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Edition Akzente
Herausgegeben von
Michael Krüger

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Paul Virilio
Fluchtgeschwindigkeit
Essay

Aus dem Französischen von


Bernd Wilczek

Carl Hanser Verlag

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Titel der Originalausgabe:
La vitesse de liberation
© Editions Galilee, Paris 1995
Inhalt

Offener Himmel ................................

Erster Teil

Das dritte Intervall ..................................19


Die Perspektive der Echtzeit ..................37
Die große Optik ......................................54

Zweiter Teil

Das Gesetz der Nähe ..............................71


Graue Ökologie ......................................83
Kontinentalverschiebung .......................98

Dritter Teil

Die Begehrlichkeit der Augen ...............125


Von der Perversion zur sexuellen Diversion . . . 143
Fluchtgeschwindigkeit ..........................165

Anmerkungen .......................................201

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ISBN 3-446-18771-5
Alle Rechte an der deutschen Ausgabe vorbehalten:
Umschlag: Nach einem Entwurf von Klaus Detjen
unter Verwendung einer Fotografie aus:
Raymond Kurzweil: KI. Das Zeitalter der
künstlichen Intelligenz. Hanser, 1993
© 1996 Carl Hanser Verlag München Wien
Gesamtherstellung: Friedrich Pustet, Regensburg
Printed in Germane

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Ein Tag
der Tag wird kommen
oder der Tag wird nicht kommen

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Offener Himmel

Der Azur ist die optische Dichte der Atmosphäre, die große Linse des
Erdballs, seine leuchtende Netzhaut.
Vom Azurblau bis jenseits des Himmels trennt der Horizont die
Transparenz von der Undurchsichtigkeit, und durch den Sprung bzw. das
Abheben, mit deren Hilfe die Erdanziehung für einen Augenblick
überwunden werden kann, ist es auch nur ein Schritt von der Erdmaterie
bis zum Lichtraum.

Allerdings ist der Horizont, d. h. die Horizontlinie, nicht nur ein


Absprungsockel, sie ist gleichfalls die allererste Küstenlinie, die
vertikale Küstenlinie, die eine vollkommene Trennung zwischen der
»Leere« und der »Fülle« bedingt. Die Bodenlinie, diese unbemerkt ge-
bliebene Erfindung der Kunst, jede »Form« und jeden »Hintergrund« zu
malen und voneinander zu unterscheiden, ist eine frühe Vorwegnahme
des Küstenstrichs, des »azurnen Horizonts«, d. h. der horizontalen
Küstenlinie, wegen der wir so oft die zenitale Perspektive aus dem Auge
verlieren.
Die gesamte Geschichte der Perspektiven während des Quattrocento ist
übrigens nichts anderes als ein von hartnäckigen Geometern geführter
Kampf, eine Schlacht für das Vergessen der Unterscheidung zwischen
»oben« und »unten«. Bleiben soll allein die Unterscheidung von »nah«
und »fern«, der Fluchtpunkt, der diese Geometer buchstäblich fasziniert,
während unsere Anschauung doch an und für sich durch unser Gewicht,
die Erdanziehung, die klassische Unterscheidung zwischen Zenit und
Nadir bestimmt ist.
Nicht die am Horizont zusammenlaufenden Fluchtlinien sind also der
erste Orientierungspunkt unseres

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Blickes, so wie es die italienischen Meister behaupteten, sondern der
leichte Druck einer universellen Anziehung, die uns ihre Ausrichtung auf
den Erdmittelpunkt und die Gefahr des Falls aufzwingt.
Schon Victor Hugo erklärte: Das Seil hängt nicht, die Erde zieht.
Im Zeitalter der Verschmutzung der Atmosphäre wäre es angebracht,
endlich über eine Erneuerung unserer Wahrnehmung der Erscheinungen
nachzudenken. Wenn man die Augen zum Himmel richtet, so könnte
dies angesichts dieser Tatsache etwas anderes sein als ein Zeichen der
Ratlosigkeit oder des Zorns.
Denn oben verbirgt sich tatsächlich eine geheime Perspektive.
Über den Wolken ereignet sich nicht nur die Zerstörung der
Ozonschicht. Der nur wenige Sekunden dauernde Flug der Gebrüder
Wright am Strand von Kitty Hawk oder der Start der Apollo ii-Rakete
von Cap Canaveral weisen uns den Weg zu einer merkwürdig
anmutenden Umgestaltung des Blicks, die dem möglichen Fall nach
oben schließlich doch noch Rechnung trägt, der durch die noch junge
Errungenschaft der »Fluchtgeschwindigkeit«, die 28.000 km/h beträgt,
bewirkt wurde.
Da wir gegen Ende dieses Jahrhunderts zu sehr damit beschäftigt sind,
die absolute Geschwindigkeit der modernen Übertragungsmittel in
Echtzeit weiterzuentwickeln, vergessen wir nur zu häufig die historisch
genauso bedeutsame Höchstgeschwindigkeit, mit deren Hilfe wir dem
Realraum unseres Planeten entkommen und folglich »nach oben fallen«
konnten.

Dieser umgekehrte Schwindel veranlaßt uns vielleicht dazu, unsere


Vorstellung von der Landschaft und des menschlichen Lebensraums zu
verändern.
Unsere Generation hat nicht nur ein Loch in der

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dünnen Ozonschicht entdeckt, die uns früher vor der UV-Strahlung
schützte, sondern sie hat noch ein zweites Loch in den Azur gegraben,
denn nunmehr flüchtet
unser Himmel.
Der Fluchtpunkt zum Horizont des Quattrocento wird jetzt ergänzt um
den Fluchtpunkt des Novecento: heute gibt es oben einen Ausgang. Eine
künstliche GegenAnziehung ermöglicht es dem Menschen, der Erdan-
ziehung, dieser Stabilität des Raums der Schwerkraft, zu entkommen,
die seinen gewohnten Tätigkeiten immer schon die Richtung wies.
Gegen Ende unseres Jahrhunderts gerät alles ins Wanken, und zwar
nicht nur die geopolitischen Grenzen, sondern auch die Grenzen der
perspektivischen Geometrie.
Alles wird auf den Kopf gestellt! Die Dekonstruktion ist sowohl eine
der äußeren und künstlerischen Erscheinungen als auch eine der
plötzlichen Transparenz der gesellschaftlichen Landschaft.
Bald wird man lernen müssen, im Äther zu fliegen bzw. auf dem Äther
zu schwimmen.

Wenn wir unseren Alltagspraktiken eine neue Richtung geben wollen,


dann müssen wir bald unsere Orientierungen ändern, die Markierungen
von »unten« nach »oben« verlegen.
Wenn der Verlust der unzugänglichen Weiten Hand in Hand geht mit
einer medialen Nähe, die sich ausschließlich der Lichtgeschwindigkeit
verdankt, dann müssen wir uns sehr bald auch an die Verzerrungseffekte
der äußeren Erscheinungen gewöhnen, die durch die Perspektive der
Echtzeit der Telekommunikationstechnologien verursacht werden. Bei
dieser Perspektive zieht sich die alte Horizontlinie in den Rahmen des
Bildschirms zurück, und die Elektro-Optik verdrängt die Optik unserer
Brillen!

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Bis es soweit ist, wird noch die letzte große Überraschung der
Astrophysik ans Tageslicht kommen: Jen
seits der Erdanziehung gibt es keinen Raum mehr, der diesen Namen
verdient, sondern nur noch Zeit! Eine Zeit, die ganz allein die kosmische
Realität ausmacht.
Behaupten im übrigen nicht schon einige Astronomen und
Mathematiker, daß der Zeit ein Trägheitsmoment zueigen sei und daß sie
eine Materie, eine andere Form von Material, sei?'
Wenn die Astrophysiker schon nicht mehr nur von der »Raumzeit«,
sondern von »Raumzeit-Materie«' sprechen, dann tragen sie dazu bei, die
Ausdehnung und die Dauer in das Netz einer anderen Form von
kosmischer Materialität einzubinden, die keine Beziehung mehr zu
unserer Erfahrung der Dreiteilung zwischen Materie, Raum und Zeit
aufweist.
Wenn sie zudem neben den »Raum-« und »Zeitintervallen« ein drittes
Intervall »Licht« einführen, dann bewirken sie die Entstehung eines
letzten Zeitbegriffs, der nicht mehr ausschließlich von der klassischen
chronologischen Zeitfolge geprägt ist, sondern auch von der
(chronoskopischen) Belichtungszeit der Dauer der Ereignisse durch die
Lichtgeschwindigkeit, was im übrigen einige Autoren von
Kriminalgeschichten schon seit langem geahnt haben. Wenn es sich
tatsächlich so verhält, wie der Untersuchungsbeamte bei I3mile Gaboriau
sagt, daß nämlich »die Zeit eine zusätzliche Unklarheit darstellt«, die
nach und nach die Indizien verwischt und schließlich die wahren Fakten
verschleiert, dann ist die Geschwindigkeit das Licht der Zeit, ihr einziges
»Licht«, und die Dauer-jede Dauer und jede Ausdehnung - kann nicht
mehr ohne die Unterstützung der absoluten Geschwindigkeit des Lichts
betrachtet werden, das die Wahrnehmung der Zeit verändert.
Folglich gesellt sich heute zur langsam vergehenden Zeit eine
augenblicklich belichtete Zeit hinzu. Hierbei

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handelt es sich um die sehr kurzen Zeiten aus den Bereichen des
Elektromagnetismus und der Schwerkraft.

Es fällt nicht schwer, sich die grundlegenden Veränderungen, die sich


aus diesem neuen »Weltbild« ergeben, seine Auswirkungen auf das
Wesen der PERSPEKTIVE und folglich auf die Ausrichtung der
menschlichen Aktivitäten vorzustellen: Wenn die Zeit Materie ist, was ist
dann der Raum?
Er ist nicht mehr der »geographische« Raum der hell schimmernden
Hügel der Toskana unter der Sonne der italienischen Renaissance, dieser
»geometrische« Raum, der mittels der perspektivischen Tiefenwirkung
ein dauerhaftes Bild der nahegelegenen Welt zu prägen wußte, sondern
der Raum jenseits des Himmels und des Azurblaus, der sogenannte
»Weltraum«, dessen Dunkelheit weniger durch das Fehlen der Sonne
bedingt ist als vielmehr durch die Nacht einer Zeit ohne Raum und ohne
meßbare Ausdehnung, es sei denn die der »Lichtjahre«, die keine
Jahreszeiten haben. Anders gesagt, der Wechsel von Tag und Nacht wird
nunmehr durch einen Wechsel zwischen dem irdischen Raum und seiner
außerirdischen Abwesenheit ergänzt.
Auf diese Weise würde das Licht der Zeit unserer Materienjahre
ergänzt werden durch die Dunkelheit des abwesenden Raums der
Lichtjahre, die finstere Herrschaft einer fehlenden Materie, die
schließlich mit der universalen Zeit gleichgesetzt würde, d. h. mit einer
außerweltlichen Zeitlichkeit, die keinerlei Beziehung mehr zum
notwendigerweise »raum-zeitlichen« Wesen unserer Aktivitäten
innerhalb des Raums eines Planeten aufwiese, der in der Zeit verankert
ist; es handelt sich um den Äther einer »Lichtzeit«, die nichts mit unserer

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gewohnten Bewertung der Dauer und der geophysikalischen
Ausdehnung zu tun hätte.

An dieser Stelle möchte ich einen Physiker zitieren, der ein Fachmann
für die vielzitierte fehlende Masse ist: »Aus welchen Partikeln besteht
die fehlende Masse, dieser große, lichtlose Teil des Universums? Es
wäre verführerisch anzunehmen, daß die dunklen Halos aus
überschüssigen Baryonen gebildet sind. Und diese Baryonen sich als die
kompakte Form kleiner dunkler Sterne - der braunen Zwerge - erweisen
sollten, aber bedauerlicherweise können diese Himmelskörper nur einen
kleinen Teil der dunklen Materie des Universums ausmachen.«'
Könnte es sich beim »übrigen Teil« dieser kosmischen Dunkelheit, der
so beträchtlich ist, daß er die Phantasie der Wissenschaftler anregt, nicht
um die fehlende Masse der Zeit handeln?
Um eben jene kosmische Zeit, die sich unserer astronomischen
Beobachtung in genau demselben Maße entzieht, wie sie sich der
absoluten, aber begrenzten Geschwindigkeit des Lichts entzieht? Eine
universale Zeitlichkeit, die im »Schatten« einer auf 300.000 Kilometer
pro Sekunde beschränkten Beschleunigung verharrt.
Unter diesen hypothetischen Bedingungen wäre die gegenwärtige
Erforschung des vielzitierten Bi(; BANG eine Täuschung, eine optische
Täuschung der Kosmologie!

Wie anders sollte man sich ernsthaft der Hoffnung hingeben können, mit
Hilfe von Indra, der neuen technischen Anlage des größten
französischen Schwerionenbeschleunigers, die 15 Milliarden Jahre
zurückliegende Entstehung der Raumzeit-Materie direkt zu beobachten,
wo doch die Trägheit der universalen Zeit jede
Beobachtung allein schon wegen des endlichen Wesens der
Lichtgeschwindigkeit, dieser LICHT-ZEIT verhindert, die zwar die
Ereignisse beleuchtet, allerdings nicht dazu imstande ist, sich selbst zu
beleuchten?

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Indem die Wissenschaftler die technische Anlage für die Aufzeichnung
der ursprünglichen Signale nach der wedischen Gottheit des Himmels,
Indra, benannten, sind sie außerdem über den Unterschied hinweg-
gegangen, den es offenbar zwischen der den Gesetzen der Erdanziehung
unterliegenden Raumzeit einerseits und derjenigen des außerirdischen
Jenseits andererseits gibt.
Sollten sich unsere heutigen Wissenschaftler nach dem
»Anthropozentrismus« und dem »Geozentrismus« vielleicht einer neuen
Art von Illuminismus oder eher von LuMINOZENTRISMUS
verschrieben haben, der sie möglicherweise über das tiefere Wesen des
Raums und der Zeit täuscht? Es ist davon auszugehen, daß sich die aus
dem Quattrocento stammende Perspektive des Realraums immer noch
der Perspektive der Echtzeit eines horizontlosen Kosmos in den Weg
stellt ...

Zum Abschluß dieser im höchsten Maße hypothetischen Ausführungen


möchte ich zu unserem neuen »azurnen Horizont« zurückkehren, dem
zenitalen Küstenstrich, der auf so eindeutige Art und Weise die Sphäre
einer der Erdanziehung unterworfenen RaumMaterie von der
außerirdischen Licht- Zeit trennt, deren Tiefe sogar die Dichte der Zeit
verschleiert, wobei die schwarze Masse der universalen Zeit schließlich
auch der optischen Dichte unseres Planeten ihre azurne Farbe verleihen
würde.
Wenn die Natur die Leere verabscheut, dann gilt das für die natürliche
Größe gleichermaßen. Ohne Gewicht und Maß gibt es keine Natur mehr,
genauer gesagt,

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keinen Naturbegriff. Ohne fernen Horizont besteht keine Möglichkeit
mehr, die Realität zu erkennen, und wir stürzen in die Zeit eines Falls,
der demjenigen der gefallenen Engel ähnelt, womit der Horizont der
Erde dann nichts anderes als eine weitere »Engelsbucht« wäre. Eine
philosophische Enttäuschung, bei der mit dem Naturbegriff der
Aufklärung im Zeitalter der Lichtgeschwindigkeit der Realitätsbegriff
verschwömme.

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Erster Teil

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Das dritte Intervall

»Ohne weggegangen zu sein,


ist man schon nicht mehr da.«
Nikolaj Gogol

Begriffe wie etwa kritische Masse, kritischer Augenblick oder kritische


Temperatur sind mittlerweile durchaus eingeführt, sehr viel seltener aber
ist vom kritischen Raum die Rede. Welchen anderen Grund sollte es
hierfür geben, als den, daß wir die Relativität, den Begriff der Raumzeit,
noch nicht wirklich verarbeitet haben?
Und doch ist der kritische Raum, die kritische Fläche, nunmehr
aufgrund der Beschleunigung solcher Verkehrsmittel allgegenwärtig, die
wie das ÜberschallFlugzeug Concorde den Atlantik verschwinden lassen,
wie der Airbus Frankreich zu einem Viereck verkleinern, das man in
eineinhalb Stunden hinter sich gelassen hat, oder wie der TGV 1, der Zeit
an der Zeit spart. Diese verschiedenen Werbeslogans veranschaulichen
in hervorragender Weise die Unterschlagung des geophysikalischen
Raums, von der wir zwar profitieren, deren unbewußte Opfer wir aber
auch zuweilen sind.
Die Telekommunikationsmittel hingegen bescheiden sich nicht damit,
die Weite einzuschränken, sie zerstören auch jede Dauer, jede
Verzögerung bei der Übertragung von Nachrichten und Bildern.
Das ig. Jahrhundert war gekennzeichnet von der Revolution der
Massenverkehrsmittel, das 20. Jahrhundert von der Revolution der
Übertragungstechniken. Eine tiefgreifende Veränderung im ersten Fall,
eine Kommutation im zweiten, die sich in der Weise sowohl auf den
öffentlichen als auch auf den privaten Raum auswirken, als wir uns
hinsichtlich ihrer Reali

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tät nicht mehr sicher sind, denn nach der Urbanisierung des Realraums
erleben wir mit der Einführung der Technologien für die Teleaktion
anstelle der klassischen Fernsehtechnologien den Beginn der Urbanisie-
rung der Echtzeit.
Dieser plötzliche Technologietransfer vom Ausbau der Infrastrukturen
des Realraums (Häfen, Bahnhöfe, Flughäfen usw.) auf die
Umweltkontrolle in Echtzeit, der sich den interaktiven Teletechnologien
(Schaltstellen für die Datenfernverarbeitung) verdankt, ist verantwortlich
für die heutige Erneuerung der kritischen Dimension.
Die Frage nach dem realen Augenblick der unmittelbaren Teleaktion
konfrontiert uns in der Tat von neuem mit den philosophischen und
politischen Problemen, die traditionellerweise mit den Begriffen von
AroPIE und UTOPIE in Verbindung standen. Heute spricht man in
diesem Zusammenhang zwar bereits von TELETopIE, die Paradoxe, die
sich aus ihr ergeben, sind aber deshalb nicht aufgehoben.
Hierzu gehört, SICH ÜBER GROSSE ENTFERNUNGEN HINWEG
ZU VERSAMMELN oder TELEPRÄSENT ZU SEIN, d. h. gleichzeitig
hier und andernorts zu sein. Die sogenannte »Echtzeit« ist nichts anderes
als eine reale Raumzeit, denn die verschiedenen Ereignisse finden
tatsächlich statt, auch wenn der Ort, an dem sie stattfinden, letztlich der
Nicht-Ort der teleoptischen Techniken (Schnittstelle Mensch/Maschine,
Leitstelle bzw. Knotenpunkt der Datenfernübertragung usw.) ist.
Direkte Teleaktion, unmittelbare Telepräsenz. Dank der neuen
Fernsende- und Fernübertragungsverfahren wird das ferngesteuerte
Handeln enorm erleichtert. Auch die technischen Spitzenleistungen im
Bereich des Elektromagnetismus und die Qualität der radioelektrischen
Bilder dessen, was nunmehr als ELEKTROOPTIK bezeichnet wird,
tragen wesentlich hierzu bei. Da die

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perspektivischen Fähigkeiten des menschlichen Körpers eine nach der
anderen zunächst auf Maschinen und seit kurzem vor allem auf
Kollektoren, Sensoren und sonstige Detektoren übertragen wurden,
durch die sich der zwangsläufige Wegfall des Tastempfindens durch die
Entfernung kompensieren läßt, wird die allgemeine Fernsteuerung in
allernächster Zeit die permanente Fernüberwachung vervollständigen.
Kritisch werden dadurch nicht in erster Linie die drei räumlichen
Dimensionen, sondern vor allem die vierte, die zeitliche Dimension,
genauer gesagt, die der GEGENWART. Wir werden nämlich sehen, daß
die »Echtzeit«, entgegen der Behauptung der Elektroniker, nicht der
»verzögerten Zeit«, sondern ausschließlich der »Gegenwart«
entgegensteht.
Schon Paul Klee erklärte, daß man die Gegenwart tötet, wenn man sie
für sich allein genommen bestimmen will. Und genau das tun die
Teletechnologien der Echtzeit: Sie töten die »Gegenwart«, indem sie sie
von ihrem Hier und jetzt isolieren zugunsten eines kommutativen
Anderswo, das nichts mehr mit unserer »konkreten Gegenwart« in der
Welt, sondern nur noch etwas mit einer vollkommen rätselhaften
»diskreten Telepräsenz« zu tun hat.
Es läßt sich einfach nicht übersehen, in welchem Maße die neuen
Funktechniken (des digitalen Signals, des Videosignals und des
Funksignals) in nächster Zeit nicht nur das Wesen der Lebenswelt des
Menschen, seines territorialen Körpers, von Grund auf verändern
werden, sondern vor allem das Wesen des Individuums und seines
animalischen Körpers, denn die Raumordnung auf der Grundlage großer
materieller Infrastrukturmaßnahmen (Straßen, Schienennetze usw.)
weicht zunehmend der beinahe immateriellen Umweltkontrolle
(Satelliten, Glasfaserkabel), die den menschlichen Körper schließlich in
ein Terminal ver

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wandelt und den Menschen zu einem interaktiven Wesen macht, das
Sender und Empfänger zugleich ist.
Tatsächlich besteht die Urbanisierung der Echtzeit zunächst einmal in
der Urbanisierung des individuellen Körpers, der an unterschiedliche
Schnittstellen (Tastatur, Kathodenbildschirm, Datenhandschuh bzw. -an-
zug) angeschlossen ist, die allesamt Prothesen sind, die aus dem
überrüsteten Nicht-Behinderten eine fast perfekte Entsprechung des mit
Prothesen versehenen Behinderten machen.
Zeichnete sich die Revolution der Verkehrsmittel des ig. Jahrhunderts
durch die Entwicklung und zunehmende Verbreitung motorbetriebener
dynamischer Vehikel (Zug, Motorrad, Auto, Flugzeug usw.) aus, so
bedingt die gegenwärtige Revolution der Übertragungstechniken die
Entstehung des letzten, des audiovisuellen statischen Vehikels. Diese
Revolution markiert den Beginn einer Verhaltensträgheit des Senders/
Empfängers, den Übergang der vielzitierten Netzhautpersistenz, die die
optische Täuschung der Filmvorführung ermöglichte, zur
Körperpersistenz des zum Terminal gewordenen Menschen. Damit bildet
sie die Voraussetzung für die Möglichkeit der plötzlichen Mobilisierung
der Illusion einer jederzeit uneingeschränkt telepräsenten Welt, in der
der individuelle Körper des Zuschauers zum letzten urbanen Territorium
wird. Die gesellschaftliche Organisation und die spezielle Form der
Konditionierung, die früher auf den städtischen und familiären Raum
beschränkt waren, wirken jetzt direkt auf den animalischen Körper ein.
Somit wird auch der Zerfall der familiären Lebensgemeinschaft besser
verständlich, dieser zunächst erweiterten, dann atomisierten Familie, die
heute schon häufig nur noch aus einem alleinerziehenden Elternteil
besteht, wobei der Individualismus offenbar weniger die Folge eines
freieren Lebenswandels als viel

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mehr der Entwicklung der Gestaltungstechniken des öffentlichen und
privaten Raums ist, denn je mehr die Stadt wächst und sich nach allen
Richtungen ausbreitet, um so kleiner und unbedeutender wird die fami-
liäre Einheit.
Da auch die jüngste MEGAPOLITANE Überkonzentration (Mexiko,
Tokyo usw.) das Ergebnis des immer schnelleren Warenverkehrs ist,
scheint es notwendig zu sein, sich erneut sowohl mit der Bedeutung der
Be
griffe BESCHLEUNIGUNG und VERLANGSAMUNG (die
Physiker sprechen von positiver bzw. negativer Beschleunigung) als
auch mit der Bedeutung der weniger
einleuchtenden Begriffe TATSÄCHLICHE und vIRTUELLE
GESCHWINDIGKEIT (die Geschwindigkeit unerwar
teter Vorkommnisse wie beispielsweise Krisen oder Unfälle) zu
beschäftigen, um die Tragweite des »kritischen Übergangs«, dessen
machtlose Zuschauer wir heute sind, auch wirklich zu erfassen.
Man wird sich daran erinnern, daß die Geschwindigkeit kein Phänomen
an sich ist, sondern die Beziehung zwischen Phänomenen, anders
gesagt, die Relativität selbst. Hieraus ergibt sich die Bedeutung der Kon-
stante der Lichtgeschwindigkeit nicht nur für die Physik und die
Astrophysik, sondern für das alltägliche Leben, sobald wir, im Anschluß
an das Zeitalter der Verkehrsmittel, in das Zeitalter der
elektromagnetischen Organisation und Konditionierung des
Territoriums eintreten.
Genau das ist die »Revolution der Übertragungstechniken«, die
Umweltkontrolle in Echtzeit, die nunmehr an die Stelle der
traditionellen Gestaltung eines realen Territoriums tritt.
In der Tat dient die Geschwindigkeit nicht ausschließlich der
einfacheren Fortbewegung, sie dient in erster Linie dazu, die
gegenwärtige Welt zu sehen, zu hören, wahrzunehmen und folglich
intensiver zu erfas

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sen. In Zukunft wird sie darüber hinaus dazu dienen, über Entfernungen
hinweg, jenseits des Wirkungsbereichs des menschlichen Körpers und
seiner Verhaltensergonomie, zu handeln.

Wie sollte sich dieser Sachverhalt anders erfassen lassen, als durch das
Auftauchen eines neuen Typs von Intervall, des INTERVALLS DER
ART LICHT (Nullzeichen)? Tatsächlich ist die relativistische Erfindung
dieses dritten Intervalls bereits für sich genommen eine Art unbemerkt
gebliebene kulturelle Entdeckung.
Genauso wie das Zeitintervall (positives Vorzeichen) und das
Raumintervall (negatives Vorzeichen) mittels Geometrisierung der
ländlichen und städtischen Gebiete (Parzellierung und Kataster) sowohl
die Geographie als auch die Geschichte dieser Welt gestalteten, haben
auch der Kalender und die Zeitmessung (die Uhr) zu einer umfassenden
chrono-politischen Regulierung der menschlichen Gesellschaften
beigetragen. Infolgedessen bedeutet die allerjüngste Erscheinung eines
dritten Intervalltypus für uns einen qualitativen Sprung, eine
tiefgreifende Veränderung der Beziehung zwischen dem Menschen und
seiner Lebensumwelt.
Weder die ZEIT (die Dauer) noch der RAUM (die Ausdehnung) sind
fürderhin denkbar ohne das LICHT (die Höchstgeschwindigkeit), ohne
die kosmologische Konstante der LICHTGESCHWINDIGKEIT, diese
absolute philosophische Kontingenz, die nach Einstein an die Stelle der
Absolutheit tritt, die dem Raum und der Zeit von Newton und vielen
anderen vor ihm zuerkannt wurde.
Man könnte sagen, daß seit Beginn dieses Jahrhunderts die absolute
Grenze der Lichtgeschwindigkeit

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gleichzeitig den Raum und die Zeit beleuchtet. Nicht mehr so sehr das
LICHT erhellt die Dinge (das Objekt, das Subjekt, die Strecke), sondern
die Konstanz seiner HÖCHSTGESCHWINDIGKEIT bedingt die
Wahrnehmung der Dauer und Weite dieser Welt.
Bezüglich der Logik der Partikel bemerkte ein Physiker: »Eine
Darstellung ist bestimmt durch eine vollständige Einheit meßbarer,
kommutierender physikalischer Größen.«' Die makroskopische Logik
der Techniken der ECHTZEIT dieser plötzlichen »teleoptischen
Kommutation«, die das bisher durch und durch »topische« Wesen der
menschlichen Stadt ergänzt und vollendet, läßt sich nicht besser
beschreiben.

Somit sind sowohl die Stadtplaner als auch die Politiker hin- und
hergerissen zwischen den fortwährenden und seit langem bestehenden
Notwendigkeiten der Organisation und Planung des Realraums und den
damit verbundenen grundlegenden Problemen auf der einen Seite, d. h.
den geometrischen und geographischen Zwängen des Zentrums und der
Peripherie, sowie andererseits den neueren Notwendigkeiten der
Echtzeitordnung der Unmittelbarkeit und Allgegenwart mit ihren
Zugangsprotokollen, ihrer komprimierten Datenübertragung, ihren
Viren, den chronogeographischen Zwängen, die sich aus der netzartigen
Struktur und dem Verbundsystem der Netze ergeben. Das topische und
architektonische Intervall unterliegt den Gesetzen der Langzeit, das
TELETOPISCHE Intervall (das Netz) denen der kurzen, sehr kurzen,
eigentlich nicht mehr existierenden Zeit.
Wie kann man diesem Dilemma entkommen? Wie lassen sich diese
grundlegenden raumzeitlichen und relativistischen Probleme einordnen?
Betrachtet man die schlechte Stimmung an den internationalen
Finanzplätzen und die verhängnisvollen

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Auswirkungen der unverzüglichen und automatisierten Kursnotierungen
durch das Program Trading, das verantwortlich ist für das wachsende
wirtschaftliche Durcheinander sowie den Börsenkrach im Oktober 1987
und den gerade noch abgewendeten im Dezember 1989, dann rührt man
an die Schwierigkeiten der gegenwärtigen Situation.
Demnach ist es nicht übertrieben, von einem KRITISCHEN
ÜBERGANG zu sprechen: hinter diesem Wort verbirgt sich eine echte
Krise der zeitlichen Dimension des unmittelbaren Handelns. Nach der
Krise der »ganzheitlichen« räumlichen Dimensionen und der wach-
senden Bedeutung der »zersplitterten« Dimensionen hätten wir es damit,
kurz gesagt, mit einer Krise der zeitlichen Dimension des gegenwärtigen
Augenblicks zu tun.
Die LICHTZEIT (oder, wenn man so will, die Zeit der
Lichtgeschwindigkeit) dient nunmehr als absoluter Maßstab für das
unmittelbare Tun, die unmittelbare Teleaktion. Mit anderen Worten, von
nun an beherrscht die intensive Dauer des »echtzeitlichen Augenblicks«
die Dauer, die extensive und relativ leicht zu kontrollierende
geschichtliche Zeit, d. h. den langen Zeitraum, der noch die
Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft umfaßte. Und genau
dieser Sachverhalt ließe sich als ZEITLICHE KOMMUTATION
bezeichnen, eine Kommutation, die zudem einer Art ERSCHÜTTE-
RUNG der gegenwärtigen Dauer ähnlich ist, dem Unfall eines
vorgeblich »realen« Augenblicks, der sich jedoch unversehens von
seinem angestammten Platz, seinem Hier und Jetzt löst, um in einer
(zugleich elektrooptischen, elektro-akustischen und elektro-taktilen)
elektronischen Verblendung aufzugehen, bei der die Fernsteuerung die
frühere Fernüberwachung dessen, was weit entfernt und außerhalb
unserer Reichweite ist, vollenden würde.

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War für Epikur die Zeit das Akzidens der Akzidenzien, so treten wir mit
den Datenfernübertragungstechniken der allgemeinen Interaktivität in
das Zeitalter des UNFALLS DER GEGENWART ein, wobei die jede
Entfernung nivellierende, vielzitierte Telepräsenz immer nur die
plötzlich eintretende Katastrophe der Realität dieses gegenwärtigen
Augenblicks darstellt, der sowohl unser einziger Zugang zur Dauer als
auch - und das ist jedem seit Einstein bekannt - zur Weite der realen
Welt ist.
Demnach bezieht sich die Echtzeit der Telekommunikationstechniken
nicht mehr ausschließlich auf die »verzögerte« Zeit, sondern auch auf ein
Jenseits der Chronologie. Aus diesem Sachverhalt leitet sich mein oft
gemachter Vorschlag ab, die Chronologie (vorher, während, nachher) um
die DROMOLOGIE oder, wenn man es vorzieht, die CHRONOSKOPIE
(unterbelichtet, belichtet, überbelichtet) zu ergänzen. Da das Intervall
der Art Licht (die Schnittstelle) nunmehr das Raum- und Zeitintervall
verdrängt, verdrängt der Begriff der Belichtung im Rahmen der
gegenwärtigen Dauer tatsächlich denjenigen der Aufeinanderfolge und
im Rahmen der unmittelbaren Fläche denjenigen der Ausdehnung.

Aus diesem Grunde könnte die Belichtungsgeschwindigkeit der Lichtzeit


eine Neuinterpretation der »Gegenwart«, des »echtzeitlichen
Augenblicks« ermöglichen, der, vergessen wir das nicht, die Raumzeit
einer sehr wohl realen Handlung ist, die heute erleichtert wird durch die
Leistungsfähigkeit der Elektronik und in Zukunft durch diejenige der
Photonik, d. h. durch die Spitzenleistungen der elektromagnetischen
Wellen und des Lichtquantums, dem Grenzwert für den Zugang zur
Realität der wahrnehmbaren Welt (vgl. in diesem Zusammenhang den
Lichtkegel der Astrophysiker).

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Die Fragen, die sich heute aus den teleoptischen Techniken ergeben,
stehen im Mittelpunkt des Interesses eines jeden Planers, denn die
mittels der jüngsten Revolutionierung der Übertragungstechniken
bedingte Urbanisierung der Echtzeit führt zu einer radikalen Umkehrung
in der Ordnung der Fortbewegung und des physischen Transports.
Ermöglicht nämlich die Fernkontrolle tatsächlich die Aufwertung der
durch und durch immateriellen Wellenzüge der Fernüberwachung und
der unmittelbaren Fernsteuerung auf Kosten des schrittweisen Wegfalls
der materiellen Infrastrukturen, mit denen das Territorium ausgestattet
war, dann geschieht dies, weil die STRECKE sowie sämtliche ihrer
Komponenten eine echte Veränderung/Kommutation durchmachen.
Setzte die physische Fortbewegung von einem Punkt zu einem anderen
früher eine Abfahrt, eine Reise und eine Ankunft voraus, so führte die
Revolution der Verkehrsmittel bereits im letzten Jahrhundert zu einer
zunehmenden Verringerung der Dauer und des Wesens der Reise,
obwohl die Ankunft am Bestimmungsort aufgrund der Dauer, die die
Fahrt in Anspruch nahm, immer noch eine »eingeschränkte Ankunft«
blieb.
Mit der Revolution der Techniken für die unmittelbare Übertragung
erleben wir gegenwärtig die Anfänge einer »allgemeinen Ankunft«, bei
der alles ankommt, ohne daß es notwendig wäre wegzugehen. Der
Niedergang der Reise (d. h. des Raum- und Zeitintervalls) im r9.
Jahrhundert wird zum Ende des 20. Jahrhunderts von der Eliminierung
der Abfährt begleitet, so daß der Strecke zugunsten der Ankunft
diejenigen Komponenten verlorengehen, die sie überhaupt erst
ausmachten.
Diese ALLGEMEINE ANKUNFT erklärt auch die un
glaubliche Erfindung des nicht mehr nur audiovisu

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ellen, sondern auch taktilen und interaktiven (radioaktiven, optoaktiven,
interaktiven ...) statischen Vehikels.
Nichts anderes ist der »Datenanzug« des Amerikaners Scott Fisher, der
für die NASA an der Entwicklung einer Ausrüstung für den Körper des
Menschen arbeitet, mit deren Hilfe sein Handeln und seine Emp-
findungen übertragbar sind, mit anderen Worten, mit deren Hilfe er aus
der Distanz präsent sein kann, und zwar vollkommen unabhängig von
der Entfernung, denn die NASA verfolgt mit diesem Projekt das Ziel, die
vollständige Fernhandhabung eines automatisierten Doubles auf der
Oberfläche des Mars zu ermöglichen. Damit verwirklicht die nationale
Luft- und Raumfahrtbehörde der USA eine echte Telepräsenz des
Individuums, das zugleich hier und anderswo ist, eine Verdoppelung der
Persönlichkeit des Manipulators, dessen »Vehikel« dieser interaktive und
unmittelbare Vektor wäre.

An dieser Stelle möchte ich mich nochmals auf die warnenden Worte
von Paul Klee beziehen, der sagte, daß die Hauptaktivität des Zuschauers
zeitlich sei.
Und auch über die Interaktivität des Teleakteurs läßt sich wohl sagen,
daß die Aktivität, genauso wie diejenige des nunmehr klassischen
Fernsehzuschauers, weniger eine räumliche als vielmehr eine zeitliche
ist.
Das der Bewegungslosigkeit hingegebene interaktive Wesen überträgt
seine natürliche Bewegungs- und Fortbewegungsfähigkeit an Sonden
und Detektoren, die es auf Kosten seiner eigenen Fähigkeit der Reali-
tätserfassung unmittelbar über eine weit entfernte Realität informieren,
ganz so wie bei einem Para- oder Tetraplegiker, der, entsprechend dem
Modell der Domotik und der »intelligenten Gebäude«, die all unsere
Wünsche erfüllen, dazu in der Lage ist, seine häusliche Umwelt
fernzusteuern. Auf diese Weise hätte sich der

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zuerst mobile und dann automobile Mensch zu einem motilen Menschen
entwickelt, der den Einflußbereich seines Körpers freiwillig auf einige
wenige Gesten und Impulse wie das Zappen beschränkt.
Diese kritische Situation läßt sich mit derjenigen vieler Gehbehinderter
vergleichen, die aufgrund der Sachzwänge - der kritischen Sachzwänge
der Technik - zu Modellen des neuen Menschen und Bewohners der
zukünftigen teleoptischen Stadt werden, d. h. der METASTADT einer
gesellschaftlichen Entregelung, deren transpolitisches Wesen schon hier
und da bei einer Vielzahl meist unerklärt gebliebener großer Unfälle und
kleiner Störfälle zutage tritt.

Wie läßt sich diese Übergangssituation, Physiker würden von einem


»Phasenübergang« sprechen, begreifen?
In seiner Biographie über Nikolaus von Kues zitiert Giuseppe Bufo eine
philosophische Analyse des deutschen Philosophen und
Kirchenpolitikers wie folgt: »Obwohl das Akzidentielle, sobald man es
der Substanz beraubt, verschwindet, so ist es doch kein reines Nichts.
Wenn es vergeht, so deshalb, weil es zu seinem Wesen als Akzidens
gehört, sich einer anderen Realität zuzuordnen. Das Akzidentielle trägt
soviel zur Substanz bei, daß es, obwohl es sein Wesen einzig durch die
Substanz erhält, keine Substanz ohne Akzidens geben kann. « s
Wie wir gesehen haben, ist das Problem des Akzidentiellen heute vom
Raum der Materie auf die Zeit des Lichts übergegangen.
Das Akzidens ist in erster Linie das Übertragungsakzidens der
Höchstgeschwindigkeit elektromagnetischer Wellen, d. h. derjenigen
Geschwindigkeit, die es von nun an nicht mehr nur möglich macht, über
große

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Entfernungen hinweg zu hören und zu sehen, so wie es beim Telefon,
Radio oder Fernseher der Fall war, sondern auch aus der Ferne zu
handeln. Und genau hieraus ergibt sich die Notwendigkeit eines dritten
lntervalltyps (mit dem Vorzeichen Null), um somit unter Umständen den
Ort des Nicht-Ortes einer Teleaktion erfassen zu können, der nicht mehr
mit dem Hier und Jetzt des unmittelbaren Tuns zu verwechseln ist.
Das Übertragungsakzidens der Interaktivität führt also nicht nur zu
einem Technologietransfer von der zeitverzögerten Kommunikation zur
echtzeitlichen Kommutation, sondern vor allem auch zu einem
politischen Transfer, der die zentralen Begriffe unseres Zeitalters in
Frage stellt: den der Dienstleistung und den der Öffentlichkeit.

Es stellt sich in der Tat die Frage, was vom Begriff der Dienstleistung
übrigbleibt, wenn man geknechtet wird. Und was vom Begriff der
Öffentlichkeit, wenn das öffentliche Bild (in Echtzeit) an die Stelle des
öffentlichen Raums tritt.
Wenn bereits jetzt der Begriff des öffentlichen Verkehrs Stück für
Stück demjenigen des Fortbewegungsbandes weicht und sich damit die
Kontinuität gegen die Diskontinuität durchsetzt, was bedeutet dann erst
der Anschluß der Privatwohnung an die domotischen Hausgeräte, das
intelligente und interaktive Gebäude, ja sogar die interaktive Stadt wie
Kawasaki beispielsweise? Indem die Krise des Begriffs der physischen
Dimension auf diese Weise die alte Geopolitik erfaßt, erfaßt sie darüber
hinaus sowohl die Politik als auch die Verwaltung in vollem Ausmaß.

Wenn die Schnittstelle das klassische Intervall ersetzt, dann verlagert


sich die Politik ihrerseits ausschließlich in die gegenwärtige Zeit.
Demzufolge steht nicht mehr so

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sehr das Problem des Verhältnisses zwischen dem
GLOBALEN und dem LOKALEN oder zwischen dem
ÜBERNATIONALEN und dem NATIONALEN im Vorder
grund, vielmehr ist es dasjenige der plötzlichen zeitlichen Kommutation,
bei der nicht nur innen und außen sowie die Fläche des politischen
Territoriums verschwinden, sondern auch das Vorher und Nachher seiner
Dauer, seiner Geschichte, und das einzig zu
gunsten eines ECHTZEITLICHEN AUGENBLICKS, auf den
niemand einwirken kann. Um sich hiervon zu überzeugen, genügt es, die
unlösbaren geostrategischen Probleme zu betrachten, die verursacht
werden von der Unmöglichkeit, heutzutage deshalb nicht mehr eindeutig
zwischen Offensive und Defensive unterscheiden zu können, weil die
unmittelbare und mehrpolige Strategie sich nunmehr im Rahmen von,
wie die Militärs es nennen, »vorgreifenden« Maßnahmen entfaltet.

Somit tritt an die Stelle der antiken Tyrannei der Entfernungen zwischen
den geographisch verstreut lebenden Menschen zunehmend die Tyrannei
der Echtzeit, von der nicht ausschließlich die Reisebüros betroffen sind,
wie die Optimisten behaupten, sondern vor allem das Arbeitsamt, denn je
mehr sich der Handelsverkehr beschleunigt, um so größer und massiver
wird die Arbeitslosigkeit.
Die menschliche Muskelkraft wurde seit dem ig. Jahrhundert durch die
»Werkzeugmaschine« entlastet, und mit dem jüngsten Aufschwung der
Computer, der »Übertragungsmaschinen«, wurde dann das Gedächtnis
des Menschen, sein Bewußtsein, endgültig in die Arbeitslosigkeit
entlassen, wobei die Automatisierung der post-industriellen Produktion
noch begleitet wird sowohl von der Automatisierung der Wahrnehmung
als auch von der computergestützten

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Planung, die der Softwaremarkt ermöglicht, der eine Vorstufe zum
Markt der künstlichen Intelligenz darstellt.

Gewinnt man der »verzögerten« Zeit Echtzeit ab, so bedeutet dies, daß
man sich auf ein rasch zum Ziel führendes Verfahren einläßt, mit dessen
Hilfe das Objekt und das Subjekt physisch eliminiert werden zum
ausschließlichen Vorteil der Strecke, allerdings einer Strecke ohne Weg,
die damit zwangsläufig unkontrollierbar ist.
Da die echtzeitliche Schnittstelle tatsächlich endgültig das Intervall
ersetzt, das einst die Geschichte und Geographie unserer Gesellschaften
gestaltet und organisiert hatte, kommt es zur Entstehung einer wirklich
paradoxen Kultur, in der alles ankommt, ohne daß es notwendig wäre,
sich physisch fortzubewegen oder überhaupt nur wegzugehen ...

Wie sollte man hinter diesem kritischen Übergang nicht die zukünftige
Konditionierung der menschlichen Lebenswelt vermuten?
Wenn schon die Revolution der Verkehrsmittel im letzten Jahrhundert
europaweit zu einer grundlegenden Veränderung des städtischen
Territoriums geführt hatte, dann bedingt die gegenwärtige Revolution
der (interaktiven) Übertragungstechniken ihrerseits eine Kommutation
der städtischen Umwelt, bei der sich das Bild gegen die Sache
durchsetzt, deren Bild es ist. Dabei wird die alte Stadt langsam zu einem
paradoxen Ballungsraum, denn an die Stelle der Beziehungen
unmittelbarer Nähe treten die mittelbaren Fernbeziehungen.
Die Paradoxe der Beschleunigung sind tatsächlich zahlreich und
verwirrend, insbesondere das erste dieser Paradoxe: In demselben Maße
wie die »Ferne«

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näherrückt, entfernt einen das vom »Nächsten«, Freund, Verwandten
oder Nachbarn. Auf diese Weise werden alle diejenigen zu Fremden, ja
zu Feinden, die einem nahestehen: die Familie, Arbeitskollegen oder
Nachbarn. Diese Umkehrung der gesellschaftlichen Praxis, die bereits in
der Planung der Verkehrsmittel (Hafen, Bahnhof, Flughafen usw.) zum
Ausdruck kam, verstärkt und radikalisiert sich noch durch die neuen
Telekommunikationsmittel (Schaltstellen für die Datenfernübertragung
usw.).

Einmal mehr können wir also eine Trendwende beobachten: Führte die
Motorisierung des Verkehrs und der Information zu einer allgemeinen
Mobilisierung der Bevölkerung, die in den Strom der Massenwanderung
erst zu den Arbeitsplätzen und dann zu den Urlaubszielen hineingerissen
wurde, so verursachen die Techniken für die unmittelbare Übertragung
im Gegensatz dazu eine sich zunehmend vergrößernde Trägheit, da das
Fernsehen - und noch weniger die Fernhandlung - nicht mehr der
Mobilität des Menschen, sondern seiner Mobilität auf der Stelle
bedürfen.
Teleshopping, Telearbeit zu Hause, verkabelte Wohnungen und
Häuser, KOKONISIERUNG, wie man sagt. Auf die Urbanisierung des
Realraums folgt also die Urbanisierung der Echtzeit, die letztlich
diejenige des individuellen Körpers des Stadtbewohners, dieses
Terminal-Bürgers, ist, der schon bald mit interaktiven Prothesen
überrüstet sein wird und dessen pathologisches Modell der
»Gehbehinderte« darstellt, der über entsprechende Hilfsmittel verfügt,
um seine häusliche Lebenswelt zu kontrollieren, ohne sich physisch
fortbewegen zu müssen. Der Terminal-Bürger ist das Katastrophenbild
einer Persönlichkeit, die zusammen mit ihrer natürlichen
Bewegungsfähigkeit ihre Fähigkeiten der unmittelbaren Teilhabe
eingebüßt hat. Man

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gels Alternativen übereignet sich diese Persönlichkeit der
Leistungsfähigkeit von Kollektoren, Sensoren und allen möglichen
Detektoren für die Fernsteuerung, die aus ihr ein der Maschine
unterworfenes Wesen machen, das sich, wie man sagt, mit der Maschine
in einem ständigen Dialog befindet.4

Dienen oder unterwerfen, genau das ist die Frage. Es besteht die Gefahr,
daß an die Stelle der früheren öffentlichen Dienstleistung eine häusliche
Knechtung tritt, deren Vollendung die Domotik wäre. Die allgemeine
Durchsetzung der Techniken für die Umweltkontrolle bedeutete die
Verwirklichung einer häuslichen Bewegungslosigkeit und würde als
solche zu isolationsbedingten Verhaltensweisen, zur Verstärkung eines
Inseldaseins führen, das die Stadt immer schon bedroht hat, weil die
Unterscheidung zwischen »Insel« und »Ghetto« nicht eindeutig ist.
Die veröffentlichten Beiträge eines vor kurzem in Dünkirchen
abgehaltenen Kolloquiums, das sich mit dem Problem der
Körperbehinderung befaßte, weisen merkwürdigerweise viele
Ähnlichkeiten mit der hier beschriebenen kritischen Situation auf. Es
scheint, als bewirkten die neuesten technischen und wirtschaftlichen
Imperative der Erzeugung eines Kontinuums, eines Netzes, genau da, wo
es noch Diskontinuitäten gab, ein Amalgam, eine Mischung der
unterschiedlichen städtischen Bewegungstypen. Und aus eben diesem
Umstand erklärt sich auch die bereits beschriebene Vorstellung, den
Begriff der öffentlichen Verkehrsmittel durch den viel weiter gefaßten
Begriff der Fortbewegungsbänder zu ersetzen.
Fran~ois Mitterrand brachte die bei diesem Kolloquium geäußerten
Vorstellungen mit folgenden großherzigen Worten auf den Punkt: »Die
Städte müssen sich an ihre Bürger anpassen und nicht umgekehrt.

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Wir müssen die Städte den Behinderten zugänglich machen. Ich fordere,
daß eine globale Behindertenpolitik einer der Schwerpunkte des sozialen
Europas ist.«
Das unumstößliche Recht der Behinderten darauf, wie die Nicht-
Behinderten und mit den Nicht-Behinderten zu leben, steht vollkommen
außer Zweifel. Dennoch ist es aufschlußreich festzustellen, wie viele
Gemeinsamkeiten es nunmehr zwischen der eingeschränkten Mobilität
des mit entsprechenden Hilfsmitteln ausgerüsteten Behinderten und der
zunehmenden Bewegungslosigkeit des überrüsteten NichtBehinderten
gibt. Es scheint, als führte die Revolution der Übertragungstechniken
zum selben Ergebnis, unabhängig vom körperlichen Zustand des
Patienten,
dieses TERMINAL: BÜRGERS einer immer schneller sich
entwickelnden teleoptischen Stadt.
Am Ende unseres Jahrhunderts bleibt nicht mehr viel von der
Ausdehnung des Erdballs übrig, der nicht nur verschmutzt, sondern auch
geschrumpft ist, auf ein Nichts reduziert durch die Teletechnologien der
allgemeinen Interaktivität.

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Die Perspektive der Echtzeit

»Die Aufhebung des Abstands ist tödlich.«


Rene Char

Neben der Luft-, der Wasser- und all den anderen Arten von
Verschmutzung gibt es eine unbemerkt gebliebene Verschmutzung der
Fläche, die ich als Verschmutzung der DROMOSPHÄRE bezeichnen
möchte (aus griech. dromos »Lauf«).

In der Tat sind nicht nur die Elemente, die natürlichen Substanzen, die
Luft, das Wasser, die Fauna oder die Flora vergiftet, sondern auch die
Raumzeit unseres Planeten. Die durch die verschiedenen unmittelbaren
Verkehrs- und Kommunikationsmittel zunehmend auf ein Nichts
reduzierte geophysikalische Umwelt erfährt eine beunruhigende
Disqualifizierung ihrer »Tiefenschärfe«, die das Verhältnis des
Menschen zu seiner Lebenswelt schädigt. Die optische Dichte der Land-
schaft schrumpft rapide und bedingt eine Verwechslung zwischen dem
sichtbaren Horizont, gegen den sich jedes Ereignis abhebt, und dem
tiefen Horizont unserer kollektiven Imago. Und all das zugunsten eines
letzten Horizonts der Sichtbarkeit, des hindurch-sichtbaren Horizonts,
der das Ergebnis der optischen (elektrooptischen und akustischen)
Verstärkung der natürlichen Umwelt des Menschen ist.
Infolgedessen ist der Revolution der Verkehrsmittel eine verborgene
Dimension zu eigen, die die Dauer, die gelebte Zeit unserer
Gesellschaften in Mitleidenschaft zieht.
Ich glaube, daß genau hier eine bestimmte Form der »Ökologie« an
ihre Grenzen stößt und ihre theoreti

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sche Beschränktheit offenbart, da sie auf eine Beschäftigung mit den
Formen der Zeitlichkeit verzichtet, die mit den verschiedenen »Öko-
Systemen« verbunden sind, insbesondere solchen, die der industriellen
und post-industriellen Technosphä~re entstammen.

Als Wissenschaft der endlichen Welt verzichtet die Wissenschaft der


menschlichen Umwelt scheinbar freiwillig auf ihre Beziehung zur
psychologischen Zeit. Nach dem Muster der von Edmund Husserl'
gebrandmarkten »universellen« Wissenschaft setzt sich die Ökologie
nicht wirklich mit dem Dialog zwischen Mensch und Maschine, der
engen Wechselbeziehung zwischen den verschiedenen
Wahrnehmungsformen sowie den kollektiven Kommunikations- und
Telekommunikationspraktiken auseinander.
Mit einem Wort, die Ökologie geht den Auswirkungen der
Maschinenzeit auf die Umwelt nicht in ausreichendem Maße nach und
überläßt diese Sorge der Ergonomie, der Ökonomie und sogar der »Poli-
tik«.

Immer wieder stößt man auf den verheerenden Mangel an Verständnis


für das relativistische Wesen der menschlichen Aktivitäten im Zeitalter
der industriellen Moderne. Und an genau dieser Stelle setzt nunmehr die
DROMOLOGIE an. Es genügt nicht, die Ökologie als öffentliche
Verwaltung der Verluste und Gewinne der Substanzen zu betrachten, d.
h. der Bestände, die die menschliche Umwelt ausmachen, denn diese
Disziplin kann sich nur unter der Voraussetzung wirklich weiter-
entwickeln, daß sie auch die Zeit der interaktiven Aktivitäten und ihre
schnellen Veränderungen berücksichtigt.
Wenn es nach Charles Peguy keine Geschichte, sondern nur eine
öffentliche Dauer gibt, dann müßten der Rhyth

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mus und die Geschwindigkeit der Ereignisse dieser Welt nicht nur, wie
vom Dichter behauptet, zu einer »wahren Soziologie« führen, sondern
vor allem zu einer authentischen »öffentlichen Dromologie«, denn - und
das sollten wir niemals vergessen - die Wahrheit der Phänomene wird
tatsächlich immer von der Geschwindigkeit ihres Auftauchens begrenzt.

Kehren wir jetzt aber zu den wahrscheinlichen Ursprüngen dieser


Fehleinschätzung der öffentlichen Rhythmik zurück.
Auf einem begrenzten Planeten, der nichts weiter als eine große
Bodenfläche darstellt, ist die kollektive Nicht-Wahrnehmung der
Verschmutzung der Dromosphäre damit zu erklären, daß das Wesen der
Strecke vergessen wird. Trotz der jüngsten Untersuchungen und
Debatten zu den Auswirkungen der durch Internierungen, Haftstrafen o.
ä. bedingten Bewegungslosigkeit (in totalitären Regimen, in
Strafsystemen, bei Blockaden oder Ausgangssperren), sind wir scheinbar
nicht dazu in der Lage, uns eingehend mit dem Problem der Strecke
auseinanderzusetzen, außer in den Bereichen Mechanik, Ballistik oder
Astronomie.
Subjektivität und Objektivität sind zwar von Bedeutung, nicht aber die
Strecke.
Trotz der ganz entscheidenden anthropologischen Frage nach der
Bedeutung des Nomadismus einerseits und der Seßhaftigkeit
andererseits, die ein Licht auf die Entstehung der Stadt als eine der
wichtigsten politischen Formen der Geschichte wirft, gibt es nur wenig
Verständnis für das vektorielle Wesen der wandernden Gattung, die wir
sind, für ihre Chorographie. Zwischen der Subjektivität und der
Objektivität gibt es allem Anschein nach keinen Platz für die Strecke,
das Sein der Bewegung von hier nach da, vom einen zum anderen, ohne
das wir niemals ein tiefergehendes

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Verständnis der unterschiedlichen Wahrnehmungsformen der Welt
erlangen werden, die im Laufe der Zeit aufeinander folgten. Diese
Wahrnehmungsformen der Erscheinungen sind verbunden mit der Ge-
schichte der Fortbewegungstechniken und -arten, d. h. des Fernverkehrs,
denn die Beschaffenheit der Geschwindigkeit der Verkehrs- und
Übertragungsbewegungen verursacht nicht nur eine Entwicklung der
Wanderungssysteme bzw. der Besiedlung des einen oder anderen
Gebietes der Erde, sondern auch eine tiefgreifende Veränderung der
»Tiefenschärfe«2 und damit der optischen Dichte der menschlichen
Umwelt.
Folglich ergibt sich heute das Problem der verbliebenen Weite der
Erdoberfläche angesichts der Übermacht der Verkehrs- und
Telekommunikationsmittel: Höchstgeschwindigkeit der
elektromagnetischen Wellen auf der einen Seite, und andererseits
Beschränkung, drastische Verkleinerung der Ausdehnung der
geophysikalischen Fläche infolge der Unterschall-, Überschall- und bald
auch Hyperschall-Verkehrsmittel.
In diesem Zusammenhang erläuterte der Physiker Zhao Fusan kürzlich:
»Die heutigen Reisenden halten die Welt für immer weniger exotisch,
dennoch täuschen sie sich, wenn sie glauben, sie werde eintöniger.«
Das Ende der Außenwelt ist gekommen, und die ganze Welt wird mit
einem Mal »endotisch«. Dieses Ende beinhaltet sowohl das Vergessen
des räumlichen als auch das des zeitlichen Äußeren (now future) zu-
gunsten des »gegenwärtigen« Augenblicks, d. h. des echtzeitlichen
Augenblicks der unmittelbaren Telekommunikationstechniken.
Wann wird es endlich gesetzliche Einschränkungen geben, wann eine
Geschwindigkeitsbegrenzung eingeführt? Nicht aufgrund der
Wahrscheinlichkeit eines Verkehrsunfalls, sondern wegen der Gefahr des
voll

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ständigen Abbaus der zeitlichen Distanzen und des daraus resultierenden
Risikos des Stillstands, anders gesagt, des Parkunfalls.
»Was nützte es dem Menschen, die Welt zu gewinnen, wenn er dabei
seine Seele verliert?« Erinnern wir uns daran, daß gewinnen auch
bedeutet anzukommen, ein Ziel zu erreichen, zu erobern oder zu
besitzen; und seine Seele - die anima - zu verlieren heißt, das Sein der
Bewegung zu verlieren.
Historisch gesehen befinden wir uns also an einer Art Schnittstelle der
Erkenntnis des Da-Seins: Auf der einen Seite steht der Nomade der
Frühzeit, für den der Weg und der »Übergangscharakter« des Seins
überwiegen. Auf der anderen Seite der Seßhafte, für den Subjekt und
Objekt vorherrschend sind, die Tendenz zur Immobilität, die Trägheit,
die den seßhaften und städtischen »Zivilisten« im Gegensatz zum
nomadisierenden Krieger auszeichnet.
Aufgrund der Techniken der Fernsteuerung und Telepräsenz nimmt
diese Tendenz heute noch weiter zu und mündet schon bald in einen
Zustand der endgültigen Seßhaftigkeit, bei dem sich die Umweltkon-
trolle in Echtzeit gegen die Gestaltung des territorialen Realraums
durchsetzen wird.
Hierbei handelt es sich um die definitive und ultimative Seßhaftigkeit,
die praktische Folge aus dem Auftauchen eines dritten und letzten
Horizonts der indirekten Sichtbarkeit (nach dem sichtbaren und dem
tiefen Horizont), des hindurch-sichtbaren Horizonts. Er ist die
Frucht der Telekommunikationstechniken und eröffnet die unglaubliche
Möglichkeit einer »Kultur des Vergessens« im Rahmen einer
Gesellschaft der Direktübertragung (live coverage), die weder Zukunft
noch Vergangenheit kennt, da sie weder Weite noch Dauer hat; eine
allerorts intensiv gegenwärtige Gesellschaft, mit anderen Worten, der
ganzen Welt telepräsent.

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Zum Verlust der Erzählung über die Strecke, und damit jedweder
Interpretationsmöglichkeit, kommt noch der plötzliche
Gedächtnisverlust, oder besser gesagt, der Aufschwung eines paradoxen
unmittelbaren Gedächtnisses, das mit der Allmacht des Bildes verknüpft
ist. Ein Bild in Echtzeit, das keine konkrete (explizite) Information mehr
wäre, sondern eine diskrete (implizite), eine Beleuchtungsart der
faktischen Realität.
Nach der sichtbaren Horizontlinie, diesem ursprünglichen Horizont der
Weltszenerie, würde also der quadratische Horizont des Bildschirms
(der dritte Horizont der Sichtbarkeit) das Gedächtnis des zweiten
Horizonts, dieses tiefen Horizonts unserer Erinnerung an die Orte, und
folglich unsere Orientierung in der Welt beeinträchtigen, womit es zu
einer Verwechslung von nah und fern, innen und außen, einer
allgemeinen Wahrnehmungsstörung käme, die sich sehr nachteilig auf
das Denken selbst auswirken würde.
Entstand die topische Stadt einst um das »Tor« und den »Hafen«, so tut
dies nunmehr die teletopische Metastadt um das »Fenster« und die
Schaltstelle für die Datenfernübertragung, den sogenannten Telehafen, d.
h. den Bildschirm und die Sendezeit.
Es gibt keinen Aufschub und keine Tiefenwirkung mehr, nicht mehr das
Volumen macht die Realität der Dinge aus, denn die Realität verbirgt
sich jetzt in der Oberflächlichkeit der Bilder. Von jetzt an bildet die
natürliche Größe nicht mehr den Maßstab für die Wirklichkeit, die sich
in der Verkleinerung der Fernsehbilder versteckt. Wie eine Frau, die sich
ihrer Schwangerschaft und der daraus resultierenden Leibesfülle schämt,
scheint es die Realität zu bedauern, Tiefenwirkung und Dichte zu
besitzen.
Wenn das Intervall dadurch klein, sogar kleiner als

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klein wird, daß es plötzlich zur Schnittstelle wird, dann gilt dies auch
für die Dinge, die wahrgenommenen Gegenstände. Sie verlieren ihr
Gewicht, ihre Dichte.
Mit dem (elektromagnetischen) »Gesetz der Nähe« setzen sich die
Ferne gegen die Nähe und die Bilder ohne Dichte gegen die in
Reichweite befindlichen Dinge durch. Der auf dem Standbild
wahrgenommene belaubte Baum verweist nicht mehr auf den Baum aus
dem Pflanzenreich, sondern die stroboskopische Wahrnehmung läßt ihn
nur noch undeutlich an einem vorbeiziehen.
»Diejenigen, die glauben, daß ich zu viel male, betrachten meine
Bilder zu schnell«, schrieb Van Gogh. Auch die klassische Fotografie ist
nur noch ein Standbild. Mit dem Niedergang der Ausdehnungen und der
Weite der Landschaft wird die Realität sequentiell, und das
kinematische Vorbeiziehen der Bilder läßt das Statische und die
Festigkeit der Materialien hinter sich.
Es wurde oft behauptet, der Schwindel werde durch den Anblick der
fliehenden Vertikalen verursacht. Sollte die Perspektive des Realraums
der italienischen Renaissance die erste Form eines Schwindels sein, den
der sichtbare Horizont bewirkt, ein horizontaler Schwindel, der durch
einen Zeitstillstand am Schnittpunkt der Fluchtlinien hervorgerufen
wird?
Giulio Carlo Argan schrieb in einem bedeutenden Text aus dem Jahre
1947: »Noch bevor das Prinzip des Schnittpunktes auf den Raum
angewendet wurde, wurde es auf die Zeit angewendet - und vielleicht
ist
diese neue Raumvorstellung sogar einfach nur die Folge des abrupten
Zeitstillstands.«3
Wäre also die berühmte perspektivische Tiefenwirkung des
Quattrocento möglicherweise nur ein Schwindel gewesen, der vom
Zeitstillstand im echtzeitlichen Augenblick des Fluchtpunktes
verursacht wurde?

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Stünde infolgedessen die Unbeweglichkeit dieses PUNCTUMS an der
Schnittstelle der Fluchtlinien am Ursprung der Perspektive des
Realraums?
Allerdings herrscht diese Perspektive nur noch für kurze Zeit vor. Die
Tiefenwirkung ist die Seele der Malerei, schrieb Leonardo da Vinci. In
diesem Zusammenhang sei an das Streitgespräch erinnert, das Auguste
Rodin und Paul Gsell über den Wahrheitsgehalt der fotografischen
Momentaufnahme führten. Der Bildhauer sagte: »Nein, der Künstler ist
wahr, und die Fotografie lügt, denn in Wirklichkeit steht die Zeit nicht
still.«4
Die Zeit, von der hier die Rede ist, ist die chronologische Zeit, die nicht
stillsteht und immer weiterläuft, es ist die gewohnte lineare Zeit. Was
nun aber die Techniken der Lichtempfindlichkeit an wirklich Neuem mit
sich brachten und was Rodin nicht bemerkt hatte, war, daß die Definition
der fotografischen Zeit nicht mehr die der vorübergehenden Zeit war,
sondern zunächst und vor allem diejenige einer Zeit, die sich belichtet,
die »zur Oberfläche« wird, eine Belichtungszeit, die infolgedessen die
klassische Zeit der historischen Abfolge ablöst. Die Zeit der plötzlichen
Aufnahme ist also von
Anfang an die LICHTZEIT.
Die Belichtungszeit der Fotoplatte ist demnach nichts anderes als die
Belichtung der Zeit, der Raumzeit ihrer lichtempfindlichen Materie in
Lichtgeschwindigkeit, das heißt letztlich, in der Frequenz der Wellen, die
die Photonen tragen. Was der Bildhauer also noch nicht bemerkt, ist, daß
die Zeit der Darstellung der Bewegung ausschließlich durch die Oberflä-
che der Aufnahme zum Stillstand gebracht wird.
Mit dem unmittelbaren Fotogramm, das die Erfindung der
kinematographischen Bildfolge ermöglicht, steht die Zeit nicht mehr still.
Das Filmband bzw. die Filmrolle und später die echtzeitliche
Videokassette der permanenten Fernüberwachung werden die unge

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heure Neuerung einer kontinuierlichen Lichtzeit veranschaulichen,
anders gesagt, die seit der Entdeckung des Feuers herausragendste
wissenschaftliche Erfindung, die eines indirekten Lichts, das das direkte
Licht der Sonne oder das elektrische Licht ersetzt, wie dieses seinerzeit
das Tageslicht ersetzt hatte.
Heutzutage ist der Bildschirm der echtzeitlichen Fersehsendungen kein
monochromer Filter mehr, so wie es noch der Filter der Fotografen war,
der nur eine Farbe aus dem natürlichen Spektrum des Sonnenlichts
hindurchläßt, sondern ein monochroner Filter, der nur die Gegenwart
sichtbar macht. Eine intensive Gegenwart, das Ergebnis der
Höchstgeschwindigkeit der elektromagnetischen Wellen, die sich nicht
mehr in die chronologische Zeit - Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft -
einschreibt, sondern in die chronoskopische Zeit: unterbelichtet,
belichtet, überbelichtet.
Allein durch den Stillstand des gegenwärtigen Augenblicks gibt es die
Perspektive der Echtzeit des hindurchsichtbaren Horizonts des Videos;
die Perspektive des Realraums des sichtbaren Horizonts des
Quattrocento dagegen existierte nur aufgrund einer Synkope, eines
Zeitstillstands, des Schwindelgefühls eines Körpers, über den Maurice
Merleau-Ponty sagte: »Der eigene Leib ist in der Welt wie das Herz im
Organismus: er ist es, der alles sichtbare Schauspiel unaufhörlich am Le-
ben erhält, es innerlich ernährt und beseelt, mit ihm ein einziges System
bildend.«'
»Zeitstillstand« im Schnittpunkt der Fluchtlinien der perspektivischen
Geometrie. Zeitstillstand in der fotografischen Unmittelbarkeit und
schließlich Zeitstillstand im echtzeitlichen Augenblick der
Fernsehdirektübertragung. Es scheint, als sei die Tiefenwirkung der Welt
(oder genauer gesagt, ihre Hochauflösung) lediglich der Effekt einer
nicht wahrnehmbaren Fixierung der Gegenwart. Eine pyknoleptische
Starre, ein unend

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licher Mangel an Dauer, ohne den das Schauspiel des Sichtbaren
schlichtweg nicht stattfände.
Sollte unsere Wahrnehmung der Tiefenwirkung eine Art von Blickfall
sein, der mit dem Fall der Körper nach dem universellen
Gravitationsgesetz vergleichbar wäre? Etwa so wie beim Licht weit
entfernter Sterne, das durch eine große Masse abgelenkt wird und so die
Täuschung der Gravitationsoptik begünstigt? Wenn dies zuträfe, wäre
die Perspektive des Realraums des Quattrocento der erste wissenschaftli-
che Hinweis darauf. Seit dieser historischen Epoche wird die Optik
tatsächlich kinematisch, und Galilei erbrachte allen Widersachern zum
Trotz den Beweis hierfür. Mit den Perspektivisten der Renaissance »fal-
len« wir buchstäblich auf eine gravitierende Art und Weise in das
Volumen des sichtbaren Schauspiels hinein, die Welt öffnet sich uns
einen Spalt breit. Sehr viel später entdeckten die Physiologen, daß, je
schneller man sich fortbewegt, sich der Punkt, an dem die Augenan-
passung stattfindet, um so weiter nach vorne verlagert. Von da an ist der
oft erwähnte »Schwindel der Fluchtlinien« noch, verbunden mit der
Projektion der Einstellung des Blicks.
Zur Veranschaulichung dieser sich aus der Erhöhung der
Geschwindigkeit ergebenden plötzlichen Erweiterung des Sehens möchte
ich den Bericht eines Fallschirmspringers, eines Spezialisten für den
freien Fall, zitieren:
»Der Blickfall besteht darin, während des Falls jederzeit die
Entfernung, in der man sich zum Boden befindet, visuell abzuschätzen.
Die Abschätzung der Höhe sowie die genaue Einschätzung des
Moments, in dem man den Fallschirm öffnen muß, resultieren aus einem
dynamischen visuellen Eindruck. Wenn man mit einem Flugzeug in 6oo
Meter Höhe fliegt, hat man nicht denselben visuellen Eindruck wie beim
vertikalen

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Fall mit großer Geschwindigkeit in derselben Höhe. Befindet man sich
in 2000 Meter Höhe, merkt man nicht, daß der Boden näher kommt.
Wenn man jedoch bei 8oo bis 6oo Metern angekommen ist, sieht man,
wie er auf einen »zukommt«. Das Gefühl wird sehr schnell
beängstigend, denn der Boden stürzt auf einen zu. Die sichtbare Größe
der Dinge wächst immer schneller, und mit einem Mal hat man das
Gefühl, daß sie nicht mehr näher kommen, sondern sich plötzlich entfer-
nen, so, als würde der Boden bersten.«''
Dieser Bericht ist deshalb so wertvoll, weil er auf eine wirklich
gravitierende Weise den Schwindel der Perspektive, ihre scheinbare
Schwere veranschaulicht. Bei diesem »Blickfaller« erscheint die
perspektivische Geometrie als das, was sie niemals aufgehört hat zu
sein: eine Übereiltheit der Wahrnehmung, bei der die Schnelligkeit des
freien Falls das fraktale Wesen des Sehens offenbart, das aus der
schnellen Augenanpassung resultiert.
Beim freien Fall kommt der Boden von einer bestimmten Entfernung,
einem bestimmten Moment an nicht mehr auf einen zu, sondern er
entfernt sich, er birst und wandelt sich urplötzlich von einer »einheitli-
chen« Dimension ohne Fluchtlinien zu einer »gebrochenen« Dimension,
in der sich einem das sichtbare Schauspiel eröffnet.
Auch wenn es für den Menschen nicht möglich zu sein scheint, diesen
Blickfall bis zum Ende auzuprobieren, so ist es doch klar, daß das Sehen
dabei in höchstem Maße von der Schwerkraft abhängt.
Die übereilte Perspektive ist nicht mehr in erster Linie die vertikale
oder horizontale Perspektive des Realraums der italienischen Geometer,
sondern sie ist vor allem diejenige der Echtzeit des Falls der Körper.
Vor seinem endgültigen Auseinanderbrechen hängt der für den
»Springer« sichtbare Horizont wesentlich von

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der Schnelligkeit seiner Augenanpassung ab, die Einstellung sowie der
unmerkliche Stillstand der Zeit hängen von der Masse seines Körpers ab.
Das Sein der Strecke bestimmt die Wahrnehmung des Subjekts durch die
Masse des Objekts. Der Fall des Körpers wird plötzlich zum Körper des
Falls.
Wenn die Isolation die Perspektive verzerrt, dann ist die Isolation hier
diejenige des Augenblicks einer Übereiltheit in der Erdanziehung, und
die Perspektive ist nicht so sehr eine räumliche als vielmehr die
Perspektive der verbleibenden Zeit, der »Fallzeit«, die in hohem Maße
von der Schwerkraft abhängt.
Mit einem Mal scheinen alle geometrischen Dimensionen
ineinanderzulaufen: Zunächst scheint der Bo
den auf einen ZUZUKOMMEN, um sich dann zu ÖFFNEN.
Auf das Näherrücken einer Oberfläche folgt das Wegrücken der
Fluchtlinien eines Volumens, während der Auftreffpunkt
auseinanderbricht, und der Mensch selbst ist die Linie, das Sein der
Strecke eines vollkommen ungehinderten freien Falls.''
Eine gefährliche Übung, um den dynamischen visuellen Eindruck zu
testen, mit anderen Worten, die
KINEMATISCHE OPTIK.
Merkwürdigerweise üben heutzutage die Leere und die durch sie
hervorgerufenen extremen Empfindungen auf immer mehr Menschen
eine große Anziehungskraft aus: Bungee-Springen, Wolken-Surfen, Base
jump usw. All das erweckt den Eindruck, als hätte sich die beschleunigte
Perspektive bereits gegen die passive der Perspektivisten durchgesetzt,
denn es handelt sich um selbstmörderische Experimente mit der
Bewegungslosigkeit eines Körpers, der ohne jeden Halt - außer dem der
Luft - zu dem einzigen Zweck von seiner eigenen Masse in den relativen
Wind einer schwindelerregenden Fortbewegung hineingerissen

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wird, um die Erfahrung der Schwere des Körpers zu machen.

Auf der Erde beträgt die Fluchtgeschwindigkeit 11,2 km pro Sekunde.


Unterhalb dieser Beschleunigung unterliegen alle Geschwindigkeiten
dem Einfluß der Erdanziehung, eingeschlossen die Geschwindigkeit
unserer Wahrnehmung der Dinge. Zentrifugal- und Zentripetalkraft auf
der einen Seite, Vortriebswiderstand auf der anderen, jede horizontale
oder vertikale Bewegung zur physischen Fortbewegung hängt also von
der auf der Erdoberfläche herrschenden Gravitationskraft ab.

Demnach bietet es sich geradezu an, den Versuch einer Einschätzung der
Wechselbeziehung zwischen der Gravitation und unserer Wahrnehmung
der Weltszenerie zu unternehmen.
Wenn das Licht in der Nähe einer großen Masse durch die universelle
Gravitation abgelenkt wird, müßte dann nicht eben diese Anziehung
(deren Geschwindigkeit, daran sei erinnert, mit derjenigen elek-
tromagnetischer Wellen identisch ist) auch die Erscheinungen der Welt
beeinflussen, das Schauspiel des Sichtbaren, von dem Merleau-Ponty
sprach?. Wie kann man sich nach dem Wegfall der Bezugspunkte
»unten« und »oben« einerseits und dem des Abstands zwischen »nah«
und »fern«, d. h. ohne den Vortriebswiderstand, überhaupt noch
irgendeine räumliche oder atmosphärische Perspektive vorstellen?

Die Astronauten haben bei ihren Aufenthalten im Weltraum schon die


durch die Schwerelosigkeit hervorgerufene Verwirrung der Sinne und
der Orientie

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rung erprobt. Trägt man heute diesem Sachverhalt Rechnung, dann
bedeutet dies, den Versuch einer Neuinterpretation der Perspektive der
italienischen Renaissance zu machen.
Wenn seit dem Quattrocento das sichtbare Schauspiel am Schnittpunkt
der Fluchtlinien eröffnet wird, dann geschieht das durch die Kraft der
Erdanziehung und nicht allein durch einen Konvergenzeffekt, den
Strabismus einer Metrik der wahrnehmbaren Erscheinungen, auf den die
italienischen Künstler ganz versessen waren. Die Organisation dieses
neuen sichtbaren Horizonts hing bereits von der Zeit ab, jenem Zeitstill-
stand des Fluchtpunktes, den Argan so meisterhaft analysiert hat. Die
gegenwärtig stattfindende Neuorganisation der Erscheinungen und das
baldige Auftauchen eines von der Transparenz der unmittelbar über
große Entfernungen übertragenen Erscheinungen gebildeten letzten
Horizonts der Sichtbarkeit sind nur dann zu verwirklichen, wenn dieser
aus der Kraft der Gravitation resultierende Zwang überwunden wird.
Im Gegensatz zur Perspektive des Realraums der Geometrie unterliegt
die Perspektive der Echtzeit nicht mehr dem Zwang der Erdanziehung.
Der hindurchsichtbare Horizont des Bildschirms der Fernsehdirekt-
übertragung entgeht der Gravitation, da er auf der Lichtgeschwindigkeit
basiert.
Wenn der Bildschirm - genau wie die Bilder, die er unmittelbar
überträgt - über optische und geometrische Eigenschaften verfügt, die
ihn einem Fenster oder einem Bilderrahmen annähern, dann hängt die
Beschaffenheit seiner videoskopischen Information vor allem von einer
nicht durch die Gravitationskraft von 300 00o km pro Sekunde
beschränkten Beschleunigung ab.
Der »Zeitstillstand« am Schnittpunkt der Fluchtlinien des Quattrocento
weicht also einem nicht wahr

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nehmbaren Video-Raster (vgl. in diesem Zusammenhang die Suche nach
einer möglichst hohen Auflösung von Bildern), und der einzige
Stillstand, den es noch gibt, ist folglich der einer pyknoleptischen
Abwesenheit des gegenwärtigen Augenblicks, was auch den nicht
wahrnehmbaren Stillstand der Aufmerksamkeit des Fernsehzuschauers
beinhaltet, der ihm die Halluzination einer endlosen Bildfolge erspart.
Einstein bemerkte einmal, daß man sich daran gewöhnen müsse, daß es
keinen Fixpunkt im Raum gebe, d. h., nur der Stillstand des realen
Augenblicks verleiht der lebendigen Gegenwart Form. Eine
psychologische Dauer, ohne die es kein Weltverständnis und keine
Weltszenerie gäbe.

Kehren wir nun aber zu dem Ursprung der letzten Form von
Verschmutzung zurück, zur Verschmutzung der Dromosphäre.
Auch wenn sich auf unserem Planeten der hegemoniale Einfluß der
technischen Kultur ausbreitet und durchsetzt und eine scheinbare
territoriale Ausdehnung herbeiführt, so gibt es doch eine verborgene
Seite dieser Entwicklung.
Genau das brachte auch Samuel Beckett zum Ausdruck, als er sagte,
daß die Kunst nicht auf Ausdehnung, sondern auf Schrumpfung
ausgerichtet sei.
Der Aufschwung der Vehikel sowie der verschiedenen
Fortbewegungsvektoren bedingt eine nicht wahrnehmbare Schrumpfung
der Erdoberfläche und unserer unmittelbaren Umwelt. Der nicht
wahrnehmbare »Zeitstillstand« am Schnittpunkt der Fluchtlinien der
Perspektive weicht also einem »Weltstillstand«, d. h. einer nicht
wahrnehmbaren Vorenthaltung der Ausdehnung und der regionalen
Verschiedenartigkeit. Wurde der Schwindel des Realraums verursacht
durch den Anblick der sich verjüngenden Vertikalen - den Blickfall -, die
durch die Vorwegnahme eines Falls ins

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Leere beschleunigte Perspektive, so ist der Schwindel der Echtzeit, den
der extrem schnell Sehende-Reisende, vor allem aber der
Fernsehzuschauer, heute empfindet, durch den Stillstand, die an Ort und
Stelle stattfindende Schrumpfung des Körpers des ZuschauersPassagiers
bedingt.
Die Geschwindigkeit der neuen elektrooptischen und akustischen
Umgebung wird zur letzten LEERE (der Leere der Geschwindigkeit), die
nicht mehr vom Abstand zwischen den Orten und den Dingen, also der
Ausdehnung der Welt abhängt, sondern von der Schnittstelle einer
unmittelbaren Übertragung weit_ entfernter Erscheinungen, einer
geographischen und geometrischen Vorenthaltung, bei der jedes
Volumen und jede Tiefenwirkung verlorengehen.
Es handelt sich um die Krise oder, genauer gesagt, den Unfall der
optischen Dichte des sichtbaren Schauspiels und der Landschaften. Ganz
in diesem Sinne bemerkte Theodore Monod: »Nichts ist bedrückender,
als den Ort, den man erst am Abend oder am nächsten Tag erreicht,
bereits von dem Ort aus zu sehen, den man verläßt.«
Sehverlust oder, besser gesagt, »Erdverlust« durch eine neue Art von
Fall, der gleichzeitig eine Form von Verschmutzung der Fläche darstellt,
dieser » Kunst des Weges«, die der Nomade ausübte und die eine
besondere Form des Schwindels war, den die Tiefenschärfe des
sichtbaren Horizonts des Schauspiels der Welt verursachte.
Mit der zeitgenössischen Seßhaftigkeit der großen Metropolen betrifft
die an Ort und Stelle stattfindende Schrumpfung nicht mehr nur den
Bereich der Fortbewegung und der produktiven Aktivität, sie betrifft in
allererster Linie den Körper dieses mit interaktiven Prothesen
überriSsteten Nicht-Behinderten, dessen Vorbild der Behinderte
geworden ist, der mit entspre

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chenden Hilfsmitteln ausgestattet ist, um seine Umwelt kontrollieren zu
können, ohne sich physisch fortzubewegen.
Die dromosphärische Verschmutzung ist folglich eine Art von
Verschmutzung, die die Lebhaftigkeit des Subjekts und die
Beweglichkeit des Objekts betrifft, indem sie die Strecke soweit
verkümmern läßt, bis sie unnütz geworden ist. Eine Schwerbehinderung,
die zugleich aus dem Verlust des lokomotorischen Körpers des
Passagiers und Fernsehzuschauers sowie aus dem Verlust des festen
Bodens, der Erdoberfläche, des Schauplatzes resultiert, an dem das
Abenteuer der Identität des Menschen auf dieser Welt stattfindet.

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Die große Optik

»Je weiter die Entwicklung der Teleskope


fortschreitet, desto mehr Sterne gibt es.«
Gustave Flaubert

Welche Bedeutung hat eigentlich die Zweiteilung des Sehens, das


Auftauchen einer zweiten Optik, die heute die VIDEOKONFERENZ
zwischen Tokyo und Paris möglich macht?
Es gibt Leute, die in diesem Zusammenhang schon vor geraumer Zeit
von einem Loch im Raum sprachen, in jüngerer Zeit sprachen andere von
einem Loch in der Zeit, der Echtzeit der unmittelbaren Übertragung hi-
storischer Ereignisse, insbesondere des Golfkrieges. Diese sprachliche
Unsicherheit scheint bezeichnend zu sein einerseits für die
Wahrnehmungsstörung, von der unsere Gesellschaften nunmehr
angesichts der Fortschritte der Teletechnologien betroffen sind, und an-
dererseits für den Bedeutungsverlust der geometrischen Optik, der
passiven Optik des Raums der Materie (des Glases, des Wassers, der
Luft usw.), die letzten Endes ausschließlich der unmittelbaren Nähe des
Menschen Rechnung trägt.
Diese passive Optik möchte ich als kleine Optik bezeichnen, um der
Wellenoptik, der AKTIVEN OPTIK der Zeit der Lichtgeschwindigkeit
den Titel der großen Optik vorzubehalten, denn sie geht weit über den
klassischen Begriff des Horizonts hinaus.
Es ist klar, daß die Elektrooptik der Wellen, die das Videosignal
transportieren, tatsächlich zu der Frage der Digitalisierung dieses Signals
hinführt, über deren Bedeutung nicht nur für den Bereich der astronomi-
schen Beobachtung mit den technischen Spitzenlei

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stungen der sogenannten »adaptiven« Optik, sondern vor allem für die
jüngste Entwicklung der Räume der virtuellen Realität Einigkeit besteht.
Da die Optik derjenige Bereich der Physik ist, der sich mit den
Eigenschaften des Lichts und folglich mit den Phänomenen der
Visualisierung beschäftigt, kommt zur Zweiteilung des Sehens noch die
Zweiteilung des Lichts selbst hinzu, und zwar nicht mehr nur wie früher
die zwischen natürlichem (die Sonne) und künstlichem (die Elektrizität)
Licht, sondern auch die zwischen direktem (Sonne und Elektrizität) und
indirektem (Videoüberwachung) Licht, die sich aus dem Wechselspiel
der Echtzeit mit den optischen Phänomenen und der Elektronik ergibt.
Und genau hieraus erklärt sich auch der Begriff der OPTO-
ELEKTRONIK.

All das hat zur Folge, daß man jetzt nicht mehr wie die Philosophen des
klassischen Zeitalters ausschließlich von der Ausdehnung und der Dauer
des Raums der Materie spricht, sondern darüber hinaus von der
optischen Dichte der Lichtzeit und ihrer »opto-elektronischen«
Verstärkung, die die Überwindung der geometrischen Perspektive der
italienischen Renaissance mittels einer elektronischen Perspektive
notwendig machen, und zwar derjenigen der Echtzeit der unmittelbaren
Sendung und des unmittelbaren Empfangs der Audio- und Videosignale.
Angesichts der jüngsten Erneuerung der geometrischen Optik der
Lichtstrahlen durch die Wellenoptik der elektromagnetischen Strahlung
der Partikel, die das Sehen und das Hören transportieren, erleben wir die
Entstehung einer letzten Form von Transparenz:
die Transparenz der unmittelbar über große Entfernungen hinweg
übertragenen Erscheinungen. Diese HINDURCHSICHTBARKEIT
vervollständigt (vollendet gewissermaßen) die natürliche Transparenz
der Erdatmosphäre

- 55 -
und bedingt gleichzeitig eine Art stereoskopische Zweiteilung der
wahrnehmbaren Erscheinungen, des Weltbildes und damit indirekt der
Ästhetik. Zur Ästhetik der Erscheinung von Objekten oder Menschen,
die sich gegen den sichtbaren Horizont der Einheit der Zeit und des
Ortes der klassischen Perspektive abheben, kommt die Ästhetik des
Verschwindens weit entfernter Personen, die auf dem abwesenden
Horizont eines Kathodenbildschirms auftauchen, wo sich die Einheit der
Zeit gegen diejenige des Ortes der Begegnung durchsetzt. Anders gesagt,
die Perspektive der Echtzeit der großen Optik verdrängt endgültig die
Leistungen der Perspektive des Realraums; der Fluchtpunkt für die Bün-
delung der Lichtstrahlen büßt seine Vormachtstellung gegenüber der
Flucht aller Punkte (Pixel) des Fernsehbildes ein.

Von nun an ergänzen sich die direkte Transparenz des Raums, die es
einem jeden ermöglicht, seine Nachbarn unmittelbar wahrzunehmen, und
die indirekte Transparenz der Zeit der Geschwindigkeit elektromagneti-
scher Wellen, die unsere Bilder, unsere Stimmen und in Zukunft, daran
besteht kein Zweifel, unser aufeinander bezogenes Tun übertragen. Diese
Neuerung verdankt sich dem Datenanzug (DATA SUIT), der nicht nur
das Fernsehen und das Fernhören möglich macht, sondern auch die
allgemeine Fernhandlung (Teleaktion).

Bevor ich mich eingehender mit der zukünftigen TELEEXISTENZ


befasse, möchte ich nochmals auf die elektromagnetische große Optik
zurückkommen, dank derer wir uns schon heute an weit voneinander
entfernten, an den entgegengesetzten Punkten der Erdkugel befindlichen
Orten versammeln können.
Zur direkten Beleuchtung durch das Sonnengestirn,

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die den Fluß der Jahre in die vielen verschiedenen Tage unterteilt,
kommt nunmehr noch die indirekte Beleuchtung hinzu, das »Licht« einer
Technologie, die einer Art Persönlichkeitsspaltung Vorschub leistet: Auf
der einen Seite die Echtzeit unseres unmittelbaren Tuns, bei der wir hier
und jetzt handeln, und auf der anderen Seite die Echtzeit einer medialen
Interaktivität, die das »Jetzt« der Sendezeit der Fernsehsendung auf
Kosten des »Hier«, d. h. des Raums, in dem sich der Ort der Begegnung
befindet, begünstigt. Ein Beispiel hierfür ist die Videokonferenz, die mit
Hilfe der Satelliten zwar stattfindet, paradoxerweise jedoch nirgendwo
auf dieser Welt.

Wie kann man noch wirklich leben, wenn es kein Hier mehr gibt und
wenn alles jetzt ist? Wie kann man den unmittelbaren Einschlag einer
allgegenwärtig gewordenen Realität überleben, die in zwei
gleichermaßen reale Zeiten zerfällt: die der Gegenwart hier und jetzt
einerseits, und andererseits die einer den Horizont der wahrnehmbaren
Erscheinungen überschreitenden Telepräsenz über weite Entfernungen
hinweg?
Wie ist es möglich, vernünftig mit der Spaltung nicht nur zwischen
virtueller und aktueller Realität, sondern auch zwischen dem sichtbaren
Horizont und dem hindurch-sichtbaren Horizont eines Bildschirms
umzugehen, der plötzlich eine Art zeitliches Fenster öffnet, um
andernorts und oftmals weit entfernt zu interagieren?
Wenn man nicht wie Marvin Minsky die Bedeutung der »analogen«
Optik und demzufolge des Horizonts der Erscheinungen in Abrede stellt,
muß man nun
mehr zwingend das STEREOSKOPISCHE Wesen nicht nur
der »Tiefenwirkung der Erscheinungen« und der dritten räumlichen
Dimension einer Betrachtung unterziehen, sondern vor allem die vierte,
die durch die Spaltung zwischen der räumlichen und der zeitlichen

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Nähe verursachte zeitliche Tiefenwirkung, die Tiefenwirkung einer
nunmehr mittels der elektrooptischen Verstärkung ihrer Tiefenschärfe
überbelichteten Welt.

»Die Gegenwart ist Gegenwart nur aus der Ferne, und diese Ferne ist
absolut, das heißt unaufhebbar«, schrieb Maurice Blanchot.
Nachdem heute in der Physik der Begriff der »Ferne« durch den einer
unmittelbaren »Sendeleistung« ersetzt wurde, führt die Wellenoptik zu
einem »Fluktuieren der Erscheinungen«, bei dem die Ferne nicht mehr,
so wie der Dichter es sich wünschte, die Tiefe der Gegenwart darstellt,
sondern nur noch ihr Aussetzen. Da das Raumintervall (negatives
Vorzeichen) und das Zeitintervall (positives Vorzeichen) seit kurzem
ihre Vormachtstellung gegenüber dem Intervall mit dem Vorzeichen
Null der Lichtgeschwindigkeit der Wellen eingebüßt haben, die die
Information transportieren, müssen wir uns jetzt mit den Problemen
auseinandersetzen, die im Zusammenhang stehen mit der Neuerung einer
»Digitalisierung der (audiovideo und taktilen) Signale«, die nicht nur wie
früher die Ästhetik der Erscheinungen die Abbildung der wahrnehmbaren
Wirklichkeit leisten, sondern dank der Kollektoren, Sensoren und allen
möglichen Ferndetektoren für das, was man als Telepräsenz bezeichnet,
auch ihre wahrhaft unangebrachte Darstellung.
Nebenbei möchte ich daran erinnern, daß es eine wirkliche Gegenwart
in der Welt - in der Welt der sinnlichen Erfahrung - nur durch die Ego-
Zentrierung eines Lebendig-Gegenwärtigen gibt, anders gesagt, durch
die Existenz eines lebendigen Körpers hier und jetzt.
Auch wenn es den Kognitivisten mißfallen mag, so ist

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die Frage der intermittierenden »Telepräsenz über weite Entfernungen
hinweg« mit einer ganzen Reihe von Fragestellungen verbunden, die
denjenigen ähnlich sind, mit denen sich die Physik durch die berühmte
»Plancksche Länge« konfrontiert sieht: Wenn an die Stelle der
extremen räumlichen Distanz plötzlich die extreme Nähe der Echtzeit
des Warenverkehrs tritt,
bleibt trotzdem ein untilgbarer Abstand erhalten.
Obwohl das Nicht-Vorhandensein des Realraums der Begegnung das
Fehlen des Intervalls bedingt, verhindert die Schnittstelle mit dem
Vorzeichen Null der elektromagnetischen Wellen die übliche
Verwechslung von hier und jetzt, da die Unmittelbarkeit der Interak-
tivität niemals den Unterschied zwischen der Handlung und dem
Handeln über große Entfernungen hinweg aufzuheben vermag.
Dasselbe gilt im übrigen für die gemeinschaftliche Tele-Existenz,
und das unabhängig vom Grad der Nähe der weit voneinander entfernt
versammelten Teleakteure.
Demnach gibt es neben dem Gebrauch des Datenhelms (VPL) und
des Datenanzugs (Dxrn Surr) auf dem Gebiet des virtuellen Raums
(CYBERSPACE), die eine erste Persönlichkeitsspaltung der Zeit in
wirkliche und virtuelle Zeit bedingen, auch noch eine Praxis der
elektro-ergonomischen Ausrüstung, die den wirklichen Raum des
Austauschs über große Entfernungen hinweg betrifft: die Praxis des
Fernbedieners (oder, wenn man es vorzieht, des Telemanipulators),
die sich den jüngsten Fortschritten auf dem Sektor des Fern-Tastsinns
verdankt, bei dem das »Hochrelief« des Ferntastens die akustische
»high fidelity« und die optische »Hochauflösung« ergänzt.
Hieraus ergibt sich die baldige Entstehung eines rein »zeitlichen«
Volumens und damit das Aufkommen einer Perspektive des Tastsinns
in Echtzeit, die diejenige

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der klassischen Visualisierung der Perspektivisten und demzufolge die
Weltsicht des kommenden Jahrhunderts von Grund auf verändern wird.

Darüber hinaus ist festzustellen, daß die große Wellenoptik sich nicht
mehr ausschließlich mit der Sichtweite abgibt, sondern daß sie die
gesamte Wahrnehmung der wahrnehmbaren Erscheinungen, den
Tastsinn hierin eingeschlossen, mit einbezieht, und das, weil sich die
Zeit, die Echtzeit des dritten Intervalls der Art Licht der elektro-
magnetischen Wellen endgültig gegen den Realraum der Materie, gegen
die Ausdehnung, die Dauer der Substanzen durchsetzt, aus denen die
unmittelbare menschliche Umwelt besteht.
Dank der sogenannten Techniken der »Kraftrückführung«, des Feed-
backs des seit kurzem im Handel erhältlichen Datenhandschuhs
TELETACT und des demnächst vertriebenen vollständig teletaktilen
Overalls, bei dem das Tastempfinden sich auf den gesamten Körper
überträgt, werden wir zu Zeugen der industriellen Produktion einer
Zweiteilung der Persönlichkeit, des unmittelbaren Klonens des lebenden
Menschen, der technischen Verwirklichung einer der ältesten Mythen:
der Erzeugung des DOUBLES, eines elektro-ergonomischen Doubles
mit spektraler Präsenz, was nichts anderes ist als eine andere
Bezeichnung. für den Geist bzw. den lebenden Toten.
Es ist in der Tat unmöglich, die Dramaturgie, die dieser Art neuer
Technologien zu eigen ist, nicht zu schildern.
Da nicht nur das Kind, das Subjekt, vom Geburtstrauma betroffen ist,
sondern auch das Objekt, das entstehende Instrument, müssen wir
versuchen, den »ursprünglichen Unfall« ausfindig zu machen, der
kennzeichnend ist für diese Art der technischen Neuerung. Wenn wir
nicht willentlich die Erfindung des

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Schiffbruchs bei der Erfindung des Schiffes oder des Eisenbahnunglücks
bei der Entstehung der Eisenbahn vergessen, müssen wir die verdeckte
Seite der neuen Technologien überprüfen, bevor diese sich uns gegen
unseren Willen offenbart.
Zwar ist die Virusverseuchung bereits eine erste Antwort auf die Frage
der Negativität elektronischer Schaltkreise, aber noch eine andere
Fahndungsspur drängt sich auf, nämlich die der Umweltverschmutzung.
Es geht nicht nur um die Verschmutzung von Luft, Wasser und anderer
natürlicher Substanzen, sondern auch um die unbemerkt gebliebene
Verschmutzung
der »Entfernungen«, die DROMOSPHÄRISCHE Verschmutzung der
Zeitabstände, die die Oberfläche eines in der kosmischen Leere
schwebenden kleinen Planeten auf ein Nichts, oder fast ein Nichts,
verkleinert.
Nachdem die Menschen sich berechtigterweise den Kampf gegen die
Verschmutzung der NATUR zur Aufgabe gemacht haben, wäre es da
nicht angebracht, uns auch mit der Verschmutzung der NATÜRLICHEN
GRÖSSE auseinanderzusetzen, die durch den Aufschwung der
Technologien der Echtzeit verursacht ist?

Während die geometrische KLEINE OPTIK es möglich machte, dank


der Ausdehnung des Realraums der Erscheinungen die Welt als »Fläche«
und »Dauer«, d. h. als geographische Größe wahrzunehmen und sich
vorzustellen, löst heute die GROSSE WELLENOPTIK im Gegensatz
hierzu die Weite der menschlichen Lebenswelt auf.
Da die Sende- und Empfangsleistung der verschiedenen Signale in
Echtzeit das Wesen der Zeitabstände entfremdet, beutet die aktive Optik
der elektromagnetischen Wellen die Tiefenschärfe, die Realität der Welt,
in einem solchen Maße aus, daß sie zu einem Nichts, oder fast zu einem
Nichts, verkleinert wird, wodurch

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sie bei einer buchstäblich ihres Horizonts beraubten Menschheit das
verheerende Gefühl des Eingesperrtseins hervorruft.
Da, wo sich die passive kleine Optik des Raums der Materie - der Luft,
des Wassers, der Linsengläser - damit zufriedengab, die GROSSE
WELT der Erscheinungen für die Betrachtung freizugeben, führt die
aktive große Optik der Zeit der Lichtgeschwindigkeit jenseits jedes
Horizonts zur intermittierenden Wahrnehmung der KLEINEN WELT
der Transparenz der Wellen, die die unterschiedlichen Signale
transportieren. Sie bedingt eine »Hindurch-Sichtbarkeit«, die die übliche
Grenze der Horizontlinie zum ausschließlichen Nutzen des
Bildschirmrahmens, des »quadratischen Horizonts« einer Art
zweigeteilten perspektivischen Realität, auflöst; eine STEREO-
REALITÄT also, bei der die »Tiefen« und »Höhen« der akustischen
Tiefenwirkung der High-Fidelity zum einen ersetzt würden durch die
Schwere, das Gewicht der Körper und folglich der realen Entfernungen
einer ganzheitlichen Welt, und zum anderen durch die fehlende Schwere
und das fehlende Gewicht, die Signale einer Art visuellen und taktilen
Hochauflösung, die sich in den exotischen Bereich der
elektromagnetischen Felder einschreiben.

Da die natürliche Größe der physischen Entfernungen auf diese Weise


unter die Gesetzmäßigkeit der mikrophysikalischen Leistungsstärke der
Wellen fällt, die das Hören, das Sehen und bald schon auch das Tasten
übertragen, besteht geradezu die Verpflichtung, die damit für die
Menschheit verbundene Gefahr ins Bewußtsein zu rufen, ihre eigene
Welt zu verlieren. Infolge dieser Tatsache ist zu befürchten, daß beim
Menschen, der in einer Umwelt lebt, die sowohl ihres Horizonts als auch
ihrer optischen Dichte beraubt ist,

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von nun an ein tiefgreifendes Gefühls des Eingesperrtseins entsteht.
Als man Edgar Degas gegenüber einmal den romantischen Satz Amiels
zitierte, daß die Landschaft ein Seelenzustand sei, erwiderte dieser:
»Nein, die Landschaft ist ein Augenzustand!«
Wäre es nicht angemessen, angesichts der heutigen Sorge um die
Aufrechterhaltung des aufs schwerste durch die industriellen Abfälle
bedrohten Gleichgewichts einer natürlichen Umwelt die Zielsetzungen
der grünen Ökologie um diejenigen einer grauen Ökologie zu ergänzen,
die sich dem postindustriellen Verfall der Tiefenschärfe der
Weltlandschaft widmete?

Die am 2. März 1972 gestartete Raumsonde Pioneer io ist das erste vom
Menschen geschaffene Objekt, das unser Sonnensystem verläßt, sie ist
aber auch und vielleicht vor allem eine Art Prüfmaß der
unterschiedlichen kosmischen Größen. Von ihrer jeweiligen Position in
ungefähr 8 Milliarden Kilometer Entfernung von der Erde sendet die
amerikanische Raumsonde täglich Signale, die sieben Stunden
benötigen, um von den Antennen der NASA empfangen zu werden.
Solange das Teleskop und die technischen Geräte der Raumsonde
betriebsfähig sind, entspricht die »Echtzeit« der von Pioneer
übertragenen Botschaften in etwa dem Zeitunterschied zwischen Tokio
und Paris.
Dieser echte elektronische Sensor für die Weite des Universums setzt
uns fortwährend und mit einer leicht zeitversetzten Rückkopplung über
die zunehmende Schrumpfung der Erdoberfläche in Kenntnis.
Als Gustave Flaubert schrieb: »Je weiter die Entwicklung der
Teleskope fortschreitet, desto mehr Sterne gibt es«, unterschlug er die
Auswirkungen der plötzli

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chen optischen Erweiterung: Je weiter die Wahrnehmung des Weltalls
fortschreitet, desto weniger Welt, ganzheitliche Erde gibt es!
Je weiter die Mittel für die Kenntnis dessen entwikkelt werden, was
sich jenseits des Horizonts befindet, desto mehr schrumpft die
Erdoberfläche, die »Dauer« der Welt der sinnlichen Erfahrung. Das, was
man gemeinhin als den begrenzten Horizont bezeichnet, wird auf ein
Nichts reduziert, genaugenommen sogar auf weniger als nichts!
Wurde die kleine geometrische Optik einst deshalb durch Galilei
berühmt, weil er den Menschen wieder in Erinnerung rief, daß sich die
Erde dreht, so macht die große elektronische Optik deutlich, daß das
Universum sich ausdehnt. Zwei Zeiten, zwei Zeitalter der Wahrnehmung
und zwei vollkommen verschiedene Bewegungen.

Kehren wir aber wieder zu unserer Raumsonde zurück, deren Aufgabe


darin besteht, die Planeten unseres Sonnensystems zu beobachten,
insbesondere Jupiter. Angetrieben durch die Gravitationskraft dieses
Planeten setzt der amerikanische Flugkörper unbeirrt seinen Weg in die
Unendlichkeit mit einer Geschwindigkeit von 46000 km/h fort. Um
welche Stunde und welche Kilometer handelt es sich aber eigentlich
angesichts der Tatsache, daß sich die Sonde seit 2 3 Jahren von jedem
geographischen Bezugssystem entfernt?
Die Isoliertheit dieser sich tatsächlich im Nirgendwo befindlichen
automatischen Sonde läßt sich daran ermessen, daß diejenigen Männer,
die ihren Start bewerkstelligt haben, heute in den Ruhestand getreten
sind. Einer von ihnen, B.J. O'Brian, erklärte hierzu: »Es ist
beeindruckend, es ist eigentlich zum Verrücktwerden! « Trotz des
rationalen, wissenschaftlichen Aspekts jenes Gesetzes der universellen
Expansion, das vor beinahe 6o Jahren von Edwin Hubble und einigen
ande

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ren aufgestellt würde, ermißt niemand ernsthaft die Auswirkungen dieser
Bewegung auf die übliche Wahrnehmung und die unmittelbare
Erfahrung, während heute die reale Geltung der irdischen Erscheinungen
von einem mächtigen Anziehungs- bzw. Aufsaugphänomen absorbiert
wird.
Aus lauter Sorge um die Verflüchtigung der vielzitierten »Ozonschicht«
nimmt niemand die fortschreitende Entwirklichung des irdischen
Horizonts wahr, diese andere »Verflüchtigung«, die sich aus dem künf-
tigen Primat der PERSPEKTIVE DER EcHTZEIT der Wellenoptik
gegenüber der Perspektive des Realraums der geometrischen Optik des
Quattrocento ergibt. Und das trotz der Tatsache, daß dieser BIG-VIEW
logischerweise den berühmten Bi(;-BANG der modernen Astrophysik
vollenden wird.
Man darf sich heute zu Recht fragen, ob Edwin Hubble, einer der
Gründerväter des Prinzips der Expansion des Weltalls (das sich nicht
zuletzt der Leistungsstärke des Mount Wilson-Teleskops verdankt), nicht
das erste Opfer der von Flaubert angekündigten optischen Täuschung
war, wie schon Albert Einstein seinerzeit vermutete. Auch die jüngsten
Anhänger des BIG-BANG könnten die Opfer vor dem Hintergrund einer
aufgrund der Übertragungsgeschwindigkeit der Signale der Teleskope
und Radioteleskope gewachsenen astronomischen Transparenz sein.
Vergrößerung, optische Verkleinerung, DopplerEffekt der
Rotverschiebung der Spektrallinien von Galaxien sind andere
Bezeichnungen für die Beschleunigung und die Verlangsamung der
Erscheinungen, bei denen die DROMOSKOPIE - die
Lichtgeschwindigkeit - die wahrnehmbare Realität buchstäblich
beleuchtet. Die STEREOSKOPISCHE TIEFENWIRKUNG dieser
Realität verursacht schon jetzt eine ganze Reihe von Wahrneh-
mungsstörungen, denen endlich Rechnung getragen

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werden müßte, da sie vermutlich schon bald den Begriff der »physischen
Nähe« grundlegend verändern werden. Und auch die GROSSE
OPTIK, die es möglich macht, noch die größte astrophysikalische
Entfernung zu bemessen, trägt, allerdings in umgekehrter Weise, dazu
bei, noch die engste physikalische Nähe zu annulieren.
Zur Bestätigung dieser Aussage möchte ich darauf hinweisen, daß es
die Verantwortlichen vor dem Start der Pioneer-Raumsonde vor 24
Jahren für angebracht hielten, eine Erkennungsmarke an dem Flugkörper
anzubringen. Neben der Darstellung des Sonnensystems mit dem
Planeten Erde sowie den Umrissen eines Mannes und einer Frau, fügten
die Amerikaner noch das Modell eines Wasserstoff-Atoms hinzu, um
möglichen außerirdischen Lebewesen eine Vorstellung unserer
Dimensionen zu vermitteln: der Abstand zwischen
dem Kern und seinem einzigen Elektron sollte die Maßeinheit darstellen.
Während also die Aufgabe der gestarteten Sonde darin bestand, die
Maßlosigkeit der kosmischen Expansion zu ermessen, wiesen die
Forscher dem Begriff des »kleinsten Abstands« wieder seine eigentliche
Funktion zu, nämlich die NATÜRLICHE GROSSE abzuschätzen, in
der wir tatsächlich ursprünglich zu Hause sind.
Ob man es will oder nicht, für jeden von uns ist die Spaltung der Welt
und infolgedessen ihrer Realität eine unumstößliche Tatsache, d. h. die
Aufspaltung zwischen Aktivität und Interaktivität, Präsenz und Tele-
präsenz, Existenz und Teleexistenz.

Angesichts des stereoskopischen Wesens einer zwischen Optik und


Elektrooptik, Akustik und Elektroakustik, Tastsinn und Fern-Tastsinn
aufgeteilten Wirklichkeit sind wir dazu aufgefordert, unsere gewohnten
Sehund Denkweisen aufzugeben, um uns einer neuen

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Form von »Tiefenwirkung« bewußt zu werden, die den praktische
Nutzen des Begriffs des Horizonts und damit der Perspektive in Frage
stellt, die es uns bisher ermöglichten, uns hier und jetzt zu erkennen. Und
das, weil die einzige frühere »Lichtquelle« und folglich die einzige
Quelle der Realität sich ihrerseits aufgespalten hat, denn der (direkte)
Schatten der Sonnenstrahlen bzw. der Lampe wird jetzt ergänzt um die
(indirekten) »Schattenzonen« ohne elektronische Sendesignale, wobei
die Fernüberwachung mit einem Mal an die Stelle der Beleuchtung der
Dinge, d. h. die Wahrnehmung durch persönliche Anschauung des
gewöhnlichen Beobachters, tritt.
Wir sind die erste Generation in der Geschichte, die neben der
Eroberung des Weltraums und besonders derjenigen der Echtzeit der
Unmittelbarkeit auch die Entdeckung einer letzten Energieform erlebt,
der KINEMATISCHEN ENERGIE, einer Energie in »Bildform«
oder, wenn man es vorzieht, in »Informationsform«, die somit noch zur
potentiellen und kinetischen Energie hinzukommt.
Diese dritte Energieform ermöglicht nicht mehr nur ausschließlich die
GEOMETRISIERUNG der Weltsicht nach dem Vorbild der
Perspektivisten der italienischen Renaissance, sondern auch ihre
DIGITALISIERUNG, denn das von den Anhängern der »passiven«
Optik des Raums und der Materie ausgearbeitete Kunsthandwerk der
Wahrnehmung tritt vor der Industrie der »aktiven« (elektrooptischen)
Optik der Lichtzeit zurück.
Wenn der zeitgenössische Relativist des Einsteinschen Zeitalters den
Begriff der »Entfernung« durch den einer unmittelbaren physikalischen
»Sende- und Empfangsleistung« ersetzt und damit zugleich den alten
Primat der perspektivischen Konzeption des galileischen Zeitalters
zerstört - indem er den klassischen

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Intervallen der Art »Raum« und »Zeit« ein drittes Intervall der Art
»Licht« hinzufügt-, dann verursacht er in der Tat eine tiefgreifende
Veränderung des Realitätsprinzips, bei der das automatische Wesen der
Darstellungen einer Normierung der Wahrnehmung gleichkommt, die
ermöglicht wird durch die Nutzung der künstlichen Energie der
elektronischen Bilderzeugung sowohl im Bereich der »analogen« als
auch der »digitalen« Darstellungen.
Darüber hinaus läßt sich feststellen, daß die perspektivische
TELEPRÄSENZ und damit die allgemeine TELEEXISTENZ jenseits
der Grenzen der gewohnten Nähe nicht nur die sichtbare »Horizontlinie«
zugunsten der fehlenden Linie eines tiefen und imaginären Horizonts
zerstört, sondern daß sie zudem den Begriff der TIEFENWIRKUNG,
den Tastsinn, in Frage stellt. Das TAST
EMPFINDEN ÜBER WEITE ENTFERNUNGEN HINWEG beein
trächtigt nämlich nicht nur ganz entschieden die von den Anhängern des
Cyberspace vorgenommene Unterscheidung zwischen »aktuell« und
»virtuell«, sondern auch die Wirklichkeit der Nähe und der Ferne selbst,
womit es einerseits unsere Gegenwart hier und jetzt in Frage stellt, und
andererseits die notwendigen Voraussetzungen der sinnlichen Erfahrung
von dieser Gegenwart abkoppelt.

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Zweiter Teil

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Das Gesetz der Nähe

»Alles wird vom Blitz bestimmt.« Heraklit

»Sehen Sie diese Mücke? Mit ihren winzigen Sensoren, die die
Blutgefäße aufspüren, ist sie ein wunderbares Ding. Mit einer
mikroskopisch kleinen Säge macht sie einen Schnitt in die Haut, und mit
bemerkenswerter Präzision saugt sie das Blut. Wenn man eine Maschine
diesen Typs bauen würde, könnte man Blutentnahmen und
Untersuchungen durchführen, ohne daß Sie irgend etwas von einem
Einstich spürten. Bald schon
wird man Mikro-Roboter herstellen, die Forschungsreisen durch den
menschlichen Organismus unternehmen«, er
klärte der Vize-Präsident des Forschungslabors von Toyota-Motor.
Es steht fest, daß der menschliche Körper in nächster Zukunft zum
Übungsplatz für Mikromaschinen wird, die ihn, so sagt man, kreuz und
quer durchstreifen, ohne Schmerzen zu verursachen. Das sind sie also,
die letzten Prothesen, die neuen Automaten: ANIMATEN, die unseren
Organismus bevölkern, werden wie wir selbst den Raum des Erdkörpers
bevölkert und gestaltet haben.
Heute, wo gg% der mikroelektronischen Produktion aus Kollektoren
und Sensoren besteht und wo die zukünftigen automobilen Fahrzeuge
mit ungefähr fünfzig Detektoren jeder Art bestückt sein werden, um die
Druckverhältnisse, Erschütterungen oder Schläge zu kontrollieren,
entwickelt man intelligente Pillen für den menschlichen Organismus,
die dazu in der Lage sind, Informationen über die Nervenfunktionen
oder den Blutkreislauf fernzuübertragen. Als nächstes steht

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dann die Herstellung von Mikro-Robotern an, die sich durch unsere
Arterien bewegen, um das kranke Gewebe zu behandeln.
»Die Industrie hat bereits die notwendigen Mikroprozessoren und
Sensoren produziert, wir brauchen jetzt nur noch die Arme und Beine
hinzuzufügen«, erklärte Professor Fujita von der Universität Tokio.
In diesem Entwicklungsstadium der post-industriellen Maschine ist die
Miniaturisierung ihrer Komponenten ein für die Analyse der
Topographie der Technologien ganz wesentlicher Aspekt. Während wir
durch die Technikgeschichte mittels der Eisenbahnlinien, Kabel,
Hochspannungsleitungen oder Autobahnnetze daran gewöhnt wurden,
die wachsende volumetrische und geographische Bedeutung der
industriellen Maschinen zu bewerten, erleben wir mit einem Mal den
genau umgekehrten Prozeß: die technologische Verkleinerung betrifft
allmählich alle Gebiete des Verkehrswesens wie der
Telekommunikation. Das Gesetz der mechanischen Nähe, das
wesentlich dazu beigetragen hatte, die menschliche Lebenswelt, die
»exogene« Umwelt unserer Gattung, zu gestalten, tritt hinter ein
elektromagnetisches Gesetz der Nähe zurück, über das es noch alles zu
entdecken und zu verstehen gilt, bevor wir als mehr oder weniger
passive Zeugen die bevorstehende Eroberung unseres Körpers, die
Kontrolle einer »endogenen« Umwelt, erleben werden, d. h. die
Eroberung unserer Gedärme und Eingeweide mittels der interaktiven
Spitzenleistungen einer biotechnologischen Miniaturisierung, die den
Aufschwung der großen Massenverkehrsmittel vollenden wird, von
denen unsere Gesellschaft schon heute beherrscht ist.
Somit hätte die Genealogie der Techniken dank der Entwicklung der
Wassernetze und der Arbeiten im Zusammenhang mit der
Flurgestaltung der Erde

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schrittweise von der Kontrolle der geophysikalischen Umwelt zur
Kontrolle der physikalischen Umwelt mit der Mechanik und der
physikalischen Chemie der für die Verkehrs- und
Kommunikationsvektoren notwendigen Energie geführt, bevor sie heute
in die Kontrolle der mikro-physikalischen Umwelt nicht nur des Klimas,
sondern auch der menschlichen Physiologie eingemündet ist, die sich
jedoch weniger der traditionellen Pharmakopöe als vielmehr der
interaktiven Leistungsfähigkeit solcher Übertragungsmittel verdankt, die
der Mensch bald schon möglicherweise in sich aufnimmt und sogar
verdaut ...

Tatsächlich erleben wir die Anfänge einer dritten Revolution: Nach der
Revolution der Verkehrsmittel im ig. Jahrhundert, aus der der
Aufschwung des Eisenbahnsystems, des Automobils und später des
Flugverkehrs hervorging, wurden wir im 20. Jahrhundert dank des
Einsatzes der unmittelbaren Übertragungseigenschaften der
elektromagnetischen Wellen bei Funk und Video zu Zeugen der zweiten
Revolution, und zwar der Revolution der Übertragungstechniken. Ge-
genwärtig bereitet man hinter den verschlossenen Türen der Labors die
Revolution der Transplantationstechniken vor, bei der es nicht mehr nur
um die Transplantation von Leber, Nieren, Herz oder Lungen geht,
sondern um die Implantierung neuer Stimulatoren, die sehr viel
leistungsstärker sind als Herzschrittmacher. Es geht um die
bevorstehende Transplantation von Mikro-Motoren, die dazu in der Lage
sind, die fehlerhafte Funktionsweise des einen oder anderen natürlichen
Organs zu ersetzen und bei vollkommen gesunden Personen sogar das
vitale Leistungsvermögen des einen oder anderen physiologischen
Systems mit Hilfe von unmittelbar aus der Ferne abfragbaren Detektoren
zu verbessern.

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Auch hier stoßen wir erneut auf das die Topographie der Technologien
betreffende Problem. Ich möchte in diesem Zusammenhang von der
tiefgreifenden Veränderung des vielzitierten »Gesetzes der Nähe« oder,
wenn man es vorzieht, vom Gesetz des geringsten Aufwands oder des
kürzesten Weges sprechen. Wenn man die Wirkungsdistanz in einem
solchen Maße verringert oder gar aufhebt, daß die Maschine, das
unmittelbare Kommunikationsmittel, direkt in den menschlichen Körper
eingeführt wird, dann ergeben sich daraus entscheidende Fragen in bezug
auf das neue technische Umfeld, d. h. die postindustrielle »Techno-
sphäre« .
Das Wesen des Intervalls, aus dem dieser Abstand besteht, wird durch
die Fernhandlung in der Tat problematisch: Das Intervall der Art RAUM
(negatives Zeichen) für die geometrische Gestaltung und die Kontrolle
der geophysikalischen Umwelt. Das Intervall der Art ZEIT (positives
Zeichen) für die Kontrolle der physikalischen Umwelt, die Erfindung der
Verkehrsmittel. Und schließlich das Intervall der Art LICHT (Null-
Zeichen), das dritte und letzte Intervall (Schnittstelle), für die
unmittelbare mikrophysikalische Umwelt mittels der neuen
Telekommunikationsmittel.
Bevor ich zu der Notwendigkeit einer Neubestimmung des Gesetzes der
Nähe komme, die sich der Unmittelbarkeit der interaktiven
Teletechnologien verdankt, möchte ich noch anmerken, daß, wenn die
einstige Kontrolle der geophysikalischen und physikalischen Umwelt
unlösbar mit dem absoluten Charakter des Raums und der Zeit des
Newtonschen Zeitalters verbunden war, die Kontrolle der
mikrophysikalischen Umwelt unlösbar mit dem absoluten Charakter der
Lichtgeschwindigkeit des Einsteinschen Zeitalters verbunden ist.
Wenn heute also die Fernhandlung der Teletechno

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logien die Transplantation der Informationsquellen in das Innere der
Lebewesen selbst zur Folge hat, dann ist das deshalb so, weil das Gesetz
der »elektromagnetischen« Nähe endgültig das Gesetz der
»mechanischen« Nähe verdrängt und die Teleaktion nunmehr an die
Stelle des unmittelbaren Handelns tritt.

Wenden wir uns nun der Entwicklung der Transportund Verkehrsmittel


in ihrem Verhältnis zum Status des Körpers des Passanten bzw.
Passagiers zu, dem dann der Empfänger »interaktiver« Implantate folgen
wird.
Bei der Aufzucht und Domestizierung von Zugtieren, die dazu in der
Lage sind, ein Gespann zu ziehen oder eine Nutzlast zu tragen, hält der
Mensch sich zunächst an das Maultier, an Ochsen oder Pferde, die er
führt, um dann nach der Erfindung des Rads in einen Wagen zu steigen
und diese Tiere zu lenken.
Später entdeckt der Mensch die Verbindung mit dem Tiervehikel, dem
Streitroß. Er steigt auf das Pferd, das von diesem Zeitpunkt an zu einem
Reitpferd und bald zu einem Tier mit Sattel wird, das damit kein
einfaches Lasttier mehr ist.
Hieraus ergibt sich die Eroberung der unermeßlichen Weite der
Territorien sowie die zunehmende Kontrolle der geographischen Umwelt
der Menschheit.
Nach der Erfindung des Segelschiffs, mit dessen Hilfe der Mensch die
Ozeane eroberte, entwickelte er schließlich ein nicht mehr
»metabolisches«, sondern technologisches automobiles Vehikel - die
Lokomotive und die dazugehörigen Waggons, das Auto, das Flugzeug-,
in dem er sich auf Dauer einrichten sollte, so daß das »Fahren im Innern«
nunmehr die Oberhand über das alte Streitroß gewann.
Mit der Revolution der Übertragungstechniken, die

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schon bald auf die der Verkehrsmittel folgen sollte, paßten sich die
Telekommunikationsmittel dem mit Medienprothesen ausgestatteten
menschlichen Körper an: Handy, Walkman, tragbarer Fernseher, Note-
book, Elektroden, ganz zu schweigen vom Datenhandschuh bzw. -anzug.
Als nächstes steht dann die Revolution der Transplantationstechniken
und die damit verbundene Einpflanzung von Mikromaschinen an, mit
anderen Worten, die technologische Versorgung des menschlichen
Körpers, bei der die Zutaten, die eingenommenen Substanzen nicht mehr
ausschließlich aus sogenannten »stärkenden« physikalisch-chemischen
Lebensmitteln bestehen, sondern aus Mikroprozessoren, mehr oder
weniger biologisch abbaubaren »stimulierenden« Implantaten,
Mikromaschinen, Zellautomaten, die, so sagt man, dazu in der Lage sind,
bestimmte unserer Fähigkeiten zu verbessern.
Genauso wie die Dichte dieser neuen Materialien mit verschiedenen
Netzen, Glasfasern, in gegossene, gewobene oder hitzegeformte
Substanzen integrierte Kabel bzw. Mikroprozessoren angereichert wird,
schickt sich die Intimsphäre der Eingeweide des menschlichen Körpers
an, durch eine »innerorganische« Mikromaschinerie ergänzt zu werden,
die dazu imstande ist, nicht mehr nur wie die Elektroden des berühmten
Doktor Delgado, sondern wie eine Fernbedienung auf ihn einzuwirken, d.
h., es kommt zu einer Art Zappen der Lebensfunktionen, die wie Alkohol
oder Aufputschmittel »einen Toten wieder zum Leben erwekken«
können. Der menschliche Körper steckt gewissermaßen in einer
biotechnischen und nicht mehr nur biochemischen Zwangsjacke, mittels
derer die Verhaltenspsychophysiologie des Menschen ständig an die
unmittelbare Informationsleistung gekoppelt ist. Er ist mit einem
elektronischen Leitungsnetz ausgestattet, das in einem solchen Maße
eine Verlängerung seines

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Nervensystems darstellt, daß einige Forscher bereits davon sprechen,
Molekülfür Molekül vollkommen neue Materialien zu entwickeln, wobei
sich ihrer Ansicht nach die Nanomaschinen erst in einem allerersten Ent-
wicklungsstadium befänden, die von den einfachen Zellen zu den
komplexesten Organismen führen wird.
Dieser »endogene« Maschinenbetrieb wird also die Spitzenleistungen
des »exogenen« Maschinenbetriebs verdrängen, mit dessen Hilfe es
möglich war, die geophysikalische Umwelt der Menschheit zu
kontrollieren.
Kehren wir nun zum letzten Gesetz der Nähe und seinem Verhältnis
zum Prinzip des geringsten Aufwandes zurück. Aus der jüngsten
Entwicklung der postindustriellen Maschinen ergibt sich, daß
WENIGER MEHR IST-, und das nicht nur in bezug auf das Volumen,
die physischen Abmessungen des Objekts, sondern auch in bezug auf das
Material und die innere Beschaffenheit des mikroskopischen Geräts.
Infolgedessen muß eine Antwort auf die Frage gegeben werden: Bis zu
welchem Punkt gilt, daß weniger mehr ist? Bis zur Virtualität, jenem
Bild, jener virtuellen Realität, die am Ende ausschlaggebender ist als die
Sache, deren Bild sie doch lediglich ist?
Da die gegenwärtige Miniaturisierung zugleich eine
Entmaterialisierung der Geräte bedingt, ist es angebracht, sich zu fragen,
ob es eine Quanten- oder irgendeine andere Grenze des Verkleinerungs-
und Virtualisierungsprozesses des zeitgenössischen technischen Objekts
gibt.
In der Tat ist es so, daß der gegenwärtige oder, genauer gesagt,
»telepräsente« Mensch nicht mehr die Energie einer beliebigen Maschine
beherrscht, sondern daß er, ob willentlich oder nicht, unmittelbar von der
Energie beherrscht und gesteuert wird. Hierbei handelt es sich um eine
radikale Umkehrung des Prinzips des

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geringsten Aufwandes, das bisher die Geschichte der Gesellschaften
geprägt hat. Darüber hinaus liegt das Ziel der bevorstehenden Revolution
der Transplantationstechniken klar auf der Hand: Nun geht es darum, die
Welt zu miniaturisieren, nachdem ihre Komponenten, die technischen
Objekte, die sie seit dem Aufschwung der industriellen Entwicklung
enthielt, verkleinert und miniaturisiert wurden.

Wie steht es infolgedessen um die Zukunft der Architektur, dieses


häuslichen Raums, in dem die alltägliche Nähe sich sowohl im Abstand
zwischen den Wohnräumen als auch im etagenförmigen Aufbau des
Gebäudes niederschlug?
Wenn die Möglichkeit, unmittelbar zu handeln, ohne sich physisch
fortzubewegen -beispielsweise, um Fensterläden zu öffnen, das Licht
einzuschalten oder die Heizung zu regulieren -, teilweise dazu führte,
den praktischen Wert der räumlichen und zeitlichen Intervalle dank der
Errungenschaften der Revolution der LIVEÜBERTRAGUNGEN
aufzuheben zugunsten des Geschwindigkeitsintervalls der Fernsteuerung,
welche Konsequenzen wird es dann nach sich ziehen, wenn diese Form
der Handlungsmöglichkeit oder, besser gesagt, diese Möglichkeit der
unmittelbaren Interaktion mit Hilfe der biotechnologischen Revolution
der Transplantationstechniken die Dichte der verkabelten Woh-
nungswände bzw. -decken verläßt, um sich nicht mehr nur an den Körper
des Bewohners zu heften, sondern um in das Innere seines Organismus,
in die geschlossenen Kreisläufe seines Lebenssystems einzudringen und
sich dort niederzulassen?

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An dieser Stelle möchte ich nochmals an das besondere Wesen jenes
Gesetzes des geringsten Aufwandes erinnern: Wenn es direkt neben
einem Aufzug oder einer Rolltreppe eine normale Treppe gibt, um in die
höhergelegenen Stockwerke eines Gebäudes zu gelangen, nimmt
niemand die Treppe. Dasselbe gilt für die langen Verbindungsgänge der
Pariser Metro, in denen sich Laufbänder für die Fahrgäste befinden: Alle
nehmen das Laufband. Für die Telekommunikation gilt dasselbe Prinzip:
Es ist besser, einen elektrischen Impuls zu übertragen, als ein Blatt
Papier zu transportieren, aber einen Brief, Post zu transportieren, ist
besser, als einen Boten auf den Weg zu schicken.' Dieses Prinzip gilt
selbst für die in der Architektur zentralen Begriffe von INNEN und
AUSSEN, die allmählich ihre Bedeutung verlieren. Durch die
Immaterialität der elektromagnetischen Strahlen wird sogar die für den
Bau von Häusern so zentrale Unterscheidung von OBEN und UNTEN
aufgehoben!

In einem jüngeren Interview erklärte der Architekt Kazvo Shinohara: »In


der zukünftigen Stadt wird sich die Freude am Intervall Ausdruck
verschaffen.«
Um welches »Intervall« handelt es sich aber, nachdem die Zeitabstände
und damit die Notwendigkeiten der physischen Fortbewegung
weggefallen sind?
Mit der Vorherrschaft des Intervalls der absoluten Geschwindigkeit
(drittes Intervall der Art Licht mit dem NullZeichen) der
elektromagnetischen Wellen, die die Voraussetzung schaffen für die
Interaktivität und damit für die plötzlich einsetzende Relativierung des
Raumund Zeitintervalls (negatives und positives Vorzeichen), brechen
sämtliche konzeptionellen Grundlagen der Architektonik buchstäblich in
sich zusammen, darin eingeschlossen das natürliche Sonnenlicht, das
sich nunmehr mittels Sensoren und Glasfasern von der

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Oberfläche des Gebäudes in das Innere der Wohnräume leiten läßt, so
daß der mit Glasfasern versehene Raum an die Stelle der Fensteröffnung
in der Fassade des Wohnhauses tritt.
Welche Auswirkungen wird die bevorstehende Einführung der
Teletechnologien, diese Transplantation in das Innere des menschlichen
Körpers haben, und welche Folgen ergeben sich daraus für die Ordnung
seiner häuslichen Lebenswelt?
Bereits mit der Revolution der Verkehrsmittel im ig. Jahrhundert wurde
die tiefgreifende Veränderung im Wesen der Fortbewegung
offensichtlich, denn es fand eine eindeutige Begünstigung der »Abfahrt«
und der »Ankunft« am Bestimmungsort auf Kosten der »Reise« im
eigentlichen Sinne statt, was sich anhand der Passivität und der
Schläfrigkeit der Passagiere in den Hochgeschwindigkeitszügen oder
anhand der Filmvorführungen auf den Langstreckenflügen veran-
schaulichen läßt. Mit der Revolution der unmittelbaren
Übertragungstechniken wird nunmehr die »Abfahrt« abgeschafft
zugunsten der »Ankunft«, d. h. der allgemeinen Ankunft der Daten, und
das angefangen beim Fernsehen über die Telearbeit bis zur Teleaktion,
die durch die Fernsteuerung der häuslichen Funktionen des intelligenten
Wohnhauses ermöglicht wird.
Der Bewohner der teletopischen Metastadt, der so ausgerüstet ist, daß er
seine Umwelt kontrollieren kann, ohne sich physisch zu bewegen, dieser
Teleakteur seiner Lebenswelt, der ohne die exotischen Prothesen
auskommt, mit denen früher das Stadtviertel bestückt war, unterscheidet
nicht mehr eindeutig zwischen hier und anderswo, Privatsphäre und
Öffentlichkeit. Die Unsicherheit bezüglich seiner territorialen
Standortbest.irnrnung greift vom Raum der eigenen Welt auf den Raren
des eigenen Körpers über. Infolgedessen zielt die Seßhaftwerdung darauf
ab, endgültig, absolut zu

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werden, denn die traditionellerweise über den Realraum der Stadt
verteilten Funktionen füllt jetzt die Echtzeit der Ausrüstung des
menschlichen Körpers aus.
Die Schlüsselbegriffe des (Funk-, Video- oder digitalen)
Signaleingangs bzw. -ausgangs verdrängen diejenigen Begriffe, die
gewöhnlich mit der Fortbewegung von Menschen oder
traditionellerweise in der Weite des Raums verteilten Gegenständen
verbunden waren.
Der Kurzschluß der Absicht und des Willens zum Handeln ersetzt also
das Handeln mittels Gesten und Körperbewegungen.
Im Gegensatz zur klassischen mechanischen Nähe ist die neue
elektromagnetische Nähe weniger räumlich als zeitlich bestimmt. Die
Echtzeit der Direktübertragung (live coverage) beherrscht den Realraum
des Gebäudes und fordert vom Planer eine grundlegende Erneuerung
seiner Konzepte unter dem Gesichtspunkt, daß die Zeit, die Dauer der
Interaktivität (oder, genauer gesagt, das Nichtvorhandensein einer
Dauer), die Oberhand über den geometrischen Raum des Quattrocento
gewinnt.

Die auf dem »absoluten« Charakter des Raum- und Zeitintervalls der
Volumetrie basierende alte architektonische Konzeption ist nicht mehr
gültig. Nach dem Newtonschen Zeitalter bedingt die Relativierung dieser
Begriffe den Absolutismus der Lichtgeschwindigkeit und die Entstehung
eines letzten Intervalltyps mit einem Null-Zeichen, der seinerseits eine
neue Perspektive, und zwar die beschleunigte Perspektive der Echtzeit,
sowie die Erfindung neuer architektonischer und städtebaulicher
Theorien erforderlich macht.'

Somit führt das Gesetz der elektromagnetischen Nähe zu zwingenden


Notwendigkeiten, die nicht mehr nur

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die Ethik oder die Energiepolitik betreffen, sondern auch die Ästhetik
und das Weltbild.
Das plötzliche babylonische Durcheinander des globalen Dorfes, die
unpassende Vermischung des Globalen mit dem Lokalen - für die der
Golfkrieg ein eindeutiges Vorzeichen war - kündigen die nächste
Revolution an: die Revolution der biotechnologischen Transplantationen,
die Ausstattung des animalischen Körpers mit verschiedenen Leitungen
und Netzen, mit denen bisher der territoriale Körper der städtischen
Gesellschaften versehen war.
Das letzte »Territorium«, mit anderen Worten, die menschliche
Physiologie, wird somit zum bevorzugten Versuchsfeld für die
Kommunikations-Mikromaschinen; Drogen, Anabolika oder
Dopingmittel scheinen die klinischen Symptome dieser bevorstehenden
Permutation der Sinne zu sein.
Ich weiß nicht, ob, wie Shinohara auch behauptet, die
Stadt der Zukunft die Schöheit der Verwirrung zum Ausdruck bringen
wird, ich bin mir allerdings absolut sicher, daß sie das Drama der Fusion
von »Biologie« und »Technologie« veranschaulicht.

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Graue Ökologie

»Der Bewegungslose steht sich selbst im Weg.«


Seneca

Neben der Verschmutzung der lebensnotwendigen SUBSTANZEN


unserer Umwelt, mit der sich die Umweltschützer dauernd beschäftigen,
gibt es noch die plötzliche Verschmutzung der ENTFERNUNGEN und
der Zeitdauer, die die Ausdehnung unseres Lebensraums beschädigt.
Unterschlagen wir nicht aufgrund der vorrangigen Beschäftigung mit
der Verschmutzung der NATUR willentlich die Verschmutzung der
NATÜRLICHEN GRÖSSE, die den Maßstab, die Dimensionen der
Erde, auf ein Nichts reduziert?
Wenn weder die Staatsbürgerschaft noch die Höflichkeit, entgegen den
dauernden Beteuerungen, ausschließlich vom »Blut« oder vom »Boden«
abhängig sind, sondern auch und vor allem von der Beschaffenheit der
zwischen den menschlichen Gruppen bestehenden Nähe, wäre es da
nicht angebracht, sich Gedanken über einen anderen Typus von Ökologie
zu machen? Eine Disziplin, die sich weniger mit der NATUR befaßte als
vielmehr mit den Auswirkungen der künstlichen Umgebung der Stadt
auf den Verfall der physischen Nähe zwischen den Menschen und den
verschiedenen menschlichen Gemeinschaften. Die Nähe der
unmittelbaren Nachbarschaft in den Stadtvierteln. Die »mechanische«
Nähe des Fahrstuhls, des Zuges oder des Automobils und schließlich,
seit kurzem, die elektromagnetische Nähe der unmittelbaren
Telekommunikation.
Zerbrochen sind die Orientierungsmaßstäbe des Bo

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dens, der nachbarschaftlichen Gemeinschaft, des Mitmenschen, des
Verwandten, des Freundes oder des unmittelbaren Nachbarn. Die
MEDIALE Zäsur betrifft nicht mehr nur die Frage des zu großen
Abstands zwischen dem städtischen Zentrum und seinem Umland,
sondern die zwischenmenschliche Kommunikation über das Fernsehen,
das Fax, das Teleshopping oder die elektronischen Briefkästen mit den
Kontaktanzeigen ...
Als »Weltbürger« und Bewohner der Natur unterschlagen wir allzuoft
die Tatsache, daß wir auch innerhalb der physikalischen Dimensionen,
im Rahmen des räumlichen Maßstabes und der Zeitdauer der
natürlichen Größe, leben. Zur offensichtlichen Schädigung
derjenigen Elemente, aus denen sich die (chemischen und alle möglichen
anderen) Substanzen zusammensetzen und aus denen unsere natürliche
Umwelt besteht, kommt noch die unbemerkt gebliebene Verschmutzung
der Entfernungen, die sowohl die Beziehung zum Mitmenschen als auch
zur Welt des sinnlich Erfahrbaren regeln. Hieraus resultiert die dringende
Notwendigkeit, die herkömmliche Ökologie um eine Ökologie der
künstlichen Verkehrs- und Übertragungstechniken zu ergänzen, die das
Feld der Dimensionen der geophysikalischen Umgebung buchstäblich
ausbeuten und ihre Ausdehnung beschädigen.
»Die Geschwindigkeit zerstört die Farbe: Wenn das Gyroskop sich
schnell dreht, wird alles grau«, schrieb Paul Morand im Jahre 1937
während seines Urlaubs ...
Nachdem die extreme Nähe der Telekommunikationstechniken heute
die äußerste Höchstgeschwindigkeit der Überschall-Verkehrsmittel
verdrängt hat, wäre es da nicht an der Zeit, neben der GRÜNEN Ökolo-
gie eine GRAUE Ökologie einzuführen? Eine Ökolo

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gie der intelligenten und miteinander verbundenen »städtischen
Archipele«, die schon bald eine Neugestaltung Europas und der ganzen
Welt bedingen werden.
In dem hier beschriebenen Zusammenhang einer durch die
Teletechnologien der Fernhandlung von Grund auf veränderten
Raumzeit kann man tatsächlich von einer URBANEN ÖKOLOGIE
sprechen. Eine Ökologie, die sich eben nicht nur der Luft- oder Lärmver-
schmutzung in den großen Städten annähme, sondern in erster Linie der
überstürzten Entstehung eines »globalen Dorfes« zum Ende unseres
Jahrtausends, das vollkommen von den Telekommunikationstechniken
abhängig ist.
Der von Paul Morand seinerzeit gefeierte Ferntourismus würde
nunmehr um eine Art »Tourismus an Ort und Stelle«, um die
Kokonisierung und Interaktivität ergänzt.
»Du hast die Welt zu einer Stadt gemacht«, warf der Galloromane
Namatianus Cäsar vor. Seit kurzem ist dieses Projekt des Römischen
Reiches zu einer alltäglichen Realität geworden, dessen ökonomische
und besonders kulturelle Konsequenzen nicht mehr zu übersehen sind.
Aus diesem Umstand ergibt sich nicht nur für die Dritte Welt, sondern
auch für Europa das Ende des Gegensatzes zwischen Stadt und Land, d.
h. die Entvölkerung eines ländlichen Raums, der von Brachlegungen und
Beschäftigungslosigkeit betroffen ist. Und die intellektuelle
»Beschränkung«, die eine solche städtische Vormachtstellung
voraussetzt, erfordert scheinbar ein anderes »Verständnis« der Künstlich-
keit, und nicht nur eine andere Umweltpolitik.
In genau dem Moment, in dem die notwendige direkte Transparenz der
»optischen« Dichte der Erdatmosphäre begleitet wird von einer
indirekten Transparenz der »elektrooptischen« (und akustischen) Dichte

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auf dem Gebiet der Telekommunikationstechniken in Echtzeit, lassen
sich die Schäden des Fortschritts in einem von den Umweltschützern
unterschlagenen Bereich nicht mehr länger übersehen: es handelt sich
um den Bereich der Relativität, d. h. um ein neues Verhältnis zu den
Orten und Zeitabständen, das die Revolution der Übertragungstechniken
mit dem jüngsten Einsatz der absoluten Geschwindigkeit
elektromagnetischer Wellen hervorgebracht hat. Und selbst die
Revolution der Verkehrsmittel, die lediglich die relativen Geschwindig-
keiten des Zuges, des Flugzeugs oder des Automobils zum Einsatz
brachte, scheint die Anhänger der »Umweltwissenschaften« nur wegen
der verheerenden Auswirkungen zu interessieren, die ihre jeweiligen
Infrastrukturen (Autobahnen, Schienennetze für
Hochgeschwindigkeitszüge oder Flughäfen) für die Landschaft haben
können.

Die Zeit ist nützlich, wenn sie nicht genutzt wird, behauptet die östliche
Weisheit. Gilt dies nicht auch für den Raum, diese ungenutzte natürliche
Größe der Ausdehnung einer unbekannten und oftmals ignorierten Welt?
Wäre es nicht angebracht, angesichts des heutigen Verfalls einer in eine
abstrakte Wissenschaft des Raums verwandelten Geographie und
angesichts eines durch den Aufschwung des Tourismus und der
Massenverkehrsmittel verursachten Verschwindens des Exotismus so
schnell wie möglich nach dem Sinn und der kulturellen Bedeutung der
geophysikalischen Dimensionen zu fragen?

In seiner im 16. Jahrhundert verfaßten Autobiographie stellte Geronimo


Cardano fest: »Ich bin in dem Jahr

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hundert geboren, in dem die gesamte Erde entdeckt wurde, wohingegen
die Alten kaum mehr als ein Drittel kannten. « 1
Was läßt sich über unser ausgehendes 20. Jahrhundert, in dem die
erste Mondlandung stattfand, anderes sagen, als daß wir die Zeit der
endlichen Welt ausgeschöpft, die Erdoberfläche vereinheitlicht haben?
Ob man es will oder nicht, der Wettlauf besitzt immer
Ausscheidungscharakter, und zwar sowohl für die am Wettkampf
beteiligten Konkurrenten als auch für die Umwelt, die ihrer Anstrengung
zugrunde liegt. Aus diesem Umstand erklärt sich auch die Erfindung
eines Schauplatzes, einer »Bühne«, auf der die Leistung der extremen
Geschwindigkeit vollbracht werden kann: Stadion, Pferderennbahn oder
Autorennstrecke. Eine derartige Instrumentalisierung des Raums ist ein
Hinweis auf die Veränderung nicht nur des Athletenkörpers, der darauf
trainiert ist, seine Grenzen zu überschreiten, oder der Rennfahrer in den
verschiedenen Autorennställen, sondern auch der GEOMETRIE der
Umgebung, die die Grundlage ihrer Bewegungsleistung darstellt. Dabei
gibt die Integration der aufwendigen Sportausrüstungen in den
geschlossenen Kreislauf einen Vorgeschmack auf die Integration einer
sowohl für die Erdumlaufbahn der Satelliten als auch für sämtliche
Verkehrsmittel zur Bahn gewordenen Welt in die Schleife, was ihrer
endgültigen Abriegelung gleichkommt.
Im Anschluß an die Auswirkungen, die das Eisenbahn- und das
mittlerweile europaweite Autobahnnetz gehabt haben, nimmt somit eine
letzte Form der Verschmutzung Gestalt an, und zwar die durch die
Überschall-Verkehrsmittel sowie die neuen Telekom-
munikationstechniken verursachte Verschmutzung der geographischen
Ausdehnung. Diese bedingt die Schädigung des Realitätsempfindens
eines jeden von

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uns, den Sinnverlust einer nunmehr weniger GANZHEITLICHEN als
vielmehr durch solche Technologien VERKLEINERTEN Welt, die im
Laufe des 20. Jahrhunderts neben der »Fluchtgeschwindigkeit« der
Erdanziehung (28 00o km/h) die absolute Geschwindigkeit der
elektromagnetischen Wellen erreicht haben.

Aus diesem Umstand ergibt sich die dringende politische Notwendigkeit,


zum Gesetz des geringsten Aufwands zurückzukehren, das seit jeher die
Entwicklung unserer Technologien begründet. Dieses Gesetz drängt sich
uns förmlich auf. Es basiert, genauso wie dasjenige der astronomischen
Bewegung der Planeten, auf der Gravitation, dieser universellen
Anziehungskraft, die den Objekten, aus denen die menschliche Umwelt
besteht, sowohl ihr Gewicht als auch ihren Sinn und ihre Richtung gibt.
Wenn das »Akzidens« tatsächlich zur Kenntnis der »Substanz«
beiträgt, dann offenbart der Unfall des Falls der Körper allen die
QUALITÄT unserer Lebensumgebung, ihr spezifisches Gewicht.
Da es der Gebrauch ist, der den Raum, die Erdoberfläche,
kennzeichnet, gibt es die Audehnung und folglich die zu durchquerende
(geophysikalische) »Quantität« nur mittels der Anstrengung einer mehr
oder weniger dauerhaften (physischen) Bewegung, d. h. mittels der durch
den Weg hervorgerufenen Ermüdung, bei dem es die Leere lediglich
aufgrund des Wesens einer Handlung gibt, die man zu seiner
Bewältigung unternommen hat.
Das »ökologische« Problem der NATUR unserer Lebenswelt läßt sich
folglich nur dann lösen, wenn wir uns darum bemühen, auch die
bestehende Verbindung zwischen »dem Raum« und »der Anstrengung«,
der Dauer und dem Ausmaß einer physischen Ermüdung aufzudecken,
die der Welt der sinnlichen Erfahrung

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ihren Maßstab, ihre »natürliche Größe«, verleiht. Da es durch die
Teletechnologien beim Hören, Sehen oder Handeln keiner Anstrengung
mehr bedarf und damit die Richtungen sowie die Weite des irdischen
Horizonts zerstört werden, bleibt uns nichts anderes übrig, als nunmehr
die »neue Welt« zu entdecken, die nicht mehr die Welt der weit
auseinanderliegenden Orte von vor fünfhundert Jahren ist, sondern
diejenige einer Nähe ohne Zukunft, in der sich die Technologien der
Echtzeit schon bald gegen solche Technologien durchgesetzt haben
werden, die früher dem Realraum unseres Planeten ihr Gesicht verliehen.
Wenn gegenwärtig sein gleichbedeutend ist mit nah sein im physischen
Sinne, dann möchte ich darauf wetten, daß die mikrophysikalische Nähe
der interaktiven Teletechnologien in Zukunft dazu führt, uns zu entfer-
nen, für niemanden mehr da zu sein, in eine auf weniger als nichts
verkleinerte geophysikalische Umwelt eingeschlossen zu sein.

»Die Welt ist geschrumpft, furchtbar geschrumpft. Man reist nicht mehr,
man bewegt sich fort«, schrieb Jacques-Yves Le Toumelin.
Diese Feststellung eines einsamen Seefahrers führt erneut zur Frage der
Grenzen, der Grenzen einer dem Zweifel und der Desorientierung
ausgelieferten Welt, wo angesichts der Fortschritte nicht mehr der Be-
schleunigung des historischen, sondern des geographischen Wissens die
Orientierungs- und Anhaltspunkte nach und nach verschwinden, so daß
in Anbetracht der unendlichen Zersplitterung des Standpunktes die Be-
griffe des Maßstabs und der physischen Dimension zunehmend ihren
Sinn einbüßen.
Zu Beginn unseres Jahrhunderts bemerkte Karl

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Kraus boshaft: »Ein regulierbarer Horizont kann nicht eng sein. « 1
An dieser Stelle möchte ich die Meinung eines ausgewiesenen
Experten des Fernsehhorizonts zitieren. »Da
der Raum des Bildschirms nicht groß ist, darf die Sendung nicht zu lange
dauern.«

Alles ist gesagt. Da, wo der Darstellungsraum sich verkleinert, muß der
Takt erhöht werden, um in der Dauer einen abwesenden Raum
zurückzugewinnen! Der Perspektive des (Real-)Raums der natürlichen
Größe einer noch vollständigen, ganzheitlichen Welt stellt sich heute
notwendigerweise eine relativistische Perspektive der Zeit zur Seite, und
zwar die Perspektive der Echtzeit einer Unmittelbarkeit, die den
endgültigen Verlust der geophysikalischen Entfernungen wettmacht.
Es ist übrigens merkwürdig festzustellen, daß es in diesen Zeiten der
virtuellen Navigation und des periskopischen Eintauchens in das
kybernetische Universum wieder einmal die Seeleute sind, die als erste
das Gefühl für die verlorene Realität vermitteln ... In seinem Tagebuch,
das Gerard d'Aboville während seiner Pazifik-Überquerung mit dem
Ruderboot führte, schrieb er: »Um mein Ziel zu erreichen, mußte ich mir
ein geistiges Universum schaffen, in dem die zurückgelegte Strecke alles
beherrscht. Ein zerbrechliches Universum, denn jetzt, da ich nicht mehr
recht vorankomme, sucht mich die Versuchung heim aufzugeben.«'
Verläßt einen die Kraft zur Fortbewegung, ist das gleichbedeutend mit
dem Tod ...
Dies ist das Gleichnis von der Geschichte der universellen Navigation,
des Fortschritts in der Kenntnis der Grenzen dieser Welt, in der die
Entfernung ebenso wie die Substanz der Ozeane solange der ewige
Begleiter der Seeleute war, bis mit Hilfe der Beherrschung der

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souveränen Geschwindigkeit der Wellen, d. h. der elektromagnetischen
Wellen, jede maritime bzw. kontinentale Ausdehnung auf
unangemessene Art und Weise zerstört wurde.
Nachdem die aus dem Lärm und Getöse der Ozeane bestehende
geophysikalische Realität in den die Erde umgebenden Raum
eingeschlossen wurde, wird schon bald die (virtuelle)
mikrophysikalische Realität in die »Echtzeit« eingesperrt werden. Diese
Realität ist die
Frucht einer TRANSHORIZONTALEN Perspektive, einer
echten »Zeitmauer«, anders ausgedrückt, sie ist die Frucht der fristlosen
Zeit der Lichtgeschwindigkeit, die unversehens die Auswirkung der
Überwindung der Schall- und Hitzemauer vollendet, die es dem Men-
schen ermöglicht hat, sich von der Erdanziehung zu befreien und auf der
Oberfläche des Mondes zu landen.
Früher mußte jede Generation versuchen, von neuem die Tiefe der
Erdoberfläche zu entdecken, sich aus ihrer vertrauten Umgebung zu
lösen, um zu weit entfernten Horizonten aufzubrechen. Reisen formt die
Jugend, sagte man.
In Zukunft wird jede Generation die optische Dichte einer mittels der
Wirkung einer grundsätzlich zugleich »zeitlichen« und »unzeitlichen«
Perspektive verkleinerten Realität erben, durch die sie (fast von Geburt
an) das ENDE DER WELT, die Enge eines unabhängig von den
geographischen Entfernungen unmittelbar zugänglichen Lebensraums,
wahrnimmt.
Aufgrund dieser Verschmutzung nicht mehr der Luft oder des Wassers,
sondern der OROMOSPHÄRE verflüchtigt sich demnächst der Schein,
die geophysikalische Realität des »territorialen Körpers«, ohne den
weder der »gesellschaftliche Körper« noch das »Tier« existierten, denn
zu sein heißt, hier und jetzt - hic et nunc - situiert zu sein - in situ.

- 91 -
»Was nützt es dem Menschen, das Universum zu gewinnen, wenn er
seine Seele verliert?«, seine anima, das, was ihn antreibt, was es ihm
ermöglicht, von etwas beseelt und liebenswert zu sein, nicht nur den
anderen, die Andersheit, anzuziehen, sondern mit Hilfe seiner
Fortbewegung auch die Umgebung, die Nähe.
Es verhält sich ganz so, wie es ein armenisches Sprichwort sehr schön
zum Ausdruck bringt: »Was nützt die Weite der Welt, wenn mein Herz
eng ist?«
Die wahren Entfernungen, d. h. die wahre Abmessung der Erde,
befindet sich in meiner Seele. Beim Tier ist die Entfernung immer nur
ein Zeitabstand. Für den Menschen, die Eule oder die Spinne schwindet
die Weite der Umwelt in der Bewegung, der Betriebsamkeit dahin. Der
Erdumfang von 40000 Kilometern ist gar nichts. Das geographische Maß
gibt es nur für die Geographen und Kartographen, die darum bemüht
sind, den Abstand von einem Punkt zum anderen zu bestimmen. Für die
Lebewesen wird dieser metrische Abstand niemals die Dimension der
Welt ausmachen.
Für das Seiende ist die Entfernung nur Wissen, Erinnerung und
Analogie. Durch die verschiedenen (Überschall-) Verkehrsmittel- und
(Hyperschall-) Übertragungstechniken werden wir in eine Lage versetzt,
die mit derjenigen eines Menschen vergleichbar ist, den der
Wetterbericht davon in Kenntnis setzt, daß es am nächsten Tag regnet:
sein heutiger Tag, sein schöner heutiger Tag ist verdorben, schon
verdorben, und er muß ihn schnell nutzen. Ähnlich wie beim kleinen
Bildschirm, der eine Beschleunigung der ausgestrahlten Bildsequenzen
notwendig macht, setzt sich hier die Dringlichkeit der Gegenwart durch.
Das Tragische an dieser zeitlichen Perspektive jedoch ist, daß das, was
auf diese Weise verschmutzt und von Grund auf beschädigt wird, nicht
nur die unmittelbare Zukunft ist, das von ihr erzeugte Gefühl für die

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Zeit, sondern der bereits vorhandene Raum, das Gefühl der
Abwesenheit der Umwelt, mit einem Wort, der geographische Tod.

»Die Reise ist eine Art Tür, durch die man die Realität verläßt, um in
eine unerforschte Realität einzutreten, die ein Traum zu sein scheint«,
schrieb Guy de MauPassant.
Mit dem Notstand der Zeitabstände verschwimmt dieser Traum, um
bald schon durch das TELEX oder das Eintauchen in die virtuelle
Realität ersetzt zu werden. Alles ist bereits gesehen, zumindest aber er-
forscht worden. Auf die Unmöglichkeit zu sehen folgte die
Unmöglichkeit, nicht zu sehen, nicht vorherzusehen.
Die allgemeine Reise ist bereits an die Stelle der Privatreise, der Reise
des einsamen Seefahrers oder Entdeckers getreten. Der Tourismus des
Fernsehzuschauers oder des Telearbeiters ist die ewige Wiederkehr eines
Feedback, eine an ihrem Bestimmungsort angekommene »Kreuzfahrt«.
Nach dem Fenster, das schon seit langem durch den Bildschirm der
Fernüberwachung ersetzt wurde, ist es die Tür, die Fenstertür, die an der
Schwelle des Raums der virtuellen Navigation an ihrem Endpunkt ange-
langt ist. Nach der Horizontlinie und der Oberfläche des
transhorizontalen Bildschirms herrscht jetzt das Volumen des
kybernetischen Raums vor. Auf diese Weise wird die telematische
Information zur dritten Dimension, zur TIEFENWIRKUNG der
wahrnehmbaren Realität, einer »Realität« allerdings, die sich dem Real-
raum der gewöhnlichen Geographie entzieht, um in der Echtzeit der
Sendung/des Empfangs interaktiver Signale wiederaufzutauchen.

- 93 -
Auf den Fluchtpunkt der ersten Perspektive (geometrische Optik) des
Realraums des Quattrocento folgt die Flucht aller Punkte (Bildpunkte,
Bits) in der zweiten Perspektive (Wellenoptik) der Echtzeit des Nove-
cento.
Infolgedessen ist die Information nach der Masse und der Energie nicht
mehr einfach nur die dritte Dimension der Materie, wie es einmal die
Pioniere der »Informatik« erläuterten, sie ist vielmehr zur LETZTEN
TIEFENWIRKUNG der Realität geworden, einer genauso
berechenbaren Realität, wie es die Oberfläche eines Gemäldes für die
ersten Perspektivisten war, einer virtuellen Realität, die für jeden den
außerordentlichen Vorteil mit sich bringt, zugleich »realer« als die
Phantasie und kontrollierbarer als die konkrete Realität zu sein.
Um welche »Tiefenwirkung« handelt es sich jedoch angesichts der
Tatsache, daß die Welt soweit geschrumpft ist, daß die Klaustrophobie
eine der größten Gefahren für die Menschheit darstellt?
Wenn die Zeittiefe der Unmittelbarkeit endgültig die Tiefenschärfe des
menschlichen Raums verdrängt, um welche »optische Dichte« kann es
sich dann noch handeln?
Eine verhängnisvolle Verwechslung zwischen dem sichtbaren Horizont,
vor dem sich jedes »Ereignis« abhebt, und dem tiefen Horizont des
Imaginären, die dazu führt, daß die letzte Tiefenwirkung tatsächlich ei-
nem Phantomglied ähnelt, d. h. einer virtuellen Gegenwart, die dennoch
als integraler Bestandteil des versehrten Körpers wahrgenommen wird.
Außerdem möchte ich darauf hinweisen, daß im vorliegenden Fall das
Vorhandensein einer Prothese bei einem Körperbehinderten noch die
Wahrnehmung des tatsächlich nicht vorhandenen Körperglieds verstärkt.

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Sollte die Mutter Erde etwa zum Phantomglied der Menschheit
geworden sein?
Verstärkt die Entwicklung der Telekommunikationsprothesen nicht
vielleicht die »schemenhafte Tiefenwirkung« eines nunmehr
computergestützten Weltbildes?
In diesem Zusammenhang möchte ich eine Überlegung von Franz
Kafka zitieren, die er 1922 in einem Brief an Milena äußerte: »Die
Menschheit fühlt das und kämpft dagegen, sie hat, um möglichst das Ge-
spenstische zwischen den Menschen auszuschalten und den natürlichen
Verkehr, den Frieden der Seelen zu erreichen, die Eisenbahn, das Auto,
den Aeroplan erfunden, aber es hilft nichts mehr, es sind offenbar
Erfindungen, die schon im Absturz gemacht werden, die Gegenseite ist
soviel ruhiger und stärker, sie hat nach der Post den Telegraphen
erfunden, das Telephon, die Funktelegraphie. Die Geister werden nicht
verhungern, aber wir werden zugrundegehn.«4
Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen, außer daß wir seither das
Fernsehen und die Realität eines Raums erfunden haben, der es uns
ermöglicht, über weite Entfernungen hinweg miteinander zu interagie-
ren, und das unabhängig von der Entfernung, die uns von unserem
Nächsten trennt. Müssen wir in Zukunft vielleicht »unseren Fernsten
lieben wie uns selbst?«
Und wenn dies so wäre, würde sich die Frage »bis wo« gar nicht mehr
stellen, denn das Fehlen jeder Grenze mit Ausnahme derjenigen der
kosmologischen Konstante der Geschwindigkeit der Realitätswellen wird
uns bald dazu verleiten, die Liebe über große Entfernungen hinweg zu
praktizieren. Keine »Minne« mehr wie im Mittelalter, sondern »virtuelle
Liebe«, die durch die Errungenschaften des CYBERSEX im Bereich
der Sinneswahrnehmung möglich wird, und das mit all den
demographischen Konsequenzen, die die Erfin

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dung eines solchen UNIVERSELLEN PRÄSERVATIVS für
die Menschheit mit einschließt!

Was sich zwischen Himmel und Erde bewegt, lasse sich nur durch den
Himmel und die Erde erklären, schrieb Ernst jünger in einer Paraphrase
auf die antiken Philosophen der sublunarischen Welt. Zum Abschluß die-
ser Überlegungen möchte ich darauf hinweisen, daß sich unsere »graue
Ökologie« letztlich nicht wesentlich von der »Ontologie« gleicher Farbe
- oder vielmehr gleicher fehlender Farbe - unterscheidet. Sie ist eine
Spekulation über das Sein an sich, allerdings betrifft dieses »an sich« die
unmittelbare Verbindung des Seins mit dem Hier und Jetzt, d. h. die
Situiertheit des Seins in dieser Welt. Die Welt der Erdanziehung ist zwar
zugleich für das Gewicht und das Maß dieses Seins verantwortlich,
umgekehrt aber auch für seinen Willen, sich der Schwere mittels Abflug
zu entziehen, mit anderen Worten, den Willen zum Ausreißversuch eines
Falls nach oben, jenseits der den Menschen auferlegten geophysikali-
schen Grenzen. Die Überwindung jedes »Trägheitswiderstandes« gleicht
den Menschen einem Engel und das Sein einem Vogel an, denn, wie
jeder aus eigener Erfahrung weiß: »Alles, was nicht fällt, fliegt. «

Dennoch gibt es eine unantastbare Grenze für diese historische


Befreiungsbewegung, und zwar die ihrer
BESCHLEUNIGUNG.
Trotz der jüngsten Errungenschaft dessen, was die Astrophysiker als
FLUCHTGESCHWINDIGKEIT bezeichnen, stellt die
Beschleunigung, mit deren Hilfe es dem Menschen möglich ist, sich
von seinem Lebensraum zu lösen, nicht die erwartete »Befreiung« dar.
Diese ist nämlich nur denkbar als effektive Befreiung von jeder Art

- 96 -
der Fortbewegung, d. h. durch den Einsatz der Konstante der
Lichtgeschwindigkeit in der Leere, die Verwirklichung der ECI-
ITZEITNIAUER, an der die Menschheit, nachdem sie erfolgreich die
Schall- und die Hitzemauer durchbrochen hat, schließlich eine
Verhaltensträgheit erreicht, durch die sie ihre Engelattribute, ihre
»Flügel«, einbüßt und die sie in eine zwar relative, aber in bezug auf ihr
Verhältnis zur Welt der physischen Erfahrung endgültige Totenstarre
fallen (absinken) läßt.

Abschließend möchte ich eine zeitgenössische Erzählung zitieren, die


von diesem unerwarteten »Ende der Welt« handelt: »Während meines
Flugs durch den Raum hatte ich das eigenartige Gefühl, daß sich die
Zeit zusammenzieht, so als sei die Geschwindigkeit dafür verantwortlich,
die Augenblicke, die ich in der Kapsel verbrachte, zusammenzupressen.
Ich hatte immer den Eindruck, als würden die Ereignisse auf mich
zurasen wie Tontauben in einem Schießstand und als würde ich von
einem Ereignis zum nächsten stürzen« notiert Scott Carpenter in dem
Tagebuch seiner Reise auf der Erdumlaufbahn mit einer
Geschwindigkeit von 27 00o km/ h. Die neue Form des Zappens, die er
hier beschreibt, ist kein Fernseh-Zappen mehr, sondern ein visuelles
Zappen.

- 97 -
Kontinentalverschiebung
»Nichts ist von größerer Weite als die leeren
Dinge. « Francis Bacon

Selbst im Rahmen der Raumordnung setzt sich nunmehr die »Zeit«


gegenüber dem »Raum« durch. Allerdings handelt es sich hierbei nicht
mehr wie einstmals um eine chronologische, d. h. lokale Zeit, sondern
um eine universale Weltzeit, die sowohl dem lokalen Raum der
ländlichen Organisationsform einer Region als auch der Gesamtfläche
eines Planeten entgegensteht, der sich in einem Prozeß der
Homogenisierung befindet.
Der Übergang von der Urbanisierung des Realraums der
Ländergeographie zur Urbanisierung der Echtzeit der internationalen
Telekommunikation führt dazu, daß der »Welt-Raum« der Geopolitik
seine strategische Vorrangstellung Schritt für Schritt an die »Welt-Zeit«
einer chrono-strategischen Nähe abtritt, die weder Aufschub duldet noch
über einen Antipoden verfügt.
Allerdings bedingt die Metropolitik, die aus dieser plötzlichen
Einzigartigkeit der Welt-Zeit der unmittelbaren Telekommunikation
hervorgeht, das Auftauchen einer letzten Form des Unfalls: Während die
Menschen mit dem Primat der lokalen Raumzeit noch der Gefahr eines
spezifischen und genau zu situierenden Unfalls ausgesetzt waren, sind
wir alle mit dem Anbruch der Welt-Zeit der Gefahr eines allgemeinen
Unfalls ausgesetzt (genauer gesagt, wir laufen Gefahr, durch ihn der
Überbelichtung ausgesetzt zu sein). Die Delokalisierung von Aktion und
Reaktion (Interaktion) bedingt notwendigerweise die Delokalisierung
jeder Form von Unfall.
Schließlich läßt sich sagen, daß durch die elektroma

- 98 -
gnetischen Übertragungsmöglichkeiten von Bildern, Tönen und Daten
der Verkehrsunfall eine Zukunft hat, da wir neben den klassischen
Eisenbahn-, Flugzeug-, Schiffs- oder Autounfällen schon bald miterleben
werden, daß der Unfall der Unfälle aufkommt. Anders gesagt, wir
werden es mit der Verbreitung des allgemeinen Unfalls zu tun haben, der
das Ausmaß des beschränkten Verkehrsunfalls im Zeitalter der
Revolutionierung der Transportmittel bei weitem übersteigt.

Man kann sagen, daß die atomare Katastrophe von Tschernobyl in


gewisser Weise eine Vorwegnahme des zukünftigen großen Unfalls war.
Genauso wie sich seinerzeit die Radioaktivität ungehindert von Ost nach
West ausbreiten und dabei fast den gesamten Kontinent atomar
verseuchen konnte, stellt das elektromagnetische Übertragungssystem
der Interaktivität zukünftiger Datenautobahnen ein Phänomen von globa-
ler Tragweite dar.

Ohne die (einst göttlichen, nunmehr jedoch menschlichen Attribute der)


Unmittelbarkeit und Allgegenwart der Aktion und Reaktion hätte es das
Risiko, unbeabsichtigt einen allgemeinen Unfall zu verursachen, niemals
gegeben. Mit anderen Worten: den historischen Zwischenfall des
Übergangs vom Primat der lokalen Zeit des Tuns und Treibens eines
jeden Menschen im Hier und Jetzt zur globalen Zeit der allgemeinen
Interaktion aller, und das gleichzeitig, hätte es nicht gegeben.
Dieses Phänomen, das, außer in der Theologie und der Astrophysik, nie
zuvor dagewesen ist, geht Hand in Hand mit der allgemeinen
Verbreitung des theoretischen Begriffs der INFORMATION auf Kosten
der praktischen Begriffe von MASSE und ENERGIE, die die Geschichte
hervorgebracht haben.

- 99 -
Indem durch die Verallgemeinerung der Information in Echtzeit
implizit die »historische« Zeit der POLITIK - genauer gesagt, der
Geopolitik - zum ausschließlichen Vorteil der » anti-historischen« Zeit
der MEDIEN zerstört wird, verursacht sie einen radikalen Bruch, mit
dem verglichen die industrielle Revolution ein Ereignis von
nachgeordneter Bedeutung war.
Angesichts der Tatsache, daß schon bald die Geschichte und die
Geographie nicht mehr das sein werden, was sie einmal gewesen sind,
nämlich die notwendigen Grundlagen jedes zukunftsorientierten
Denkens, wie sollte man da noch beabsichtigen, die Zukunft
vorherzusehen?
Wie sollte es noch möglich sein, irgendwelche Schlüsse aus
»statistischen Tendenzen« zu ziehen, wo wir doch schon jetzt den Druck
eines nie dagewesenen zeitlichen Umbruchs zu spüren bekommen und in
der Furcht vor einem kurz bevorstehenden gesellschaftlichen Krachs
leben, dessen Vorzeichen mit den Auswirkungen der strukturellen
Massenarbeitslosigkeit und dem Zerfall der familiären Strukturen bereits
hier und da erkennbar sind?
In der Tat bedingt schon die globale Metropolitik der zukünftigen
Informations-Datenautobahnen von sich aus den Beginn einer
Gesellschaft, die nicht mehr ausschließlich zwischen Nord und Süd
geschieden ist, sondern darüber hinaus zwischen zwei verschiedenen
Zeitlichkeiten, zwei Geschwindigkeiten: einer absoluten und einer
relativen Geschwindigkeit. Der Graben zwischen entwickelten und
unterentwickelten Ländern wird sich über alle fünf Kontinente erstrecken
und zu einem noch radikaleren Bruch zwischen solchen Ländern führen,
deren wirtschaftliche Aktivitäten größtenteils im Rahmen der Echtzeit
der virtuellen Gemeinschaft der globalen Stadt stattfinden, und jenen
Ländern, die, ärmer als je zuvor, weiterhin im Real

- 100 -
raum der lokalen Städte verweilen. Diese Städte werden sich zu einer
Art Vorstadt planetaren Ausmaßes entwickeln, die in Zukunft die sehr
reale Gemeinschaft derjenigen beherbergen wird, die weder über eine
Arbeit noch über entsprechende Wohnverhältnisse verfügen, die eine
harmonische und dauerhafte Sozialisierung ermöglichen. Während Paul
Valery einst erklärte: »Es beginnt die Zeit der endlichen Welt«, müssen
wir heute erkennen, daß das Gegenteil der Fall ist: Es beginnt die Welt
der endlichen Zeit (der Welt-Zeit).
Gleiches gilt für die philosophische Begrifflichkeit. War für die
modernen Philosophen die Substanz notwendig und der Zufall relativ
und kontingent, so findet nach Meinung der postmodernen Philosophen
eine genaue Umkehrung der Begriffe statt, denn der Zufall wird absolut
und die Substanz, jegliche Substanz, relativ und kontingent.

Wie eine gewaltige Implosion breitet sich der Kreislauf des allgemeinen
Unfalls der Kommunikationstechnologien aus und bringt jede Substanz
zum Fließen, so daß es zu einer Interaktion im globalen Maßstab kommt.
Allerdings ergibt sich hieraus für die Substanz die Gefahr, ausgelöscht
zu werden und vollkommen zu verschwinden, wobei es ihr nicht anders
ergeht als einer Weltwirtschaft bzw. einem Welthandel, dessen
Delokalisierung der Produktion aufgrund der hohen Mobilität der
miteinander konkurrierenden Produkte zusätzlich begleitet wird von der
plötzlichen Delokalisierung ihrer Ansiedlung, die aus den Distributions-
prinzipien des maximalen Warenflusses ohne jeden Lagerbe
stand resultiert.
Um dies zu veranschaulichen, möchte ich das Beispiel eines
Bekleidungsunternehmens anführen, das an der Grenze zwischen den
französischen Departements Maine und Loire-Atlantique ansässig ist.

- 101 -
Als dieses Unternehmen im Jahre 1988 bereits die ersten
Auswirkungen der Globalisierung der Märkte zu spüren bekam,
entschied sich der verantwortliche Manager dazu, einen Teil der
Produktion nach Südeuropa, genauer gesagt, nach Portugal, zu
verlagern'. Ein Jahr später, nachdem die Löhne in Portugal um 15%
gestiegen waren, wurde der französische Unternehmer bei seiner Suche
nach günstigeren Lohnverhältnissen in Marokko fündig und machte den
Sprung über die Meerenge von Gibraltar, wodurch er den Preis seiner
Erzeugnisse zwar unter denjenigen seiner direkten Konkurrenten
drücken konnte, gleichzeitig aber alle seine französischen Zulieferer in
größte Schwierigkeiten brachte.
In Marokko beschäftigte die Firma nahezu 300 Menschen, so lange,
bis der unvermeidliche Anstieg der Lohnkosten unseren Unternehmer
dazu veranlaßte, 1992 zum großen Sprung nach Asien anzusetzen und
Kleidung aus Korea zu importieren, die in Bangladesh gefertigt wurde.
Im Jahre 1993 wurde er schließlich in Vietnam, wo die Armee ihre
Soldaten gewissermaßen als Zwangsarbeiter einsetzte, auf Werkstätten,
d. h. eher auf Kasernen, aufmerksam, wo die Arbeit gerade einmal mit
umgerechnet 6o Pfennigen pro Stunde entlohnt wurde. Aber es war
bereits zu spät, denn die großen Aufkäufer waren vor ihm zur Stelle und
blokkierten endgültig jede echte Konkurrenz.
Die hier beschriebenen Wechselfälle, die genauso eindrucksvoll sind
wie die Fabel vom Wettlauf zwischen dem Hasen und dem Igel,
veranschaulichen aufs beste die Entwicklung von Unternehmen im
postindustriellen Zeitalter.
Da die Geschäftslogistik im Dienste des Verbrauchers sich auf Kosten
der Arbeiter gegen die Unternehmensstrategie durchsetzt, scheitert
letztlich das industrielle Unternehmen. Die beschleunigten Waren

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flüsse im Rahmen der globalen Delokalisierung der Märkte führen - wie
jede zu lange Zeit beanspruchende militärische Operation - zu einer
Auszehrung der Kräfte der betroffenen Firma, und aufgrund einer
spezifischen medialen Gesetzmäßigkeit führen sie sogar zum Untergang
des Handels an sich. Am zukünftigen Zusammenbruch der
postindustriellen Produktionsformen besteht deshalb kein Zweifel, weil
der fortschreitende Zerfall der kleinen und mittleren realen Unternehmen
sich allmählich auch auf die multinationalen Unternehmen und
schließlich sogar auf die mächtigen virtuellen Monopole auswirkt.

»Wenn die Wissenschaft gelernt haben wird, es einzubringen, dann


gelingt ihr Stück für Stück die Reintegration dessen, was sie zunächst als
subjektiv ausgegrenzt hat. Allerdings integriert sie es als Sonderfall der
Beziehungen und Gegenstände, die für sie die Welt definieren. Folglich
verschließt sich die Welt in sich selbst, und wir werden zu einem Teil
oder Moment des großen Objekts geworden sein«, schrieb Maurice
Merleau-Ponty gegen Ende seines Lebens.
In zwanzig Jahren, wenn durch die Globalisierung der Planet in sich
selbst eingeschlossen sein wird wie eine reife Frucht, wie sollte es dann
noch möglich sein, die Entwicklung der geopolitischen Ordnung
beispielsweise des französischen Territoriums im Rahmen des
europäischen Kontinents vorherzusehen, wo doch die (interaktive)
Metropolitik der Telekommunikation die Herrschaft der Echtzeit
ausgedehnt haben wird und sämtliche Entfernungen des Realraums
schließlich dem Fehlen jeder zeitlichen Frist einer sich verallge-
meinernden Interaktion weichen?
Wie hat man sich im Anschluß an das » no man's

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land« der versteppten Landstriche die »no man' s time« eines Planeten
vorzustellen, wo der Zwischenraum des lokalen Raums der Kontinente
seine Vorrangstellung an die Schnittstelle der Welt-Zeit der
Datenautobahnen abgetreten hat?
Erinnern wir uns daran, daß auf der Grundlage des »Gesetzes des
geringsten Aufwandes«, das schon immer die Entwicklung der
technischen Wissenschaften bestimmte, drei aufeinanderfolgende Arten
von Nähe entstanden sind, die ihrerseits die geopolitische Geschichte
entscheidend beeinflußten. Zunächst war es die metabolische Nähe, dann
die durch die Revolution der Verkehrsmittel bedingte mechanische Nähe
und schließlich die auf der Revolution der Übertragungstechniken
basierende elektromagnetische Nähe. Ihre Besonderheit besteht darin,
daß sie der Erfahrung der realen zwischenmenschlichen Nähe
entgegenwirkt und damit gleichzeitig die originär politische Fähigkeit
unterläuft, die Bevölkerung - eines Landes oder einer Stadt - an einem
Ort zu versammeln. Dank des Kunstgriffs einer virtuellen Nähe, die nicht
mehr der unmittelbaren und konkreten Präsenz der Menschen bedarf,
begünstigt sie vielmehr die Zusammenkunft telepräsenter
Gesprächspartner, die sich in großem Abstand voneinander befinden.
Bildete die unmittelbare und konkrete Präsenz die Grundlage der
Geopolitik der Nationen, so führt die Telepräsenz zu einer Metropolitik
der Unmittelbarkeit, dieser Frucht der Urbanisierung der Zeit der
Telekommunikationstechnologien, die auf die Urbanisierung des Raums
der Regionen folgt.
Die Art der METROPOLITISIERUNG, die wir im nächsten
Jahrhundert zu befürchten haben, besteht also weniger in der
Konzentration der Bevölkerung in dem einen oder anderen »städtischen
Netz« als vielmehr in der Hyperkonzentration der Welt-Stadt, der
virtuellen

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Stadt der Städte, für die jede reale Stadt letztlich nichts anderes wäre als
ein Stadtbezirk, eine OMNIPOLITANE2 Peripherie, deren Zentrum sich
nirgendwo und deren Peripherie sich überall befände. Die zukünftige
Gesellschaft zerfällt in zwei gegensätzliche Teile: der eine Teil lebt im
Rhythmus der Echtzeit der Welt-Stadt, innerhalb der virtuellen
Gemeinschaft der Wohlhabenden, wohingegen der andere Teil an den
Rändern des Realraums der lokalen Städte noch verarmter dahinvegetiert
als heute bereits die Menschen in den Elendsvierteln der Großstädte in
der Dritten Welt.

Angesichts dieser plötzlichen Aufspaltung des Faktischen in »Realität«


und »Virtualität«, bei der die Ferne die Oberhand über die Nähe
gewinnt, machen die traditionellen Kategorien des Liberalismus
einerseits und des Autoritarismus andererseits einen beachtlichen Be-
deutungswandel durch: Da die mediale Darstellung die klassische
politische Vertretung der Nationen vollkommen in den Schatten stellt,
wird schon bald der BÜRGER dem ZEITGENOSSEN weichen.;
Da der Bürger darüber hinaus nur im Rahmen des Rechts der konkreten
Realität der Polis bzw. der kolonialen oder nationalen Gebilde auch
tatsächlich Bürger war, resultiert aus dem sich ankündigenden Unter-
gang der Realität der Gemeinschaft lokaler Städte zugunsten der
diskreten Virtualität der Welt-Stadt der Zerfall der territorialen
Grundlage des Rechtsstaates, so daß es zu einer übermäßigen
Begünstigung der GLEICHZEITIGKEIT auf Kosten der
STAATSRÜRGERSCHAFT kommt. Mit anderen Worten, die
metropolitische Virtualität der LIVEÜBERTRAGUNG obsiegt über die
geopolitische Aktualität der STADT.
Unter diesen durch und durch »exzentrischen« oder, wenn man So
Will, OMNIPOLITANEN Bedingungen werden schon bald die
unterschiedlichen gesellschaftli

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chen und kulturellen Realitäten, die gegenwärtig noch den Reichtum der
Nationen ausmachen, einer Art STEREO-REALITÄT weichen, bei der
sich die Interaktion der Austauschformen nicht mehr von den heutigen
automatisierten Verbindungen zwischen den Finanzmärkten
unterscheiden. Hierbei handelt es sich letztendlich um Verfahren, die
sehr viel Ähnlichkeit mit denjenigen der kybernetischen Systeme
aufweisen und die einst von Leuten wie Norbert Wiener kritisiert
wurden, weil sie eine Tyrannei der Information befürchteten.

An dieser Stelle möchte ich einige Erscheinungen beschreiben, mit deren


Hilfe sich die oben gemachten Analysen veranschaulichen lassen: Im
Januar 1994 kündigte IBM an, seinen Firmensitz in der Nähe von New
York aufzugeben. Diese plötzliche Entscheidung eines so großen
Unternehmens, sich im Nirgendwo anzusiedeln, scheint eines der
wichtigsten Symptome für die grundlegende Veränderung darzustellen,
von der vermutlich schon bald sämtliche Arbeitsplätze im eigentlichen
Sinne des Wortes betroffen sein werden, d. h. nicht nur die Fabrik oder
die Büros, sondern die Bedeutung des Stadtzentrums überhaupt. Schon
heute tragen mehrere Faktoren zu dieser postindustriellen Veränderung
bei. Auf der einen Seite die Globalisierung der Wirtschaft, der sich die
Notwendigkeit einer Wiederaufwertung der Unternehmensstrategien ver-
dankt und die, wie zu sehen war, sowohl zu einer Umstrukturierung als
auch zum Abbau des Personalbestandes führte. Andererseits - und
zeitgleich hiermit - die Entwicklung der Kommunikationstechnologien,
die die Ausführung der Aufträge an jedem beliebigen Ort ermöglichen.
Mit der allgemeinen Durchsetzung dieser interaktiven Technologien
müssen in Zukunft eine ganze Reihe

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der überkommenen Vorstellungen zur Beschäftigung und Schichtarbeit
neu überdacht oder sogar verworfen werden. Insbesondere gilt dies für
die Vorstellung von einer zwangsläufigen Konzentration der Masse der
Arbeitskräfte in den Städten bzw. ihrer Umgebung, denn die
NETZARTIGE Struktur der internationalen Telekommunikationsnetze
ersetzt die ZENTRALISTISCHE Struktur der räumlichen Organisation
in den Metropolen.

Auch wenn die Informationsverarbeitung schon immer im Zentrum der


industriellen Verwaltung gestanden hat, so ist es doch offensichtlich, daß
im postindustriellen Zeitalter die außerordentlich leistungsstarken
Informationsverarbeitungssysteme in Echtzeit die klassischen
Verwaltungsbüros verdrängen. In der heutigen Zeit, wo »ein Büro aus all
den Orten besteht, die man persönlich oder nur gedanklich, allein oder
mit mehreren Personen gemeinsam aufsucht«4, ist der Sitz einer Firma
nichts anderes mehr als der Knoten eines Netzes, das dazu dient, die
Informationsübertragung an verstreute Geschäftseinheiten zu
vereinfachen, die ihre Entscheidungen immer häufiger selbständig tref-
fen.
Aus diesem Grunde wird gegenwärtig an der Entwicklung von
Gruppen-Software gearbeitet, die die gleichzeitige Teilnahme einer
fast unbegrenzten Anzahl von Anwendern an Datennetzen vom Typ
INTERNEr ermöglicht, das vor ungefähr fünfzehn Jahren vom
Pentagon lanciert wurde.
Gleichzeitig regen einige internationale Unternehmen ihre Mitarbeiter
vermehrt dazu an, ihre Arbeit dort zu erledigen, wo sie sich gerade
befinden, und nur noch den geringsten Teil ihrer Arbeitszeit am Firmen-
sitz selbst zu verbringen. Diese Kategorie der sogenannten »mobilen
Mitarbeiter« nimmt ihre Büroarbeit

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mit zum Flughafen, ins Flugzeug, ins Auto oder ins Hotel, wobei dieser
Vorgehensweise der Gedanke zugrunde liegt, daß die Mitarbeiter sich
lieber an Ort und Stelle befinden und direkten Umgang mit den Kunden
haben sollen, als im Büro zu sitzen und Akten zu ordnen.
Auf diese Weise entsteht eine Art »Geschäftstourismus«, der noch
verstärkt wird durch die immer weiter verbreiteten »Subunternehmer-
Verträge«, die man einigen Führungskräften unter Androhung ihrer Ent-
lassung aufzwingt. Und so arbeiten diese Führungskräfte mit ihrer
telematischen Ausrüstung dann auch nur noch für wenige Stunden oder
allerhöchstens einige Tage in den Hotels, Videokonferenz-Zentren oder
Ausstellungshallen internationaler Fachmessen dieser Welt.
Angesichts der Begeisterung für die »Videokonferenz« einerseits und
des wachsenden Rückgangs der Passagierzahlen im Luftverkehr
andererseits werden solche Stimmen immer deutlicher vernehmbar, die
zu verstehen geben, daß man »wahrscheinlich bessere Geschäfte machen
könnte, wenn man sich von den Geschäften entfernt«', gerade so, als
wäre der Zerfall der nachbarschaftlichen Beziehungen (las Pfand für den
kommerziellen Erfolg!
Wenn es durch die Techniken der Telearbeit zu einer Auflösung des
Verhältnisses zwischen den Angestellten und ihrer Firma kommt, dann
werden in der Tat sowohl der 8-Stunden Tag als auch die spezifisch
geographischen Zwänge der Fabrik zu überholten gesellschaftlichen
Konzepten. Die Gesten und Orte, die noch eine Verbindung herstellten
zwischen Angestellten und Gewerkschaften und ihren unterschiedlichen
Stellungen innerhalb der Hierarchie der industriellen Arbeit letztlich
noch so etwas wie einen Ausdruck bzw. Rahmen verliehen, erscheinen in
Zukunft wie unnütze

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Rituale. Mit Sicherheit weisen die große Mobilität und die Allgegenwart
der Telearbeit gewisse Vorzüge auf, aber sie haben auch eine ganze
Reihe von großen Nachteilen, insbesondere den, daß es nicht mehr mög-
lich ist, zwischen Freizeit und bezahlter Arbeitszeit zu unterscheiden.
Somit besteht die Gefahr, daß die Arbeitszeit die gesamte Privatsphäre
und die Zeit erfaßt, über die man frei zu verfügen glaubte.
Schließlich übernimmt mit der letzten, weniger internen als vielmehr
externen Form von Taylorismus jede der Strukturen des postindustriellen
Unternehmens unter dem dauernden zeitlichen Druck der geschäftlichen
oder börsianischen Ereignisse sowohl im Produktions- als auch im
Distributionsbereich eine genau festgelegte Rolle, um das oberste Ziel
der Hyper-Produktivität zu erreichen.
Da die Segmentierung der geographisch zersplitterten Aktivitäten aus
dem unmittelbaren Charakter der Auftragserteilung resultiert, besteht das
Problem nicht mehr so sehr in der Organisation des Realraums sowie der
lokalen Zeit der Fabrik, sondern in der Verwaltung der Echtzeit des
globalen Raums der Reaktivität auf die Anforderungen der Auftraggeber.
Anders gesagt, um den Bedürfnissen einer HyperReaktivität auf die
Fernsteuerungen der nunmehr aus Zappern bestehenden Kundschaft
überhaupt noch nachkommen zu können, bedingt die Organisation der
postindustriellen Ausbeutung nach dem Prinzip des »maximalen
Warenflusses ohne jeden Lagerbestand« die Durchsetzung eines
Produktionstaktes, der schon bald zur Entstehung einer strukturellen
Massenarbeitslosigkeit und zur Durchsetzung einer GLOBALEN
ROBOTIK führt.

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»Die Effizienz des elektronischen Geldes basiert auf seiner Masse, die
sich durch seine Zirkulationsgeschwindigkeit vergrößert«, erklären heute
die Spezialisten eines automatisierten Börsensystems, das immer
häufiger eine Art »virtuelle Blase« erzeugt, die zwar nicht dazu in der
Lage sein mag, den Markt zu degenerieren, wohl aber, den
wirtschaftlichen Ressourcen von immer mehr Ländern erhebliche
Schäden zuzufügen. Im Anschluß an die Herrschaft der Masse und der
Energie herrscht nun die Information, diese dritte Dimension der
Realität, und damit ergibt sich die unglaubliche Möglichkeit eines neuen
Typs von Schock: des Informationsschocks". Jeder Staat versucht, sich
dagegen zu schützen, da es sich hierbei um die Bedrohung von den
Ausmaßen eines echten »Staatsstreichs« handelt, den nicht mehr
irgendein dahergelaufener politischer Diktator anzettelt, sondern der
betrieben wird von der souveränen Tyrannei eines Computersystems, das
dazu fähig ist, jeden Staat total zu destabilisieren.

Sobald die Information über den Finanzmarkt in Echtzeit wichtiger wird


als die Geldrnasse, noch wichtiger sogar als die Materialität des alten
Goldstandards und die Territorialität des Realraums einer Nation, wie
sollten da noch verläßliche Aussagen über die zukünftige geographische
Raumordnung möglich sein, wenn wir uns weiterhin weigern, endlich
die Zeitordnung, zumindest aber die demokratische Kontrolle ihres wirt-
schaftlichen und politischen Gebrauchs ins Auge zu fassen?
Nachdem die Vereinigten Staaten den zukünftigen »allgemeinen
Unfall« der Weltwirtschaft um weniges vorausgedacht haben, wurde dort
nach den mit der Sicherheit des Territoriums betrauten Regierungsor-
ganen eine Institution ins Leben gerufen, deren ausschließliche Aufgabe
darin besteht, die ökonomische

- 110 -
Sicherheit ihrer nationalen Interessen zu garantieren, um so die durch
den technischen Integrismus der Datenfernübertragungstechniken
verursachten Schäden auszugleichen.

Kehren wir aber zu unserem Alten Kontinent zurück. Die fünfzehn


Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind offenbar fest entschlossen,
so schnell wie möglich ein transeuropäisches Verkehrsnetz in Betrieb zu
nehmen. Wie ist es angesichts dieser Tatsache um den Begriff der
Raumordnung bestellt? Läßt sich sagen, daß die Europäische Union eine
Geopolitik betreibt, deren Ziel in der Zurückgewinnung eines
transnationalen Territoriums besteht, das nicht nur einem Auflö-
sungsprozeß ausgesetzt ist, sondern auch versteppt? Oder handelt es sich
vielleicht im Gegenteil nicht viel eher um den Versuch der
gemeinschaftlichen Ausarbeitung einer » Metropolitik« mit dem Ziel,
den Einfluß der »städtischen Archipele« auf das Land noch zu
vergrößern und somit die Einheit der Zeit der Städteverbindungen auf
Kosten der Einheit des Ortes der Entfernungen auf dem Land noch
stärker zusammenzuziehen?

Es ist allgemein bekannt, daß gegenwärtig die Bedeutung der Entfernung


-jeder Art geographischer Entfernung - gegenüber der ökonomischen
Bedeutung der Dauer zurücktritt. Demzufolge besteht das Problem der
Raumordnung unserer Erdoberfläche weniger in der Organisation der
europäischen Landschaftsoberfläche als vielmehr in ihrer Zeitordnung:
Ich meine hier die Echtzeit, die mit den Besonderheiten des Realraums
der Regionen auch die Realität ihrer Kulturen auslöscht ... Wie anders
ließe sich die jüngste

- 111 -
europaweite Preissenkung auf den internationalen Fluglinien bei
gleichzeitiger Verteuerung der Inlandsflüge erklären? Das gleiche gilt für
die anhaltende Preissenkung für die Nutzung weltweiter Fernmelde-
leitungen bei gleichzeitiger Verteuerung der Ortstarife.
Angesichts der im Augenblick überall betriebenen Durchsetzung einer
globalen Zeit der internationalen Transaktionen sowie der kurz
bevorstehenden Einrichtung von »Datenautobahnen«, deren Zweck darin
besteht, die weltweite Ausbreitung der Echtzeit der Infor-
mationsübertragung sicherzustellen, springt einem die gleichzeitige
Virtualisierung des Realraums der Regionen und Länder sowie das
Zusammenschmelzen des europäischen Raums geradezu ins Auge, denn
die aus der unaufhörlichen Datenflut zwischen Amerika und Europa
bestehende Immaterialität der »Telekontinente« bringt unseren Alten
Kontinent zum Verschwinden.
Wenden wir uns aber wieder der europäischen Großbaustelle sowie der
politischen Bedeutung dieses ersten Programms zum Ausbau der
europäischen Infrastrukturen zu. Der Bau von Brücken und Straßen, das
Graben von Tunneln, die permanente Erweiterung von Schienen- und
Autobahnnetzen machen deutlich, daß es ausschließlich um eine
Vergrößerung der Leistungsfähigkeit des Territoriums geht, um so die
Fortbewegungsgeschwindigkeit von Menschen und Gütern zu erhöhen.
Da das aus dem Straßen- oder Schienennetz bestehende große
»statische Vehikel« die Beschleunigung der sie benutzenden kleinen
»dynamischen Vehikel« begünstigt, ermöglicht es sowohl ein
ungehindertes Fließen des Verkehrs als auch das baldige Verschwinden
des Widerstandes der geographischen Beschaffenheit einer Nation, die
immer schon dem Fortkommen

- 112 -
der beweglichen Körper im Wege stand. Außerdem beseitigt dieses
»statische Vehikel« auch die topographischen Unebenheiten - Hügel
oder tiefe Täler -, die einstmals die Größe und Besonderheit der
durchquerten Regionen ausmachten, und all das zum ausschließlichen
Nutzen eines maßlos anwachsenden großstädtischen Ballungsraumes,
der ohne weiteres nicht nur die Aktivität eines ganzen Landes absorbiert,
sondern auch den wesentlichen Bestandteil der Macht der europäischen
Nationen. Das gegenwärtige Verschwinden der institutionellen und der
natürlichen Grenzen führt demzufolge zur völligen Nivellierung des
Abstandes, der früher einmal die Völker Europas von den jeweils
anderen Nationen trennte. Auch das geschieht zum ausschließlichen
Nutzen einer weniger topischen und territorialen als vielmehr
teletopischen und extra-territorialen Metropole, bei der die
geometrischen Begriffe des städtischen »Zentrums« und der städtischen
»Peripherie« langsam aber sicher ihre soziale Bedeutung einbüßen.
Gleiches gilt übrigens für die Begriffe »rechts« und »links« bezüglich
der Bestimmung einer politischen Identität, denn im Zeitalter der
Immaterialität der Netze bieten sich die MEDIEN als mögliche Alter-
native zur Politik der Parteien des Zeitalters der unmittelbaren
Kommunikation an.

Anhand des jüngsten schweizer Projekts, ein Nachfolgemodell mit der


Bezeichnung Swiss METRO für das alte »Intercity«-Eisenbahnnetz zu
entwickeln, läßt sich dieses zugleich monopolisierende und bündelnde
Phänomen ausgezeichnet veranschaulichen.
In der Zeit nach den Hochgeschwindigkeitszügen und bis zur Serienreife
des deutschen »Transrapid« hat die Schweizerische Eidgenossenschaft
mit dem

- 113 -
Vorschlag, ihre alten Eisenbahnlinien durch eine Untergrundbahn zu
ersetzen, die mit einer Geschwindigkeit von 40o kmlh in einem Tunnel
verkehrt, der die neun größten schweizer Städte miteinander verbindet,
die Logik der Untergrundbahn zu Ende gedacht.
Diese als Swiss Metro bezeichnete Magnetschwebebahn, die in einer
luftleeren Röhre verkehrt und von in regelmäßigen Abständen an den
Tunnelwänden angebrachten »Statoren« (lineare Elektromotoren) ange-
trieben wird, könnte somit als eine Weiterentwicklung des gegen Ende
des Zweiten Weltkrieges entstandenen Vorhabens zum Bau einer
»elektrischen Kanone« zu verstehen sein. Dieses ursprünglich von den
Deutschen entwickelte Explosivgeschoß, mit dem vom nord-
französischen Pas-de-Calais aus England bombardiert werden sollte,
fände folglich in einem 200 Meter langen U-Bahn-Zug seinen
Nachfolger. Jede der auf die beschriebene Weise miteinander
verbundenen Städte verlöre bald schon ihren Status als Hauptstadt eines
Kantons, um zu so etwas wie einem einfachen Stadtviertel der Schweiz
zu werden, die sich ihrerseits mit einem Mal in eine weniger politische
als vielmehr metropolitische »Hauptstadt der Hauptstädte« verwandelt
hätte.

Wie schon bei der Erfindung der Untergrundbahn im ig. Jahrhundert


besteht das Ziel dieses im wesentlichen durch den Bau des Kanaltunnels
angeregten futuristischen Projekts offenbar immer noch darin, alles von
der
Erdoberfläche verschwinden zu lassen, was dem Verkehr im Weg steht.
Zur Zeit von Fulgence Bienvenüe, dem »Vater der Pariser Metro«, war
es die zu groß gewordene Anzahl an Kutschen, und heute, zur Zeit der
Swiss Metro, ist es eben die Bergkette der Alpen.
Das niemals ausreichend glatte und ausreichend versteppte feste
Element der Erdoberfläche scheint nun

- 114 -
mehr also der Beschleunigung des Verkehrs im Wege zu stehen. So
entstand in Italien die Idee, die Autobahnen mit Hilfe von Wasserbahnen
zu entlasten, das heißt durch die Einrichtung von mehreren Linien für
Autofähren entlang der italienischen Halbinsel. Diese beinahe ioo km/h
schnellen Boote, die kaum die Wasseroberfläche berühren, ergänzen
somit den »Tunneleffekt« der Europa durchziehenden Hochge-
schwindigkeitszug-Verbindungen um einen »Oberflächeneffekt«.

Wenn wir jetzt einmal die allerjüngsten Entwicklungen bei den Rennen
in der Formel 1 betrachten, so stoßen wir hier auf dasselbe Phänomen.
Nach dem tödlichen Unfall des dreimaligen Weltmeisters Ayrton Senna
hält man einen Großteil der Rennstrecken für veraltet, da ihre Kurven
und Streckenbeläge zu gefährlich sind für die superschnellen Rennautos.
Hieraus erklärt sich der Versuch der Verantwortlichen, mit der
Fernsteuerung der Fahrzeuge von den Rennboxen aus so etwas wie eine
Fahrhilfe für die Piloten zu entwickeln. Schließlich sind die Rennwagen
der Formel 1 bereits bestückt mit einer Vielzahl von Sensoren, die den
Fahrer vor allem in den Kurven dabei unterstützen, Unfälle zu
vermeiden, die auf die Gravitationskraft zurückzuführen sind.
Wenn sogar schon Hochgeschwindigkeits-Rennstrecken wie die von
Imola in Italien unter Zwangsverwaltung gestellt und gesperrt werden,
weil sie zu gefährlich sind, dann ist wohl davon auszugehen, daß sich
bald schon alle Straßen und Autobahnen nicht nur verdächtig machen,
sondern zu guter Letzt auch überflüssig gemacht werden, und zwar
gerade durch die fatale Leistungsfähigkeit der Rennautos, bei denen es
sich weniger.um »Automobile« im eigentlichen Sinne handelt als
vielmehr um rollende Prüfstände (Testwa

- 115 -
gen), deren Aufgabe darin besteht, Motoren für eine Automobilindustrie
zu testen, die sich am Rande einer Krise bewegt. Das Autodafe der
Automobile in Imola sowie der Tod Ayrton Sennas läuten nicht nur das
Ende der kurvenreichen europäischen Rennstrecken ein (wovon die viel
spektakuläreren amerikanischen Rennstrecken profitieren), sondern
dasjenige des Autos überhaupt, dem bereits der Zugang zu zahlreichen
Städten verwehrt bleibt. Dies kommt in erster Linie den kleinen
Elektroautos zugute, die nichts anderes sind als echte Prothesen für
Gehbehinderte!

»Das Flugzeug hat uns gelehrt, was die gerade Linie ist«, schrieb
Antoine de Saint-Exupery einmal. Die
Tele-Informatik wird uns eines Tages lehren, was der Punkt, der rasende
Stillstand des toten Punktes ist.
Es ist eine Tatsache, daß die Herrschaft der Autonomie der privaten
Verkehrsmittel abgelöst wird durch die der superschnellen öffentlichen
Verkehrsmittel. Trotz des bevorstehenden Baus eines »transeuropä-
ischen« Verkehrsnetzes neigt sich ein Zeitalter seinem Ende entgegen.
Auch die geplanten Autobahnen von Berlin nach Warschau, von Athen
und Saloniki an die türkische Grenze oder von Lissabon nach Valladolid
ändern nichts daran.
Genauso wie die Geopolitik die römischen Straßen oder später die
Autobahnen benötigte, so sind elektronische Datenautobahnen und
Satellitennetze, mit denen die Zeiteinheit einer universal gewordenen
Telekommunikation durchzusetzen ist, eine unbedingte Voraussetzung
für die sich ankündigende Metropolitik. Entsprechend dem Vorbild
INTERNET, das ursprünglich dazu dienen sollte, die verschiedenen
amerikanischen Unternehmen des militärisch-indu

- 116 -
striellen Komplexes miteinander zu vernetzen, werden die zukünftigen
Datenautobahnen zu einer so allgemeinen und unmittelbar
tiefgreifenden Veränderung der Gegebenheiten führen, daß es schon
bald zu einer globalen Delokalisierung der menschlichen Aktivitäten
kommen dürfte. Hierbei büßt der ehemalige Primat der räumlichen
Gegebenheiten langsam aber sicher seine historische Bedeutung ein
gegenüber einem durch die Zeit bestimmten Zugang zum Netz, der mit
Hilfe des Sortierens der Information die augenblickliche Verbindung
und Formatierung der Nachrichten erleichtert.

An die Stelle des früheren industriellen und politischen Komplexes tritt


also bald schon ein informationstechnischer und metropolitischer
Komplex, der gebunden ist an die Allmacht der absoluten
Geschwindigkeit elektromagnetischer Wellen, die Träger
unterschiedlicher Signale sind. Hinter der alten KOSMOPOLIS, deren
antikes Modell Rom war, taucht nunmehr also die Weltstadt, die
OMNIPOLIS, auf. Ihr bereits etabliertes weltweites und voll
automatisiertes Börsensystem ist nicht weniger als ein
Krankheitssymptom, denn dieses System erzeugt in mehr oder weniger
regelmäßigen Abständen eine »virtuelle Finanzblase«, die ihrerseits als
das Vorzeichen einer neuen und bedrohlichen Unfallform anzusehen ist:
Nicht um einen lokalen und sowohl zeitlich wie räumlich genau zu
situierenden Unfall wird es sich mehr handeln, sondern um einen
globalen und allgemeinen Unfall, dessen Sinnbild die bei einer nuklearen
Katastrophe freigesetzte Radioaktivität sein könnte.

Die zunehmende Tendenz zu einer Homogenisierung der Zeit eines


ganzen Planeten, der künftig der Tyrannei der Echtzeit, das heißt einer
Weltzeit unterworfen sein wird, die in zunehmendem Maße die lokale
Zeit der

- 117 -
unmittelbaren menschlichen Aktivitäten entwertet, wird bestätigt durch
ein noch ganz junges Projekt, mit dessen Hilfe man schon bald die
Verfahren der weltweiten Telekommunikationssysteme zur Durchset-
zung einer neuen Zeitordnung endgültig einsatzfähig machen will.
Nach der Inbetriebnahme der Datenautobahnen, die mit ihren
Glasfaserkabeln alle amerikanischen Metropolen durchziehen, sind die
Multimedia-Unternehmen jetzt soweit, die ursprünglich für Reagans
SDI-Programm bestimmten Techniken zu benutzen, um mehr als 8oo
Satelliten auf eine niedrige Umlaufbahn zu bringen und damit eine
weltweite und flächendeckende Versorgung zu gewährleisten. Dieses
von Bill Gates und Greg McCaw entworfene Projekt namens
TELEDESIC, ein echtes »Netz der Netze«, läßt selbst INTERNET weit
hinter sich und tritt in Konkurrenz mit dem zwar bereits weiter
entwickelten, aber weniger ehrgeizigen Iridiumprojekt der Firma
Motorola. Sollte diese wunderbare Superstruktur erst einmal als
universales Netz eingerichtet und an verschiedene Staaten vermietet sein,
könnten selbst noch ihre in den abgelegensten Gegenden lebenden
Bürger alle Dienstleistungen der Telekommunikation nutzen, angefangen
beim Telefonieren über die Videokonferenz und die unmittelbare
Datenübertragung bis hin zur Telearbeit.
Einmal mehr läßt sich feststellen, daß die Beschränkungen, die sich aus
der Infrastruktur der Erde ergeben, die Erhöhung der
Kommunikationsgeschwindigkeit in hohem Maße behindern. Zunächst
hat man durch den Bau zuerst von Wegen, dann von Straßen und
schließlich von Autobahnen, durch das Graben von Tunneln durch Berge
hindurch oder unter dem Meer im Laufe der Geschichte die
verschiedensten Formen von Unebenheiten der Erdoberfläche
eingeebnet, um so die Bedingungen für den Hochgeschwindigkeits-
Verkehr zu

- 118 -
schaffen. Nun geht es darum, das Hindernis aus dem Weg zu räumen,
das die Materialität der unterirdischen Kabel der
»Informationsautobahnen« darstellt, indem man Satelliten in den
Weltraum schickt, die in der Lage sind, mit ihren Strahlen die Fläche
ganzer Nationen zu überziehen. Mit anderen Worten: In absehbarer Zeit
wird die INFOSPHÄRE die BIOSPHÄRE beherrschen ...

An der Elle des Phänomens der zunehmenden Versteppung, vor allem


aber der zunehmenden Entmaterialisierung muß letzten Endes die
Realität der europäischen Raumordnung gemessen werden. Selbst wenn
die Europäische Gemeinschaft bereits ein zweites, weitreichenderes und
anspruchsvolleres Programm ins Auge gefaßt hat, das einerseits den
Transport von Energie und Information sowie andererseits die Kontrolle
der Umwelt des europäischen Kontinents erleichtern soll, so muß doch
darauf hingewiesen werden, daß diese Globalisierung der Zeit der
Information ein bisher unberücksichtigt gebliebenes Phänomen der
Virtualisierung des Politischen beinhaltet. Das heißt, im Zeitalter der
Telekommunikationstechniken steht der virtuelle Raum kurz davor, die
Geographie der Nationen zu ersetzen. Und genau hieraus erklärt sich
auch die Entstehung einer neuen, einer letzten - zugleich sozialen und
politischen - Form der KYBERNETIK, die unsere Demokratien aufs
höchste gefährdet.

»Wichtiger, als einen Brand zu löschen, ist es, die Maßlosigkeit


auszulöschen«, warnte Heraklit. Im Augenblick besteht diese
Maßlosigkeit in einer mittlerweile globalen Ökonomie, die
verantwortlich ist für das Abdriften des europäischen Kontinents, der
den ver

- 119 -
heerenden Auswirkungen der Massenarbeitslosigkeit auch deshalb
ausgesetzt ist, weil die Technologien für die Datenfernübertragung den
postindustriellen Unternehmen keine Anreize mehr dafür bieten, zur
Erhöhung ihrer Produktivität neue Arbeitsplätze zu schaffen. Die
Technologien für die Datenfernübertragung führen vielmehr dazu, daß
die Unternehmen in neue Maschinen investieren oder ihre Produktion an
andere Orte verlagern. Diese vom Zerfall, vom Zusammenbruch der
herkömmlichen Unternehmensstrukturen begleitete globale
Delokalisierung ist bedingt durch eine neue Gesetzmäßigkeit, die nicht
mehr eine der Nähe ist, durch die sich etwa der Realraum einer genau zu
situierenden Aktivität auszeichnet, sondern eine an die Interaktivität der
Echtzeit der Transaktionen gebundene Gesetzmäßigkeit der Labilität und
Vergänglichkeit. Wir haben den Punkt erreicht, an dem das virtuelle
Unternehmen, das an keine Produktionsgemeinschaft und keinen
geographischen Standort mehr gebunden ist, keine bloße Utopie mehr
darstellt. Die Bedingungen für dessen Verwirklichung wurden bereits
von einem so bedeutenden Unternehmen wie IBM getestet, einem
multinationalen Unternehmen, das sich darauf vorbereitet, seinen
Firmensitz in New York aufzugeben, um sich im Nirgendwo
niederzulassen!

Auf diese Weise ist neben der Entwicklung von Freizeitzentren, in denen
die Techniken der sogenannten »virtuellen Realität« zum Einsatz
kommen - in den Cyber-Parks, die in Japan und in den Vereinigten Staa-
ten wie Pilze aus dem Boden schießen, können die Besucher mit Hilfe
dieser Techniken in einen CyberRaum eintauchen und mit ihm
interagieren -, auch der
Aufbau von sogenannten CYBER-KÖRPERSCHAFTEN ZU
erwarten, deren Produktionsaktivitäten sich nur noch innerhalb der
Echtzeit der CYBER-WELT und deren

- 120 -
weltweiten Transaktionen abspielen. Damit wird eine ökonomische
Entregelung ausgelöst, ein echter gesellschaftlicher Krach, und zwar als
Folge einer Produktions- und Distributionslogik, die da besagt:
»maximaler Warenfluß ohne jeden Lagerbestand«. Diese Logik zwingt
jeden Handelspartner dazu, sich immer häufiger und immer schneller in
alle vier Himmelsrichtungen zu bewegen. In Zukunft wird die städtische
Seßhaftigkeit in Gebieten mit einer hohen Beschäftigungszahl abgelöst
von einem weltweiten Nomadismus, einer Art Geschäftstourismus, der
jeden Angestellten unwillkürlich zu einem »Zulieferer« degradiert, der
weniger mit einem Handelsreisenden - verstanden als eine mehr oder
weniger selbständig handelnde Einzelperson - zu vergleichen ist als mit
einem virtuellen Partikel eines ganz und gar inexistenten Unternehmens.

Genau das ist der eben erwähnte ALLGEMEINE UNFALL,


der in Zukunft nicht nur die Weltwirtschaft bedroht, sondern das
politische Gleichgewicht der Nationen.
Die verbindende Nähe der Raumordnung der Erdoberfläche wird
abgelöst durch die auflösende Vergänglichkeit einer globalen
Zeitordnung, was zu einem Zerfall der jahrhundertealten
gesellschaftspolitischen Strukturen führt. Die Metapher der nuklearen
Katastrophe und der dabei freigesetzten Radioaktivität ist keine bloße
rhetorische Figur mehr. Sie ist im Gegenteil ein sehr treffendes Bild, mit
dem sich die Schäden beschreiben lassen, die diese plötzliche
Explosion/Implosion einer Interaktivität der Informatik der mensch-
lichen Aktivität zufügt. Bereits in den fünfziger Jahren sagte Albert
Einstein, daß sie nach der militärischen Nutzung der Atomenergie eines
Tages wahrscheinlich die zweite Bombe sein werde.

- 121 -
- 122 -
Dritter Teil

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- 124 -
Die Begehrlichkeit der Augen
»Man muß die Macht des menschlichen Auges zu
nutzen wissen.«
Treinisch

Früher mag es eine handwerklich ausgebildete Sehweise, eine »Kunst


des Sehens« gegeben haben, heute aber haben wir es mit einem
»Unternehmen der sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen« zu tun, das
die Form einer vielleicht gefährlichen Industrialisierung des Sehens sein
könnte.

Welches ist tatsächlich der echte Baum? Der, vor dem man stehenbleibt
und dessen einzelne Äste und Blätter man ganz deutlich unterscheiden
kann, der, den man in einer stroboskopischen Bildfolge durch die Wind-
schutzscheibe des Autos oder durch das eigenartige Guckloch des
Fernsehers wahrnimmt?

Die Antwort auf diese scheinbar unsinnigen Fragen hat in Wahrheit eine
Reihe ganz praktischer Auswirkungen auf das tägliche Leben. Die
Tatsache, daß es keine Fotografie im Sinne ihrer Erfinder Niepce oder
Daguerre mehr gibt, sondern nur noch Standbilder, und darum die fixierten
Bilder nichts anderes sind als »Stationen« auf dem Weg der abgespulten
Sequenzen, deutet darauf hin, daß uns eine Leidenschaftlichkeit des
Blicks bevorsteht, bei der die Kunst des Liebhaberblicks verschwinden
und einer Wahrnehmungsindustrie zum Opfer fallen wird, die sich
gänzlich dem Motor, dem Sende- und Empfangsgerät der »Wellenzüge«
verdankt, die in Zukunft sowohl das Video- als auch das Funksignal
übermitteln. Nach der Revolution

- 125 -
der Verkehrsmittel, die im letzten Jahrhundert zu einer Erhöhung der
allgemeinen Mobilität führte und die noch gesteigert wurde durch die
Automatisierung der Produktion und die damit verbundene
Revolutionierung der Übertragungstechniken, sind wir heute mit den
Ansätzen zu einer Automatisierung der Weltwahrnehmung konfrontiert.
Ganz in diesem Sinne erklärt es der Videofilmer Gary Hill: »Das Sehen
ist nicht mehr die Möglichkeit zu sehen, sondern die Unmöglichkeit,
nichts zu sehen.

Auf das Verbot der bildlichen Darstellung und den Sehverzicht


bestimmter Religionen - im Falle des Islam der Verzicht, das Gesicht
von Frauen zu sehen - folgt gegenwärtig geradezu ein kultureller Zwang
zum Sehen, der scheinbar verbunden ist mit der Überbelichtung des
Sichtbaren im Zeitalter des bewegten Bildes, die an die Stelle der
Unterbelichtung im Schriftzeitalter tritt.
Haben wir es mit einem optischen oder, genauer gesagt, mit einem
elektrooptischen Fetischismus zu tun? Müssen wir unseren Blick
abwenden, schüchtern beiseite sehen und dabei die dargebotene
übermäßige Fokussierung vermeiden? All diese Fragen betreffen nicht
nur die Ästhetik, sondern auch die Ethik der heutigen Wahrnehmung.
Ich fürchte, daß wir es mit einer Art von Pathologie der unmittelbaren
Wahrnehmung zu tun haben, die alles oder beinahe alles den jüngsten
fotokinematographischen und video-computergraphischen Sehmaschinen
verdankt. Da diese Maschinen die gewohnten Bilder mediatisieren, d. h.
vermitteln, büßen sie schließlich all ihre Glaubwürdigkeit ein.
»Seinen Augen nicht mehr zu trauen«, ist tatsächlich nicht mehr
Ausdruck des Erstaunens oder der Überraschung, sondern eher Ausdruck
eines »Gewissensein

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wandes«. Das Gewissen verweigert sich nunmehr der Macht des
objektiven Bildes, der Macht eines Bildes, das nicht nur per
Direktübertragung oder leicht zeitversetzt im Fernsehen vermittelt wird,
sondern auch durch den Mißbrauch einer Mobilisierung des öffentlichen
Raums, in dem die Rolltreppen und Laufbänder die Kette
vervollständigen, die von den verschiedenen Privatfahrzeugen und den
öffentlichen Verkehrsmitteln bis zum Aufzug der verkabelten
Wohntürme reicht.
Auf diese Weise wird heute die Horizontlinie, die die Perspektive
unserer Reisen begrenzt, durch den quadratischen Horizont des
Fernsehens, der Flugzeugluke oder des TGV begrenzt.
Da das Vorüberrauschen optischer Eindrücke nicht mehr aufhört, ist es
schwer, wenn nicht sogar unmöglich, an die Stabilität des Realen, das
Festhalten eines sich fortwährend verflüchtigenden Sichtbaren zu
glauben, denn der nicht bewegliche Raum tritt schlagartig hinter die
Instabilität eines allgegenwärtig gewordenen öffentlichen Bildes zurück.

Angesichts dieser »Wahrnehmungsstörung«, die jeden von uns betrifft,


müßte das Problem der Ethik der kollektiven Wahrnehmung vielleicht
nochmals gründlich überdacht werden: Verlieren wir bald endgültig
unseren Status als Augenzeugen der sinnlich wahrnehmbaren Realität
zugunsten von technischen Substituten, (Video- oder Fernüberwachungs-
)Prothesen aller Art, die uns zu Hilfsbedürftigen und Sehbehinderten ma-
chen? Verursachen sie eine Art paradoxer Blindheit, die sich aus der
Überbelichtung des Sichtbaren sowie der Entwicklung der blicklosen
Sehmaschinen ergibt, die an das »indirekte Licht« der Elektrooptik ange-
schlossen sind, das mittlerweile die »direkte Optik« der Sonne oder der
Elektrizität ergänzt?

- 127 -
Das Kino steckt das Auge in eine Uniform, warnte Franz Kafka. Durch
Videotechnik und digitalisierte Computergraphik ist diese Bedrohung
heute zu einem Fakt geworden, so daß bald die Bildung einer Art »Ethik-
kommission der Wahrnehmung« notwendig sein dürfte, ohne die wir
vielleicht die Auswüchse einer Abrichtung der Augen erleiden müßten,
eines unterschwelligen, optisch korrekten Konformismus, der die
Konformismen der Sprache und der Schrift vollenden würde.
Die Gewöhnung an extrem gewaltverherrlichende Filme einerseits und
der mißbräuchliche Umgang mit Zusammenschnitten von schnellen
Bildfolgen im Fernsehen andererseits sind ein Hinweis darauf, daß wir
bereits jetzt eine konstante Enteignung des Blicks erleben, die
insbesondere aus der zunehmenden Machtentfaltung von Bild und Ton
resultiert. Wenn wir nicht auf der Hut sind, werden wir bald schon zu
wahrscheinlich unbewußten Opfern einer Art Verschwörung des Sicht-
baren, eines durch die ungeheure Beschleunigung der herkömmlichen
Bilder gefälschten Sichtbaren.
In einer kürzlich von der Harvard Universität durchgeführten
Untersuchung zur Legasthenie wird die Vermutung geäußert, daß dieser
Defekt weniger auf eine Sprach- als vielmehr auf eine Sehstörung
zurückzuführen sei. In dem veröffentlichten Forschungsbericht wird
darauf hingewiesen, daß diese wissenschaftlich fundierte Hypothese im
übrigen an die Ergebnisse einer australischen Untersuchung anknüpft, in
der man zu dem Ergebnis kommt, daß Legastheniker ganz eindeutig
dazu tendieren, immer dann nur ein einziges Bild sehen, wenn das
menschliche Auge normalerweise zwei wahrnimmt, sobald diese Bilder
sich in dieselbe Richtung bewegen oder sehr schnell vorbeiziehen. Sollte
die Beschleunigung der bildlichen Darstellungen etwa zu einem Verlust
ihrer

- 128 -
Tiefenschärfe führen und unsere Wahrnehmung entsprechend verarmen?
Diese im Moment noch nicht zu beantwortende Frage deutet in jedem
Fall auf ein schwerwiegendes Wahrnehmungsproblem hin.
Schließlich kommen alle gegenwärtigen Arbeiten zur digitalen
Bildverarbeitung mittels algorithmischer Verfahren zur »visuellen
Rekonstruktion«, die für die Erzeugung einer künstlichen Wahrnehmung
notwendig sind, zu dem Ergebnis, daß es eine Art Bildenergie geben
könnte, die im Wahrnehmungsprozeß gegen Null strebt. Auch in der
Physik ist die Dynamik eines Prozesses häufig derart beschaffen, daß sie
zu einem Gleichgewichtszustand tendiert, bei dem die vorhandene
Energiemenge so gering wie möglich ist.
Wie auch immer es um diese kinematische Energie beschaffen sein
mag, die die kinetische und potentielle Energie ergänzt, die
Standardisierung des Sehens steht auf der Tagesordnung.

Wenden wir uns jetzt den jüngsten Untersuchungen im Bereich der


Ergonomie der Wahrnehmung zu.
Bekanntermaßen läßt sich die Augenbewegung mit Hilfe verschiedener
Methoden aufzeichnen, die mechanische, elektrische oder optische
Systeme benutzen. Mittlerweile hat sich die elektrische Aufzeichnung
der Bewegungen des menschlichen Auges fast überall durchgesetzt: »Sie
basiert auf dem Faktum, daß das Auge ein polarisiertes System ist,
dessen elektrischer Dipol um die Augenhöhle herum ein elektrisches
Feld induziert, das nach seiner optischen Achse ausgerichtet ist. Seine
Veränderungen, die durch die Bewegungen des Auges hervorgerufen
werden, können gebündelt und verstärkt werden.«' Das Signal wird vom
Computer aufgezeichnet und verarbeitet, um Parameter zu

- 129 -
erstellen, die den jeweiligen Anforderungen entsprechen.
Somit ist das Okularmeter weniger ein Gerät, um den guten Zustand
eines Augensystems zu prüfen als vielmehr eine Sonde, mit der es
möglich ist, den genauen Moment des STEREOGRAPHISCHEN
Sehens zu bestimmen, mit dessen Hilfe in erster Linie die Datenerfas-
sung, die VISUELLE GNOSIS von Piloten, verbessert wird. Mittels
dieser Form ergonomischer Forschung sind in jüngster Zeit sogar
Verfahren entwickelt worden, durch die sich die Instrumententafel mit
ihren verschiedenen Leuchtzeichen durch einen Helm, eine Art virtuelles
Cockpit, ersetzen läßt, dessen durchsichtiges Visier die Flugdaten in
genau dem Moment anzeigt, in dem der Pilot sie benötigt, wobei das
Blickfeld des Piloten für den Rest der Zeit von überflüssigen und
störenden Signalen freigehalten wird.
Da diese Form der intermittierenden elektrooptischen Anzeige (in
Echtzeit) schließlich eine radikale Verbesserung der menschlichen
Reaktionszeit erforderlich macht, müssen auch die durch die manuellen
Handhabungen entstehenden Verzögerungen vermieden werden. Aus
diesem Grund nutzt man sowohl die Stimme als auch das Auge zur
Steuerung der Maschine, d. h., das Flugzeug wird nicht mehr mit »der
Hand«, sondern mit »dem Auge« gesteuert, indem die verschiedenen
(echten oder virtuellen) Knöpfe mit dem Auge fixiert werden und man
ON oder OFF sagt. Technisch möglich macht das alles ein Infrarot-
Sensor, der die Netzhaut des Piloten abtastet und so die Blickrichtung
feststellt.
Ophthalmologische Verfahren finden also nicht mehr nur bei der
Heilung von Defekten und Krankheiten Anwendung, sondern auch bei
der intensiven Nutzung des Blicks, bei der die Tiefenschärfe der
menschlichen Wahrnehmung zunehmend von solchen Techniken besetzt
wird, die den Menschen zum Skla

- 130 -
ven der Maschine machen. Sämtliche dieser »elektrooptischen«
Techniken haben die Organisierung der unbewußten visuellen Reflexe
zum Ziel, um so gleichzeitig die Aufnahmefähigkeit von Signalen und
die Reaktionszeit der Testperson zu verbessern.
Da die Spezialisten der computergraphischen Bilderzeugung sich nicht
mehr - wie früher bei der kinematographischen Illusion bewegter Bilder -
damit zufriedengeben, die Persistenz der Netzhaut zu nutzen, versuchen
sie heute, den Blick mit einem Motor zu versehen.
In den Vereinigten Staaten beispielsweise setzt man einen
LASERSCANNER ein, um die Darstellungen des virtuellen Raums
(CYBERSPACE) zu verbessern. Besonders interessant ist der Versuch,
die verkleinerten Flüssigkristall-Bildschirme der Helme für die
Visualisierung durch einen Laser-Mikroscanner zu ersetzen. »Dieses
System verwendet die in der Augenchirurgie benutzten Laser und
ermöglicht ein direktes Abtasten der Netzhaut durch einen schwachen
Laserstrahl, der Farbbilder moduliert.«'
Dieses Verfahren, bei dem man direkt ins Auge eindringt, bietet den
Vorteil, auf die bei der Erzeugung virtueller Bilder aufwendige und
hinderliche optische Apparatur verzichten zu können und visuelle Ein-
drücke von sehr hoher Qualität zu erzeugen.
»Kann man aber in diesem Zusammenhang eigentlich noch von
BILDERNsprechen? Es gibt schließlich keine PIXEL mehr, da der Laser
direkt die Zapfen- und Stäbchenzellen des Auges stimuliert. « s
Angesichts dieses schlagartigen »Eingriffs in das Sehen«, bei dem der
kohärente Lichtimpuls eines Laserstrahls das zwangsläufig inkohärente
Licht der Sonne oder der künstlichen Beleuchtung zu ersetzen sucht,
kann man sich mit Fug und Recht fragen, welches das noch
unausgesprochene Ziel, der Zweck einer solchen

- 131 -
Instrumentalisierung ist, mit der unsere Wahrnehmung nicht mehr nur
durch die Linsen unserer Brillen, sondern durch den Computer
unterstützt wird. Geht es darum, die Wahrnehmung der Realität zu
verbessern, oder darum, die Reflexe so weit zu konditionieren, daß die
bewußte Wahrnehmung der Erscheinungen selbst »beeinflußt« wird?
Sind wir nach dem Objekt-Design, der seriellen Ästhetik einer
industriellen Produktion und des Massenkonsums im post-industriellen
Zeitalter mit den Anfängen eines Sitten-Designs, der Abrichtung der
Augenreflexe, konfrontiert? Überläßt die einst von Kafka angeprangerte
Uniformisierung des Sehens einer Art elektroergonomischer
Zwangsjacke das Feld, mittels derer das Design der Wellenbahnen und
ihre sequentielle Ästhetik für den mit einem Datenhelm ausgerüsteten
Zuschauer die dunklen Kinosäle durch die Inszenierung im Augapfel
ersetzten würde? In diesem Fall würde der vom Laser bestrahlte
Sehnerv, der die Hirnrinde im hinteren Teil des Kopfes als Leinwand
nutzt, an die Stelle des schmalen Lichtstreifens der Filinprojektoren in
den Kinosälen treten ...

Es ist unnütz, weiter nach den Ursachen für den Untergang der
»Filmindustrie« zu suchen: Infolge der Erneuerung der früheren
(fotografischen, kinematographischen oder videographischen)
Sehmaschinen haben wir es mit den Anfängen eines echten »Eingriffs in
das Sehen« zu tun, bei dem das direkte Eindringen der elektrooptischen
Apparate in das Nervensystem zum Teil die Tatsache erklärt, daß das
Publikum den - zudem immer enger gewordenen - Kinosälen fernbleibt.

Anläßlich der Einweihung der Geode in Paris schrieb ich vor einigen
Jahren: »Gehen Sie nicht nach La Villette4,

- 132 -
denn Sie können sicher sein, daß die Geode zu Ihnen kommen wird.«5
Diese Vorahnung erfährt im Augenblick ihre Bestätigung durch die
Techniken der virtuellen Räume, wohingegen die halbkugelförmigen
Säle vom Typ IMAX oder OMNIMAX lediglich die kugelförmigen
Kinos der Zukunft simulieren: das Kino im Augapfel!
Schlußendlich läßt sich auch hier feststellen, daß die Revolution der
elektromagnetischen Übertragungstechniken zu einer Transplantation in
vitro von Systemen zur physiologischen Stimulierung führt. Hierbei
begünstigt die Miniaturisierung der Biotechnologien die Implantation der
postindustriellen Maschinerie in den menschlichen Körper selbst, wobei
die Herzschrittmacher den Weg zur bevorstehenden Entwicklung emo-
tionaler Prothesen weisen, mit denen das pharmakologische Arsenal der
Dopingmittel und Halluzinogene vervollständigt werden könnte, da die
Physik der Chemie diesbezüglich offensichtlich in nichts nachstehen
möchte!
Man sieht also, daß die zunehmende Kinomüdigkeit nicht der
Ausdruck für den Untergang des »kinematographischen
Obskurantismus« ist, sondern viel eher der Beginn eines
»computergraphischen Illuminismus«, der, wenn wir nicht auf der Hut
sind, schließlich den Status der Erscheinungen, das Realitätsprinzip
unserer unmittelbaren bildlichen Darstellungen, in Frage stellen wird.

»Es liegt im Wesen der Franzosen, daß sie das, was sie sehen, nicht
mögen.«6 Tun sie recht oder unrecht daran? Genau das ist wohl die
Frage, die Frage nach der freien Wahl der Wahrnehmung.
Ist man in der Wahl dessen, was man sieht, wirklich

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frei? Offensichtlich nicht ... Ist man umgekehrt verpflichtet, entschieden
gezwungen, gegen seinen Willen das wahrzunehmen, was sich den
Blicken aller darbietet und schließlich aufdrängt? Sicher nicht!
Während das Schauspiel der Welt früher sozusagen vom Wechsel der
Jahreszeiten, des Sonnenauf- und -Untergangs vor dem wechselnden
Horizont der Landschaften, begrenzt wurde, so führt die Macht der
schnellen Transport- und Übertragungstechniken heute zu einer
konstanten Mobilisierung unseres Wahrnehmungsfeldes, und das nicht
nur in den künstlichen Gebilden der Metropolen, sondern auf der
Gesamtheit der weiten Flächen, die wir dank des hohen technischen
Entwicklungsstands von Landfahrzeugen und Flugzeugen durchqueren
bzw. überfliegen können.
Wie ist es möglich, dieser Flut visueller und audiovisueller Sequenzen,
dieser schlagartigen Motorisierung der Erscheinungen zu widerstehen,
die unsere Phantasie ununterbrochen heimsuchen? ... Haben wir noch die
Freiheit, uns dieser (optischen oder elektrooptischen) Überflutung der
Augen widersetzen zu wollen, indem wir den Blick abwenden oder
dunkle Brillen tragen? ... Nicht etwa aus Scham oder aufgrund
irgendeines religiösen Verbots, sondern aus Sorge um den Erhalt der
persönlichen Integrität, der Gewissensfreiheit.
Landkarten und andere bewegte Bilder dienen sowohl der
»Kriegsführung« als auch der Auflösung des friedlichen Wesens der
alltäglichen Lebenswelt.
In einer Zeit, in der man in unseren Gesellschaften mit Fug und Recht
die Frage nach der Meinungsfreiheit und der politischen Rolle der
Medien stellt, scheint es wünschenswert, auch die Frage nach der
Wahrnehmungsfreiheit sowie der Bedrohung zu stellen, die für diese
Freiheit von der Industrialisierung des Sehens und Hörens ausgeht, wo
doch die Lärmverseuchung sehr häufig mit einer unmerklichen
Verseuchung un

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serer Weltwahrnehmung durch die verschiedenen
Kommunikationsmittel einhergeht.
Wäre es mithin nicht angebracht, über so etwas wie ein Recht auf
Blindheit nachzudenken, so wie es schon eines auf relative Taubheit gibt,
zumindest jedoch das auf Senkung des Lärmpegels im öffentlichen
Raum der Städte? Müßte nicht so schnell wie möglich eine Senkung der
Ausstrahlungsintensität von Bildern gefordert werden? Ich denke, die
Informationstheorie könnte uns Erkenntnisse über die schädlichen
Auswirkungen der rhythmischen Inflation der Sequenzen auf den Sinn,
die Bedeutung unserer unmittelbaren Umwelt liefern.
Wenn der Wunsch nach Welterkenntnis heute von dem Bedürfnis
überholt ist, die Welt auszubeuten, sollten wir dann nicht - in Anlehnung
an den Bereich der Ökologie - versuchen, diese maßlose Ausbeutung der
optischen Dichte unserer sinnlich wahrnehmbaren Realität zu
begrenzen? Manchmal genügt es, etwas anders zu sehen, um besser zu
sehen.
Angesichts der Tatsache, daß wir über das ungeheure Ausmaß und die
vielfältigen Formen der Verschmutzung unserer natürlichen Ressourcen
zumeist mittels der Massenmedien in Kenntnis gesetzt werden, wie sollte
da noch weiterhin die Notwendigkeit einer Wissenschaft der ikonischen
Umwelt, einer »Ökologie der Bilder«, zu übersehen sein?
Wenn das Kino, wie Kafka sagte, das Auge in eine Uniform steckt,
dann ist das Fernsehen seine Zwangsjacke, eine Abrichtung der Augen,
die zu einer Sehschwäche führt, so wie die Lautstärke des Walkman zur
dauerhaften Schädigung des Gehörs.
Außerdem sollte darauf hingewiesen werden, daß die Ablehnung des
visuellen (audiovisuellen) Konformismus auch dazu führen könnte, die
Etablierung einer optisch korrekten Politik zu verhindern, mit deren

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Hilfe die Manipulation des Blicks durch die zukünftigen
Massenkommunikationsmittel unter Umständen sehr schnell totalitäre
Formen annimmt.

Zur Veranschaulichung dieser Äußerungen über die Notwendigkeit einer


Ethik der Wahrnehmung möchte ich den »Augenzeugenbericht« des
europäischen Astronauten Wubo J. Ockels anführen, der zusammen mit
den Amerikanern im Weltraum war: »Mein damaliges Gefühl ähnelt
dem der Rückkehr an den eigenen Geburtsort bzw. dem einer Vision
dieses Geburtsortes. Man möchte nicht mehr dort leben, weil man
erwachsen geworden ist, man hat das Dorf verlassen und möchte jetzt
lieber in der richtigen Stadt leben. Es rührt einen wie die »Mutter Erde«,
aber man weiß auch, daß
man nicht zu ihr zurückkehren möchte, um dort zu leben.«
Es handelt sich um die Vision eines zum Planeten gewordenen
Menschen, bei der der Augapfel des Zeugen im Zustand der
Schwerelosigkeit die Weltkugel mit einer Art souveräner Verachtung
betrachtet; die Vision einer verlorenen Welt, die dem nihilistischen
Weltschmerz der westlichen Technik verwandt ist.

» Wenn man befehlen will, muß man vor allem zu den Augen sprechen«,
formulierte Napoleon Bonaparte klar und deutlich. Erteilt man einem
Untergebenen einen Befehl, so bedeutet das in der Tat immer, seinen
Blick einzuschüchtern. Wie bei einem Reptil, das seine Beute bannt,
unterbindet jedes militärische Kommando den Gebrauch des freien
Willens durch den Befehlsempfänger.
Aus diesem Umstand erklärt es sich auch, daß für die militärische
Disziplin, die die größte Stärke einer Armee ausmacht, das Sehen
wichtiger ist als das Gehör.

- 136 -
Im folgenden möchte ich mich mit den jüngsten Entwicklungen im
Bereich der waffentechnischen Forschungen und Studien befassen.
Abgesehen von den seit 1991 vorrangig geförderten
Entwicklungsprogrammen für die Raumfahrttechnologien verteilt sich
der Großteil der 1992 vom französischen Verteidigungsministerium
gewährten Forschungsmittel auf die Bereiche Elektronenoptik, In-
formatik und Robotik, aber auch auf die der Biologie sowie der
Humanwissenschaften.
Mit Hilfe einiger zufällig ausgewählter Beispiele lassen sich die
wesentlichen Zielsetzungen des Rates für militärische Forschungen und
Studien in Frankreich veranschaulichen. Unter der Rubrik »Biologie und
Ergonomie« ist zu lesen: »Im Rahmen der Ermittlung von Signalmustern
und der Signalverarbeitung im Bereich der Biologie wurde an einer
bretonischen Universität eine Studie über die dreidimensionale
Lokalisierung der elektrischen Gehirnaktivitäten mittels Oberflä-
chensensoren in Auftrag gegeben.
Praktische Anwendungsmöglichkeiten bestehen beispielsweise für die
Lokalisierung der vorderen Gehirnzonen, in denen die Informationen
verarbeitet werden, sowie für die Lokalisierung derjenigen Bereiche des
Gehirns, die für die Epilepsie verantwortlich sind. «
Etwas weiter, unter der Rubrik »Schnittstelle Mensch/ Maschine«,
heißt es dann: »Im Bereich der Ergonomie wurde eine Studie zur
Organisation der Visualisierungen des Sehraums von Piloten bei einem
Labor in Auftrag gegeben. Will man die Hilfsmittel so optimal wie mög-
lich an die Wahrnehmung eines Piloten anpassen, dann ist es in der Tat
notwendig, die ursprünglich beidäugige >Oberflächenwahrnehmung< zu
unterstützen, indem man versucht, ein Funktionsmodell der dritten
Dimension zu entwickeln. «

- 137 -
Ein weiteres militärisches Forschungsobjekt ist der LASER. Die
modernen Waffensysteme verwenden immer häufiger Telemeter für die
Zielvorrichtungen der Laser: »Neuere Studien zur Augenphysiologie
haben den Beweis dafür erbracht, daß es Wellenlängen gibt, dei denen
das Auge weniger anfällig ist. Aus diesem Grunde stellt ein
Unternehmen Forschungen zu einem Laser-Telemeter an, der größere
Sicherheit bietet.«
Als Bestätigung der ungeheuer schnellen Entwicklung von
»Kollektoren« und »Sensoren« jeder Art in der Mikroelektronik steht im
Kapitel mit der Überschrift »Computer- und Robotersysteme« zu lesen:
»Im Zusammenhang mit den Arbeiten über Neuronenmaschinen führt
das Institut für Grundlagenelektronik von Orsay Untersuchungen über
die Netzhaut und Sensoren für die Frühwahrnehmung durch, die
möglicherweise dazu geeignet sind, neuronale Algorithmen für die
Erkennung von Formen zu erarbeiten«.'

All diese Beispiele belegen die strategische Bedeutung der


Visualisierung, eines computergestützten Sehens, bei dem der Augaupfel
zunehmend in den Mittelpunkt der militärisch-industriellen Entwicklung
rückt, so wie früher erst die Entdeckung und anschließend die Eroberung
des Erdballs die Hauptanliegen der großen militärischen Eroberer
bildeten.
Wie sollte man angesichts des direkten Eindringens in das
Augeninnere, das die Invasion besiegter Länder verdrängt, nicht die
Gründe für den abrupten Untergang der Geopolitik erahnen, an dessen
Stelle eine Art
IKONOPOLITIK tritt, bei der die Herrschaft des Bildes
schon bald nicht mehr in erster Linie an die Zunahme der
Benutzeroberflächen und Bildschirme gebunden ist, sondern an das
unmerkliche, »flüchtige«, Eindringen in die zeitliche Tiefe unseres
Gesichtsfeldes.
Da die großen Leinwände allmählich von den klei

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nen Bildschirmen des Fernsehers in den Wohnzimmern verdrängt
werden, ist die Richtung der zukünftigen Entwicklung nunmehr
erkennbar: Nicht die zunehmende Nutzung von Breitleinwandsystemen
in den Stadien und auch anderswo für die FernsehDirektübertragung ist
das Wesentliche, sondern die unmittelbar bevorstehende nano-
technologische Miniaturisierung von integrierten Schaltkreisen, die ein
ikonisches Eindringen der Information beim » Massenpublikum«
gewährleisten, und zwar nicht mehr wie früher vor allem in situ, sondern
in vivo, wobei die Transplantation parasitärer Bilder diejenige der
verschiedenen Organe und Prothesen ergänzen wird.

Angesichts der Prognosen der Gesundheitsexperten, daß bereits im Jahre


2000 »die Transplantation von Organen und die Implantation von
Prothesen die Hälfte der chirurgischen Eingriffe ausmachen wird«, wie
sollte man da nicht begreifen, daß der Ort der Spitzentechnologien nicht
mehr so sehr der territoriale Körper ist, die geographische Fläche einer
eigenen und schon seit langem mit großen Infrastruktursystemen
(Kanäle, Brücken und Straßen, Stromleitungen usw.) ausgestatteten
Welt, sondern der animalische Körper des Menschen, der eigene Körper
des Individuums, der schon bald der Herrschaft der Biotechnologien und
NanoMaschinen unterworfen sein wird, mit deren Hilfe es möglich ist,
nicht mehr nur die Erdoberfläche zu kolonisieren, sondern die Dichte
unseres eigenen Organismus.

Ich möchte mich jetzt der Augen-Mikrochirurgie unter endoskopischer


Kontrolle zuwenden.
Schon seit mehreren Jahren verbreitet sich die Augenendoskopie dank
des Einsatzes von Minisonden, die mit einer Videokamera ausgestattet
sind und in das

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Auge eingeführt werden. Erst kürzlich ist beispielsweise ein neues Gerät
auf den Markt für Augentechnik gekommen, das POLYCAM heißt und
aus einer Sonde mit einem Durchmesser von z, 7 mm, einem
Lichtgenerator, einem Computer und einer Videokamera besteht, mit der
es möglich ist, die Strukturen des Augeninneren auf einem Bildschirm
sichtbar zu machen. In dieses Mikroendoskop möchte man bald
Laserfasern und Instrumentenkanäle integrieren, dank derer man über
ein Gerät zur Visualisierung und ein Skalpell zugleich verfügen würde,
das den Eingriff er
leichtert. 8
Somit sind wir sehr weit von den großen Aufnahmekameras der
Fernsehstudios oder dem Breitbandprojektor OMNIMAX der Geode im
Technologiepark von La Villette entfernt, denn die Mikrokamera wird
ins Auge des Patienten eingeführt. Auf diese Weise wird das Auge, wie
schon gezeigt wurde, zum Schauplatz für Spezialeffekte aller Art und
unterschiedliche Formen der Manipulation. Auf dem io. Europäischen
Kongreß für die Starchirurgie im September 1992 in Paris wurde ein
neues System vorgestellt, mit dessen Hilfe sich schon bald die Brillen
oder Kontaktlinsen zur Korrektur von Sehfehlern ersetzen lassen. Das als
LASER EXCIMER bezeichnete System ist ein spezieller Laser, der in
der Lage ist, schadhafte Hornhautpartien mit mikrometrischer
Genauigkeit neu zu formen. In diesem Zusammenhang läßt sich
feststellen, daß sich die »plastische Chirurgie« mehr mit dem Blick als
ausschließlich mit der Nase oder dem Doppelkinn beschäftigt und das
Lifting nunmehr weniger zur Verschönerung des Gesichts als vielmehr
zur Korrektur des Bildes und des individuellen Blickfeldes angewandt
wird. Diese neue Art des chirurgischen Eingriffs bezeichnet man als
FOTO-ABLATION.

- 140 -
Darüber hinaus läßt sich feststellen, daß dem visuellen Bild dasselbe
widerfährt wie der Darstellung des Objekts: es geht nicht mehr in erster
Linie um das DESIGN der materiellen Formen des Endproduktes,
sondern eher um die Information und die verschiedenen Stimuli. Vom
multimedialen Bildschirm-Objekt zunächst zum Metadesign einer
computergestützten Wahrnehmung und dann zur plastischen Chirurgie
eines optisch korrekten Blicks ist es nur ein Schritt. Und zu glauben, daß
dieser Schritt niemals getan wird, ist weniger eine optische als vielmehr
eine ethische Täuschung!

Wie läßt sich heutzutage noch ernsthaft die Möglichkeit einer neuro-
technischen Behandlung der mentalen Bilder bestreiten, wo doch
gegenwärtig mehr als go% des Gesamtvolumens der
mikroelektronischen Produktion auf die Herstellung von unauffälligen
Bauelementen (Kollektoren, Sensoren, Detektoren usw.) entfallen und
wo man »intelligente Pillen« für den menschlichen Organismus
entwickelt, die Informationen unmittelbar an die Nervenfunktionen eines
Individuums weiterleiten können?
Diejenigen, die noch an einem derartigen Abdriften der Technik und
Wissenschaften zweifeln könnten, möchte ich daran erinnern, daß die
Art, wie das Gehirn komplexe Informationen verarbeitet, nach wie vor
eines der Hauptprobleme der Neurowissenschaften bleibt. Eine kürzlich
an der Universität von Oxford durchgeführte Untersuchung vertritt die
These, daß die beispielsweise für das Erkennen eines Gesichts not-
wendige Verschlüsselung der Information lediglich von einer kleinen
Anzahl, d. h. einigen Dutzend Neuronen durchgeführt wird.' Da es sich
um eine so kleine Zahl von Neuronen handelt, dürfte dies zu einem
späteren Zeitpunkt mit Sicherheit weitere Entdeckun

- 141 -
gen auf dem Gebiet der Verschlüsselungsverfahren mentaler Bilder
begünstigen.
Zudem läßt sich bereits seit zwei Jahren ein wieder auflebendes
Interesse der Neurophysiologen für solche Fragen feststellen, die den
zeitlichen Aspekt der Informationsverarbeitung betreffen, wobei die
Zeittiefe des Stimulus größeres Interesse weckt als die Schärfentiefe und
die Untersuchung der heute allem Anschein nach gut bekannten
visuellen Zonen der Hirnrinde."
Abschließend noch ein letzter Beleg für die bevorstehende
Entwicklung eines META-DESIGNS des mentalen Bildes: Auf dem im
französischen Forschungsministerium durchgeführten Kolloquium
»Design 92« wurde davon gesprochen, daß das Konzept der
Glasfasergewebe zu einer Vielzahl von Anwendungsmöglichkeiten
führen solle, und zwar insbesondere im Bereich der elektrooptischen
Meßsysteme. Mit der Herstellung von Sensoren für die Erhöhung der
Fahrsicherheit kommen diese Meßsysteme in der Automobilindustrie
genauso zur Anwendung wie in der Informatik, wo Computertastaturen
entwickelt werden, die nicht mehr nach analogen, sondern nach
optischen Prinzipien funktionieren. Es bleibt zu hoffen, daß wir
hinsichtlich der Ethik der unmittelbaren Wahrnehmung in Ermangelung
einer »übertriebenen Wachsamkeit« unsere Wachsamkeit trotzdem
niemals vollständig einbüßen.

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Von der Perversion zur sexuellen Diversion
»Sie glauben glücklich zu sein, weil sie
bewegungslos sind.«
Tristan Bernard

Im Zeitalter des Cybersex läßt man sich nicht mehr scheiden, sondern
man fällt auseinander. Die Realität der eigenen und unmittelbaren
Sinneseindrücke erweist sich mit einem Mal als unzureichend, da sich
alles in weitem Abstand voneinander abspielt.
Auf diese Weise kommt es zu einer diskreten und flüchtigen
Verbindung, die nicht mehr auf Anziehung, sondern auf Abneigung, der
gegenseitigen Abstoßung der beteiligten Parteien, basiert. Aufgrund
dieser Vereinigung derjenigen, die schon nicht mehr als »Eheleute«
vereint sind, tritt die Ästhetik des Verschwindens nun ihrerseits zurück
gegenüber der Ethik des zwangsläufigen Verschwindens des
»Nächsten«, des Ehegatten oder Liebhabers, zugunsten des »Fernsten«,
den zu lieben uns Nietzsche einst nahelegte ...

Nach der Verführung der Simulation nun also die Enttäuschung der
Substitution: die Frau als Objekt aller Begierden und Phantasmen räumt
unversehens den Platz für das Frauen-Objekt. Als Symptom eines
weitgehenden Zerberstens der sinnlich wahrnehmbaren Realität ist die
Umkehrung lediglich die Folge des Durchbrechens der »Zeitmauer«, d.
h. jener Grenzzeit der Lichtgeschwindigkeit der elektromagnetischen
Wellen, die zugunsten eines plötzlich auftretenden Phänomens des
Auseinanderbrechens, für das die steigende Anzahl der Scheidungen und
die exponentielle Zunahme von Familien mit einem alleinerziehenden

- 143 -
Elternteil unübersehbare Hinweise darstellen, nicht nur die relative
Geschwindigkeit des Lebendigen entwertet, sondern jede Art von
Materie, jede tatsächliche Gegenwart des anderen. Wenn man das
virtuelle Wesen (den Fernsten) dem realen Wesen (dem Nächsten)
vorzieht, dann bedeutet dies, eine sichere Sache für eine unsichere
hinzugeben, das Abbild bzw. den Klon einem substantiellen Wesen
vorzuziehen, das einem im Wege ist und das man buchstäblich auf dem
Hals' hat, ein Wesen aus Fleisch und Blut eben, dessen einziger Fehler
darin besteht, hier und jetzt dazusein, und nicht woanders.
Die durch die Technologien mit Fernwirkung hervorgerufene
tiefgreifende Veränderung wird in der Tat ausschließlich dazu beitragen,
uns den Dimensionen unserer eigenen Welt entrissen zu haben. Unab-
hängig davon, ob es sich nun um die Dampfmaschine (bei der
Eisenbahn) oder um den Verbrennungsmotor (beim Auto oder Flugzeug)
handelt, die Beschleunigung der Antriebstechniken wird dafür
verantwortlich sein, daß wir den Kontakt mit der sinnlich wahrnehm-
baren Realität verloren haben. Schenken wir diesbezüglich der
sehnsüchtigen Aussage eines Fliegers unsere Aufmerksamkeit: »Das
Flugzeug reißt einen fort, setzt einen Gefahren aus, bietet einem Glück
und bringt einen zurück, wenn es einen zurückbringt! Wirklich geliebt
habe ich nur das Flugzeug.« (Claude Roy)
Am Fuße der Zeitmauer jener Weltzeit, die an die Stelle der Ortszeit
getreten ist, findet also ein weiteres Zerbersten statt, ein weiterer
Überschall-KNALL, der ein Hinweis auf den Zerfall der Realität des-
oder derjenigen darstellt, mit dem oder der man vorgeblich
zusammentreffen möchte bzw. den oder die man zu lieben vorgibt.
Entsprechend dem Triebwerk bei einem Überschall

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Flugzeug geht bei der Fernliebe mit Hilfe der Kraft, den anderen
wegzustoßen, alles im Rahmen der Fähigkeit vor sich, seine unmittelbare
Nähe zurückzuweisen, um den Abstand zu genießen und im sinnlichen
Genuß auf dieselbe Weise »voranzukommen«, wie der Düsenstrahl das
Flugzeug antreibt. Ganz so wie das Abheben des Überschall-Flugzeugs
dazu verhilft, Mutter Erde und die Landschaften der Kontinente zu
überfliegen, ermöglicht es der »Fernvorgang« der Rückstoß-Liebe den
Partnern, ihre wechselseitige Nähe ohne Anstekkungsgefahr zu
überwinden, wobei das elektromagnetische Präservativ ohne weiteres
den - und das muß gesagt werden - unzureichenden Schutz durch das
Kondom ersetzt.
Das, was bisher noch etwas »Vitales« war, die Kopulation, wird mit
einem Mal zu etwas Unverbindlichem und verwandelt sich in eine
ferngesteuerte Masturbationspraxis. In dem Moment, in dem man
Neuerungen wie die künstliche Befruchtung oder die Gentechnologie
einführt, gelangt man auch dahin, mit Hilfe einer bio-kybernetischen
Ausrüstung und deren an den Geschlechtsorganen angebrachten
Sensoren, den Koitus zu unterbrechen und die ehelichen Bande zwischen
den beiden Geschlechtern zu lösen.
»Das Tiefste am Menschen ist die Haut«, behauptete Paul Valery. Und
genau hier kommt auch die letzte Perspektive ins Spiel: die taktile
Perspektive des sogenannten »Ferntastsinns«, die nunmehr die
klassischen Perspektiven des Sehens und Hörens abschließend ergänzt.
Und ohne diese paradoxe Hautperspektive erhält man keine Vorstellung
von der Überspitzheit des Cybersex.
Durch das Überstreifen des »Datenanzugs« schlüpft der Mensch
tatsächlich in die Information hinein, sein Körper verfügt plötzlich über
eine zweite Haut, über eine Muskel- und Nervenschnittstelle, die über
seine eigent

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liche Hautschicht gelegt ist. Für ihn, für sie beide, wird die Information
damit zur einzigen »plastischen Oberfläche« der körperlichen Realität,
zu ihrem einzigen »Volumen«.
Mit diesem buchstäblich aus elektronischen Impulsen gewobenen
»Überkleid«, das alle ihre Empfindungen kodiert und dekodiert, treten
die Partner der virtuellen Liebe in einen kybernetischen Prozeß ein, bei
dem sich das Bildschirmgerät nicht mehr damit zufrieden gibt, das Bild
oder den Ton zu synthetisieren, da es jetzt die sexuellen Empfindungen
organisiert.
Nach der chemischen Zwangsjacke, den Psychopharmaka, nun also die
elektronische Zwangsjacke, wobei die gewünschte Wirkung genau die
entgegengesetzte ist, da es ja nicht mehr darum geht, einen
vorübergehenden Wahnzustand zu dämpfen, sondern zu reizen, zum
Wahnsinn zu überreizen. Hierbei handelt es sich um einen ansteckenden
Wahnsinn, denn er überträgt sich unmittelbar, so wie auch der
altehrwürdige amerikanische Psychedelic-Papst Timothy Leary
angesteckt wurde, der, so sagt man jedenfalls, mit einer Japanerin
Fernliebe machte, während diese sich in Tokio aufhielt.
Im Zentrum dieser Cyberkultur steht das für den gesamten technischen
Bereich gültige Gesetz: das Gesetz des geringsten Aufwandes.
Nach der Revolutionierung der Verkehrsmittel, die einst zur Mode der
Hochzeitsreisen nach Venedig oder zu anderen Orten beitrug, ist nun
also das Zeitalter der Revolutionierung der Liebesleidenschaft
angebrochen, die vornehmlich durch die revolutionäre Entwicklung der
Mittel für die unmittelbare Übertragung begünstigt wird.
Da der virtuelle Vollzug des fleischlichen Aktes für die angeschlossenen
Paare das ist, was die virtuelle Ge

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meinschaft schon jetzt für die Zivilgesellschaft der INTERNET-Benutzer
ist, werden wir in Zukunft zu Zeugen einer verblüffenden Trennung.
Wenn die industriellen Technologien im Zuge der zunehmenden
Verstädterung des letzten Jahrhunderts in der Tat den fortschreitenden
Untergang der bäuerlichen Großfamilie zunächst zugunsten der bür-
gerlichen Familie und dann der (sehr treffend so bezeichneten)
Kernfamilie begünstigt haben, dann wird das Ende der Vorherrschaft der
physischen Nähe in der Megalopole des post-industriellen Zeitalters
nicht nur zu einer steigenden Zahl von Familien mit einem
alleinerziehenden Elternteil führen, sondern es wird zudem einen noch
radikaleren Bruch zwischen Mann und Frau verursachen, der unmittelbar
die Zukunft der geschlechtlichen Fortpflanzung bedroht, da sich der »
parmenideische« Graben zwischen dem männlichen und dem weiblichen
Prinzip aufgrund der Errungenschaften der Fernliebe noch weiter
vertieft.

An dieser Stelle möchte ich auf die Gründe für das außerordentliche
Privileg eingehen, das die Evolution der Tierarten der geschlechtlichen
Fortpflanzung einräumt, wohingegen die Jungfernzeugung eine ökono-
mischere Lösung darzustellen scheint.
Zum Abschluß einer Langzeitstudie stellten Dr. Stephen Howard und
Dr. Curtis Lively von der Universität Indiana kürzlich fest, daß »dank
der mit jeder geschlechtlichen Fortpfanzung verbundenen Vermischung
der Gene sich die Gefahr des Aussterbens von Arten infolge
unterschiedlicher Infektionserkrankungen, insbesondere aber infolge
vorhersehbarer Mutationen der Arten, auf ein Minimun reduziert.«
Diesem Wissen um die Zukunft der Natur ist je

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doch eine spezielle Mutation entgangen: die Mutation der
Biotechnologien nämlich.
Aufgrund der aktuellen Entwicklung der Technowissenschaften vom
Leben - beispielsweise die Forschungen über das menschliche Genom
oder das Fortpflanzungsgenom - vermischen sich Biosphäre und
Technosphäre, was einerseits auf die Errungenschaften der
Nanotechnologien und andererseits auf die der Informatik
zurückzuführen ist. Und wir dürfen uns mit Sicherheit schon bald auf
weitere Abweichungen, babylonische Verwirrungen im Bereich der
genetischen Information einstellen, deren einfachste Form nicht das
Retortenbaby der in-vitro-Befruchtung sein wird, sondern die uns dank
der telesexuellen Interaktivität bevorstehende, über weite Entfernungen
hinweg empfundene Liebe.
Wir rühren hier (falls sich davon überhaupt noch sprechen läßt) an dem
Paradox, das darin besteht, sich künftig zum Zwecke des Austauschs
über weite Entfernungen hinweg zu vereinen.
In diesem Zusammenhang möchte ich kurz untersuchen, was durch
die Verfahren des Cybersex verlorengeht, oder zumindest vollkommen
in Vergessenheit zu geraten droht, so daß neben dem durch unsere
Lebensweise ohnehin schon weitestgehend verkümmerten Wunsch,
Kinder zu haben, die sexuelle Fortpflanzung an sich bedroht ist.
Auch wenn heute die unmittelbare Nähe noch ziemlich klar das Dasein
im Hier und Jetzt definiert, so droht dieser Sachverhalt in Zukunft auf
gefährliche Weise zu verschwimmen oder ganz zu verschwinden und
damit die althergebrachte Maxime des gesellschaftlichen Verhaltens:
»Sag' mir, mit wem du Umgang pflegst, und ich sage dir, wer du bist.«
Bevor ich fortfahre, sollte ich für einen kurzen Augenblick auf die
Verführungstänze im Tierreich einge

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hen, auf die Annäherungsbewegungen und die »Verlo-
bungszeremonien«, die früher den eigentlichen »Hochzeitszeremonien«
der zur Zeugung von »Nachkommen« bereiten Partner vorausgingen.
Traditionellerweise zeichneten sich Hochzeiten einerseits durch Reisen
aus, die man zu ihrem Anlaß unternahm, eine gerngesehene Abwesenheit
vor oder nach den Feierlichkeiten, die auf diese Weise die Erinnerung an
die biologischen Risiken einer möglichen Blutsverwandtschaft der
Eheleute wachhielt.z Andererseits zeichneten sie sich durch den
eigentlichen körperlichen Akt aus, eine Vereinigung, die sicherstellte,
daß die Ehe auch wirklich vollzogen wurde, wobei der Geschlechtsakt
die Rechtsgültigkeit des Vertrages besiegelte.

Gegenwärtig jedoch unterliegen auch die Hochzeitsfeierlichkeiten dem


Einfluß einer Lebensweise, bei der die Überstürzung wichtiger ist als
jede Überlegung, und das in einem Maße, daß die insbesondere in den
Vereinigten Staaten festzustellende Zunahme der »SchnellHochzeiten«
ein untrügliches Anzeichen dafür ist, daß sich nunmehr bei der Hochzeit
die »Reise« gegen die »Hochzeitszeremonie« durchgesetzt hat. Und an
die Stelle des beschleunigten Nomadismus der Drive-inHochzeit wird
bald schon die virtuelle Hochzeit treten, die dem ähneln dürfte, was sich
1995 auf der Ausstellung des Institut National de 1'Audiovisuel in Monte
Carlo ereignete, als die mit Datenhelmen und Datenanzügen
ausgestatteten Telegatten sich das Jawort gaben.
Von nun an obsiegt die Abwesenheit über den Brautraub.
Wie bei der Videokonferenz ist das, was zählt, vor allem der Abstand,
das Auseinandergerissensein der beteiligten Parteien. Weniger die
Berührung, der physische Kontakt der Partner, ist wichtig als vielmehr
die Zurückweisung des anderen.

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Aus diesem Umstand erklärt sich auch die Entwicklung eines
Sextourismus sowie auch in diesem Fall die Schaffung weltweiter Netze
der Kinderprostitution, wie etwa in Thailand, wo diese Form der
sexuellen Diversion 8o% des Nationaleinkommens ausmacht.
Etwa so wie beim Extrembergsteigen, wo die Besteigung eines Gipfels
nunmehr weniger zählt als die Geschwindigkeit, mit der man den Berg
hinaufeilt, stehen die Sexualpraktiken im Begriff zu DIVERGIEREN.
Ähnlich wie ein Atomreaktor, der keine Atomenergie mehr erzeugt und
kurz vor der Explosion steht, beginnt das Paar als Motor der Geschichte
zu divergieren und steht kurz vor dem Auseinanderbrechen, so daß schon
jetzt die gegenseitige Abstoßung einen größeren Stellenwert besitzt als
die sexuelle Anziehung und Verführung ...

Leichter verständlich werden somit die steigende Zahl der Klagen wegen
sexueller Belästigung in den Vereinigten Staaten und die plötzliche
Zunahme der Unterstellungen sexueller Belästigung von immer mehr
Frauen in genau dem Moment, in dem nach der Welle erhöhter
Scheidungsraten nun die Welle des reihenweisen Zerfalls des
Zeugungspaares beginnt.
Entgegen dem äußeren Anschein hat (lies alles nichts mit Moral oder
dem permissiven Charakter der postmodernen Gesellschaft zu tun, denn
es handelt sich in erster Linie um ein technologisches und anthropologi-
sches Phänomen von ungeahntem Ausmaß.
Die unmittelbare Vereinigung der Körper durch eine sich den
Artefakten des Cybersex verdankende mediale Trennung potentiell zu
ersetzen, das bedeutet tatsächlich, einen in der Geschichte nie
dagewesenen physiologischen und demographischen Zerfallsprozeß
auszulösen.
Weit davon entfernt, die üblicherweise feine Unterscheidung zwischen
der Sinneslust - dem l'art pour

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l'art des Geschlechtsakts - und dein zur Zeugung von
Nachkommenschaft bestimmten eigentlichen fleischlichen Akt
wiederzugeben, sind die Teletechnologien der Fernliebe nicht nur der
Anfang einer verstohlenen Form der Geburten-Fernkontrolle, sondern
sie sind gleichzeitig der Beginn einer Hyper-Scheidung, die schon in
Kürze die Zukunft der menschlichen Fortpflanzung gefährdet.
»Wenn man die Fakten aus dem Auge verliert, kann alles passieren«,
warnte Leonardo Sciascia. Wenn die virtuelle Lust der sexuellen
Telepräsenz in Zukunft wirklich die reale Lust der fleischlichen Liebe
hinter sich lassen sollte, was sehr wahrscheinlich ist, dann wird es bald
nicht mehr nur unterentwickelte Gesellschaften geben, sondern
»medial« unzureichend ausgerüstete, um der Menschheit ihre
Nachkommenschaft zu sichern.
Nachdem sie die Callgirls nach dem Muster der »Strichmädchen« in
die technische Arbeitslosigkeit entlassen hat, verabschiedet die
Kybernetik der zukünftigen elektronischen Kontaktanzeigen schon bald
auch den Mann und die Frau einer vollkommen entwerteten Menschheit
zugunsten von Sexmaschinen für die mediale Masturbation.

»Der Mensch des Wissenschaftszeitalters verliert seine Fähigkeit, sich


als Energiezentrum zu fühlen«, stellte Paul Valery fest und durchdrang
somit intuitiv einen wenig erforschten Bereich, und zwar denjenigen des
Lebendigen, d. h. den Bereich der für das Lebewesen so wesentlichen
Bewegung. In der Tat stellt die Bewegung der lebenden Organismen
immer noch ein Rätsel dar: das Rätsel des Lebens selbst. »Die
Pupillenbewegungen, die Kontraktion der Muskeln oder die Be

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schleunigung bei Läufern scheinen spontan aus dem Inneren zu
kommen, wohingegen die Bewegung eines Lastwagens, Flugzeugs oder
einer Rakete aus der Antriebskraft des sich plötzlich ausdehnenden
Gases bei hoher Temperatur resultiert und diejenige eines Segelbootes,
der Wellen oder der sich im Wind wiegenden Bäume von äußeren
Elementen verursacht werden.« 3
Als Energiequellen verhalten sich lebendige Organismen also wie
»biomolekulare« Einheiten, die Lichtoder chemische Energie in all das
umwandeln, was für das Leben notwendig ist: Bewegung, Wärme und
inneres Gleichgewicht. Bisher jedoch war dieser stoffwechselartige
Umwandlungsprozeß sinnlich wahrnehmbar, denn - psychologisch
gesprochen - die Ego-Zentrierung verschmolz nicht nur mit der
Gesundheit, sondern mit der »Form«, beispielsweise mit der guten Form,
in der man morgens ist, wenn die Nervenleitungen erwachen und uns
zum Leben erwecken.
Wie läßt sich das Scheitern interpretieren, das Val&y auf diesem
Gebiet feststellte?
Durch den Verlust, den wir mit zunehmender Passivität ängstlich in
uns selbst und um uns herum empfinden? Handelt es sich vielleicht um
ein vorzeitiges Altern, das auf den Streß und den beschleunigten
Lebensrhythmus zurückzuführen ist, die unsere Reflexe übersättigen und
die Reflexionsfähigkeit über unsere eigenen, unmittelbaren
Sinneseindrücke mindern? Das ist sehr gut möglich, aber es gibt noch
eine andere, auf äußeren Reizen beruhende Erklärung: sie steht im
Zusammenhang mit den Steuerungsformen der Fahrzeuge, mit denen wir
uns fortbewegen und derer wir uns bei unseren Reisen und
Ortsveränderungen immer häufiger bedienen.
Wie ich in einem früheren Buch4 schon einmal dargelegt habe, ist es
zudem aufschlußreich, die histori

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sche Entwicklung der unterschiedlichen »Führerstände« einer
eingehenderen Betrachtung zu unterziehen. Befand sich früher zum
Beispiel der Fahrer im Freien an der frischen Luft, während er das
Motorengeräusch und den Wind hörte und das Vibrieren des
Motorraums spürte, so läßt sich heute feststellen, daß der
Geschwindigkeitsexzeß dazu beigetragen hat, den Fahrer immer weiter
einzuschließen, zunächst hinter dem Windschutz einer Brille, dann
hinter der Windschutzscheibe und schließlich in der inneren Steuerung.
Das »gefühlsmäßige« Steuern der Pioniere wich erst der
»Instrumentensteuerung« und dann dem »Autopiloten«, ganz zu
schweigen von der Fernsteuerung der unterschiedlichsten Geräte.
Wie sollte man angesichts dieser Entwicklung nicht vermuten, daß die
Liebesbeziehung, die kybernetische Steuerung der entzweiten Liebenden,
nicht dasselbe Schicksal erleidet?
Die Fernsteuerung der Empfindungen und infolgedessen der
körperlichen Lust erneuert plötzlich den Kontaktverlust mit dem Körper
der »Geschwindigkeitsmaschine«, deren Wollust den Fahrer in einem
solchen Maße einhüllt, daß ein Fachmann wie Ayrton Senna erklären
konnte, daß er nicht nur in seinen feuerfesten Formel 1-Rennanzug
schlüpfe, sondern buchstäblich sein Rennauto überstreife ...
Mit dem Verlust der energetischen Selbstwahrnehmung des Körpers
beginnt insgesamt gesehen ein neues Kapitel in der Geschichte der
Prothesen, eine Geschichte, die (das muß an dieser Stelle gesagt werden)
die Theorien eines Leroi-Gourhan erschüttert, denen zufolge die
unterschiedlichsten Werkzeuge und Instrumente eine Verlängerung der
menschlichen Organe darstellen: der Hammer erhöht die Schlagkraft der
Faust, die Zange die Greifkraft der Hand usw. Diese Behauptungen
stimmen zwar ohne weiteres mit den Erkenntnissen der Mechanik
überein, sie verlieren

- 153 -
jedoch ihre Gültigkeit, sobald man vom Begriff der Masse zu dem der
Energie (insbesondere der elektrischen Energie), erst recht aber, wenn
man zu dem der Information als dritte Dimension der Materie übergeht.
Die Ersetzung der mechanischen Relais durch die elektrischen Relais
macht den Bruch offensichtlich. Der Körper wird soweit ausgeschaltet,
daß die elektromagnetischen Impulse der neuen Fernsteuerungen zum
Beispiel mit Hilfe des Zappens zur Verhaltensträgheit des Individuums
führen, und in bezug auf den Cybersex bedingt das Gesetz des geringsten
Aufwands schließlich die Ausschaltung des Geliebten als beseeltes
Wesen.
Als »biomechanische« Verlängerung einerseits und »energetische«
Abtragung andererseits verliert das Individuum des wissenschaftlich-
technischen Zeitalters tatsächlich die Fähigkeit, sich als Energiezentrum
zu empfinden, um am Ende angesichts der Automation seiner
produktiven und perzeptiven Funktionen erst unnütz und bald auch
überzählig zu werden.
»Nur eine neue Kunst des Genusses kann uns retten«, verkündet ein
Werbespruch der Cyberkultur.
Samt-Pol Roux brachte diesen Wunsch in einem sehr kurzen Gedicht
auf wunderbare Weise zum Ausdruck, als er in bezug auf die
Verkehrsmittel schrieb:
»Schneller zu fahren heißt, mit dem Tod zu spielen.
Noch schneller zu fahren heißt, den Tod zu genießen. « s
Dasselbe gilt selbstverständlich auch für die Fähigkeiten der
unmittelbaren Übertragung.
Da die Zoophilie von jetzt an den Anfängen einer Technophilie der
Fernliebe weicht, hebt das »Spiel der Liebe und des Glücks« an, das
Spiel einer pathologischen Trägheit, die der äußersten Bequemlichkeit
und Unabhängigkeit der Gefühle verwandt ist.
Für denjenigen, der verstanden hat, daß er sterblich

- 154 -
ist, beginnt die Agonie, stellte Arthur Schnitzler fest. Zwar nicht den
Tod, zumindest aber die Agonie seiner virtuellen Gegenwart, die
zunehmende Lähmung seiner Fähigkeiten zu genießen, das ist der noch
uneingestandene Einsatz der »Fernhandlungen«, bei denen die
entzweiten Liebenden nur noch mittels ihrer jeweiligen Fernsteuerung
gegenwärtig sind und das Sende-/Empfangsspektrum eines energetischen
Signals nunmehr den Orgasmus ersetzt.
Das Spiel gegenseitiger tödlicher Stromschläge, die man früher den
Laborratten verabreichte, bevor man sie vivisezierte ...
Betrachten wir zum Vergleich eine andere Agonie des Daseins in der
Welt: die Alzheimer-Erkrankung, jenen Altersschwachsinn, der die
sinnliche Wahrnehmung der Realität des Subjekts in Mitleidenschaft
zieht.
Da der Leidende von seinem Körper abgeschnitten ist, der sich von
seinem Geist unabhängig gemacht hat,
ist er für niemanden da, noch nicht einmal für sich selbst ...
Ohne Bewußtsein von sich selbst und irreparablen Störungen des
Gedächtnisses sowie der Orientierungslosigkeit in Raum und Zeit
unterworfen, hört der Leidende auf, hier und jetzt zu existieren.
Lediglich von Zeit zu Zeit erwacht er in vollkommener Disharmonie zu
seiner Umwelt, die trotz der Bemühungen des Pflegepersonals bestehen
bleibt, ihm während dieser kurzen Wachzeiten einige räumliche und
zeitliche Bezugspunkte an die Hand zu geben, um ihn so zu zwingen,
wenigstens für einen kleinen Augenblick eine Verbindung mit seinem
Körper, eine Beziehung mit den ihn umgebenden Personen
aufrechtzuerhalten.
In genau dem Moment, in dem die Realität nicht mehr das ist, was sie
einmal war, entschwindet der Leidende, ohne daß jemand wüßte, wohin.
Er entschwindet in eine pathologische Virtualität, die gewisse

- 155 -
Ähnlichkeiten mit der Cyberpathologie der entzweiten Liebenden
aufweist, jenen Anhängern eines interaktiven Spiels, das sie innerhalb
eines virtuellen Raums, den niemand anderes als sie allein jemals
kennenlernen wird, voneinander entfernt. Sie sind Cybernauten einer
diesmal jedoch frühzeitigen Demenz, die es jedem ermöglicht, sich an
jedes beliebige Netz anzuschließen, in dem sexuelle Belästigung nicht
nur erlaubt ist, sondern (per Abonnement) nachdrücklich unterstützt
wird, wobei die »telesexuelle« Dezentralisierung eine vorzügliche
Ergänzung der Teleheimarbeit darstellt.

Es gibt keinen Sex mehr, die Angst hat ihn ersetzt.


Die Angst vor dem anderen, dem Ungleichen hat über die sexuelle
Anziehung obsiegt. Nach dem Kampf gegen die Schwerkraft der Körper
und den Forschungsarbeiten über die Techniken des Schwebezustandes
und der Schwerelosigkeit beginnt nun ein analoger Kampf gegen die
universelle Anziehung, die der menschlichen Gattung das Überleben
sichert: Gentechnologie, künstliche Befruchtung usw., und für diese
lebensfeindliche Versuchung gibt es zahlreiche Beispiele.
Schopenhauer stellt sich in seiner »Metaphysik der Geschlechtsliebe«
einmal die Frage, ob denn das Menschengeschlecht überleben könnte,
wenn der Akt der Fortpflanzung sich weder einem Bedürfnis noch der
Lust verdankte, sondern eine Sache der reinen Reflexion und Vernunft
wäre.
Hundert Jahre später werfen die kybernetischen Forschungen über
sexuelle Abweichungen erneut die Frage auf, wohin uns die Trennung
der Körper, die Diastase der Lebenden, führen wird.

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Nach den unterschiedlichen »widernatürlichen« Perversionen zeichnen
sich hier also andere alternative Liebespraktiken ab, andere komplexe
Diversionen, die nicht mehr »tierischer« oder zoophiler, sondern »ma-
schineller« und offen technophiler Natur sind.
Aber was verbirgt sich eigentlich hinter diesem maßlosen Schwund-
bzw. Rückzugsphänomen vor dem fleischlichen Akt? Die Angst vor der
Ansteckung mit Aids oder andere, uneingestandene Ängste und
Befürchtungen?
Merkwürdigerweise verbannt uns die Maschinenwissenschaft sowohl
aus der geophysikalischen Welt als auch aus dem Körper des anderen,
der meinem Ego immer entgegensteht und der nicht mehr so le-
bensnotwenig ist, wie er es früher einmal war, als das Tierreich mit
seiner ganzen energetischen Gewalt noch jene synthetischen oder
vielmehr Substitutionsenergien beherrschte, die sich heute gegen es
durchsetzen.
Es handelt sich um die Niederlage der Tatsachen angesichts der
Verbreitung einer Information, die ihrerseits durch die
Massenkommunikationsmittel über alle Maßen synthetisiert ist, da in
ihnen das Bild die Oberhand gewinnt über die Sache, deren »Abbild« es
immer nur ist. Es handelt sich aber auch, und darauf kommt es in
unserem Zusammenhang an, um die Niederlage der Tatsache des
Liebemachens hier und jetzt zugunsten einer maschinellen Täuschung,
bei der die »Entfernung« wieder zur distentio wird, zum Ausein-
anderzerren und zur Zwietracht der Partner, wobei das Liebesspiel und
das Spiel des Zufalls zu einem gewöhnlichen Gesellschaftsspiel werden,
zu einer Art virtuellem Kasino, das der Wertpapierbörse ähnelt, wo sich
die Händler und Golden boys auf den vielzitierten Derivaten-Märkten
alltäglich einen Spaß daraus machen, die Bank zu sprengen.

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Noch einmal möchte ich in bezug auf die bevorstehende kybernetische
Monopolisierung der sinnlichen Lust zitieren, was Schopenhauer über
das sexuelle - und nicht mehr finanzielle - Interesse sagt: »Denn jenes
Interesse an der speciellen Beschaffenheit der Gattung, welches die
Wurzel aller Liebeshändel, von der flüchtigsten Neigung bis zur
ernstlichsten Leidenschaft, ausmacht, ist Jedem eigentlich die höchste
Angelegenheit, nämlich die, deren Gelingen oder Mißlingen ihn am
empfindlichsten berührt; daher sie vorzugsweise die
Herzensangelegenheit genannt wird. «'
Stellen wir uns einmal vor, das älteste Gewerbe der Welt würde zum
größten »multinationalen Unternehmen« werden, das es gibt, oder besser
noch, die Konsumgesellschaft würde in Zukunft, indem sie diejenige
Form der Konsumgesellschaft hinter sich läßt, bei der die Waren in den
riesigen Supermärkten zu erwerben sind, zu einer Gesellschaft des
telesexuellen Konsums werden, dann wäre die multimediale Welt nicht
nur das bei den Ökonomen so sehr verschriene Kasino,
sondern ein Bordell, ein KOSMISCHP'.S BoRDELL, und die
erstaunliche Entwicklung der elektronischen Kontaktanzeigen würde
sich dank der technischen Errungenschaften der interaktiven
Telekommunikation unendlich fortsetzen.

Es gibt noch einen anderen Aspekt dieser beginnenden sexuellen


Diversion, der, verstärkt durch die Besessenheit der Individualisierung in
Verbindung mit der demokratischen Krise, unsere Gesellschaft bedroht.
Jeder weiß aufgrund seiner unterentwickelten philanthropischen
Neigungen aus eigener Erfahrung: »Hingegen dem Grade nach wird sie
[die Liebe] um so mächtiger seyn, je individualisirter sie ist.«' Mit ande-
ren Worten, die Lebensbedingungen im globalen Dorf

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werden mit dem Zerfall der familiären Strukturen innerhalb der
Bevölkerung die Entwicklung hin zur Autarkie eingefleischter
Singleexistenzen noch beschleunigen und gerade dadurch die Suche nach
intensiven Erfahrungen noch verstärken, wofür die »Extremsportarten«
beredtes Zeugnis ablegen, die in der Suche nach sehr riskanten sexuellen
Erfahrungen immer häufiger eine Entsprechung finden ...
Wenn die Existenz des gesellschaftlichen Körpers derjenigen des
animalischen Körpers, den er erzeugt, tatsächlich vorausgeht, und wenn
das »Wesen an sich mehr in der Gattung als im Individuo liegt«', dann
bedroht die gegenwärtige Form der Individuation den Bestand des Seins
von allen Seiten.
»Weil kein Thema es an Interesse diesem gleich thun kann, als welches,
indem es das Wohl und Wehe der Gattung betrifft, zu allen übrigen, die
nur das Wohl der Einzelnen betreffen, sich verhält wie Körper zu Flä-
che.«`-'
Handelte es sich früher noch um die OBERFLÄCHE mit der
unvergleichlichen Tiefe der Haut (Valery), so handelt es sich heute um
die SCHNITTSTELLE, und das dank jener Leistungsfähigkeit der
Telekommnunikation zwischen den UNGETEILTEN Körpern, die das
Paradox eines TOTALITÄREN INDIVIDUALISMUS vollen
den, indem sie nicht nur »Videokonferenzen« ermöglichen, sondern die
telesexuelle Vereinigung genitaler
Empfindungen; wir sind mit der HYPERSCHEIDUNG
einer gerade durch ihre Entzweiung vereinten Menschheit konfrontiert,
bei der die Interaktivität einen Zerfall der Körper hervorruft, die
demjenigen entspricht, den die Radioaktivität bei den Elementarteilchen
der Materie verursacht.
Muß man an dieser Stelle nicht zwangsläufig versucht sein,
Schopenhauer und Heidegger einander anzunähern? Wenn nach
Meinung des Letztgenannten

- 159 -
die Technik tatsächlich die Metaphysik vollendet, dann wird die
Kybernetik die »Metaphysik der Liebe« auf Kosten der Gattung und ihrer
geschlechtlichen Fortpflanzung virtuell verwirklichen.

»Der CYBERFEMINISMUS ist an der Ausbildung eines


feministischen Bewußtseins beteiligt und hebt die Bedeutung der
Multimedialität für die Körperwahrnehmung hervor.«"' Mit diesen
Worten beginnt das Manifest einer erst kürzlich gegründeten
Vereinigung, und in Anlehnung an die Formulierungen eines vor zehn
Jahren in der » Socialist Review« erschienen Artikels erklärt die
genannte Frauengruppe weiter:
»Die Kommunikations- und Biotechnologien sind wichtige Werkzeuge
für die Neuerfindung unseres Körpers [...1 Der Beginn der post-
industriellen Kultur wird zu einer grundlegenden Veränderung der
menschlichen Gesellschaften führen. Auch die sensori
sche und organische Architektur des menschlichen Körpers, die
Architektur der sexuellen und kulturellen Identitäten, ja selbst die
unserer Denkweisen sowie die der Stellung eines jeden werden sich
verändern. «
Nachdem die Verfasserin diese Tatsachenfeststellung in eine Reflexion
der politischen und kulturellen Bedeutung des CYBERSPACE für die
Befreiung der Sitten überführt, formuliert sie schließlich die Schlüs-
selfrage der Kontrolle: »Wer ist in Zukunft für die Codes und Regelungen
verantwortlich, nach denen die Körper im Cyberspace dargestellt
werden, wo alles eine Metapher ist? Das hängt bereits von der Art und
Weise ab, in der die Cybernauten sich auf den virtuellen Körper einlas-
sen.«
Im Anschluß hieran bringt der Cyberfeminismus das gewichtige
Argument der politischen Verantwortung

- 160 -
bei der Erschaffung dieses Körpers, dieses »wirklich revolutionären
Subjekts« vor.
»Was wird im Zeitalter der codierten Metapher aus der Beziehung
zwischen Gesellschaft und Sexualität, aus den sexuellen
Kommunikationsformen des Körpers, was aus dem Begehren und dem
Unterschied zwischen den Geschlechtern?
Die Kontrolle über die Auslegung der Grenzen des Körpers ist eine
echte Herausforderung für den Feminismus.«
Es ist leicht nachvollziehbar, daß es in dem Moment, in dem die
Grenzen zwischen der Biologie und der Technik, Mensch und Maschine
eine nach der anderen wegfallen, höchste Zeit ist, die eigene Stellung
neu zu bestimmen. Und so erklärt sich auch der folgende Schlußappell:
»Es ist dringend notwendig, daß sich die Frauen an der Errichtung des
Cyberspace beteiligen und eine
CYBER-PHANTASIE ausbilden, die zum Werkzeug für
die Konstruktion ihrer selbst taugt. Auch wenn die Multimedialität ein
gefährliches Kontroll- und Unterdrückungsinstrument sein kann, so liegt
es doch nur an uns Frauen, daraus ein Werkzeug der Emanzipation zu
machen.«
Dieser Text ist weniger ein Manifest des militanten Feminismus als
vielmehr ein Warnruf angesichts der Bedrohung einer maschinellen
Substitution, die die körperlichen Reize der Weiblichkeit ersetzen würde.
Trotz der unterschiedlichsten Substitute für die Geschlechtsteile
(Vibratoren, Dildos usw.) ist die Simulation tatsächlich schon nicht mehr
auf der Höhe der Zeit, denn sie ist auf dem besten Wege, ihrerseits durch
»alternative« Praktiken abgelöst zu werden, deren Hyperrealismus des
virtuellen Körpers für das Fleisch wohl das sein mag, was die Drogen für
den Geist sind. Und die tödliche Gewöhnung an die Rauschgifte gibt
wohl einen Vorgeschmack darauf, was uns in Zukunft

- 161 -
mit dem erbarmungslosen Imaginären des CYBERSEX erwartet.

»GESCHWINDIGKEIT: KOITUS DER ZUKUNFT«, prophe


zeite vor mehr als einem halben Jahrhundert Saint-Pol Roux, der
surrealistische Anhänger eines lebendigen Kinos, das eine zuschauende
Menschheit entstehen lassen soll: » O Kamera, Du gebärendes Wesen,
habe die Güte, wahrhaftig zu gebären! Ihr flachen Bilder, bläht Euch
zum Relief auf! Laßt die Kondome liegen, haucht diesen Dummköpfen
Leben ein.«"
Das ist heute bereits geschehen. Dank des Datenhandschuhs (DATA
GLOVE) und vor allem des Datenanzugs (DATA SUIT) wird alles vom
Aufblitzen bestimmt, und der
Blitzschlag der Liebe auf den ersten Blick wird für die entzweiten
Liebenden unversehens zum Gnadenstoß.
Es findet also ein Übergang von der erotischen Zerstreuung zunächst
zur sexuellen Diversion und bald schon zu einem genauso
verhängnisvollen Zerfall wie bei einem Reaktor statt, in dem eine
Kernspaltung ausgelöst wird.
Da der kybernetische Orgasmus sich nunmehr der Geschwindigkeit der
elektromagnetischen Wellen verdankt, ist der Unterschied zwischen der
Ekstase und Diastase nicht nur klein, sondern winzig.
Wenn die Entfernung zwischen den (interaktiven) Liebenden sie in
einem solchen Maße einander nähert, daß sie den Fernsten lieben wie
sich selbst, dann ist der Gegensatz zwischen Scheidung und Hochzeit ein
für alle Mal aufgehoben.
Um zu einer vorläufigen Zusammenfassung zu kommen, möchte ich
jetzt die ersten ethischen Reaktionen auf die telematische Veränderung
der Sexualität einer näheren Betrachtung unterziehen. Aus Anlaß des
inter

- 162 -
nationalen Jahres der Familie 1994 erklärte Papst Johannes Paul II. in
einem Hirtenbrief: »Die Vereinigung und die Fortpflanzung können
nicht künstlich voneinander getrennt werden, ohne die innerste Wahrheit
des ehelichen Aktes zu verfälschen.«
Beschränkt man sich nicht darauf, in dieser Aussage die strikte
Ablehnung der Empfängnisverhütung oder den üblichen Hinweis auf die
Unlösbarkeit des Ehebundes zu sehen, dann kommt eine andere
Fragestellung zum Vorschein: nämlich die nach dem Wesen der
KÜNSTLICHEN Trennung. Um welche Künstlichkeit han
delt es sich tatsächlich, wenn zugunsten einer virtuellen Telesexualität,
die die Trennung der Körper und nicht mehr nur die Scheidung ans Herz
legt, sogar die Vereinigung der Körper überholt ist?
Wie ist es um die Zukunft nicht nur des Sakraments der Ehe, sondern
auch der Scheidung bestellt, wenn man im wahrsten Sinne des Wortes
neben dem Paar auch die körperliche Vereinigung auflöst?
In noch jüngerer Zeit haben katholische Experten anläßlich eines
Kongresses, der im Frühjahr 1995 in Rom stattfand, einen Aufruf gegen
die klar vorhersehbare Entwicklung der kybernetischen Liebe verfaßt.
Die Kongeßteilnehmer in Rom verurteilten diese interaktiven Praktiken
als eine »Katastrophe für die Liebe« und stellten fest, daß die
Sexindustrie den Liebenden nunmehr »einen illusorischen und
künstlichen Raum« anbiete, »in dem man sich der Unfähigkeit einer
verantwortungsbewußten zwischenmenschlichen Begegnung leicht ent-
ziehen« 13 könne. Darüber hinaus ist die Rede davon, daß diese beste
aller Welten der über weite Entfernungen hinweg unterhaltenen
sexuellen Beziehungen zu einem oder mehreren Partnern niemals nur
eine Verweigerung des menschlichen Zeugungsaktes sei, und auch kein
Eheunglück wie der Ehebruch oder die Scheidung, sondern ein Unglück
der Realität des »kör

- 163 -
perlichen Aktes« selbst und infolgedessen der wahrhaften Kenntnis des
anderen, denn in der Sprache der Bibel bedeutet den anderen zu kennen,
ihn zu lieben.
Wie wir bereits feststellen konnten, birgt die auf die industrielle
Revolution folgende »Revolution der Information« Gefahren in sich, da
die Schäden, die der Fortschritt der INTERAKTwrrAT anrichtet,
möglicherweise schon bald genauso gefährlich sein werden wie die der
RADIOAKTIVITÄT, wobei die bereits früher von Einstein verurteilte
»Informationsbombe« eine neue Form der Abschreckung notwendig
machen wird, die weder militärisch noch atomar ist, wie dies angesichts
der ungeheuren Gefahren der »Atombombe« zwangsläufig der Fall war,
sondern politisch und gesellschaftlich. Es sei denn, ja es sei denn, der
gesellschaftliche Auflösungsprozeß mit seinem Zerfall der Kernfamilie
und der Zunahme der Bevölkerungsteile mit alleinerziehenden
Elternteilen ist bereits in eine nicht mehr umkehrbare Phase eingetreten
...

- 164 -
Fluchtgeschwindigkeit

»Die Erde ist unsere Mutter, der Himmel unser


Vater.«

»Die Standortbestimmung ist unbarmherzig«, behauptete einst der


Reisende Victor Segalen.' Ja, unbarmherzig wie das Hier und jetzt einer
Tatsache. Mit der allgemeinen Durchsetzung der Interaktivität über
große Entfernungen hinweg aber wird sie in Zukunft erbarmungswürdig
werden.
Da der Widerstand der Entfernungen schließlich weggefallen ist, wird
die Erdoberfläche ihre Verteidigungswaffen namens Dauer, Ausdehnung
und Horizont übergeben.
»Die Erde lehrt uns mehr über uns selbst als alle Bücher, da sie sich uns
entgegenstellt. Der Mensch entdeckt sich, wenn er sich an Widerständen
mißt«, bemerkte der Flieger Saint-Exupery. Das gilt sowohl für die Erde
als auch für den Mond, seitdem der Mensch seinen Fuß darauf gesetzt
hat.
Jeden Widerstand nach und nach gebrochen und jede örtliche
Gebundenheit gelöst zu haben, die Gegenwehr der Dauer und der Weite
zur Aufgabe zu zwingen, und zwar nicht nur diejenige der Weite des
Erdhorizonts, sondern auch diejenige der Umlaufbahn unseres
natürlichen Satelliten, des Mondes, genau das ist das Ziel, das die
Wissenschaften und Techniken des Menschen nunmehr erreicht haben;
den Abstand aufzuheben, dem Skandalon des Raum- und Zeitintervalls
ein Ende zu bereiten, das den Menschen auf eine unerträgliche Weise
von seinem Ziel trennte, all das ist auf dem besten Wege, vollendet zu
werden, aber um welchen Preis? Doch wohl um den Preis, daß nicht nur
das mit fast genereller Gleichgültigkeit

- 165 -
durchreiste Land, sondern die Welt, der irdische Raum, zu etwas
Erbarmungswürdigem, endgültig Erbarmungswürdigem werden.

Der Passagier der verschiedenen Verkehrsmittel, der die sich in die


Länge ziehende Dauer erobert', hat nach und nach jedes der Hindernisse
beseitigt, denen er es gerade verdankte, hier und jetzt in der Bewegung
zu existieren; er hat also nicht nur die Natur verschmutzt, sondern auch
ihre Größe, ihre natürliche Größe.
Wenn das OBJEKT tatsächlich das ist, was sich uns entgegenwirft -
lat. obiectum, Part. Perf. von obicere = entgegenwerfen -, dann ist es
nicht zu trennen von der STRECKE und ihrer Übereiltheit, wobei die
visuelle Perspektive für das SUBJEKT mit einer zeitlichen Perspektive
verbunden ist, die von unseren Wissenschaften und
Technowissenschaften der Kommunikation fortwährend verändert
wurden, indem sie die Bildfolge dauernd beschleunigten. Damit gehen
sie allerdings das Risiko ein, in nächster Zukunft ein Unglück der
Zirkulation des Realen zu verursachen, bei dem schon jetzt alles darauf
hindeutet, daß es ein niemals zuvor erreichtes Ausmaß haben wird.
Seit den antiken Philosophen - und bestätigt von den modernen
Physikern - weiß man aus Erfahrung,
daß die Zeit die Form der sich in Bewegung befindlichen Materie ist.
Man scheint jedoch zu vergessen, daß, wenn die Zeit keine
»unabhängige Körperlosigkeit« darstellt, sie sofort die Einführung einer
neuen Form des Unfalls notwendig macht, eines besonderen Akzidens
bestimmter Zustände, die ihrerseits akzidentiell sind, wie Epikur
bemerkte.
Mit anderen, aber immer noch Epikurs Worten: die Zeit ist das
Akzidens der Akzidenzien, da wir sie genauso mit den Tagen und
Nächten sowie ihren Bestandtei

- 166 -
len in Verbindung bringen wie mit dem Vorhandensein oder dem Fehlen
von Gefühlen, mit der Bewegung oder der Erholung, wobei wir der
Meinung sind, daß das Eintreten eines dieser Ereignisse Zeit heißt.'
Mit Hilfe der Ausführungen Buzz Aldrins, der kein weltläufiger
Reisender oder Flieger ist, sondern einer der Astronauten, die an der
ersten Mondlandung beteiligt waren, möchte ich versuchen, eine bessere
Bewertung der »Zeitkatastrophe« vorzunehmen, die von den Ereignissen
unseres zu Ende gehenden Jahrhunderts nur unzulänglich kaschiert wird:
»Die Eagle hat gerade aufgesetzt, die Mondfähre steht vollkommen
still, was ein sehr merkwürdiges Gefühl auslöst. Für mich ist ein
Raumflug gleichbedeutend mit Bewegung. Die Mondfähre jedoch
bewegt sich nicht, und es scheint, als habe sie seit Urzeiten dort
gestanden. « 4
In der Tat handelt es sich um einen »Anfang«, den Anfang nicht mehr
nur der Eroberung des Jenseits eines außerplanetaren Raums, sondern es
handelt sich um einen anderen Anfang der Zeit. Dieser plötzliche
Stillstand, dieser erzwungene und paradoxe Ruhezustand der
Unbewegtheit in Raum und Zeit eines anderen Planeten, ist buchstäblich
beispiellos: die Zeit des Mondes ist nicht dieselbe wie die der Erde. Und
bereits die Zweiteilung der Zeit, die sich den Astronauten aufgrund der
so einzigartigen Trägheit des Nachtsterns offenbart, eröffnet ihnen, nur
ihnen allein, den Übergriff der Erlebniszeit weit eher auf die
astronomische Zeit als die lokale Zeit einer sehr treffend als Stützpunkt
der Ruhe bezeichneten Mondregion.
Aufgrund ihrer Unfähigkeit, sich in der Weite dieser unbekannten
Landschaft zu situieren, befinden sich die Astronauten weniger auf dem
Mond als in der Gravitationsträgheit eines Fixpunktes ohne räumlichen
Bezug und in einer nie dagewesenen Zeitlichkeit. Jeder der beteiligten
Astronauten erfährt de facto das Paradox

- 167 -
des Zenon aus Elea: dasjenige der Unbeweglichkeit einer Strecke.
Das, »was sich ihnen entgegenwirft«, ist plötzlich ein OBJEKT,
allerdings ein beispielloses Objekt. Schließlich hat die Menschheit das
seit Beginn der astronomischen Beobachtung gesteckte Ziel erreicht:
sowohl die Perspektive des Quattrocento als auch diejenige des Gali-
leischen Fernrohrs sind überholt, verdrängt durch das unvergleichliche
Zutagetreten einer neuen zeitlichen Perspektive.

Da sich die (ungenau als Eroberung des Weltraums bezeichnete)


»Strecke« schließlich von der Bezugsachse der Mutter Erde befreit hat,
findet sie zu guter Letzt einen ihr zustehenden Platz zwischen
SUBJEKT und OBJEKT, wobei die Wesenhaftigkeit der
außerirdischen Strecke sich neben der herkömmlichen Subjektivität und
Objektivität festsetzt.
Somit ist das Ziel, das mit dem Flug von Apollo ii erreicht wurde,
weniger »der Mond«, dieser Satellit der Erde, als die Strecke selbst.
Das Sein der Strecke der Eroberungsbewegung des Weltraums ist
durch die so einzigartige Trägheit im Meer der Ruhe schließlich geadelt
worden.
Um die Bedeutung dieses historischen Unfalls, des Aufpralls bei der
Mondlandung, der eine Weiterführung von Saint-Exuperys Feststellung,
daß »wir mehr von der Erde lernen können als von allen Büchern«, im
außerirdischen Raum darstellt, müssen wir drei Jahrhunderte
zurückgehen, genauer gesagt zur geologischen Entdeckung der Tiefe der
Zeit in der Dichte unseres Planeten.
Paolo Rossi bemerkte in seinem Essay » The dark abyss of Time« sehr
treffend: »Wenn die Zeitgenossen von Hooke über eine Vergangenheit
von 6ooo Jahren verfügten, so waren sich diejenigen Kants über eine

- 168 -
Vergangenheit von mehreren Millionen Jahren bewußt. «
Dieses plötzliche Übertreffen der Geschichte, dieser Sprung in das
Dunkel der Zeit zum Ende des 17. Jahrhunderts kann mit dem Sprung in
die Dunkelheit der kosmischen Weite verglichen werden, die gegen Ende
unseres 20. Jahrhunderts zur Landung des Menschen auf dem Mond
führen mußte.
In diesem weit zurückliegenden Zeitalter, das etwa mit dem Beginn des
»Jahrhunderts der Aufklärung« zusammenfällt, muß die Entdeckung der
Unermeßlichkeit der Zeit sicherlich wie ein Ereignis von allergrößter
Bedeutung erschienen sein, ich glaube jedoch, es wäre übertrieben zu
denken, daß »wir nicht darauf hoffen können, derartiges noch einmal zu
erleben«', denn schließlich erleben wir heute die Emanzipation des
Zeitpfeils, die Emanzipation einer universellen Zeit, die die Reisenden
im »außerirdischen Raum« - wie zum Beispiel Aldrin, Armstrong und
einige andere - realisiert bzw. erlebt haben, vor allem aber erleben wir
das Auftauchen einer Weltzeit, die dazu in der Lage ist, die konkrete
Bedeutung der Ortszeit der Geographie auszulöschen, die Geschichte
überhaupt erst hervorgebracht hat.
Bevor wir uns jedoch die Frage stellen, welche Auswirkungen das
Fehlen der Tiefe der Gegenwart im Zeitalter einer allgemein
gewordenen Kommunikation hat bzw. in Zukunft haben wird, müssen
wir, so glaube ich, noch einmal auf das gewachsene Bewußtsein von
einer geologischen Dichte ohne Gedächtnis und auf die Auflösung, den
tellurischen Zusammenbruch des Wissens um die Tiefe der
Vergangenheit zurückkommen.

Gegen Ende des 17. Jahrhunderts kommt also die auf die neue
stratigraphische Beobachtung zurückzu

- 169 -
führende Idee auf, daß die Geologie eine verdeckte Perspektive enthält,
die sich überall unter unseren Füßen befindet und hier und da anläßlich
tektonischer Ereignisse offen zutage tritt, um hin und wieder die Masse
einer Zeit ohne Gedächtnis an der Erdoberfläche zum Vorschein
kommen zu lassen ... Ich möchte wetten, daß dieses schon bald zum
Allgemeingut gewordene Bewußtsein seinerzeit beträchtlich dazu
beigetragen hat, den an Grund und Boden gebundenen Begriff der
Lokalisierung, das hic et nunc eines zunehmenden Materialismus, zu
stärken.
Sich hier und jetzt in senkrechter Stellung an der Oberfläche einer
Erdkruste zu befinden, die Millionen von Materiejahren umschließt, hat
mit Sicherheit weder dem Wert der »Natur« noch dem seiner Größe
geschadet, was ganz im Gegensatz dazu die Entdeckung der Milliarden
von Lichtjahren tut, die, wie man sagt, zwischen uns und dem Kollaps
liegen, aus dem die Zeit geboren wurde.
»Der Exotismus ist alles, was anders ist«, behauptete Victor Segalen,
dieser unverbesserliche Reisende, der jede Örtlichkeit unnachsichtig
beurteilte.
Ich denke, man kann in diesem Zusammenhang behaupten, daß die
Entdeckung der MAI ERIE ZEIT, die den Sockel für die Erfahrung der
Bewegung und des Seins bildet, gemeinsam mit dem Selbstbewußtsein
wesentlich dazu beigetragen haben muß, daß der »Individualismus«,
dieser Fixpunkt der Trägheit, der früher jede Art von Seßhaftigkeit
gerechtfertigt hatte, Wurzeln fassen konnte. Im Gegensatz dazu
verschafften zu Beginn des 20. Jahrhunderts Einstein, Hubble oder
Wegener mit ihrer These von der Ausdehnung des Universums in
Verbindung mit der plötzlichen Kontinentalverschiebung der Bedeutung
des Exotismus Geltung, wobei die LICHTZEIT dazu führte, daß wir mit
einem Mal sowohl die Ausdehnung als auch die Masse der

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Zeittiefe des ursprünglichen Lebensraums vollkommen vergaßen.
Folglich läßt sich feststellen, daß, wenn das Auftauchen der Zeittiefe der
Materie (Geologie) von Grund auf endotisch ist, die Universalzeit des
Lichts (Kosmologie) exotisch ist, sie ist eingeschrieben in ein
Ausdehnungsphänomen, das unaufhörlich die raumzeitlichen Bezüge
ersetzt, denn, so erläutert Stephen Hawking, »in der Relativität waren
bereits mehrere gekrümmte Raumzeiten vorhanden.«

Was aber in der einen wie in der anderen Form historischen Bewußtseins
zum Vorschein kommt, ist nicht mehr nur der räumliche und damit
materielle Katastrophismus des Einflusses des Bodens auf die
Lebensweise der Menschen, sondern der zeitliche und immaterielle
Katastrophismus der kosmischen Ausdehnung.
Wenn das AKZIDENS tatsächlich nur das ist, was sich ereignet, und
nicht wie die SUBSTANZ das, was ist, dann offenbart sich mit
zunehmendem Verstreichen und Verblassen der ortsgebundenen Zeit der
Geschichte ihr akzidentielles Wesen, wobei die vergangenen Jahr-
hunderte die Phasen dieser Apokalypse der Zeit »ans Licht« fördern, auf
deren wahrscheinliches Eintreffen bereits Epikur hinwies.
Auf die ursprünglich zyklische Zeit und auf die lineare (oder
pfeilrechte) Zeit einer chronologischen Geschichte wird also eine
sphärische Zeit folgen, die »dromosphärische« Zeit des Lichts (oder,
wenn man es vorzieht, des Lichtkegels), die schon bald den alten
Kreislauf der verflossenen Jahrhunderte verdrängt.
Was jedoch auf diese Weise zugunsten einer GLOBALEN Zeit
verschwindet, das ist schlichtweg die ORTSGEBUNDENE Zeit einer
Geschichte, die sich auf der Oberfläche eines Planeten, im so
einzigartigen irdischen Wechsel-von Tag und Nacht sowie unter dem
Einfluß

- 171 -
der spezifischen Schwerkraft eines Himmelskörpers unter anderen
ereignet hat.

Nachdem ich so viel von der plötzlichen Tiefe einer geologischen Zeit
jenseits der Tiefe der mosaischen Zeit der jüdisch-christlichen Schriften
gesprochen habe, wie sollte es da noch möglich sein, diese plötzliche
zeitliche Erweiterung jenseits der ewigen Wiederkehr des Gleichen ohne
Vorbehalt zu betrachten?
Schon die lineare und die zyklische Zeit konfrontierte die Philosophen
wegen ihrer Zweiteilung mit einer ganzen Reihe außerordentlich
schwerwiegender stereoskopischer Fragen, die allerjüngste »dritte Di-
mension« unserer vierten zeitlichen Dimension aber wirft für uns die
Frage auf, was von der Natur und was von der vergangenen Größe bleibt
...
Müssen wir von nun an »die Erde bemitleiden«, wie es die Ökologie
nahelegt? Um Gnade bitten für das geringe Ausmaß ihrer Fläche?
Wenn die Standortbestimmung für den regungslosen und an Ort und
Stelle verharrenden Navigator unseres ausgehenden Jahrtausends mit
einem Mal zu etwas derart Bemitleidenswertem geworden ist, müssen
wir dann deswegen auch den schon ausschließlich zugunsten der Echtzeit
des unmittelbaren Austauschs in Mißkredit geratenen Realraum
bemitleiden, oder müssen wir im Gegenteil entschlossen gegen diese
Diskriminierung ankämpfen?
»Jede vergängliche Größe ist nichts als eine Krankheit«, erklärt
Herman Melville mit Bestimmtheit. Wenn diese Größe aber nicht mehr
die eines hochmütigen Kapitäns ist, sondern die einer gewissenlosen
Wissenschaft, um welche Art von Krankheit handelt es sich dann? Was
wird in Zukunft von den letzten »Einschreibeflächen« unserer
Geographie und was von der zweiten Dimension der Geometrie bleiben,
wenn

- 172 -
die neue »Sintflut«, die sich ankündigende Zeitkatastrophe diejenige des
geologischen Raums noch verstärkt?
Müssen wir uns nach dem ursprünglichen Unfall der Überflutung der
Kontinente durch die Dynamik der Flüssigkeiten, von dein nicht nur alte
Schriften zeugen, sondern auch unsere Formationskunde, auf den all-
gemeinen Unfall einer Überflutung der örtlich gebundenen Raumzeit
durch die elektromagnetische und wellenförmige Dynamik der Lichtzeit
gefaßt machen, darauf, daß nach den überschwemmten Erdzonen bald
auch die Bedeutung der Zeitzonen verschwindet?
Sollte dies tatsächlich der Fall sein, ja, dann wäre die Erde, der irdische
Raum an einem bisher nie dagewesenen Gebrechen »erkrankt«, und man
müßte Mitleid haben mit der Dauer, der Schwere und der Tiefe eines
Raums, der durch den Kunstgriff einer Höchstbeschleunigung entwertet
würde, die sowohl die Geschichte als auch die Erinnerung daran
wahrhaftig auszulöschen vermag, denn die hinlänglich bekannte
Versteppung der Erdoberfläche würde durch diejenige der
(chronogeographischen) Dauer überholt werden, wobei die Wüste der
Weltzeit, d. h. einer GLOBALEN Zeit, die von den Umweltschützern zu
Recht gebrandmarkte Verwüstung der Tier- und Pflanzenwelt vollendete.

Wenn wir das Meer oder die großen unfruchtbaren Wüsten betrachten,
was sehen wir dann? Es gibt keine Oberfläche mehr, keine
Oberflächengestalt, die diesen Namen verdiente, sondern eine Linie,
eine Horizontlinie. Mit dem Beginn einer Weltzeit, dieser Parodie der
astronomischen Zeit, wächst die Wüste, die Perspektive des örtlich
bestimmten Raums verschwindet, und mit ihr nicht nur die sichtbare
Horizontlinie, sondern die Gesamtheit der Einschreibeflächen der
Bewegung.

- 173 -
Infolgedessen komplettiert der Stillstand des Fixpunktes den Verlust der
bewohnbaren Flächen und die Perspektive der Weltzeit, d. h. der Echtzeit
der Unmittelbarkeit, ersetzt gleichzeitig sowohl diejenige des sichtbaren
Raums des Perspektivismus des Quattrocento als auch diejenige der
ortsgebundenen Zeit des historischen Ereignisses, das hier und jetzt
stattgefunden hat.
Dieser beispiellose Unfall ist ein Endspiel der Geschichte und erinnert
an die bereits erwähnte Lage des Raumfahrers auf der Mondoberfläche:
wie Aldrin im Jahre 1969 ist er unsicher in bezug auf die eigene
Standortbestimmung und zweifelt an seiner Unbeweglichkeit. Der öde
Horizont, den er unter dem nächtlichen Himmel betrachtet, gehört nicht
zu einer Landschaft und erst recht nicht zu einem Land, er ist lediglich
ein Gelände, eine Position, und zwar die des Zielpunktes für seine
Mondlandung.
Darüber hinaus veranschaulicht bereits die Bezeichnung »Meer der
Ruhe« für einen Ort, dem es ersichtlich an Dynamik mangelt, das
Paradox dieses plötzlichen Verlusts der »Oberflächen« zugunsten des
»Punktes«, das jede außerirdische Strecke verbirgt. Merkwürdigerweise
verstärkt ein anderer Aspekt der Weltraumfahrt noch die Zweideutigkeit
der zeitlichen Katastrophe, die durch den Begriff der »Eroberung des
Weltraums« heute nur unzureichend verdeckt wird. Die alte chinesische
Weisheit lehrt, daß man die Beweglichkeit niemals der Sicherheit opfern
darf. Doch genau das ist es, was vor unseren Augen einst auf dem Mond
geschah und heute auf der Erde geschieht. Vor 25 Jahren erforderte die
Loslösung der Strecke vom Erdboden, mittels derer die Astronauten im
Meer der Ruhe landen konnten, eben dieses Opfer, um die Sicherheit der
Apollo 11-Mission zu gewährleisten.
Es liegt auf der Hand, daß die Notwendigkeit der Hin- und Rückreise
im Gegensatz zur Katastrophe einer

- 174 -
einfachen Hinreise diese grundlegende Vorsichtsmaßnahme
rechtfertigte, aber ich möchte nochmals daran erinnern, daß es sich hier
nicht um eine Frage des Raums, sondern um eine der Dauer handelte.
Die Frage der Unumkehrbarkeit der sagittalen Zeit eroberte ihre Rechte
zurück, und der Zeitpfeil der Mondmission entzog sich nicht nur dem
Bezugssystem der Gravitation, sondern auch dem raumzeitlichen der
Erde, um sich schließlich nur noch in das Bezugssystem der
Raumfahrtgesetze einzuschreiben.

»Im Universum steht nichts fest«, erklärte Einstein. Demzufolge ist der
Fixpunkt der amerikanischen Astronauten im Meer der Ruhe lediglich
ein Zielpunkt in der Zeit der Strecke von der Erde zum Mond, und der
unerbittliche Charakter dieser außerirdischen Pseudo-Lokalisierung
hängt weniger von irgendeiner POSITION innerhalb einer leicht zu
durchquerenden territorialen Fläche ab als von ihrem STANDORT im
Schutz der Unbeweglichkeit: dem Stillstand eines toten Punktes.

Weniger auf dem Mond als vielmehr außerhalb des Gravitationsfelds der
Erde müssen Armstrong und Aldrin ihre natürliche Beweglichkeit der
Sicherheit opfern. Ob in bezug auf ihre Energie-, Wasser- oder
Sauerstoffreserven, ihre Zeit ist gezählt, und diese Zeit, diese Dauer, ist
die eines Countdowns, denn ihre Gegenwart am Ort ihrer Landung ist
immer nur ein heikler oder, besser gesagt, gefängnisartiger Zustand, da
das Verlassen der Mondlandefähre dieselben Schwierigkeiten mit sich
bringt wie das spektakuläre Verlassen der Raumstationen, die sich im
leeren Raum zwischen den Planeten bewegen.

- 175 -
Für die Logistiker, anders gesagt, die Fachleute für die Sicherheit der
Versorgung, steht fest: >Je mehr Bewegung, desto mehr Kontrolle«. Und
diese Kontrolle erstreckt sich schließlich auf die zentralen Überlebens-
bedingungen der Lebewesen.
Das, was sich nunmehr ringsherum ausdehnt, ausbreitet, ist nicht so
sehr der »Ort«, der Umfang des Realraums eines Planeten von vielen,
sondern der Umfang der Kontrolle, einer »Umweltkontrolle«, die an die
Stelle der kontinentalen Oberflächen, der drei Dimensionen eines Raums
tritt, der von bewegungsfähigen Lebewesen bewohnt werden kann.
Ob autonomer Raumanzug, Datenanzug, Kommandokapsel mit
Druckausgleich oder Raumfähre, die Verhältnisse sind nunmehr immer
und überall dieselben, sowohl hier, im Meer der Ruhe, als auch da unten,
unterhalb des Mondhorizonts, auf der von Menschen bewohnten Erde,
die für eine gewisse Zeit ihre Bewegungsfreiheit austesten.
Wenn die Kontrolle sich anschickt, systematisch die Umwelt, ihre
Höhe, ihre Breite und ihre Tiefe, zu ersetzen, dann erfüllt sich in der Tat
die Vorhersage des Seefahrers Herman Melville: »Jede vergängliche
Größe ist nichts als eine Krankheit«, und diese Krankheit, dieses
vorübergehende Gebrechen heißt Lähmung. Es handelt sich um die
Lähmung einer Welt, eines »irdischen Raums«, der sich der Zeit der
endlichen Welt ergiebt.
Das, was in dieser paradoxen Situation »kränklich«, in jedem Fall aber
beschädigt ist, das ist die Umwelt mitsamt ihren Eigenschaften. Die
Unermeßlichkeit der kosmischen Leere oder diejenige der Zeittiefe
behindern nur noch das verkümmerte Lebewesen, dessen Sicherheit
fortan in einem solchen Maße gegenüber jeglicher Aktivität überwiegt,
daß die konkrete Umgebung für es nur noch eine einzige Dimension
aufweist,

- 176 -
DEN PUNKT..., den Punkt und die Zeit, allerdings eine astronomische
und universelle Zeit. Der Raumfahrer (bzw. der Teleakteur auf der Erde),
der zwar in den Pfeil der kosmischen Zeit eingeschlossen, aber aufgrund
seiner Flugbahn von der ortsgebundenen Zeit ausgeschlossen ist, ist das
Opfer einer Trägheit, die deshalb beispiellos ist, weil sie unversehens mit
der Vorrangstellung der Zeit gegenüber dem Realraum verschmilzt, d. h.
die Interaktivität ersetzt die traditionelle Bewegungsaktivität.
In einem Text, der die Nichtigkeit der Technik veranschaulichte, deren
Macht Europa bald ins Chaos stürzen würde, erklärte Martin Heidegger
in einer Paraphrase auf Melville, daß jede Größe im Angriff enthalten
sei.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges stellte er jedoch klar: »Der
hier gemeinte Kampf ... ist nicht bloßes Berennen von Vorhandenem.
Der Kampf entwirft und entdeckt erst das Unerhörte, bislang Ungesagte
und Hin-gedachte.... Wo der Kampf aussetzt, verschwindet zwar das
Seiende nicht, aber Welt wendet sich weg.«
Die zu einem unnützen Hindernis gewordene Welt, der man ausweicht
und die von Satelliten auf ihrer Umlaufbahn umflogen wird, widersteht
nicht mehr und weicht auf ganzer Linie vor dem Angriff auf das
Vorhandene zurück. Unabhängig davon, was SamtExup&y dazu auch
sagen würde, aber es ist nur noch ein kleiner Schritt, und die Erde lehrt
uns überhaupt nichts mehr.
Nachdem der Widerstand der Entfernungen weggefallen ist, entläßt uns
die verlorene Welt in unsere Einsamkeit, eine vielfache Einsamkeit
mehrerer Milliarden Menschen, die die Multimedien sich anschikken,
auf gewissermaßen kybernetische Weise zu organisieren. Nach zwei
Weltkriegen, deren Schauplatz der

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Raum war und die aufgrund der Eroberung der Luft und des Weltraums
einen zunehmenden Verlust des irdischen Raums bedingten, wird der
Weltkrieg auf dem Schauplatz der Zeit zu dem Verlust unserer Bewe-
gungsfreiheit führen, einem nicht wieder gutzumachenden, aber
diskreten Verlust. Im Rahmen der Weltzeit, die in Zukunft alle unsere
Wünsche erfüllt, wird dieser Verlust zwar alles unangetastet lassen,
jedoch qualitativ entwerten.
Neben der Zeittiefe der Geologie und der Geschichte entsteht also die
Oberflächenzeit der Interaktion auf Distanz, die an die Stelle der
Oberflächen einer verschwundenen Weite tritt; sobald die Echtzeit der
Übertragungen endgültig den Realraum der Beförderung ersetzt, erfüllt
sich die Weissagung des heiligen Hieronymus: »Die Welt ist bereits voll
und bietet uns keinen Platz mehr. «

Tatsächlich ersetzt die »Trajektographie«'' seit einem halben Jahrhundert


die »Geographie«.
Von nun an gibt es eine Strecke, die unabhängig ist von jeder
Örtlichkeit, vor allem aber von jeder Standortbestimmung.
Es handelt sich um eine Strecke, die ausschließlich in die Zeit
eingeschrieben ist, in die astronomische Zeit, die zunehmend die Vielfalt
der ortsgebundenen Zeiten verseucht. Es stimmt zwar, daß bereits die
Lehre von den Flugbahnen geworfener oder geschossener Körper, die
Ballistik der Kugel, Granate oder Rakete, mittels einer auf den
Erdmittelpunkt bezogenen Gravitations-Standortbestimmung diesen
Sachverhalt vorwegnahm, aber mit dem Austritt aus der Erdatmosphäre
verschwindet auch diese »Bezugsachse«. Von der ExoZentrierung eines
überhalb der Erdoberfläche fliegen

- 178 -
den Körpers kommen wir mit einem Mal zur EgoZentrierung: Das
Zentrum befindet sich nicht mehr außerhalb, es ist vielmehr sein eigener
Bezugspunkt, seine eigene »Bewegungsachse«. Das Zentrum des Still-
stands besitzt die Funktion der Weltachse, einer kleinen inneren Welt
allerdings, die den erstarrten Menschen zu einem Planeten macht, zu
einem lebenden Planeten, der in der Leere einer kosmischen Zeit ausge-
setzt wird und nicht, wie oft behauptet, in der Raumzeit des Weltalls.

Um welche Art Räumlichkeit jedoch handelt es sich, wenn wir jeden


Halt, jeden Auftrieb und damit jeden Positionsbezug verloren haben?
Auch wenn es stimmt, daß das Problem der »Räumlichkeit« niemals
mit der Notwendigkeit der meteorologischen Atmosphäre eines
bewohnbaren Raums verwechselt werden darf, so ist es doch immer
durch das Wesen unserer Position bei der Fortbewegung sowie ihre
Ausrichtung bestimmt, denn ohne Vektorgeschwindigkeit gäbe es keine
Richtung.
Um welche Art von »Räumlichkeit« kann es sich nun also handeln,
wenn es nur noch das Sein der Strecke gibt, einer »Strecke«, die absolut
gleichzusetzen ist mit dem in Bewegung befindlichen »Subjekt« und
»Objekt« und über keinen anderen Bezugspunkt verfügt als sich selbst?
Genau hierin besteht das ganze philosophische Problem eines Seins,
das weniger in der Welt ist als außerhalb der Welt, wobei diese
Außenwelt den Anschein zu erwecken sucht, Bestandteil der realen Welt
zu sein.
An diesem Punkt drängt sich uns eine Frage auf, die unbeantwortet
bleiben muß. Es handelt sich um eine geradezu verrückte, in jedem Fall
aber furchteinflößende Frage, die eine Herausforderung sowohl an die
Wissenschaft als auch die Philosophie darstellt:

- 179 -
»Wenn es keine Leere ohne Fülle, kein Licht ohne Dunkelheit gibt,
kann man, muß man sich dann nicht fragen, ob der Raum ohne Materie
und ohne Fläche überhaupt vorstellbar ist?«
Zu einem Zeitpunkt, da die Schnittstelle der unmittelbaren Übertragung
der Interaktion kurz davor steht, die alte Fläche zu beherrschen, in die
sich die Handlung einschreibt, ist es da nicht an der Zeit, die Begriffe
des Raums und der Leere grundlegend in Frage zu stellen, wo doch die
Höchstgeschwindigkeit der elektromagnetischen Wellen sich anschickt,
die menschliche Umwelt auf kybernetische Weise umzugestalten?
Wenn die Zeit das ist, was sich ohne uns ereignet, und wenn diese Zeit
verschmilzt mit dem (von Epikur so bezeichneten) »Akzidens der
Akzidenzien« einer Übertragung, die im Begriff steht, zu einem
allgemein verbreiteten Phänomen zu werden, haben wir dann nicht die
Pflicht, die klassischen Begriffe der MATERIALITÄT, der
RÄUMLICHKEIT und der ZEITLICHKEIT, d. h. den Begriff der
»Raumzeit-Materie«, die die modernen Physiker sich bemühen, auf eine
relativistische Weise nicht nur miteinander zu verbinden, sondern zu
verschmelzen bzw. miteinander zu verwechseln, nochmals einer genauen
Betrachtung zu unterziehen?
Wenn dies der Fall ist, dann müssen wir uns auch nochmals mit dem
Begriff des UNFAI.Ls befassen, demjenigen des »Übertragungsunf,Ills«,
der von nun an unser Wirklichkeitsverständnis hcsiinnnnt.

An dieser Stelle möchte ich auf das Problem jener »Außenwelt« der
außer-planetaren Befreiung der Mondmission sowie das jüngere der
Entdeckung eines virtuellen Raums (oder CYBERSPACE) eingehen: In
beiden Fällen sind wir gezwungen, ein und dieselbe Herausforderung
anzunehmen, und zwar die einer plötzlichen »Entwirklichung« der
Raumzeit-Materie. Hierbei

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handelt es sich nicht mehr um einen lokalen, genau im Raum der
Handlung und der Gegenwart hier und jetzt eines Daseins zu
situierenden Unfall, sondern um einen allgemeinen Unfall, der im
globalen Maßstab jede »Gegenwart« zugunsten einer »Telepräsenz« in
Frage stellt, die über keine Konsistenz, vor allem aber über keine
wirkliche räumliche Position verfügt, da die Interaktion eines zugleich
abwesenden und doch handelnden (fernhandelnden) Wesens über weite
Entfernungen hinweg den Begriff des Daseins selbst erneuert.
Im Inneren dieses virtuellen Raums, wo die mediale Kontrolle (das
Feedback) den Realraum der unmittelbaren Umwelt bestimmt und
ersetzt, tritt der CYBERSPACE wie ein Übertragungsunfall der
substantiellen Wirklichkeit zutage. Das, was verunglückt ist, ist mit
einem Mal nicht mehr die Substanz, die Materialität der sinnlich
wahrnehmbaren Welt, sondern ihre gesamte Beschaffenheit.
Genauso wie sich der Astronaut bei seiner Mondlandung von der
Realität seiner ursprünglichen Welt freimachte, verläßt der Cybernaut
vorübergehend die Realität der irdischen Raumzeit, um die
kybernetische Jacke des Umweltkontrollprogramms der virtuellen
Realität überzustreifen.
Und trotzdem ist in beiden Fällen die Krise sowohl des »Objekts« als
auch des »Subjekts« offensichtlich: das, was sich letzten Endes befreit,
ist die Strecke, deren Bahn rigoros durch die unmittelbare
Geschwindigkeit der Sendung und des Empfangs der Informationen
kontrolliert wird, die ein Computer liefert, der plötzlich zum Ordner der
sinnlich wahrnehmbaren Realität geworden ist.
Folglich läßt sich feststellen, daß es die Nutzung der
Höchstgeschwindigkeit elektromagnetischer Wellen ist, die heute die
virtuelle Realität der Kybernetik ins Licht setzt, deren Realismus sich
anschickt, denjenigen

- 181 -
der Masse und der Fläche des Realraums unserer unmittelbaren Umwelt,
diesen bevorzugten Ort jeder Handlung, die diesen Namen verdient, zu
erneuern.
Damit wird auch deutlich, warum neben den klassischen Intervallen
der Art Raum und Zeit die zwingende Notwendigkeit der Bestimmung
eines dritten und letzten »Intervalls« der Art Licht besteht.
Als im Zeitalter der industriellen Revolution der Verkehrsmittel die
Geographie noch die wesentlichen Bestandteile der Strecken trug,
entzog sich die zunehmende Beschleunigung der relativen
Geschwindigkeiten tatsächlich nicht den klassischen Gegebenheiten der
»Position«, des »Standortes« und vor allem der (vektoriellen)
»Richtung« der sich bewegenden Körper. Mit dem Beginn der
»Informationsrevolution« der Übertragung dagegen erfordert die
absolute Geschwindigkeit der Interaktion über große Entfernungen
hinweg eine von der Bezugsachse der Erdanziehung unabhängige
Bestimmung der Flugbahnen, um die Verwaltung des unaufhörlichen
Feedbacks der unmittelbar gesendeten und empfangenen Daten ge-
währleisten zu können.
Hieraus ergibt sich das Auftauchen jenes paradoxen Intervalls der Art
»Licht« (der Lichtgeschwindigkeit), mit dessen Hilfe zugleich der Hin-
und Rückweg der Wellenbündel berechnet wird und vor allem die Raum-
bzw. Zeitintervalle relativiert werden, die doch stets sowohl die
Geschichte als auch die Geographie begleitet haben.
Am Ende dieses Jahrhunderts entspringt der allgemeine Unfall also der
dringenden Notwendigkeit eines Intervalls mit dem Zeichen Null, um die
offenkundige Unzulänglichkeit der Reichweite der traditionellen In-
tervalle mit positivem (Zeit) und negativem Vorzeichen (Raum)
auszugleichen, d. h. es besteht die Notwendigkeit eines »fraktalen«
Intervalls der Art Licht, das

- 182 -
plötzlich das Binom des Zeit- und des Raummaßes aufbricht.

Unser Planet ist nicht nur aufgrund der materiellen Verschmutzung der
lebensnotwendigen Substanzen (der Luft, des Wasser, des Bodens ...)
von Grund auf entwertet, auf eine weniger offensichtliche Weise ist er es
auch aufgrund der immateriellen Verschmutzung der (dromosphärischen)
Entfernungen, die uns dazu verleitet, uns insbesondere mittels der
Errungenschaft der sogenannten »Fluchtgeschwindigkeit« vom
»irdischen Bezugspunkt« der sinnlich wahrnehmbaren Erfahrung der
Geographie freizumachen, die uns aber auch zwingt, die Bezugspunkte,
den Kontakt mit den materiellen Oberflächen, zu verlieren, um unser
»interaktives« Tun in die Außenwelt eines schwerelosen Raums
einzuschreiben, d. h. um innerhalb der kybernetischen Bahn einer
zweiten Realität unmittelbar teleagieren zu können. Da die Begriffe der
Tiefe und des Volumens ihre Bedeutung nicht nur für die Materie und
ihre »dritte Dimension« eingebüßt haben, sondern auch für die Realität
der vierten Dimension, kommt es nunmehr zur besagten
»Zeitkatastrophe« - zum Unfall der Echtzeit -, die eine Steigerung der
alten »materiellen Katastrophe« darstellt, deren Spur die Zeittiefe
unserer »Geologie« noch in sich trägt.

Neben der dauernden Ausdehnung einer weniger zyklischen als künftig


vielmehr sphärischen (dromosphärischen) Zeit, weitet sich nicht mehr
nur die Tiefe der Vergangenheit aus, denn wir erleben gerade die Aus-
weitung der Gegenwart, einer andauernden und ausgedehnten
Gegenwart jedoch, die nichts anderes ist als die blitzartige
Globalisierung der Echtzeit der Telekommunikation. Mit anderen
Worten, sie ist nichts anderes als die oberflächliche Zeit einer
Telepräsenz, die bei uns

- 183 -
heute dasselbe Erstaunen, was sage ich, dieselbe Verblüffung hervorruft,
wie sie die Menschen des 18. Jahrhunderts angesichts der
»geologischen« Entdeckung einer Zeittiefe von mehreren Millionen
Jahren empfunden haben.
Es ist übrigens merkwürdig, feststellen zu müssen, daß die
»topologische« Veränderung im Wesen der Zeit, die die
Relativitätstheorie schließlich beinhaltet, nicht die Historiker, sondern
nur die Physiker und Astrophysiker wie Stephen Hawking und einige an-
dere Zeitgenossen der Entdeckung eines sich ausdehnenden Universums
beunruhigt hat.
Allerdings hätte dieser jähe Sprung der zyklischen Zeit der ewigen
Wiederkehr des Gleichen zur kosmischen Ausdehnung einer sphärischen
Zeit - genauer gesagt, einer Raumzeit - nicht nur diese Wissenschaftler
interessieren müssen, sondern auch die Philosophen, vorausgesetzt
natürlich, die Anhänger des »historischen Materialismus« lassen sich
nicht von der herrschenden Ideologie einer eindimensionalen Dauer ir-
releiten, d. h. der Linie jener sagittalen Zeit, deren Pfeil niemals sein Ziel
erreicht, wenn wir die verdeckte Seite der Zeitlichkeit unterschlagen, ich
will sagen, ihren abwesenden Teil: die Ewigkeit; jene » Ewigkeit«, von
der Rimbaud sagt, daß der Mensch sie ganz bestimmt wiederfindet.

Kommen wir aber zur Ausdehnung der Zeit zurück, dem Anschwellen
einer Dauer, die neben dem astronomischen Zurückweichen der
Vergangenheit und der wahrscheinlichen Ausdehnung der Zukunft für
die Erdbewohner auch die plötzliche Globalisierung der Gegenwart
bewirkt, die neue Überschwemmung durch eine »Echtzeit«, die die Erde
besser verdeckt als das Wasser die Tiefen der Ozeane.
Da, wo die ortsgebundene Zeit, ausgehend von unserer

- 184 -
Geographie, »Geschichte gemacht hat«, zerstört die globale Zeit sie
wieder, zumindest ihren gegenwärtigen Standort, denn der IRDISCHE
RAUM tritt vor der Zeit zurück, allerdings vor der WELTZEIT einer
unmittelbaren Trajektographie ohne Bezug zum Boden oder zur
Erdoberfläche, wobei die Schnittstelle der unmittelbaren Sendung und
des unmittelbaren Empfangs künftig sämtliche Oberflächen ersetzt, die
die Grundlage des materiellen Raums bilden. Ich glaube, daß nur wenige
Denker diese schnelle Verschiebung (diese Strecke) der Begriffe des
Raums und der Zeit, die sich der Einsteinschen Relativität verdankt, zu
analysieren verstanden, vor allem aber haben nur wenige von ihnen die
damit zusammenhängende Erneuerung der Begriffe 'der »Masse«, der
»Dauer« und der »Ausdehnung« erkannt, die für uns die unerwartete
globale Ausdehnung der Gegenwart darstellt.'
Da, wo die interaktiven Telekommunikationstechniken einen Raum
ohne Hindernisse und damit ohne Widerstände für die beschleunigte
Beförderung der Dateninformation benötigen, muß eine Art Supraleiter-
Umgebung entstehen, die weder irgendeines tellurischen
»Bodenbezugs« noch einer geophysikalischen »Einschreibefläche«
bedarf, da selbst der Bildschirm erlischt und bald ganz verschwindet,
und zwar zugunsten einer ganzen Serie von Übertragungen zugleich an
den Datenanzug (DATASUIT) sowie den stereoskopischen Datenhelm,
der den Empfänger in einen TERMINAL-MENSCHEN verwandelt, so
als sei die letzte Oberfläche oder, besser gesagt, die letzte Schnittstelle
diejenige des Hinterhauptkortex!
Jetzt fällt es nicht mehr schwer, sich vorzustellen, daß das
Verschwinden der politischen Grenzen europa und weltweit nur die
Spitze des Eisberges darstellt, mit anderen Worten, das Vorzeichen einer
Zeitkatastrophe, bei der neben dem Widerstand der Entfernungen

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auch derjenige der Dimensionen des materiellen Raums versinkt und
verschwindet: der Punkt, die Linie, die Fläche und das Volumen büßen
in zunehmendem Maße ihre klassischen geometrischen Merkmale ein
zugunsten der unvermittelten Maßlosigkeit der bereits erwähnten
Supraleiter-Umgebung, einer immateriellen Umwelt, in der die Dynamik
der Flüssigkeiten und Gase weniger eine des Wassers bzw. der Luft ist
als vielmehr eine der Wellen, die die Informationen transportieren. Somit
vollzieht sich vor unseren Augen - und es ist durchaus angebracht, dies
zu betonen, denn die Wellenoptik gewinnt gegenüber der geometrischen
Optik die Oberhand - die abrupte Erneuerung der Begriffe des Zentrums
und der Peripherie, die sich künftig weniger auf den »Raum« der Flächen
und Volumen beziehen als vielmehr auf die »Zeit«, und zwar auf die Zeit
der als Echtzeit bezeichneten ausgedehnten Gegenwart, die heute
weltweit bestimmend ist für das menschliche Tun.
In der Tat tritt zum Ende dieses ausgehenden Jahrtausends das Zentrum
des Realraums seine historische und politische Bedeutung an das
Zentrum der Echtzeit ab. Da, wo die NETZARTIGE Struktur der
interaktiven Telekommunikation die ZENTRALE Struktur der aktiven
Kommunikation ersetzt, gewinnt. die Intensität endgültig die Oberhand
gegenüber der Extensität.
Durch die plötzliche, aber verborgene » Ausdehnung der Gegenwart«,
einer mittels der 'Ieletechnologien globalisierten Gegenwart, besetzt die
gegenwärtige Zeit nicht nur die zentrale Stelle in der Geschichte (zwi-
schen Vergangenheit und Zukunft), sondern vor allem auch in der
Geographie des GLOBUS, und zwar dergestalt, daß man den neuen
Begriff der LOKALISIERUNG" kreiert hat, um diese allerletzte
Zentralität der Echtzeit zu bezeichnen, die nichts anderes ist als die
»Supraleiter-Umgebung«, die für die Elektrodynamik der tele

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matischen Impulse keinen Widerstand mehr darstellt und deren cw Wert
null ist, da sie lediglich das spektakuläre Offenbarwerden der
Eigenschaften jenes dritten und letzten Intervalls mit dem Vorzeichen
Null ist, von dem die Physiker heute sprechen!

Die GEGENWART, die sich also dergestalt über den gesamten


»irdischen Raum« ausgedehnt hat, daß der Wechsel von Tag und Nacht
als normales Richtmaß der ortsgebundenen Zeit überholt ist, ist folglich
diejenige des »Lichts« oder, genauer gesagt, der LICHTZEIT, die sich
künftig gegenüber der MATERIE-ZEIT der Flächen, Massen oder Orte
durchsetzt.
Angesichts dieser weltweiten Entfaltung der gegenwärtigen Zeit
erinnert man sich plötzlich an eine oftmals unberücksichtigt gebliebene
Dimension der Einsteinschen Relativitätstheorie, und zwar die der
EWIGEN GEGENWART. Merkwürdigerweise ist dieser unvermeidliche
Begriff vergessen oder wahrscheinlich sogar unterschlagen worden,
obwohl er in ganz hervorragender Weise deutlich macht, warum
Einstein, genau wie Edwin Hubble und einige andere auch, sich
weigerte, das Prinzip der universellen Ausdehnung des Universums
anzuerkennen. Wenn es nämlich jemanden gibt, der weder Anhänger der
»Konstanz« noch eines »stationären« Universums ist, dann wohl
Einstein, der zu Recht äußerte: Im Universum steht nichtsfest! Sicher ist
er der Letzte, den man, entgegen einer weit verbreiteten Praxis, der
geistigen Trägheit bezichtigen könnte!
Warum muß diese Ablehnung des »inflationären« Phänomens, das aus
dem BIG BANG hervorgegangen ist, eigentlich mittels einer immer
wieder aufs neue vorgebrachten nachträglichen Unterstellung so negativ
gedeutet werden?
Für Einstein ist die Gegenwart bereits »das Zentrum der Zeit«, die
Vergangenheit des ursprünglichen BIG

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Bang dagegen ist nicht dieses alte Zentrum, kann es wissenschaftlich
gesehen nicht sein. Das wirkliche Zentrum ist immer neu, es ist
immerwährend, oder noch genauer gesagt, die »Gegenwart« ist eine
EWIGE GEGENWART.
Einstein ersetzt die drei aufeinanderfolgenden (chronologischen) Zeiten
- Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft - durch eine (chronoskopische
oder dromoskopische) Belichtungszeit - unterbelichtet, belichtet,
überbelichtet.
Ihm zufolge ist der Zeitpfeil ein Lichtpfeil, der nicht identisch sein
kann mit dem magische Pfeil des kosmischen Bogenschützen. Hieraus
erklärt sich sein Verfahren der »kinematischen Optik« und seine Vor-
wegnahme der vielzitierten Gravitations-Täuschungen sowie anderer
astrophysikalischer Abweichungen, die, ausgehend von der absoluten
Höchstgeschwindigkeit sowohl des Lichts als auch der universellen
Anziehung, d. h. 300000 Kilometer pro Sekunde, das Sehen und
insbesondere die wissenschaftliche Interpretation des menschlichen
Beobachters regeln.
Das Zentrum der Zeit wäre demnach also das LICHT, die
Geschwindigkeit der Wellen, die die Informationen transportieren.
Folglich geht es nicht mehr darum, die Jahre oder Jahrhunderte auf der
Grundlage des traditionellen Wechsels von Tag und Nacht zu zählen,
sondern es geht nunmehr darum, die »Wissenschaft der Zeit« auf der
Mauer der Beschleunigung, d. h. jener LICHTZEITMAUER zu
begründen, die sowohl die »Ausdehnung« als auch die »Dauer« der dem
Alterungsprozeß unterliegenden Phänomene der MATERIE-ZErr regelt.
Da diese zwar endliche, aber absolute Geschwindigkeit tatsächlich kein
Phänomen an sich ist, sondern die Relation zwischen den Phänomenen,
kann das RAUMZEITLICHE KONTINUUM kein »Zentrum« - und
erst

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recht keinen Ursprung - außerhalb der Relativität selbst besitzen, anders
gesagt, außerhalb der »Lichtgeschwindigkeit« einer Belichtungszeit, die
sich gegen die chronologische, historische und klassische Zeit
durchsetzt.

»Gebt mir die Intuition der Gegenwart, Ihr bekommt Vergangenheit und
Zukunft«, forderte der Begründer des Transzendentalismus, Emerson.
Stoppuhr oder Tachometer? Wie sollte es heute noch möglich sein, das
lineare und vergängliche Wesen der Zeit nicht anzufechten? Dieser Zeit,
die vergeht, dieses Laufs des Chronos, der sich an denjenigen der Sonne
anlehnt und der durch die Pendelbewegungen der Uhr weniger logisch
veranschaulicht als mechanisch dargestellt wird.
Diejenigen, die an nichts anderem leiden als daran, daß die Tage
vorübergehen, können unbesorgt sein: in Zukunft wird die Gegenwart
nicht mehr vorübergehen, beinahe jedenfalls.
Die auf die Dimensionen des Raums der Erde ausgedehnte Weltzeit läßt
auf unseren Bildschirmen eine andere Zeitordnung erkennen, die weder
am chronographischen Ablauf des Ziffernblattes unserer Uhren noch am
chronologischen Ablauf der Geschichte orientiert ist.
Die immerwährende Gegenwart, die aufgrund der durch unsere
Kommunikationstechniken verursachten Erschütterung maßlos
angeschwollen ist, dient plötzlich der Beleuchtung der Dauer. Indem der
endlose Tag des Empfangs der Ereignisse den Wechsel von Nacht und
Tag, nach dem sich früher unsere Ephemeriden ausrichteten, erneuert,
erzeugt er eine unmittelbare Beleuchtung der Realität, die die
gewöhnliche

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Bedeutung der Aufeinanderfolge der Fakten im Dunkeln läßt. Ihr Ablauf
verliert langsam jede mnemotechnische Bewandtnis zugunsten der
Blendung dieses Hyperzentrums der Zeit, das die Direktübertragung und
der Direktempfang der Information so gut veranschaulicht.
In seinen Erinnerungen, in denen er die erste Mondlandung beschreibt,
bestätigt Buzz Aldrin auf seine Weise diese Entwertung des
Sonnenlichts. Schenken wir seinen Worten unsere Aufmerksamkeit, die
er von der Oberfläche des nächtlichen Sterns aus sprach:
»Auch das Licht ist merkwürdig. Ohne die Atmosphäre verschwindet
das Phänomen der Lichtbrechung, so daß man direkt und übergangslos
von der totalen Finsternis ins Licht überwechselt. Wenn ich den
Arm ausstrecke, um ihn in die Sonne zu halten, habe ich den Eindruck,
die Schranke in eine andere Dimension zu überschreiten.« Es scheint, als
seien Schatten und Licht für den Astronauten deshalb zwei neue
Dimensionen, weil es für ihn keinen Übergang mehr gibt, wobei der
Verlust der durch die Atmosphäre bedingten Lichtbrechung eine andere
Realitätswahrnehmung bedingt.
Auch wir Erdbewohner erleben ain Ende dieses Jahrhunderts denselben
»Verlust des Übergangs«, und der plötzliche Bedeutungsschwund der
Brechung des Sonnenlichts führt dazu, die verschiedenen Licht-
intensitäten in Frage zu stellen, die vor der Erfindung der Elektrizität
kennzeichnend waren für die Stunden des Tages oder die Tage des
Jahres.
Unter der Beleuchtung des indirekten Lichts der Bildschirme und
anderer optoelektronischer Übertragungsformen von Ereignissen erlischt
die Zeit der chronologischen Abfolge zugunsten einer chronoskopischen
Zeit der unmittelbaren Belichtung, die der Härte des

- 190 -
»Scheinwerferlichts« verwandt ist, von dem Aldrin sagt: »Auf dem
Mond leuchtet die Sonne wie ein riesiger Scheinwerfer.«
Auch wenn es sich natürlich immer um dieselbe »Sonne« handelt, so
handelt es sich doch weder um dasselbe »Licht« noch um dieselbe
»Zeit«. In der Tat ist die Zeit der Erde und ihrer Materie nicht mit der
Lichtzeit identisch, die für die Teilnehmer an der Mondmission leuchtet,
denn der durch die Atmosphäre bedingte Übergang ist verschwunden
und mit ihm die Überblendung der optischen Brechung, die in der
dünnen Gasschicht ihre Voraussetzung hat, dank derer wir nicht nur
atmen - und damit leben -, sondern auch die Zeit berechnen, und zwar
mittels des Übergangscharakters der Tage, Stunden oder Minuten, anders
ausgedrückt, der sequentielle Ablauf unserer irdischen Zeit ist immer nur
ein »Artefakt«, ein Film des Himmels und seiner Meteorologie.
Als bereitwillige Opfer des »totalen MachbarkeitsSyndroms« , einer
anderen Form des »Größenwahns«, waren unsere Astronauten die ersten,
die eine Vorstel
lung vom ALLGEMEINEN UNFALL erhielten, der uns allen hier auf
der Erde, in diesem bereits präsenten Morgen der immerwährenden
Gegenwart der Techniken der Echtzeit, bevorsteht.
So war sich Armstrong nach seiner Rückkehr auf die Erde durchaus
darüber bewußt, daß er das, was er »da oben« tat, in Wahrheit nicht
wirklich erlebt, sondern nur ausgeführt hat.
Acht lange Jahre, von 1971 bis 1979, sollte sich der erste Mensch, der
seinen Fuß auf den Mond gesetzt hat, mit seiner Familie auf eine Farm in
seiner Heimat Ohio zurückziehen. Und Collins, der dritte Teilnehmer der
Apollo ii-Mission, hat das merkwürdige Gefühl, sowohl auf der Erde als
auch auf dem Mond zugleich anwesend und abwesend gewesen zu sein,

- 191 -
d. h., er erprobte für uns den Verlust des HIC ET NUNC, diesen
totalen und glücklicherweise nur vorübergehenden Verlust des
räumlichen Bezugs.
Aldrin wurde nach zwei Depressionen, mehreren Entziehungskuren und
einer Scheidung in eine psychiatrische Klinik eingeliefert. Es scheint, als
seien die beiden berühmtesten Besatzungen der neuesten Geschichte,
diejenige des Atombombers Enola Gay und diejenige der Weltraum-
Kapsel Apollo 11, die Propheten der unglücklichen Zukunft der
Menschheit gewesen.

Schenken wir an dieser Stelle der Aussage des schmerzlich vermißten


Jacques Ellul in bezug auf die zugleich physische und metaphysische
Beziehung zwischen »Licht« und »Dauer« unsere Aufmerksamkeit:
»Wenn in der Genesis steht, daß Gott zuerst das Licht schuf, will sie
uns dann damit nicht. zu verstehen geben, daß es sich um die
»Schöpfung der Zeit« handelt, weil Licht und Zeit unlösbar miteinander
verbunden sind?«`' Und etwas weiter unten fährt er fort: »Das aus der
Wahrheit hervorgegangene Licht führt buchstäblich zur Realität, denn
im Text der Genesis steht, daß es die Erscheinung der Zeit ist.«

Rührt man am Licht, an der Beleuchtung der Welt, dann faßt man also
die Realität. Das Fehlen eines beleuchteten Ortes mündet in der
Entstehung der Zeit, jener sinnlich wahrnehmbaren Zeit, ohne die es
keine Realität des Ereignisses gibt.
Was die Wahrheit betrifft, sie ist etwas anderes, etwas ganz anderes als
die Wahrheit der vorgeblichen Wirksamkeit der
Informationswissenschaften und -techniken. Aus diesem Umstand
erklären sich auch die Wahrnehmungsstörungen, das pathologische
Verhalten sowohl der schwerelosen Astronauten als auch

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unserer Zeitgenossen, die gegen ihren Willen einer technischen
Vorherrschaft unterworfen sind, von der Jacques Ellul sagt, sie sei die
größte Versuchung unserer Zivilisation: »Der Versuch der Verwechslung
zwi
schen REALITÄT und WAHRHEIT besteht darin, uns weiszumachen,
daß das REALE und das WAHRE in ein und derselben Wahrheit
zusammenfallen. « 10
Wenn jedoch diese Verwechslung nicht mehr nur die Sprache und die
eine oder andere spekulative Praxis betrifft, sondern die
Schlüsselbegriffe »Zeitlichkeit« und »Räumlichkeit«, dann erhält die
Verwechslung ein babylonisches Ausmaß, und das, was fürderhin zu
einer Bedrohung wird, ist die räumliche, vor allem aber die zeitliche
Desorientierung.
Schwindel einer vergangenen Gegenwart oder einer schon präsenten,
schon gesehenen und schon gegebenen Zukunft, eine weniger
UTOPISCHE als vielmehr TELETOPISCHE Situation, die ganz
entscheidend den Begriff des Standorts und damit das Dasein in der Welt
beeinträchtigt.
Wenn Neil Armstrong beispielsweise meint, eine Aufgabe ausgeführt,
sie aber niemals wirklich erlebt zu haben, oder wenn Mike Collins das
merkwürdige Gefühl einer doppelten Abwesenheit befällt, dann weisen
beide auf die verhängnisvolle Verwechslung hin, die zur Spaltung der
Persönlichkeit des Subjekts führt, welche kennzeichnend ist für die
Traumzustände der Trunkenheit oder der vorübergehenden Wahnvorstel-
lungen unter Narkose, in erster Linie aber der Dementia praecox.
Kann man behaupten, daß dieser plötzliche Bruch mit der konkreten
Wirklichkeit für unsere Raumfahrer das Ergebnis der langen Strecke ist,
die sie auf ihrem Flug zum Mond zurücklegen müssen, oder hat die
Dauer der Mond-Mission bei ihnen diese Narkose der kosmischen Tiefen
verursacht? Sicher nicht. Ein

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jeder wird mit mir ohne zu zögern darin übereinstimmen, daß die langen
Seereisen eines Magellan weit länger dauerten als dieser kurze Ausflug,
dieser Wochenendausflug auf den Mond.
Nein, der Schwindel entspringt einzig und allein der Loslösung von der
Erde, dem Verlust der Bezugspunkte sui generis der spezifischen
Raumzeit der Erde. Anders gesagt, er entspringt der Loslösung von
ihrem »Licht«, einer LICHT-MATERIE, die sowohl die Zeit als auch
den Raum des »irdischen Lebensraums« betrifft, dessen Gravitation
sogar unsere Physiologie geprägt hat.
Somit wird leichter verständlich, daß wenn der Begriff der Information
heute dazu tendiert, die klassischen Begriffe der Masse und Energie zu
beherrschen, dies einzig und allein daran liegt, daß sie sich auf den
Begriff der absoluten Geschwindigkeit bezieht oder, genauer gesagt, auf
den der Höchstgeschwindigkeit des Lichts. Demzufolge erscheint es
angebracht, nochmals auf die Definition jener
LICHTGESCHWINDIGKEIT zurückzukommen, die über jede
räumliche oder zeitliche »Tiefe« informiert.
In der Tat, wenn die Licht-Materie eine angemessene Form der
Aneignungen des Raums ist, der durch das besondere Licht der »Erde-
Materie« wahrnehmbar gemacht wird, dann ist die Lichtzeit eine
maßgebliche Form der Aneignungen der Zeit, die durch die Ge-
schwindigkeit des Lichts in der Leere sinnlich wahrnehmbar gemacht
wird, wobei sich die Beschleunigungsunterschiede leicht mittels der
verschiedenen Dichten der im Universum vorhandenen Materie erklären
lassen.
Wenn sich somit der Raum und die Zeit der Materie vereinigen, um ein
relativistisches Kontinuum zu bilden, dann sollte man hinzufügen, daß
eben diese Begriffe sich auch in der Zeit der Information vermischen -
was der Begriff der Echtzeit belegt. Folglich muß man

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von nun an berücksichtigen, daß die Zeit des Lichts und der Raum der
Materie (seine Dichte) eine vertauschte Wechselbeziehung herstellen, bei
der die Verringerung der materiellen Dichte einer Beschleunigung der
genannten »Information« gleichkommt, während die Vergrößerung eben
dieser Dichte ihrer Verlangsamung entspricht ..., und das bis hin zur
größtmöglichen Härte-Beständigkeit der mineralischen Welt des
Diamanten.
Schenken wir nun der Weltsicht von Louis de Broglie, dem Autor von
»Matiere et lumiere«, unsere Aufmerksamkeit: »Wir könnten annehmen,
daß am Anfang der Zeit, kurz nach einem beliebigen göttlichen FIAT
Lux, das Licht, das zunächst allein auf der Welt war, mittels
zunehmender Kondensation langsam das materielle Universum erzeugt
hat, so wie wir es heute dank seiner betrachten können.«'1
Trotzdem entspricht in dieser ganz und gar anthropischen
Beschwörung des »großen Kondensators« der Begriff des Lichts
schließlich merkwürdigerweise dem des kosmischen Lichts, obwohl de
Broglie besser als jeder andere weiß, daß dieses LICHT dasjenige seiner
GESCHWINDIGKEIT ist und damit dasjenige der » dromosphärischen«
Kondensation der RAUMZEIT-MATERIE.
Gibt sich die Zeit niemals außerhalb des Alterungsprozesses der
Strukturen der Materie zu erkennen, so erlaubt es die Geschwindigkeit
der Lichtzeit im Gegensatz dazu, nicht nur die Erde zu sehen und
wahrzunehmen, sondern auch jenes »Universum«, das uns, die wir durch
die souveräne Beschleunigung einer universellen Gravitation geprägt
sind, die exakt mit derjenigen des Lichts in der Leere übereinstimmt,
nicht weniger umgibt, als der Raum uns enthält.

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»Eine Stunde ist ein See. Ein Tag ein Meer, die Nacht eine Ewigkeit«,
stellte Joseph Roth kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges im Jahre
1938 verbittert fest.
In seiner Folge mußte man zwangsläufig den Stillstand einer
»gegenwärtigen« Zeit entdecken, der mit der Unbeweglichkeit der Orte
verschmolz.
Wenn die relative Geschwindigkeit letztlich für das Alter des
Menschen, den beschleunigten Alterungsprozeß seiner Zellen steht, dann
stellt die absolute Geschwindigkeit für ihn jene Krankheit dar, die einen
Säugling zu einem Greis macht und als PROGERIA bezeichnet wird."
Wenn die Intensität des echtzeitlichen Augenblicks tatsächlich die
Oberhand über die Dichte der Ausdehnung des Realraums gewinnt, dann
erstarrt jede Dauer und der Stillstand erreicht ungeheure Ausmaße.
Mit einem Mal ist die Bewegungslosigkeit nicht mehr diejenige der
Wasseroberfläche eines Sees oder der Zeittiefe der Mineralien, sondern
diejenige aller möglichen Strecken. Durch die Abriegelung des
sichtbaren Horizonts versperrt die Lichtzeitmauer von nun an auch den
Handlungshorizont, d. h. die Realität eines Raums, in dem jede Zeitfolge
verschwindet und in dem die Stunden und Tage nicht mehr zu vergehen
und die Flächen sich nicht mehr auszudehnen scheinen: was sich gestern
hier oder dort ereignete, kommt nun überall gleichzeitig vor. Der Unfall
der Unfälle gelangt im Augenblick zur Allgemeingültigkeit, und das
Zentrum der Zeit - die immerwährende Gegenwart - beherrscht endgültig
dasjenige des feststehenden Raums, so daß es das Hier nicht mehr gibt
und alles jetzt ist ... Das Hyperzentrum der intensiven Zeit der
wellengeleiteten Wirklichkeit setzt sich ein für alle Mal gegen die
frühere Zentralität des extensiven Raums der Territorien durch.
Von diesem Augenblick an ist »die Summe des Lichts die Welt«
(Jacques Roubaud).

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Wir sollten uns jetzt der Frage widmen, wie in naher Zukunft eine
Seßhaftigkeit nicht mehr im Rahmen der Örtlichkeit eines Stadtviertels,
einer Stadt oder einer Region, sondern im Rahmen der Zeit eines
immerwährenden Fortbestands der Gegenwart aussehen könnte: dem
zeitgenössischen Menschen gelingt nichts mehr. Das ist das Syndrom
des totalen Gelingens, unter dem, man wird sich daran erinnern, bereits
die Astronauten bei ihrer Rückkehr von ihrer Weltraumreise litten.
Auch wenn das einengende Hier in der Fluchtgeschwindigkeit der
Fernhandlung - der Teleaktion - zu existieren aufgehört hat, so bleibt
nichtsdestoweniger das JETZT erhalten, ein allmächtiges und alles
sehendes Jetzt, dessen Unerbittlichkeit sich nicht mit derjenigen der
antiken Standortbestimmung des HIC ET NUNC vergleichen läßt. Von
nun an ist der Bruch zwischen dem ORT und der STUNDE also perfekt.
Die allgmeine Ankunft der Übertragungen ersetzt jetzt die
eingeschränkte Ankunft der Verkehrsmittel. Wenn Josua, der Mann
Gottes, den Lauf der Sonne anhielt, dann bringt heute der
Wissenschaftler die Erde zum Stillstand! Ein »Standbild«, dessen
interaktive Erfahrung der allgemeinen Teleaktion in Zukunft die
lebenslängliche Verurteilung der Ausdehnung des Welt-Raums zum
ausschließlichen Nutzen der Weltzeit des echtzeitlichen Augenblicks
noch verlängern wird.
Ganz in diesem Sinne ist die Warnung eines Joseph Roth zu verstehen,
dessen Gefühl einer Flucht nach vorn mit dem Gefühl des Stillstands bei
Kafka vergleichbar ist:
»Die Welt, in der es sich noch lohnte zu leben, war dem Untergang
geweiht. Die Welt, die ihr folgen würde, verdiente es nicht, bewohnt zu
werden.« 13

Nein, das, was trotz allem bewohnbar bleiben wird, das ist die »Stadt«,
nicht die Stadt aus der Anfangszeit der

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Verstädterung des Realraums der Kontinente, sondern die »Stadt der
Städte« einer durch und durch transpolitisch gewordenen Welt, in der die
Synözie nicht mehr wie einst in Griechenland im Zusammenschluß
mehrerer Dörfer zu einer einzigen kosmopolitischen STADT bestehen
wird, sondern im Beisammensein, was sage ich, im Zusammenprall
sämtlicher Städte in einer einzigen, weniger metropolitanen als vielmehr
omnipolitanen KAPITALE, die der einsame Triumph einer
Seßhaftigkeit ohne Hinterland ist, durch den die Information die Masse
und die Ausdehnung gleichermaßen beherrscht. Damit wird das Hy-
perzentrum der gegenwärtigen Zeit seinerseits zur einzigen Bezugsachse
des weltweiten Handelns. Diese Axis MUNDI ist dazu in der Lage, jede
Art der »Zentralisierung« zu vernichten, und zwar sowohl die städtische
als auch die menschliche: »Der Mensch des Wissenschaftszeitalters
verliert seine Fähigkeit, sich als Energiezentrum zu fühlen«, bemerkte
Paul Valery.

Ich habe bereits erwähnt, daß es seit kurzem ein neues Wort gibt, mit
dem man versucht, das offensichtliche Paradox der Vermischung
zwischen der ortsgebundenen Zeit eines noch exakt situierbaren Tuns
und der globalen Zeit der allgemeinen Interaktivität zu benennen.
Hierbei handelt es sich um den Begriff der GLOKALISIERUNG, der
sich, wie man ahnt, weniger auf »multinationale« Unternehmen bezieht,
die dazu in der Lage sind, ihre Geschäfte im Rahmen der beiden Di-
mensionen einer globalisierten Produktion und Distribution zu
verwalten, als vielmehr auf jenes virtuelle GLOBALE DORF, das
bereits sowohl das »geographische« Zentrum sämtlicher in ihm
vereinigten realen Ballungsräume enthält als auch das »zeitliche«
Hyperzentrum der Telekommunikation, die es ihm ermöglichen, über
große Entfernungen hinweg zu existieren,

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d. h., sich den anderen Städten gegenwärtig zu machen, und das
insbesondere dank der Errungenschaften der aufgeteilten Zeit, die heute
an die Stelle der geopolitischen Aufteilung des territorialen Raums tritt,
weil von nun an jede reale Stadt nichts anderes ist als die abgelegene
Peripherie, die weit ausgelagerte Vorstadt jener virtuellen Stadt, von der
sie vollkommen oder, eher noch, »glokal« beherrscht wird.
Als eigentlicher Adressat des TELEKONTINENTS, der
sich der im gleichen Maße wie die Staatsgrenzen entwerteten Fläche der
KONTINENTE aufdrängt, vollendet
die TELETOPISCHE METASTADT die Perfektion jener Art
des »Zusammenlebens«, das einst durch die Erfindung Athens begonnen
hatte. Mit dem Unterschied allerdings, daß es sich nicht mehr um den
Aufschwung einer SYNÖZIE innerhalb des geographischen Raums
handelt, die das Resultat einer räumlichen Konzeption des Politischen
war, der IsONOMIE, des Stadtzentrums, das seine Autonomie
bedeutete, sondern um eine zeitliche und transpolitische Auffassung: die
ISOCHRONIE, bei der das Zentrum der Echtzeit genau die Rolle
spielt, die einst das Zentrum des Realraums der griechischen Polfis
innehatte: jene KRATOS (griech. »Kraft, Stärke«), der symbolisch die
Achse der Welt darstellte, die Welt der Mutter Erde (Gabi), deren
Autonomie und Stabilität lediglich durch ihre geozentristische Position
inmitten eines Kosmos gewährleistet war, in dem die vertikale Loslösung
vom Boden, d. h. das Abheben, zugleich technisch unmöglich und, wenn
man nach den hebräischen Texten geht, in denen der Schatten des Turms
von Babel zu erkennen ist, verboten war.

- 199 -
- 200 -
Anmerkungen

Offener Himmel

1 Dies ist beispielsweise die 1991 veröffentlichte Theorie von Profes


sor R.,1. Taylor, dem Direktor der Universität von Sussex, und von
Alexander Abian vom Fachbereich Mathematik an der Universität
von Iowa.
2 G. Cohen-Tannoudji und M. Spiro, La matiere-espace-temps, Paris
1986.
3 Les chemins de la science, Paris o. J., S. g.

Das dritte Intervall

1 Train ä Grande Vitesse; der französische Vorläufer des deutschen


Intercity-Zuges. (AdÜ)
2 G. Cohen-Tannoudji/M. Spiro, La matiere-espace-temps, Paris 1986.
3 Zitiert nach Giuseppe Bufo, Nicolas de Cues, Paris (Seghers) 1964.
4 Paul Virilio, Rasender Stilb'tand, München 1992.

Die Perspektive der Echtzeit

1 Edmund Husserl, La teere ne se meut pas, Paris 1989. Die Erde bewegt
sich nicht wurde 1934 verfaßt und im Jahre 1940 von Alfred Schütz
in der amerikanischen Zeitschrift Philosophy anal Phenomenological
Research veröffentlicht.
2 Paul Virilio, L'espace critique, Paris 1984.
3 G. C. Argan / R. Wittkower, Perspective et histoire au Quattrocento,
Paris 1990.
4 Auguste Rodin, L'Art. Entretiens reunis par G. Gsell, Paris 1911. 5 Maurice Merleau-Ponty,
Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin
1966, 5.239.
6 M. Dufourneaux, L'attrait du vide, Paris 1967.
7 Die Fallschirmspringer, diese Spezialisten des freien Falls, tragen
häufig einen kleinen Talkbeutel oder eine kleine Rakete bei sich,
um den Zuschauern am Boden die Fallinie besser veranschauli
chen zu könnten, bevor sie den Fallschirm öffnen.

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Das Gesetz der Nähe

1 J.-L. Marion, L'idole et la distance, Paris o. J., S. 206.


2 Der Begriff » Echtzeit« entspricht dem Primat der Lichtgeschwin
digkeit, der immer noch begrenzten Höchstgeschwindigkeit, die seit
Einstein eine der kosmologischen Konstanten darstellt.

Graue Ökologie

1 )Dröme Cardan, Ma vie, Paris 1992.


2 Karl Kraus, Sprüche und Widersprüche, in: Aphorismen, Frankfurt am Main 1986, S. 161.
3 Gerard d'Aboville, Seul, Paris 1992.
4 Franz Kafka, Briefe an Milena, Frankfurt am Main 1983, S. 316.
5 Scott Carpenter, Le tour du monde en 8o minutes, Paris 1962.

Kontinentalverschiebung

1 Der Durchschnittslohn einer Arbeiterin betrug in Portugal umgerechnet etwa 53o DM, während
er in Frankreich umgerechnet bei ca. 2 too DM lag.
2 Dieser Begriff stammt von Marco Bertozzi.
3 Hierfür war der Wahlerfolg des Medienmoguls Berlusconi und seiner »Forza Italia« in Italien
ein eindeutiger Beleg.
4 Janet Abrams, Lieux de travail mobile.
5 Janet Abrams, op. cit.
6 Dieser Ausdruck stammt von Emmanuel Monod, einem Ingenieur von IBM.

Die Begehrlichkeit der Augen

1 L'Equilibre en pesanteur et en impesanteur, Paris 1987.


2 Les metaphores du virtuel, IMAGINA 1992, hg. vom Ministere
fran~ais de la culture et de la communication. 3 op. cit.
4 Die Cite des sciences et de l' industrie in La Villette, kurz La Villette genannt, ist ein riesiger
Technologie-Park im Nordosten von

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Paris, in dem sich die Geode befindet. Die Ghode ist ein 31io
runder Kinosaal, dessen Innenwand die Leinwand bildet. (Ad 0)
5 Paul Virilio: L'operation de la cataracte, in: Les cahiers du cinema,
August 1986.
6 Briefwechsel des französischen Königs Henri IV
7 Dokument der DGA/DRET, Juni 1992.
8 La recherche, Februar 1991.
9 La recherche, September 1992.
10 »Le cerveau en temps rhel«, in: La Recherche, September 1992.

Von der Perversion zur sexuellen Diversion

1 »Ich möchte gerne Kinder haben, aber nicht auf dem Hals«, heißt
es in einem Werbeslogan des Reiseveranstalters »Nouvelles Fron
tieres«.
2 Im alten China war die Entführung im Brautwagen ein wesentli
cher Bestandteil der Hochzeitszeremonie.
3 Dan Urry, Les machines d proteine, in: Pour la science, Februar 1995. 4 Paul Virilio, Der
negative Horizont. Bewegung, Geschwindigkeit, Be
schleunigung, München 1989.
5 Saint-Pol Roux, Vitesse, Paris 1973.
6 Arthur Schopenhauer, Metaphysik der Geschlechtsliebe, in: Die Welt
als Wille und Vorstellung, Zürich 1977, 2. Band, S. 655
7 Arthur Schopenhauer, a.a.O., S. 628.
8 Arthur Schopenhauer, a.a.O., S. 655
9 Arthur Schopenhauer, a.a.O., S. 625/26.
10 »En attendant«, Lettre d'infrmation de la Maison de toutes les chime res, Nr. 3,
Dezember 1994.
11 Samt-Pol Roux, Cinema vivant, Paris 1972.
12 Le Monde, 23. Februar 1994.
13 P. Georges, Le Cybersexe ä l' index, in: Le Monde, 15. März 1995.

Fluchtgeschwindigkeit

1 Victor Segalen, 1iquipee, Paris o. J., S. 112.


2 Victor Segalen, a.a.O., S. 57.
3 Akzidens: Hinzukommendes; zu lat, accidere: sich ereignen. 4 Buzz Aldrin, Les hommes qui
venaient de la terre. 5 Stephen Jay-Gould, Aux racines du temps

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6 Ein Ausdruck aus dem Bereich der Raumfahrt, der die Technik für die Bestimmung der
Flugbahnen von Raumfahrzeugen bezeichnet. (Adti)
7 In früherer Zeit, als die Ortszeit historisch vorherrschend war, schien der Begriff der Oberfläche
auszureichen. Heute dagegen, im Zeitalter der globalen Zeit, gewinnt der Begriff der Schnittstelle
die Oberhand.
8 Dieser angelsächsische Begriff bezeichnet den Sachverhalt, daß das Globale nunmehr untrennbar
mit dem Lokalen verbunden ist. 9 Jacques Ellul, La Parole humilide.
10 Ebd.
11 Louis de Broglie, Physique et microphysique, Paris o.J.
12 Progeria: vorzeitiger Eintritt des Greisenalters, von dem heute
ein Kind pro 250000 Geburten betroffen ist. 13 Joseph Roth, Radetzkymarsch, Köln ig8q, S. 182.

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