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Die neuere TV-Rezeption geht in Frankreich und Deutschland isolierte Wege. Die ge-
ringe wechselseitige Kenntnisnahme hält globale Einschätzungen aus altbewährter Tradi-
tion am Leben: Frankreich, Land der Aufklärung und der bürgerlichen Revolution, habe
N im Unterschied zur deutschen Tendenz der ,Verkitschung' als „kritischen Aufklärer
... erkannt und anerkannt" (H. Wein, N-Studien, Bd. l, 1972, S. 54). Diese Unterschei-
dung trifft aber bereits für das Selbstverständnis, das editorische und interpretatorische
Objektivierungsprogramm der deutschen TV-Rezeption nach der Zäsur von 1945, die eine
Annäherung an die aufgrund der ,resistance' kontinuierlichere französische Linie vermuten
läßt, nicht mehr recht zu. Wieweit die Grobeinschätzung für die französische Seite gilt,
ist noch zu überprüfen. Eine Analyse der Gschen Arbeit legt nahe, weniger nationale
Merkmale zur Urteilsbildung zu gebrauchen; größeren Erklärungswert scheinen generations-
und schichtspezifische Syndrome unter den jeweiligen historisch-politischen Konstellationen
zu besitzen.
Das konventionelle französische Selbstverständnis leidet keine Einbuße durch das
Gsche Buch; von der Kritik gelobt als „luzide Exegese, ...präzises Werk" (J. Colette in:
Revue philosophique de Louvain, 1969, S. 666 ff.), stellt es die cartesianische Tradition
nicht in Frage. Zwar rechnet es offenbar auch nicht zu deren großen Erneuerungen; Colette
sieht G „im Herzen des aktuellsten philosophischen Denkens" (a. a. O., 668), aber eher
sind es die Namen Klossowski, Blanchot, Boudot, Bataille, die im Zusammenhang mit
der „Aktualität Ns" (L. Leibrich in: Etudes Germaniques, 1971, S. 364 ff.) fallen. Dafür
honoriert Colette Gs fast schon penibles, „zum Gebrauch einer akademischen Philosophen-
sprache führendes Bemühen um Exaktheit" (a. a. O., 667), das mit der Tendenz der Großen,
aus Ns Werk auszuwählen, „was in die persönliche Philosophie hineinpaßt" (Leibrich,
o. c., 368), konstrastiert.
In Gs Programm der TV-Interpretation finden sich die Gründe: zwar weiß er sich,
mit größerer Selbstverständlichkeit als die TV-Interpreten hierzulande, der Philosophie
Heideggers verpflichtet, dessen TV-Buch er in einem ,kritischen Expose' im Anhang geson-
dert behandelt (611 ff.); aber er distanziert sich mit dem verbreiteten Urteil, die Thesen
Heideggers seien, obschon „stimulierend, ... geeigneter, uns über das Denken Heideggers
zu informieren als über das TVs" (625 f.). Selber vertritt G eher die immanente Inter-
pretation, das „peinlich genaue Abhorchen, das durch die Disziplin der Methoden ge-
schützt ist" (7). Seine besondere Methode, die G als „regressiv-strukturell" (28) vorstellt,
soll TVs Philosophie und ihre scheinbaren Widersprüche zu neuem Sinnzusammenhang
fügen: verschiedene Reflexionsstufen vollziehen Weg und Bewegung des Willen zur Macht
nach, angefangen von der Ebene der metaphysischen Pseudo-Wahrheit, hin zur pragma-
tischen Wahrheit, auch Wert oder nützlicher Irrtum zu nennen, bis zur „Ebene ursprüng-
licher Wahrheit, die definiert wird als Spiel von Kunst und Wahrheit, deren Fundament
der Doppelcharakter des Seins ist" (30). Diese regressive, weil auf den Ursprung gerichtete
Methode bewegt sich „vertikal längs den Achsen einer Struktur" (28); ihr ,Stamm' ist die
Lehre vom „Sein als interpretiertem und die Verästelungen sind Herrschaftsformen, Immo-
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ralismus, die Theorie des Körpers, der Wille zur Macht und die ewige Wiederkehr" (545).
Im Lichte einer solchen Methode stellt sich für G die Wahrheit als „das zentrale Problem"
(29} der Nschen Philosophie heraus, das deren „vollständige Rekonstruktion" (ebd.) zu-
läßt, und zwar so, daß sich die verschiedenen Themen Ns anordnen zu einer „Totalität,
die an Dichte, Kohärenz und Weite in nichts den solidesten Konstruktionen der klassischen
Philosophie nachsteht" (28 f.).
Die einzelnen Schritte des Gschen Aufrisses zeigen, daß die immanente Interpretation
ein beachtliches Niveau erreicht hat. Detailkorrekturen finden sich in einer ausführlichen
Besprechung von S. Kofman in: Critique, 1970, S. 359 ff. Gerade da bei der erreichten
Perfektion nicht mehr Fehler der immanenten Verknüpfung ablenken, treten grundsätzliche
Mängel des Gschen Ansatzes ziemlich kraß zutage, seine Unausgewiesenheit, d. h. man-
gelnde Selbstreflexion, seine Leistungsgrenzen in bezug auf Nsches Potential, und seine
ideologische Unschuld, angesichts derer die Prädikate ,kritisch und aufklärerisch* einer
Überprüfung bedürfen. An drei Gesichtspunkten soll die Problematik der Gschen Aus-
führungen gezeigt werden:
1. das Verhältnis zu Heidegger, Seinsbegriff und Periodisierung der Philosophie Ns;
2. die Reflexion der Grenzprobleme einer radikalen Wahrheitskritik;
3. die geschichtlichen Dimensionen der Geschichtslosigkeit.
Seins entspricht* (582). Höchste Form der Seinsbejahung ist das Ja zur ewigen Wieder-
kunft, die „ihre erlösende Kraft nicht aus rationaler Beweisbarkeit erhält, sondern ganz im
Gegenteil, das entschiedene Engagement des Willen zur Macht erlaubt es, die ewige Wieder-
kunft als großartige selektive Idee zu gebrauchen .. ." (581).
Die Nähe zum Dezisionismus wird nicht registriert und in der Tat auch abgewehrt
durch bestimmte Implikationen des Willen zur Macht. Der Vorrang des Textes vor der
Interpretation, zunächst nur wenig korrigiert durch die Forderung philologischer Recht-
schaffenheit' (vgl. 463 ff.), gleicht sich immer mehr aus bis hin zur vollständigen Identität
von Sein und Interpretation. Dieser Prozeß ist der der Selbstüberwindung, in der der Wille
zur Macht sich vergeistigt, sich vom lebensfeindlichen zum vitalen Pragma entwickelt und
sich dann zur Passion der Erkenntnis vervollkommnet (vgl. 498 f.).
Die Aporie des Wahrheitsausweises in einem Konzept, das Sein vor Bewußtsein
stellt, löst G also, indem er das Sein bei N wieder als geistbestimmtes faßt. Dieser Weg
ist von der Lebensphilosophie beschritten worden und auch in bezug auf die AMnter-
pretation nicht neu: H. Barth versucht in seinem Buch »Wahrheit und Ideologie* (Zürich
1945), das G nicht zur Kenntnis nimmt, nachzuweisen, daß Ns Lebensbegriff den Geist
impliziere (vgl. 272). Womit sich allerdings das Problem von neuem stellt.
Jedoch liegt G weniger am Durchdenken eventueller Zirkelhaftigkeit der Erkenntnis
und an Ns aufgrund dieser Problematik entwickelten Approximationstechniken. Wiederum
in starker Anlehnung an Heidegger, der den Wiederkunftsgedanken direkt als »Glauben*
interpretiert, hält G es mehr mit spontaner ontologischer Erfahrung und höheren Intui-
tionen, über die der Übermensch, der die Stufen der Transzendenz vollendet hat, reichlich
verfügt, denn „die Herren haben die Fülle des Seins, die edle Natur ist von Sein gesättigt,
hat den höchsten ontologischen Koeffizienten" (597 f.). Bei all diesen Begriffen soll es sich
nicht, so betont G, um psychologisch, soziologisch oder historisch bestimmte Kategorien
handeln (vgl. 590, 596). Jeder Verdacht auf konkrete Implikationen mißachtet die „onto-
logische Substanz" (587), deren Wiederkehr expressis verbis bestätigt, daß die alte Meta-
physik, und zwar ihr eher irrationaler Traditionszweig, allen Beteuerungen zum Trotz
doch noch nicht recht überwunden ist.
3. Weiteres Indiz dafür, daß der Verdacht zutrifft, ist Gs entschiedener ,Mangel an
historischem Sinn', der ihn als ,fast erbliche Idiosynkrasie* mit der Metaphysik verbindet.
Ns Warnung, daß „das historische Philosophieren von jetzt ab nötig (sei) und mit ihm die
Tugend der Bescheidung" (MA I, 2) mag G nicht beherzigen, denn Historic gilt ihm
allenfalls als Präludium zu höheren ontologischen Gedanken (13 ff., 589) und Bescheiden-
heit scheint ihm wohl wenig angebracht angesichts einer Philosophie, die Abenteuer und
Abgründe zu bestehen hat und zum heroischen Krieg für Ideen bereit ist (vgl. 501 ff.).
Die Welt, in die der Krieger eintritt, schildert G in Kategorien, die sich dadurch von
denen Ns unterscheiden, daß sie dessen zwiespältiges Verhältnis zur Geschichte durch
völlige Geschichtslosigkeit überwunden haben: diese Welt besteht einerseits aus den
Starken, Unabhängigen, Glücklichen, Ausnahmen, Ehrlichen, andererseits aus den Leiden-
den, Enterbten, Mittelmäßigen und Hinterhältigen (vgl. 228). Entsprechend hat sie einen
„Pol des Nein und einen Pol des Ja" (233); das Kriterium der Zugehörigkeit liegt im Wil-
len zur Macht, je nachdem ob er positive oder negative Ideale, das Ja oder das Nein zum
Objekt hat (vgl. 232). Wo er fehlt, ist Degenereszenz, wo er anwest, Gesundheit (vgl. 229).
Beides ist schon vorgekommen in der Geschichte, ihr Lauf ist ein „Dualismus von aufsteigen-
dem und absteigendem Leben" (232). Der deshalb nicht ganz unzutreffend als „primitiver
Rhythmus" (55) des Seins bezeichnete Ablauf bewegt sich noch immer über die Nschen
Schaltstellen, von den Vorsokratikern zu Plato, von den Christen zu den Germanen, von
der Renaissance zu Napoleon (vgl. 209 ff.). Der Sieg der Schwachen über die Starken,
^tonnant paradoxe< (247) auch für den kampfbereiten G, wird ihm anhand von Ns An-
deutungen erklärbar: die Erziehung in der Hand der Frauen, die Mischung der Klassen, der
Kampf der Eliten, die sich gegenseitig ausrotten und die moralische Zähmung des Menschen
tragen Schuld (vgl. 248). Durch Ns Wirkungsgeschichte allenfalls zu einer milden ,malaise'
(vgl. 397) an diesem Geschichtsentwurf gebracht, verteidigt G ihn lieber noch gegen ein
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„breites Publikum ..., das alle die philosophischen Intuitionen auf der Ebene der historisch-
politischen Erfahrung nivelliert" (390). Das ontologisdie Niveau hindert G allerdings
nicht, als Beispiel der Einlösbarkeit der utopischen Dimensionen des Seins Napoleon aufs
neue ins Feld zu führen (vgl. 588). Den Verdacht des Reaktionären zu entkräften, hält G
Ns Achselzucken wohl auch in eigener Sache für eine ausreichende Geste (vgl. 589). Ns Ge-
schichtsverständnis ist noch weitgehend zu klären, allerdings weniger durch zusätzliche
Ontologisierung als etwa im Zusammenhang mit ähnlich radikalen und radikal versimpeln-
den Entwürfen bei Theoretikern wie Mosca, Michels, Pareto. In bezug auf Gs gläubiges
Anhängertum gelten andere Voraussetzungen.
Der größte Greuel in der Geschichte ist für G die eigene Gegenwart. Und zwar
inspiriert ihn das Jahr, das auf den Mai 1968 folgt, zu einem finsteren Sittengemälde
anläßlich des Vorworts zur 2. Ausgabe: es handelt sich um eine „Epoche der Zerstreuung,
des Kitsches und der Komödianten des Geistes" (7). In der „höchsten Beunruhigung...,
wenn die Besten (Namen gibt G nicht preis) zögern und mit sich zu Rate gehen" (ebd.),
ist N der „vorbildliche Erwecker, ... der eine Philosophie nach Maßgabe unseres Schick-
sals" (ebd.) liefern kann. Schicksal spielt sich für G immer noch hauptsächlich auf ideeller
Ebene ab. So wie er in der Vergangenheit die Wahrheit als Problem der Metaphysik sieht
und nicht wie N die Metaphysik als ein relativ spät auftretendes Phänomen innerhalb von
Realzusammenhängen, bei denen auch die Wahrheit eine Rolle spielt, so hat auch die gegen-
wärtige Misere vor allem ideelle Gründe; zum einen den „Positivismus und seine aktu-
ellen, so geschickt geschminkten Varianten" (8); gegen die linke Ideologie zum anderen
scheint eine ungebremste Attacke nicht opportun: „ohne jeden Zweifel ist der Philosoph
direkt im Klassenkampf engagiert, jedoch transzendiert jeder große Gedanke... auf eine
bestimmte Weise die Bedingungen seiner historisch-sozialen Faktizität" (24). Der Gsdie
Gedanke transzendiert die Fakten bis hin zu einem „tieferen ontologischen Rätsel" (154),
auf das die Klassenkämpfe verweisen und das vielleicht geeignet ist, die Faktizität zu
legitimieren.
Denn auch in Zukunft soll es Herren und Knechte geben. Die ewige Wiederkunft, an
der sich der zur Selbstüberwindung fortgeschrittene Wille zur Macht beweist, ist geradezu
die „große selektive Idee ..., die radikal trennt zwischen denen, die wollen können und
die nicht wollen können, den Starken und den Schwachen, den Schöpferischen und den
Unfähigen" (576). Die „Herren haben die Fülle des Seins" (597 f.), sie „nehmen alle (!)
Seinsmöglichkeiten an" (583). Die ewige Wiederkunft garantiert dem des Willen zur Macht
mächtigen Menschen die „Regeneration seines Seins und die Herrschaft über die Ge-
schichte" (581).
Solche Kriterien könnten als Maßstab den Wert eines Gummibandes haben, hätte
man ähnlichen Wortlaut nicht bereits im Faschismus als Prokrustesbett kennengelernt. G
setzt eher gemäßigte, akademisch-bildungsbürgerliche Vorzeichen, die allerdings nicht
immer Gegenindikationen sind.
Die Leistungen, die für die Zukunft und die Schaffung des Übermenschen zu erbrin-
gen sind, gruppieren sich um den ZentralbegrifT der Selbstüberwindung, dessen Anklang
an die alten asketischen Ideale unüberhörbar ist. Die Entwicklung des Übermenschen wird
zum Hauptauftrag der Philosophie; der Übermensch trägt philosophische Züge, seine
Existenz hat „ontologische Dichte... proportional dem Maße an Mut, Klarheit, Liebe,
Adel" (566), das er in sein Tun investiert. Die besten Startchancen haben die philoso-
phisch Vorgebildeten, denn wer wäre sonst in der Lage, die Anweisung zur Transzendenz
zu beherzigen: „Überwinde dich selbst und vollende die Wiederkehr mit dem Ja zum
amor fati!" (577 f.). Die philosophische Bildung entstammt allerdings noch der alten,
patriarchalischen Universität, ihre Tugenden sind „männlich, gesund und loyal" (529).
Mitsamt der Abneigung gegen „Hypertrophie des Verstandes und logischen Fana-
tismus" (218), gegen Wissenschaft, weil sie ^Beherrschung* und nicht ,Spiele bedeutet, mit
dem Faible für Spiel im Sinne von Kunst vervollständigt sich das bildungsbürgerliche
Syndrom, variiert im Vergleich zu Ns Kritik an der Gründerzeit durch seine besonderen
historischen Vorzeichen.
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Diese Vorzeichen sind zum Teil spezifisch nationaler Natur: der Einfluß Heideggers;
bestimmte faschistoide Züge, die sich in Frankreich, geschützt durch das Gütezeichen der
Resistance', kontinuierlicher als in Deutschland in der Philosophie halten; ein in Fleisch
und Blut übergegangener existentialistisch-expressionistischer Jargon, bei dem sich offenbar
bei der Heidegger-Generation und denen, die wie G (40) deren Standort teilen, automa-
tisch Bedeutung einstellt (vgl. Bataille nach Boudot, L'ontologie de Nietzsche, Paris 1971,
9; die Chance des Übermenschen ist „die der Liebenden, die sich dem Kampf (!) in der
Nacht widmen").
Deutsch und französisch zugleich sind die antirationalistischen, antiwissenschaftlichen
Vorzeichen. Sie kennzeichnen eine philosophische Tradition des Kontinents, die sich von
der anglo-amerikanischen Entwicklung absetzt. Die Abgrenzung gegen die marxistische
Philosophie ist nicht eindeutig, weil die Misere der technisierten, entfremdeten Welt auch
dort zum Teil durch die Wissenschaft als vorrangige Ursache erklärt wird. Statt dessen
dürfte die Diagnose ^nterentwicklung* eher stimmen als ,Hypertrophie'; es mangelt an
Erfassung langfristiger Abläufe und komplexer Verknüpfungen. Statt die Aufgabe der
Philosophie etwa darin zu sehen, einen der Komplexität der Welt angemessenen Theorie-
begriff zu erarbeiten, greift man auch in der neueren deutschen 2V-Rezeption gerade auf die
Ideen zurück, die die Abneigung gegen Wissenschaft rechtfertigen. G hält es damit, eher
schon im Gegensatz zu N, Geheimnisse durch „geheimnisvolle Kräfte" (607) zu erklären
und die Aufgabe der Philosophie als „Arbeit der Tiefen" (9) zu sehen, obwohl die tiefen
Gedanken nur tief und deswegen noch nicht richtig zu sein brauchen.
Monika Tunke> Berlin
unbefriedigend wie erzwungen, doch von heuristischem Wert und zu diesem Zweck auch
nur getroffen. Aber welch heureka steht dem gegenüber?
Das Ergebnis, zu dem eine so angelegte Untersuchung kommen kann, ist zum einen
rein deskriptiv: ausgebreitetes und sondiertes Material. Diese Beschränkung hat sich der
Verfasser selbst abverlangt (318). Daß Nietzsche vor allem Bibeldeutsch und Predigtstil
verwandte, ist seit je, zumal in Rücksicht auf Also sprach Zarathustra, festgestellt wor-
den; es bleibt aber das Verdienst von K, den religiösen Wortschatz des Philosophen mit
philologischer Umsicht und Vorsicht zusammengestellt, mit Nietzsches Selbstaussagen und
-einschätzungen konfrontiert (Einleitung), nach seiner Thematik gesondert (Teil I) und
seinen Motivations- und Funktionszusammenhang beschrieben (Teil II) zu haben. Ver-
dienstvoll im Sinne eines Nachschlagewerks ist das angehängte Wörterbuch (321—498) zum
religiösen Sprachgut bei Nietzsche, das, in Auswahl, außer dem Stellenkodex (mit Zitat)
die Wortgeschichte des jeweiligen Begriffs sowie die entsprechende Literatur dazu und zu
Nietzsches Verwendung anführt. (Problematisch erscheint allerdings die Angabe der
Stellen, nämlich nach dem Band der ,Groß-c bzw. »Klein-Oktav-Ausgabe*, aber ohne
Nennung des Werkes, in dessen Kontext sie gehören.) Der Verfasser erweist jedenfalls über
die Kenntnis der Nietzsche-Forschung hinaus ein für eine Dissertation angemessenes Maß
an Orientiertheit über die mit seinem Thema verbundenen konkreten Forschungsergebnisse
(vgl. die Berücksichtigung religionswissenschaftlicher Erkenntnisse u. a. 82 A. 33), wenn-
gleich das spezifisch Linguistische des Ansatzes undurchsichtig bleibt. Die Genauigkeit zeigt
sich nicht zuletzt im Verweisungszusammenhang des Buches, den der Autor dem Leser
bietet.
Zu fragen bleibt freilich, ob das, was nach seiner Ansicht aus diesem Material zu
folgern wäre, eine Bewertung Nietzsches als Philosophen aufgrund seiner Sprache, nicht
schon präjudiziert wird vom gewählten methodischen Schritt.
Die Problematik, die sich bei Nietzsche dem Forscher stellt, ist deutlich zu machen:
ein Autor, der sich selbst als Philosoph kat'exochen verstand, gilt als Außenseiter der
Philosophiegeschichte, weil er kein philosophisches System im traditionellen Sinne lieferte
und vor allem Aphorismen schrieb; seine Wirkung wurde aber so allgemein, daß sie
sogar politische Konsequenzen hatte. Dieser zwielichtige Autor, der viele Sprachen spricht,
spricht auch die der Religion.
Um den „Ausblick", den der Verfasser am Ende gibt, überspitzt zu formulieren: die
Sprache Nietzsches ist so religiös — vor allem „kryptoreligiös" —, daß sie nicht philoso-
phisch sein kann (317). Dieser Schluß wäre u. E. falsch, weil er an dem vorbeiginge, was
bei Nietzsche vorliegt. Er basiert auf der falschen Prämisse, daß es möglich sei, Sprache
und Denken — und sei es auch nur vorläufig und methodisch — zu trennen (vgl. 318 und
78 f.). Es wäre vielmehr notwendig, aus Nietzsches Denkansatz (etwa im Sinne der von
Müller-Lauter dargestellten Gegensätzlichkeit) seine sprachliche Artikulationsweise zu ver-
stehen: Nietzsches in der Tat ,ambivalentes' (52, 56), paradoxes (54, vgl. »zwiespältiges*
319) Verhältnis zur Religion (vgl. die Notiz, zitiert 113: „Ich habe den ganzen Gegensatz
einer religiösen Natur absichtlich ausgelebt. Ich kenne den Teufel und seine Perspektiven
für Goii.") wie zur Philosophie kann nicht zu einer Summe von Sprachformen führen,
wie sie der Verfasser aufzählen zu können glaubt (1. philosophisches, 2. wissenschaftliches,
3. gnomisches, 4. beobachtendes, 5. poetisches, 6. religiöses (religioides), 7. persönliches
Reden 317).
Nietzsche bedient sich vielmehr dieser sprachlichen Masken, um sie jeweils zu unter-
laufen, um durch Sprache Bewußtsein zu verändern. Seine säkularisierte Sprache ist
Sprach- bzw. Erkenntniskritik ebenso wie seine philosophische und poetische Sprache.
Philosophie, Religion und Poesie sind — vgl. deren allerdings systematisch inhaltliche
Bedeutung bei Hegel — als zentrale Denk- und Sprachformen der abendländischen
Bewußtseinsgeschichte medial verarbeitet, um dem Menschen zu sich selbst zu verhelfen
auf dem Wege eines neuen Denkens und Sprechens. Dieser philosophiegeschichtliche Um-
bruch vollzieht sich in der rätselhaften Form des 32arathustra<:, in dem der philosophische
Gedanke in einer Heiligenvita als tragische Erkenntnis dargestellt und zunehmend aus-
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gesprochen wird. Daß K ihn gerade als nicht „eigenste Sprache" Nietzsches aus seiner
Untersuchung ausklammert (14), ist u. E. typisch für die Schwächen seines Forschungs-
ansatzes: seine Orientiertheit am Sprachmaterial und sein Trennen von Denken und
Sprechen. Die von ihm am Ende auf gewiesenen religiösen „Denkformen" (etwa „Schweigen
und Nicht-Mitteilbarkeit* 296 ff.) bieten keinen Ersatz für das Denken Nietzsches, das
von der Sprache her sehr wohl zu erschließen wäre.
Das vorliegende Buch gibt daher über seinen, nach religiöser Tradition fragenden
Untersuchungsgang zu denken; lohnt sich die Arbeit einer so gründlichen Materialsammlung
(wobei die Gründlichkeit als solche ohnehin immer noch zu wünschen übrig lassen muß
vgl. K Einleitung und 322), wenn der gewählte Gegenstand sich am Ende als zukurz-
gekommen erweist?
Anke Bennboldt-Tbomseriy Berlin