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Bürgerlicher Aufstieg und adeliger

Konservatismus

Zur S o z i a l - u n d M e n t a l i t ä t s g e s c h i c h t e einer p r e u ß i s c h e n
F a m i l i e im 19. J a h r h u n d e r t

von Hans- Christ of Kraus

In seinem nicht unumstrittenen Buch .Adelsmacht und Bürgertum' hat


Arno J. Mayer mit großer Vehemenz die These vom Fortbestehen des
Ancien regime und seiner wesentlichen sozialen Strukturen weit über das
18. Jahrhundert hinaus verfochten 1 . Der langsam fortschreitenden Entfeu-
dalisierung zum Trotz habe sich der europäische Adel bis zum Ersten
Weltkrieg seinen Vorrang in allen wichtigen Bereichen des politischen,
sozialen und ökonomischen Lebens sichern und bewahren können. Dage-
gen seien es die aufstrebenden nationalen Bourgeoisien gewesen, „die sich
wohl oder übel der Aristokratie ihres Landes anpassen mußten, ebenso wie
der vorwärtsdrängende Industrie- und Finanzkapitalismus gezwungen
war, sich einer vorindustriell geprägten gesellschaftlichen und politischen
Struktur anzupassen". Die Großbürger, so Mayers Auffassung, erlagen
„den Verlockungen eines aristokratischen und höfischen Lebens, das ihre
gesellschaftliche Realität mit all seinen Formen, Schattierungen und Tra-
ditionen beherrschte und überstrahlte und das sie imitierten und übernah-
men" 2 . Diese These - sie wird neuerdings auch von Francis L. Carsten,
allerdings nur auf Preußen-Deutschland bezogen, vertreten 3 - steht in

1
Arno J. M a y e r , Adelsmacht und Bürgertum - Die Krise der europäischen
Gesellschaft 1848-1914, München 1988 (zuerst erschienen unter dem Titel ,The Persist-
ence of the Old Regime', New York 1981; im folgenden nach der dt. Ausgabe zitiert).
2
Beide Zitate ebd., S. 83, 89; zur Situation in Deutschland vgl. bes. S. 98ff.
3
Vgl. F. L. Carsten, Geschichte der preußischen Junker, Frankfurt am Main
1988, S. 130f.: „ ... weite bürgerliche Kreise ... übernahmen die Ideen des Junkertums -
oder was sie darunter verstanden -, wurden erzkonservativ, suchten Anschluß an die
sozial und gesellschaftlich führende Klasse und wurden .feudalisiert'.... Vor allem die
militärischen Tugenden und Wertvorstellungen der Junker wurden von breiten bürger-
lichen Kreisen übernommen und schon bei der Erziehung als Vorbild hingestellt, wäh-

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deutlichem Widerspruch zu gängigen Deutungen der europäischen Ge-


schichte des 19. Jahrhunderts, die von einer einheitlichen, umfassenden
Modernisierungsbewegung in der Folge der politischen und industriellen
Doppelrevolution ausgehen. Und es ist - dies soll nicht bestritten werden
- trotz mancher Übertreibung und Überspitzung das Verdienst Mayers,
nachdrücklich auf die Tatsache hingewiesen zu haben, daß sich in zentra-
len Bereichen politischer und sozialer Existenz die Überreste alteuropä-
ischer Ordnungsstrukturen wesentlich länger am Leben zu erhalten ver-
mochten, als von der älteren - vielfach noch dem bürgerlich-liberalen
Geist des vorigen Jahrhunderts verpflichteten - Geschichtsschreibung
angenommen.
In diesem Zusammenhang verdient das Phänomen der Übernahme ade-
liger Lebens- und Denkformen durch Sozialaufsteiger aus dem Bürgertum
ein besonderes Interesse. Denn obwohl das Bürgertum seit dem späten
18. Jahrhundert infolge des Auseinandertretens von Staat und Gesell-
schaft 4 - im Zuge revolutionärer Veränderung auf der einen, politisch-so-
zialer Reform auf der anderen Seite - und wegen der darauf folgenden
Freisetzung einer von früheren Zwängen und Ordnungen freien ökonomi-
schen Sphäre an Bedeutung und Einfluß stetig dazugewann, kam es,
jedenfalls in Deutschland, nur sehr langsam zur Entwicklung eines eigen-
ständigen bürgerlichen Selbstverständnisses. Bezogen auf den Bereich
des preußischen Staates hängt dies damit zusammen, daß die Bürger durch
das Allgemeine Landrecht von 17965 in drei Kategorien eingeteilt worden
waren: in die „Eximierten", die eigentlichen Stadtbürger und die „Schutz-
verwandten"6. Die an der Spitze des Bürgertums stehenden „Eximier-

rend alle (sic! H.-C. K.) anderen Werte vernachlässigt wurden. ... Die Junker blieben
ihrer alten Ideologie zum großen Teil treu, und diese wirkte wie ein Magnet auf die
bürgerlichen Schichten".
4
Hierzu immer noch wichtig die Arbeiten von W. C o n z e , Das Spannungsfeld von
Staat und Gesellschaft im Vormärz, in: Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz,
hrsg. von D e m s . (Industrielle Welt, 1), Stuttgart 1962, S. 207-269; E. A n g e r m a n n ,
Das .Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft' im Denken des 18. Jahrhunderts, in:
Zeitschrift für Politik 10, 1963, S. 89-101.
5
Vgl. H. C o n r a d , Die geistigen Grundlagen des Allgemeinen Landrechts für die
preußischen Staaten (Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-West-
falen; Geisteswissenschaften, H. 77), Köln-Opladen 1958.
6
Grundlegend hierzu: R. K o s e l l e c k , Preußen zwischen Reform und Revolution
- Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848 (Indu-
strielle Welt, 7), Stuttgart 2 I975, S. 87ff.

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ten"besaßen besondere Rechte, u.a. waren sie nur den königlichen Ober-
gerichten, nicht den städtischen Gerichten unterworfen, außerdem unter-
lagen sie nicht der militärischen Dienstpflicht7. In dieser Hinsicht war das
eximierte Bürgertum dem Adel rechtlich weitgehend gleichgestellt; vom
mittleren und unteren Bürgertum hob es sich dagegen deutlich ab. Doch
„die Exemption, im 18. Jahrhundert noch ein Vehikel, die bürgerliche
Oberschicht aus den Banden der Ständegesellschaft zu befreien, wirkte
sich im Lauf des Vormärz als eine Fesel der freien Wirtschaftsgesellschaft
aus"8. Denn auf der einen Seite nahm die Zahl der ökonomisch erfolgrei-
chen Bürger rapide zu, auf der anderen Seite sahen die bereits seit dem
späten 18. Jahrhundert ökonomisch und in ihrer sozialen Stellung aufge-
stiegenen Bürger keine Veranlassung, einer Aufweichung ihrer erworbe-
nen Vorrechte durch den Aufstieg zu vieler Neureicher tatenlos zuzuse-
hen. Die Interessengemeinschaft zwischen dem Adel und den meisten
Angehörigen des eximierten Bürgertums wurde zunehmend enger; zudem
lag es durchaus im Interesse der Krone, die in ökonomischer Hinsicht
bedeutendsten dieser Eximierten durch Nobilitierung möglichst fest in die
bestehende soziale und politische Ordnung einzubinden.
Dieser Vorgang, der von größter sozialhistorischer Bedeutung für die
weitere Entwicklung Deutschlands im 19. Jahrhundert gewesen ist, soll
im folgenden am Beispiel des Aufstiegs und der Entwicklung der Familie
Nathusius vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert dargestellt und
illustriert werden. Schon Walter Görlitz hat vor Jahren mit Recht darauf
hingewiesen, daß gerade diese Familie „ein vorzügliches Beispiel für das
in den Grundbesitz und den Adel übergehende und sich verhältnismäßig
rasch feudalisierende Fabrikantentum des frühen 19. Jahrhunderts"9 bil-
det. Die Geschichte der Familie Nathusius, die vom aufgeklärt-liberalen,
sich aus kleinsten Verhältnissen emporarbeitenden, bürgerstolzen Johann
Gottlob Nathusius über seine geadelten, romantisch-konservativen Nei-
gungen nachhängenden Söhne bis zu den Enkeln reicht, die - adelsstolzer
und konservativer als die ostelbischen Junker - dem Bismarckstaat noch
von rechts her opponieren, - diese Geschichte also scheint auf den ersten
Blick die umstrittenen Thesen Mayers und Carstens voll und ganz zu
bestätigen. Und doch tut sie es wiederum nicht: und zwar nicht nur, weil

7
Vgl. ebd., S. 89f., 94f.
8
Ebd., S. 93.
9
W. G ö r l i t z , Die Junker - Adel und Bauer im deutschen Osten, Limburg a.d.
Lahn 3 1964, S. 220.

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das Individuelle und Konkrete niemals vollständig und bruchlos unter das
Allgemeine subsumiert werden kann. Denn die Entwicklung dieser Fami-
lie10 enthält, besonders seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, so viele
ungewöhnliche, in keiner Weise repräsentative Züge, daß sie zur Unter-
mauerung bestimmter Thesen, wenn überhaupt, nur in sehr begrenztem
Maße taugt. Aber vielleicht macht gerade das ihren Reiz aus. Sozial- und
mentalitätsgeschichtlich aufschlußreich ist sie ohne Zweifel allemal.

Der Stammvater des im folgenden zu betrachtenden Zweiges der Fami-


lie war Johann Gottlob Nathusius (1760-1835) 11 , der als einer der bedeu-
tendsten Industriepioniere seiner Zeit den Grund für den Reichtum und
damit für den sozialen Aufstieg der Familie legte. Er stammte aus ärmli-
chen Verhältnissen. Geboren im damals noch kursächsischen Städtchen
Baruth als Sohn eines Akziseeinnehmers, konnte ihm sein sehnlichster
Wunsch, ein Studium zu absolvieren, nicht erfüllt werden; er wurde als
Vierzehnjähriger nach Berlin geschickt, wo er in einem Handelshaus eine
sechsjährige, überaus harte Lehrzeit zu bestehen hatte12. Trotz gesundheit-
licher Schäden, die er davontrug, konnte er sich zäh behaupten; ein
geradezu unbändiger Ehrgeiz trieb ihn zu intensiver Selbstbildung. Gott-
scheds deutsche Sprachlehre und Gellerts Schriften standen am Anfang;
im Selbststudium brachte er sich die Grundzüge der Handelskorrespon-
denz, die doppelte Buchhaltung und die „kaufmännische Rechenkunst"
bei. „Aber", so erinnert er sich, „ich blieb dabei nicht stehen, ich studierte

10
Für die Stammfolge vgl.: Genealogisches Handbuch des Adels, Bd. 57 (= Adelige
Häuser B, Bd. XI), Hauptbearb. W. v. H u e c k , Limburg a.d. Lahn 1974, S. 308-323.
11
Über ihn siehe L e i s e w i t z : Art. Gottlob Nathusius, in: Allgemeine Deutsche
Biographie, Bd. XXIII, S. 271-276; E. v. N a t h u s i u s , Johann Gottlob Nathusius - Ein
Pionier deutscher Industrie, Stuttgart - Berlin 1915 (grundlegend); M. P a h n c k e ,
Johann Gottlob Nathusius, in: Mitteldeutsche Lebensbilder, Bd. II, Magdeburg 1927, S.
60-81.
12
Die schweren Mißhandlungen, die er zu erdulden hatte, schildert Nathusius
anschaulich in seinen für seine Kinder angefertigten autobiographischen Aufzeichnun-
gen, die in der Biographie von E. v. N a t h u s i u s verwertet sind. Zusammenfassend
resümiert er (ebd., S. 27): „Von der schlechten Kost und Anstrengung während meiner
Lehrjahre bin ich indessen immer klein und schwächlich geblieben, während meine
Brüder alle außergewöhnlich große Menschen waren. Ich bin der einzige kleine unter
ihnen".

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alle Wechselrechte und selbst die Staatswissenschaft oder Nationalökono-


mie, ich las Büschs Schriften und lernte Adam Smith ,Über den National -
reichtum' fast auswendig"13. Auch mit chemischen Versuchen beschäftig-
te er sich sehr früh. Nach Beendigung der Lehrzeit blieb er noch vier Jahre
in der Handlung seines Berliner Prinzipals, trat aber 1784 eine Stelle als
Buchhalter und Handelskorrespondent in einer Magdeburger Firma an.
Als sein Brotherr bald darauf plötzlich starb, gelang es dem jungen
Buchhalter, die Finanzen des ökonomisch angeschlagenen Betriebes zu
sanieren und die Firma dadurch der Familie zu erhalten - was sich nicht
zuletzt auch für ihn selbst finanziell auszahlte14.
Als Friedrich Wilhelm II. im Jahre 1787 das staatliche Tabakmonopol
aufhob, ergriff der junge Kaufmann seine Chance: schon einen Tag später
gründete er eine eigene Tabakfabrik. Mit Hilfe seiner chemischen Kennt-
nisse gelang ihm die Herstellung eines neuen, milden und überaus erfolg-
reichen Tabaks; gleich im ersten Jahr vermochte er 60 Arbeiter einzustel-
len. Der große Druchbruch gelang ihm 1792: in Hamburg konnte Nathu-
sius eine große Ladung durch Wasserschaden vorgeblich verdorbenen
Tabaks zu einem Spottpreis aufkaufen. Diese Spekulation brachte ihm
innerhalb kürzester Zeit 30.000 Taler Gewinn ein, die zur sicheren Grund-
lage eines späteren Millionen Vermögens wurden15. Doch ein Hindernis
hatte er noch zu überstehen: 1796 führte man das Tabakmonopol in
Preußen wieder ein, und Nathusius blieb nichts anderes übrig, als das
Angebot, Generaldirektor der staatlichen Tabakfabriken zu werden, anzu-
nehmen, allerdings sah er voraus, „daß die Sache doch nicht von Bestand
sein würde" 16 . Schon knapp zwei Jahre später konnte er den von ihm
aufgebauten Betrieb wieder in eigener Regie übernehmen. Zielstrebig
baute er nun die Firma aus: 1801 beschäftigte er schon 300 Arbeiter. Der
Krieg von 1806 traf ihn zuerst hart. Inzwischen zum reichsten Bürger
Magdeburgs aufgestiegen, hatte er auch den bei weitem größten Anteil an
den von Napoleon auferlegten Kriegskontributionen zu leisten. Als Mag-
deburg dem neuen Königreich Westfalen einverleibt wurde, plante er erst
eine Übersiedelung nach Berlin, dann jedoch blieb er in Magdeburg, und

13
E. v. N a t h u s i u s (wie Anm. 11), S. 31.
14
Vgl. ebd., S. 44ff.
13
Vgl. ebd., S. 59ff.; zur Geschichte der von Nathusius begründeten Magdeburger
Tabakfabrik, die sich bis 1950 im Familienbesitz befand, siehe auch: M. N a t h u s i u s ,
Die .Magdeburger Linie' der Familie Nathusius, o.O. 1985, S. 93-102.
16
E. v. N a t h u s i u s (wie Anm. 11), S. 83.

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es gelang ihm mit einigen anderen führenden Kaufleuten der Stadt, die
maroden Finanzen durch die Gründung einer neuen, von der westfälischen
Regierung garantierten Bank zu konsolidieren. Die neuen Staatsformen
waren Nathusius „sympathisch und entsprachen seinen längst gehegten
politischen Idealen. Er schätzte sie um so höher, da er sie mit dem alten,
schleppenden preußischen Zopfregiment verglich, und er teilte diese Vor-
liebe mit vielen seiner Zeitgenossen"17. 1808 wurde er gar Abgeordneter
für das „Elbdepartement" im Reichstag zu Kassel, und mit der neuen
Regierung kam er ebenfalls schnell ins Geschäft 18 .
Die Jahre der napoleonischen Herrschaft brachten nicht nur politische,
sondern auch entscheidende ökonomische Veränderungen für Nathusius
mit sich. Wie mancher andere Großindustrielle seiner Zeit begann er mit
dem Erwerb von Grund und Boden; dies brachte „zusätzliches Sozialpre-
stige ein und bildete außerdem eine Rückversicherung gegen wirtschaft-
liche Krisen" und war schließlich auch „ein Mittel der Kapitalstreuung"19.
1810 erwarb er das in der Umgegend Magdeburgs liegende ehemalige
Klostergut Althaldensieben, ein Jahr später das benachbarte Schloß Hun-
disburg, beides mit umfassendem Grundbesitz, den er in späteren Jahren
noch arrondieren konnte20. Hier vermochte sich sein Tatendrang in neuer
Sphäre zu entfalten: nachdem er die arg heruntergekommene Land- und
Forstwirtschaft wieder auf die Beine gebracht hatte, begann er - nur durch
die Zeit der Befreiungskriege unterbrochen - mit dem ökonomischen
Ausbau der Güter. Gärtnereien, Obstplantagen, Baumschulen wurden
angelegt; schon 1813 begann Nathusius, als einer der ersten in Deutsch-
land, mit der fabrikmäßigen Herstellung von Rübenzucker. Ein Steinbruch
wurde in Betrieb genommen, es folgte der Auf- und Ausbau einer Ziegelei,
einer Töpferei und einer Gipsbrennerei und Gipsmühle, mit der sogleich
eine Walkmühle verbunden wurde21. Er richtete ein chemisches Labora-
torium ein und plante gar die Errichtung einer chemischen Fabrik, die er
dann doch - aufgrund des damaligen Standes der Technik - nicht verwirk-
lichen konnte. Andere Rückschläge wogen schwerer: sein Versuch, die
erste Maschinenfabrik mit Hilfe aus England angeworbener Arbeiter auf-
zubauen, schlug fehl: der von ihm eingesetzte Spezialist erwies sich als

17
Ebd., S. 107.
18
Vgl. ebd., S. 108ff.
19
M a y e r (wie Anm. 1), S. 91.
20
Vgl. E. v. N a t h u s i u s (wie Anm. 11), S. 151ff„ 165ff.
21
Vgl. ebd., S. 169ff.

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Betrüger, und Nathusius hatte eine Fehlinvestition von 100.000 Talern zu


verbuchen22. Doch es gelang ihm bald, diesen Verlust durch den Ausbau
anderer Geschäftszweige - vor allem durch eine überaus erfolgreiche
Steingut- und Porzellanfabrikation23 - wieder wettzumachen. Hinzu kam
die Herstellung von Obstweinen, eine Käsefabrik, eine Nudelfabrik, Öl-
mühlen mit Ölraffinerien sowie eine Brauerei24. Nathusius blieb als Kauf-
mann überaus erfolgreich, und fast muß man sagen, daß er ein wenig zu
schnell auf alles Neue im Bereich der technischen Entwicklung reagierte.
Mit Recht ist bemerkt worden, daß ihm seine „ungeduldige Vielseitigkeit
... geradezu ein Hindernis" gewesen ist, „auf den beiden Hauptgebieten
naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts, dem der Chemie und der
Maschinentechnik, mit der großartigen Einseitigkeit eines Bessemer,
Krupp, Siemens, Borsig u.a. ein ganzes Leben lang einer einzelnen epo-
chemachenden Erfindung nachzugehen und zum Siege zu verhelfen. Be-
stand doch seine Größe eben nicht in der Einseitigkeit, sondern in der
Vielseitigkeit"25.
In seiner persönlichen Einstellung wie in seiner politischen Überzeu-
gung blieb Johann Gottlob Nathusius sein Leben lang ein typischer Sohn
des aufgeklärten Zeitalters. Obwohl keineswegs areligiös, fand er zur
Kirche kein Verhältnis. In seiner Jugend hatte er sich für die französische
Revolution begeistert, und an die Jahre des Königreichs Westfalen hat er
sich - zum Ärger seiner patriotisch gesinnten Nachkommen - stets gerne
erinnert. Er war ein Bürger und wollte es auch sein; adelige Vorrechte
lehnte er strikt ab. Die Annahme von Orden verweigerte er aus Stolz - bis
auf zwei: das Eiserne Kreuz am weißen Bande (für zivile Verdienste
während der Befreiungskriege) und den Roten Adlerorden dritte Klasse.
In der Reformzeit war er häufig als Berater der preußischen Regierung
tätig - das empfand er als seine patriotische Pflicht und lehnte jeden ihm
daraus erwachsenden Vorteil ab; nicht einmal den Geheimratstitel nahm
er an. Als man ihm 1817 unter der Hand den Adel anbot, lehnte er sofort
ab26. Dagegen mahnte er immer wieder die angekündigte und versproche-
ne Einführung einer ständischen Verfassung an; schmerzlich entbehrte er
„das Recht, sich am öffentlichen Leben wie damals in Kassel zu beteili-

22
Vgl. ebd., S. 21 Iff.
23
Vgl. ebd., S. 290ff.
24
Vgl. die Aufstellung ebd., S. 223f.
25
P a h n c k e (wie Anm. 11), S. 73.
26
Vgl. E. v. N a t h u s i u s (wie Anm. 11), S. 70f„ 74ff., 81, 87f., 199ff.

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gen" 27 . Zudem erbitterte ihn ein verlorener Prozeß gegen die preußische
Regierung. 1814 hatte er - noch nach westfälischem Recht - ein ehemals
dem Prinzen Louis Ferdinand gehörendes Gut erworben, das er 1818 auf
Gerichtsbeschluß (allerdings gegen angemessene Entschädigung) wieder
herausgeben mußte. Als man Anstalten machte, ihm auch noch Hundis-
burg abzunehmen, beschwerte er sich in Berlin laut und öffentlich. Er
suchte Hardenberg persönlich auf und erklärte ihm unmißverständlich,
„daß, wenn man so weiter verfahren wolle, eine allgemeine Unsicherheit
des Eigentums eintreten und der Mißmut der ruhigen und wohlhabenden
Bürger erweckt würde"28. Die Regierung, die kein Interesse daran haben
konnte, den wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes nach den Jahren
der Not und des Krieges zu gefährden, gab nach: das übrige, in westfäli-
scher Zeit erworbene Grundeigentum blieb unangetastet, und Nathusius
gewann den Prozeß um Hundisburg. In seinen Fabriken und auf seinen
Gütern war er bis ins Alter rastlos tätig und konnte noch manchen Erfolg
verbuchen. Auch an den politischen Entwicklungen nahm er weiterhin mit
größtem Interesse Anteil. „Die französische Revolution 1830", so wird
überliefert, „regte ihn sehr auf, seine Hoffnungen gingen fortdauernd auf
ein konstitutionelles Regiment" 29 , - doch sie sollten nicht in Erfüllung
gehen. Zwar ließ er sich 1827 in den sächsischen Provinziallandtag wäh-
len, wandte sich aber bald von dieser mit nur sehr mangelhaften Befug-
nissen ausgestatteten Institution enttäuscht wieder ab 30 . Er starb im Jahre
1835.

II

Johann Gottlob Nathusius hatte sich erst als älterer Mann zur Ehe
entschließen können: 1819 heiratete er Luise Engelhard, die Tochter eines
hohen Beamten aus Kassel und Enkelin des bedeutenden Göttinger Histo-
rikers Johann Christoph Gatterer. Nathusius und seine Ehefrau hatten acht

27
Ebd., S. 2101.
28
Ebd., S. 205.
29
Ebd., S. 241.
30
Vgl. ebd., S. 240; über die preußischen Provinziallandtage vgl. vor allem
H. O b e n a u s , Anfänge des Parlamentarismus in Preußen bis 1848, Düsseldorf 1984, S.
156ff„ 21 Iff., 449ff.; K o s e l l e c k (wie Anm. 6), S. 337ff.; A. A r n d t , Der Anteil der
Stände an der Gesetzgebung in Preußen von 1823-1848, in: Archiv für öffentliches
Recht 17, 1902, S. 570-588.

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Kinder, sechs Söhne und zwei Töchter. Ihr zweiter Sohn, der hochbegabte
Gottlob, der es gegen den erbitterten Willen seines Vaters erreicht hatte,
studieren zu dürfen, starb schon im Alter von zwanzig Jahren32. Die
anderen Söhne beugten sich den Wünschen des Vaters und übernahmen
zum Teil schon zu dessen Lebzeiten - trotz ihres sehr jugendlichen Alters
- die Leitung einzelner Betriebe und Güter. Der vierte Sohn August
(1818-1884) erbte das Gut Meyendorf und hat dort sein Leben als Guts-
herr und Landwirt verbracht. Im Gegensatz zu seinen - gleich ausführli-
cher zu behandelnden - übrigen vier Brüdern ist er nicht weiter hervorge-
treten. Dagegen bieten Hermann, Heinrich, Wilhelm und vor allem Philipp
von Nathusius überaus anschauliche Beispiele für das um die Mitte des
19. Jahrhunderts durchaus nicht seltene Phänomen der „konservativen
Söhne liberaler Väter" 33 . Es war dem alten Johann Gottlob Nathusius nicht
mehr gelungen - wohl nicht zuletzt infolge des großen Altersunterschie-
des - ein wirkliches Vertrauensverhältnis zu seinen Kindern zu gewinnen.
„Seine beständigen Ermahnungen zu Fleiß und Tugend verschüchterten
sie" 34 , bemerkt die Biographin. Als der Vater feststellte, daß seine Kinder
die Grimmschen Märchen lasen, nahm er sie ihnen weg, denn „seiner
Ansicht nach waren sie nur dazu angetan, der Kinder Wahrheitssinn zu
zerstören und die Phantasie zu beeinflussen". Ähnlich hielten es der alte
Aufklärer und auch seine Frau mit der Religion, „für die alle seine Kinder
von Natur aus eine besondere Empfänglichkeit hatten. Kühler Rationalis-
mus, verständiges Gottvertrauen war alles, was beide Eltern ihnen zu
geben hatten. Etwas anderes schien ihnen gefährlich und eine Versuchung
zu Heuchelei und Schwärmerei"35. Um so überraschender erscheint es,
daß der alte Nathusius ausgerechnet einen jungen Theologen - der dazu
noch ein Schüler Schleiermachers war - zum Lehrer seiner Söhne machte:
Julius Elster, der trotz seiner ganz anders gearteten Geistesrichtung ein
treuer Freund seines Dienstherrn wurde und einen bestimmenden Einfluß
auf die nächste Generation der Familie ausübte36.

31
Vgl. E. v. N a t h u s i u s (wie Anm. 11), S. 126ff., 139ff.
32
Vgl. ebd., S. 256f.
33
G ö r l i t z (wie Anm. 9), S. 251.
34
E. v. N a t h u s i u s (wie Anm. 11), S. 247.
35
Ebd.
36
Vgl. ebd., S. 225f.; P a h n c k e (wie Anm. 11), S. 78.

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Hermann von Nathusius (1809-1879) 37 , der älteste Sohn, hatte als


erster den ihm vom Vater bestimmten Lebensberuf anzutreten: nach einem
zweijährigen Studium der Naturwissenschaften in Berlin (wo er u.a. Schü-
ler des berühmten Physiologen Johannes Müller war) übernahm er gerade
zwanzigjährig die Leitung des Gutes Hundisburg38 und nach dem Tode
seines Vaters auch für kurze Zeit die Gesamtleitung der Familiengüter und
-betriebe. Auf dem Lande aufgewachsen und in besonderer Weise an
landwirtschaftlichen und zoologischen Fragen interessiert, gelang es ihm
offenbar zeitlebens vorzüglich, Pflichten und Neigungen miteinander zu
verbinden. Besonders intensiv und mit großem Erfolg widmete er sich der
Pferde-, aber auch der Haus- und Nutztierzucht. Er führte neue Nutzpflan-
zen ein und suchte auf jede Weise die Landwirtschaft der Provinz Sachsen
zu fördern. Intensiv beteiligte er sich am Aufbau des landwirtschaftlichen
Vereinswesens, er gehörte zu den Mitbegründern der deutschen Acker-
baugesellschaft und wirkte an maßgeblicher Stelle mit bei der Gründung
eines landwirtschaftlichen Instituts an der Universität Halle. Er übernahm
nicht nur die Direktion des sächsischen landwirtschaftlichen Zentralver-
eins, sondern auch das Präsidium des königlich preußischen Landesöko-
nomiekollegiums. 1869 wurde er vortragender Rat im Landwirtschaftsmi-
nisterium, wo er sich insbesondere um den Ausbau der Lehre bemühte. Er
zählte zu den Mitbegründern der seit 1872 erscheinenden ('Landwirth-
schaftlichen Jahrbücher') und hat noch selbst Lehrvorträge über Tierzucht
gehalten. Daneben hat er die eigene wissenschaftliche Tätigkeit nicht
vernachlässigt. Umfangreiche Sammlungen von zoologischem Anschau-
ungsmaterial - die weithin berühmte Tierschädelsammlung vermachte er
dem Berliner Landwirtschaftlichen Museum - dienten ihm als Grundlage
einer Fülle von Einzelveröffentlichungen zu zoologischen Fragen. Er galt
als bedeutender Gegner Darwins, mit dem er gleichwohl korrespondierte.
Der empirischen Forschung verpflichtet und zugleich „dem Geiste des
positiven Christenthums getreu war Nathusius ein Feind aller hypothe-
tisch ausgesponnenen Reflexionen und trug eine religiöse Scheu gegen die

37
Über ihn vgl. W. v. N a t h u s i u s , Hermann von Nathusius - Rückerinnerungen
aus seinem Leben, in: Landwirthschaftliche Jahrbücher 9, 1880, S. 1-25; L e i s e w i t z :
Art. Hermann von Nathusius, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. XXIII, S.
277-283.
38
Vgl. E. v. N a t h u s i u s (wie Anm. 11), S. 252.

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Bürgerlicher Aufstieg und adeliger Konservatismus 201

aus Darwin's Lehren resultierenden Umwälzungen in den Weltanschau-


ungen" 39 .
Was Lebenstüchtigkeit und Tatkraft anbetrifft, waren Hermann von
Nathusius und seine Brüder echte Söhne ihres Vaters - nicht jedoch in den
Fragen des Standesbewußtseins und der politischen Gesinnung. Ganz im
Gegensatz zu seinem bürgerstolzen Vater scheint Hermann von Nathusius
den Adel bewundert zu haben, jedenfalls „suchte und fand er einen
zusagenden geselligen Verkehr in den Kreisen der Ritterschaft des Neu-
haldenslebener Distriktes"40. Insbesondere mit den Grafen von Alvensle-
ben freundete er sich an und vertrat, wie sein Biograph mitteilt, „die
ritterschaftlichen Principien mit großer Consequenz auf allen Gebieten
des öffentlichen Lebens ..., sowie er sich als ein Feind aller politischer
Kannegießerei, als treuer Anhänger royalistischer Gesinnungen offen
bekannte und dem Autoritätsprincip im besten Sinne zugethan war" 41 .
Sein Einsatz wurde ihm bald gelohnt: die Magdeburger Ritterschaft wähl-
te ihn zum Mitglied der sächsischen Provinzialstände, die er als Angehö-
riger der Huldigungsdelegtion anläßlich des Regierungsantritts Friedrich
Wilhelms IV. im Jahre 1840 vertrat; der neue Monarch erhob ihn bei dieser
Gelegenheit in den Adelsstand. Sein - nach Mitteilung des Bruders -
„eigenstes politisches Prinzip: Anerkennung der gegebenen Autorität und
pflichtmäßiges Handeln in dem speziellen Berufskreise" 42 , befolgte er
auch als Mitglied des Ersten und des Zweiten Vereinigten Landtages
(1847/48); er beteiligte sich allerdings nicht an den Verhandlungen, weil
er weder die von oben verordneten Veränderungen gutheißen noch der
Politik des hochverehrten königlichen Herrn offen opponieren wollte.
Dagegen versuchte er nach dem Ausbruch der Märzrevolution - ähnlich
wie andere Junker, etwa Adolf von Thadden-Trieglaff oder Otto von
Bismarck-Schönhausen43 - auf dem Lande die Gegenrevolution auf den

39
L e i s e w i t z (wie Anm. 37), S. 281. Offenbar ist es Hermann von Nathusius
gelungen, sich in manchen Detailfragen „als Gegner Darwin's zu behaupten und manche
von übereifrigen Anhängern des Letzteren vorgebrachte Beweise als Irrthümer zu
entkräften" (ebd.). Vgl. hierzu auch W. v. N a t h u s i u s (wie Anm. 37), S. 20ff.
40
L e i s e w i t z (wie Anm. 37), S. 278.
41
Ebd.
42
W. v. N a t h u s i u s (wie Anm. 37), S. 9f.
43
Vgl. Ernst Ludwig von Gerlach, Aufzeichnungen aus seinem Leben und Wirken,
hrsg. von J. v. G e r l a c h , Schwerin 1903, Bd. I, S. 517; M. L e n z , Bismarcks Plan einer
Gegenrevolution im März 1848 (Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wis-
senschaften, Phil.-Hist. Klasse 1930, 14), Berlin 1930; E. M a r e k s , Bismarck und die

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202 Hans-Christof Kraus

Weg zu bringen. Sein Bruder erinnerte sich: „Ein ganz enger Kreis von
Männern zu welchen Nathusius gehörte, von den wirklichen Hergängen
in Berlin aus bester Quelle schon unterrichtet, während noch das ganze
Land durch die lügenhaften Berichte der Zeitungen, die ja größtentheils
durch die kleine Verschwörer-Bande terrorisiert wurden, wie in dumpfer
Erstarrung war, traf schnell Vorbereitungen, um alle königstreuen Ele-
mente, namentlich der Landbevölkerung zum Schutze des Königs gegen
den Berliner Pöbel aufzurufen" 44 . Wiewohl diese Aktion scheiterte, betei-
ligte er sich doch „mit größtem persönlichen Einfluß bei den Wahlen und
bei Begründung einer konservativen Provinzialzeitung"45. 1851 ließ er
sich noch einmal in den wiedererrichteten Provinziallandtag wählen,
„aber die ganze parlamentarische Entwicklung unserer öffentlichen Zu-
stände blieb ihm eine durchaus unsympathische, von welcher er sich
innerlich abwendete"46. Seiner politischen Gesinnung blieb er bis zu
seinem Tode im Jahre 1879 treu.
Dies läßt sich auch von seinem Bruder Wilhelm von Nathusius (1821-
1899) sagen, der neben den politischen Überzeugungen auch die naturwis-
senschaftlichen Neigungen seines Bruders teilte47. Wilhelm hatte 1843
Königsborn übernommen, eines der von seinem Vater erst in späteren
Jahren erworbenen Güter. Von 1852 bis 1878 war er Mitglied des Landes-
ökonomiekollegiums und seit 1869, als Nachfolger seines Bruders Her-
mann, Direktor des Landwirtschaftlichen Zentralvereins der Provinz
Sachsen. Auch er war im Nebenberuf wissenschaftlich tätig und veröffent-
lichte einige Schriften über zoologische Fragen und Themen der Landwirt-
schaft. 1861 wurde er - zusammen mit seinen Brüdern Philipp, August
und Heinrich - von König Wilhelm I. anläßlich seiner Krönung in Königs-
berg geadelt. Ihn zog es in stärkerem Maße als seine Brüder in die Politik:
1855 ließ er sich ins Abgeordnetenhaus wählen und gehörte hier, als

deutsche Revolution 1848-1851, hrsg. von W. A n d r e a s , Stuttgart- Berlin 1939, S.


22ff.; G. A. R e i n , Bismarcks gegenrevolutionäre Aktion in den Märztagen 1848, in:
Die Welt als Geschichte 13, 1953, S. 246-262.
44
W. v. N a t h u s i u s (wie Anm. 37), S. 9.
45
Ebd.; zum Zusammenhang der antirevolutionär-konservativen Bewegung in
Preußen vgl. E. J o r d a n , Die Entstehung der konservativen Partei und die preußischen
Agrarverhältnisse von 1848, München - Leipzig 1914, sowie neuerdings die gründliche
Studie von W. S c h w e n t k e r , Konservative Vereine und Revolution in Preußen 1848/49
- Die Konstituierung des Konservatismus als Partei (Beiträge zur Geschichte des
Parlamentarismus und. der politischen Parteien, 85), Düsseldorf 1988.
46
W. v. N a t h u s i u s (wie Anm. 37), S. 9.
47
Vgl. ebd., S. lf.

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Bürgerlicher Aufstieg und adeliger Konservatismus 203

Mitglied der Fraktion Gerlach, der äußersten Rechten an, die keineswegs
in Treue fest zum Monarchen stand, sondern der Regierung Manteuffel
von rechts her opponierte. Nach der verheerenden Wahlniederlage der
Konservativen im Jahre 1858 verlor er sein Mandat. Schon früher war er
auch auf anderer Ebene aktiv geworden. Um der linksliberalen „Magde-
burgischen Zeitung" 48 , die ihn und seine Brüder mehrmals scharf attak-
kiert hatte, ein konservatives Organ entgegenzustellen, beteiligte er sich
maßgeblich (und vermutlich auch in finanzieller Hinsicht) an der Grün-
dung des „Magdeburger (Korrespondenten" Ende 184849. Noch in späterer
Zeit blieb er publizistisch aktiv: Anfang 1872, als seine Familie zu den
kompromißlosen Gegnern der Regierung Bismarck zählte, erregte er Auf-
sehen „wegen eines sarkastischen Artikels ... über den verfassungsmäßig
monarchischen und christlichen Charakter des preußischen Staates"50 in
der „Kreuzzeitung", was dem Blatt eine heftige Rüge des erzürnten
Reichskanzlers zuzog. Auch Wilhelm von Nathusius blieb bis zu seinem
Tode (er überlebte alle seine Brüder) seinen politischen Überzeugungen
treu, die von denen seines Vaters ebenso weit entfernt waren wie sie denen
seiner Brüder entsprachen.
Werner Conze hat einmal mit Recht die Tatsache hervorgehoben, daß
die ländlich-patriarchalische Herrschaftsordnung während der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts noch weitgehend intakt gewesen ist51. Hein-
rich von Nathusius (1824-1890) hat den Typus des ländlichen, adelsstol-
zen, aber auch sich seiner Verantwortung bewußten Patriarchen vielleicht
noch überzeugender als seine Brüder verkörpert52. 1849 übernahm er den
Hauptsitz der Familie, Althaldensleben, von seinem Bruder Philipp und

48
Vgl. den anschaulichen Beitrag von F. F a b e r , Magdeburgische Zeitung (1664-
1945), in: H.-D. F i s c h e r (Hrsg.), Deutsche Zeitungen des 17. bis 20. Jahrhunderts
(Publizistisch-historische Beiträge, 2), München - Pullach 1972, S. 57-73.
49
Vgl. E. B o c k , Die Konservativen in der Provinz Sachsen und die soziale Frage
in den Jahren 1848 bis 1870, in: Sachsen und Anhalt. Jahrbuch der Historichen Kom-
mission für die Provinz Sachsen und Anhalt 8, 1932, S. 351 f.
50
H. v. P o s c h i n g e r , Fürst Bismarck und die Parlamentarier, Bde. I—III, Breslau
1894-1896; hier Bd. III, S. 264.
51
C o n z e (wie Anm. 4), S. 219: „Die nur personal zu verstehende, religiös-politi-
sche Herrschaftspyramide einer durchgehenden patria potestas von Gott über den Für-
sten und die adligen oder bürgerlichen Hoheitsträger bis hin zu den Häusern der
bürgerlichen und bäuerlichen Familien war noch überall im Bewußtsein und in der
Realität lebendig".
52
Vgl. über ihn: W. v. N a t h u s i u s , Heinrich von Nathusius - Ein Lebensbild, in:
Landwirthschaftliche Jahrbücher 20, 1891, S. 237-260.

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204 Hans-Christof Kraus

führte dort mit seiner Frau und seinen schließlich zwölf Kindern (die neun
Söhne erhielten Namen der Apostel) das typische Leben eines adeligen
Grundherrn, obwohl er selbst erst 1861 geadelt wurde. Seine Nichte, die
spätere Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Gabriele Reuter, hat überaus
anschauliche und lebendige Schilderungen des Landlebens auf Althai-
densleben überliefert 53 . Ihren Onkel schildert sie als eine „feine, etwas
sensitive Natur, die eigentlich für den Beruf eines Landwirts viel zu
geistig gerichtet war" 54 . Wie seine Brüder befolgte auch Heinrich von
Nathusius die Regeln und Gebote strengster Religiosität; „die Heiligung
des Sonntags wurde bei den Feldarbeiten seiner Wirthschaft, auch wo sie
Opfer erforderte, durchgeführt" 55 . Trotzdem war er ein außerordentlich
erfolgreicher Landwirt, der im Kreise seiner Berufsgenossen höchstes
Ansehen genoß. Wie sein Bruder Hermann war auch er im landwirtschaft-
lichen Vereinswesen in führenden Positionen tätig 56 . Seine eigentliche
Leidenschaft galt der Tierzucht, in besonderer Weise der Pferdezucht 57 .
Auf diesem Gebiet wurde er international bekannt, wohl nicht zuletzt
wegen der drei Bücher, die er dem Thema gewidmet hat 58 .
Obwohl ihm die Politik offenbar wenig zusagte und, so die Worte seines
Bruders, „der parte/-politische Gesichtspunkt ihm überhaupt kein sympa-
thischer" 59 gewesen ist, wurde er 1854, mit knapp dreißig Jahren, in den
sächsischen Provinziallandtag entsandt, und noch im selben Jahr wählte
ihn die Ritterschaft seines heimatlichen Kreises zum Landrat. Zweifellos
bedeutete diese Wahl einen besonderen Vertrauensbeweis für einen ver-
gleichsweise jungen und damals noch nicht in den Adelsstand erhobenen
Grundbesitzer. Er übte das Amt bis 1863 aus 60 . Trotz aller Abneigung
gegen das Parteiwesen war Heinrich von Nathusius, wenn es um eine
Stellungnahme zu den bewegenden Zeitfragen ging, wie seine Brüder von
Grund auf und ohne Einschränkung konservativ: „Stellen wir den Gegen-
satz: Autorität gegen Majorität, so stand er (Heinrich von Nathusius,
H.-C.K.) entschieden für erstere ein; vielleicht war ihm gerade deshalb

53
Vgl. G. Reuter, Vom Kinde zum Menschen - Die Geschichte meiner Jugend,
Berlin 1921, S. 159ff., 173ff., 204f., 363ff.
54
Ebd., S. 364.
55
W. v. N a t h u s i u s (wie Anm. 52), S. 258; vgl. Reuter (wie Anm. 53), S. 163f.
56
Vgl. W. v. N a t h u s i u s (wie Anm. 52), S. 253ff.
57
Vgl. ebd., S. 244ff.
38
Vgl. ebd., S. 250.
59
Ebd., S. 255.
60
Vgl. ebd., S. 239f„ 243.

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Bürgerlicher Aufstieg und adeliger Konservatismus 205

der Mechanismus des Parteiwesens zuwider" 61 . Während der Zeit des


Verfassungskonflikts in Preußen stand er kompromißlos auf Seiten des
Königs und seiner Regierung. Als sich Anfang der sechziger Jahre ein
konservativer Provinzialverein in Sachsen bildete, übernahm er den stell-
vertretenden Vorsitz und beteiligte sich auch „durch Abfassung von für
weitere Kreise berechneten Flugschriften... lebhaft an den Wahlbewegun-
gen", wie sein Bruder zu berichten weiß 62 . Allerdings muß ebenfalls
festgehalten werden, daß er an veralteten und eindeutig überholten Insti-
tutionen keineswegs in reaktionärer Unbelehrbarkeit festhielt. 1871 er-
kannte er, daß sich die alten Provinziallandtage überlebt hatten: „Bei
voller Würdigung des Prinzips der alten ständischen Organisation, mit
ihrem weisen Schutz jedes Landestheils, jedes Standes, jedes Rechts und
Interesses gegen Vergewaltigung durch Majoritäten, sah er doch, wie die
Sachen lagen, in derselben und ihren allerdings unbeholfenen Formen, das
Hinderniss einer zur Lebensfähigkeit nothwendig gewordenen größeren
Aktionsfähigkeit"63. Obwohl ihm vieles an der schließlich durchgesetzen
Kreisreform nicht behagte, ließ er sich doch - „im Interesse der Sache" 64
- in den Kreistag wählen. Heinrich von Nathusius starb am 11. September
1890.
Auch er stand, wie seine Brüder, in deutlicher Distanz zum betont
aufgeklärt-bürgerlichen Habitus des alten Vaters, dessen Andenken
gleichwohl pietätvoll bewahrt wurde. Johann Gottlob Nathusius' Witwe
starb erst 1877; der geistig-politischen und religiösen Welt, in der ihre
Söhne lebten, ist sie mit Toleranz, doch ohne Verständnis begegnet, wie
ihre Großnichte Gabriele Reuter als kluge Beobachterin berichtet: „Die
Kinder der alten Tante Nathusius wurden alle bedeutende, selbstherrliche
Persönlichkeiten, und die Mutter in ihrer ruhigen Weisheit ließ sie die
eigenen Wege gehen, die von ihren Überzeugungen weit abführten. Sie
blieb bis zu ihrem Tode einer rationalistischen, nüchternen Religiosität
getreu, ihrem klaren Geiste war der mystische Herzensverkehr mit dem
Heiland, wie die pietistische Richtung ihrer Kinder ihn forderte, fremd,

61
Ebd., S. 256.
62
Ebd.; er fährt fort: „Es liegt noch ein Druckexemplar einer solchen vor, die in
populärem Tone namentlich den Gegensatz des altpreussischen, auch jetzt noch verfas-
sungsmässigen, monarchischen Regiments gegen die parlamentarischen Anstürme, na-
mentlich in Bezug auf die Finanzen und die Steuern, zeigt."
63
Ebd., S. 257.
64
Ebd., S. 258.

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206 Hans-Christof Kraus

und auch der starre Konservativismus, das Aristokratentum ihrer Nach-


kommen fand kaum die Billigung ihres schlichten bürgerlichen Sinnes."65

III

Der bei weitem bedeutendste und in seinem vielfältigen Wirken be-


kannteste der fünf Brüder wurde Philipp von Nathusius (1815-1872) 66 .
Obwohl auch er sich schließlich zu einem energischen Verfechter christ-
lich-altkonservativer Prinzipien entwickeln sollte, hat er doch den inter-
essantesten Entwicklungsgang aufzuweisen. Der schon genannte Hausleh-
rer Julius Elster, ein von Schleiermacher geprägter Theologe der roman-
tischen Richtung, hat Philipp in einem wohl noch stärkeren Maße als seine
Brüder geistig geprägt67. Dem jungen Mann waren die Geschäfte, deren
Leitung ihm sein Vater nach und nach übertrug, im Innersten zuwider68,
obwohl er sich als Kaufmann und Gutsherr durchaus bewährte und im
Laufe der Zeit sogar eine „ungewöhnliche Umsicht und Geschäftstüchtig-
keit"69 entwickelte. Viel lieber gab er sich seinen tief romantisch gepräg-
ten ästhetischen Neigungen hin70, las Dante, Goethe, Byron, die antiken
Dichter und die modernen romantischen Naturphilosophen. Geradezu
schwärmerisch verehrte er Bettina von Arnim, die er während eines
Berlinaufenthaltes auch persönlich kennenlernte. Mit ihr führte er einen
ausführlichen, von romantischem Überschwang, geistreichen Paradoxa
und gefühlvoller Plauderei geprägten Briefwechsel, der einen sehr auf-
schlußreichen Einblick in die Gedankenwelt des jungen Philipp Nathusius
gewährt71. In politischer Hinsicht verfocht er damals so etwas wie einen

65
R e u t e r (wie Anm. 53), S. 212.
66
Über ihn vgl. E. Fürstin R e u ß , Philipp Nathusius Jugendjahre, Berlin 1896
(künftig zitiert als: Reuß I); D i e s . , Philipp von Nathusius - Das Leben und Wirken
des Volksblattschreibers, Neinstedt a.H. - Greifswald 1900 (künftig zitiert als: R e u ß
II); H. A n d r e s , Philipp von Nathusius - Seine Persönlichkeit und die Entwicklung
seiner politischen Gedanken bis zum Ausgang der deutschen Revolution, Düsseldorf
1934; B r ü m m e r : Art. Marie und Philipp Nathusius, in: Allgemeine Deutsche Biogra-
phie, Bd. XXIII, S. 283-285.
47
Vgl. R e u ß I (wie Anm. 66), S. 8ff.
M
Vgl. ebd., S. 38f„ 49, 109.
69
Ebd., S. 49.
70
Vgl. A n d r e s (wie Anm. 66), S. 4ff.; Reuß I (wie Anm. 66), S. 31ff.
71
Vgl. A n d r e s (wie Anm. 66), S. 5ff.; Reuß I (wie Anm. 66), S. 36ff., l l l f f . ,
154ff. Bettina von Arnim hat diesen Briefwechsel im wesentlichen unverändert 1847 als

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Bürgerlicher Aufstieg und adeliger Konservatismus 207

patriotisch geprägten, romantischen Liberalismus:72 die freie und unge-


hinderte Entfaltung des Individuums stand im Mittelpunkt seines Den-
kens;73 und die Bekanntschaft mit Persönlichkeiten, die im Vormärz ihrer
politischen Gesinnung wegen verfolgt wurden, wie etwa Robert Blum,
Hoffmann von Fallersleben, Heinrich Laube, Julius Fröbel oder Gottfried
Kinkel, scheute der junge Mann durchaus nicht74. Er versuchte, Geld zur
Unterstützung der Göttinger Sieben zu sammeln und befehdete den alten
Görres in einer gegen dessen „Athanasius" gerichteten Broschüre75. In
einer kleinen - erst aus dem Nachlaß veröffentlichten - Niederschrift mit
dem Titel „Was ist liberal?"76 hat Nathusius seine politischen Überzeu-
gungen in jener Lebensepoche thesenhaft zusammengefaßt: „Liberal ist
die Gesinnung für freie Entwicklung des einzelnen Menschen und der
ganzen Menschheit" 77 , heißt es gleich am Anfang programmatisch78.
Doch der junge Philipp Nathusius war nicht nur von romantisch-libera-
lem Gedankengut, sondern auch von tiefer Religiosität bewegt und erfüllt,
und genau dies letztere sollte schließlich zum Anlaß seiner Abwendung
von den politischen Ideen seiner Jugend werden. Denn 1840 verheiratete
er sich mit Marie Scheele aus Magdeburg, Tochter und Schwester streng
pietistischer Pastoren; sie sollte einen wesentlichen Einfluß auf die gei-
stig-religiöse - und damit in letzter Konsequenz auch politische - Neu-

Briefroman unter dem Titel „Ilius Pamphilius und die Ambrosia" herausgegeben (vgl.
dazu A n d r e s [wie Anm. 66], S. 6, Anm. Sa).
72
Vgl. A n d r e s (wie Anm. 66), S. 34ff.
73
Vgl. ebd., S. 8.
74
Vgl. R e u ß II (wie Anm. 66), S. 19, 22, 56f.
75
Vgl. R e u ß I (wie Anm. 66), S. 114f.
76
Gedruckt in R e u ß II (wie Anm. 66), S. 361-365.
77
Ebd., S. 361; vgl. ebd., S. 361f.: „Was wir aber verlangen ist sehr einfach. Vorerst
nur: 1. Vor allem Preßfreiheit; sie ist ein natürliches Recht... 2. Volksvertretung (altes
historisches Recht). 3. Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerichte. 4. Einheit Deutsch-
lands zu unser aller Sicherheit...".
78
Sehr aufschlußreich ist auch ein erstmals von A n d r e s (wie Anm. 66), S. 73
veröffentlichter Brief des jungen Nathusius an Hoffmann von Fallersleben vom 11. 9.
184S: „Seien Sie versichert, daß Sie mich, obgleich ich jetzt die Ehre habe, der
,Ritterschaft' der Königlich Preußischen Provinz Sachsen, also dem möglichst .konser-
vativsten' Corps im heiligen Römischen Reiche anzugehören, nie wo anders als auf der
Seite der r e i n e n M e n s c h h e i t finden werden. Staatsverfassung und alles, was dahin-
ein schlägt, habe ich zwar von jeher nicht als Zweck, nur als Mittel der Menschheit
angesehen ...; dennoch verkenne ich nicht die Wichtigkeit dieses Mittels und werde für
f r e i e V e r f a s s u n g ... mit Gottes Hilfe ... gem nach meinen Kräften stehen."

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208 Hans-Christof Kraus

Orientierung ihres Gatten ausüben79. Hinzu kam der Kampf gegen die
„Lichtfreunde", die - politisch liberal orientierten - Anhänger eines ratio-
nalistischen, gegen die pietistische Gefühlsreligiosität gerichteten Chri-
stentums, die gerade in Magdeburg und Halle ihre besonderen Hochbur-
gen besaßen80. Hier war der romantisch-religiös gefärbte Liberalismus des
jungen Nathusius in eine Sackgasse geraten; als er die enge Verbindung
von theologischem Rationalismus und politischem Liberalismus erkannte,
begann seine langsame, mehrere Jahre in Anspruch nehmende Wandlung
hin zum christlichen Konservatismus. Von nun an sollte ihm der „Kampf
gegen den Rationalismus in allen seinen Formen und Äußerungen, in
Religion, Kirche, Staat und Gesellschaft ... zur eigentlichen Aufgabe
seines Lebens"81 werden. Auch in seiner Lektüre suchte er neue Orientie-
rungen: er fand sie vor allem bei Matthias Claudius, Justus Moser, Johann
Jacob Moser und Joseph Maria von Radowitz, die ihm den Gedanken vom
Wert des historisch Gewordenen und von der Notwendigkeit einer „orga-
nischen" Entwicklung der politischen Institutionen vermittelten. Doch
von seinen romantischen, deutsch-patriotischen Überzeugungen wollte
Nathusius vorerst noch nicht lassen: während des ganzen Jahres 1847
wehte über Althaidensleben „eine mächtige schwarzrothgoldene Flagge",
die ihm als „bona fide für die alten deutschen Reichsfarben" 83 galt.
Anläßlich des Ersten Vereinigten Landtages, in dem er seine altständi-
schen Ideale verwirklicht glaubte, veröffentlichte er seine erste politische

79
Vgl. Reuß I (wie Anm. 66), S. 127ff„ 141ff.; Andres (wie Anm. 66), S. 14ff.;
Ph. v. N a t h u s i u s , Lebensbild der heimgegangenen Marie Nathusius, geb. Scheele -
Für ihre Freunde nah und fern. Samt Mittheilungen aus ihren noch übrigen Schriften,
Bde. I-II, Halle 1867/68.
80
Vgl. hierzu vor allem H. R o s e n b e r g , Theologischer Rationalismus und vor-
märzlicher Vulgärliberalismus, in: Ders., Politische Denkströmungen im deutschen
Vormärz (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 3), Göttingen 1972, S. 18-50;
J. B r e d e r l o w , „Lichtfreunde" und „Freie Gemeinden" - Religiöser Protest und Frei-
heitsbewegung im Vormärz und in der Revolution von 1848/49 (Studien zur modernen
Geschichte, 20), München - Wien 1976; R. v. Thadden, Protestantismus und Libera-
lismus zur Zeit des Hambacher Festes 1832, in: Ders., Weltliche Kirchengeschichte -
Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1989, S. 126-145, bes. S. 142ff.
81
Andres (wie Anm. 66), S. 67; vgl. auch Reuß II (wie Anm. 66), S. 47ff„ 61ff.
82
Vgl. Andres (wie Anm. 66), S. 74ff.
83
Ph. v. N a t h u s i u s : Lebensbild (wie Anm. 79), Bd. II, S. 600; ebd. heißt es weiter:
„Es bedarf nicht eines Worts, daß sie 1848 von dem ersten Moment an, wo sie in tausend
Läppchen sich epidemisch über das Land verbreitete, hier eingezogen wurde und nie
wieder auftauchte".

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Bürgerlicher Aufstieg und adeliger Konservatismus 209

Schrift 84 . In der Einleitung hierzu - und in einem gleichzeitig veröffent-


lichten Gedicht „Preußens Reichstag"85 - skizzierte er zum ersten Mal die
Umrisse seines neuen Weltbildes, das im Bekenntnis zum organischen
Staat auf christlicher Grundlage gipfelt: „Der christliche Staat ist nicht ein
abstraktes Machwerk, sondern der große Organismus einer Fülle von
einzelnen Organisationen; er achtet zuvörderst jedes lebendige Fleisch
und Bein göttlich gewollter Historie ... als eine heilige Ordnung; er
anerkennt das Recht aus göttlicher Gnade ,.."86.
Das Jahr 1848 „mit seinen Erschütterungen aller hergebrachten Verhält-
nisse, seiner Fragestellung an die Zukunft" wurde für Philipp Nathusius,
wie er selbst zugegeben hat, zum „Wendepunkt"87 seines Lebens. „Wer
in diesen Wochen nicht die Strafgerichte Gottes mit Händen greifen
kann", schrieb er am 27. März 1848 an seinen Schwager Carl Scheele, „der
muß wahrlich mit Blindheit geschlagen sein" 88 . Nathusius, der vor 1847
Zeitungen „grundsätzlich nicht" 89 gelesen hatte, wurde nun zum überaus
eifrigen Konsumenten der entstehenden konservativen Presse, und schon
bald stand er „in Verhandlungen darüber, das Kreis-Wochenblatt für
conservative Interessen zu gewinnen oder die Gründung eines eigenen zu
veranlassen"90. Schließlich übernahm er im April 1849 die Redaktion des
ausgeprägt konservativen 'Volksblatts für Stadt und Land', das seit 1845
erschien und von ihm bis zu seinem Tode im Jahre 1872 redigiert werden
sollte91. Gleichzeitig aber hatte sich Nathusius in besonderer Weise der
sozialen Frage zugewandt. Schon in einem seiner ersten politischen Arti-
kel im „Volksblatt" bemerkte er unter dem - seine konservative Leser-

84
Ph. E. N a t h u s i u s , Statistische Uebersichten über die Verhältnisse und wichtig-
sten Abstimmungen beider Kurien und über die künftigen ständischen Ausschüsse. Als
Ergänzung zu allen Ausgaben der Verhandlungen und als Vorläufer zu einer Geschichte
des Ersten Reichstags in Preußen zusammengestellt, Berlin 1847.
85
Ders., Preußens Reichstag. Ein Gedicht den Mitgliedern der Hohen Versamm-
lung dargebracht o.O.o.J. (Berlin 1847).
86
N a t h u s i u s , Statistische Uebersichten (wie Anm. 84), S. 5; wichtig auch die ebd.
S. 8 formulierte Ablehnung des Parteiwesens, auf die schon K o s e l l e c k (wie Anm. 6),
S. 368 hingewiesen hat.
87
N a t h u s i u s , Lebensbild (wie Anm. 79), Bd.II.S. 642f.;vgl. Reuß II (wie Anm.
66), S. 84-100.
88
Reuß II (wie Anm. 66), S. 84; vgl. ebd., S. 86: „... der Finger Gottes ... ist auch
hier so sichtlich im Spiele gewesen, wie selten in der Geschichte".
89
N a t h u s i u s , Lebensbild (wie Anm. 79), Bd. II, S. 598.
90
Ebd., Bd. II, S. 600.
91
Vgl. hierzu vor allem Reuß II (wie Anm. 66), S. 123ff., 133ff., 155ff„ 178ff„
193ff., 266ff.; A n d r e s (wie Anm. 66), S. 91ff.

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210 Hans-Christof Kraus

schaft bewußt provozierenden - Titel „Die Errungenschaften des Jahres


1848": „Endlich ist auch das eine Errungenschaft unschätzbarer Art, daß
die wirkliche Noth des armen Volkes einmal in ihrer ganzen Nacktheit
sich in die elegantesten Straßen der Hauptstädte ergossen hat; daß wir
gesehen haben, wie Tausend und aber Tausende auf den ersten Wink bereit
sind, für ein Nichts ihr jammervolles Dasein in die Schanze zu schla-
gen" 92 . Jedenfalls zog er für sich und seine Familie die Konsequenz aus
dieser Lage: er verkaufte (wie schon erwähnt) 1849 das noch von ihm
bewirtschaftete Gut Althaldensieben an seinen Bruder Heinrich und sie-
delte nach Neinstedt am Harz über, wo er zusammen mit seiner Frau nach
dem Vorbild Wicherns und der von ihm ausgehenden Inneren Mission aus
eigenen Mitteln den Lindenhof, ein „Rettungshaus" für „sittlich verwahr-
loste Knaben", begründete - eine Einrichtung, die weithin bekannt wurde
und noch lange über den Tod des Ehepaars Nathusius hinaus bestanden
hat93. Freilich war und blieb die christliche Nächstenliebe das Hauptmotiv
ihres karitativen Handelns, nicht der Wille zu umfassender sozialer Re-
form.
Trotz seiner seit dem Jahre 1848 vertretenen streng konservativen
Gesinnung war Philipp Nathusius kein Bewunderer der traditionellen
höfischen Welt und ihrer Rangordnungen. Als der Maler Wilhelm von
Kügelgen, der in Diensten des Herzogs von Anhalt-Bernburg stand, den
Herren auf Neinstedt und Herausgeber des 'Volksblatts' 1854 gerne per-
sönlich kennenlernen wollte, ließ ihm Nathusius ausrichten, er „strebte
nicht nach neuen Bekanntschaften, hielte sie sich im Gegenteil gern vom
Halse, besonders maitres de plaisirs vom Hofe" 94 . Daß es dennoch zu einer
engen persönlichen Freundschaft kam, ist Kügelgen zu verdanken, der die
Angelegenheit mit Humor nahm. Von ihm stammt auch eine Schilderung
Nathusius', die dessen ganz „unaristokratisches", einfaches Auftreten so
treffend charakterisiert, daß sie in diesem Zusammenhang zitiert zu wer-
den verdient: „Wäre ich dem Manne (Philipp Nathusius, H.-C.K.) ohne

92
Volksblatt für Stadt und Land, Nr. 72 (8. 9. 1849), Sp. 1122; die soziale Themen
und Probleme behandelnden Artikel im „Volksblatt" zwischen 1848 und 1870 hat Β ο c k
in seiner oben (Anm. 49) genannten Abhandlung umfassend ausgewertet.
93
Vgl. R e u ß II (wie Anm. 66), S. 201ff.; A n d r e s (wie Anm. 66), S. 21ff.; M. v.
N a t h u s i u s , Fünfzig Jahre Innere Mission, Neinstedt 1900; O. S t e i n w a c h s , Der
Lindenhof zu Neinstedt am Harz, Neinstedt 1925.
94
W. v. K ü g e l g e n , Lebenserinnerungen des Alten Mannes in Briefen an seinen
Bruder Gerhard 1840-1867, hrsg. von P. S. Kügelgen und J. Werner, Leipzig 1923, S.
205.

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Bürgerlicher Aufstieg und adeliger Konservatismus 211

ihn zu kennen, auf der Landstraße begegnet, so würde ich ihm weit
ausgewichen sein. Ein braunrotes Lockenhaupt wie Jupiter tonans, ein
Bart wie Neptun, polnische Juden oder Demokraten, ein ebenso erlosche-
nes und blasses Aussehen wie letztere, bei sehr schönen Zügen. Dabei
abgetragene Kleider, einen bedenklichen Strohhut und einen faustdicken
Harzknüppel als Spazierstöckchen. Die Rede matt und nörgelig. Ich über-
zeugte mich indessen bald davon, daß ich es mit einem ausgezeichneten
Manne zu tun hatte" 95 . Diese Schilderung des noch den Anschauungen
und Lebensformen des Ancien regime verhafteten Hofmannes Kügelgen
zeigt sehr deutlich, daß konservativ-christliche Überzeugungen im tradi-
tionellen Sinne keineswegs mit einer Bejahung der höfischen Sphäre und
ihrer Formwelt verbunden sein mußten.
Als Herausgeber und Redakteur des ,Volksblattes' hat Philipp Nathusi-
us durchaus eigenständige Akzente innerhalb der deutschen Publizistik
während der Reaktions- und Reichsgründungszeit gesetzt. Neben ihm
wurde die Zeitschrift vor allem durch Heinrich Leo - der die Geschicht-
lichen Monatsberichte verfaßte 96 - , durch den Theologen August Frie-
drich Vilmar, Ernst Ludwig von Gerlach, aber auch Victor Aime Huber
(ebenfalls ein christlicher Sozialreformer) geprägt97. Dem Einfluß Ger-
lachs und besonders Leo ist es wohl zuzuschreiben, daß das ,Volksblatt'
im Laufe der Jahre gewisse katholisierende Tendenzen aufzuweisen be-
gann, die bei der Leserschaft heftig umstritten waren98. Ein kritischer
Artikel über die protestantische Union in Preußen führte im September
1858 sogar zur Beschlagnahme der Zeitschrift und zu einem Prozeß gegen
ihren Herausgeber, der sich der Grenzen seiner Treue zur Obrigkeit nicht
nur in dieser Frage durchaus bewußt war99. Die Verleihung des Adelsprä-
dikats anläßlich der Krönung von 1861 kam ihm daher völlig unerwar-

95
Ebd., S. 205f.; vgl. auch Reuß II (wie Anm. 66), S. 332. Nathusius hat übrigens
1870 die nachmals berühmten „Jugenderinnerungen eines alten Mannes" aus dem
Nachlaß Wilhelm von Kügelgens herausgegeben.
96
Vgl. Chr. Freiherr v. M a i t z a h n , Heinrich Leo (1799-1878) - Ein Gelehrtenle-
ben zwischen romantischem Konservatismus und Realpolitik (Schriftenreihe der Histo-
rischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 17), Göttingen
1979, S. 93ff.
97
Vgl. R e u ß II (wie Anm. 66), S. 157ff„ 176ff.
98
Vgl. ebd., S. 178ff.
99
Vgl. ebd., S. 266ff., 275ff.

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212 Hans-Christof Kraus

tet 100 . Als die Ereignisse des Jahres 1866 - der Krieg Preußens gegen
Österreich, das Zerbrechen des Deutschen Bundes, schließlich die Bis-
marcksche Aussöhnung mit den Liberalen - die Konservative Partei
Preußens spalteten101, stand Nathusius auf Seiten Bismarcks, dessen
Kriegs- und Annexionspolitik er gegenüber dem streng altkonservativen
Flügel unter Gerlach ebenso verteidigte wie vier Jahre später den Krieg
gegen Frankreich und die Reichsgründung102. Doch den dadurch entstan-
denen Riß im Kreis seiner persönlichen und politischen Freunde konnte
er nur schwer verwinden. „Unter diesen Umständen fühlte Philipp Nathu-
sius", so die Erinnerung seines Sohnes Martin, „daß die Zeit des Blattes
vorüber war. Seiner persönlichen Neigung folgend, welche unter seiner
zunehmenden Kränklichkeit gereift war, hätte er es am liebsten eingehen
lassen" 103 , - trotzdem führte er es bis 1871 fort, um es dann einem seiner
Söhne zu übergeben. Philipp von Nathusius starb am 16. August 1872.
Seine Gattin, Marie Nathusius (1817-1857), hatte er um fünfzehn Jahre
überlebt. Auch sie war als Schriftstellerin eine über den Durchschnitt
herausragende, in ihrer Zeit durchaus bekannte und geachtete Persönlich-
keit, deren Einfluß auf ihre Söhne Philipp und Martin (sie werden Thema
des folgenden Abschnitts sein) ohne Zweifel beträchtlich gewesen ist104.
Ihre kindliche, offenbar durch nichts zu erschütternde Frömmigkeit be-
stimmte ihr Dasein; Glaubenszweifel waren ihr fremd: „Der eine felsen-
feste Grund war ihr ... nie erschüttert worden: was in der Bibel steht, ist

100
Philipp von Nathusius' Reaktion auf diese Ehrung war denn auch eher von
Verwunderung als von Stolz geprägt; in einer für ihn höchst charakteristischen Weise
bemerkte er: „Es ist eine seltsame Fügung, daß wir die Adelung von dem jetzigen König
erhalten sollten, dem lieben vorigen König haben wir sie vor 15 oder 16 Jahren höflich
abgelehnt, und da er sie 1857 wieder aufnahm, kam unmittelbar seine Krankheit darüber
her. Dies mal sind wir nicht gefragt worden, und die Leute wundem sich, da wir als sehr
prononcierte Reaktionäre alle vier bekannt sind. Ich meinerseits wundere mich, daß die
Leute aus dergleichen so viel machen, wie ich sehe, daß sie thun" ( R e u ß II (wie Anm.
66, S. 301).
101
Siehe hierzu immer noch G. R i t t e r , Die preußischen Konservativen und Bis-
marcks deutsche Politik 1858-1876 (Heidelberger Abhandlungen zur mittleren und
neueren Geschichte, 43), Heidelberg 1913, S. 157ff„ 172ff„ 184ff.
102
Vgl. R e u ß II (wie Anm. 66), S. 333ff., 348; A n d r e s (wie Anm. 66), S. 98.
103
M. v. N a t h u s i u s , Ein Rückblick, in: Allgemeine Conservative Monatsschrift
für das christliche Deutschland, Jhg. 37, 1880, S. 292.
104 vgl. über sie neben dem Artikel von B r ü m m e r (wie Anm. 66) und der Biogra-
phie aus der Feder ihres Gatten (Anm. 79) auch R e u ß I (wie Anm. 66), S. 127ff. und
E. G. ( - Elise G r ü n d l e r ) , Marie Nathusius - Ein Lebensbild, Gotha 1894.

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Bürgerlicher Aufstieg und adeliger Konservatismus 213

wahr. - Das genügte ihr" 105 , weiß die Biographin zu berichten. Schon früh
betätigte sie sich im sozialen Sinne: bereits in Althaldensleben richtete sie
in eigener Regie eine Kinderbewahranstalt ein; später beteiligte sie sich
maßgebend am Aufbau der Neinstedter Anstalten. Bald nach ihrer Heirat
mit Philipp Nathusius begann sie zu schreiben; im Laufe nur weniger Jahre
kam eine beachtliche Zahl von christlichen Romanen und Novellen zu-
sammen, die meisten wurden zuerst in Fortsetzungsform im ,Volksblatt'
veröffentlicht. Sehr schnell wurde sie als christliche Volksschriftstellerin
bekannt und geachtet106. Am erfolgreichsten unter ihren Werken war das
.Tagebuch eines armen Fräuleins', das noch in diesem Jahrhundert neu
aufgelegt worden ist. Marie Nathusius übt hierin, wie in ihren anderen
Schriften, ganz bewußt etwas, das man als poetisch eingekleidete Pädago-
gik bezeichnen könnte. Im .Tagebuch ...' geht es beispielsweise um die
Überwindung der Härten sozialer Rangunterschiede durch christliche
Nächstenliebe107. In den .Rückerinnerungen aus einem Mädchenleben'
beschreibt sie den inneren Kampf einer jungen Frau und ihr Schwanken
zwischen den Verlockungen des weltlichen Lebens und dem Leben aus
Gott108.
Es wäre ein leichtes, diese - zwar durchaus gut geschriebenen, jedoch
ästhetisch und literarisch nicht allzu anspruchsvollen - Romane und
Novellen aus christlicher Perspektive als Ideologie mit der Funktion der
Verschleierung sozialer Ungerechtigkeit abzutun. Doch damit dürfte man
dieser eindrucksvollen Frau - deren starke, Bewunderung oder doch
wenigstens Achtung hervorrufende Persönlichkeit vielfach bezeugt ist -
nicht gerecht werden. Man muß sich demgegenüber vor Augen halten, daß
für Marie Nathusius das Christentum vor allem den sichtbaren Ausdruck
einer umfassenden Welt- und Daseinsordnung verkörpert, die alle Lebens-
bereiche regelnd umfaßt und ausgestaltet. Die Aufgabe des Menschen
kann in dieser Perspektive nur darin bestehen, sich in möglichst optimaler
Weise in eben diese vorgegebene Ordnung einzufügen, - eine Ordnung,
die allerdings niemals ihren Zweck in sich selbst trägt, sondern jeden

103
G r ü n d l e r (wie Anm. 104), S. 23.
104
Vgl. ebd., S. 180ff.
107
Es heißt dort: „Wenn doch die vornehmen Leute wüßten, wie viel Trost sie ihren
armen Brüdern und Schwestern nur durch Liebe und Teilnahme bringen könnten, wie
könnten sie wuchern mit den Vorzügen, die der Herr ihnen durch ihre Stellung in der
Welt gegeben" (M. N a t h u s i u s , Tagebuch eines armen Fräuleins und Rückerinnerun-
gen aus einem Mädchenleben, Berlin o.J. [1913], S. 94f.).
108
Vgl. G r ü n d l e r (wie Anm. 104), S. 192.

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214 Hans-Christof Kraus

einzelnen zugleich verpflichtet, den Regeln des Dekalogs entsprechend zu


leben und gemäß den Geboten der Bergpredigt die Härten der vorhande-
nen sozialen Schichtung nach Möglichkeit durch christliche Nächstenlie-
be zu lindern und auszugleichen. So kann man das dichterische Werk der
Marie Nathusius gewissermaßen als den literarischen Niederschlag eines
altkonservativen Ordnungsdenkens auffassen, das ebenso selbstverständ-
lich von der Voraussetzung einer göttlich geschaffenen, den Menschen
umfassenden Schöpfungsordnung ausgeht wie von der moralischen
Pflicht eben dieses Menschen zur sozialen Verantwortung aus christlicher
Nächstenliebe. Bewahrung der „göttlichen Ordnung" im politischen Be-
reich und aus den ethischen Geboten eben dieser Ordnung folgendes
soziales Engagement - das sind die Lebensaufgaben gewesen, die sich die
Söhne von Philipp und Marie Nathusius gestellt haben.

IV

Zu welchen Konsequenzen und individuellen Ausprägungen der von


der Familie Nathusius in der zweiten Generation übernommenen, streng
christliche Altkonservatismus nun in der dritten Generation geführt hat,
das läßt sich wohl am deutlichsten am Wirken der beiden ältesten Söhne
von Philipp und Marie Nathusius ablesen.
Philipp von Nathusius-Ludom (1842-1900), wie er sich zur Unterschei-
dung von seinem Vater nannte, trat 1865 den Besitz des Gutes Ludom im
Kreis Obornik/Posen an109. Doch er war weit davon entfernt, sein Leben
als einfacher Landjunker in den verlorenen östlichsten Provinzen des
Reiches zu verbringen. Wie seinen Vater drängte es auch ihn in den
Bereich der politischen Publizistik im Dienste der konservativen Sache.
Im Frühjahr 1872 veröffentlichte er in der ,Kreuzzeitung' eine Artikelse-
rie, in der er die von der Reichsregierung geplante Reform der Kreisord-
nung und die Nationalliberalen, die diese Reformen mittrugen, heftig
attackierte110. Die Konservative Partei, deren rechter Flügel in dieser Zeit
sich in einer immer deutlicher werdenden Distanz zu Bismarck befand,
sorgte dafür, daß Nathusius-Ludom den im Herbst 1872 plötzlich freiwer-
denden Posten eines Chefredakteurs der ,Kreuzzeitung' übernehmen

109
Vgl. R e u ß II (wie Anm. 66), S. 333f.
110
Vgl. P o s c h i n g e r (wie Anm. 50), Bd. III, S. 264f.

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Bürgerlicher Aufstieg und adeliger Konservatismus 215

konnte111. Es gelang ihm nicht nur, innerhalb kürzester Zeit die maroden
Finanzen des Blattes zu sanieren, sondern er konnte zusätzlich noch Mittel
zur Gründung einer weiteren konservativen Zeitung, des ebenfalls von
ihm geleiteten .Reichsboten', flüssig machen, wodurch sich seine führen-
de Stellung innerhalb seiner Partei festigte 112 . Bismarck - der sich gerade
in diesem Jahr darum bemühte, mit Hilfe seines Freundes Moritz von
Blanckenburg die Konservativen wieder unter seine Kontrolle zu bringen
und ihnen ein neues Programm zu geben - ließ den neuen .Kreuzzeitungs'-
Chefredakteur, dessen Artikel gegen die Kreisordnung unvergessen wa-
ren, ausdrücklich warnen. Gegenüber Blanckenburg äußerte der Kanzler:
„Wenn der junge Nathusius klüger wie alle alten Parteileute ist und das
Programm ruiniert, gegen dasselbe schreibt, - dann wird die Kreuzzeitung
Winkelblatt, ich kann nicht jedem Hansnarren nachlaufen" 113 . Bismarcks
Mißtrauen sollte sich in den nächsten Jahren als durchaus berechtigt
erweisen: Philipp von Nathusius-Ludom wurde zum schärfsten Gegner
des Reichskanzlers auf Seiten der Konservativen; es blieb Bismarck vor-
erst nichts anderes übrig, als ohnmächtig gegen den „Preßbengel Nathu-
sius" und den „neidische(n) Junkerdünkel"114 zu wettern.
Schon in seiner 1872 erschienenen Broschüre „Conservative Partei und
Ministerium" hatte Nathusius-Ludom seine Angriffe gegen Kanzler und
Regierung eröffnet. Indem er davon ausging, daß die in der Vergangenheit
von der Konservativen Partei gemachten Fehler „ihren Grund in zu großer
... Nachgiebigkeit gegen die Regierung gehabt" 115 hätten, scheute er nicht
davor zurück, Bismarck wegen seiner Zusammenarbeit mit den Liberalen
frontal anzugehen: „Daß aber royalistisch gesinnte Staatsmänner durch
den Mangel an tieferer conservativer Rechtsanschauung und an dem

111
Über Nathusius-Ludom als Leiter der „Kreuzzeitung" vgl. P. A. M e r b a c h , Die
Kreuzzeitung 1848-1923. Ein geschichtlicher Rückblick, in: Neue Preußische Zeitung,
16. 6. 1923 (Festnummer zum 75-jährigen Jubiläum), S. 15f.; M. Rohleder/B. T r e u -
de, Neue Preußische (Kreuz-) Zeitung (1848-1939), in: H. D. F i s c h e r (Hrsg.) (wie
Anm. 48), S. 217f.
112
Vgl. P o s c h i n g e r (wie Anm. 50), Bd. III, S. 265; J. N. R e t a l l a c k , Notables of
the Right - The Conservative Party and Political Mobilization, 1876-1918, Boston 1988,
S. 57.
113
H. v. P e t e r s d o r f f , Kleist-Retzow - Ein Lebensbild, Stuttgart - Berlin 1907, S.
46If. (Brief Blankenburgs an Kleist, August 1872).
114
H. R o t h f e l s (Hrsg.), Bismarck- Briefe, Göttingen 1955, S. 383 (Brief Bis-
marcks an Roon, 20. 11. 1873).
115
Ph. v. N a t h u s i u s - L u d o m , Conservative Partei und Ministerium, Berlin 1872,
S. 32f. (im Original gesperrt).

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216 Hans-Christof Kraus

Verständnisse des sittlichen Kernes politischer Processe immer noch


verhindert werden, diese doch fast auf der Oberfläche liegende Taktik des
Liberalismus zu durchschauen, daß sie sich immer noch geneigt zeigen,
aus augenblicklichen sogenannten Zweckmäßgkeitsgründen und aus Re-
gierungsbequemlichkeit mit dem Liberalismus Hand in Hand die Voraus-
setzungen wahrer Volksfreiheit und Selbstverwaltung zu zerstören, bis
dann der Liberalismus auf den Trümmern des organischen Staatslebens
schließlich ohne Widerstand zu finden das Heft in die Hand nimmt, das
ist wahrhaft unbegreiflich" 116 . Der Kulturkampf schließlich sei keines-
wegs nur ein „Feldzug gegen den Ultramontanismus", sondern „in Wirk-
lichkeit gegen die katholische Kirche und die christliche Kirche über-
haupt" 117 gerichtet. Gegen das alle sittlichen Grundlagen des Gemeinwe-
sens zerstörende liberale Programm einer „Entkirchlichung von Staat und
Schule"118 müßten die Konservativen gemeinsam mit den „gutgesinnten
katholischen Kreise(n)"119 ankämpfen.
Diese Tendenz verstärkte Nathusius-Ludom noch in seiner 1876 unter
dem Titel „Conservative Position" erschienenen Schrift, die zugleich die
Grundlage für das Programm der neu zu gründenden Deutschkonservati-
ven Partei bieten sollte. Er forderte nicht nur eine Beendigung des Kultur-
kampfes und einen Zusammenschluß evangelischer und katholischer Kon-
servativer120, nicht nur die Sicherung des Herrenhauses, „welche geradezu
eine Lebensfrage für unsere innere Politik einschließt"121, sondern auch
ein neues, auf ständischen Prinzipien aufbauendes Wahlgesetz und einen
entschiedenen Kampf sowohl gegen den „gottlosen" Sozialismus wie
gegen das liberale „Manchesterthum"122. Schroff lehnte er jedes unorga-
nische „Neuconstruiren- und Neumachenwollen" liberaler oder sozialisti-
scher Provenienz als „das Gegentheil von conservativer Politik" 123 ab. Er
hielt - hierin ganz an die altkonservativen Denktraditionen anknüpfend 124
- unbeirrt an der Idee einer „göttlichen Weltordnung" fest, denn diese
habe, wie er schreibt, „die natürliche Ungleichheit der Menschen als

116
Ebd., S. 10; vgl. S. 19, 39.
117
Ebd., S. 39; vgl. S. 49f.
118
Ebd., S. 54.
119
Ebd., S. 53; vgl. zum Thema auch E. S c h u l t e , Die Stellung der Konservativen
zum Kulturkampf 1870-1878, phil. Diss. Köln 1959.
120
Vgl. Ph. v. N a t h u s i u s - L u d o m , Conservative Position, Berlin 1876, S. 7ff.
121
Ebd., S. 21.
122
Vgl. ebd., S. 21ff., 34ff.
123
Ebd., S. 36.

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Bürgerlicher Aufstieg und adeliger Konservatismus 217

Voraussetzung jeder politischen und sozialen Ordnung gesetzt, wie allein


schon der Urtypus dieser Weltordnung, die Familie beweist, eine Institu-
tion, welche darum auch ganz folgerichtig vom Socialismus beseitigt
werden soll" 125 . Schließlich konnte er sich nicht enthalten, dem Kanzler
mit einer deutlichen Kritik an den Annexionen von 1866 noch einen
zusätzlichen Fußtritt zu versetzen126.
Doch zu seinem härtesten Schlag gegen Bismarck holte Nathusius-Lu-
dom im Sommer 1875 aus. Am 29. Juni veröffentlichte die „Kreuzzeitung"
den ersten von fünf Artikeln unter dem Titel ,Die Ära Bleichröder-
Delbrück-Camphausen und die neudeutsche Wirtschaftspolitik*. Verfaßt
hatte sie ein bis dahin unbekannter, bei der „Neuen Reichszeitung" in
Dresden tätiger Wirtschaftsjournalist namens Franz Perrot. In diesen
Artikeln127 - Nathusius-Ludom hatte sie bestellt und sorgfältig redi-
giert 128 - wurde die liberale Wirtschaftspolitik der Regierung seit der
Reichsgründung auf das schärfste angegriffen, wobei deutlich antisemiti-
sche Töne, gerichtet gegen den Bismarck verbundenen Bankier Gerson
Bleichröder, nicht fehlten 129 . Doch damit nicht genug: die Artikel enthiel-
ten Andeutungen, Bismarck habe sich mit Hilfe Bleichröders an den
Gewinnen des „Gründungsschwindels" persönlich bereichert130. - Den
ungeheuren Skandal, den er mit diesen Artikeln auslöste 131 , hatte Nathu-
sius-Ludom wohl nicht vorausgesehen. Bismarck fühlte sich verraten und

124
Vgl. hierzu die grundlegende und unübertroffene Arbeit von P. Kon dy Iis,
Konservativismus - Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1986.
123
N a t h u s i u s - L u d o m (wie Anm. 120), S. 35.
126
Vgl. ebd., S. 41: „Die Annexionspolitik des Jahres 1866 hat leider einen tiefen
Mißklang in das monarchische Princip des neuen Reiches gelegt, ja ... hat die conserva-
tiven Elemente Deutschlands bisher nicht zur Einigung kommen lassen".
127
Wieder abgedruckt in: L. F e l d m ü l l e r - P e r r o t , Bismarck und die Juden -
„Papierpest" und „Äraartikel von 1875", Berlin 1931, S. 171-180.
128
Vgl. P e t e r s d o r f f (wie Anm. 113), S. 462; Ph. v. N a t h u s i u s - L u d o m , Noch-
mals die Konservativen und „Fürst Bismarcks Gedanken und Erinnerungen", in: Allge-
meine Conservative Monatsschrift für das christliche Deutschland, 56. Jhg., 1899, S.
743-746.
129
Zum Hintergrund vgl. die ausufernde, ihr Material mehr anhäufende als gliedern-
de Arbeit von F. S t e r n , Gold und Eisen - Bismarck und sein Bankier Bleichröder,
Frankfurt a.M. - Berlin 1978, S. 240ff„ 607ff.
130 Vgl. L. G a l l , Bismarck - Der weiße Revolutionär, Frankfurt a.M. - Berlin -
Wien 1980, S. 545f.
131
Vgl. dazu auch R i t t e r (wie Anm. 101), S. 373f.; R e t a l l a c k (wie Anm. 112),
S. 14f., 17; H. H e f f t e r , Die Kreuzzeitungspartei und die Kartellpolitik Bismarcks
(Studien des Sächsischen Forschungsinstitutes für neuere Geschichte, 1), Leipzig 1927,
S. 2f.

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218 Hans-Christof Kraus

zutiefst verletzt132. Weil ein juristisches Vorgehen gegen die Artikel


wegen deren sorgfältiger Formulierung wenig aussichtsreich erschien,
griff Bismarck die .Kreuzzeitung* (und damit auch ihren Chefredakteur)
am 9. Februar 1876 im Reichstag scharf an: er warf dem Blatt vor, „die
schändlichsten und lügenhaftesten Verleumdungen über hochgestellte
Männer in die Welt zu bringen"; 133 jeder Abonnent der .Kreuzzeitung'
beteilige sich indirekt an dieser ehrlosen Handlungsweise. Diesen Vor-
wurf nun wiederum wollten die prominenten Leser der Zeitung nicht
hinnehmen: sie veröffentlichten dort eine Deklaration, in der es hieß: „Als
treue Anhänger der königlichen und konservativen Fahne weisen wir die
Anschuldigungen gegen die Kreuzzeitung und die gesamte durch sie
vertretene Politik entschieden zurück" 134 . Die Liste der Unterzeichner
glich in der Tat „einem Auszug aus dem .Gotha"*:135 nicht nur die
Repräsentanten führender Adelsfamilien waren darunter, sondern auch
eine ganze Reihe von Bismarcks alten Freunden unter seinen Standesge-
nossen. Doch die Attacke des Kanzlers gegen das einst von ihm selbst
mitbegründete Blatt blieb keineswegs „wirkungslos"136, wie man gemeint
hat: schon im Mai 1876 mußte Nathusius-Ludom als Chefredakteur der
.Kreuzzeitung' zurücktreten137. Zwar gelang es ihm noch, sich - trotz
Bismarcks Widerspruch138 - an der Gründung der Deutschkonservativen
Partei zu beteiligen und 1877 in den Reichstag wählen zu lassen, doch gab
er schon ein Jahr später sein Mandat zurück. Er hat sich zwar noch
weiterhin publizistisch betätigt, doch nur mit mäßigem Erfolg; seine
eigentliche politische Karriere war beendet, bevor sie richtig begonnen
hatte.
Sein Bruder, der Theologe Martin von Nathusius (1843-1906) 139 , setzte
die konservative Familientradition fort. Nach seinem Studium der Theo-

132
Dies zeigt auch die Darstellung, die er - Nathusius-Ludom nicht schonend - in
seinen Erinnerungen gegeben hat: O. v. B i s m a r c k , Die gesammelten Werke, Bd. XV,
S. 350ff.
133
Ebd., Bd. XI, S. 435.
134
P o s c h i n g e r (wie Anm. 50), Bd. II, S. 202, Anm. 1.
135
Gall (wie Anm. 130), S. 546.
136
So S t e r n (wie Anm. 129), S. 609.
137
Vgl. R e t a l l a c k (wie Anm. 112), S. 19.
138
Vgl. R o t h f e l s (wie Anm. 114), S. 392; P o s c h i n g e r (wie Anm. 50), Bd. II, S.
237f.
139
Über ihn siehe A. U c k e l e y , Martin Friedrich Engelhard von Nathuius, in:
Biographisches Jahrbuch und Deutscher Nekrolog, hrsg. von A. Bettelheim, Bd. XI,

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Bürgerlicher Aufstieg und adeliger Konservatismus 219

logie (von seinen akademischen Lehrern übte der Pietist Tholuck den
stärksten Einfluß auf ihn aus) war er 1869 Hilfsprediger in Wernigerode,
1873 Pastor in Quedlinburg geworden. 1871 hatte er von seinem erkrank-
ten Vater, der schon im folgenden Jahr starb, die Redaktion des ,Volks-
blatts für Stadt und Land' übernommen140. Zwar beteiligte sich auch das
,Volksblatt' in den siebziger Jahren an der Kritik der von den Liberalen
getragenen Regierung Bismarcks, allerdings wesentlich zurückhaltender
im Urteil und maßvoller in der Formulierung als zu gleicher Zeit die
,Kreuzzeitung'. Hier sprach man Grundsatzfragen an und sah sorgenvoll
in die Zukunft. Im Juni 1875, zur Zeit der „Ära-Artikel", war beispiels-
weise im ,Volksblatt' zu lesen: „Daß Bismarck seine ganze Kraft dem
Könige und Königthume widmet, glauben wir ohne weiteres, uns kommt
nur der Weg seltsam vor. ... Heute hat Bismarck die liberale Partei noch
völlig in der Gewalt, ein leister Druck von seiner starken Hand formt
sofort die weiche Masse. Wer giebt aber Bürgschaft, daß die Masse nicht
einmal erstarre und hat er eine Hand in petto, die nach seinem Abgange
die Sache leitet und beherrscht? Noch hat das Königthum von Gottes
Gnaden starke Wurzeln in unserem Volke, aber auch die kräftigsten Triebe
können absterben, die gesundesten Wurzeln anfaulen und angefressen
werden." 141 Als das Blatt einzugehen drohte, stellte es Martin von Nathu-
sius vom wöchentlichen auf monatliches Erscheinen um; auch der Titel
wurde geändert: seit 1879 hieß die Zeitschrift .Allgemeine Conservative
Monatsschrift für das christliche Deutschland'; 1882 wurde Dietrich von
Oertzen Mitherausgeber142. Nathusius faßte sein Blatt keineswegs als
parteigebunden auf; es stand zwar der neugegründeten Deutsch-konserva-
tiven Partei nahe, distanzierte sich in seinen Aussagen aber deutlich vom
„mittelparteilichen", bismarckfreundlichen Kurs des neuen Parteivorsit-
zenden Otto von Helldorf-Bedra 143 . Martin von Nathusius knüpfte, wie

1906, S. 55-57; D. v. O e r t z e n , Erinnerungen aus meinem Leben, Berlin o.J. (1914),


S. 176-178.
140
Vgl. M. v. N a t h u s i u s (wie Anm. 103), S. 292f.
141
Volksblatt für Stadt und Land, 32. Jhg., Nr. 22 (2. 6. 1875), Sp. 350 (anläßlich
einer Kulturkampfdebatte im Herrenhaus).
142
Vgl. R e t a l l a c k (wie Anm. 112), S. 57ff.; O e r t z e n (wie Anm. 139), S. 83, 89f.
143
Vgl. Ο. E. S c h ü d d e k o p f , Die deutsche Innenpolitik im letzten Jahrhundert und
der konservative Gedanke - Die Zusammenhänge zwischen Außenpolitik, innerer
Staatsführung und Parteiengeschichte, dargestellt an der Geschichte der Konservativen
Partei von 1807 bis 1918, Braunschweig 1951, S. 73ff.; R e t a l l a c k (wie Anm. 112), S.
18ff., 28ff.; P. A. M e r b a c h , Otto Heinrich von Helldorf-Bedra, in: H. v. A m i m / G . v.
Below (Hrsg.), Deutscher Aufstieg - Bilder aus der Vergangenheit und Gegenwart der
rechtsstehenden Parteien, Berlin - Leipzig - Wien - Bern 1925, S. 243ff.

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220 Hans-Christof Kraus

schon sein Bruder Philipp, unmißverständlich an die vor 1866 liegenden,


altkonservativen Traditionen an: „Die Monatsschrift vertritt die christli-
che Weltanschuung, sie ist das Organ der christlichen Partei im Lande,
einer Partei, die erst im Werden begriffen ist"144, bemerkte er 1880 und
stellte anschließend fest, daß „ein gewisser lähmender Mißmuth über viele
Kreise der conservativen Partei gekommen" sei, dem die .Allgemeine
Conservative Monatsschrift' durch „eine kräftige Vertretung der christli-
chen Ideen begegnen werde, „deren Verwirklichung im Staats- und öffent-
lichen Leben überhaupt zur Conservirung des Vaterlandes nöthiger denn
je geworden" 145 sei.
Innerhalb der Deutschkonservativen Partei gehörte Martin von Nathu-
sius zur rechten Opposition, zur „Kreuzzeitungsgruppe"146 um den seit
1881 als Chefredakteur der .Kreuzzeitung' amtierenden Wilhelm von
Hammerstein und vor allem den Hofprediger und Reichstagsabgeordneten
Adolf Stoecker147. Hatte Stoecker noch 1876 die von Nathusius ausge-
sprochene Forderung, die Kirche habe auch die Aufgabe zum politischen
Handeln, zurückgewiesen148, so rückten beide in den achtziger Jahren
enger zusammen. Man wird davon ausgehen können, daß Nathusius (ob-
wohl die bisherige, allerdings recht begrenzte Forschung hierüber nichts
überliefert hat), nach allem, was über seine politische Einstellung bekannt
ist, den Kampf Hammersteins und Stoeckers gegen die Kartellpolitik
Bismarcks in den späten achtziger Jahren149 unbedingt mitgetragen, wenn
nicht sogar nachhaltig unterstützt hat. Vermutlich ist er auch an der
Ausarbeitung und Verabschiedung des neuen „Tivoli-Programms" der
Deutschkonservativen Partei, das Hammerstein und Stoecker im Dezem-
ber 1892 durchgesetzt hatten, beteiligt gewesen150. Hier wurden die christ-
lichen Akzente wesentlich stärker herausgehoben als im alten Programm

144
M. v. N a t h u s i u s (wie Anm. 103), S. 294.
145
Ebd., S. 295.
146
Vgl. H e f f t e r (wie Anm. 131), S. 9ff.; S c h ü d d e k o p f (wie Anm. 143), S. 80ff.;
R e t a l l a c k (wie Anm. 112), S. 36ff.
147
Über ihn und seine politische Bedeutung siehe D. v. O e r t z e n , Adolf Stoecker -
Lebensbild und Zeitgeschichte, Bde. I—II, Berlin 1910; W. F r a n k , Hofprediger Adolf
Stoecker und die christlich-soziale Bewegung, Berlin 1928; G. B r a k e l m a n n / M . G r e -
s c h a t / W . J o c h m a n n , Protestantismus und Politik - Werk und Wirkung Adolf Sto-
eckers (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, 17), Hamburg 1982.
148
Vgl. F r a n k (wie Anm. 147), S. 31.
149
Vgl. bes. H e f f t e r (wie Anm. 131), S. 116ff., 158ff.
150
Vgl. ebd., S. 226f., 230ff.; R e t a l l a c k (wie Anm. 112), S. 91ff.

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Bürgerlicher Aufstieg und adeliger Konservatismus 221

von 1876151. Als Stoecker im Jahre 1890 den ersten Evangelisch-sozialen


Kongreß berief, war Martin von Nathusius - seit zwei Jahren ordentlicher
Professor für praktische Theologie an der Universität Greifswald - an
führender Stelle mitbeteiligt; man zählte ihn unter die „hochkirchlichen
Autoritäten"152. Natürlich gehörte er auch hier zum äußersten rechten
Flügel und hat sich immer wieder scharf mit Friedrich Naumann ausein-
andergesetzt153. Als Stoecker 1896 aus dem Evangelisch-sozialen Kon-
greß herausgedrängt wurde, ging Nathusius mit ihm; beide gründeten
daraufhin die Kirchlich-soziale Konferenz 154 . Auch später hat er Stoecker
gegen alle Anwürfe verteidigt155, und als 1896 der allmächtige Freiherr
von Stumm, Freund des Kaisers und Abgeordneter der Reichskonservati-
ven, die christlich-soziale Bewegung und deren königstreue, streng kon-
servative Mitarbeiter als verkappte Sozialisten attackierte, urteilte Martin
von Nathusius öffentlich, „daß es Herrn von Stumm nicht um die Sache
zu tun ist und daß der politische Einfluß dieses Mannes ein nationales
Unglück ist" 156 .
Auch in seinen theoretischen Schriften, insbesondere in seinem zuerst
1893/95, in zweiter Auflage 1897 erschienenen theologisch-politischen
Hauptwerk „Die Mitarbeit der Kirche an der Lösung der sozialen Frage",
hat Martin von Nathusius die Grundideen seiner christlich-altkonservati-
ven Überzeugungen ausführlich dargelegt. Bei der Entwicklung seines
politischen Standortes setzte er selbstverständlich „die Wahrheit der
christlichen Religion voraus"157. In zwei Sätzen faßt er den Kern seiner
christlich-konservativen Weltanschauung zusammen: „erstlich, daß es

151
Gedruckt in: F. S a l o m o n , Die deutschen Parteiprogramme, Bd. II, Leipzig -
Berlin J 1912, S. 71ff.
152
M. W e b e r , Max Weber - Ein Lebensbild, Tübingen 1926, S. 140.
153
Vgl. O e r t z e n (wie Anm. 147), Bd. II, S. 19; M. v. N a t h u s i u s , Die Mitarbeit
der Kirche an der Lösung der sozialen Frage, Leipzig 21897, S. 136, 318, Anm.
154
Vgl. O e r t z e n (wie Anm. 147), Bd. II, S. 10f., 192, 198f.; F r a n k (wie Anm.
147), S. 366; Κ. E. P o l l m a n n , Landesherrliches Kirchenregiment und soziale Frage -
Der evangelische Oberkirchenrat der altpreußischen Landeskirche und die sozialpoliti-
sche Bewegung der Geistlichen nach 1890 (Veröffentlichungen der Historischen Kom-
mission zu Berlin, 44), Berlin - New York 1973, S. 271.
135
Vgl. O e r t z e n (wie Anm. 147), Bd. II, S. 204,224; M.v. N a t h u s i u s (wie Anm.
153), S. 135f.
156
M. v. N a t h u s i u s , Was ist christlicher Sozialismus? Leitende Gesichtspunkte
für evangelische Pfarrer und solche, die es werden wollen, Berlin 1896, S. 47; vgl. auch
P o l l m a n n (wie Anm. 154), S. 158f.
157
M. v. N a t h u s i u s (wie Anm. 153), S. 233.

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222 Hans-Christof Kraus

eine von Gott ... für die Welt bestimmte Ordnung giebt, eine göttliche
Weltordnung, die in wesentlichen Punkten gestört ist - und zweitens, daß
es eine göttliche That giebt, die Erlösung durch Jesum Christum, welche
die göttliche Weltordnung wiederherzustellen bestimmt ist. Alles Unheil
liegt in der Störung der göttlichen Ordnung und der Loslösung von seinem
Willen. Alles Heil besteht in der Zurückführung zu demselben." 159 In der
Welt herrscht das Gesetz Gottes, es steht als absolute Norm über dem
menschlichen Handeln: „Das göttliche Gesetz für die gesamten Beziehun-
gen des menschlichen Lebens bleibt bestehen, ob der Mensch sich danach
richtet oder nicht" 160 . Das politische Handeln ist also auf die Einfügung
des Menschen in die von Gott gesetzte Ordnung gerichtet - bzw. auf die
Wiederherstellung verlorengegangener Elemente und Ausprägungen die-
ser Ordnung. Ihr Abbild ist für Nathusius die ständische Ordnung;161 an
sie muß angeknüpft werden: „Ein Staat ohne Stände ist kein Organismus
mehr. Und da das alte nicht mehr vorhanden ist, so muß ein neues
Ständerecht geschaffen werden: das ist die Aufgabe derZeit."162 Die „Idee
der Gleichheit" besitzt für Nathusius einen rein transzendentalen Charak-
ter; wird sie „nur in den Schranken des diesseitigen Lebens erfaßt, so muß
sie das soziale Leben verwirren" 163 . Gesetz und Wille Gottes sind für ihn
allumfassend, „auch das gesamte wirtschaftliche Leben ... soll duch den
Gedanken an Gottes Ordnungen geregelt werden" 164 , woraus sich ebenso
die Pflicht zur Arbeit wie diejenige zur sozialen Verantwortung für die
Untergebenen ableiten läßt. Daß dies alles natürlich die unbedingte Gül-
tigkeit und allgemeine Akzeptanz der christlichen Glaubenslehren voraus-
setzt, ist selbstverständlich: „Ich glaube in der That", formulierte Nathu-

138
Ebd., S. 234.
159
Ebd., S. 236.
160
Ebd., S. 239; die Folgen, die sich hieraus für das politische Denken und Handeln
des Menschen ergeben, sind evident, vgl. ebd., S. 239f.: „Wenn i r g e n d e t w a s in
der N a t u r den von dem S c h ö p f e r g e s e t z t e n O r d n u n g e n und B e d i n g u n -
gen e n t n o m m e n w i r d , so wird es d a m i t g e t r e n n t von G o t t , vom Leben
und v e r k ü m m e r t . W a s im M e n s c h e n l e b e n sich e n t z i e h t den ... vom
S c h ö p f e r g e s e t z t e n O r d n u n g e n und B e d i n g u n g e n , t r e n n t s i c h d a m i t
von G o t t , vom L e b e n , und v e r f ä l l t dem T o d e . Alles Heil besteht demnach
für den Menschen und alle menschlichen Verhältnisse in dem Bleiben oder dem Zurück-
kehren zu den von Gott gesetzten Lebensbedingungen."
141
Vgl. ebd., S. 45ff.
1M
Ebd., S. 51.
163
Ebd., S. 141.
164
Ebd., S. 354.

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Bürgerlicher Aufstieg und adeliger Konservatismus 223

sius an anderer Stelle, den Prozeß der Säkularisierung ignorierend, „daß


wir uns in einem Zeitlauf der zunehmenden Religiosität, der Erstarkung
des kirchlichen und des christlichen Bewußtseins befinden" 165 . - Nach-
dem er sich in den letzten Jahren seines Lebens aus der Politik zurückge-
zogen und sich vornehmlich auf seine wissenschaftliche Arbeit konzen-
triert hatte, starb Martin von Nathusius 1906 in Greifswald.

Resümiert man die - im Vorangegangenen freilich nur in kurzen bio-


graphischen Ausschnitten skizzierte - Entwicklung der Familie Nathusius
über drei Generationen hinweg, vom späten 18. bis zum Beginn des 20.
Jahrhunderts, dann scheinen auf den ersten Blick die anfangs erwähnten
Thesen Arno J. Mayers und Francis L. Carstens von der „Feudalisierung"
des Bürgertums mehr als bestätigt worden zu sein. Ein größerer Unter-
schied als derjenige zwischen dem alten, aufgeklärten, liberalen, bürger-
stolzen Johann Gottlob Nathusius und seinen, sich konservativer als die
meisten Junker gebärdenden, die „göttliche Weltordnung" noch im Zeit-
alter der heraufziehenden Massengesellschaft verteidigenden Enkeln läßt
sich kaum denken. Doch die Geschichte der Familie Nathusius im 19.
Jahrhundert ist eben gerade kein Beleg für die These, die konservative
Ideologie der Junker habe „wie ein Magnet auf die bürgerlichen Schich-
ten" 166 gewirkt. Denn diese Familiengeschichte ist alles andere als reprä-
sentativ, sie trägt in fast jedem ihrer Abschnitte den Charakter der Aus-
nahme und des Ungewöhnlichen.
Dies trifft schon auf die politischen Anschauungen der Familie zu.
Mischten sich bei Hermann, Wilhelm und Heinrich von Nathusius immer-
hin noch religiöse mit interessenpolitischen Gesichtspunkten, so war doch
ihr Bruder Philipp, wie mit Recht bemerkt worden ist, „ein typischer
Vertreter jener ... rein geistigen, von der religiösen Idee getragenen Rich-
tung des Altkonservativismus, die in den nächsten Jahrzehnten durch die
moderne realpolitische und wirtschaftliche Denkweise immer stärker in
den Hintergrund gedrängt wurde und an deren Stelle im neuen Reich
vielfach ein ganz einseitig orientierter, selbstsüchtiger Konservativismus

165
M. v. N a t h u s i u s , Die Inspiration der Hl. Schrift und die historische Kritik
(Zeitfragen des christlichen Volkslebens; XX, 6), Stuttgart 1895, S. 3.
166
C a r s t e n (wie Anm. 3), S. 131.

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224 Hans-Christof Kraus

der nackten Interessen und des Klassenkampfes trat" 167 . Und seine beiden
Söhne Philipp von Nathusius-Ludom und Professor Martin von Nathusius
endeten schließlich als politische Außenseiter: indem sie versuchten, noch
das Junkertum gewissermaßen rechts zu überholen, gerieten sie ins poli-
tische Abseits: die von ihnen gepredigte „politische Theologie" wurde
offenbar nur noch als eine besonders aufschlußreiche Ausprägung von
Wirklichkeitsblindheit aufgefaßt. Insbesondere Martin von Nathusius, der
in den 1890er Jahren die beginnende Verquickung von junkerlichen und
industriellen Interessen in der Person des Freiherrn von Stumm aufs
schärfste angriff, ist in keiner Weise mehr als Repräsentant eines „sich
feudalisierenden Bürgertums" anzusehen.
Im Gegenteil: schon in der Zeit vor der Reichsgründung war die Familie
von Nathusius zur Zielscheibe deutlicher Kritik oder auch beißenden
Spotts von seiten ihrer bürgerlichen Verwandtschaft geworden, wie den
in dieser Hinsicht sehr aufschlußreichen Jugenderinnerungen der Gabriele
Reuter zu entnehmen ist. Man sah die Gesinnung und Lebensweise, wie
sie auf Althaidensleben und Hundisburg gepflegt wurde, durchaus als
negatives Vorbild für die eigenen Nachkommen, - so sprach man „über
die einseitig orientierte Weltauffassung der Familie von Nathusius, für die
es nur Gutsbesitzer und Kavallerieoffiziere - vielleicht noch Pastoren -
als anerkannte Berufe gäbe, eine Anschauung, die für Knaben, welche
durch eigene Kraft ihren Weg suchen mußten, höchst gefährlich sei" 168 .
Und auf der anderen Seite machte man sich wiederum lustig: mit „humo-
ristische(m) Lächeln" antwortete Gabriele Reuters Vater auf die Frage
seiner Tochter, „auf welcher Seite im Reichstag die Nathusiusse sitzen
würden, ...: ,Für die wird nach rechts noch ein Balkonchen hinausge-
baut!'" 169 Man wird dies nicht als Äußerungen kleinbürgerlichen Sozial-
neides abtun können, sondern hier drückte sich ein bürgerliches Selbstbe-
wußtsein aus, das die „Feudalisierung" der Familie Nathusius durchaus

167
A n d r e s (wie Anm. 66), S. 33.
168
R e u t e r (wie Anm. 53), S. 194f.; auch Gabriele Reuter selbst hat sich, trotz aller
Sympathie für ihre Verwandten, von den Anschauungen der Familie von Nathusius
deutlich distanziert, vgl. ebd., S. 251: „Etwas wie Bürgerstolz und Bürgertrotz lehnte
sich in mir auf gegen diese konservative Welt, die denn doch auf den Adel, seinen
Privilegien, seinen Vorurteilen und seiner herrschenden Stellung in Staat und Kirche
erbaut war. Was ihr außer dem Adel an Pastoren, Diakonissen, frommen Handwerkern
angehörte..., alles trug den Stempel von Gefolgschaft. Ich aber wollte nicht Gefolgschaft
sein - ich wollte dort stehen, wo ich von Geburts- und Rechtswegen hingehörte".
169
Ebd., S. 251.

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Bürgerlicher Aufstieg und adeliger Konservatismus 225

nicht als etwas allgemein Übliches, sondern gerade als Ausnahmeerschei-


nung erkannte und konsequent ablehnte.
Nicht zuletzt muß in diesem Zusammenhang daran erinnert werden, daß
es auch einen ganz anderen Typus des nichtadeligen Grundbesitzers ge-
geben hat. Als Beispiel sei hier nur Werner Sombarts Vater Anton Ludwig
Sombart (1816-1898) genannt, der, aus kleinsten Verhältnissen stam-
mend, sich zum wohlhabenden Besitzer mehrerer Rittergüter und einfluß-
reichem Agrarpolitiker emporarbeitete - ohne sich selbst oder seine Fa-
milie „feudalisieren" zu lassen. Er entwickelte sogar ein sozial-politisches
Programm, das den Bauernstand durch Parzellierung des Großgrundbesit-
zes heben sollte, und er ging dabei mit eigenem Beispiel voran. Für die
Liberalen saß er als Abgeordneter im preußischen Landtag und später für
die Nationalliberalen im Reichstag, ohne (wie sein Sohn schreibt) in den
achtziger Jahren „die Wandlung der Partei zu einer Schutztruppe des
ostelbischen Agrariertums mitzumachen"170. - Es mag sein, daß auch
Anton Ludwig Sombart als soziale Erscheinung eine Ausnahme darstellt,
- aber selbst dann sollte man vor überzogenen Thesen über eine angebli-
che „Feudalisierung" „des" deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert
zurückschrecken. Daß es manchen Fall dieser Art von „Feudalisierung"
durchaus gegeben hat, zeigt das Beispiel der Familie Nathusius vielleicht
deutlicher als andere. Aber es zeigt zugleich, daß die Entwicklung und
Geschichte dieser Familie in sehr viel stärkerem Maße die Ausnahme als
die Regel gewesen ist. Jedenfalls verdient das sozial- und mentalitätsge-
schichtliche Phänomen einzelner Feudalisierungstendenzen innerhalb des
Bürgertums im letzten Jahrhundert eine wesentlich differenziertere, an der
konkreten Ausprägung orientierte Betrachtung, als ihm bisher zuteil ge-
worden ist.

170
Zit. in: B. v. B r o c k e , Werner Sombart 1863-1941 - Eine Einführung in Leben,
Werk und Wirkung, in: D e r s . (Hrsg.), Sombarts .Moderner Kapitalismus' - Materialien
zur Kritik und Rezeption, München 1987, S. 14.

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