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Konservatismus
Zur S o z i a l - u n d M e n t a l i t ä t s g e s c h i c h t e einer p r e u ß i s c h e n
F a m i l i e im 19. J a h r h u n d e r t
1
Arno J. M a y e r , Adelsmacht und Bürgertum - Die Krise der europäischen
Gesellschaft 1848-1914, München 1988 (zuerst erschienen unter dem Titel ,The Persist-
ence of the Old Regime', New York 1981; im folgenden nach der dt. Ausgabe zitiert).
2
Beide Zitate ebd., S. 83, 89; zur Situation in Deutschland vgl. bes. S. 98ff.
3
Vgl. F. L. Carsten, Geschichte der preußischen Junker, Frankfurt am Main
1988, S. 130f.: „ ... weite bürgerliche Kreise ... übernahmen die Ideen des Junkertums -
oder was sie darunter verstanden -, wurden erzkonservativ, suchten Anschluß an die
sozial und gesellschaftlich führende Klasse und wurden .feudalisiert'.... Vor allem die
militärischen Tugenden und Wertvorstellungen der Junker wurden von breiten bürger-
lichen Kreisen übernommen und schon bei der Erziehung als Vorbild hingestellt, wäh-
rend alle (sic! H.-C. K.) anderen Werte vernachlässigt wurden. ... Die Junker blieben
ihrer alten Ideologie zum großen Teil treu, und diese wirkte wie ein Magnet auf die
bürgerlichen Schichten".
4
Hierzu immer noch wichtig die Arbeiten von W. C o n z e , Das Spannungsfeld von
Staat und Gesellschaft im Vormärz, in: Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz,
hrsg. von D e m s . (Industrielle Welt, 1), Stuttgart 1962, S. 207-269; E. A n g e r m a n n ,
Das .Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft' im Denken des 18. Jahrhunderts, in:
Zeitschrift für Politik 10, 1963, S. 89-101.
5
Vgl. H. C o n r a d , Die geistigen Grundlagen des Allgemeinen Landrechts für die
preußischen Staaten (Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-West-
falen; Geisteswissenschaften, H. 77), Köln-Opladen 1958.
6
Grundlegend hierzu: R. K o s e l l e c k , Preußen zwischen Reform und Revolution
- Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848 (Indu-
strielle Welt, 7), Stuttgart 2 I975, S. 87ff.
ten"besaßen besondere Rechte, u.a. waren sie nur den königlichen Ober-
gerichten, nicht den städtischen Gerichten unterworfen, außerdem unter-
lagen sie nicht der militärischen Dienstpflicht7. In dieser Hinsicht war das
eximierte Bürgertum dem Adel rechtlich weitgehend gleichgestellt; vom
mittleren und unteren Bürgertum hob es sich dagegen deutlich ab. Doch
„die Exemption, im 18. Jahrhundert noch ein Vehikel, die bürgerliche
Oberschicht aus den Banden der Ständegesellschaft zu befreien, wirkte
sich im Lauf des Vormärz als eine Fesel der freien Wirtschaftsgesellschaft
aus"8. Denn auf der einen Seite nahm die Zahl der ökonomisch erfolgrei-
chen Bürger rapide zu, auf der anderen Seite sahen die bereits seit dem
späten 18. Jahrhundert ökonomisch und in ihrer sozialen Stellung aufge-
stiegenen Bürger keine Veranlassung, einer Aufweichung ihrer erworbe-
nen Vorrechte durch den Aufstieg zu vieler Neureicher tatenlos zuzuse-
hen. Die Interessengemeinschaft zwischen dem Adel und den meisten
Angehörigen des eximierten Bürgertums wurde zunehmend enger; zudem
lag es durchaus im Interesse der Krone, die in ökonomischer Hinsicht
bedeutendsten dieser Eximierten durch Nobilitierung möglichst fest in die
bestehende soziale und politische Ordnung einzubinden.
Dieser Vorgang, der von größter sozialhistorischer Bedeutung für die
weitere Entwicklung Deutschlands im 19. Jahrhundert gewesen ist, soll
im folgenden am Beispiel des Aufstiegs und der Entwicklung der Familie
Nathusius vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert dargestellt und
illustriert werden. Schon Walter Görlitz hat vor Jahren mit Recht darauf
hingewiesen, daß gerade diese Familie „ein vorzügliches Beispiel für das
in den Grundbesitz und den Adel übergehende und sich verhältnismäßig
rasch feudalisierende Fabrikantentum des frühen 19. Jahrhunderts"9 bil-
det. Die Geschichte der Familie Nathusius, die vom aufgeklärt-liberalen,
sich aus kleinsten Verhältnissen emporarbeitenden, bürgerstolzen Johann
Gottlob Nathusius über seine geadelten, romantisch-konservativen Nei-
gungen nachhängenden Söhne bis zu den Enkeln reicht, die - adelsstolzer
und konservativer als die ostelbischen Junker - dem Bismarckstaat noch
von rechts her opponieren, - diese Geschichte also scheint auf den ersten
Blick die umstrittenen Thesen Mayers und Carstens voll und ganz zu
bestätigen. Und doch tut sie es wiederum nicht: und zwar nicht nur, weil
7
Vgl. ebd., S. 89f., 94f.
8
Ebd., S. 93.
9
W. G ö r l i t z , Die Junker - Adel und Bauer im deutschen Osten, Limburg a.d.
Lahn 3 1964, S. 220.
das Individuelle und Konkrete niemals vollständig und bruchlos unter das
Allgemeine subsumiert werden kann. Denn die Entwicklung dieser Fami-
lie10 enthält, besonders seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, so viele
ungewöhnliche, in keiner Weise repräsentative Züge, daß sie zur Unter-
mauerung bestimmter Thesen, wenn überhaupt, nur in sehr begrenztem
Maße taugt. Aber vielleicht macht gerade das ihren Reiz aus. Sozial- und
mentalitätsgeschichtlich aufschlußreich ist sie ohne Zweifel allemal.
10
Für die Stammfolge vgl.: Genealogisches Handbuch des Adels, Bd. 57 (= Adelige
Häuser B, Bd. XI), Hauptbearb. W. v. H u e c k , Limburg a.d. Lahn 1974, S. 308-323.
11
Über ihn siehe L e i s e w i t z : Art. Gottlob Nathusius, in: Allgemeine Deutsche
Biographie, Bd. XXIII, S. 271-276; E. v. N a t h u s i u s , Johann Gottlob Nathusius - Ein
Pionier deutscher Industrie, Stuttgart - Berlin 1915 (grundlegend); M. P a h n c k e ,
Johann Gottlob Nathusius, in: Mitteldeutsche Lebensbilder, Bd. II, Magdeburg 1927, S.
60-81.
12
Die schweren Mißhandlungen, die er zu erdulden hatte, schildert Nathusius
anschaulich in seinen für seine Kinder angefertigten autobiographischen Aufzeichnun-
gen, die in der Biographie von E. v. N a t h u s i u s verwertet sind. Zusammenfassend
resümiert er (ebd., S. 27): „Von der schlechten Kost und Anstrengung während meiner
Lehrjahre bin ich indessen immer klein und schwächlich geblieben, während meine
Brüder alle außergewöhnlich große Menschen waren. Ich bin der einzige kleine unter
ihnen".
13
E. v. N a t h u s i u s (wie Anm. 11), S. 31.
14
Vgl. ebd., S. 44ff.
13
Vgl. ebd., S. 59ff.; zur Geschichte der von Nathusius begründeten Magdeburger
Tabakfabrik, die sich bis 1950 im Familienbesitz befand, siehe auch: M. N a t h u s i u s ,
Die .Magdeburger Linie' der Familie Nathusius, o.O. 1985, S. 93-102.
16
E. v. N a t h u s i u s (wie Anm. 11), S. 83.
es gelang ihm mit einigen anderen führenden Kaufleuten der Stadt, die
maroden Finanzen durch die Gründung einer neuen, von der westfälischen
Regierung garantierten Bank zu konsolidieren. Die neuen Staatsformen
waren Nathusius „sympathisch und entsprachen seinen längst gehegten
politischen Idealen. Er schätzte sie um so höher, da er sie mit dem alten,
schleppenden preußischen Zopfregiment verglich, und er teilte diese Vor-
liebe mit vielen seiner Zeitgenossen"17. 1808 wurde er gar Abgeordneter
für das „Elbdepartement" im Reichstag zu Kassel, und mit der neuen
Regierung kam er ebenfalls schnell ins Geschäft 18 .
Die Jahre der napoleonischen Herrschaft brachten nicht nur politische,
sondern auch entscheidende ökonomische Veränderungen für Nathusius
mit sich. Wie mancher andere Großindustrielle seiner Zeit begann er mit
dem Erwerb von Grund und Boden; dies brachte „zusätzliches Sozialpre-
stige ein und bildete außerdem eine Rückversicherung gegen wirtschaft-
liche Krisen" und war schließlich auch „ein Mittel der Kapitalstreuung"19.
1810 erwarb er das in der Umgegend Magdeburgs liegende ehemalige
Klostergut Althaldensieben, ein Jahr später das benachbarte Schloß Hun-
disburg, beides mit umfassendem Grundbesitz, den er in späteren Jahren
noch arrondieren konnte20. Hier vermochte sich sein Tatendrang in neuer
Sphäre zu entfalten: nachdem er die arg heruntergekommene Land- und
Forstwirtschaft wieder auf die Beine gebracht hatte, begann er - nur durch
die Zeit der Befreiungskriege unterbrochen - mit dem ökonomischen
Ausbau der Güter. Gärtnereien, Obstplantagen, Baumschulen wurden
angelegt; schon 1813 begann Nathusius, als einer der ersten in Deutsch-
land, mit der fabrikmäßigen Herstellung von Rübenzucker. Ein Steinbruch
wurde in Betrieb genommen, es folgte der Auf- und Ausbau einer Ziegelei,
einer Töpferei und einer Gipsbrennerei und Gipsmühle, mit der sogleich
eine Walkmühle verbunden wurde21. Er richtete ein chemisches Labora-
torium ein und plante gar die Errichtung einer chemischen Fabrik, die er
dann doch - aufgrund des damaligen Standes der Technik - nicht verwirk-
lichen konnte. Andere Rückschläge wogen schwerer: sein Versuch, die
erste Maschinenfabrik mit Hilfe aus England angeworbener Arbeiter auf-
zubauen, schlug fehl: der von ihm eingesetzte Spezialist erwies sich als
17
Ebd., S. 107.
18
Vgl. ebd., S. 108ff.
19
M a y e r (wie Anm. 1), S. 91.
20
Vgl. E. v. N a t h u s i u s (wie Anm. 11), S. 151ff„ 165ff.
21
Vgl. ebd., S. 169ff.
22
Vgl. ebd., S. 21 Iff.
23
Vgl. ebd., S. 290ff.
24
Vgl. die Aufstellung ebd., S. 223f.
25
P a h n c k e (wie Anm. 11), S. 73.
26
Vgl. E. v. N a t h u s i u s (wie Anm. 11), S. 70f„ 74ff., 81, 87f., 199ff.
gen" 27 . Zudem erbitterte ihn ein verlorener Prozeß gegen die preußische
Regierung. 1814 hatte er - noch nach westfälischem Recht - ein ehemals
dem Prinzen Louis Ferdinand gehörendes Gut erworben, das er 1818 auf
Gerichtsbeschluß (allerdings gegen angemessene Entschädigung) wieder
herausgeben mußte. Als man Anstalten machte, ihm auch noch Hundis-
burg abzunehmen, beschwerte er sich in Berlin laut und öffentlich. Er
suchte Hardenberg persönlich auf und erklärte ihm unmißverständlich,
„daß, wenn man so weiter verfahren wolle, eine allgemeine Unsicherheit
des Eigentums eintreten und der Mißmut der ruhigen und wohlhabenden
Bürger erweckt würde"28. Die Regierung, die kein Interesse daran haben
konnte, den wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes nach den Jahren
der Not und des Krieges zu gefährden, gab nach: das übrige, in westfäli-
scher Zeit erworbene Grundeigentum blieb unangetastet, und Nathusius
gewann den Prozeß um Hundisburg. In seinen Fabriken und auf seinen
Gütern war er bis ins Alter rastlos tätig und konnte noch manchen Erfolg
verbuchen. Auch an den politischen Entwicklungen nahm er weiterhin mit
größtem Interesse Anteil. „Die französische Revolution 1830", so wird
überliefert, „regte ihn sehr auf, seine Hoffnungen gingen fortdauernd auf
ein konstitutionelles Regiment" 29 , - doch sie sollten nicht in Erfüllung
gehen. Zwar ließ er sich 1827 in den sächsischen Provinziallandtag wäh-
len, wandte sich aber bald von dieser mit nur sehr mangelhaften Befug-
nissen ausgestatteten Institution enttäuscht wieder ab 30 . Er starb im Jahre
1835.
II
Johann Gottlob Nathusius hatte sich erst als älterer Mann zur Ehe
entschließen können: 1819 heiratete er Luise Engelhard, die Tochter eines
hohen Beamten aus Kassel und Enkelin des bedeutenden Göttinger Histo-
rikers Johann Christoph Gatterer. Nathusius und seine Ehefrau hatten acht
27
Ebd., S. 2101.
28
Ebd., S. 205.
29
Ebd., S. 241.
30
Vgl. ebd., S. 240; über die preußischen Provinziallandtage vgl. vor allem
H. O b e n a u s , Anfänge des Parlamentarismus in Preußen bis 1848, Düsseldorf 1984, S.
156ff„ 21 Iff., 449ff.; K o s e l l e c k (wie Anm. 6), S. 337ff.; A. A r n d t , Der Anteil der
Stände an der Gesetzgebung in Preußen von 1823-1848, in: Archiv für öffentliches
Recht 17, 1902, S. 570-588.
Kinder, sechs Söhne und zwei Töchter. Ihr zweiter Sohn, der hochbegabte
Gottlob, der es gegen den erbitterten Willen seines Vaters erreicht hatte,
studieren zu dürfen, starb schon im Alter von zwanzig Jahren32. Die
anderen Söhne beugten sich den Wünschen des Vaters und übernahmen
zum Teil schon zu dessen Lebzeiten - trotz ihres sehr jugendlichen Alters
- die Leitung einzelner Betriebe und Güter. Der vierte Sohn August
(1818-1884) erbte das Gut Meyendorf und hat dort sein Leben als Guts-
herr und Landwirt verbracht. Im Gegensatz zu seinen - gleich ausführli-
cher zu behandelnden - übrigen vier Brüdern ist er nicht weiter hervorge-
treten. Dagegen bieten Hermann, Heinrich, Wilhelm und vor allem Philipp
von Nathusius überaus anschauliche Beispiele für das um die Mitte des
19. Jahrhunderts durchaus nicht seltene Phänomen der „konservativen
Söhne liberaler Väter" 33 . Es war dem alten Johann Gottlob Nathusius nicht
mehr gelungen - wohl nicht zuletzt infolge des großen Altersunterschie-
des - ein wirkliches Vertrauensverhältnis zu seinen Kindern zu gewinnen.
„Seine beständigen Ermahnungen zu Fleiß und Tugend verschüchterten
sie" 34 , bemerkt die Biographin. Als der Vater feststellte, daß seine Kinder
die Grimmschen Märchen lasen, nahm er sie ihnen weg, denn „seiner
Ansicht nach waren sie nur dazu angetan, der Kinder Wahrheitssinn zu
zerstören und die Phantasie zu beeinflussen". Ähnlich hielten es der alte
Aufklärer und auch seine Frau mit der Religion, „für die alle seine Kinder
von Natur aus eine besondere Empfänglichkeit hatten. Kühler Rationalis-
mus, verständiges Gottvertrauen war alles, was beide Eltern ihnen zu
geben hatten. Etwas anderes schien ihnen gefährlich und eine Versuchung
zu Heuchelei und Schwärmerei"35. Um so überraschender erscheint es,
daß der alte Nathusius ausgerechnet einen jungen Theologen - der dazu
noch ein Schüler Schleiermachers war - zum Lehrer seiner Söhne machte:
Julius Elster, der trotz seiner ganz anders gearteten Geistesrichtung ein
treuer Freund seines Dienstherrn wurde und einen bestimmenden Einfluß
auf die nächste Generation der Familie ausübte36.
31
Vgl. E. v. N a t h u s i u s (wie Anm. 11), S. 126ff., 139ff.
32
Vgl. ebd., S. 256f.
33
G ö r l i t z (wie Anm. 9), S. 251.
34
E. v. N a t h u s i u s (wie Anm. 11), S. 247.
35
Ebd.
36
Vgl. ebd., S. 225f.; P a h n c k e (wie Anm. 11), S. 78.
37
Über ihn vgl. W. v. N a t h u s i u s , Hermann von Nathusius - Rückerinnerungen
aus seinem Leben, in: Landwirthschaftliche Jahrbücher 9, 1880, S. 1-25; L e i s e w i t z :
Art. Hermann von Nathusius, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. XXIII, S.
277-283.
38
Vgl. E. v. N a t h u s i u s (wie Anm. 11), S. 252.
39
L e i s e w i t z (wie Anm. 37), S. 281. Offenbar ist es Hermann von Nathusius
gelungen, sich in manchen Detailfragen „als Gegner Darwin's zu behaupten und manche
von übereifrigen Anhängern des Letzteren vorgebrachte Beweise als Irrthümer zu
entkräften" (ebd.). Vgl. hierzu auch W. v. N a t h u s i u s (wie Anm. 37), S. 20ff.
40
L e i s e w i t z (wie Anm. 37), S. 278.
41
Ebd.
42
W. v. N a t h u s i u s (wie Anm. 37), S. 9f.
43
Vgl. Ernst Ludwig von Gerlach, Aufzeichnungen aus seinem Leben und Wirken,
hrsg. von J. v. G e r l a c h , Schwerin 1903, Bd. I, S. 517; M. L e n z , Bismarcks Plan einer
Gegenrevolution im März 1848 (Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wis-
senschaften, Phil.-Hist. Klasse 1930, 14), Berlin 1930; E. M a r e k s , Bismarck und die
Weg zu bringen. Sein Bruder erinnerte sich: „Ein ganz enger Kreis von
Männern zu welchen Nathusius gehörte, von den wirklichen Hergängen
in Berlin aus bester Quelle schon unterrichtet, während noch das ganze
Land durch die lügenhaften Berichte der Zeitungen, die ja größtentheils
durch die kleine Verschwörer-Bande terrorisiert wurden, wie in dumpfer
Erstarrung war, traf schnell Vorbereitungen, um alle königstreuen Ele-
mente, namentlich der Landbevölkerung zum Schutze des Königs gegen
den Berliner Pöbel aufzurufen" 44 . Wiewohl diese Aktion scheiterte, betei-
ligte er sich doch „mit größtem persönlichen Einfluß bei den Wahlen und
bei Begründung einer konservativen Provinzialzeitung"45. 1851 ließ er
sich noch einmal in den wiedererrichteten Provinziallandtag wählen,
„aber die ganze parlamentarische Entwicklung unserer öffentlichen Zu-
stände blieb ihm eine durchaus unsympathische, von welcher er sich
innerlich abwendete"46. Seiner politischen Gesinnung blieb er bis zu
seinem Tode im Jahre 1879 treu.
Dies läßt sich auch von seinem Bruder Wilhelm von Nathusius (1821-
1899) sagen, der neben den politischen Überzeugungen auch die naturwis-
senschaftlichen Neigungen seines Bruders teilte47. Wilhelm hatte 1843
Königsborn übernommen, eines der von seinem Vater erst in späteren
Jahren erworbenen Güter. Von 1852 bis 1878 war er Mitglied des Landes-
ökonomiekollegiums und seit 1869, als Nachfolger seines Bruders Her-
mann, Direktor des Landwirtschaftlichen Zentralvereins der Provinz
Sachsen. Auch er war im Nebenberuf wissenschaftlich tätig und veröffent-
lichte einige Schriften über zoologische Fragen und Themen der Landwirt-
schaft. 1861 wurde er - zusammen mit seinen Brüdern Philipp, August
und Heinrich - von König Wilhelm I. anläßlich seiner Krönung in Königs-
berg geadelt. Ihn zog es in stärkerem Maße als seine Brüder in die Politik:
1855 ließ er sich ins Abgeordnetenhaus wählen und gehörte hier, als
Mitglied der Fraktion Gerlach, der äußersten Rechten an, die keineswegs
in Treue fest zum Monarchen stand, sondern der Regierung Manteuffel
von rechts her opponierte. Nach der verheerenden Wahlniederlage der
Konservativen im Jahre 1858 verlor er sein Mandat. Schon früher war er
auch auf anderer Ebene aktiv geworden. Um der linksliberalen „Magde-
burgischen Zeitung" 48 , die ihn und seine Brüder mehrmals scharf attak-
kiert hatte, ein konservatives Organ entgegenzustellen, beteiligte er sich
maßgeblich (und vermutlich auch in finanzieller Hinsicht) an der Grün-
dung des „Magdeburger (Korrespondenten" Ende 184849. Noch in späterer
Zeit blieb er publizistisch aktiv: Anfang 1872, als seine Familie zu den
kompromißlosen Gegnern der Regierung Bismarck zählte, erregte er Auf-
sehen „wegen eines sarkastischen Artikels ... über den verfassungsmäßig
monarchischen und christlichen Charakter des preußischen Staates"50 in
der „Kreuzzeitung", was dem Blatt eine heftige Rüge des erzürnten
Reichskanzlers zuzog. Auch Wilhelm von Nathusius blieb bis zu seinem
Tode (er überlebte alle seine Brüder) seinen politischen Überzeugungen
treu, die von denen seines Vaters ebenso weit entfernt waren wie sie denen
seiner Brüder entsprachen.
Werner Conze hat einmal mit Recht die Tatsache hervorgehoben, daß
die ländlich-patriarchalische Herrschaftsordnung während der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts noch weitgehend intakt gewesen ist51. Hein-
rich von Nathusius (1824-1890) hat den Typus des ländlichen, adelsstol-
zen, aber auch sich seiner Verantwortung bewußten Patriarchen vielleicht
noch überzeugender als seine Brüder verkörpert52. 1849 übernahm er den
Hauptsitz der Familie, Althaldensleben, von seinem Bruder Philipp und
48
Vgl. den anschaulichen Beitrag von F. F a b e r , Magdeburgische Zeitung (1664-
1945), in: H.-D. F i s c h e r (Hrsg.), Deutsche Zeitungen des 17. bis 20. Jahrhunderts
(Publizistisch-historische Beiträge, 2), München - Pullach 1972, S. 57-73.
49
Vgl. E. B o c k , Die Konservativen in der Provinz Sachsen und die soziale Frage
in den Jahren 1848 bis 1870, in: Sachsen und Anhalt. Jahrbuch der Historichen Kom-
mission für die Provinz Sachsen und Anhalt 8, 1932, S. 351 f.
50
H. v. P o s c h i n g e r , Fürst Bismarck und die Parlamentarier, Bde. I—III, Breslau
1894-1896; hier Bd. III, S. 264.
51
C o n z e (wie Anm. 4), S. 219: „Die nur personal zu verstehende, religiös-politi-
sche Herrschaftspyramide einer durchgehenden patria potestas von Gott über den Für-
sten und die adligen oder bürgerlichen Hoheitsträger bis hin zu den Häusern der
bürgerlichen und bäuerlichen Familien war noch überall im Bewußtsein und in der
Realität lebendig".
52
Vgl. über ihn: W. v. N a t h u s i u s , Heinrich von Nathusius - Ein Lebensbild, in:
Landwirthschaftliche Jahrbücher 20, 1891, S. 237-260.
führte dort mit seiner Frau und seinen schließlich zwölf Kindern (die neun
Söhne erhielten Namen der Apostel) das typische Leben eines adeligen
Grundherrn, obwohl er selbst erst 1861 geadelt wurde. Seine Nichte, die
spätere Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Gabriele Reuter, hat überaus
anschauliche und lebendige Schilderungen des Landlebens auf Althai-
densleben überliefert 53 . Ihren Onkel schildert sie als eine „feine, etwas
sensitive Natur, die eigentlich für den Beruf eines Landwirts viel zu
geistig gerichtet war" 54 . Wie seine Brüder befolgte auch Heinrich von
Nathusius die Regeln und Gebote strengster Religiosität; „die Heiligung
des Sonntags wurde bei den Feldarbeiten seiner Wirthschaft, auch wo sie
Opfer erforderte, durchgeführt" 55 . Trotzdem war er ein außerordentlich
erfolgreicher Landwirt, der im Kreise seiner Berufsgenossen höchstes
Ansehen genoß. Wie sein Bruder Hermann war auch er im landwirtschaft-
lichen Vereinswesen in führenden Positionen tätig 56 . Seine eigentliche
Leidenschaft galt der Tierzucht, in besonderer Weise der Pferdezucht 57 .
Auf diesem Gebiet wurde er international bekannt, wohl nicht zuletzt
wegen der drei Bücher, die er dem Thema gewidmet hat 58 .
Obwohl ihm die Politik offenbar wenig zusagte und, so die Worte seines
Bruders, „der parte/-politische Gesichtspunkt ihm überhaupt kein sympa-
thischer" 59 gewesen ist, wurde er 1854, mit knapp dreißig Jahren, in den
sächsischen Provinziallandtag entsandt, und noch im selben Jahr wählte
ihn die Ritterschaft seines heimatlichen Kreises zum Landrat. Zweifellos
bedeutete diese Wahl einen besonderen Vertrauensbeweis für einen ver-
gleichsweise jungen und damals noch nicht in den Adelsstand erhobenen
Grundbesitzer. Er übte das Amt bis 1863 aus 60 . Trotz aller Abneigung
gegen das Parteiwesen war Heinrich von Nathusius, wenn es um eine
Stellungnahme zu den bewegenden Zeitfragen ging, wie seine Brüder von
Grund auf und ohne Einschränkung konservativ: „Stellen wir den Gegen-
satz: Autorität gegen Majorität, so stand er (Heinrich von Nathusius,
H.-C.K.) entschieden für erstere ein; vielleicht war ihm gerade deshalb
53
Vgl. G. Reuter, Vom Kinde zum Menschen - Die Geschichte meiner Jugend,
Berlin 1921, S. 159ff., 173ff., 204f., 363ff.
54
Ebd., S. 364.
55
W. v. N a t h u s i u s (wie Anm. 52), S. 258; vgl. Reuter (wie Anm. 53), S. 163f.
56
Vgl. W. v. N a t h u s i u s (wie Anm. 52), S. 253ff.
57
Vgl. ebd., S. 244ff.
38
Vgl. ebd., S. 250.
59
Ebd., S. 255.
60
Vgl. ebd., S. 239f„ 243.
61
Ebd., S. 256.
62
Ebd.; er fährt fort: „Es liegt noch ein Druckexemplar einer solchen vor, die in
populärem Tone namentlich den Gegensatz des altpreussischen, auch jetzt noch verfas-
sungsmässigen, monarchischen Regiments gegen die parlamentarischen Anstürme, na-
mentlich in Bezug auf die Finanzen und die Steuern, zeigt."
63
Ebd., S. 257.
64
Ebd., S. 258.
III
65
R e u t e r (wie Anm. 53), S. 212.
66
Über ihn vgl. E. Fürstin R e u ß , Philipp Nathusius Jugendjahre, Berlin 1896
(künftig zitiert als: Reuß I); D i e s . , Philipp von Nathusius - Das Leben und Wirken
des Volksblattschreibers, Neinstedt a.H. - Greifswald 1900 (künftig zitiert als: R e u ß
II); H. A n d r e s , Philipp von Nathusius - Seine Persönlichkeit und die Entwicklung
seiner politischen Gedanken bis zum Ausgang der deutschen Revolution, Düsseldorf
1934; B r ü m m e r : Art. Marie und Philipp Nathusius, in: Allgemeine Deutsche Biogra-
phie, Bd. XXIII, S. 283-285.
47
Vgl. R e u ß I (wie Anm. 66), S. 8ff.
M
Vgl. ebd., S. 38f„ 49, 109.
69
Ebd., S. 49.
70
Vgl. A n d r e s (wie Anm. 66), S. 4ff.; Reuß I (wie Anm. 66), S. 31ff.
71
Vgl. A n d r e s (wie Anm. 66), S. 5ff.; Reuß I (wie Anm. 66), S. 36ff., l l l f f . ,
154ff. Bettina von Arnim hat diesen Briefwechsel im wesentlichen unverändert 1847 als
Briefroman unter dem Titel „Ilius Pamphilius und die Ambrosia" herausgegeben (vgl.
dazu A n d r e s [wie Anm. 66], S. 6, Anm. Sa).
72
Vgl. A n d r e s (wie Anm. 66), S. 34ff.
73
Vgl. ebd., S. 8.
74
Vgl. R e u ß II (wie Anm. 66), S. 19, 22, 56f.
75
Vgl. R e u ß I (wie Anm. 66), S. 114f.
76
Gedruckt in R e u ß II (wie Anm. 66), S. 361-365.
77
Ebd., S. 361; vgl. ebd., S. 361f.: „Was wir aber verlangen ist sehr einfach. Vorerst
nur: 1. Vor allem Preßfreiheit; sie ist ein natürliches Recht... 2. Volksvertretung (altes
historisches Recht). 3. Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerichte. 4. Einheit Deutsch-
lands zu unser aller Sicherheit...".
78
Sehr aufschlußreich ist auch ein erstmals von A n d r e s (wie Anm. 66), S. 73
veröffentlichter Brief des jungen Nathusius an Hoffmann von Fallersleben vom 11. 9.
184S: „Seien Sie versichert, daß Sie mich, obgleich ich jetzt die Ehre habe, der
,Ritterschaft' der Königlich Preußischen Provinz Sachsen, also dem möglichst .konser-
vativsten' Corps im heiligen Römischen Reiche anzugehören, nie wo anders als auf der
Seite der r e i n e n M e n s c h h e i t finden werden. Staatsverfassung und alles, was dahin-
ein schlägt, habe ich zwar von jeher nicht als Zweck, nur als Mittel der Menschheit
angesehen ...; dennoch verkenne ich nicht die Wichtigkeit dieses Mittels und werde für
f r e i e V e r f a s s u n g ... mit Gottes Hilfe ... gem nach meinen Kräften stehen."
Orientierung ihres Gatten ausüben79. Hinzu kam der Kampf gegen die
„Lichtfreunde", die - politisch liberal orientierten - Anhänger eines ratio-
nalistischen, gegen die pietistische Gefühlsreligiosität gerichteten Chri-
stentums, die gerade in Magdeburg und Halle ihre besonderen Hochbur-
gen besaßen80. Hier war der romantisch-religiös gefärbte Liberalismus des
jungen Nathusius in eine Sackgasse geraten; als er die enge Verbindung
von theologischem Rationalismus und politischem Liberalismus erkannte,
begann seine langsame, mehrere Jahre in Anspruch nehmende Wandlung
hin zum christlichen Konservatismus. Von nun an sollte ihm der „Kampf
gegen den Rationalismus in allen seinen Formen und Äußerungen, in
Religion, Kirche, Staat und Gesellschaft ... zur eigentlichen Aufgabe
seines Lebens"81 werden. Auch in seiner Lektüre suchte er neue Orientie-
rungen: er fand sie vor allem bei Matthias Claudius, Justus Moser, Johann
Jacob Moser und Joseph Maria von Radowitz, die ihm den Gedanken vom
Wert des historisch Gewordenen und von der Notwendigkeit einer „orga-
nischen" Entwicklung der politischen Institutionen vermittelten. Doch
von seinen romantischen, deutsch-patriotischen Überzeugungen wollte
Nathusius vorerst noch nicht lassen: während des ganzen Jahres 1847
wehte über Althaidensleben „eine mächtige schwarzrothgoldene Flagge",
die ihm als „bona fide für die alten deutschen Reichsfarben" 83 galt.
Anläßlich des Ersten Vereinigten Landtages, in dem er seine altständi-
schen Ideale verwirklicht glaubte, veröffentlichte er seine erste politische
79
Vgl. Reuß I (wie Anm. 66), S. 127ff„ 141ff.; Andres (wie Anm. 66), S. 14ff.;
Ph. v. N a t h u s i u s , Lebensbild der heimgegangenen Marie Nathusius, geb. Scheele -
Für ihre Freunde nah und fern. Samt Mittheilungen aus ihren noch übrigen Schriften,
Bde. I-II, Halle 1867/68.
80
Vgl. hierzu vor allem H. R o s e n b e r g , Theologischer Rationalismus und vor-
märzlicher Vulgärliberalismus, in: Ders., Politische Denkströmungen im deutschen
Vormärz (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 3), Göttingen 1972, S. 18-50;
J. B r e d e r l o w , „Lichtfreunde" und „Freie Gemeinden" - Religiöser Protest und Frei-
heitsbewegung im Vormärz und in der Revolution von 1848/49 (Studien zur modernen
Geschichte, 20), München - Wien 1976; R. v. Thadden, Protestantismus und Libera-
lismus zur Zeit des Hambacher Festes 1832, in: Ders., Weltliche Kirchengeschichte -
Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1989, S. 126-145, bes. S. 142ff.
81
Andres (wie Anm. 66), S. 67; vgl. auch Reuß II (wie Anm. 66), S. 47ff„ 61ff.
82
Vgl. Andres (wie Anm. 66), S. 74ff.
83
Ph. v. N a t h u s i u s : Lebensbild (wie Anm. 79), Bd. II, S. 600; ebd. heißt es weiter:
„Es bedarf nicht eines Worts, daß sie 1848 von dem ersten Moment an, wo sie in tausend
Läppchen sich epidemisch über das Land verbreitete, hier eingezogen wurde und nie
wieder auftauchte".
84
Ph. E. N a t h u s i u s , Statistische Uebersichten über die Verhältnisse und wichtig-
sten Abstimmungen beider Kurien und über die künftigen ständischen Ausschüsse. Als
Ergänzung zu allen Ausgaben der Verhandlungen und als Vorläufer zu einer Geschichte
des Ersten Reichstags in Preußen zusammengestellt, Berlin 1847.
85
Ders., Preußens Reichstag. Ein Gedicht den Mitgliedern der Hohen Versamm-
lung dargebracht o.O.o.J. (Berlin 1847).
86
N a t h u s i u s , Statistische Uebersichten (wie Anm. 84), S. 5; wichtig auch die ebd.
S. 8 formulierte Ablehnung des Parteiwesens, auf die schon K o s e l l e c k (wie Anm. 6),
S. 368 hingewiesen hat.
87
N a t h u s i u s , Lebensbild (wie Anm. 79), Bd.II.S. 642f.;vgl. Reuß II (wie Anm.
66), S. 84-100.
88
Reuß II (wie Anm. 66), S. 84; vgl. ebd., S. 86: „... der Finger Gottes ... ist auch
hier so sichtlich im Spiele gewesen, wie selten in der Geschichte".
89
N a t h u s i u s , Lebensbild (wie Anm. 79), Bd. II, S. 598.
90
Ebd., Bd. II, S. 600.
91
Vgl. hierzu vor allem Reuß II (wie Anm. 66), S. 123ff., 133ff., 155ff„ 178ff„
193ff., 266ff.; A n d r e s (wie Anm. 66), S. 91ff.
92
Volksblatt für Stadt und Land, Nr. 72 (8. 9. 1849), Sp. 1122; die soziale Themen
und Probleme behandelnden Artikel im „Volksblatt" zwischen 1848 und 1870 hat Β ο c k
in seiner oben (Anm. 49) genannten Abhandlung umfassend ausgewertet.
93
Vgl. R e u ß II (wie Anm. 66), S. 201ff.; A n d r e s (wie Anm. 66), S. 21ff.; M. v.
N a t h u s i u s , Fünfzig Jahre Innere Mission, Neinstedt 1900; O. S t e i n w a c h s , Der
Lindenhof zu Neinstedt am Harz, Neinstedt 1925.
94
W. v. K ü g e l g e n , Lebenserinnerungen des Alten Mannes in Briefen an seinen
Bruder Gerhard 1840-1867, hrsg. von P. S. Kügelgen und J. Werner, Leipzig 1923, S.
205.
ihn zu kennen, auf der Landstraße begegnet, so würde ich ihm weit
ausgewichen sein. Ein braunrotes Lockenhaupt wie Jupiter tonans, ein
Bart wie Neptun, polnische Juden oder Demokraten, ein ebenso erlosche-
nes und blasses Aussehen wie letztere, bei sehr schönen Zügen. Dabei
abgetragene Kleider, einen bedenklichen Strohhut und einen faustdicken
Harzknüppel als Spazierstöckchen. Die Rede matt und nörgelig. Ich über-
zeugte mich indessen bald davon, daß ich es mit einem ausgezeichneten
Manne zu tun hatte" 95 . Diese Schilderung des noch den Anschauungen
und Lebensformen des Ancien regime verhafteten Hofmannes Kügelgen
zeigt sehr deutlich, daß konservativ-christliche Überzeugungen im tradi-
tionellen Sinne keineswegs mit einer Bejahung der höfischen Sphäre und
ihrer Formwelt verbunden sein mußten.
Als Herausgeber und Redakteur des ,Volksblattes' hat Philipp Nathusi-
us durchaus eigenständige Akzente innerhalb der deutschen Publizistik
während der Reaktions- und Reichsgründungszeit gesetzt. Neben ihm
wurde die Zeitschrift vor allem durch Heinrich Leo - der die Geschicht-
lichen Monatsberichte verfaßte 96 - , durch den Theologen August Frie-
drich Vilmar, Ernst Ludwig von Gerlach, aber auch Victor Aime Huber
(ebenfalls ein christlicher Sozialreformer) geprägt97. Dem Einfluß Ger-
lachs und besonders Leo ist es wohl zuzuschreiben, daß das ,Volksblatt'
im Laufe der Jahre gewisse katholisierende Tendenzen aufzuweisen be-
gann, die bei der Leserschaft heftig umstritten waren98. Ein kritischer
Artikel über die protestantische Union in Preußen führte im September
1858 sogar zur Beschlagnahme der Zeitschrift und zu einem Prozeß gegen
ihren Herausgeber, der sich der Grenzen seiner Treue zur Obrigkeit nicht
nur in dieser Frage durchaus bewußt war99. Die Verleihung des Adelsprä-
dikats anläßlich der Krönung von 1861 kam ihm daher völlig unerwar-
95
Ebd., S. 205f.; vgl. auch Reuß II (wie Anm. 66), S. 332. Nathusius hat übrigens
1870 die nachmals berühmten „Jugenderinnerungen eines alten Mannes" aus dem
Nachlaß Wilhelm von Kügelgens herausgegeben.
96
Vgl. Chr. Freiherr v. M a i t z a h n , Heinrich Leo (1799-1878) - Ein Gelehrtenle-
ben zwischen romantischem Konservatismus und Realpolitik (Schriftenreihe der Histo-
rischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 17), Göttingen
1979, S. 93ff.
97
Vgl. R e u ß II (wie Anm. 66), S. 157ff„ 176ff.
98
Vgl. ebd., S. 178ff.
99
Vgl. ebd., S. 266ff., 275ff.
tet 100 . Als die Ereignisse des Jahres 1866 - der Krieg Preußens gegen
Österreich, das Zerbrechen des Deutschen Bundes, schließlich die Bis-
marcksche Aussöhnung mit den Liberalen - die Konservative Partei
Preußens spalteten101, stand Nathusius auf Seiten Bismarcks, dessen
Kriegs- und Annexionspolitik er gegenüber dem streng altkonservativen
Flügel unter Gerlach ebenso verteidigte wie vier Jahre später den Krieg
gegen Frankreich und die Reichsgründung102. Doch den dadurch entstan-
denen Riß im Kreis seiner persönlichen und politischen Freunde konnte
er nur schwer verwinden. „Unter diesen Umständen fühlte Philipp Nathu-
sius", so die Erinnerung seines Sohnes Martin, „daß die Zeit des Blattes
vorüber war. Seiner persönlichen Neigung folgend, welche unter seiner
zunehmenden Kränklichkeit gereift war, hätte er es am liebsten eingehen
lassen" 103 , - trotzdem führte er es bis 1871 fort, um es dann einem seiner
Söhne zu übergeben. Philipp von Nathusius starb am 16. August 1872.
Seine Gattin, Marie Nathusius (1817-1857), hatte er um fünfzehn Jahre
überlebt. Auch sie war als Schriftstellerin eine über den Durchschnitt
herausragende, in ihrer Zeit durchaus bekannte und geachtete Persönlich-
keit, deren Einfluß auf ihre Söhne Philipp und Martin (sie werden Thema
des folgenden Abschnitts sein) ohne Zweifel beträchtlich gewesen ist104.
Ihre kindliche, offenbar durch nichts zu erschütternde Frömmigkeit be-
stimmte ihr Dasein; Glaubenszweifel waren ihr fremd: „Der eine felsen-
feste Grund war ihr ... nie erschüttert worden: was in der Bibel steht, ist
100
Philipp von Nathusius' Reaktion auf diese Ehrung war denn auch eher von
Verwunderung als von Stolz geprägt; in einer für ihn höchst charakteristischen Weise
bemerkte er: „Es ist eine seltsame Fügung, daß wir die Adelung von dem jetzigen König
erhalten sollten, dem lieben vorigen König haben wir sie vor 15 oder 16 Jahren höflich
abgelehnt, und da er sie 1857 wieder aufnahm, kam unmittelbar seine Krankheit darüber
her. Dies mal sind wir nicht gefragt worden, und die Leute wundem sich, da wir als sehr
prononcierte Reaktionäre alle vier bekannt sind. Ich meinerseits wundere mich, daß die
Leute aus dergleichen so viel machen, wie ich sehe, daß sie thun" ( R e u ß II (wie Anm.
66, S. 301).
101
Siehe hierzu immer noch G. R i t t e r , Die preußischen Konservativen und Bis-
marcks deutsche Politik 1858-1876 (Heidelberger Abhandlungen zur mittleren und
neueren Geschichte, 43), Heidelberg 1913, S. 157ff„ 172ff„ 184ff.
102
Vgl. R e u ß II (wie Anm. 66), S. 333ff., 348; A n d r e s (wie Anm. 66), S. 98.
103
M. v. N a t h u s i u s , Ein Rückblick, in: Allgemeine Conservative Monatsschrift
für das christliche Deutschland, Jhg. 37, 1880, S. 292.
104 vgl. über sie neben dem Artikel von B r ü m m e r (wie Anm. 66) und der Biogra-
phie aus der Feder ihres Gatten (Anm. 79) auch R e u ß I (wie Anm. 66), S. 127ff. und
E. G. ( - Elise G r ü n d l e r ) , Marie Nathusius - Ein Lebensbild, Gotha 1894.
wahr. - Das genügte ihr" 105 , weiß die Biographin zu berichten. Schon früh
betätigte sie sich im sozialen Sinne: bereits in Althaldensleben richtete sie
in eigener Regie eine Kinderbewahranstalt ein; später beteiligte sie sich
maßgebend am Aufbau der Neinstedter Anstalten. Bald nach ihrer Heirat
mit Philipp Nathusius begann sie zu schreiben; im Laufe nur weniger Jahre
kam eine beachtliche Zahl von christlichen Romanen und Novellen zu-
sammen, die meisten wurden zuerst in Fortsetzungsform im ,Volksblatt'
veröffentlicht. Sehr schnell wurde sie als christliche Volksschriftstellerin
bekannt und geachtet106. Am erfolgreichsten unter ihren Werken war das
.Tagebuch eines armen Fräuleins', das noch in diesem Jahrhundert neu
aufgelegt worden ist. Marie Nathusius übt hierin, wie in ihren anderen
Schriften, ganz bewußt etwas, das man als poetisch eingekleidete Pädago-
gik bezeichnen könnte. Im .Tagebuch ...' geht es beispielsweise um die
Überwindung der Härten sozialer Rangunterschiede durch christliche
Nächstenliebe107. In den .Rückerinnerungen aus einem Mädchenleben'
beschreibt sie den inneren Kampf einer jungen Frau und ihr Schwanken
zwischen den Verlockungen des weltlichen Lebens und dem Leben aus
Gott108.
Es wäre ein leichtes, diese - zwar durchaus gut geschriebenen, jedoch
ästhetisch und literarisch nicht allzu anspruchsvollen - Romane und
Novellen aus christlicher Perspektive als Ideologie mit der Funktion der
Verschleierung sozialer Ungerechtigkeit abzutun. Doch damit dürfte man
dieser eindrucksvollen Frau - deren starke, Bewunderung oder doch
wenigstens Achtung hervorrufende Persönlichkeit vielfach bezeugt ist -
nicht gerecht werden. Man muß sich demgegenüber vor Augen halten, daß
für Marie Nathusius das Christentum vor allem den sichtbaren Ausdruck
einer umfassenden Welt- und Daseinsordnung verkörpert, die alle Lebens-
bereiche regelnd umfaßt und ausgestaltet. Die Aufgabe des Menschen
kann in dieser Perspektive nur darin bestehen, sich in möglichst optimaler
Weise in eben diese vorgegebene Ordnung einzufügen, - eine Ordnung,
die allerdings niemals ihren Zweck in sich selbst trägt, sondern jeden
103
G r ü n d l e r (wie Anm. 104), S. 23.
104
Vgl. ebd., S. 180ff.
107
Es heißt dort: „Wenn doch die vornehmen Leute wüßten, wie viel Trost sie ihren
armen Brüdern und Schwestern nur durch Liebe und Teilnahme bringen könnten, wie
könnten sie wuchern mit den Vorzügen, die der Herr ihnen durch ihre Stellung in der
Welt gegeben" (M. N a t h u s i u s , Tagebuch eines armen Fräuleins und Rückerinnerun-
gen aus einem Mädchenleben, Berlin o.J. [1913], S. 94f.).
108
Vgl. G r ü n d l e r (wie Anm. 104), S. 192.
IV
109
Vgl. R e u ß II (wie Anm. 66), S. 333f.
110
Vgl. P o s c h i n g e r (wie Anm. 50), Bd. III, S. 264f.
konnte111. Es gelang ihm nicht nur, innerhalb kürzester Zeit die maroden
Finanzen des Blattes zu sanieren, sondern er konnte zusätzlich noch Mittel
zur Gründung einer weiteren konservativen Zeitung, des ebenfalls von
ihm geleiteten .Reichsboten', flüssig machen, wodurch sich seine führen-
de Stellung innerhalb seiner Partei festigte 112 . Bismarck - der sich gerade
in diesem Jahr darum bemühte, mit Hilfe seines Freundes Moritz von
Blanckenburg die Konservativen wieder unter seine Kontrolle zu bringen
und ihnen ein neues Programm zu geben - ließ den neuen .Kreuzzeitungs'-
Chefredakteur, dessen Artikel gegen die Kreisordnung unvergessen wa-
ren, ausdrücklich warnen. Gegenüber Blanckenburg äußerte der Kanzler:
„Wenn der junge Nathusius klüger wie alle alten Parteileute ist und das
Programm ruiniert, gegen dasselbe schreibt, - dann wird die Kreuzzeitung
Winkelblatt, ich kann nicht jedem Hansnarren nachlaufen" 113 . Bismarcks
Mißtrauen sollte sich in den nächsten Jahren als durchaus berechtigt
erweisen: Philipp von Nathusius-Ludom wurde zum schärfsten Gegner
des Reichskanzlers auf Seiten der Konservativen; es blieb Bismarck vor-
erst nichts anderes übrig, als ohnmächtig gegen den „Preßbengel Nathu-
sius" und den „neidische(n) Junkerdünkel"114 zu wettern.
Schon in seiner 1872 erschienenen Broschüre „Conservative Partei und
Ministerium" hatte Nathusius-Ludom seine Angriffe gegen Kanzler und
Regierung eröffnet. Indem er davon ausging, daß die in der Vergangenheit
von der Konservativen Partei gemachten Fehler „ihren Grund in zu großer
... Nachgiebigkeit gegen die Regierung gehabt" 115 hätten, scheute er nicht
davor zurück, Bismarck wegen seiner Zusammenarbeit mit den Liberalen
frontal anzugehen: „Daß aber royalistisch gesinnte Staatsmänner durch
den Mangel an tieferer conservativer Rechtsanschauung und an dem
111
Über Nathusius-Ludom als Leiter der „Kreuzzeitung" vgl. P. A. M e r b a c h , Die
Kreuzzeitung 1848-1923. Ein geschichtlicher Rückblick, in: Neue Preußische Zeitung,
16. 6. 1923 (Festnummer zum 75-jährigen Jubiläum), S. 15f.; M. Rohleder/B. T r e u -
de, Neue Preußische (Kreuz-) Zeitung (1848-1939), in: H. D. F i s c h e r (Hrsg.) (wie
Anm. 48), S. 217f.
112
Vgl. P o s c h i n g e r (wie Anm. 50), Bd. III, S. 265; J. N. R e t a l l a c k , Notables of
the Right - The Conservative Party and Political Mobilization, 1876-1918, Boston 1988,
S. 57.
113
H. v. P e t e r s d o r f f , Kleist-Retzow - Ein Lebensbild, Stuttgart - Berlin 1907, S.
46If. (Brief Blankenburgs an Kleist, August 1872).
114
H. R o t h f e l s (Hrsg.), Bismarck- Briefe, Göttingen 1955, S. 383 (Brief Bis-
marcks an Roon, 20. 11. 1873).
115
Ph. v. N a t h u s i u s - L u d o m , Conservative Partei und Ministerium, Berlin 1872,
S. 32f. (im Original gesperrt).
116
Ebd., S. 10; vgl. S. 19, 39.
117
Ebd., S. 39; vgl. S. 49f.
118
Ebd., S. 54.
119
Ebd., S. 53; vgl. zum Thema auch E. S c h u l t e , Die Stellung der Konservativen
zum Kulturkampf 1870-1878, phil. Diss. Köln 1959.
120
Vgl. Ph. v. N a t h u s i u s - L u d o m , Conservative Position, Berlin 1876, S. 7ff.
121
Ebd., S. 21.
122
Vgl. ebd., S. 21ff., 34ff.
123
Ebd., S. 36.
124
Vgl. hierzu die grundlegende und unübertroffene Arbeit von P. Kon dy Iis,
Konservativismus - Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1986.
123
N a t h u s i u s - L u d o m (wie Anm. 120), S. 35.
126
Vgl. ebd., S. 41: „Die Annexionspolitik des Jahres 1866 hat leider einen tiefen
Mißklang in das monarchische Princip des neuen Reiches gelegt, ja ... hat die conserva-
tiven Elemente Deutschlands bisher nicht zur Einigung kommen lassen".
127
Wieder abgedruckt in: L. F e l d m ü l l e r - P e r r o t , Bismarck und die Juden -
„Papierpest" und „Äraartikel von 1875", Berlin 1931, S. 171-180.
128
Vgl. P e t e r s d o r f f (wie Anm. 113), S. 462; Ph. v. N a t h u s i u s - L u d o m , Noch-
mals die Konservativen und „Fürst Bismarcks Gedanken und Erinnerungen", in: Allge-
meine Conservative Monatsschrift für das christliche Deutschland, 56. Jhg., 1899, S.
743-746.
129
Zum Hintergrund vgl. die ausufernde, ihr Material mehr anhäufende als gliedern-
de Arbeit von F. S t e r n , Gold und Eisen - Bismarck und sein Bankier Bleichröder,
Frankfurt a.M. - Berlin 1978, S. 240ff„ 607ff.
130 Vgl. L. G a l l , Bismarck - Der weiße Revolutionär, Frankfurt a.M. - Berlin -
Wien 1980, S. 545f.
131
Vgl. dazu auch R i t t e r (wie Anm. 101), S. 373f.; R e t a l l a c k (wie Anm. 112),
S. 14f., 17; H. H e f f t e r , Die Kreuzzeitungspartei und die Kartellpolitik Bismarcks
(Studien des Sächsischen Forschungsinstitutes für neuere Geschichte, 1), Leipzig 1927,
S. 2f.
132
Dies zeigt auch die Darstellung, die er - Nathusius-Ludom nicht schonend - in
seinen Erinnerungen gegeben hat: O. v. B i s m a r c k , Die gesammelten Werke, Bd. XV,
S. 350ff.
133
Ebd., Bd. XI, S. 435.
134
P o s c h i n g e r (wie Anm. 50), Bd. II, S. 202, Anm. 1.
135
Gall (wie Anm. 130), S. 546.
136
So S t e r n (wie Anm. 129), S. 609.
137
Vgl. R e t a l l a c k (wie Anm. 112), S. 19.
138
Vgl. R o t h f e l s (wie Anm. 114), S. 392; P o s c h i n g e r (wie Anm. 50), Bd. II, S.
237f.
139
Über ihn siehe A. U c k e l e y , Martin Friedrich Engelhard von Nathuius, in:
Biographisches Jahrbuch und Deutscher Nekrolog, hrsg. von A. Bettelheim, Bd. XI,
logie (von seinen akademischen Lehrern übte der Pietist Tholuck den
stärksten Einfluß auf ihn aus) war er 1869 Hilfsprediger in Wernigerode,
1873 Pastor in Quedlinburg geworden. 1871 hatte er von seinem erkrank-
ten Vater, der schon im folgenden Jahr starb, die Redaktion des ,Volks-
blatts für Stadt und Land' übernommen140. Zwar beteiligte sich auch das
,Volksblatt' in den siebziger Jahren an der Kritik der von den Liberalen
getragenen Regierung Bismarcks, allerdings wesentlich zurückhaltender
im Urteil und maßvoller in der Formulierung als zu gleicher Zeit die
,Kreuzzeitung'. Hier sprach man Grundsatzfragen an und sah sorgenvoll
in die Zukunft. Im Juni 1875, zur Zeit der „Ära-Artikel", war beispiels-
weise im ,Volksblatt' zu lesen: „Daß Bismarck seine ganze Kraft dem
Könige und Königthume widmet, glauben wir ohne weiteres, uns kommt
nur der Weg seltsam vor. ... Heute hat Bismarck die liberale Partei noch
völlig in der Gewalt, ein leister Druck von seiner starken Hand formt
sofort die weiche Masse. Wer giebt aber Bürgschaft, daß die Masse nicht
einmal erstarre und hat er eine Hand in petto, die nach seinem Abgange
die Sache leitet und beherrscht? Noch hat das Königthum von Gottes
Gnaden starke Wurzeln in unserem Volke, aber auch die kräftigsten Triebe
können absterben, die gesundesten Wurzeln anfaulen und angefressen
werden." 141 Als das Blatt einzugehen drohte, stellte es Martin von Nathu-
sius vom wöchentlichen auf monatliches Erscheinen um; auch der Titel
wurde geändert: seit 1879 hieß die Zeitschrift .Allgemeine Conservative
Monatsschrift für das christliche Deutschland'; 1882 wurde Dietrich von
Oertzen Mitherausgeber142. Nathusius faßte sein Blatt keineswegs als
parteigebunden auf; es stand zwar der neugegründeten Deutsch-konserva-
tiven Partei nahe, distanzierte sich in seinen Aussagen aber deutlich vom
„mittelparteilichen", bismarckfreundlichen Kurs des neuen Parteivorsit-
zenden Otto von Helldorf-Bedra 143 . Martin von Nathusius knüpfte, wie
144
M. v. N a t h u s i u s (wie Anm. 103), S. 294.
145
Ebd., S. 295.
146
Vgl. H e f f t e r (wie Anm. 131), S. 9ff.; S c h ü d d e k o p f (wie Anm. 143), S. 80ff.;
R e t a l l a c k (wie Anm. 112), S. 36ff.
147
Über ihn und seine politische Bedeutung siehe D. v. O e r t z e n , Adolf Stoecker -
Lebensbild und Zeitgeschichte, Bde. I—II, Berlin 1910; W. F r a n k , Hofprediger Adolf
Stoecker und die christlich-soziale Bewegung, Berlin 1928; G. B r a k e l m a n n / M . G r e -
s c h a t / W . J o c h m a n n , Protestantismus und Politik - Werk und Wirkung Adolf Sto-
eckers (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, 17), Hamburg 1982.
148
Vgl. F r a n k (wie Anm. 147), S. 31.
149
Vgl. bes. H e f f t e r (wie Anm. 131), S. 116ff., 158ff.
150
Vgl. ebd., S. 226f., 230ff.; R e t a l l a c k (wie Anm. 112), S. 91ff.
151
Gedruckt in: F. S a l o m o n , Die deutschen Parteiprogramme, Bd. II, Leipzig -
Berlin J 1912, S. 71ff.
152
M. W e b e r , Max Weber - Ein Lebensbild, Tübingen 1926, S. 140.
153
Vgl. O e r t z e n (wie Anm. 147), Bd. II, S. 19; M. v. N a t h u s i u s , Die Mitarbeit
der Kirche an der Lösung der sozialen Frage, Leipzig 21897, S. 136, 318, Anm.
154
Vgl. O e r t z e n (wie Anm. 147), Bd. II, S. 10f., 192, 198f.; F r a n k (wie Anm.
147), S. 366; Κ. E. P o l l m a n n , Landesherrliches Kirchenregiment und soziale Frage -
Der evangelische Oberkirchenrat der altpreußischen Landeskirche und die sozialpoliti-
sche Bewegung der Geistlichen nach 1890 (Veröffentlichungen der Historischen Kom-
mission zu Berlin, 44), Berlin - New York 1973, S. 271.
135
Vgl. O e r t z e n (wie Anm. 147), Bd. II, S. 204,224; M.v. N a t h u s i u s (wie Anm.
153), S. 135f.
156
M. v. N a t h u s i u s , Was ist christlicher Sozialismus? Leitende Gesichtspunkte
für evangelische Pfarrer und solche, die es werden wollen, Berlin 1896, S. 47; vgl. auch
P o l l m a n n (wie Anm. 154), S. 158f.
157
M. v. N a t h u s i u s (wie Anm. 153), S. 233.
eine von Gott ... für die Welt bestimmte Ordnung giebt, eine göttliche
Weltordnung, die in wesentlichen Punkten gestört ist - und zweitens, daß
es eine göttliche That giebt, die Erlösung durch Jesum Christum, welche
die göttliche Weltordnung wiederherzustellen bestimmt ist. Alles Unheil
liegt in der Störung der göttlichen Ordnung und der Loslösung von seinem
Willen. Alles Heil besteht in der Zurückführung zu demselben." 159 In der
Welt herrscht das Gesetz Gottes, es steht als absolute Norm über dem
menschlichen Handeln: „Das göttliche Gesetz für die gesamten Beziehun-
gen des menschlichen Lebens bleibt bestehen, ob der Mensch sich danach
richtet oder nicht" 160 . Das politische Handeln ist also auf die Einfügung
des Menschen in die von Gott gesetzte Ordnung gerichtet - bzw. auf die
Wiederherstellung verlorengegangener Elemente und Ausprägungen die-
ser Ordnung. Ihr Abbild ist für Nathusius die ständische Ordnung;161 an
sie muß angeknüpft werden: „Ein Staat ohne Stände ist kein Organismus
mehr. Und da das alte nicht mehr vorhanden ist, so muß ein neues
Ständerecht geschaffen werden: das ist die Aufgabe derZeit."162 Die „Idee
der Gleichheit" besitzt für Nathusius einen rein transzendentalen Charak-
ter; wird sie „nur in den Schranken des diesseitigen Lebens erfaßt, so muß
sie das soziale Leben verwirren" 163 . Gesetz und Wille Gottes sind für ihn
allumfassend, „auch das gesamte wirtschaftliche Leben ... soll duch den
Gedanken an Gottes Ordnungen geregelt werden" 164 , woraus sich ebenso
die Pflicht zur Arbeit wie diejenige zur sozialen Verantwortung für die
Untergebenen ableiten läßt. Daß dies alles natürlich die unbedingte Gül-
tigkeit und allgemeine Akzeptanz der christlichen Glaubenslehren voraus-
setzt, ist selbstverständlich: „Ich glaube in der That", formulierte Nathu-
138
Ebd., S. 234.
159
Ebd., S. 236.
160
Ebd., S. 239; die Folgen, die sich hieraus für das politische Denken und Handeln
des Menschen ergeben, sind evident, vgl. ebd., S. 239f.: „Wenn i r g e n d e t w a s in
der N a t u r den von dem S c h ö p f e r g e s e t z t e n O r d n u n g e n und B e d i n g u n -
gen e n t n o m m e n w i r d , so wird es d a m i t g e t r e n n t von G o t t , vom Leben
und v e r k ü m m e r t . W a s im M e n s c h e n l e b e n sich e n t z i e h t den ... vom
S c h ö p f e r g e s e t z t e n O r d n u n g e n und B e d i n g u n g e n , t r e n n t s i c h d a m i t
von G o t t , vom L e b e n , und v e r f ä l l t dem T o d e . Alles Heil besteht demnach
für den Menschen und alle menschlichen Verhältnisse in dem Bleiben oder dem Zurück-
kehren zu den von Gott gesetzten Lebensbedingungen."
141
Vgl. ebd., S. 45ff.
1M
Ebd., S. 51.
163
Ebd., S. 141.
164
Ebd., S. 354.
165
M. v. N a t h u s i u s , Die Inspiration der Hl. Schrift und die historische Kritik
(Zeitfragen des christlichen Volkslebens; XX, 6), Stuttgart 1895, S. 3.
166
C a r s t e n (wie Anm. 3), S. 131.
der nackten Interessen und des Klassenkampfes trat" 167 . Und seine beiden
Söhne Philipp von Nathusius-Ludom und Professor Martin von Nathusius
endeten schließlich als politische Außenseiter: indem sie versuchten, noch
das Junkertum gewissermaßen rechts zu überholen, gerieten sie ins poli-
tische Abseits: die von ihnen gepredigte „politische Theologie" wurde
offenbar nur noch als eine besonders aufschlußreiche Ausprägung von
Wirklichkeitsblindheit aufgefaßt. Insbesondere Martin von Nathusius, der
in den 1890er Jahren die beginnende Verquickung von junkerlichen und
industriellen Interessen in der Person des Freiherrn von Stumm aufs
schärfste angriff, ist in keiner Weise mehr als Repräsentant eines „sich
feudalisierenden Bürgertums" anzusehen.
Im Gegenteil: schon in der Zeit vor der Reichsgründung war die Familie
von Nathusius zur Zielscheibe deutlicher Kritik oder auch beißenden
Spotts von seiten ihrer bürgerlichen Verwandtschaft geworden, wie den
in dieser Hinsicht sehr aufschlußreichen Jugenderinnerungen der Gabriele
Reuter zu entnehmen ist. Man sah die Gesinnung und Lebensweise, wie
sie auf Althaidensleben und Hundisburg gepflegt wurde, durchaus als
negatives Vorbild für die eigenen Nachkommen, - so sprach man „über
die einseitig orientierte Weltauffassung der Familie von Nathusius, für die
es nur Gutsbesitzer und Kavallerieoffiziere - vielleicht noch Pastoren -
als anerkannte Berufe gäbe, eine Anschauung, die für Knaben, welche
durch eigene Kraft ihren Weg suchen mußten, höchst gefährlich sei" 168 .
Und auf der anderen Seite machte man sich wiederum lustig: mit „humo-
ristische(m) Lächeln" antwortete Gabriele Reuters Vater auf die Frage
seiner Tochter, „auf welcher Seite im Reichstag die Nathusiusse sitzen
würden, ...: ,Für die wird nach rechts noch ein Balkonchen hinausge-
baut!'" 169 Man wird dies nicht als Äußerungen kleinbürgerlichen Sozial-
neides abtun können, sondern hier drückte sich ein bürgerliches Selbstbe-
wußtsein aus, das die „Feudalisierung" der Familie Nathusius durchaus
167
A n d r e s (wie Anm. 66), S. 33.
168
R e u t e r (wie Anm. 53), S. 194f.; auch Gabriele Reuter selbst hat sich, trotz aller
Sympathie für ihre Verwandten, von den Anschauungen der Familie von Nathusius
deutlich distanziert, vgl. ebd., S. 251: „Etwas wie Bürgerstolz und Bürgertrotz lehnte
sich in mir auf gegen diese konservative Welt, die denn doch auf den Adel, seinen
Privilegien, seinen Vorurteilen und seiner herrschenden Stellung in Staat und Kirche
erbaut war. Was ihr außer dem Adel an Pastoren, Diakonissen, frommen Handwerkern
angehörte..., alles trug den Stempel von Gefolgschaft. Ich aber wollte nicht Gefolgschaft
sein - ich wollte dort stehen, wo ich von Geburts- und Rechtswegen hingehörte".
169
Ebd., S. 251.
170
Zit. in: B. v. B r o c k e , Werner Sombart 1863-1941 - Eine Einführung in Leben,
Werk und Wirkung, in: D e r s . (Hrsg.), Sombarts .Moderner Kapitalismus' - Materialien
zur Kritik und Rezeption, München 1987, S. 14.