von dieser Reproblematisierung aus (in der er sein
spezifisches Intellektuellenhandwerk ausübt) an der Bildung eines politischen Willens
teilzunehmen (in welcher er seine Staatsbürgerrolle zu spielen hat)." Diese äußerst am-
bivalente Situation „kostet Anstrengung genug, und wir müssen sie ohne die Gewissheit
des Gelingens auf uns nehmen". Daher müsse man sich - so abschließend Gottschalch
(1984, 95) - die Maxime der Stoiker zu eigen zu machen: «ne spe mec metu» - keine
Hoffnung, keine Furcht ...