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Campus Verlag
Frankfurt/New York
Die englische Originalausgabe The Constants of Nature erschien 2002 bei Jonathan Cape
Copyright © John D. Barrow
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Satz: Publikations Atelier, Dreieich
Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier.
Printed in Germany
Für Carol
Notwendige Bedingung für unsere Existenz ist nicht die
Fähigkeit, uns erinnern zu können, sondern ganz im Gegenteil
die Fähigkeit, vergessen zu können.
Sholem Ash
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
5 Eddingtons Unvollendete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
Können Sie bis 136 x 2256 zählen? . . . . . . . . . . . . . . . 82
Fundamentalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung . . . . . . . . . 93
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
Vorwort
Es gíbt Dinge, die ändern sich nie. Von ihnen handelt dieses Buch. In
früheren Zeiten waren es vor allem die besonderen Ereignisse, die
Geschichte machten: Überraschendes, Unerwartetes, Beunruhigen-
des, Katastrophen. Erst nach und nach begann die Wissenschaft,
auch die Geheimnisse zu entschlüsseln, die im Gesetzmäßigen und
Vorhersagbaren verborgen liegen. Obwohl die Atom- und Molekül-
bewegungen so chaotisch verknüpft sind, dass sie niemand im Ein-
zelnen vorhersagen kann, offenbart sich uns die Welt als zusammen-
hängend und von großer Zuverlässigkeit. Wollen wir wissen, warum
das so ist, suchen wir zunächst nach den ›Gesetzen‹, die angeben, wie
sich die Dinge in der Natur verändern. Bei dieser Suche sind wir auf
eine Anzahl geheimnisvoller Zahlen gestoßen, die Ausdruck dieser
Verlässlichkeit sind: die Naturkonstanten. Sie bestimmen die cha-
rakteristischen Eigenschaften unseres Universums und unterschei-
den es von anderen vorstellbaren Welten. Die Naturkonstanten ste-
hen für zweierlei: unser tiefstes Wissen über die Welt und unsere
größte Ratlosigkeit. Einerseits messen wir die Größe dieser Konstan-
ten mit zunehmender Genauigkeit und ziehen sie wegen ihrer Un-
veränderlichkeit heran, um mit ihnen unsere Maßeinheiten zu defi-
nieren. Andererseits können wir ihre Größe nicht theoretisch
erklären – das ist bis jetzt für keine einzige Naturkonstante gelun-
gen! Wir haben neue Naturkonstanten entdeckt, alte miteinander in
Beziehung setzen können und begreifen, welch entscheidende Rolle
sie dabei spielen, dass die Dinge so sind wie sie sind – aber ihre Größe
bleibt weiterhin ein tief verborgenes Geheimnis. Um ihm auf die
Spur zu kommen, müssen wir die grundlegendsten Theorien in
12 Das 1 × 1 des Universums
John D. Barrow
Cambridge, im April 2002
Kapitel 1
Naturkonstanten –
einige Vorbemerkungen
Was sich zuerst ereignet ist nicht unbedingt der Anfang.
Henning Mankell
sein Ende kommen. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde die Vor-
stellung eines sich wandelnden Universums immer weiter ausgemalt.
Das Klima und die Oberfläche unseres Planeten ändern sich ständig
und mit ihnen auch die Tier- und Pflanzenarten, die auf ihm leben.
Die dramatischste Erkenntnis aber war, dass sich auch das gesamte
Universum mit seinen Sternen und Galaxien im Stadium eines stän-
digen dynamischen Wandels befindet: Riesige Cluster von Galaxien
rasen auseinander und eilen auf eine Zukunft zu, die sich von der
Gegenwart fundamental unterscheidet. Wir beginnen zu begreifen,
dass unsere Zeit nur geborgt ist und die Kollision ganzer Welten
zum kosmischen Alltag gehört. Unsere Erde wurde schon in der Ver-
gangenheit des öfteren von Kometen und Asteroiden getroffen. Ir-
gendwann wird sie das Glück verlassen, und der Schutzschild, den,
wie es der Zufall will, der Riesenplanet Jupiter gegen die Weiten des
Alls darstellt, wird zusammenbrechen und uns nicht mehr retten
können. Schließlich wird sogar unsere Sonne erlöschen und unsere
Galaxie, die Milchstraße, wird von einem ungeheuren Schwarzen
Loch aufgesaugt, das schon jetzt in ihrem Zentrum lauert. Jegliches
Leben, wie wir es uns vorstellen können, wird damit verschwinden.
Überleben könnten nur Wesen, die ihre Formen, ihre Behausungen
und ihre Körper so sehr verändert haben, dass wir sie nach unseren
heutigen Maßstäben kaum als Vertreter von ›Leben‹ bezeichnen
würden.
Wir haben grundlegende Geheimnisse des Chaos und der unvor-
hersagbaren Prozesse aufgedeckt, die in so vielen Bereichen unsere
Welt bestimmen. In groben Zügen verstehen wir das Wettergeschehen,
können es aber nur für wenige Tage vorhersagen. Wir haben einen
Blick für die Ähnlichkeit entwickelt, die zwischen solchen komplexen
Systemen, der Vielfalt menschlicher Interaktion – Gesellschaftsfor-
men, Wirtschaftssysteme, Warenangebote, Ökosysteme – und dem
menschlichen Denken selbst besteht.
All diese verwirrend komplizierten Entwicklungen kommen mit
ungeheurer Geschwindigkeit daher und bestärken uns in der Über-
zeugung, dass die Welt einer durchgedrehten Achterbahn gleicht, in
deren Auf und Ab wir durcheinander geschüttelt werden: Alles, was
wir einmal für wahr gehalten haben, könnte eines Tages über den
Haufen geworfen werden. Für manche sind diese Aussichten ein
16 Das 1 × 1 des Universums
Grund, der Wissenschaft zu misstrauen, weil sie uns den Boden un-
ter den Füßen wegzieht und uns jegliche Sicherheit raubt – als ob
man beim Entwurf des Universums und seiner Gesetze unsere psy-
chische Zerbrechlichkeit hätte berücksichtigen müssen.1
Man könnte sich aber auch auf den Standpunkt stellen, dass all
diese Veränderungen und Unwägbarkeiten nur eine Illusion sind, da
sie nicht die ganze Geschichte der Natur des Universums ausma-
chen. Die Grundstruktur unserer Realität zeigt zwei Seiten: eine
konservative und eine progressive. Bei allem fortwährenden Wandel
und bei aller Dynamik der Welt, wie sie mit unseren Sinnen begreif-
bar ist, gibt es auch Aspekte im Gerüst des Universums, deren Ge-
heimnis in ihrer unerschütterlichen Konstanz liegt. Es sind diese un-
veränderlichen Dinge, die unser Universum zu dem machen, was es
ist und was es von anderen denkbaren Welten unterscheidet. Es gibt
einen goldenen Faden, aus dem ein Netz von Kontinuität gewebt ist,
das die Natur durchzieht. Aufgrund dieses Netzes erwarten wir, dass
sich bestimmte Dinge auch fernab im Weltall genauso wie auf der
Erde verhalten, dass sie sich auch früher nicht anders verhalten ha-
ben als heute, dass dies auch in Zukunft so bleiben wird und dass für
sie weder Zeit noch Ort zählen. Die Naturkonstanten garantieren,
dass überall im Universum Gleichheit herrscht, und dass ein Elek-
tron wie das andere ist (oder zumindest zu sein scheint).
In der Tat gäbe es vielleicht ohne diesen soliden Untergrund einer
unveränderlichen Realität weder den Fluss der Veränderungen an
der Oberfläche noch irgendwelche komplizierte Gedanken noch
überhaupt Materie. Die Existenz dieser Konstanten zählt zu den
letzten Geheimnissen der Wissenschaft, mit deren Enträtselung sich
eine ganze Reihe der bedeutendsten Physiker befasst. Nachdem man
lange Zeit nur vermuten konnte, dass es sich um Naturkonstanten
handelt, will man heute herausfinden, was sie ihrem Wesen nach
sind.
Was ist der letzte Stand des Wissens auf diesem Gebiet? Sind die
Naturkonstanten wirklich konstant? Sind sie überall gleich? Sind sie
alle miteinander verknüpft? Hätte sich auch Leben entwickeln kön-
nen, wenn sie etwas größer oder kleiner ausgefallen wären? – Das
sind einige der Fragen, mit denen sich dieses Buch befassen wird.
Wir wollen einen Blick zurück auf die Entdeckung der ersten Natur-
Natur konstanten – einige Vorbemer kungen 17
konstanten werfen und uns mit dem Einfluss befassen, den sie auf
die Naturwissenschaftler und Theologen hatten, die sich mit Sinn,
Zweck und Wesen des Seins befassten. Wir werden sehen, was man
an der vordersten Front der Forschung heutzutage über die Natur-
konstanten annimmt und ob eine ›Theorie für Alles‹, wenn es sie ei-
nes Tages geben wird, das wahre Geheimnis dieser Größen lüften
kann. Vor allem anderen will das Buch aber die Frage behandeln, ob
die Naturkonstanten wirklich konstant sind.
Kapitel 2
Eine Reise an den Rand der Welt
F r a n k l i n : Herr Direktor, haben Sie jemals daran gedacht,
dass Ihre Grundsätze vielleicht ein bisschen altmodisch sind?
Di r e k t o r : Natürlich sind sie altmodisch. Grundsätze sind
immer altmodisch, das macht sie erst zu Grundsätzen.
Alan Bennett1
Der MCO, der Wetter und Klima des Mars untersuchen sollte, wurde am
11. Dezember 1998 von Cape Canaveral in Florida mit einer Delta-Rakete ins
All geschossen. Nach einer Reise von ungefähr 9 ½ Monaten erreichte er den
Mars. Seine Hauptantriebsdüse wurde gezündet, um ihn am 23. Septem-
ber 1999 gegen 2 Uhr PDT (Pacific Daylight Time) in eine Umlaufbahn um
den Mars einschwenken zu lassen. Nach 5 Minuten der für 16 Minuten vorge-
sehenen Brenndauer des Antriebs verschwand der MCO von der Erde aus gese-
hen hinter dem Planeten. Ein Signal der Sonde, das gegen 02.26 Uhr PDT
wieder erwartet wurde, blieb aus. … Bis 24. September 1999 gegen 15 Uhr PDT
wurden Anstrengungen unternommen, die Sonde wieder ausfindig zu machen
und Kontakt mit ihr aufzunehmen, dann wurden die Versuche eingestellt.2
Das Problem war, dass sich die Sonde 96,6 km näher an der Marso-
berfläche befand, als die Kontrollstation auf der Erde annahm: 125
Millionen Dollar wurden im roten Sand des Mars versenkt. Der Ver-
lust war schon schlimm genug, aber die Ursache des Desasters gab
erst recht Anlass, sehr kleinlaut zu werden. Lockheed-Martin, die
Firma, die für die laufende Kontrolle der Raumsonde zuständig war,
sandte die Daten für die Antriebsraketen in den ›alten‹ Einheiten wie
Meilen, Fuß und Pfund zur Bodenkontrollstation, während das
Eine Reise an den Rand der Welt 19
Arms des Königs oder der Spannweite seiner Hand ab. In den Entfer-
nungsmaßen spiegelte sich wider, wie weit eine Tagesreise führte.
Keines dieser alten Maße beanspruchte ewige Gültigkeit, denn sie
waren alle nur für den bequemen Ge-
Sie versteht das Prinzip der Römischen brauch in bestimmten Situationen
Zahlen nicht. Sie hat gedacht, dass entstanden, dabei aber zum Teil so
wir gerade den Elften Weltkrieg hinter
klug gewählt, dass man sie auch heute
uns haben.
noch benützt, obwohl sich das offizi-
Joan Rivers6 elle Dezimalsystem allgemein durchge-
setzt hat. Das Längenmaß ›Fuß‹7, das
im englischen Sprachraum als ›Foot‹ immer noch gebräuchlich ist,
und das ›Barrel‹ Erdöl sind bekannte Beispiele. Das nicht mehr so
übliche Längenmaß ›Yard‹ war als Länge eines Bandes von der Na-
senspitze zur äußersten Fingerspitze des waagrecht ausgestreckten
Arms definiert, während ein ›Cubit‹ von dort bis zur Armbeuge
reichte und zwischen 44 cm und 64 cm betrug.8 Die Längeneinheit
der Seeleute, der ›Faden‹ oder ›Fathom‹, war die größte Einheit, die
sich auf den menschlichen Körper bezog: Es war der Abstand zwi-
schen den Fingerspitzen der nach links und rechts ausgestreckten
Arme. Die Zeitmaße verdankten sich den astronomischen Änderun-
gen von Erde und Mond, Gewichtsmaße den Mengen, die man in der
Hand oder auf dem Rücken tragen konnte.
Ein offensichtliches Problem vieler dieser Maßeinheiten bestand
auch darin, dass die Menschen verschieden groß sind. Wen sollte
man als ›Muster‹ wählen? Die ersten Kandidaten waren natürlich
König oder Königin. Aber auch bei diesem Verfahren musste man
die Maße immer neu festlegen, wenn der Thron neu besetzt wurde –
etwa, wenn auf einen ›kleinen‹ Pippin ein ›großer‹ Karl folgte. Eine
bemerkenswerte Lösung dieses Problems fand um 1150 der schotti-
sche König David I., als es um die Festlegung des ›Scottish Inch‹
ging: Er befahl, dass es »gleich der durchschnittlichen Daumendicke
dreier Männer sein solle, ›eines großen Mannes, eines Mannes von
mittlerer Statur und eines kleinen Mannes‹, und dass die Daumen
an der Nagelwurzel zu messen seien«.9
Die weiten Reisen der Händler und Kaufleute im Mittelmeerge-
biet lenkten schon in der Antike den Blick auf die Problematik sol-
cher anatomisch definierter Maßeinheiten. Ein einheitliches Maß-
Eine Reise an den Rand der Welt 21
A b b ild u n g 2 .1
Masse und Größe wichtiger ›Bewohner‹ unseres Universums.
Mit der Wahl von ›g‹ und ›cm‹ als Einheit liegen wir Menschen nahezu
im Zentrum des Geschehens.
denen sie zu tun hatten und die sie bearbeiteten. Die Brauer wollten
ihr spezielles Volumenmaß, die Wasserbauingenieure ein anderes.
Ein Juwelier gab das Gewicht anders an als Seeleute oder Architek-
ten. Das Ergebnis war eine Unzahl von Maßeinheiten. Für jedes Ma-
terial erfand man eigene Grundmaße zur Bestimmung von Festig-
keit und Toleranz, Menge und Gewicht. Diese Einheiten waren nicht
nur anthropozentrisch, sondern darüber hinaus noch ganz speziell
auf die jeweiligen Berufe zugeschnitten. Als ich noch zur Schule
ging, hatten wir kleine linierte Notizbücher mit einem roten oder
blauen Umschlag, auf dessen Rücken man eine Liste all dieser seltsa
Eine Reise an den Rand der Welt 25
A b b ild u n g 2 .2
Typische Zusammenstellung verschiedener Maßeinheiten aus einem
englischen Ratgeber aus den 1950er Jahren.20
tur gegenüber, wie sie der Gegenstand von Charles Darwins Evoluti-
onstheorie mit ihrer natürlichen Auslese war. Maxwell betonte, dass
die Atome als Bausteine der Natur weder der Auslese noch Anpas-
sungs- oder Mutationsprozessen unterliegen. Auf der Grundlage
dieser Unveränderlichkeit und Universalität wollte er Maßeinheiten
definieren, mit denen man einerseits die durch menschliches Zutun
entstehenden Fehler vermeiden konnte und andererseits zu den
grundlegenden Invarianten der realen Welt vorzustoßen vermochte.
1927 wurde die rote Emissionslinie des Cadmiums als erster ato-
marer Längenstandard23 gewählt. Man definierte mit ihr die Längen-
einheit ›Ångström‹ (1 Å = 10-10 m), indem man die Wellenlänge der
Cadmiumlinie mit 6438,4696 Å festsetzte.24 Da die Wellenlänge des
Lichts, das von Cadmium ausgestrahlt wird, einzig und allein von
Naturkonstanten bestimmt wird, war diese Definition ein entschei-
dender Schritt, denn mit ihr wurde zum ersten Mal ein universelles
Standardmaß festgelegt. Wenn wir also unserem Alien etwas über
die Größe der Menschen mitteilen wollen, können wir ihm jetzt sa-
gen, dass die meisten von uns 2-3 Millionen Mal größer sind als die
Wellenlänge der roten Cadmiumlinie – und er wird uns verstehen.
Stoney war ein exzentrischer und origineller Denker. Er hat als Ers-
ter gezeigt, wie man bei anderen Planeten unseres Sonnensystems
herausfinden kann, ob sie eine Atmosphäre haben: Man berechnet,
ob die Schwerkraft ausreicht, sie am Entweichen zu hindern. Aber
Stoneys wahre Leidenschaft galt seinem Lieblingsthema: dem ›elec-
tron‹. Er hatte nachgewiesen, dass es einen Baustein der elektrischen
Ladung geben müsse. Bei der Auswertung der Elektrolyseexperi-
mente, die von Michael Faraday durchgeführt worden waren, gelang
es ihm sogar, den Wert dieser Einheitsladung zu bestimmen – ein
Ergebnis, das später von Joseph John Thomson bestätigt wurde, der
1897 in Cambridge das Elektron entdeckte27 und dies der Royal In-
stitution am 30. April anzeigte. Stoney gab seiner Elementarladung
schließlich 189128 den Namen ›electron‹ (nachdem er sie 1874 zu-
nächst ›electrine‹29 genannt hatte). Er ließ später keine Gelegenheit
aus, um über diese Größe und die möglichen Vorteile seines Kon-
zepts für die Wissenschaft zu sprechen.
Stoney war ein entfernter älterer Cousin des berühmten Mathe-
matikers und Computerwissenschaftlers Alan Turing, der auch als
Experte für das Knacken von Geheimcodes galt. Dessen Mutter hielt
in einem Buch über ihren Sohn viele Erinnerungen an den seltsamen
Onkel fest, den die Kinder ›electron-Stoney‹ nannten. Ein anderer
Onkel Stoneys war George FitzGerald, der Berühmtheit erlangte,
weil er die ›Lorentz-FitzGerald-Kontraktion‹ beschrieb, ein Phäno-
men, das man schließlich später im Rahmen von Einsteins Spezieller
Relativitätstheorie interpretieren konnte. Stoney war auch praktisch
veranlagt und baute zwei Jahre lang für den Earl of Rosse und dessen
30 Das 1 × 1 des Universums
A b b ild u n g 2 .3
Der irische Physiker George Johnstone Stoney (1826–1911).30
war er bereits mit dem Problem der Standards und Einheiten kon-
frontiert gewesen.
Ihm wurde klar, dass sein Konzept einer Elementarladung das
fehlende Stück eines Puzzles war. Nehmen wir an, jemand will Ein-
heiten für Masse, Länge und Zeit definieren, die nicht nur wie Pfund,
Meile oder Tag für den menschlichen Alltagsgebrauch geeignet sind.
Sie müssten dann aus Grundeigenschaften des Universums abgelei-
tet werden und dürften weder davon abhängen, wann man eine Mes-
sung durchführt, noch davon, wo man sich dabei befindet. Damit
wäre die übliche Hilfslösung überflüssig, ein Urkilogramm und ein
Urmeter, das irgendwo unter besonderen kontrollierten Bedingun-
gen aufbewahrt wurde, zum Vergleich für andere Referenzmassen
und -längen heranzuziehen.
Um den anthropozentrischen Fesseln zu entkommen, richtete
Stoney sein Interesse auf physikalische Konstanten. Newton hatte
schon mehr als zwei Jahrhunderte zuvor erkannt, dass die Schwer-
kraft einem einfachen Gesetz gehorcht: Die Kraft F zwischen zwei
Massen m1 und m2 im Abstand r ist proportional zur Größe beider
Massen und umgekehrt proportional zum Quadrat des Abstands
der beiden Massenmittelpunkte:
F = G (m1 m2) / r2
Man nahm an, dass das Gravitationsgesetz universell gilt und die
Proportionalitätskonstante G überall im Universum gleich ist.33 Sie
ist ein Maß für die Stärke der Schwerkraft. Wichtig an ihr ist, dass sie
wirklich konstant ist: Wo auch immer sie in korrekter Weise gemes-
sen wird, hat sie den gleichen Wert.34 Drückt man G in unseren ge-
bräuchlichen anthropozentrischen Einheiten aus, die ja nicht für
diesen Zweck geschaffen wurden, erhält man eine ›krumme‹ und
recht sperrige Zahl: G = 6,67259 x 10-11 m3kg-1s-2.
Die zweite Naturkonstante, auf die Stoney für seine nicht-anthropo-
zentrischen Maßeinheiten zurückgriff, war die Lichtgeschwindigkeit c.
Auch diese Konstante sprengt alle menschlichen Vorstellungen. Sie ist
von grundlegender Bedeutung, ja von einer grundlegenderen Bedeu-
tung, als es Stoney ahnen konnte. Einstein zeigte später, dass die Licht-
geschwindigkeit im Vakuum die höchste im Universum überhaupt
32 Das 1 × 1 des Universums
Die Natur liefert uns drei derartige Einheiten, und wenn wir diese als Grund-
einheiten wählen anstatt eine willkürliche Wahl zu treffen, werden wir unsere
Rechnungen in eine bequemere Form bringen, die zudem zweifellos einen
engeren Bezug zur Natur hat, wie sie wirklich ist. …
Zu diesem Zweck müssen wir Phänomene auswählen, die überall in der
Natur vorkommen und nicht nur mit ganz bestimmten Gegebenheiten ver-
bunden sind. Die erste der absoluten Naturgrößen, auf die ich Ihre Aufmerk-
samkeit lenken will, ist jene bemerkenswerte Geschwindigkeit von absoluter
Größe, die von den Einheiten, in denen sie gemessen wird, unabhängig ist und
unsere elektrostatischen Einheiten mit den zugehörigen elektromagnetischen
Einheiten verknüpft. Ich werde diese Geschwindigkeit c nennen.36 Wählen wir
sie als unsere Geschwindigkeitseinheit, vereinfachen wir auf einen Schlag die
Behandlung aller elektrischen Phänomene und vermutlich auch unsere Unter-
suchungen von Licht und Wärme.
Darüber hinaus liefert uns die Natur einen Gravitationskoeffizienten, der
eine absolute Größe darstellt und von den verwendeten Einheiten, in denen er
angegeben wird, unabhängig ist. Mit ihm kann man die schwere Materie un-
seres gesamten materiellen Universums beschreiben. Diesen Koeffizienten
werde ich G nennen. Wählen wir ihn als Koeffizienten für die Anziehung, kön-
nen wir damit vermutlich einen ersten Schritt zur Beantwortung der Frage
machen, worin die bisher nur vermutete tiefere Verbindung zwischen dem
Phänomen der Schwerkraft, jener wunderbarsten Eigenschaft, die alle schwere
Materie hat, zu den anderen Naturphänomenen liegt.
Schließlich zeigt uns die Natur im Phänomen der Elektrolyse, dass es einen
Grundbaustein der Elektrizität gibt, der unabhängig vom jeweiligen Stoff ist.
Eine Reise an den Rand der Welt 33
Um dies zu verdeutlichen, will ich ›Faradays Gesetz‹ mit den folgenden Begrif-
fen ausdrücken, die, wie ich zeigen werde, das Gesetz präziser fassen: Für jede
chemische Bindung, die in einem Elektrolyt gelöst wird, durchquert eine Menge an Elek-
trizität den Elektrolyt, die in allen Fällen gleich ist. Dieses bestimmte Elektrizitäts-
quantum nenne ich e. Wenn wir es zur Grundeinheit der Elektrizität wählen,
haben wir vermutlich einen äußerst wichtigen Schritt auf dem Weg zur Er-
kenntnis der molekularen Phänomene gemacht.
Wir haben also guten Grund zu der Annahme, dass wir mit c, G und e drei
aus einer Reihe systematischer Einheiten haben, die in einem besonderen
Sinn Natureinheiten sind und in enger Beziehung zu den Vorgängen stehen,
die im gewaltigen Laboratorium ablaufen, welches die Natur darstellt. …
Wir haben so … die drei großen fundamentalen Einheiten erhalten, die uns
die Natur anbietet. Auf ihnen können wir ganze Reihen physikalischer Einhei-
ten aufbauen, die mit Recht ›natürliche Reihen‹ genannt werden können.37
Stoney zeigte, dass das magische Trio aus c, G und e auf eine (und
nur eine) Art miteinander kombiniert werden kann, um aus ihm
Einheiten für Masse, Länge und Zeit abzuleiten. Für die Lichtge-
schwindigkeit wählte er einen Durchschnittswert der damals be-
kannten Messungen mit c = 3 x 108 m/s. Für die Newtonsche Gravi-
tationskonstante nahm er den von John Herschel bestimmten Wert
G = 0,67 x 10-11 m3kg-1s-2 und für die Ladung des ›electrine‹ e = 10–20
Ampère.38 Stoney fand durch die Kombination von c, G und e die
folgenden reichlich ungewöhnlichen Definitionen für natürliche
Grundeinheiten von Masse, Länge und Zeit:
Während eine Masse von 10–7 g nicht völlig aus dem Rahmen fällt –
sie entspricht etwa der eines Staubteilchens –, passen Stoneys Län-
gen- und Zeiteinheiten zu nichts, mit dem man sich je in den Natur-
wissenschaften befasst hat. Sie sind in ihrer Winzigkeit einfach
fantastisch und unbegreiflich. Es gab damals natürlich auch keine
Möglichkeit, derart kleine Längen und Zeiten direkt zu messen –
auch heute ist das noch nicht möglich. Irgendwie war das Ergebnis
aber auch nicht überraschend, denn die neuen Einheiten waren ja
ganz bewusst weder aus menschlichen Maßen gewonnen noch für
34 Das 1 × 1 des Universums
A b b ild u n g 2 .4
Ilse Rosenthal-Schneider (1891-1990).42
werden könnte, denn mit ihr würde die Physik aufhören, eine induk-
tive Wissenschaft zu sein. Planck misstraute der Vorstellung, Grö-
ßen, die ihre Existenz den ›Zufällen‹ unserer irdischen Situation
verdanken, eine grundlegende Bedeutung beizumessen:
gelten, die Phänomene der äußeren Welt von denen des menschli-
chen Bewusstseins so deutlich wie möglich zu trennen.
Planck wählte dazu neben den uns schon von Stoney bekannten
Größen c (Lichtgeschwindigkeit) und G (Gravitationskonstante) das
Wirkungsquantum h (oder ħ = h/2π), das heute Plancks Namen
trägt und mit den kleinsten Energiequanten verknüpft ist, die ausge-
tauscht werden können.46 Planck nahm zusätzlich noch die Boltz-
mann-Konstante k auf, den Faktor zur Umrechnung von Energieein-
heiten in Temperatureinheiten, der die Definition einer ›natürlichen‹
Temperatur ermöglicht. Plancks Einheiten stellen nun – ähnlich wie
bei Stoney – die einzig möglichen Kombinationen seines Quartetts
aus c, G, h und k dar, die zu Massen-, Längen-, Zeit- und Temperatur-
einheiten führen. Die Zahlenwerte unterscheiden sich von denen
Stoneys nur wenig:
Wieder treffen wir auf den Gegensatz zwischen einer zwar kleinen, aber
nicht außergewöhnlich kleinen natürlichen Masseneinheit und den
geradezu fantastisch winzigen natürlichen Einheiten von Länge, Zeit
und Temperatur (wobei hier 1/T betrachtet werden muss).47 Für Planck
lag die besondere Bedeutung seiner ›natürlichen‹ Einheiten darin, dass
sie weit über unsere menschlichen Bereiche hinausgehen und für die
Grundlagen der physikalischen Realität entscheidend sind:
Diese Größen behalten ihre natürliche Bedeutung solange bei, als die Gesetze
der Gravitation, der Lichtfortpflanzung im Vacuum und die beiden Haupt-
sätze der Wärmetheorie in Gültigkeit bleiben, sie müssen also, von den ver-
schiedensten Intelligenzen nach den verschiedensten Methoden gemessen,
sich immer wieder als die nämlichen ergeben.48
weiter sein, dass sie nur im statistischen Sinn, etwa als Mittelwert,
konstant sind. Weil man all diese Möglichkeiten nicht durch bloße
Gegenbehauptungen oder ein Glaubensbekenntnis ausschließen
kann, sind präzise experimentelle Untersuchungen dieser Größen
nötig. Die Physiker widmeten sich dieser Aufgabe mit großem Eifer,
einigen schien sie sogar das letzte gewaltige Ziel der Physik darzu-
stellen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war amüsanterweise der
Glaube weit verbreitet, alle wesentlichen Entdeckungen in der Phy-
sik seien bereits gemacht, und was noch als Aufgabe verbliebe, seien
Messungen mit immer größerer Genauigkeit: ein Unternehmen,
dem es eher auf die Verschönerung des Vorhandenen ankam, als auf
Neuentdeckungen oder Revolutionen. Albert Michelson machte
sich 1894 über diese Hybris lustig, die sich in der weit verbreiteten
Ansicht ausdrückte, dass
die wichtigsten Grundgesetze und Fakten der Physik entdeckt worden sind.
Sie sind heute so etabliert, dass die Möglichkeit, sie könnten jemals durch
neue Entdeckungen ersetzt werden, vernachlässigt werden kann. … Unsere
zukünftigen Entdeckungen werden sich in der sechsten Stelle nach dem
Komma niederschlagen.55
Auch Planck sah sich mit dieser Ansicht konfrontiert. Man riet ihm
1875, als er noch studierte, lieber auf dem Gebiet der Biologie zu ar-
beiten, da alle wichtigen physikalischen Probleme schon gelöst seien
und dieses Gebiet sich dem Abschluss nähere. Ironischerweise war es
dann gerade Planck, der mit seiner Quantentheorie einen völlig neuen
Blick auf die Realität eröffnete – eine Revolution, die dann durch Ein-
steins Angriff auf die gängigen Vorstellungen von Raum, Zeit und
Schwerkraft weitergeführt wurde. Die Physik war weit davon entfernt,
an ihr Ende zu kommen: Sie hatte gerade erst angefangen.
entfernen, was wir aus unserem Alltag kennen. Die genauesten Vor-
hersagen, die wir heute machen können, betreffen Elementarteil-
chen und Systeme rotierender Galaxien – und nicht die Börsenkurse
und das launische Verhalten von Konsumenten und Wählern. Dies
spricht für eine Welt, die nicht das Produkt menschlichen Denkens
ist, sondern von uns nur entdeckt und enthüllt wird. Das ist nicht
selbstverständlich. In unseren Versuchen, die Kompliziertheit des
menschlichen Verhaltens zu begreifen, ist ein starkes subjektives Ele-
ment nicht zu übersehen. Es führt dazu, dass auf diesem Gebiet un-
sere Schlüsse in der Regel umso weniger verlässlich werden, je weiter
wir uns von unseren eigenen Erfahrungen entfernen und je mehr wir
uns mit Menschen befassen, die völlig anders sind als wir selbst.
Nach Einstein gibt es also einige Konstanten, die nur dadurch zu-
stande kamen, weil wir für unsere Messungen ganz bestimmte Ein-
heiten verwenden. Ein Beispiel dafür ist die Boltzmann-Konstante,
die nur einen Umrechnungsfaktor zwischen Energie- und Tempera-
tureinheiten darstellt und damit dem zwischen Fahrenheit- und
Celsiusgraden gleicht. Die wahren ›Konstanten‹ können nur reine,
dimensionslose Zahlen sein, keine dimensionsbehafteten Größen
wie eine Geschwindigkeit, eine Masse oder die Länge, bei denen sich
der Zahlenwert ändert, wenn man das System der Maßeinheiten
wechselt. Danach wäre selbst die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum
keine der ›wahren‹ Naturkonstanten, nach denen Einstein suchte.
Geschwindigkeiten haben die Dimension ›Länge dividiert durch
Zeit‹ und können daher nicht als eine Kombination reiner Basiszah-
len (wie beispielsweise π) dargestellt werden. Die Lichtgeschwindig-
keit beträgt 669 600 000 Knoten oder 300 000 km/s: Keine dieser
Zahlen kann von einer ultimativen physikalischen Theorie erklärt
werden. Man müsste stattdessen eine weitere Naturkonstante fin-
den, die ebenfalls die Dimension einer Geschwindigkeit hat. Das
46 Das 1 × 1 des Universums
Ich denke jedoch immer noch – und dies ist der Grund, warum ich Sie mit
meinen Fragen wiederum belästige – darüber nach, was die universellen Kon-
stanten bedeuten, wie sie Planck aufzuzählen pflegte: die Gravitationskons-
tante, die Lichtgeschwindigkeit, das Wirkungsquantum etc., alle diese harm-
losen kleinen Dinge, … die nicht von äußeren Bedingungen wie Druck,
Temperatur etc., abhängen und die sich daher wohltuend von den Konstan-
ten der irreversiblen Prozesse unterscheiden? Wenn diese alle nicht existierten,
wären die Konsequenzen katastrophal.
Wenn ich Planck richtig verstanden habe, betrachtete er solche universelle
Konstante als ›absolute Größen‹. Sollten Sie nun sagen, dass sie alle nicht
existieren, was bliebe überhaupt in den Naturwissenschaften für uns übrig?
Dies beunruhigt einen gewöhnlichen Sterblichen viel mehr, als Sie sich vor-
stellen können.9
ßer oder kleiner, aber nie Millionen Male. Das war für Einstein etwas
Unerklärliches. Für die Physiker stellte dies einen Glücksfall dar, weil
sie unter diesen Voraussetzungen ein physikalisches Problem mit ei-
ner Dimensionsanalyse untersuchen können, um die Form des Ge-
setzes herauszufinden. Einstein schrieb:
Ich sehe aus Ihrem Briefe, dass Sie meine Andeutungen bezüglich der univer-
sellen Konstanten der Physik nicht begriffen haben. Ich will die Sache also
deutlicher zu machen suchen.
1. Rationelle Zahlen. Diese sind solche, welche bei der logischen Entwicklung
der Mathematik als einzigartige individuelle Bildungen gewissermaßen not-
wendig auftreten.
Aber Einstein wusste sehr wohl, dass die ›rationellen Zahlen‹ nicht
die interessantesten Naturkonstanten sind. Er erklärte, dass die ge-
bräuchlichen Konstanten wie die Lichtgeschwindigkeit, das Planck-
sche Wirkungsquantum oder die Gravitationskonstante Größen
sind, deren Einheiten sich aus verschiedenen Potenzen von Längen-,
Masse- und Zeiteinheit zusammensetzen. Aus ihnen können wir wie-
derum Kombinationen bilden, die reine Zahlen darstellen, müssen
dazu aber möglicherweise weitere Größen einführen.
2. Es liege nun eine vollständige Theorie der Physik vor, in deren Grundglei-
chungen die ›universellen‹ Konstanten c1, …, cn auftreten. Diese Größen seien
irgendwie auf gr, cm, sek. reduziert. Die Wahl dieser drei Einheiten ist offen-
bar ganz konventionell. Jedes der c1, …, cn hat eine Dimension in diesen Ein-
heiten. Wir wollen es nun so wählen, dass c1, c2, c3 solche Dimensionen haben,
dass man daraus kein dimensionsloses Produkt cα1 cβ2 cγ3 bilden kann. Dann
kann man c4, c5, etc. in solcher Weise mit aus Potenzen von c1, c2, c3 gebildeten
Faktoren multiplizieren, dass diese neuen c*4, c*5, c*6 reine Zahlen sind. Dies
sind die eigentlichen universellen Konstanten des theoretischen Systems, wel-
che nichts mit konventionellen Einheiten zu schaffen haben.13
48 Das 1 × 1 des Universums
3. Meine Erwartung geht nun dahin, dass diese Konstanten c*4 etc. rationelle
Zahlen sein müssen, deren Wert durch die logische Grundlage der ganzen
Theorie festgelegt ist.
Man kann es auch so sagen: Es gibt in einer vernünftigen Theorie keine
(dimensionslosen) Zahlen, deren Wert nur empirisch bestimmbar ist.
Beweisen kann ich dies natürlich nicht. Aber ich kann mir keine einheitli-
che und vernünftige Theorie vorstellen, die explizite eine Zahl enthält, welche
die Laune des Schöpfers17 ebenso gut anders hätte wählen können, wobei die
Welt qualitativ anders in ihren Gesetzmäßigkeiten ausgefallen wäre.
Man kann es auch so sagen: Eine Theorie, die in ihren Grundgleichungen
explizite eine nicht rationelle Konstante enthält, müsste irgendwie aus logisch
voneinander unabhängigen Brocken zusammengefügt sein; ich vertraue aber
darauf, dass diese Welt nicht so ist, dass man zu ihrer theoretischen Erfassung
einer so hässlichen Konstruktion bedarf.18
Einstein wird oft mit seiner berühmten Frage zitiert, ob Gott bei der
Erschaffung der Welt auch eine andere Wahl gehabt hätte. Was er
damit meinte, wird aus dem zitierten Brief deutlich: Können – bei
Mensch und Übermensch 49
haft und auf einen Punkt konzentriert sie erscheinen mag, auch
Wellencharakter besitzt. Diese Wellen haben nichts mit Wasserwel-
len gemein, sondern ähneln eher Wellen von Kriminalität oder Hys-
terie. Es sind Signale oder Informationswellen, die angeben, mit
welcher Wahrscheinlichkeit man auf ein Teilchen stößt. Durchläuft
die Welle eines Elektrons den Detektor, erhöht sich die Wahrschein-
lichkeit, dass man ein Elektron registriert – so wie es wahrscheinli-
cher ist, ausgeraubt zu werden, wenn eine Welle von der Kriminalität
unser Wohnviertel heimsucht. Die Quantenwellenlänge eines Teil-
chens ist umso kleiner, je massereicher es ist. Übersteigt sie die phy-
sikalische Größe des Teilchens, wird die Situation vorwiegend von
seinem Wellencharakter bestimmt. Die Objekte, die uns in unserem
Alltag begegnen, wie ein Auto oder ein schnell fliegender Ball, haben
derart große Massen, dass ihre Quantenwellenlängen weitaus klei-
ner sind als ihre Abmessungen. Daher können wir im Auto oder bei
einem Fußballspiel die Quanteneffekte völlig vergessen.
Im Gegensatz zur Quantenmechanik kommt die Allgemeine Rela-
tivitätstheorie immer ins Spiel, wenn sich Objekte mit Lichtge-
schwindigkeit oder nur wenig langsamer bewegen, oder wenn die
Schwerkraft äußerst stark ist. Mit der Allgemeinen Relativitätstheo-
rie beschreibt man die Expansion des Universums oder so extreme
Vorgänge wie die Bildung eines Schwarzen Lochs. Die Schwerkraft
ist jedoch verglichen mit den Kräften, die Atome und Moleküle zu-
sammenhalten, sehr schwach. Sie ist bei weitem zu schwach, um ir-
gendwelchen Einfluss auf die Struktur der Atome oder der Elemen-
tarteilchen zu haben.
Aus diesen Eigenschaften folgt, dass Quanteneffekte und Schwer-
kraft in verschiedenen Reichen herrschen, für die es wenig Grund
gibt, miteinander in Beziehung zu treten. Niemand weiß, wie man
die beiden Theorien nahtlos zu einer neuen, größeren und besseren
Supertheorie zusammenbauen könnte, die sowohl Quanteneffekte
als auch die Schwerkraft beschreibt. Keiner der Versuchskandidaten
hat bisher den Test bestanden. Aber wie können wir herausfinden,
wann welche Theorie zuständig ist? Wo liegen die Grenzen der
Quantentheorie einerseits und der Allgemeinen Relativitätstheorie
andererseits? Es gibt glücklicherweise die Planckschen Einheiten. Sie
können uns eine einfache Antwort auf diese Fragen liefern.
52 Das 1 × 1 des Universums
1010
108
106
104
102
10
10-2
10-4
10-6
1900 1910 1920 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000
A b b ild u n g 3 .1
Moores Gesetz.
Kraft der Gravitation, die alles zusammenstürzen lassen will, mit der
abstoßenden Kraft im Gleichgewicht, die wirksam wird, wenn man
Atome zu dicht zusammenpresst. Diese Gleichgewichtszustände
können durch zwei dimensionslose Zahlen ausgedrückt werden, die
Kombinationen verschiedener Potenzen der Konstanten e, h, c, G
und mpr darstellen: der ›Feinstrukturkonstante‹
α = 2πe2/hc ≈ 1/137
αG = Gmpr2/hc ≈ 10–39.
A b b ild u n g 3 .2
Durch Masse und Größe abgegrenzte Gebiete des Universums:
Gebiet konstanter atomarer Dichte (vgl. Abbildung 2.1), Gebiet der
Schwarzen Löcher (links oben), Gebiet, in dem die Unschärferelation
der Quantenmechanik vorherrscht (links unten).26
Andere Welten
Die Bestimmung dimensionsloser Naturkonstanten wie α und αG
zusammen mit Konstanten, die für die schwache und die starke
Kraft die gleiche Rolle spielen, legt den Gedanken nah, uns für einen
Augenblick Welten vorzustellen, die anders als unsere sind. Bei glei-
chen Naturgesetzen mögen dort die Naturkonstanten größer oder
kleiner sein. Dieser Wechsel der Zahlenwerte würde die Struktur sol-
cher Fantasiewelten völlig verändern. Das Gleichgewicht zwischen
56 Das 1 × 1 des Universums
den verschiedenen Kräften wäre ein anderes, die Atome würden über
andere Eigenschaften verfügen. Die Schwerkraft würde möglicher-
weise auch in der Mikrowelt eine Rolle spielen, und die Quantenna-
tur der Natur würde an unerwarteten Stellen spürbar werden.
Die Berechtigung zu solchen Gedankenexperimenten ist sehr eng
mit Einsteins Fragen verbunden. Erlaubt die Natur eine und nur eine
Kombination von Konstanten, so handeln wir aus reiner Borniertheit
und haben nur vermeintlich die Freiheit, uns andere Welten vorzu-
stellen. Wir glauben nur deshalb, die Konstanten frei wählen zu kön-
nen, weil wir uns nicht darüber im Klaren sind, wie stark sie in die
Naturgesetze verflochten sind. Wenn die Naturkonstanten durch die
Naturgesetze festgelegt werden, kann es keine anderen Welten geben.
Als letzte wichtige Lektion sagen uns dimensionslose Zahlen wie α
und αG, was es wirklich heißt, wenn eine Welt anders ist. Wie wir
schon wissen, stellt die Feinstrukturkonstante α eine Kombination
der Elementarladung e, der Lichtgeschwindigkeit c und des Planck-
schen Wirkungsquantums h dar. Wir könnten uns also zunächst
vorstellen, dass eine Welt, in der sich das Licht langsamer ausbreitet,
anders ist. Das muss aber nicht zwangsläufig so sein, denn wenn man
die Größen e, c und h alle so verändert, dass der Wert von α konstant
bleibt, gliche die schöne ›neue‹ Welt für jeden Beobachter der alten.
Einzig die dimensionslosen Naturkonstanten bestimmen die Welt.
Auch wenn man alle Massen verdoppeln würde, hätte das keine Fol-
gen, sofern die dimensionslosen Zahlen durch Massenverhältnisse
bestimmt werden.
nach dem Körper, auf die keine Kraft einwirkt, nicht beschleunigt wer-
den, sondern in Ruhe bleiben oder sich weiterhin mit konstanter Ge-
schwindigkeit fortbewegen. Schon Newton war sich jedoch darüber
im Klaren, dass dieses ›universelle‹ Gesetz nicht wirklich universell ist.
Nur eine besondere Auswahl von Beobachtern des Universums wird es
für wahr halten: Beobachter in einem Trägheitssystem, also Beobach-
ter, die im Verhältnis zu einem imaginären kosmischen Hintergrund
aus weit entfernten Fixsternen weder beschleunigt werden noch rotie-
ren.28 Diese Beobachter verletzen also die Kopernikanische Forderung,
da sie ein Universum wahrnehmen, dessen Gesetze für sie besonders
einfach sind. Um herauszufinden, warum das so ist, wollen wir uns
vorstellen, im Inneren eines Raumschiffs zu sitzen, aus dessen Fens-
tern wir die fernen Sterne beobachten, die ihren festen Platz am Him-
mel zu haben scheinen. Nehmen wir weiter an, dass eine Steuerdüse
unser Raumschiff in Rotation versetzt. Wenn wir nun aus dem Fenster
schauen, haben wir den Eindruck, dass die fernen Sterne rotieren – in
Gegenrichtung zur Rotation unseres Raumschiffs. Für uns sieht es
nun so aus, als wenn diese Sterne beschleunigt29 werden, obwohl auf
sie keinerlei Kräfte wirken. Für den rotierenden Beobachter, der ja kei-
ner Trägheitsbewegung folgt, gilt offensichtlich das Newtonsche Ge-
setz nicht mehr. Mit ein wenig Anstrengung kann der rotierende Beo-
bachter die Gesetze herausfinden, um die Bewegungen zu beschreiben,
die er von seinem rotierenden Raumschiff aus beobachtet, aber die
Gesetze sind komplizierter als die für einen Beobachter auf einer Träg-
heitsbahn. Diese höchst undemokratische Situation, die einigen Aus-
erwählten einfachere Naturgesetze beschert, war für Einstein ein kla-
rer Hinweis, dass mit den Newtonschen Gesetzen etwas nicht stimmen
konnte. Wenn sie nur für ausgewählte Beobachter galten, konnten sie
nicht wirklich universell sein.
Einstein stellte daraufhin sein Kovarianzprinzip auf, nach dem
Naturgesetze so formuliert werden müssen, dass sie für jeden Beob-
achter in gleicher Weise gelten – unabhängig von seinem Ort und
von seiner Bewegung. Als Einstein dieses Prinzip einführen wollte,
war er in einer glücklichen Situation. Gegen Ende des 19. Jahrhun-
derts war es deutschen und italienischen Mathematikern gelungen,
das Wissen über verschiedene auf gekrümmten Oberflächen gel-
tende Geometrien wesentlich zu vertiefen. Dabei hatten sie die Ten-
Mensch und Übermensch 59
Zahllose Zahlen
Schon in grauer Vorzeit erkannten unsere Vorfahren, dass die Na-
tur mit zwei Arten von Ereignissen aufwartet: vorhersagbaren und
nicht vorhersagbaren. Die unvorhersagbaren Seiten der Welt waren
gefährlich und lösten Furcht aus. Vielleicht waren es Strafen, die
von den Göttern gesandt wurden, weil ihnen das Verhalten der
Menschen missfiel? Diese Ereignisse waren spektakulär, deshalb
sind auch die alten Chroniken voll von Berichten über Erdbeben,
Sintfluten und die Pest. Weniger beeindruckend, aber letztlich weit
wichtiger waren Naturereignisse, die man mit ziemlicher Sicher-
heit vorhersagen konnte. Man konnte die periodisch wiederkehren-
den Änderungen in der Umwelt dazu nutzen, die richtigen Saaten
anzubauen, rechtzeitig Wintervorräte anzulegen und sich gegen
widriges Wetter und Wasserfluten zu schützen. In ihrer Regelmä-
ßigkeit spiegelten sie eine Ordnung wider, wie sie stabile Gesell-
schaften auszeichnet. Sie förderten den Glauben, dass Gesetz und
Ordnung auch auf kosmischer Skala gelten. Besonders in den vom
Monotheismus bestimmten Gesellschaften des Abendlands entwi-
ckelte sich schließlich aus diesen Vorstellungen die Annahme, dass
es ›Naturgesetze‹ gibt, die überall und zu allen Zeiten gelten.2 Im
Gegensatz zu den Gesetzen, die für Menschen gelten und bestim-
men, wie sie sich verhalten sollen, beschreiben die Naturgesetze, wie
die Natur ist.
Einfach, praktisch, gut: die ›Theorie für Alles‹ 61
ken sind natürlich kein Beweis dafür, dass das Universum wirklich
ein harmonisch gefügtes, von einem einzigen Supergesetz bestimm-
tes Ganzes ist und nicht etwa nur eine Ansammlung konkurrieren-
der Prinzipien.5 Was die Vereinigten Staaten nach der Präsident-
schaftswahl von 2000 an ihrer Verfassung entdeckten, könnte sich
auch als das Geheimnis des Universums erweisen: dass nämlich die
letztere Vermutung die richtige ist. Solange das Gegenteil jedoch
noch nicht bewiesen ist, gehen die Wissenschaftler vernünftiger-
weise davon aus, dass was (oder wer) auch immer für die Naturge-
setze verantwortlich ist, ein gehöriges Stück ›klüger‹ ist als wir und
auch nichts von all dem Wunderschönen und Wohlgeordneten ver-
gessen hat, das uns so klar und einleuchtend erscheint. Dieser demü-
tige Glaube ist nicht nur ein Akt frommer Selbstverleugnung, er ist
vielmehr auf unsere Erfahrungen in der Vergangenheit gegründet.
Wir haben immer wieder gesehen, dass die Naturgesetze schlauer,
universeller und weniger willkürlich sind, als wir es uns zunächst
vorgestellt hatten.
Dieser Glaube an eine letzte Einfachheit und Einheitlichkeit der
Regeln, die das Universum bestimmen, deckt sich mit der Annahme,
dass es hinter der Vielfalt der Erscheinungen ein einziges, unverän-
derliches Prinzip gibt. Je nach den Umständen realisiert sich dieses
Prinzip in äußerlich unterschiedlicher Weise und tritt uns dann in
der Form der vier verschiedenen Kräfte entgegen, die unsere Welt
beherrschen. Es ist inzwischen immer klarer geworden, wie diese Re-
alisierung der unterschiedlichen Aspekte funktionieren könnte.
Dabei stellte sich heraus, dass die Kräfte nicht so deutlich vonein-
ander isoliert sind, wie es zunächst aussehen mag. Sie scheinen mit
äußerst unterschiedlicher Stärke auf unterschiedliche Bausteine der
Natur zu wirken. Doch das ist nur eine Illusion, die sich uns auf-
drängt, weil wir in einem Winkel des Universums zu Hause sind, in
dem die Temperatur ziemlich niedrig ist – niedrig genug, um Ato-
men und Molekülen die Existenz zu ermöglichen. Steigt die Tempe-
ratur an, prallen die Bausteine der Materie mit immer größerer Ener-
gie aufeinander, und die Unterschiede zwischen den vier Kräften, die
unsere friedliche Tief-Temperaturwelt beherrschen, schmelzen da-
hin: Die starke Kraft wird schwächer, die schwache stärker. Bei noch
höherer Temperatur entstehen neue Teilchen, die für Wechselwir-
Einfach, praktisch, gut: die ›Theorie für Alles‹ 63
Kosmischer Kubismus
Der sowjetische Physiker George Gamow hat mit seinem Mr. C. G. H.
Tompkins (siehe Abbildung 4.1) die Figur eines Bankangestellten
geschaffen, der eine unbezwingbare Neigung zur modernen Natur-
wissenschaft hat. Seine Heldentaten füllen eine lange Reihe von Er-
zählungen, die in den Sammelbänden Mr. Tompkins in Paperback und
The New World of Mr. Tompkins erschienen sind.
Um Quantenphysik und Relativitätstheorie erklären zu können,
wählte Gamow einen Kunstgriff: In seiner fiktionalen Welt treten die
neuartigen Effekte über alles Maß verstärkt auf. Er veränderte ein-
fach die Werte der Naturkonstanten. Wenn beispielsweise die Licht-
geschwindigkeit6 anstelle von 300 000 km/s nur noch 300 km/s be-
trägt, werden die seltsamen Auswirkungen der Bewegung auf den
Zeitablauf und die Abmessungen von Gegenständen zum Bestand-
teil des Alltags. Man kann beispielsweise nicht Auto fahren, ohne sie
zu beachten. In ähnlicher Weise treten die Quanteneffekte ständig
zutage, wenn das Plancksche Wirkungsquantum viel größer wird. Als
Mr. Tompkins mit seinem Queue einen Stoß ausführt, muss er fest-
stellen, dass die Billardkugel gleichzeitig verschiedene Wege nimmt,
während sie in ›unserer‹ Welt, in der die Quanteneffekte äußerst
klein sind, einer einzigen wohldefinierten Bahn folgt.7
Mr. Tompkins’ Initialen C. G. H. verweisen auf die zentrale Rolle
der Lichtgeschwindigkeit (c), der Gravitation (G) und der Quanten-
struktur (h) in Gamows Fantasiewelt. Wir können mit diesem Trio
ein einfaches Bild der Zusammenhänge zwischen den verschiedenen
Naturgesetzen entwerfen und müssen dazu nur einige Grundprinzi-
pien berücksichtigen: Setzen wir G Null, schalten wir die Gravitation
64 Das 1 × 1 des Universums
A b b ild u n g 4 .1
C. G. H. Tompkins, der Held von Gorge Gamows wissenschaftlicher
Fantasie Mr. Tompkins’ seltsame Reise durch Kosmos und Mikrokosmos.
Die Abbildung trägt in der deutschen Ausgabe die Bildunterschrift
»Schon wieder ein Hollywood-Schinken«.8
ab. Wird h Null gesetzt, ignorieren wir die Quantenstruktur des Uni-
versums, derzufolge die Energieniveaus wie die Sprossen einer Leiter
angeordnet sind und nur bestimmte Werte annehmen können. Der
Abstand der Sprossen wird durch die Größe von h festgelegt: Mit
h = 0 gibt es überhaupt keine Sprossen und die Energie eines Atoms
kann sich in beliebig winzigen Schritten ändern.9 Eine dritte Mög-
lichkeit ist, c unendlich groß anzunehmen (was gleichbedeutend mit
1/c = 0 ist). Eine solche Vorstellung von der Welt hatte man noch zu
Newtons Zeiten, als man davon ausging, dass die Gravitation zwi-
schen Erde und Sonne augenblicklich wirken würde.10
Wir können die Möglichkeiten sehr anschaulich in Form eines
Quaders11 anordnen, der von einem Koordinatensystem mit den
Achsen h, G und 1/c aufgespannt wird (siehe Abbildung 4.2). Jede
der acht Ecken unseres Quaders repräsentiert eine bestimmte physi-
kalische Theorie. Die einfachste hat ihren Platz im Ursprung des
Koordinatensystems, wo es weder Gravitation (G = 0) noch eine
Quantelung der Energieniveaus (h = 0) gibt und die Relativität igno-
riert wird (1/c = 0). Es ist die Newtonsche Mechanik, die in der Abbil-
Einfach, praktisch, gut: die ›Theorie für Alles‹ 65
dung mit NM bezeichnet ist. Geht man die 1/c-Achse nach vorn zu
größeren Werten, lässt aber h = G = 0, gelangt man zur Speziellen
Relativitätstheorie (SRT). Geht man bei 1/c = G = 0 auf der h-Achse
nach rechts, verallgemeinert man die Newtonsche Mechanik zur
Quantenmechanik (QM). Lässt man 1/c = h = 0 und ergänzt die
Newtonsche Mechanik um die Gravitation, indem man nach oben
geht, kommt man zur Newtonschen Gravitationstheorie (NGT). Mit
h = 0 erreicht man dort auf dem Weg nach vorn Einsteins Allgemeine
Relativitätstheorie (ART), zu der man auch gelangen kann, indem
man die Spezielle Relativitätstheorie um die Gravitation ergänzt.
Der Weg von der Quantenmechanik nach vorn führt mit einem end-
lichen Wert von 1/c zur Quantenfeldtheorie (QFT), der Weg von der
Quantenmechanik nach oben ergänzt sie um G und führt zur – be-
deutungslosen – nichtrelativistischen Quantenversion der Newton-
schen Gravitationstheorie (NQGT), wobei weiterhin 1/c = 0 gilt.
Nun fehlt nur noch das Eck, in dem sowohl 1/c als auch h und G
endliche Werte haben: Dort ist der Platz einer relativistischen Quan-
tengravitationstheorie (RQGT), die eine Verallgemeinerung aller an-
deren Theorien darstellt und leider bis heute noch nicht gefunden
wurde. Es ist inzwischen immerhin gelungen, eine Anzahl so ge-
nannter ›String-Theorien‹ aufzustellen, die als Grenzfälle einer um-
fassenderen, tiefer gehenden Theorie und als deren ›Schattenrisse‹ in
verschiedene Richtungen gedeutet werden können. Diese ›M-Theo-
rie‹ ist bis heute noch ein Rätsel: Das ›M‹ steht für mistery.
Das Bild, das wir gerade entworfen haben, zeigt auch eine tiefe
Wahrheit über die Art und Weise, wie sich der wissenschaftliche
Fortschritt durchsetzt. Er besteht nicht aus einer Abfolge von Revo-
lutionen, die jeweils die alten Theorien für null und nichtig erklären,
um damit Platz für neue zu schaffen. Wäre es so, könnten wir von
den derzeit gültigen Theorien mit Sicherheit nur sagen, dass sie Feh-
ler haben und sich irgendwann alle als falsch herausstellen werden.
Aber das kann nicht die ganze Wahrheit sein, schließlich erweisen
sich die heute gängigen Theorien als brauchbar und haben sich bei
Millionen von Prognosen bewährt. Wie können wir diese Tatsache
mitberücksichtigen?
Newtons 300 Jahre alte Theorien von Schwerkraft und Bewegung
liefern uns wunderbar exakte Regeln für Objekte in einem äußerst
66 Das 1 × 1 des Universums
NGT NQGT
ART RQGT
NM QM
h
SRT QFT
1
C
A b b ild u n g 4 .2
Struktur physikalischer Theorien in einem Raum, der von den Koordinaten h, G
und 1/c aufgespannt wird. (Einzelheiten siehe Text)
Als Beispiel für die Entdeckung einer neuen Naturkonstante kann die
Einführung der Quantenmechanik durch Planck, Einstein, Bohr,
Heisenberg und andere dienen, die mit der neuen fundamentalen
Konstante h verbunden war, die heute den Namen Plancks trägt. Mit
ihr hat ›etwas‹, dem man zuvor die Größe Null zugeschrieben hatte,
einen endlichen Wert zugewiesen bekommen, und man konnte nun
angeben, wie groß die kleinstmöglichen Energieportionen sind, die
in der Natur ausgetauscht werden können.
Auf ein neueres Beispiel treffen wir bei der Suche nach einem Kan-
didaten für eine ›Theorie für Alles‹. Nach der ›Superstring-Theorie‹
sind die Grundbestandteile unserer Welt keine punktförmigen Mas-
seteilchen, sondern Energieschleifen oder ›Strings‹, die über eine
Spannung verfügen, wie sie elastische Bänder haben. Die Größe die-
ser Spannung ist die Grundkonstante der String-Theorie. Aus ihr
folgen fast alle anderen Eigenschaften der Welt, wobei man sie aller-
dings nur in den wenigsten Fällen bereits im Einzelnen ableiten
kann. Vielleicht wird sich herausstellen, dass die String-Spannung
eine so grundlegende Konstante wie die Planck-Masse und das
Plancksche Wirkungsquantum ist.
Ein Beispiel für die Aufwertung einer Naturkonstante liefert uns
Einsteins Spezielle Relativitätstheorie mit der Lichtgeschwindigkeit
im Vakuum. Einstein konnte zeigen, dass sie mit der Masse m und
der Energie E über die berühmte Gleichung E = mc2 verbunden ist.
Dass sich das Licht mit endlicher Geschwindigkeit ausbreitet, war
schon lange zuvor bekannt. Auch deren Größe konnte schon im
19. Jahrhundert höchst präzise gemessen werden. Neu an Einsteins
Theorie war der Stellenwert, den die Lichtgeschwindigkeit nun er-
hielt: Sie wurde zur unüberschreitbaren ultimativen Grenze. Kein
Signal kann sich schneller ausbreiten. Noch grundlegender war die
Erkenntnis, dass diese Geschwindigkeit für alle Beobachter – unab-
hängig von deren Bewegung – gleich ist. Damit war die Lichtge-
schwindigkeit unter allen Geschwindigkeiten ausgezeichnet.
Die Reduktion einer Naturkonstante folgt in der Regel erst später.
Man muss bereits einige Größen kennen, die als Kandidaten für Na-
Einfach, praktisch, gut: die ›Theorie für Alles‹ 69
nicht völlig schwarz sind. Der starke Sprung der Gravitation in der
Nähe des Ereignishorizonts kann bewirken, dass sich Gravitationse-
nergie in der Form von Teilchen manifestiert, die vom Schwarzen
Loch abgestrahlt werden können. Damit entziehen sie nach und
nach dem Schwarzen Loch Materie, bis es sich schließlich in einer
gigantischen Explosion auflöst.13 Hawking zufolge wird dieser Ver-
dampfungsprozess überraschenderweise von einem thermodynami-
schen Gesetz bestimmt, das schon lange zum physikalischen Alltag
gehört und für alle Körper im Strahlungsgleichgewicht gilt. Damit
wären Schwarze Löcher Objekte, die sowohl relativistisch als auch
quantenmechanisch und thermodynamisch sind, und darüber hin-
aus noch von der Gravitation bestimmt werden. Das Gesetz für die
Temperatur der Strahlung, die von einem Schwarzen Loch bei dem
von Hawking beschriebenen Prozess in den Raum abgestrahlt wird,
enthält die Konstanten G, h und c. Es enthält aber auch die schon
erwähnte Boltzmann-Konstante k, die Temperatur und Energie mit-
einander verknüpft. Damit haben wir ein spektakuläres Beispiel vor
Augen, das die engen Verbindungen der auf den ersten Blick säuber-
lich getrennten Bereiche der Natur aufdeckt.
Die Entdeckung der Variabilität von Naturkonstanten unterschei-
det sich deutlich von den vier bisher genannten Entwicklungen. Va-
riabilität bedeutet, dass sich Größen, die wir für konstant gehalten
haben, als Hochstapler entpuppen, die sich nur als ›echte‹ Konstan-
ten getarnt haben, in Wirklichkeit aber in Raum und/oder Zeit vari-
ieren. Zunächst ist klar, dass die Variationen sehr klein sein müssen,
sonst wäre man nie auf die Idee gekommen, von Konstanten zu re-
den. Für keine der fundamentalen Naturkonstanten gab es bisher
zweifelsfreie Beweise, die zur Herabstufung ihres kosmischen Status
geführt hätten. Wie wir sehen werden, stehen aber einige unter Ver-
dacht und müssen ihre Konstanz in immer präziseren Messungen
nachweisen.
Der erste Kandidat für winzige Abweichungen war schon immer
die Gravitationskonstante G. Die Gravitation ist die bei weitem
schwächste aller Kräfte in der Natur und damit auch am wenigsten
in Experimenten erforscht. Wenn man in einem Physikbuch die Grö-
ßen der wichtigsten Konstanten nachschlägt, sieht man, dass bei der
Gravitationskonstante weit weniger Dezimalstellen angegeben wer-
Einfach, praktisch, gut: die ›Theorie für Alles‹ 71
den als bei c, h, α, mpr oder e.14 Wie schon erwähnt, nahm man in der
Mitte der 1960er Jahre eine Zeit lang an, dass Einsteins Allgemeine
Relativitätstheorie die Bewegung des Planeten Merkur um die Sonne
nicht richtig beschreibt. Zunächst versuchte man, Theorie und Ex-
periment in Übereinstimmung zu bringen, indem man die Einstein-
sche Theorie erweiterte: Man ließ zu, dass sich G im Laufe der Zeit
ändern kann. Zwar fand man schließlich heraus, dass das Problem
durch zu ungenaue Messungen entstanden war, aber die neue Theo-
rie mit dem variablen G war wie ein entkommener Flaschengeist
nicht mehr einzufangen.
Während die Gravitationskonstante G als Erste Zweifel an ihrer
Konstanz abwehren musste (und konnte), waren die jüngsten und
fundiertesten Angriffe auf die Konstanz der Feinstrukturkonstante
α gerichtet. Diese Attacken sind noch immer aktuell, weshalb wir
uns mit ihnen in Kapitel 12 ausführlich beschäftigen wollen. Die
Feinstrukturkonstante verknüpft, wie wir schon wissen, die Lichtge-
schwindigkeit mit dem Planckschen Wirkungsquantum und der
Elementarladung. Wir können also wählen, welche dieser drei Grö-
ßen sich ändert, wenn α variiert.
Die ersten fünf der genannten Bedingungen für den wissenschaft-
lichen Fortschritt beziehen sich allein auf die Naturkonstanten und
unterstreichen damit deren zentrale Rolle. Unsere Liste enthält aber
noch einen sechsten Punkt, der dem Heiligen Gral der fundamenta-
len Physik gewidmet ist und die Erklärung der Naturkonstanten aus
der Theorie zum Inhalt hat. Dieses Projekt ist bis jetzt noch ohne
Erfolg geblieben, was dazu führt, dass wir immer noch die Größe der
Naturkonstanten nur über Messungen bestimmen können.15 Dieser
Zustand ist höchst unbefriedigend, da die Konstanten durchaus un-
terschiedliche Werte annehmen könnten, ohne damit gleich die The-
orie zu Fall zu bringen. Das steht im deutlichen Widerspruch zu den
Vorstellungen Einsteins, von denen wir im letzten Kapitel gehört
haben: Eine Theorie kann nur dann beanspruchen, wahr zu sein,
wenn sie nur durch einen einzigen Satz von Konstanten definiert
werden kann, deren Größe den experimentell bestimmten ent-
spricht. Einige Forscher teilen heute diesen Standpunkt, aber es wird
immer deutlicher, dass nicht alle Konstanten, die unsere Welt defi-
72 Das 1 × 1 des Universums
Während eine fundamentale Theorie fehlt, mit der man die Na-
turkonstanten berechnen kann, herrscht kein Mangel an ›numerolo-
gischen‹ Anstrengungen, sie zu erklären. Die Numerologie oder
Wissenschaft von den Zahlen hat ihre eigene Geschichte mit span-
nenden anthropologischen und soziologischen Aspekten. Ihre Er-
gebnisse sind, wie wir nun sehen werden, ziemlich ungewöhnlich
und gelegentlich auch bizarr.
Zahlenzauber
Glückszahlen, Unglückszahlen, magische Zahlen: Viele Menschen
glauben, sich auf sie verlassen zu können. Dieser Glaube hat sich aus
den Urzeiten der Menschheitsgeschichte herübergerettet. Wenn wir
beispielsweise in die Zeit um das Jahr 510 vor der Zeitenwende zu-
rückblicken, treffen wir auf Pythagoras und seine Schüler, die sich
mit der Mathematik um ihrer selbst willen befassten. Sie waren an
allem im Universum interessiert, was man mit Zahlen in Zusammen-
hang bringen konnte. Wenn sie die Planetenbewegungen auf Tonlei-
tern bezogen und Zahlenwerten geometrische Gebilde zuordneten,
war das ein Versuch, die einzelnen Teile der Welt zu einem Ganzen
zusammenzufügen.
Anders als für uns waren für die Pythagoräer Zahlen nicht nur
abstrakte Gebilde, sie nahmen vielmehr an, dass alles Sein Zahl ist.
Zahlen waren nicht bloße Maßangaben, sondern hatten eine innere
Bedeutung. Aus diesem religiösen Glauben heraus erforschten die
Anhänger des Pythagoras das Zahlenreich auf jede erdenkliche Weise
und untersuchten Koinzidenzen zwischen Zahlen in den verschie-
densten Bereichen des Lebens. Es gab Zahlen mit guten Eigenschaf-
ten, während andere als böse galten. Es gab sogar Zahlen, die man
geheim halten musste, während die anderen für alle da waren.
Um nachvollziehen zu können, wie Pythagoras zu diesem starken
Glauben an die Zahlen kam, wollen wir uns einige der Spielereien
ansehen, die er gern mit ihnen anstellte. Seine besondere Liebe galt
den Dreieckszahlen. An ihrem Beispiel können wir sehen, wie sich
auf ganz natürliche Weise Zahlenmuster ergeben, wenn man Punkte
74 Das 1 × 1 des Universums
auf einem Blatt Papier verteilt. Wenn wir Reihen mit 1, 2, 3 … Punk-
ten untereinander auslegen, erhalten wir eine Folge von Zahlen, die
Dreiecksform haben (siehe Abbildung 4.3). Addiert man die Punkte
Reihe für Reihe auf, erhält man die Folge der Dreieckszahlen, deren
n-te die Größe n (n + 1)/2 hat:
1
1+2=3
1+2+3=6
1 + 2 + 3 + 4 = 10
…
1 3 6 10
A b b ild u n g 4 .3
Dreieckszahlen, dargestellt als Anordnungen von Punkten.16
4=1+3
9=1+3+5
16 = 1 + 3 + 5 + 7
25 = 1 + 3 + 5 + 7 + 9
36 = 1 + 3 + 5 + 7 + 9 + 11
…
Diese Beispiele zeigen, weshalb Pythagoras auf die Idee kam, sich die
Zahlen als ›Dinge‹ oder geometrische Objekte vorzustellen. Darauf
aufbauend machte er eine noch beeindruckendere Entdeckung: Er
stellte fest, dass die Stimmung der griechischen Musikinstrumente
auf einfachen Zahlenverhältnissen wie 2:1, 3:2 und 4:3 beruhte.17 Die
Griechen hielten nur diese Tonintervalle für harmonisch und wohl-
klingend, alle anderen empfanden sie als dissonant. Diese Erkennt-
nis hatte weitreichende Folgen für Pythagoras’ Denken. Er nahm an,
dass die menschliche Wahrnehmung von mathematischen Verhält-
nissen bestimmt wird. Da sich nun aus den Planetenbewegungen
ähnliche Zahlenverhältnisse ergaben wie bei der Musik, was man
deshalb als ›Sphärenharmonie‹ bezeichnete, war Pythagoras davon
überzeugt, dass diese beiden auf den ersten Blick getrennten Berei-
che aufs Engste verbunden sind.18
Der Numerologie liegt der Glaube zugrunde, dass im Wesen der
Zahlen ein tieferer Sinn verborgen ist. ›Siebenheit‹ ist demnach eine
Eigenschaft, die alle Dinge gemeinsam haben, die von der Zahl Sie-
ben bestimmt werden, seien es Schneewittchens sieben Zwerge im
Land hinter den sieben Bergen, die sieben Siegel oder die sieben Tage
der Woche. Es ergibt sich dann fast von selbst, dass bestimmte Zah-
len wie die Dreizehn mit Unglück verbunden werden, andere, wie die
Sieben, meist mit Glück. Schon die Pythagoräer schrieben den Zah-
len Eigenschaften zu und verliehen ihnen dadurch in vieler Hinsicht
76 Das 1 × 1 des Universums
A b b ild u n g 4 .4
Die heilige Tetraktys, eine Darstellung der Zahl 10 als 1+2+3+4.
Zahlen: 1, 2, 3, 4
Formen: Punkt, Linie, Fläche, Körper
Elemente: Feuer, Luft, Wasser, Erde
Verkörperung der Elemente: Pyramide, Oktaeder, Ikosaeder, Würfel
Lebendige Dinge: Samen, Längenwachstum, Breitenwachstum,
Dickenwachstum
Gesellschaften: Mensch, Dorf, Stadt, Nation
Fähigkeiten: Vernunft, Wissen, Meinung, Gefühl
Jahreszeiten: Frühling, Sommer, Herbst, Winter
Alter: Kindheit, Jugend, Mannesalter, Greisenalter
Körperteile des Menschen: Leib, die drei Teile der Seele26
nung der ganzen Zahl gefunden und würde sein Resultat in »einigen
Jahren« veröffentlichen.28
Nun gibt es aber eine ungeheure Menge von Zahlen und noch mehr
Kombinationen aus ihnen. Koinzidenzen fallen uns natürlich auf, wäh-
rend wir die weitaus häufiger auftretenden Nicht-Koinzidenzen überse-
hen. Analysiert man das Zahlenreich mit statistischen Methoden, so
zeigt sich, dass Koinzidenzen wie die oben geschilderte gar nicht so sel-
ten sind. Ein schönes Beispiel für den verblüffenden Effekt von Koinzi-
denzen stellen die Fernsehauftritte von Uri Geller dar, bei denen er an-
kündigte, Uhren bei den Zuschauern zuhause anzuhalten. Es gab
Millionen Zuschauer, und es ist daher wenig überraschend, dass einige
ihrer Uhren gerade während des Auftritts von Geller aus ganz natürli-
chen Gründen stehen blieben: Man hatte einfach vergessen, sie rechtzei-
tig aufzuziehen. Die Zuschauer, bei denen das eintraf, waren natürlich
zutiefst beeindruckt und riefen sofort beim Sender an. Die anderen ha-
ben vielleicht gedacht, ihre Seele hätte sich nicht genug auf Geller einge-
lassen, denn immerhin hatte er ja ein paar Uhren zum Stehen gebracht.
Mein Lieblingsbeispiel für eine Koinzidenz von Zahlen habe ich
von meinem literarischen Freund Stephen Medcalf. Er meinte, die
Geschichte würde jeden Verdacht widerlegen, es sei nur bloßer Zufall
im Spiel. Soweit ich weiß, wurde die Koinzidenz von einem Schüler
in Eton vor etwa siebzig Jahren entdeckt. Zunächst etwas zum Hin-
tergrund, für dessen Wahrheitsgehalt ich mich allerdings nicht ver-
bürgen kann. Es wird kolportiert, William Shakespeare sei an der
Übersetzung einiger Psalmen für die King-James-Bibel beteiligt ge-
wesen.29 Man behauptete, dass Shakespeare im Alter von 46 Jahren in
Psalm 46 Spuren hinterlassen hat.30 Dem Schüler war aufgefallen,
dass das 46. Wort des Psalms ›shake‹ lautet, das 46. Wort vor dem
Ende aber ›spear‹.31 Zufall oder Shakespeares versteckte Signatur?
Selbst in wissenschaftlichen Veröffentlichungen kann man alle
möglichen numerischen Koinzidenzen und Zahlenwunder entdecken,
in die auch einige der Naturkonstanten verwickelt sind. Noch weit
mehr findet man in gut gemeinten Zuschriften, die sich im Postein-
gang von Physikern sammeln. Als Beispiele folgen einige Vorschläge für
die Feinstrukturkonstante, die allerdings samt und sonders nicht ernst
gemeint sind.32 Der Wert von 1/α wird dabei mit Ausdrücken ›bewie-
sen‹, die eine spekulative Erweiterung der bekannten Physik darstellen:
80 Das 1 × 1 des Universums
Es kann natürlich sein, dass eines Tages die M-Theorie eine Definition
von 1/α liefert, die den genannten Formeln sehr ähnelt. Dann wird sie
aber eine in sich schlüssige theoretische Begründung dafür angeben und
bisher noch unbekannte weitere Stellen nach dem Komma vorhersagen
müssen, die man mit zukünftigen Experimenten überprüfen kann.
All die erwähnten numerischen Kunststücke liegen recht nahe
beim experimentell bestimmten Wert von 1/α (als sie veröffentlicht
wurden, lagen sie sogar noch näher daran). Der Preis für den über-
wältigendsten Einfallsreichtum gebührt allerdings Gary Adamson,
dessen Steckbrief der 137-ologie in Abbildung 4.5 wiedergegeben ist.
All diese Beispiele haben immerhin den Vorzug, sich wenigstens an-
satzweise auf eine Theorie des Elektromagnetismus und der Elemen-
tarteilchen zu beziehen. Es gibt aber auch ›reine‹ Numerologen, die
nichts von Physik wissen wollen und nur nach allen möglichen Kom-
binationen von Potenzen kleiner Zahlen und mathematischer Grö-
ßen wie π Ausschau halten, um damit recht nah an den derzeit ›bes-
ten‹ Wert von 1/α zu kommen. Auch dafür seien Beispiele genannt:
Damit haben wir uns nun mehr als genug mit numerologischem
Zauberwerk befasst. Es ist leicht zu verstehen, warum die Naturkon-
stanten noch immer eine derartige Faszination ausüben. Dass wir
einige der Formeln vorgestellt haben, geschah nicht ohne ernsthafte
Absichten. Eine ist von Arthur Eddington, einem der bedeutendsten
Astrophysiker des 20. Jahrhunderts. Im folgenden Kapitel wollen wir
Einfach, praktisch, gut: die ›Theorie für Alles‹ 81
A b b ild u n g 4 .5
Einige numerologische Fantasieflüge in das Reich der Zahl 137, zusammenge-
stellt von Gary Adamson. φ = 1,61803 … ist der ›Goldene Schnitt‹.40
Kapitel 5
Eddingtons Unvollendete
Ich habe ein äußerst rares Gesicht gehabt. Ich hatte ’nen Traum –
’s geht über Menschenwitz, zu sagen, was es für ein Traum war.
Der Mensch ist nur ein Esel, wenn er sich einfallen lässt, diesen
Traum auszulegen. … Ich will den Peter Squenz dazukriegen, mir
von diesem Traum eine Ballade zu schreiben; sie soll Zettels
Traum heißen, weil sie so seltsam angezettelt ist.
William Shakespeare1
das Licht eines Sterns, das auf seinem Weg zur Erde die Sonne streift,
um ganze 1,75 Bogensekunden ablenkt. Um das zu messen, muss
man ein Foto des Sternhintergrunds im Moment der absoluten Fins-
ternis machen und ein weiteres in der Nacht, wenn die Sonne auf der
anderen Seite des Himmels steht. Die Verzerrungen des ersten Bilds
im Vergleich zum zweiten sind ein Maß für die Ablenkung des Ster-
nenlichts durch die Sonne. Eddington und seinem Team gelangen
nahe der Insel Principe trotz schlechter Wetterbedingungen Aufnah-
men, die Einstein bestätigten. Einstein wurde nach diesem Erfolg zum
Star und galt fortan als bedeutendster Naturwissenschaftler seiner
Zeit. Abbildung 5.1 zeigt ihn bei einem Besuch in Cambridge im Ge-
spräch mit Eddington im Garten des Universitäts-Observatoriums.
A b b ild u n g 5 .1
Albert Einstein und Arthur Eddington um 1930 in Eddingtons Garten.3
nen Namen mit dem Einsteins eng verbunden hatte. Eddington war
bei aller Bescheidenheit und Zurückhaltung höchst erfreut, dass die
Astronomen nicht nur ein Dinner zu seinen Ehren organisiert hat-
ten, sondern auch einer der Physiker, mit denen er Golf gespielt
hatte, als Autor einer wunderschönen Parodie auf »The Walrus and
the Carpenter«4 auftrat. Mit ihr setzte er der Liebe der beiden Kolle-
gen zur Relativitätstheorie, zum Golfspiel und zu Alice ein bleiben-
des Denkmal, wie es Lewis Carroll selbst nicht besser hätte gelingen
können. Einstein und Eddington stehen auf dem Golfplatz:
… Der Einstein und der Eddington,
holen die Rechnung her.
Fast hundert Schläge Einstein hat,
und Eddington noch mehr:
Es sieht für beide böse aus,
sie klagen deshalb sehr.
Ich hasse sie, schreit Einstein auf,
die Berge ganz aus Sand,
warum der Bunker hier grad liegt,
will nicht in den Verstand.
Die Hügel einfach wegrasiert
wär’ es ein Wunderland.
Für Eddington die Frage drängt,
ob wohl das Spiel gelingt
mit Würfel, Uhr und Metermaß,
warum das Pendel schwingt,
und ob der Raum ist aus dem Lot,
wenn Zeit um Dauer ringt.
Es gibt der Dimensionen vier,
anstatt wie bisher drei,
Pythagoras gilt auch nicht mehr
und wird uns einerlei,
Die plattgewalzte Ge´metrie.
macht mir das Hirn zu Brei.
Du meinst, die Zeit sei bös verformt,
der Lichtstrahl gar geknickt,
Ich glaub, ich hab es jetzt kapiert,
es macht mich ganz verrückt:
Der Brief, den heut der Postler bringt,
wird morgen abgeschickt.
Eddingtons Unvollendete 85
Zeit lang zählte Paul Dirac zu seinen Kollegen, der auf dem Lucas-
Lehrstuhl für Mathematik10 saß und 1933 mit nur 31 Jahren den
Nobelpreis für Physik erhalten hatte. Dirac sagte die Existenz von
Antimaterie voraus, fand die einleuchtendste Interpretation der
Quantenmechanik, deckte das Verhalten der Elektronen auf und
noch vieles mehr. Seine Arbeiten waren zutiefst mathematisch ge-
prägt und von ihm ohne die Mitarbeit von Kollegen oder einer For-
schungsgruppe durchgeführt worden, bestenfalls konnte er auf
Doktoranden zurückgreifen.
Eddington begann in dieser Umgebung, in der man nach neuen
Naturgesetzen und dem Verhalten der Elementarteilchen suchte,
mit einem Arbeitsprojekt, das eine Vielfalt von Reaktionen auslöste,
die von ehrfürchtiger Bewunderung bis zu offenem Spott der Kolle-
gen reichten. Sein Vorhaben war die Suche nach der ›Fundamenta-
len Theorie‹11, die nichts Geringeres als die grundlegendste Theorie
der Physik sein sollte, die man sich vorstellen kann: eine Theorie zur
Erklärung der Naturkonstanten und ihrer Größe.
Eddington war fest davon überzeugt, dass man die vollständige Be-
schreibung der materiellen Welt mit all ihren Naturgesetzen und -kon-
stanten allein durch die Anstrengung des Gedankens erreichen konnte.
Ein ziemlich ambitioniertes Vorhaben, damals noch mehr als heute:
Meine Schlussfolgerung ist, dass nicht nur die Naturgesetze, sondern auch
die Naturkonstanten von erkenntnistheoretischen Überlegungen abgeleitet
werden können, sodass wir a priori von ihnen Kenntnis haben können.12
Am liebsten sah sich Eddington als Astronom, der auf einem wolken-
umhüllten Planeten sitzt und durch bloßes Nachdenken die Exis-
tenz von Sternen im All voraussagt, die man noch nie zuvor gesehen
hatte. Natürlich wurde die Aufgabe durch Experimente und Beob-
achtungen erheblich vereinfacht, das war aber für Eddington schon
alles. Ohne Experimente wäre es für ihn zwar schwerer gewesen, sein
Ziel zu erreichen, aber nicht unmöglich.
Eddington konnte sein Programm nicht zu Ende führen. Er starb
1944 im Alter von nur 62 Jahren, und sein entscheidendes Buch
blieb unvollendet. In den Jahren vor seinem Tod hatte er in einer
Reihe von Artikeln und in ausgewählten Kapiteln seiner populärwis-
senschaftlichen Bücher die größeren Fortschritte beschrieben, die er
88 Das 1 × 1 des Universums
Fundamentalismus
Eddington versuchte zum ersten Mal 1923 in seiner berühmten Ma-
thematical Theory of Relativity, die dimensionslosen Zahlen zu erklä-
ren, die unser Universum bestimmen. Er nahm an, dass sich die Ei-
genschaften von Elementarteilchen wie dem Elektron aus den
lokalen Eigenschaften des Raums und
Es war in uralten Zeiten, als sich Daida- der Zeit ableiten, in denen sie sich be-
los und Ikaros Flügel bastelten, um dem finden. »Ein Elektron könnte also nie
Labyrinth zu entkommen, in dem sie ge- entscheiden, wie groß es sein müsste,
fangen waren. Daidalos flog in mittlerer
Höhe über den Ozean und landete sicher wenn es keine von ihm unabhängige
auf Ikaria. Der junge Ikaros hingegen Länge geben würde, die es mit sich
stieg in den Himmel hinauf der Sonne selbst vergleichen könnte.«14 Es muss
entgegen – bis das Wachs schmolz, demnach eine noch unbekannte Glei-
mit dem die Flügel zusammengehalten
chung existieren, die den Zusammen-
wurden. Sein Flug endete in einem
Desaster. Wenn man die Anstrengungen hang in folgender Form ausdrückt:
der beiden würdigen will, sollte man viel- »Der Radius eines Elektrons … ist
leicht etwas zu Gunsten von Ikaros vor- gleich einer numerischen Konstanten,
bringen. Die klassischen Berichte sagen multipliziert mit dem Krümmungsra-
uns, er habe nur ein halsbrecherisches
dius des raumzeitlichen Kontinu-
Kunststück vollbracht, ich meine aber,
dass ihm mehr gelungen war: Er hatte ums.«15
einen Konstruktionsfehler der damaligen Zu den Zahlen, denen Eddington
Flugapparate aufgedeckt. die größte Wichtigkeit beimaß, gehörte
Arthur S. Eddington13 die später ›Eddington-Zahl‹ genannte
Anzahl der Protonen im sichtbaren
Teil des Universums.16 Eddington be-
rechnete diese Zahl während eines Flugs über den Atlantik mit größ-
ter Präzision ›von Hand‹ und schloss seine Untersuchungen mit der
bemerkenswerten Behauptung, es gäbe 136 x 2256 = 15 747 724 136 275
Eddingtons Unvollendete 89
002 577 605653 961 181 555 468 044 717 914 527 116 709 366 231 425 076
185 631 031 296, also mehr als 1079 Protonen und die gleiche Anzahl
Elektronen im Universum.17 An dieser Riesenzahl faszinierte ihn
ganz besonders, dass es sich zweifellos um eine ganze Zahl handeln
musste und dass es daher im Prinzip möglich sein sollte, sie exakt zu
bestimmen.
In den 1920er Jahren, als Eddington seine ersten Versuche zur Er-
klärung der Naturkonstanten anstellte, kannte man weder die
schwache noch die starke Kraft besonders gut. Die einzigen physika-
lischen Konstanten, die man einigermaßen verlässlich interpretieren
konnte, waren die zur Beschreibung der Gravitation und der elektro-
magnetischen Kraft. Eddington verkettete die bekannten Konstan-
ten so, dass er drei dimensionslose Zahlen erhielt: das Verhältnis der
Masse von Proton und Elektron
die Feinstrukturkonstante
Weltalls ist. Wenn wir die vorhandenen Hilfsmittel als gegeben ansehen, und
wenn wir ferner – um uns den Beweis zu ersparen – als gegeben ansehen, dass
die Zahl der Dimensionen in der Raum-Zeit-Welt auf vier festgelegt ist, so er-
hebt sich die Frage, ob die obigen Zahlenverhältnisse ebenso gut auch andere
Werte haben könnten, oder ob sie zwangsläufig sind. Im ersten Falle können
wir ihre Werte nur aus Messungen erfahren; im zweiten Falle muss es möglich
sein, sie aufgrund einer Theorie zu ermitteln. … Heute herrscht wohl im allge-
meinen die Meinung, dass die Konstanten … nicht beliebig sind, sondern dass
sich schließlich einmal eine theoretische Erklärung für sie finden wird, ob-
gleich gelegentlich auch die gegenteilige Meinung energisch vertreten wird.19
Eddington ging noch weiter und nahm an, dass die Zahl unerklärter
Konstanten ein hilfreiches Kriterium für die Größe der Lücke dar-
stellte, die noch geschlossen werden musste, bevor eine wirklich ver-
einheitlichte Theorie aller Naturkräfte gefunden war. Die Frage, ob
diese allgemeine, alles umfassende Theorie eine Konstante enthalten
würde oder keine, blieb noch offen:
Unser heutiger Wissensstand mit seinen vier Zahlenkonstanten anstelle einer
einzigen zeigt lediglich an, welches Maß an Vereinheitlichung der Theorie
noch zu bewältigen bleibt. Es ist möglich, dass die eine verbleibende Kon-
stante nicht beliebig ist, aber darüber weiß ich nichts.20
Eddington hoffte, eine Theorie zu finden, mit der die Makrowelt der
Astronomie und Kosmologie mit der subatomaren Mikrowelt der
Protonen und Elektronen verknüpft werden konnte. Seine ›Urkon-
stanten‹ sind in vieler Hinsicht ungewöhnlich. Zunächst hatte na-
türlich niemand eine Vorstellung, warum sie gerade diese Werte ha-
ben. Zweitens überdecken diese Werte eine ungeheuere Spanne. Das
Massenverhältnis von Proton und Elektron und die inverse Fein-
strukturkonstante sind nicht weit von 1 entfernt und könnten sich
möglicherweise als das Produkt kleiner ganzer Zahlen und Größen
wie π entpuppen. Etwas Derartiges erhoffte sich Eddington zumin-
dest. Die beiden anderen Zahlen seines Quartetts fallen nun aller-
dings völlig aus dem Rahmen: Sie sind ungeheuer groß. Das Auftau-
chen einer Größe wie 1040 in einer physikalischen Formel bedarf
einer besonderen Erklärung. Noch mehr aber irritiert, dass die Zahl
NEdd mit 1080 zwar noch weit grotesker ist, aber auch Hoffnungen
erweckt, weil sie das Quadrat der ersten Superzahl sein könnte. Das
kann doch kein Zufall sein?! Eddington hatte das Gefühl, dass
Eddingtons Unvollendete 91
schließlich, wenn nur noch eine Konstante übrig bliebe, die das Uni-
versum definiert, das letzte Geheimnis in diesen großen Zahlen lie-
gen müsste.21 Über die ›kosmische Zahl‹ NEdd, die größte und ge-
heimnisvollste der Zahlen, schrieb er:
Die kosmische Zahl liefert ein gutes Beispiel für solch einen Wechsel des
Standpunktes. Da man sie als die Anzahl der Teilchen im Universum betrach-
tete, wurde sie allgemein als spezielle Tatsache angesehen. Es wurde behaup-
tet, ein Universum könnte aus jeder beliebigen Anzahl von Teilchen angefer-
tigt werden; und soweit es die Physik angeht, müssten wir eben die Anzahl, die
unserem Universum zugemessen wurde, als einen Zufall gelten lassen oder als
Laune des Schöpfers. Die erkenntnistheoretische Untersuchung ändert je-
doch unsere Vorstellung von ihrer Natur. Ein Universum kann nicht mit einer
anderen Anzahl von Elementarteilchen gemacht werden, – im Einklang mit
dem Definitionsschema, durch welches die ›Anzahl der Teilchen‹ einem Sys-
tem in der Wellenmechanik zugeteilt ist. Wir dürfen sie daher nicht mehr als
eine spezielle Tatsache ansehen, die das Universum betrifft, sondern als eine
Hilfsgröße, die in den Naturgesetzen vorkommt und als solche ein Teil der
Naturgesetze ist.22
Es gäbe noch weit mehr über die ›großen‹ Zahlen zu sagen, denn sie
hatten auf die Entwicklung einer ganzen Anzahl kosmologischer
Theorien einen maßgeblichen Einfluss. Eddington verfügte über
keine Theorie, die sie alle hätte erklären können, arbeitete aber hart
an Theorien für die beiden kleineren Zahlen, die in der Gegend um
137 und 1 840 liegen und fast alle ›gröberen‹ Eigenschaften der
Atome und atomarer Strukturen bestimmen.
Wie ging Eddington nun vor? Ein Ansatz war, Lösungen für seine
Spezialgleichung
dazu an, jede nur irgendwie denkbare Begründung für seine Glei-
chung zu suchen und kleine Veränderungen anzubringen, um die
verbliebenen ›Diskrepanzen‹ aufzulösen. Er nahm an, dass die Form
der Gleichung von der Zahl möglicher Kombinationen und Permuta-
tionen von Zahlen bestimmt wurde, die unsere vier Dimensionen des
Raums und der Zeit charakterisieren. Die Zahlen 1, 10 und 136, die in
der Gleichung vorkommen, sind aus der Tatsache ›abgeleitet‹, dass es
zur Beschreibung von Raum und Zeit 32+12 = 10 einfache Größen gibt
und auf der nächst komplizierteren Ebene 102+62 = 136. Zunächst
war Eddington davon ausgegangen, dass man mit der 136 die rezip-
roke Feinstrukturkonstante 1/α erklären könnte, tendierte dann aber
mehr und mehr zu der Ansicht, dass man diese Zahl mit 137/136
multiplizieren müsse, um auf 137 zu kommen. Seine Begründung
war reichlich mysteriös: Man müsse berücksichtigen, dass die effekti-
ven elektrischen Ladungen zweier Teilchen jeweils einen ›nichtunter-
scheidbaren‹ Aspekt haben: »Wir haben gesehen, dass es mit der
Nichtunterscheidbarkeit nichts Geheimnisvolles auf sich hat«.24
Diese Ansicht teilte allerdings fast niemand, und Eddingtons Be-
weisführung löste in wissenschaftlichen Kreisen neben Interesse
auch harsche Kritik aus: einmal wegen des verdächtigen Tricks mit
dem Faktor 137/136, der aus der 136 die plausiblere 137 machte,
zum anderen wegen der lästigen Tatsache, dass sich 1/α im Experi-
ment nicht als ganze Zahl erweisen wollte. Eddington schrieb sogar
für eine Londoner Zeitung einen Artikel, um seine reichlich esoteri-
sche Ableitung zu erklären. Es gab aber auch Forscher, die davon
ganz hingerissen waren und, wie Vladimir Fock, sogar holprige Lob-
gedichte verfassten:
Auch wenn, erschöpft und toll,
Wir’s wägen noch so fleißig,
Es bleibt für uns geheimnisvoll
Die Zahl einhundertsiebenunddreißig.
Doch Eddington, er sieht es klar,
Rügt heftig drum der Spötter Schar.
Es ist die Zahl, so wirft er ein,
Der Dimensionen unsrer Welt. Kann es denn sein?!25
tens einige seiner Kollegen verstehen. Er hoffte, dass sich Größen wie
die Masse des Elektrons in irgendeiner Weise aus den statistischen
Fluktuationen aller Massen des Universums ergeben würden. Das
Ausmaß statistischer Fluktuationen in einer Menge von N Teilchen
ist typischerweise durch die Quadratwurzel von N gegeben. Man
könnte daraus schließen, dass das Verhältnis der Schwerkraft zur
elektromagnetischen Kraft zwischen einem Proton und einem Elek-
tron eine statistische Fluktuation darstellt, deren Ausmaß durch die
Quadratwurzel von NEdd bestimmt wird, also etwa 1040 beträgt.
Einen Hinweis auf die Schwierigkeiten, die viele damit hatten, Ed-
dingtons Arbeiten über die Naturkonstanten mit seinen gewichtigen
Beiträgen zur Allgemeinen Relativitätstheorie und zur Astrophysik
in Einklang zu bringen, finden wir in einer Anekdote über die Physi-
ker Sam Goudsmit und Hendrik Kramers:
Der große Arthur Eddington hielt einen Vortrag über seine angebliche Ablei-
tung der Feinstrukturkonstante aus einer fundamentalen Theorie. Goudsmit
und Kramers waren unter den Zuhörern. Goudsmit verstand zwar nur wenig,
nahm aber an, dass es an den Haaren herbeigezogener Unsinn war. Kramers
verstand ziemlich viel und bezeichnete es als totalen Unsinn. Nach der Dis-
kussion ging Goudsmit zu seinem Freund und Mentor Kramers und fragte
ihn: »Verfallen alle Physiker auf so verrückte Ideen, wenn sie alt werden? Das
macht mir Angst!« Kramers antwortete: »Nein Sam, Du brauchst keine Angst
zu haben. Ein Genie wie Eddington mag vielleicht verrückt werden, aber ein
Kerl wie Du wird nur immer dümmer.«31
seiner Zeit – Dirac, Einstein, Bohr und Born – hielten sie für nutzlos
und räumten höflich ein, dass sie sie nicht verstehen könnten. Ed-
dington war über die Reaktionen enttäuscht und konnte nicht be-
greifen, warum die anderen die Dinge nicht so sahen wie er. 1944
beklagte er sich gegenüber seinem Freund Herbert Dingle:
Ich versuche ständig herauszufinden, warum die Leute mein Vorgehen schwer
verständlich finden. Aber ich möchte darauf hinweisen, dass sogar Einstein
für schwer verständlich gehalten wurde, und dass es Hunderte von Leuten für
notwendig hielten, ihm das zu erklären.35 Ich kann nicht ernsthaft glauben,
dass ich jemals die Unverständlichkeit eines Dirac erreichen werde. Aber im
Fall von Einstein und Dirac haben es die Leute für Wert gehalten, alles Dunkle
aufzudecken. Ich glaube, dass sie auch mich richtig verstehen, wenn ihnen
klar wird, dass sie es versuchen müssen – und wenn es einmal Mode wird, Ed-
dington ›zu erklären‹.36
Geisterzahlen
Das größte Geheimnis, das die Naturkonstanten umgibt, besteht
ohne Zweifel darin, dass in allen möglichen Bereichen Superzahlen
auftauchen, deren Größe (oder Winzigkeit) jede Vorstellung über-
schreitet. Die Eddington-Zahl, die wir schon kennengelernt haben,
ist dafür ein herausragendes Beispiel. Sie gibt die Gesamtzahl der
Protonen im sichtbaren Teil des Universums mit nahezu 1080 an.
Wenn wir nun nach dem Stärkeverhältnis der elektromagnetischen
Kraft und der Schwerkraft zwischen einem Proton und einem Elek-
tron fragen, so finden wir mit 1040 wieder eine Riesenzahl (die im
Übrigen ganz unabhängig vom Abstand der Teilchen ist, da beide
Kräfte umgekehrt proportional zum Quadrat des Abstands abfal-
len). Das erweckt in uns ein unbehagliches Gefühl, ist es doch schon
seltsam genug, wenn die Größe einer dimensionslosen Naturkon-
stante 100 überschreitet: 1040 oder 1080, das Quadrat dieser Zahl,
sind einfach bizarre Größen.2 Dabei ist das noch nicht einmal alles:
Wenn wir nach Planck die gesamte ›Wirkung‹3 des sichtbaren Uni-
versums in Einheiten des Planckschen Wirkungsquantums h ange-
ben, erhalten wir gar 10120!
Eddington wollte die Zahl der Protonen im Universum mit einer
Größe in Bezug setzen, die als kosmologische Konstante4 bekannt
ist. Diese Konstante hat lange Zeit ein eher stilles Dasein gefristet
und wurde nur manchmal aus der Versenkung geholt, wenn die Kos-
mologen nach einer theoretischen Erklärung für Beobachtungen
suchten, die nicht ins vertraute Bild passten. In letzter Zeit gewann
Das Geheimnis der Superzahlen 99
vorschlug, der auch heute noch diskutiert wird. Über Diracs einfa-
ches und ganz von der Logik bestimmtes Leben gibt es unzählige
Anekdoten, zu denen recht schön die Geschichte passt, er habe den
überraschenden Ausflug ins Reich der großen Zahlen just in seinen
Flitterwochen unternommen.
Dirac war von Eddingtons numerologischer Argumentation be-
züglich der Naturkonstanten wenig überzeugt und hielt sie für
»nicht immer exakt«. Er vermutete, dass insbesondere die riesigen
dimensionslosen Zahlen (wie 1039 oder 1078) »so enorm sind, dass
man für sie eine völlig andere Erklärung benötigt«6 und sie aller
Wahrscheinlichkeit nach keine unabhängigen Größen sind. Dem-
nach muss es also eine noch nicht entdeckte mathematische Formel
geben, die diese Größen mit anderen verbindet. Ihr Auftreten wäre
demnach keine Koinzidenz, sondern vielmehr die Konsequenz noch
unbekannter Zusammenhänge. Diracs Hypothese sah so aus: Paare
der ungeheuer großen, dimensionslosen Zahlen, die in der Natur
vorkommen, sind jeweils über einen einfachen mathematischen Zu-
sammenhang miteinander verbunden, dessen Koeffizient von der
Größenordnung 1 ist.7
Die drei großen Zahlen, die Dirac zu dieser kühnen Hypothese
veranlassten, knüpfen an Eddingtons Arbeiten an:
ist zulässig, da er weitaus kleiner ist als die Zahlen in der Gleichung
selbst. Die Hypothese sagt uns allerdings nur, warum N1, N2 und √N
von gleicher Größenordnung sind, aber nicht, warum diese heute
gerade 1040 beträgt.
Dirac war nicht der Erste, der eine solche Hypothese von der
Gleichheit der großen Zahlen aufgestellt hat. Eddington und andere
hatten bereits solche Beziehungen notiert, aber Eddington hatte
zwischen der Zahl der Teilchen im sichtbaren Universum und der im
gesamten Universum, die unendlich sein könnte, keinen Unterschied
gemacht. Radikal neu an Diracs Hypothese war, dass sie von uns
verlangt zu glauben, die Naturkonstanten eines ›traditionellen‹ En-
sembles würden sich mit dem Altern des Universums ändern:
N1 ≈ N2 ≈ √N ~ t
Aus dieser Beziehung folgt, dass die gewaltige Größe der Superzah-
len eine Alterserscheinung des Universums darstellt: Alle drei wach-
sen mit den Jahren an.8
Aus Diracs Definitionen der großen Zahlen kann man ableiten,
dass auch eine bestimmte Kombination von drei der altbekannten
Naturkonstanten e, G und mpr zeitabhängig ist. Es gilt:
e2/Gmpr ~ t
G ~ 1/t
ist. Das bedeutet, dass in der Vergangenheit G größer war und dass
es in der Zukunft kleiner sein wird als heute. Diracs Vorschlag verur-
sachte unter einigen Kollegen ziemliche Aufregung, lautstarken
Protest und heiße Debatten, die mit allem Für und Wider in Leser-
briefen an Nature ausgetragen wurden.9 Dirac reagierte wie gewohnt
zurückhaltend. Mit seiner Begründung, warum die Superzahlen für
das Verständnis des Universums notwendig seien, lehnte er sich sehr
an Eddington an. Seine Überlegungen spiegelten die Grundgedan-
ken von dessen unvollendeter ›fundamentalen‹ Theorie wider:
102 Das 1 × 1 des Universums
Könnte es nicht sein, dass alle gegenwärtigen Ereignisse mit den Eigenschaf-
ten dieser großen Zahl 1040 korrespondieren und, noch allgemeiner, dass die
gesamte Geschichte des Universums mit den Eigenschaften des ganzen En-
sembles der Naturkonstanten korrespondiert? … Es ist daher möglich, dass
sich der alte Traum der Philosophen, die gesamte Natur mit den Eigenschaf-
ten der ganzen Zahlen zu verbinden, eines Tages erfüllen wird.10
Gamow war ein guter Freund Tellers und reagierte auf das Pro-
blem des kochenden Ozeans mit dem Vorschlag, diesen Effekt abzu-
mildern, indem in Diracs Beziehung
e2/Gmpr ~ t
So ohne weiteres war Dirac nicht bereit, ein variables e als Lösung
des Rätsels der großen Zahlen zu akzeptieren. Seine wichtigsten wis-
senschaftlichen Arbeiten waren dem Verständnis der Atomstruktur
und dem Verhalten des Elektrons gewidmet und stützten sich auch
auf die von allen anderen geteilte Annahme, dass e wirklich überall
und zu allen Zeiten eine Konstante war und ist. Auch Gamow gab
seine Theorie eines veränderlichen e bald auf und kam zu dem
Schluss: »Der Wert von e stand in den letzten 6 Milliarden Jahren15
so fest wie der Felsen von Gibraltar!«16
Diracs Hypothese erregte weltweite Aufmerksamkeit – auch bei
Wissenschaftlern in Bereichen, wo man es nicht erwartet hätte. Alan
Turing, ein Pionier der Kryptographie und der Theorie von Rechenma-
schinen, war von der Idee einer variablen Schwerkraft fasziniert und
spielte mit dem Gedanken, die Theorie an Fossilien zu überprüfen. Ein
Paläontologe könnte vielleicht aus den Fußabdrücken eines ausgestor-
benen Tieres abschätzen, ob es so schwer war, wie angenommen.17
Auch der große Biologe John Haldane interessierte sich für die
möglichen biologischen Konsequenzen kosmologischer Theorien,
nach denen sich die altbewährten ›Konstanten‹ im Laufe der Zeit
veränderten oder sich Gravitationsprozesse nach einer anderen kos-
mischen Uhr abspielten als atomare Prozesse.18 Solche Universen mit
zwei Uhren hattte Edward Milne vorgeschlagen. Sie waren die ersten,
in denen G nicht konstant war. Prozesse wie der radioaktive Zerfall
oder der Zeitablauf molekularer Reaktionen könnten demnach be-
züglich der einen Zeitskala konstant sein, gegenüber der anderen
aber deutlich variieren. Das Ergebnis wäre ein Szenario, in dem eine
Biochemie, die Leben ermöglicht, erst in einem bestimmten kosmi-
schen Alter möglich wäre. Auch einige Merkwürdigkeiten der Geolo-
gie des Präkambrium könnten in ähnlicher Weise durch Änderungen
der Materieeigenschaften erklärt werden. Milnes imaginäres Szena-
rio unterscheidet sich wenig vom »Modell intermittierender Gleich-
gewichtszustände«19, demzufolge die Evolution sprunghaft verläuft:
Perioden mit rasanter Entwicklung unterbrechen endlose Zeiten mit
nur langsamen Veränderungen.
All diese Reaktionen auf die Ideen Eddingtons und Diracs gehen
davon aus, dass die Naturkonstanten eine bedeutende kosmologi-
sche Rolle spielen und dass es zwischen der Struktur des Universums
Das Geheimnis der Superzahlen 105
als Ganzem und den lokalen Verhältnissen in ihm, die zur Entste-
hung und Aufrechterhaltung von Leben nötig sind, eine Verbindung
gibt. Sind die Konstanten variabel, haben die astronomischen Theo-
rien auch gewaltige Konsequenzen für die Geologie, die Biologie und
alles, was Leben ausmacht.
perzahlen zu erklären. In der Mitte der 1960er Jahre gab es noch ein
weiteres Motiv für eine Erweiterung von Einsteins Gravitationstheo-
rie durch ein variables G. Wie schon erwähnt sah es eine Zeit lang so
aus, als würden die von Einstein vorhergesagten Schwankungen der
Bahnparameter des Planeten Merkur nicht mit den Beobachtungen
übereinstimmen, wenn man die kleinen Abweichungen der Sonne
von einer sphärischen Gestalt in die Rechnungen mit einbezog.
Doch Dicke zeigte, dass man die Diskrepanz zwischen Theorie
und Beobachtungen beseitigen kann, wenn man eine bestimmte Än-
derungsrate von G vorgibt. Leider stellte sich Jahre später heraus,
dass man einem Phantom nachgejagt war, denn die Ursache lag in
Messungenauigkeiten bei der Untersuchung der Sonnenform. Diese
ist sehr schwer mit der nötigen Genauigkeit zu bestimmen, weil auf
der Sonnenoberfläche turbulente Prozesse ablaufen und die exakten
Ausmaße des Feuerballs verdecken. Nachdem man dieses Problem
1977 gelöst hatte, erwies sich ein variables G als überflüssig, um The-
orie und Beobachtung in Einklang zu bringen.20
Als Dicke 1957 damit begann, Theorien mit variablem G zu entwi-
ckeln, veröffentlichte er einen größeren Artikel, in dem er die geo-
physikalischen, paläologischen und astronomischen Anzeichen für
Variationen der ›klassischen‹ physikalischen Konstanten beschrieb.
Interessanterweise hat die Aufgabe, Eddingtons und Diracs große
Zahlen zu erklären, auch einen biologischen Aspekt:
Das Problem der gewaltigen Größe dieser Zahlen steht nun vor der Lösung. …
Es gibt eine einzige dimensionslose große Zahl, die statistischen Ursprungs
ist: die Anzahl der Teilchen im Universum. Das ›heutige‹ Alter des Univer-
sums ist kein Zufall, es ist vielmehr durch biologische Faktoren bestimmt, …
[weil Änderungen im Wert der großen Zahlen] die Existenz von Menschen, die
sich mit dem Problem befassen könnten, ausschließen würden.21
Dirac war zwar bereit zuzugeben, dass die Existenz von Leben höchst
unwahrscheinlich ist, bevor es Sterne gibt, er wollte aber nicht einge-
stehen, dass es nicht weiter bestehen kann, wenn die Sterne ausge-
brannt sind. Nach Dickes Hypothese kann man die Koinzidenzen nur
im zeitlichen Umkreis unserer Epoche finden, mit Diracs variablem G
zu allen Zeiten: Die Existenz bewohnbarer Planeten in ferner Zukunft
würde kein Problem darstellen. Wenn jedoch die Schwerkraft schwä-
cher wird, ist nicht klar, ob in ferner Zukunft überhaupt Sterne und
Planeten existieren können. Zumindest müssten dann auch noch an-
dere Konstanten variieren, um das Gleichgewicht zwischen der
Schwerkraft und den anderen Kräften der Natur aufrecht zu erhalten.
Es ist bemerkenswert, dass zuvor andere bedeutende Kosmologen
wie Milne Argumente vorgebracht haben, die denen von Dicke ge-
nau entgegengesetzt sind. Milne machte das Auftauchen der Koinzi-
denzen der großen Zahlen in Eddingtons Weltbild eher misstrau-
isch. Weil sich die großen Zahlen ausschließlich auf das gegenwärtige
Stadium unseres Universums beziehen, glaubte er nicht, dass jemals
eine ›fundamentale‹ Naturtheorie eine Erklärung dafür liefern
würde. Da die Zeit, in der wir leben, durch nichts ausgezeichnet sei,
könne auch keine fundamentale Theorie sie besonders herausheben
– und daher auch die Koinzidenzen nicht erklären:
In den Ausdrücken muss notwendigerweise eine empirisch bestimmte Größe
t [das gegenwärtige Alter des Universums] auftreten, da sie einfach den Au-
genblick angibt, in dem wir zufällig das Universum betrachten. Sie kann na-
türlich nicht vorausgesagt werden. … Der Umstand, dass Eddingtons Theorie
der Naturkonstanten sie vorauszusagen scheint, ist für mich aus grundsätzli-
chen Erwägungen ein Einwand gegen diese Theorie. … Er scheint mir der Meis-
terleistung zu gleichen, das Alter des Universums in dem Moment, in dem wir
es betrachten, vorauszusagen – was aber absurd wäre.25
Das Geheimnis der Superzahlen 109
A b b ild u n g 6 .1
Dichte des Universums,
ausgedrückt für Objekte verschiedener Größenordnung.
15 x 109
Alle Sterne
kühlen ab
Größe in Lichtjahren
und
Gegen- erlöschen
wart
Kalt Komplexe (›Kältetod‹)
genug, Formen
um die von Leben
109 Bildung Ausdehnung
Bildung
von der Sonne
von Sonnen-
Atomen zum Roten
systemen
zu er- Bildung Riesen, der
lauben der ersten Erste die Erde
mikroskopische verschluckt
Bildung Sterne
Formen von Leben
von
Galaxien
0,001 1 5 10 12 14 20 100
Alter in Milliarden Jahren
A b b ild u n g 6 .2
Vorgänge bei der Expansion des Universums.
kurze Weile eines Zustandes, in dem auf der Erde Menschen das Wissen um
sich und das Sein entfalten und vollziehen. Nur hier ist diese Innerlichkeit des
Sichverstehens. Wir kennen wenigstens keine andere Realität des Innerlichen.
Innerhalb des grenzenlosen Kosmos auf einem winzigen Planeten in einer
winzigen Zeit von ein paar Jahrtausenden findet etwas statt, als ob dieses das
Allumgreifende, das Eigentliche wäre. Dieses ist die Stätte, die im Kosmos wie
nichts ist, an der mit dem Menschen das Sein erwacht.32
A b b ild u n g 7.1
Durchschnittliche Häufigkeit des Einschlags von Körpern aus dem All
in Abhängigkeit von deren Größe.3
Die Eingriffe in die Entwicklung der Erde, die von außen kommen,
haben auch eine seltsame Kehrseite. Sie können zwar zur weltweiten
Vernichtung von Lebewesen führen und die Evolution um Jahrmilli-
onen zurückwerfen, haben aber in Maßen auch einen positiven Ef-
fekt, indem sie die Entwicklung intelligenter Formen von Leben be-
schleunigen. Die Ausrottung der Dinosaurier durch den Einschlag
eines Riesenmeteoriten oder Kometen auf der Yukatan-Halbinsel vor
65 Millionen Jahren am Ende des Mesozoikums hat die Erde auch
aus einer wenig versprechenden Sackgasse der Evolution gerettet.
120 Das 1 × 1 des Universums
A
us
lös
chu
ng
ng
olu
Er h
Überle b en
Zeit
A b b ild u n g 7.2
Reaktion der Natur auf eine Umweltkatastrophe,
die zu einer Massenauslöschung führt.4
allzu sehr von tBio unterscheidet, denn wir haben Spuren einfachen
bakteriellen Lebens auf der Erde gefunden, die einige Milliarden
Jahre alt sind.
Die Ähnlichkeit von tBio und tStern erscheint uns als merkwürdige
Koinzidenz. Auf den ersten Blick würden wir eher annehmen, dass
die mikroskopischen biologischen Prozesse und die lokalen Umwelt-
bedingungen, die zusammengenommen tBio festlegen, unabhängig
von den nuklearen Prozessen und dem Wirken der Schwerkraft sind,
die den typischen Lebensweg eines Sterns und damit tStern bestim-
men. Demzufolge wäre extraterrestrisches Leben äußerst selten.
Diese These, die in ihrer einfachsten Form von Brandon Carter5 auf-
gestellt, dann später von mir und Frank Tipler in unserem Buch The
Anthropic Cosmological Principle weiter ausgebaut wurde und auch
heute noch Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen6 ist,
sieht so aus: Wenn tBio und tStern voneinander unabhängig sind, ist die
Zeit tBio, die zur Entwicklung von Leben nötig ist gegenüber tStern zu-
fällig. Es ist daher am wahrscheinlichsten, dass tBio entweder viel
größer oder viel kleiner als tStern ist.7
Nun wollen wir Bilanz ziehen. Wenn wir es als wahrscheinlich an-
nehmen, dass tBio weit kleiner als tStern ist, müssen wir uns fragen, wa-
rum im ersten beobachteten Sonnensystem mit Bewohnern (nämlich
unserem) tBio fast gleich tStern ist. Nach unserer Logik wäre das außeror-
dentlich unwahrscheinlich. Im zweiten wahrscheinlichen Fall, wenn
tBio weit größer als tStern ist, kann man das erste beobachtete bewohnte
Sonnensystem (nämlich unseres) mit tBio ≈ tStern nur als statistischen
Glücksfall ansehen, da sich Systeme mit einem tBio weit größer als tS-
tern
eigentlich erst noch entwickeln müssen. Daraus können wir
schließen, dass unsere Erde eine Rarität im Kosmos darstellt und ei-
nes der ersten Systeme mit Leben ist, das auf der Bühne erschien.
Wenn wir mit dieser Schlussfolgerung nicht zufrieden sind, müs-
sen wir eine der Voraussetzungen ändern, die ihr zugrunde liegen.
Nehmen wir beispielsweise an, dass tBio von tStern abhängig ist, schauen
die Dinge schon anders aus. Bei einer entsprechenden Änderung des
Verhältnisses tBio / tStern mit wachsendem tStern wächst auch die Wahr-
scheinlichkeit, dass tBio ≈ tStern ist. Mario Livio8 hat ein Modell vorge-
stellt, nach dem es zur Ausbildung einer lebensfördernden Plane-
tenatmosphäre einer Anfangsphase bedarf, in der aus der
122 Das 1 × 1 des Universums
Lebende Wolken
Die Theorien, nach denen das Universum notwendigerweise riesig
groß und eiskalt ist, setzen alle stillschweigend voraus, dass jede
Form von Leben weitgehend unserem irdischen ähnelt. Die Biologen
gestehen zwar gern ein, dass auch andere Lebensformen denkbar
sind, haben aber keine sichere Vorstellung, ob sich diese spontan
ohne die Unterstützung von Lebensformen auf Kohlenstoffbasis
entwickeln können. Die meisten Schätzungen, wie wahrscheinlich
außerirdische Intelligenz ist, beziehen sich auf Leben, das dem irdi-
schen gleicht: Es existiert auf Planeten, braucht Wasser, eine Atmos-
phäre und dergleichen. Es ist sicher wert, unserer Fantasie ein wenig
mehr freien Raum zu lassen und uns Leben vorzustellen, das nicht
auf Planeten, sondern im freien Weltraum zu Hause ist. Der Astro-
nom Fred Hoyle hat sich ein interessantes Lebewesen ausgedacht,
von dem er annahm, dass seine Existenz wahrscheinlicher wäre, als
die der üblichen, auf Planeten wohnenden Vertreter extraterrestri-
scher Intelligenz. Hoyle, der sich mit seiner so erfolgreichen Karriere
als Astronom und Autor populärwissenschaftlicher Bücher nicht
zufrieden geben wollte, wandte sich mit großem Erfolg der Science-
Fiction zu. Sein berühmtestes Buch, The Black Cloud, war ein Bestsel-
ler. Der Thriller spielt in der Gegenwart und trotz Hoyles Versiche-
rung, alle Charaktere seien frei erfunden, fällt es schwer, den Helden
des Romans nicht mit dem Autor zu identifizieren. Als das Buch
1957 auf den Markt kam, waren gerade ein paar Jahre seit der Entde-
ckung der Koinzidenzen zwischen den Naturkonstanten vergangen,
124 Das 1 × 1 des Universums
liarden Jahren: eine Zahl, die sehr nahe an 1 000 Milliarden liegt. Die
Wesen in dieser fernen Zukunft kämen dann natürlich nicht auf den
Gedanken, die Geschichte ihrer Zivilisation hätte nur einen kleinen
Anteil an der Geschichte des Universums. Brandon Carter und
Richard Gott waren deshalb der Ansicht, dass wir – anders als die
Nachfahren in ferner Zukunft – etwas ganz Besonderes darstellen.
Nimmt man andererseits an, dass un-
Wenn du einmal tot bist, hast ser Platz in der Geschichte des Univer-
du einen sehr wichtigen Teil deines sums nichts Besonderes darstellt, hat
Lebens verloren.
das dramatische Folgen. Damit sicher
Brooke Shields12 ist, dass weder unser Blick auf die kos-
mische Geschichte noch der unserer
nächsten Nachfahren etwas Besonderes an sich hat, darf es keine
Nachfahren in ferner Zukunft geben: Nur wenn das Leben auf der
Erde in ein paar tausend Jahren verschwindet, werden all unsere
Nachfahren ungefähr das gleiche Geschichtsbild haben wie wir, dass
nämlich der zeitliche Anteil der Menschheitsgeschichte an der Ge-
schichte des Universums sehr klein ist. Gott (Richard Gott) schätzte
ab, dass nach dieser Logik alles Leben auf der Erde mit 95 Prozent
Wahrscheinlichkeit in 5 000 bis 7,8 Millionen Jahren enden wird.
Es gibt keinen Grund, diese Zukunftsprognosen auf eine Kata-
strophe wie die Auslöschung des menschlichen Lebens zu beschrän-
ken. Wie Gott in seinem Buch Zeitreisen in Einsteins Universum gezeigt
hat, beruhen sie auf der simplen statistischen Tatsache, dass es eine
Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent gibt, ›Ereignisse‹ mit Anfang
und Ende in den mittleren 95 Prozent ihrer Lebensspanne zu beob-
achten, wenn der Beobachtungszeitpunkt vom Zufall bestimmt
wird. Um zu zeigen, in wie vielen Bereichen man dieses statistische
Zahlenspiel anwenden kann, wurde Gott gebeten, für die Neujahrs-
ausgabe 2000 des Wall Street Journal eine Reihe von Voraussagen zu
wagen. Sie sind in Abbildung 7.3 wiedergegeben.
Derartige Statistiken kann man für alle möglichen Dinge aufstel-
len, die vom Ende bedroht sind. Bei einer gewünschten Wahrschein-
lichkeit von 95 Prozent liegt die Untergrenze bei 1/39, die Ober-
grenze beim 39-fachen der bisherigen Lebenszeit. Begnügt man sich
mit 50 Prozent Wahrscheinlichkeit, sind die Grenzen 1/3 und das
Dreifache.13
Leben im All 127
A b b ild u n g 7.3
Mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit zu erwartende weitere Lebensdauer
ausgewählter Phänomene.14
und setzten es mit der Milchstraße gleich. Man wusste weder, dass es
noch andere Galaxien gab, noch wie groß das Universum ist. Man
wusste nur, dass es groß ist.
Erstaunlicherweise gab es fast keinen Versuch, das Universum mit
den Newtonschen Gesetzen zu beschreiben. Eine bemerkenswerte
Ausnahme sind die Arbeiten von Lord Kelvin aus den Jahren 1901
und 1902.15 Kelvin zeigte, dass die Wirkung der Schwerkraft einen
riesigen Materieball dazu bringen würde, in sein Zentrum zusam-
menzustürzen – es sei denn, er würde
um dieses Zentrum kreisen. In Kelvins Die Proposition ist ein Begriff, den man
Universum gab es etwa eine Milliarde sich von der Wirklichkeit macht, eine Ver-
sonnenähnlicher Sterne, deren Schwer- mutung, eine Theorie, eine Annahme
über die Beschaffenheit der Dinge. …
kraft gerade die Kreisbewegungen aus- Dass eine Proposition interessant ist, ist
balancierte, die man beobachtete.16 wichtiger als dass sie wahr ist. … Natür-
Wallace war von dem einfachen kos- lich sind wahre Propositionen eher inter-
mologischen Modell Kelvins sehr beein- essant als falsche.
druckt. An Wallace’s Auseinandersetzung Alfred North Whitehead17
mit diesem Modell ist bemerkenswert,
dass er keinen Kopernikanischen Stand-
punkt einnimmt, sondern im Universum Gegenden für möglich hält,
die günstiger für Leben sind als andere. Demnach leben wir zwar nicht
im Zentrum aller Dinge, aber immerhin in dessen Nähe.
Wallace kommt zu einem ähnlichen Schluss wie Dicke bei der Be-
stimmung des Alters, das ein Universum mit menschlichen Beob-
achtern haben muss. Man wusste natürlich zu Wallace’s Zeiten noch
nichts von den Kernkräften und daher auch nicht, aus welcher Ener-
gie sich unsere Sonne speist. Kelvin hatte auf die Schwerkraft ge-
setzt. In seiner Kosmologie wird von der Schwerkraft Materie ins
Zentrum des Universums Richtung Milchstraße gezogen und von
den Sternen aufgesogen, die dort schon existieren. Dabei entsteht
Wärme, die über lange Zeiträume für die Leuchtkraft dieser Sterne
sorgt. Dieser Prozess stellt für Wallace einen einfachen Grund für die
immense Größe des Universums dar:
Durch diesen Vorgang haben wir nach meiner Ansicht eine zureichende Er-
klärung für die lang andauernden Leucht- und Wärmeprozesse unserer Son-
nen gefunden, eine Erklärung, die wohl auch für viele andere Sonnen, die sich
in der gleichen Stellung im Sonnenhaufen befinden, gültig sein mag. Diese
130 Das 1 × 1 des Universums
Wallace nahm an, dass dieser Sturz von Materie ins Zentrum und die
Erzeugung der Sonnenenergie aus der Gravitation nicht gleichmä-
ßig vonstatten geht: Lange Zeiträume, in denen einfallende Materie
die Erwärmung der Sterne vorantreibt, lösen Perioden der Ruhe und
Abkühlung ab. In einer solchen Ruheperiode leben wir vermutlich:
Leben im All 131
Ich habe hier einen Entwicklungsvorgang nahegelegt, der zu einem sehr lang-
samen, aber beständigen Wachstum der zentraler gelegenen Sonnen führen
muss, ferner zu einer außerordentlich lang ausgedehnten Epoche von nahezu
gleichmäßiger Hitzeentwicklung, und schließlich zu einer ebenso lang ausge-
dehnten Epoche nahezu gleichmäßiger Abkühlung – einer Epoche, in deren
Beginn unsere Sonne vielleicht gerade eingetreten ist.20
Heute können wir solchen Erwägungen nur zustimmen. Aus der ge-
waltigen Größe des sichtbaren Universums mit seinen 1080 Protonen
ergibt sich eine große Anzahl von Bereichen, wo die statistischen
Variationen chemischer Verbindungen durchlaufen werden können.
Wallace interessierte sich sehr für die gewaltige Größe des Univer-
sums als Voraussetzung für unsere Entwicklung, war aber wenig von
der Vorstellung angetan, es könnte noch viele andere Lebensformen
im All geben. Er glaubte an die Einheitlichkeit der physikalischen und
chemischen Gesetze, und er war besonders davon beeindruckt, dass
die Messung der Lichtgeschwindigkeit aus der Verdunklung der Jupi-
termonde zum gleichen Ergebnis führt wie Messungen auf der Erde.
Aus diesen verschiedenen Entdeckungen schöpfen wir die Überzeugung, dass
das gesamte materielle Universum in seinen Grundlagen sowohl hinsichtlich
132 Das 1 × 1 des Universums
der gleichen physikalischen und chemischen Gesetze, wie der gleichen mecha-
nischen Beziehungen von Form und Aufbau eine Einheit bildet.22
Anthropische Argumente
Nach der ersten Erkenntnis, dass das Universum bestimmte Eigen-
schaften haben muss, damit in ihm Leben möglich ist, wuchs das
Interesse an Dickes ›Anthropischem Prinzip‹. Dies entfachte unter
Astronomen, Physikern und Philosophen eine weitreichende De-
batte über seine Nützlichkeit und tiefere Bedeutung. Einer der
Gründe für dieses große Interesse war die Entdeckung, dass die Na-
turkonstanten derzeit eine Größe haben, die auf vielfältige Weise
dazu beiträgt, Leben im Universum zu ermöglichen. Manchmal
scheint dies allerdings nur um Haaresbreite zu gelingen. Wir können
uns ohne weiteres Welten mit Naturkonstanten ausmalen, die nur
wenig von ›unseren‹ abweichen, in denen aber trotzdem kein Leben
wie das irdische möglich ist. Wenn die Feinstrukturkonstante zu
groß ist, können keine Atome existieren, erhöht man die Schwer-
kraft, verpulvern die Sterne ihren Brennstoff schneller, verringert
man die Kernkräfte, gibt es keine Biochemie. Wir müssen bei unseren
Überlegungen drei verschiedene Klassen von Änderungen in Betracht
ziehen. Zunächst sind winzig kleine Änderungen möglich. Verklei-
nert man beispielsweise die Feinstrukturkonstante in der zwanzigs-
ten Stelle, so hat das für ein Leben, wie wir es kennen, keine schlim-
men Folgen. Ändert man jedoch diese Größe um einen kleinen
Betrag, beispielsweise in der zweiten oder dritten Stelle, werden die
Folgen schon gravierender. Die Eigenschaften der Atome ändern sich
und komplizierte Prozesse wie die Faltung von Proteinketten oder
die Verdopplung der DNS werden nachteilig beeinflusst. Anderer-
134 Das 1 × 1 des Universums
seits können sich aber auch neue Möglichkeiten für eine komplexe
Chemie eröffnen. Es ist schwer, solche Folgen abzuschätzen, da die
Zusammenhänge nicht offen zutage liegen. Die dritte Möglichkeit
ist eine große Änderung. Sie hätte zur Folge, dass weder Atome noch
Moleküle existieren können, und stellt deshalb eine klar umrissene
Schranke für die Entwicklung komplexer Strukturen dar. Für einen
weiten Bereich denkbarer Änderungen ist Leben jeglicher Art unvor-
stellbar.
Zunächst müssen wir Klarheit darüber gewinnen, auf welche
Weise Dicke sein Anthropisches Prinzip eingeführt hat, da darüber
in der Diskussion ziemliche Konfusion herrscht.2 Die Existenz von
Sternen und damit bestimmter chemischer Elemente stellt für kom-
plexe chemische Strukturen, für die ›Leben‹ das eindrucksvollste uns
bekannte Beispiel ist, eine notwendige Bedingung dar. Das heißt
nicht, dass Leben existieren muss, wenn diese Voraussetzungen gege-
ben sind. Es heißt auch nicht, dass einmal existierendes Leben über-
lebt oder dass das Universum mit dem Hintergedanken an Leben
entworfen wurde. Das sind alles voneinander deutlich getrennte
Dinge. Wenn unsere anthropische Bedingung wirklich für die Exis-
tenz lebender Beobachter in einem Universum notwendig ist, muss
sie logischerweise auch in unserem Universum erfüllt sein – gleich-
gültig, wie unwahrscheinlich uns das vorkommen mag.
Dickes Thesen über die großen Zahlen haben viele wichtige Kon-
sequenzen. Es wurde klar, dass die Ansätze von Eddington und Dirac
zu sehr aus dem (physikalischen) Rahmen fallen und nicht ohne
schwerwiegende Eingriffe in die physikalischen Theorien bewiesen
werden können. Eddington wollte eine ehrgeizige neue grundle-
gende ›Theorie für Alles‹ aufstellen. Von dieser erhoffte er sich Glei-
chungen, mit denen die Naturkonstanten auf unerwartete Weise
miteinander verknüpft werden könnten und die zeigen würden, dass
die Koinzidenzen der großen Zahlen Ausdruck eines tief verborge-
nen Grundschemas der Natur sind. Dirac hatte die Konstanz der
altvertrauten Gravitationskonstante G geopfert, um die Koinziden-
zen der großen Zahlen als Resultat einer noch unbekannten Theorie
der Schwerkraft und der atomaren Phänomene zu erklären. Im Ge-
gensatz dazu rührte Dicke mit seinem Ansatz die alten Theorien
kaum an. Für ihn war wichtig, dass nicht alle Zeitpunkte der kosmi-
Das Anthropische Prinzip 135
schen Skala gleichwertig sind: Wir können das Universum nur beob-
achten, weil es schon so alt ist, dass in ihm Leben zu existieren ver-
mag. Das bedeutet, dass für unsere astronomischen Beobachtungen
eine unüberwindbare Schranke besteht, die wir nicht außer Acht
lassen dürfen. Diese Schranke ist dafür verantwortlich, dass die Di-
racschen Koinzidenzen der großen Zahlen von Lebewesen beobach-
tet werden, wie wir es sind. Die Lektion, die Dicke den Wissenschaft-
lern erteilt, ist einfach und folgenreich. Wenn man sie – wie
Eddington und Dirac – nicht beherzigt und altbewährte Theorien zu
Gunsten wilder Spekulationen aufgibt, könnte man das Schicksal
der beiden Forscher erleiden und einem Phantom nachjagen.
Kritiker, die Dickes Ansatz nicht verstanden, beanstandeten, dass
es sich dabei um keine ›naturwissenschaftliche Theorie‹ handle, da
sie keine übeprüfbaren Vorhersagen enthält. Das ist aber ein tiefes
Missverständnis. Wenn man feststellt, dass Beobachtungen mit sys-
tematischen Fehlern behaftet sind, stellt man keine neue Theorie
auf, die anderen Theorien Konkurrenz machen will und in Experi-
menten auf ihren Wahrheitsgehalt getestet werden muss. Es ist viel-
mehr ein Beitrag zur wissenschaftlichen Methodik, den wir überse-
hen oder zu unserem eigenen Schaden bewusst ignorieren können.
Es geht um nicht mehr als um genaue Regeln für den Umgang mit
einem Phänomen, das den experimentell arbeitenden Wissenschaft-
lern wohl vertraut ist: den systematischen Beobachtungs- und Mess-
fehlern.
Wenn man ein Experiment durchführt oder aus Beobachtungsda-
ten Schlüsse ziehen will, ist es besonders wichtig, dass man alles über
mögliche Fehler bei der Beobachtung und Datenerfassung weiß. Ein
solcher Fehler könnte so aussehen, dass man bestimmte Daten leich-
ter erfasst und so ein falsches Bild erhält. Ein interessantes Beispiel,
über das man in den Zeitungen lesen konnte, ist das unterschiedli-
che Niveau der Mathematikkenntnisse von Schülern aus verschiede-
nen Ländern. Man hatte dies anhand von Tests ›festgestellt‹ und
lange Jahre geglaubt, dass die Schüler in einigen südostasiatischen
Ländern deutlich besser wären als in Großbritannien. Dann stellte
sich aber heraus, dass in diesen Ländern die schwächsten Schüler
nicht mit einbezogen worden waren, was natürlich Folgen für die
Statistik hatte: Der Durchschnittswert wurde besser als mit den un-
136 Das 1 × 1 des Universums
frisierten Daten. Ein anderes Beispiel aus jüngerer Zeit ist eine Un-
tersuchung in den USA, bei der man herausfinden wollte, ob Kir-
chenbesucher gesünder sind als Nichtgläubige. Diese Untersuchung
war ebenfalls mit einem gravierenden Fehler behaftet: auch gläubige
Menschen können nicht zur Kirche gehen, wenn sie schwer krank
sind.
Mein Lieblingsbeispiel für einen systematischen Fehler hat damit
zu tun, wie wir den Verkehrsfluss wahrnehmen. Nach einer kürzlich
in Kanada angestellten Untersuchung glaubt die Mehrzahl der dor-
tigen Autofahrer, dass der Verkehr auf der Nachbarspur schneller
fließt als auf der eigenen. Die findigen Autoren der Studie versuch-
ten dieses Ergebnis mit zahllosen komplexen psychologischen
Gründen zu erklären. So könnte es beispielsweise sein, dass ein Fah-
rer eher Vergleiche anstellt, wenn er von schnelleren Autos (=Kon-
kurrenten) überholt wird, als wenn er selbst überholt.3 Vielleicht
prägt sich auch das Erlebnis, überholt zu werden, tiefer ein als das
Überholen. Diese Schlussfolgerungen sind natürlich keineswegs
bedeutungslos, denn die Studie kam auch zu dem Ergebnis, dass
man auf die Autofahrer pädagogisch einwirken könnte, um sie da-
von abzubringen, ständig auf die angeblich schnellere Nachbarspur
zu wechseln (mit der fatalen Folge, dass der Verkehrsfluss insgesamt
langsamer wird und die Sicherheit abnimmt). Aber jenseits aller
psychologischen Gründe gibt es eine viel einfachere Erklärung für
das Ergebnis der Untersuchung: Der Verkehr auf der anderen Spur
fließt für die Mehrzahl der Befragten wirklich schneller! Das Di-
lemma der Studie liegt in der Auswahl der Interviewpartner. Typi-
scherweise wird auf einer Spur der Verkehr langsamer, wenn die
Fahrzeugdichte zunimmt.4 Es gibt daher im Schnitt auf der langsa-
meren Spur mehr Autos als auf der schnelleren Spur. Wenn man ei-
nen Fahrer per Zufall herauspickt und ihn fragt, ob er auf der ande-
ren Spur schneller vorankäme, ist die Wahrscheinlichkeit größer,
einen Fahrer von der volleren (und langsameren) Spur zu erwischen,
einfach, weil dort mehr fahren (Abbildung 8.1). Wegen des systema-
tischen Fehlers der Untersuchung kann man aus ihr leider nicht
schließen, ob es gut oder schlecht ist, die Spur zu wechseln. Viel-
leicht sind die Kirschen in Nachbars Garten wirklich immer die
besseren?
Das Anthropische Prinzip 137
A b b ild u n g 8 .1
Verkehr auf einer Autobahn bei Hollywood: Warum scheinen die Autos auf der
Nachbarspur immer schneller zu sein? Weil sie es im Durchschnitt sind!5
A b b ild u n g 8 .2
Wenn man in einen dichten Wald schaut,
trifft das Auge immer auf einen Baum.6
dunklen und unendlich leeren Raum kreisen, mag uns kalt und indifferent
lassen, wenn nicht gar langweilen oder deprimieren, sofern wir dieses hypo-
thetische Gebilde nicht mit dem sichtbaren Glanz, der ergreifenden Tiefe und
der verwirrenden Zahl der Sterne identifizieren.
Der sinnliche Gegensatz des dunklen Himmels – umso schwärzer, je klarer
die Nacht ist und je mehr Sterne wir sehen können – zu dem zitternden Licht
der Sterne kann durch nichts überboten werden.7
Wenn nun schon die Ausmaße nicht alles sind, so haben sie doch
sicher eine gewisse Bedeutung, wenn man den gesamten Kosmos
in Betracht zieht. Die Verbindung zwischen der Expansionszeit
des Universums, die wir üblicherweise sein ›Alter‹ nennen, und
allem was mit dem Leben zu tun hat, gehört zu den Fragen, denen
sich die Kosmologen weit früher und intensiver hätten widmen
sollen. Vielleicht wären sie dann nicht über zwanzig Jahre einer
anderen Möglichkeit nachgejagt, die sich dann als Irrweg erwies.
1948 brachten Hermann Bondi, Thomas Gold und Fred Hoyle
mit ihrer Steady-State-Theorie ein Konkurrenzmodell zum ex-
pandierenden Big-Bang-Universum auf den Markt.10 Das Big-
Bang-Modell11 setzt voraus, dass die Expansion in einem be-
stimmten Augenblick der Vergangenheit begonnen hat. Im
weiteren Verlauf nahmen dann Dichte und Temperatur der Mate-
rie ständig ab. Die Expansion könnte nun für ewig weitergehen,
sie könnte aber auch eines Tages in eine Kontraktion umschlagen.
Das Anthropische Prinzip 141
n
fe
of ch
tis
kri
ge
sc
hlo
sse
n
Zeit
A b b ild u n g 8 .3
Expansionsmöglichkeiten eines Universums.
Größe
Zeit
A b b ild u n g 8 .4
›Expansion‹ eines Steady-State-Universums.
Das Alternativmodell von Bondi, Gold und Hoyle war zum Teil von
dem Wunsch bestimmt, die Notwendigkeit eines solchen Anfangs
(oder eines möglichen Endes) des Universums zu vermeiden. Sie
wollten ein kosmologisches Szenario ohne bevorzugte Zeiträume
entwerfen, wonach das Universum im Mittel immer gleich aussah
und aussehen wird (siehe Abbildung 8.4). Auf den ersten Blick er-
scheint eine solche Konstruktion unmöglich, schließlich expandiert
das Universum ja wirklich und ändert sich damit zweifellos – wie
kann man es dann als ›unveränderlich‹ bezeichnen? Hoyle hatte das
Bild eines ständig fließenden Stroms vor Augen, dessen kleine Wel-
len zwar fortwährend in Bewegung sind, der aber insgesamt doch
immer fast gleich aussieht. Wenn man annimmt, dass im Universum
zu allen Zeiten die gleiche mittlere Materiedichte und Expansions-
rate herrscht, gibt es keinen einmaligen Geburtsakt von Materie, sie
wird vielmehr ständig mit einer Rate neu geschaffen, die exakt die
Dichteabnahme durch die Expansion ausgleicht. Dieser Mechanis-
mus einer ›Schöpfung in Permanenz‹ kann auf kleinster Flamme ar-
beiten, denn um eine konstante Dichte zu garantieren, muss nur alle
10 Milliarden Jahre 1 Atom/m3 entstehen! Kein Experiment und
keine astronomische Beobachtung wäre in der Lage, solch einen win-
zigen Effekt nachzuweisen (siehe Abbildung 8.5). Die ›Steady-State-
Theorie‹ des Universums macht äußerst klare Vorhersagen: Das
Universum sah im Mittel zu allen Zeiten gleich aus und wird dies
auch in Zukunft tun. Es gab keine ›besonderen‹ Zeitabschnitte in
Das Anthropische Prinzip 143
a) b)
Materiedichte
Materiedichte
Zeit Zeit
A b b ild u n g 8 .5
Änderung der durchschnittlichen Materiedichte
a) in einem expandierenden Big-Bang-Universum
b) in einem Steady-State-Universum.
Das besagte Energieniveau des Kohlenstoffs liegt mit seinen 7,656 MeV
ein klein wenig über der Energie des Paars ›Beryllium + Helium‹ mit
7,3667 MeV. Deshalb tritt Resonanz auf, wenn in einem Stern die
entsprechende Menge an thermischer Energie zugeführt wird: Es
entsteht eine große Menge an Kohlenstoff. Aber das ist noch nicht
das Ende der Geschichte. Es lauern ja, wie schon erwähnt, weitere
Heliumkerne, die darauf aus sind, den Kohlenstoff wieder zu ver-
nichten:
Was wäre, wenn sich auch diese Reaktion als ›resonant‹ herausstellen
würde? Dann würde der eben entstandene Kohlenstoff schnell wie-
der verschwinden und das dankbar begrüßte Resonanzniveau des
Kohlenstoffs bliebe ohne Nutzen. Bemerkenswerterweise verläuft
aber die Vernichtung des Kohlenstoffs nicht resonant. Der Sauer-
stoffkern hat ein Energieniveau bei 7,1187 MeV, was knapp unter der
Gesamtenergie des Paars ›Kohlenstoff + Helium‹ mit 7,1616 MeV
liegt. Wenn daher die thermische Energie im Stern noch dazu-
kommt, kann diese Reaktion niemals resonant sein – und der Koh-
lenstoff überlebt. Hoyle erkannte, dass diese ausbalancierte Folge
günstiger Umstände ein auf Kohlenstoff gegründetes Leben im Uni-
versum möglich macht.15
Die Lage der Energieniveaus in Atomkernen wie beispielsweise
beim Kohlenstoff und Sauerstoff ist das Ergebnis komplizierter
Wechselwirkungen zwischen der Kernkraft und der elektromagneti-
schen Kraft, die man seinerzeit, als man das Resonanzniveau beim
Kohlenstoff entdeckt hatte, noch nicht so einfach berechnen konnte.
Heute kann man die Beiträge der jeweiligen Kräfte recht gut abschät-
Das Anthropische Prinzip 147
zen und weiß, dass die Lage der Niveaus aus der Größe der Fein-
strukturkonstante und der entsprechenden Konstante für die starke
Kernkraft folgt. Erhöht man die Feinstrukturkonstante um mehr als
4 Prozent oder verringert man die Konstante für die starke Kernkraft
um mehr als 0,4 Prozent, reduziert sich die Produktion von Kohlen-
stoff um einen Faktor zwischen 30 und 1 000. Noch detailliertere
Rechnungen über das Schicksal von Sternen bei einer Änderung die-
ser Naturkonstanten wurden in letzter Zeit von Heinz Oberhummer,
Attila Csótó und Helmut Schlattl durchgeführt.16 Die Ergebnisse des
Forscherteams sind in Abbildung 8.6 dargestellt.
10
Sauerstoff
1
0,1 Ko
h le
n sto
ff
–2 0 2
Veränderung der elektromagnetischen Kraft in Prozent
A b b ild u n g 8 .6
Produktion von Kohlenstoff und Sauerstoff in Sternen bei Veränderung
der Kopplungskonstanten, die die elektromagnetische und
die starke Kraft bestimmen.
Wie man sieht, ändert sich die Produktion von Kohlenstoff und Sauer-
stoff systematisch, wenn man an der Feineinstellung der Naturkons-
tanten dreht, die für die Resonanzniveaus verantwortlich sind. Je nach
148 Das 1 × 1 des Universums
Änderung ihrer Werte erhält man einmal große Mengen von Kohlen-
stoff, das andere Mal große Mengen von Sauerstoff – aber nie beides.
Hoyle war von der ›passenden‹ Lage des Resonanzniveaus beim
Kohlenstoff und dem Zusammenhang mit den Kopplungskonstan-
ten sehr beeindruckt. Er schrieb über die astrophysikalischen Ur-
sprünge der Elemente zusammenfassend:
Ich denke aber, dass man ein Minimum an Neugier bezüglich dieser seltsa-
men dimensionslosen Zahlen aufbringen sollte, die in der Physik auftauchen
und von denen letztlich die genaue Lage der Energieniveaus in Kernen wie C12
und O16 abhängen muss. Sind diese Zahlen so unveränderlich wie die Atome
für den Physiker des 19. Jahrhunderts? Ist eine in sich konsistente Physik mit
anderen Werten dieser Zahlen vorstellbar?17
Hoyle sah zwei Möglichkeiten: Entweder muss man zeigen, dass die
Naturkonstanten ihre derzeitigen Werte notwendigerweise haben,
damit die Physik ihre innere Logik behält – oder man muss den
Standpunkt einnehmen, dass einige (wenn nicht alle) der in Frage
stehenden Zahlen Fluktuationen unterliegen. Anderswo im Univer-
sum können sie dann größer oder kleiner sein.
Zunächst favorisierte Hoyle das Fluktuationsmodell, nach dem
die Naturkonstanten (möglicherweise zufällig) örtlich variieren. Nur
in bestimmten Gegenden des Universums wäre das Gleichgewicht
zwischen der Feinstrukturkonstante und der Konstante der starken
Kraft so fein austariert, dass die ›richtige‹ Menge an Sauerstoff und
Kohlenstoff entstehen konnte. Wenn man dieser Vorstellung folgt,
muss also
die seltsame Lage der Energieniveaus von C12 und O16 nicht mehr als das Er-
gebnis erstaunlicher Zufälle erscheinen. Da Lebewesen wie wir von einem
Gleichgewicht zwischen Kohlenstoff und Sauerstoff abhängen, könnte es ein-
fach sein, dass wir nur in den Teilen des Universums leben können, wo sich
diese Niveaus gerade an der richtigen Stelle befinden. Anderswo mag das Ni-
veau beim O16 ein wenig höher liegen, sodass beim Hinzutreten eines weiteren
α-Teilchens zum C12 Resonanz eintritt. An einem solchen Ort … könnten Lebe-
wesen wie wir nicht existieren.18
logy24 viel über die Koinzidenzen der großen Zahlen erfahren, war
aber nicht dem Zauber der Steady-State-Theorie erlegen, die den
Mittelpunkt der Darstellung Bondis ausmacht. Bondi schloss aus
der Tatsache immer gleicher Naturge-
Ich fühle mich nicht als Fremdling in setze, dass auch alle anderen Eigen-
diesem Universum. Je länger ich das Uni- schaften des Universums ›im Großen
versum beobachte und die Einzelheiten und Ganzen‹ in Raum und Zeit gleich
seines Aufbaus studiere, desto mehr An-
zeichen finde ich, dass das Universum
sein müssen.25 Auf genau dieser Grund-
um unser Kommen gewusst haben muss. lage basiert die Steady-State-Theorie.
Bondi gestand ein, dass er den Rech-
Freeman J. Dyson26
nungen in Eddingtons ›fundamenta-
ler‹ Theorie nicht hatte folgen können,
mit der er die großen Zahlen erklären wollte. Diracs Ansatz mit einer
zeitlich variablen Gravitationskonstante kritisierte er unverblümt,
erkannte er doch in ihm eine weitere Absage an das Steady-State-
Prinzip. Diracs Argumentation stellt
Carter bezog Dickes Ansatz, nach dem die Koinzidenzen der großen
Zahlen unvermeidlich sind, mit ein und erkannte, wie wichtig es war,
Grenzen der philosophischen Erwägungen über die Uniformität des
Universums aufzuzeigen. Seit Kopernikus verkündet hatte, dass die
Erde nicht im Zentrum der bekannten astronomischen Welt steht,
haben Astronomen mit dem Begriff ›Kopernikanisches Prinzip‹ un-
terstrichen, dass wir keine besondere Stellung im Universum einneh-
men. Einstein hat das vorausgesetzt, als er zur mathematischen Be-
schreibung des Universums nach Lösungen seiner Gleichungen
suchte, die sicherstellten, dass überall im Universum gleiche Bedin-
gungen – Dichte, Expansionsrate und Temperatur – herrschen. Die
Vertreter eines Steady-State-Universums gingen noch einen Schritt
weiter, als sie nach Universen Ausschau hielten, die auch zu jeder Zeit
der kosmischen Geschichte homogen waren. Natürlich ist das reale
Das Anthropische Prinzip 153
Kopernikus hat uns die heilsame Lektion erteilt, dass wir nicht ohne weiteres
annehmen dürfen, in einer privilegierten zentralen Position im Universum zu
leben. Unglücklicherweise gab es eine starke (nicht immer unabsichtliche)
Tendenz, diese Aussage zu dem fragwürdigen Dogma zu erheben, dass unsere
Situation in keiner Weise privilegiert ist.28
Was wir an Beobachtungen erwarten können, ist durch die Bedingungen ein-
geschränkt, die für unsere Existenz als Beobachter notwendig sind.29
Es war für ihn ein völliger Irrweg, diese Koinzidenzen zum Anlass zu nehmen,
sich radikal von der Standardtheorie abzuwenden.
Als ich zum ersten Mal Diracs Fehler erkannte, nahm ich einfach an, dass er
sich einem Versehen verdankt, das leicht mit dem noch rudimentären Ver-
ständnis der Sternentwicklung in jenen Pionierjahren nach 1930 erklärt wer-
den konnte. Ich dachte auch, dass Dirac das Versehen längst bemerkt und be-
hoben hätte. Mein Motiv, mich mit etwas, was – wie ich dachte – so offenkundig
ist wie das Anthropische Prinzip, zu beschäftigen und es explizit zu formulie-
ren, verdankt sich zum Teil meiner späteren Erkenntnis, dass derart triviale
Fehler wie der Diracs nicht nur auf zufällige Versehen oder den Mangel an In-
formation zurückgehen, sondern auch in einer tief sitzenden emotionalen
Fehlanlage verwurzelt sind. Sie ist mit der zu vergleichen, die für den frühen
Widerstand gegen die Ideen Darwins verantwortlich war, als man sie im
19. Jahrhundert unter der Parole ›Affen oder Engel‹ diskutierte. Mir wurde das
Das Anthropische Prinzip 155
im Fall von Dirac31 klar, als ich merkte, wie er nach 1961 auf die ›anthropische‹
Argumentationslinie reagierte. … Seine Reaktion lief darauf hinaus, die Be-
weisführung völlig abzulehnen, die zu Dickes Schlüssen führt und die meiner
Ansicht nach unwiderlegbar ist, dass es nämlich keine statistischen Belege zur
Unterstützung der Diracschen Kosmologie gibt. Die Begründung, die Dirac
angibt, ist im Rahmen einer modernen wissenschaftlichen Diskussion ziem-
lich erstaunlich: Nach einem unbegründeten (und auf den ersten Blick un-
plausiblen) Anspruch auf die Richtigkeit seiner eigenen Theorie, dass das Le-
ben nie enden würde, fasst er seine Argumente in der verblüffenden
Behauptung zusammen, wenn man zwischen seiner eigenen und der üblichen
Theorie wählen müsse, solle man diejenige vorziehen, die ewiges Leben ver-
spricht. Was mich hier erstaunt hat, war natürlich, dass man ein solches Argu-
ment in einer Beweiskette überhaupt für relevant halten kann. … Diracs Irrtum
ist uns eine Warnung und sollte uns motivieren, anthropische und andere mit
ihm verwandte Prinzipien mit Sorgfalt zu formulieren.32
Das Universum (und damit die fundamentalen Parameter, auf denen es be-
ruht) muss so beschaffen sein, dass es in irgendeinem Stadium seiner Ent-
wicklung die Existenz von Beobachtern erlaubt.
A b b ild u n g 8 .7
Korridor des Lebens in Abhängigkeit von α und β.33
Anstatt mit α und β können wir unser Spiel auch mit α und αs ma-
chen, der Kennzahl für die Größe der starken Kernkraft. Jetzt gilt,
dass αs größer als 0,3 α1/2 sein muss, damit lebensnotwendige Ele-
158 Das 1 × 1 des Universums
A b b ild u n g 8 .8
Korridor des Lebens in Abhängigkeit von α und αs.35
Das Anthropische Prinzip 159
Nun wollen wir uns aus diesem Block entfernen und von außen beob-
achten, was in ihm passiert. Die Geschichte eines Menschen ist ein Weg
durch den Raumzeitblock. Wenn er einen dieser Wege zurückgeht und
damit eine geschlossene Kurve beschreibt, würden wir von einer Zeit-
reise reden. Die schon einmal durchlaufenen Wege liegen aber fest:
Wenn wir sie zurückgehen, wird die Geschichte nicht verändert. Eine
Zeitreise ermöglicht uns, an der Vergangenheit ›teilzuhaben‹, aber
nicht, sie zu ändern. Es sind nur Zeitreisen auf den eingetretenen Pfa-
den möglich. Auf diesen geschlossenen Pfaden gibt es zwischen Vergan-
genheit und Zukunft keine wohldefinierte Grenze. Es ist wie mit Solda-
ten, die hintereinander in einer Linie marschieren. Bewegen sie sich auf
geradem Weg in Richtung Feind, ist klar, wer vorangeht und wer die
Nachhut bildet. Wenn sie sich aber imKreis bewegen, marschiert der
erste hinter dem letzten her, und man kann nicht mehr von einer kla-
ren Ordnung aus ›vor‹ und ›nach‹ reden (siehe Abbildung 8.10).
166 Das 1 × 1 des Universums
Wenn es keine triftigeren physikalischen Argumente gibt, ist es als letzte Zu-
flucht natürlich immer philosophisch möglich, aus einer Vorhersage, die auf
das Starke Anthropische Prinzip gegründet ist, eine Erklärung zu machen, in-
dem man von einem ›Ensemble‹ von Welten ausgeht, die durch alle denkbaren
Kombinationen von Anfangsbedingungen und Grundkonstanten charakteri-
siert sind. … Die Existenz irgendwelcher Organismen, die man als Beobachter
Variable Konstanten und die Neufassung der Geschichte 169
Die Vorstellung, dass es noch andere Universen gibt, ist nicht neu.
Über sie wurde schon im 18. und 19. Jahrhundert im Zusammen-
hang mit der Debatte spekuliert, ob anderswo im All mit Leben zu
rechnen ist. Es setzte eine breite Diskussion vor einem Hintergrund
ein, der sehr dem Starken Anthropischen Prinzip ähnelte. Man
wusste schon lange, welche Umstände lebensfördernd sind und wie
die Form der Gravitations- und Bewegungsgesetze, die Gestalt der
Erde und des Sonnensystems und die Biologie des Menschen zusam-
menspielen. Nach Ansicht der Naturtheologen verrieten diese Bedin-
gungen, dass der Struktur des Universums ein göttlicher Sinn zu-
grunde liegt. Andere – allen voran Leibniz – argumentierten, dass wir
in der besten aller möglichen Welten leben, eine Ansicht, die Voltaire
in seinem Candide gnadenlos parodierte. Die Lage änderte sich, als
Pierre Louis Maupertuis mit beträchtlicher Unterstützung durch
den Schweizer Mathematiker Leonhard Euler zeigte, dass die be-
kannten Newtonschen Bewegungsgesetze aus einem neuen mathe-
matischen Prinzip abgeleitet werden können. Nach diesem Prinzip
können Bewegungen zwischen zwei Punkten zunächst alle denkba-
ren Wege nehmen. Wenn man nun für jeden Weg eine Größe be-
stimmt, die uns schon als ›Wirkung‹ begegnet ist, und gleichzeitig
fordert, dass der Weg mit der kleinsten Wirkung eingeschlagen wird,
führt dies gerade zu dem Weg, den die Newtonschen Gesetze voraus-
sagen. Man fand schließlich heraus, dass alle physikalischen Gesetze
aus ›Prinzipien der kleinsten Wirkung‹ der genannten Art abgeleitet
werden können. Maupertuis kündigte stolz an, er könne die ›beste
aller Welten‹ und deren Wesen bstimmen: Die ›beste‹ ist die mit der
kleinsten Wirkung, und die anderen schlechteren Welten sind dieje-
nigen, in denen die Bewegung nicht dem Idealweg folgt. Im 19. Jahr-
hundert gab es sogar den Versuch, Fossilien als Überbleibsel jener
missratenen und gescheiterten Welten zu erklären, in denen es nicht
auf die kleinste Wirkung ankam. Bis gegen Ende des 19. Jahrhun-
derts machte es die offenkundige Leere des Universums leicht, über
170 Das 1 × 1 des Universums
Heute, nachdem die Physiker diesem Weg ein weites Stück in Rich-
tung auf immer tiefer gehende, universalere Theorien der Natur-
kräfte gefolgt sind, haben sie sich auch immer mehr dem Bild fle-
xibler Welten genähert. Es scheint Naturkonstanten zu geben, die
von einer umfassenden Theorie für Alles nicht gänzlich festgelegt
werden. Einige tauchen in ihr auf, können aber Werte in einem
weiten Bereich annehmen. Andere tauchen nicht explizit in dieser
letzten aller Theorien auf, erscheinen aber in bestimmten Entwick-
lungsstadien des Universums als Folge eines Zufallsprozesses –
ähnlich, wie eine sorgfältig ausbalancierte Nadel in eine bestimmte
Richtung umfällt, obwohl ihr alle Richtungen offen stehen. Diese
Konstanten nehmen Werte an, die zeigen, dass die Realisierungen
der Naturgesetze nicht die gleiche perfekte Symmetrie besitzen
müssen wie die Gesetze selbst: Sie sind weit komplizierter und will-
kürlicher.
Variable Konstanten und die Neufassung der Geschichte 171
Eine der großen Fragen, mit denen die Physik heute konfrontiert
ist, besteht darin, wie viele dieser Naturkonstanten von einer Theorie
für Alles (wie der zurzeit favorisierten Superstring-Theorie, der M-
Theorie) eindeutig und vollständig beschrieben werden. Die Kon-
stanten, die nicht auf diese Weise festgelegt sind, können alle denk-
baren Werte annehmen, ohne die innere Logik der Theorie zu
verletzen. Sie könnten kleiner oder größer sein, wenn bestimmte Er-
eignisfolgen, die zu ihrem Auftauchen in den Frühphasen des Uni-
versums geführt haben, anders verlaufen wären. Mit einer anthropi-
schen Argumentation können wir einer Erklärung ihrer Werte noch
am nächsten kommen. Es könnte sein, dass alle Werte dieser Kon-
stanten gleich wahrscheinlich sind, uns kann es aber nur geben,
wenn sie in das schmale Band fallen, das die Existenz von Beobach-
tern zulässt.
Inflationäre Universen
Es gibt einige bemerkenswerte Eigenschaften des Universums, die
entscheidend dafür sind, dass sich in ihm Leben entwickeln kann. Es
handelt sich dabei nicht nur um die schon diskutierten Naturkon-
stanten wie die Feinstrukturkonstante oder die Masse des Elektrons,
sondern auch um andere Größen, die beispielsweise angeben, wie
›klumpig‹ das Universum ist, wie schnell es sich ausdehnt und wie
viel Materie und Strahlung es enthält. Natürlich würden die Kosmo-
logen diese Größen gern erklären. Vielleicht werden sie eines Tages
sogar zeigen können, dass sie vollständig durch Naturkonstanten
wie die Feinstrukturkonstante bestimmt werden.
Die genannten Eigenschaften des Universums, die durch astrono-
mische ›Konstanten‹ (Abbildung 9.1) bestimmt werden, spielen für
die Entwicklung biochemischer Komplexität eine Schlüsselrolle. Wir
wollen nun zwei dieser Größen etwas genauer betrachten, da die Art
und Weise, wie man ihre ungewöhnlichen Werte erklären kann, eine
völlig neue Perspektive eröffnet. Eine Unmenge ›anderer‹ Welten er-
scheint dann möglich, auf die man das Anthropische Prinzip not-
wendigerweise und ganz selbstverständlich anwenden muss.
172 Das 1 × 1 des Universums
A b b ild u n g 9 .1
Einige Schlüsselgrößen, die unser Universum definieren
und es von anderen vorstellbaren Universen unterscheiden, in denen
die gleichen Naturgesetze herrschen.
nug leben und dehnen sich sanft genug aus, sodass Sterne und Pla-
neten entstehen können. Es ist also kein Zufall, dass wir uns in einer
Zeit wiederfinden, die Milliarden Jahre nach dem Big-Bang liegt, und
nun Zeuge einer Phase einer Expansion sind, die nahe an der kriti-
schen Grenze verläuft (siehe Abbildung 9.2).
e ll
hn
sc
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Größe
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ne
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Exp
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Uni
hnell
Zeit
A b b ild u n g 9 .2
Expansionsmöglichkeiten eines Universums.
Größe
Inflations-
phase
Zeit
A b b ild u n g 9 .3
Kurze inflationäre Phase mit beschleunigter Expansion
in der Frühzeit des Universums
che, dass wir uns auch nach über 13 Milliarden Jahren noch so dicht
an dieser Linie befinden, ist ziemlich erstaunlich, da schon die
kleinste Abweichung mit der Zeit stetig anwachsen würde.12 Abbil-
dung 9.2 zeigt deutlich, dass sich im Laufe der Zeit sowohl die offe-
nen als auch die geschlossenen Universen immer weiter von der
Grenzlinie entfernen. Die Ursache dafür ist wieder die anziehende
Wirkung der Gravitation. In einer Phase, in der die Gravitation ab-
stoßend wirkt und sich die Expansion beschleunigt, rückt dagegen
die Expansion näher an die kritische Kurve. Wenn die Inflation lang
genug gedauert hat13, könnte dies die überraschende Nähe der der-
zeitigen Expansion zur kritischen Linie erklären. Diese lebensför-
dernde Eigenschaft unseres Universums wäre damit von den beson-
deren Anfangsbedingungen beim Big-Bang losgelöst.
Eine kurze Beschleunigungsphase hat auch den Nebeneffekt, dass
jegliche Anisotropie bei der Expansion des Universums beseitigt
wird und sie sehr schnell in jede Richtung mit der gleichen Rate er-
folgt – so wie wir es heute beobachten. Damit wäre eine Erklärung
für die äußerst symmetrische Expansion des Universums gefunden,
die den Kosmologen immer als mysteriös und unwahrscheinlich er-
176 Das 1 × 1 des Universums
igt e
l eu n
b e sch 7 m
02 c
3x1
3x10–25cm
heute
Expan sichtbares
sion
Universum
A b b ild u n g 9 .4
Expansion des Universums während einer inflationären Phase.
ders. Die Urzelle wäre nach diesem Modell so groß gewesen, dass die
Lichtstrahlen ihre glättende Wirkung nicht entfalten konnten. Es wäre
ein tiefes Geheimnis geblieben, warum unser Universum in jede Rich-
tung des Himmels so gut wie gleich aussieht: Beobachtungen haben
gezeigt, dass die Abweichungen kleiner als 1 : 100 000 sind.
Die winzige Region, aus der das sichtbare Universum entstanden
ist, konnte unmöglich schon von allem Anbeginn so homogen gewe-
sen sein. Die Quantelung der Materie und der Energie fordert, dass
es auf jeden Fall ein bestimmtes kleines Maß an Fluktuationen gege-
ben haben muss. In einer Inflationsphase dehnen sich diese anfäng-
lichen Fluktuationen aus und werden ›verschmiert‹, sodass sie sich
über riesige astronomische Distanzen erstrecken, wo sie dann von
einem Satelliten wie COBE identifiziert werden können.16 Diese
Strukturen werden durch den 2001 gestarteten MAP-Satelliten17
noch genauer untersucht. Wenn es die Inflationsphase gegeben hat,
müssen die Signale, die er empfängt, ganz bestimmte Strukturen
aufweisen. Die COBE-Daten stimmen bisher gut mit den Prognosen
überein, die wirklich entscheidenden Merkmale der beobachtbaren
Signale werden aber erst dann deutlich, wenn man die Temperatur-
unterschiede räumlich weit besser auflöst, als dies mit COBE mög-
lich war. Die neuen Beobachtungen durch MAP sollen durch die
Planck Surveyor Mission der ESA im Jahr 200718 und parallele, im-
mer präzisere Durchmusterungen kleinerer Flächen des Himmels
von der Erde aus fortgeführt werden.
Abbildung 9.5 zeigt die Verteilung der Fluktuationen in Abhängig-
keit vom Raumwinkel, wie man sie aus einem Modell des Universums
mit inflationärer Phase erhält. Die Modellprognose ist Messergebnis-
sen gegenübergestellt, die mit dem Forschungsballon Boomerang19
nahe der Erdoberfläche gewonnen wurden. Durch die Satellitenbeob-
achtungen werden die experimentellen Fehlerbreiten kleiner als die
Dicke der gezeichneten Kurve. Sie stellen damit einen unwiderlegba-
ren Test für bestimmte kosmologische Modelle einer inflationären
Phase in der Frühzeit des Universums dar. Bemerkenswert ist dabei,
dass uns diese Beobachtungen einen Einblick in Ereignisse erlauben,
die stattfanden, als das Universum gerade 10-35 s alt war!
Jenseits der Grenze des winzigen Flecks von 10-25 cm Durchmes-
ser, aus dem das Universum entstand, lagen zahlreiche (vielleicht
178 Das 1 × 1 des Universums
Temperaturfluktuation in µK 80
Modellrechnungen
60
40
20
0
1 1/3 1/4 1/6
Winkelbereich des Himmels in Grad
A b b ild u n g 9 .5
Fluktuationen in einem Universum mit inflationärer Phase in Abhängigkeit vom
Winkelbereich nach Modellrechnungen (ausgezogene Kurve)
und Messungen bei Satelliten- und Ballonexperimenten.
dafür, dass das Universum hinter dem Horizont anders ist als vor
ihm.
Nach zwei sowjetischen Naturwissenschaftlern, Alex Vilenkin und
Andre Linde, die einst in die USA emigrierten, ist die Situation ver-
mutlich noch komplizierter. Wenn sich ein Gebiet inflationär aus-
dehnt, erzeugt es zwangsläufig in sich selbst die Bedingungen für
zahlreiche weitere Inflationen, die in Untergebieten ihren Ausgangs-
punkt haben. Dieser Prozess kann bis in unendliche Zeiten weiterge-
hen: Inflationär aufgeblähte Gebiete erzeugen Untergebiete, die sich
aufblähen, diese erzeugen Unter-Untergebiete und so fort – bis in
alle Ewigkeit. Man nennt ein solches Gebilde ein ›ewig‹ oder ›selbst-
reproduktives‹ inflationäres Universum (siehe Abbildung 9.6).21
Inflation
Inflation
Inflation
Inflation
A b b ild u n g 9 .6
Ewige, sich selbst reproduzierende Inflation.
Wenn sich die Historiker »im Sinne eines rein theoretischen Gedankenexperi-
ments damit auseinander setzen, sowohl was hätte passiert sein können als
auch was der historische Beweis zu glauben zwingt, das passiert ist«, bewegen
sie sich nach Oakshotts Auffassung »außerhalb des Laufs der Geschichte«: »Es
ist durchaus möglich, dass der Völkerapostel Paulus gefangen genommen und
getötet werden konnte, während seine Freunde ihn bei seiner Flucht von der
Stadtmauer Damaskus’ herunterließen, sodass die christliche Religion nie der
Ausgangspunkt und Kern unserer Zivilisation hätte werden können. Und des-
halb kann die Ausbreitung des Christentums kausal durchaus der Flucht des
Paulus zugeschrieben werden. … Aber wenn Ereignisse auf eine solche Weise
interpretiert und historisch instrumentalisiert werden, hören sie auf, ge-
schichtliche Ereignisse zu sein. Die Folge einer solchen Vorgehensweise ist
nicht nur eine minderwertige und zweifelhafte Geschichtsschreibung, sondern
vielmehr ein völliges Ignorieren und Ablehnen von tatsächlich sich ereignen-
der Geschichte. … Überhaupt entspricht die Unterscheidung … zwischen not-
wendigen und zufälligen Ereignissen ganz und gar nicht seriösem historischen
Denken, sondern stellt geradezu einen fürchterlichen Anschlag auf die Wissen-
schaftlichkeit von Geschichtsschreibung dar.« Und Oakshott fährt fort: …
»Der Historiker ist niemals dazu berufen, darüber zu grübeln, was sich unter
modifizierten Bedingungen hätte ereignen und anders ergeben können.«27
»Historische Notwendigkeit muss als solche bestätigt und immer wieder er-
neut bestätigt werden, um das ›Konditionale‹ aus der Geschichte auszuklam-
mern, das hier völlig fehl am Platze ist. … Nicht erlaubt ist … das unhistorische
und vernunftwidrige ›Wenn‹. Solch ein ›Wenn‹ teilt völlig willkürlich den
Gang der Geschichte in notwendige und zufällige Tatsachen auf … und die
zweite Tatsache klammert man so mental aus, um festzustellen, wie sich die
erste Tatsache unter ihrer eigenen Rahmenbedingung und den damit verbun-
denen Umständen entwickelt hätte, wenn sie nicht durch die zweite beein-
trächtigt bzw. beeinflusst worden wäre. Das ist eine Art Spiel, dem sich ein je-
der von uns in Momenten der Zerstreuung oder des Müßiggangs hingibt,
wenn wir darüber nachdenken, wie unser Lebensweg hätte verlaufen können,
wenn wir eine bestimmte Person nicht getroffen hätten. … Aber wenn wir fort-
fahren würden, diese virtuelle Wirklichkeit gänzlich zu analysieren, würde das
Spiel der Vorstellungen bald zu Ende sein.«28
Nach Ansicht von Oakshott und Croce kann ein Historiker nichts
weiter tun, als unser Verständnis für die Geschehnisse in der Vergan-
genheit zu verbessern und uns ein vollständigeres Bild der Abläufe zu
geben. Es ist höchst bedenklich, wenn Ereignisse in ›bedeutend‹ und
›unbedeutend‹ eingeteilt werden, weil niemand dafür klare Kriterien
hat und man nur seinem subjektiven Eindruck folgen kann. Es gibt
sicher auch gute Gründe, eine ›fertige‹ Rekonstruktion der Vergan-
genheit, also das, was man gemeinhin ›Geschichte‹ nennt, durch Fra-
gen zu überprüfen, die sich nicht an den Fakten ausrichten. Die dabei
allerdings einfließenden systematischen Fehler werden in einem ent-
larvenden Rechenschaftsbericht über die Ziele des Historikers ange-
sprochen, den der Sozialhistoriker und historische Determinist Ed-
ward H. Carr unter dem Titel What is History? veröffentlicht hat.
»Aufgrund der Vielfalt der Abläufe von Ursache und Wirkung wählen sich [die
Historiker] diejenigen aus, und nur solche, die wirklich von historischer Bedeu-
tung sind. Das Kriterium der historischen Bedeutsamkeit ist die Eigenschaft, zu
den Mustern der rationalen Erklärungen und Interpretationen des Historikers
zu passen. Andere Abläufe von Ursache und Wirkung werden als zufällig verwor-
fen, nicht weil ihre Beziehung zu Ursache und Wirkung eine andere ist, sondern
der Geschichtsverlauf selbst unwichtig ist. Der Historiker kann nichts damit an-
fangen, es ist nicht einer rationalen Interpretation zugänglich und besitzt somit
keinerlei Bedeutung, weder für die Vergangenheit noch für die Gegenwart.«29
Es gibt eine alte Geschichte von einem Mann, der die Wüste durchqueren will.
Er hat zwei Feinde. In der Nacht schleicht sich der erste Feind in sein Lager
und gibt Strychnin in die Wasserflasche. In derselben Nacht schleicht sich
später auch der zweite Feind in das Lager. Er weiß nichts von dem ersten Besu-
cher und sticht ein kleines Loch in die Wasserflasche. Unser Mann bricht wie-
der zu seinem Marsch durch die Wüste auf. Als er trinken will, ist die Flasche
leer. Er verdurstet. Wer ist der Mörder? Der Verteidiger des ersten Feindes
bringt ein hieb- und stichfestes Argument vor: Sein Mandant gibt zu, den
188 Das 1 × 1 des Universums
Mann vergiften zu wollen. Aber der Anschlag ist missglückt, da das Opfer kein
Gift zu sich genommen hat, also hat er keinen Mord begangen. Aber auch der
Verteidiger des zweiten Feindes hat ein ähnlich schlagkräftiges Argument:
Sein Mandant gibt zu, den Mann verdursten lassen zu wollen. Aber auch er
hat keinen Mord begangen, sondern sogar einen verhindert: Schließlich hat er
den Mann davon abgehalten, das tödliche Strychnin einzunehmen.33
von zwei in drei Dimension aussieht. Wir legen dazu eine Schnur im
Kreis um ein Stück Zucker, das auf dem Tisch liegt. Wenn das Zucker-
stück immer in Kontakt mit der zweidimensionalen Tischoberfläche
bleiben muss, kann es den Ring nicht
Ich bin Mathematiker, aber nur bis zu verlassen, ohne ihn zu durchreißen.
einer bestimmten Grenze: Ich kann Drei- Wird ihm aber der Zugang zur dritten
fachintegrale nur verstehen, wenn mir
Dimension erlaubt, ist die Aufgabe
ein guter Freund alles ganz langsam auf
einer großen Tafel vormacht. leicht zu lösen: Man nimmt es im Inne-
ren des Rings hoch und setzt es außer-
J. W. McReynolds2
halb wieder ab. In Abbildung 10.1 ist
noch ein weiteres Beispiel dargestellt:
Eine Rechtsspirale, die auf einem Tisch liegt, kann nicht in eine
Linksspirale verwandelt werden, solange sie in der zweidimensionalen
Welt der Tischplatte gefangen bleibt. Nimmt man sie aber auf und
befördert sie damit in die dreidimensionale Welt, ist die Verwandlung
möglich: Man dreht sie einfach um und legt sie wieder zurück.
Trotz der Faszination, die diese verborgenen Reiche der Materie
und des Geistes ausüben, sahen die Wissenschaftler des 18. und
19. Jahrhunderts wenig Anlass, über die Zahl der Dimensionen des
Raums nachzudenken. Nur einer der großen Philosophen befasste
➟
anheben
und
umdrehen
A b b ild u n g 1 0 .1
Umkehrung der Drehrichtung einer flachen Spirale
in der dritten Raumdimension.
A b b ild u n g 1 0 .2
Immanuel Kant (1724–1804).3
Kant zeigte aber zum ersten Mal, dass es zwischen der Zahl der
Raumdimensionen und den Naturgesetzen und -konstanten eine
Verbindung gibt. Er spekulierte über einige theologische und geo-
metrische Aspekte zusätzlicher Dimensionen und hielt es für mög-
lich, die Eigenschaften dieser hypothetischen Räume mithilfe der
Mathematik zu untersuchen.
Eine Wissenschaft von allen diesen möglichen Raumes-Arten wäre ohnfehlbar
die höchste Geometrie, die ein endlicher Verstand unternehmen könnte. …
Wenn es möglich ist, daß es Ausdehnungen von anderen Abmessungen gebe, so
ist es auch sehr wahrscheinlich, daß sie Gott würklich irgendwo angebracht hat.
… Räume von dieser Art könnten nun unmöglich mit solchen in Verbindung
stehen, die von ganz anderm Wesen sind; daher würden dergleichen Räume zu
unserer Welt gar nicht gehören, sondern eigene Welten ausmachen müssen.6
Was bei Kant Spekulation war, erwies sich als real: Die Mathemati-
ker des 19. Jahrhunderts entwickelten neue Geometrien zur Be-
schreibungen von Linien und Formen auf gekrümmten Flächen7,
der auch Räume mit mehr als drei Dimensionen angehören können.
Glücklicherweise, denn damit stand Einstein die Mathematik zur
Verfügung, die er in den Jahren zwischen 1905 und 1915 zur Ent-
wicklung seiner neuen Gravitationstheorie, der Allgemeinen Relati-
vitätstheorie, benötigte.
ßen
au
n
in ne
A b b ild u n g 1 0 .3
Im zweidimensionalen Raum grenzt eine geschlossene Kurve ›außen‹
gegen ›innen‹ ab.
A b b ild u n g 1 0 .4
Ein zweidimensionales Lebewesen mit einem Verdauungskanal
kann leicht in Stücke fallen.
Zufall entscheiden lässt, wie es weitergeht, wird man – sofern nur die
Schritte immer gleich groß sind – schließlich unweigerlich an den
Ausgangspunkt zurückkommen. Ganz anders im drei- oder mehrdi-
mensionalen Raum: Dort wird man aller Wahrscheinlichkeit nach
nie zu Hause landen, sondern im Raum verloren gehen. Es gibt ein-
fach für den Zufalls-Wanderer zu viele ›falsche‹ Wendungen.
A b b ild u n g 1 0 .5
In Räumen mit mehr als zwei Dimensionen können sich Wege
auf komplizierte Weise verschlingen, ohne sich zu durchdringen.
Dodekaeder Ikosaeder
A b b ild u n g 1 0 .6
Die fünf Platonischen Körper.
A b b ild u n g 1 0 .7
Bewohner von Edwin Abbotts Flächenland.
Nicht jeder dachte an weniger Dimensionen als drei. Ein paar Jahre
vor dem ersten Erscheinen von Abbotts Buch versetzte der Prozess
gegen einen bekannten Hellseher, einem gewissen Henry Slade, die
Londoner Gesellschaft in Aufregung. Einige Wissenschaftler11 waren
zu seiner Verteidigung angetreten, nachdem er behauptet hatte, Zu-
gang zur vierten Dimension zu haben und von dort Gegenstände
auftauchen lassen zu können.12 Okkultismus war seinerzeit in Eng-
land (und auch auf dem Kontinent) in Mode.13 Selbst Arthur Conan
Doyle scheint an Feen geglaubt zu haben. Ich habe allerdings Zwei-
fel, ob das auch für Sherlock Holmes gilt.14
Maude Weldon. Nach drei Tagen Haft kam er wieder frei, ging mit
Mary in die USA, wurde Dozent in Princeton und erfand eine auto-
matische Baseball-Wurfmaschine.18 Nachdem er von seinem Arbeit-
geber gefeuert worden war, arbeitete er eine Zeit lang an der Marine-
Akademie, um dann schließlich beim Patentamt zu landen.
Hintons denkwürdigster Beitrag zur Untersuchung höherer Di-
mensionen besteht in einer Reihe einfacher Skizzen, mit denen er
zeigen wollte, dass es möglich ist, zumindest einen schemenhaften
Eindruck von Gegenständen der vierten Dimension zu gewinnen. Da
schließlich alle Abbildungen dreidimensionaler Objekte in Büchern
zweidimensional sind, müssten wir auch in der Lage sein, das zwei-
oder dreidimensionale Bild eines vierdimensionalen Objekts zu ent-
werfen, das dann so etwas wie dessen Projektion wäre. Einige Beispiele
sind in Abbildung 10.8 dargestellt. Besonders sein Würfel-Würfel
(auch Tessaract oder Hyperkubus genannt) wurde berühmt.19
a) b)
c) d)
A b b ild u n g 1 0 .8
a) Dreidimensionaler Würfel in zweidimensionaler Darstellung.
b) Dreidimenmsionale Ansicht eines vierdimensionalen Würfels in
perspektivischer Darstellung.
c) Entfaltung eines dreidimensionalen Würfels.
d) Entfaltung eines vierdimensionalen Würfels.
Neue Dimensionen 199
A b b ild u n g 1 0 .9
Pablo Picasso, Dora Maar, 1937, Musée Picasso, Paris.22
t = 2π √(L/g)
Auch viele Jahre später zeigte er sich in Da endlich sah ich das Pendel.
einem Brief über die Naturkonstanten Die Kugel, frei schwebend am Ende eines
an Rosenthal-Schneider angesichts die- langen metallischen Fadens, der hoch in
der Wölbung des Chores befestigt war,
ses Geheimnisses noch höchst ratlos: beschrieb ihre weiten konstanten Schwin-
Es dürfte in der Natur der Sache liegen, dass gungen mit majestätischer Isochronie.
solche rationelle Zahlen sich der Größenord- Ich wusste – doch jeder hätte es spüren
müssen im Zauber dieses ruhigen
nung nach nicht von 1 unterscheiden, we-
Atems –, dass die Periode geregelt wurde
nigstens solange man sich auf ›einfache‹,
durch das Verhältnis der Quadratwurzel
bzw. natürliche Bildungen beschränkt. Dies
aus der Länge des Fadens zu jener Zahl π,
ist aber nicht fundamental und nicht scharf die, irrational für die irdischen Geister, in
fassbar.25 göttlicher Ratio unweigerlich den Um-
fang mit dem Durchmesser eines jeden
Man kann etwas Licht in das Dunkel möglichen Kreises verbindet, dergestalt,
dieses Rätsels bringen, wenn man be- dass die Zeit dieses Schweifens einer
rücksichtigt, dass fast alle numerischen Kugel von einem Pol zum anderen das
Faktoren, von denen Einstein so beein- Ergebnis einer geheimen Verschwörung
druckt war, ihren Ursprung in der Geo- der zeitlosesten aller Maße war – der Ein-
heit des Aufhängepunktes, der Zweiheit
metrie haben. So ist zum Beispiel das einer abstrakten Dimension, der Dreizahl
Volumen eines Würfels mit Seitenlänge von π, des geheimen Vierecks der Wurzel
r gleich r3, das Volumen einer Kugel und der Perfektion des Kreises.
mit Radius r aber 4π/3 r3. Die numeri- Umberto Eco26
schen Faktoren berücksichtigen, in
welcher Weise die Form unserer Ge-
bilde die fundamentalen Naturkräfte beeinflusst. Da diese isotrop
wirken, also keine Raumrichtung bevorzugen, weisen sie in der Regel
sphärische Symmetrie auf.
Wie wir wissen hat ein Kreis mit Radius r den Umfang 2π r. Die
Oberfläche einer Kugel beträgt 4π r2. Entsprechend ist die Fläche ei-
nes Kreises π r2, das Volumen einer Kugel 4π/3 r 3. Nun wollen wir
›Kugeln‹ mit n Dimensionen betrachten. Für einen Mathematiker ist
202 Das 1 × 1 des Universums
a) 35
30
25
Oberfläche
20
15
10
0
0 10 20 30 40 50 60
Zahl der Dimensionen n
b) 6
4
Volumen
0
0 10 20 30 40 50 60
Zahl der Dimensionen n
A b b ild u n g 1 0 .1 0
Oberfläche und Volumen einer n-dimensionalen ›Kugel‹ mit Radius 1.
Das Maximum des Volumens liegt bei 5,3 Dimensionen.
Die Werte fallen dann schnell ab.
Neue Dimensionen 203
Bemerkenswert ist, dass mit der Anzahl der Dimensionen auch die
Faktoren Größen erreichen, die von 1 erheblich abweichen: Sie wach-
sen zunächst an und erreichen ein Maximum (beim Volumen liegt es
bei etwa fünf Dimensionen), um dann für größere n schnell gegen
Null zu gehen. Damit haben wir eine Antwort für Einstein: Die weite
Verbreitung kleiner numerischer Faktoren in den Naturgesetzen und
physikalischen Formeln folgt aus der Tatsache, dass die Welt nur
wenige Raumdimensionen hat. Würden wir in einer Welt mit fünf
oder sechs Dimensionen leben, wären physikalische Formeln, in de-
nen wir die Proportionalitätsfaktoren vernachlässigen, oft höchst
ungenau. Einstein hätte sich dann darüber gewundert, dass die Fak-
toren immer so ungewöhnlich groß sind.
Wir sehen aus alledem, dass die Naturkonstanten in einer dreidi-
mensionalen Welt einen viel größeren relativen Einfluss auf die Re-
sultate der Naturgesetze haben, als in einer Welt mit wesentlich
mehr Raumdimensionen.
A b b ild u n g 1 0 .1 1
Albert Einstein mit Paul Ehrenfest.29
Trotz der hohen Achtung, die ihm andere entgegenbrachten und die
ihm 1912 mit nur 32 Jahren den Ruf auf einen Physiklehrstuhl in
Leiden einbrachte, litt er an Minderwertigkeitskomplexen. Er war
frustriert, weil er mit den schnellen Fortschritten in der Quanten-
physik und mit der wachsenden Mathematisierung nicht Schritt
halten konnte. Am 13. Mai 1931 schrieb er an Niels Bohr:
Ich habe total den Contact mit der theoretischen Physik verloren. Ich kann
nun absolut nichts mehr lesen und fühle mich außer stande auch nur im be-
scheidensten Maße zu überblicken, was in der Flut von Artikeln und Büchern
Sinn hat. – Vielleicht ist mir überhaupt nicht mehr zu helfen. Aber noch habe
ich die Illusion, dass Du mir bei einer Begegnung von einigen Tagen den Weg
weisen könntest. … Und natürlich so, dass ich nicht irgendwas erzählen muss.
Sondern ich will hören.30
Man kann auf diese grundlegende topologische Eigenschaft der Welt … als
den einzigartigen natürlichen Begleitumstand anderer Bedingungen schlie-
ßen, die mit der Entwicklung höherer irdischer Lebensformen – und insbe-
sondere des Menschen, der das Problem formuliert hat – verbunden waren.34
Wie wir schon bei unseren Zeitreisen gesehen haben, stellen sich die
Physiker die Raumzeit gern wie einen vierdimensionalen Block vor,
208 Das 1 × 1 des Universums
Auch Einstein scheint die Vorstellung gehabt zu haben, dass die Zu-
kunft schon fertig vor uns ausgestreckt liegt und irgendwelche Un-
terschiede zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bloße
Illusion sind. In einem Brief, den er kurz nach dem Tod Michele
Bessos37, eines seiner ältesten und besten Freunde, an dessen Familie
schrieb, wies Einstein angesichts der Gewissheit, dass es für ihn
selbst keine Heilung seiner Krankheit gab, auf die illusionäre Natur
von Vergangenheit und Zukunft hin:
Nun ist er mir auch mit dem Abschied von dieser sonderbaren Welt ein wenig
vorausgegangen. Dies bedeutet nichts. Für uns gläubige Physiker hat die
Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeu-
tung einer wenn auch hartnäckigen Illusion.38
in st a bil
4
u n vo r h e r sa g ba r
3 Tach- u n vo r h e r s a g ba r
yonen
2
zu
einfach Wir
1 befinden i n s t a bi l
uns hier!
0 u n vo r h e r s a g b a r
0 1 2 3 4 5
Zahl der Raumdimensionen
A b b ild u n g 1 0 .1 2
Eigenschaften von Universen mit unterschiedlich vielen Raum- und
Zeitdimensionen.
Wenn wir Welten mit anderen Dimensionen als 3+1 betrachten, fällt
uns ins Auge, dass man bei mehr als einer Zeitdimension die Zukunft
nicht vorhersagen kann. So gesehen haben diese Welten überhaupt
keine Zeitdimension. Ein komplex organisiertes System, wie es für die
Existenz von Leben notwendig ist, könnte keine Informationen, die es
seiner Umwelt entnommen hat, zur Gestaltung seiner Zukunft nut-
zen. Es würde auf niedrigstem Niveau dahinvegetieren: zu simpel kon-
struiert, um Informationen speichern und verarbeiten zu können.
Könnte man die Dimensionen des Raums und der Zeit einfach
auswürfeln und wären alle Kombinationen möglich, müssten wir
davon ausgehen, dass ihre Zahl sehr groß ausfallen würde. Kleine
Zahlen wären unwahrscheinlich. Die Einschränkungen, die wir der
Welt auferlegen, indem wir die Existenz von ›Beobachtern‹ fordern,
die sich dieses Problems annehmen, führen aber dazu, dass nicht alle
Möglichkeiten realisiert werden können. Wir sind zwangsläufig dazu
verdammt, in einem 3+1-dimensionalen Raum zu leben: Alle Alter-
nativen würden Leben verbieten. Wenn Wissenschaftler in einem
Neue Dimensionen 211
sein müssen, wenn wir zulassen, dass die Welt von mehr als drei aufge-
spannt wird. Die Schattenbilder der Naturkonstanten im dreidimen-
sionalen Raum können sich durchaus in der Größe unterscheiden
und, noch bemerkenswerter, sie müssen nicht einmal konstant sein.
Kaluza wurde schließlich doch noch Professor: zunächst 1929 in
Kiel und dann 1935 in Göttingen, nachdem sich Einstein für seine
Berufung eingesetzt hatte. In seinem Gutachten hatte er eindring-
lich auf das Neue an Kaluzas Ansatz hingewiesen, mit der Einfüh-
rung einer neuen Dimension die Gravitation mit dem Elektromag-
netismus zu vereinigen.
Variable Konstanten
für den Tanz auf dem Brane
Die interessanteste Konsequenz zusätzlicher Raumdimensionen be-
steht darin, dass die Naturkonstanten nicht mehr konstant sein müs-
sen. Wenn die Welt wirklich vier Raumdimensionen hat, so sind auch
die Naturkonstanten vierdimensional, und wir nehmen in unserer drei-
dimensionalen Welt nur dreidimensio-
Es gibt zwei Möglichkeiten, Licht auszu- nale Abbilder von ihnen wahr. Diese Ab-
senden: die Kerze zu sein oder der Spie- bilder müssen nicht einmal konstant
gel, der das Licht reflektiert.
sein! Wachsen die Zusatzdimensionen
Edith Wharton47 in ähnlicher Weise an, wie die übrigen
drei Dimensionen, werden im gleichen
Maß die Werte der Naturkonstanten in der 3-D-Welt kleiner. Daraus
können wir zunächst einmal den Schluss ziehen, dass die Änderungen
der zusätzlichen Dimensionen sehr langsam vonstatten gehen müssen,
da wir sonst unsere Konstanten niemals Konstanten genannt hätten.
Nehmen wir eine der traditionellen Naturkonstanten, die Fein-
strukturkonstante. Wenn die mittlere Größe der zusätzlichen Raum-
dimensionen r ist, wird sich der Wert der dreidimensionalen Fein-
strukturkonstante α proportional zu 1/r2 ändern. Wir müssen uns
vorstellen, dass wir in einem vierdimensionalen expandierenden
Universum leben, uns aber nur im dreidimensionalen Raum bewe-
gen können. Die elektromagnetische Kraft kann alle vier Dimensio-
Neue Dimensionen 215
t er a u s
h w ei
Größe
sic
eh nen
e nd
io n
s
en
i m
d
um
die übrigen Raumdimensionen
Ra
ei
dr
b l e i b e n ko n s t a n t
alle Raumdimensionen
dehnen sich aus
Zeit
A b b ild u n g 1 0 .1 3
Szenario eines Universums, dessen Expansion mit vielen Raumdimensionen be-
ginnt. Sie werden zu einem bestimmten Zeitpunkt bis auf
drei eingefangen und bleiben dann konstant.
anderen drei Grundkräfte der Natur bleiben dagegen auf die ›klassi-
schen‹ drei Raumdimensionen beschränkt, die jenen Teil unseres Uni-
versums aufspannen, den man ›Brane-Welt‹ nennt (siehe Abbildung
10.14), weil er die Struktur einer multidimensionalen Membran hat.
in höhere Dimensionen
Gravitation
Wärme
und Licht
Atome
Kernkraft
Radioaktivität
Magnetismus
S
N
dreidimensionale Brane-Welt
A b b ild u n g 1 0 .1 4
Die Naturkräfte, die die Elektrizität, den Magnetismus, die Radioaktivität und
die Kernreaktionen beherrschen, sind auf eine dreidimensionale
›Brane-Welt‹ beschränkt, während die Gravitation in allen Dimensionen wirkt
und entsprechend schwächer ist.
Kamerun
Äquatorial-
Guinea
Sangh
a
Libreville
Äquator
Kap
Lopez
Gabun
Moanda
lo
Ok
Mouila Franceville
o
ng
Ko
A b b ild u n g 1 1.1
Lage von Oklo in Gabun (Westafrika).
Wohin waren sie verschwunden? Es sah so aus, als wäre mit dem
Erz vor seinem jetzigen Abbau schon einmal ein Reaktor beschickt
worden, wobei sich der U235-Anteil reduziert hatte. Die französische
Atomenergie-Kommission erwog alle denkbaren Möglichkeiten.
Vielleicht waren die Proben mit gebrauchtem Brennstoff aus einem
Reaktor verunreinigt worden? Es gab aber keinerlei Anzeichen für
die intensive Radioaktivität, die damit verbunden gewesen wäre, zu-
dem fehlte auch – zumindest, wenn man den Büchern glaubte – kein
angereichertes Uranhexafluorid. Ein Diebstahl durch Terroristen
wurde ebenso ausgeschlossen wie Ablagerungen aus dem Weltall.
Auch alle anderen Möglichkeiten wurden untersucht. Vom Abbau in
Gabun über die dortige Aufbereitung und den Transport bis zur Ver-
arbeitung in Frankreich, bevor es zur Wiederaufbereitungsanlage
Pierrelatte gebracht wurde, stieß man auf nichts Auffälliges. Nach
und nach kamen dann die Experten auf die richtige Spur: Es schien
eine natürliche Ursache für das zu niedrige Verhältnis U235/U238 zu
geben, die in dem Uranerzlager selbst verborgen war.
Als man die Mine näher untersuchte, wurde endgültig klar, dass
das fehlende U235 nirgendwo anders als in den Flözen der Mine ver-
nichtet worden war. Die Möglichkeit, dass es durch eine chemische
Reaktion verschwunden war, während U238 zurückblieb, schied aus,
denn das U235/U238-Verhältnis wird durch die chemischen Prozesse
im Erdinnern nicht beeinflusst. Derartige Prozesse können dazu
führen, dass bestimmte Gegenden auf der Erde reich an Uran sind –
oder arm, wenn es ausgewaschen und fortgeschwemmt wird. Sie än-
dern aber nichts am Isotopenverhältnis, denn sie wirken unabhängig
vom Atomgewicht. Nur Kernreaktionen und der radioaktive Zerfall
kamen als Ursache in Frage (siehe Abbildung 11.2).
Den Forschern dämmerte langsam die überraschende Lösung des
Problems. Die Schichten mit dem abgereicherten Uranerz enthielten
in einem ganz bestimmten Verhältnis auch noch mehr als 30 andere
Atome, wie sie typischerweise bei der Kernspaltung auftreten: eine
Palette, die man aus Reaktorexperimenten kannte. Die Verhältnisse
unterschieden sich völlig von denen, die man natürlicherweise in
Gestein findet. Die Experten fanden in den Oklo-Minen also quasi
die Schmauchspuren bestimmter Kettenreaktionen, die sie schließ-
lich in sechs Lagerstätten nachweisen konnten. Einige Isotope der
Variationen über ein Thema 221
Spal-
tung n en
tr o
insta- Neu
ange- biler
regter
U235 Uran-
kern Uran-
kern Ne
Spalt- u tr
on
pro- en
Neutron
dukte
A b b ild u n g 1 1.2
Spaltung eines U235-Kerns.
Sa
nd
st
ein
Reaktor-
kern
Wasser-
dampf
Wasser
Urankonzentration
Sa unter 10 Prozent
nd
st
ein
uranreicher Flöz
Abbildung 11.3
Geologie des Oklo-Reaktors.
Das saure Wasser, das dazu nötig war, entstand nach einer gravieren-
den Veränderung in der Biosphäre der Erde: Vor etwa 2 Milliarden
Jahren änderte sich die Zusammensetzung der Atmosphäre, weil
sich blaugrüne Algen rasant vermehrten, die als erste Lebewesen
über Photosynthese verfügten. Durch ihre Aktivität stieg der Sauer-
stoffgehalt im Wasser, und ein Teil des Urans konnte in lösliches
Uranoxid verwandelt werden. In Oklo waren die Uranablagerungen
224 Das 1 × 1 des Universums
A b b ild u n g 1 1.4
Alexander Shlyakhter (1951–2000).11
226 Das 1 × 1 des Universums
200˚ C
Einfangquerschnitt in kb
150
100
500˚ C
50
0
–150 –100 –50 0 +50 +100 +150
Verschiebung der Resonanzenergie in meV
A b b ild u n g 1 1.5
Wahrscheinlichkeit des Neutroneneinfangs von Sm149 bei unterschiedlichen
Reaktortemperaturen in Abhängigkeit von Verschiebungen der Resonanzenergie.12
Einiges muss man noch zu den engen Grenzen für die Variation
der Naturkonstanten klarstellen:
(a) Die Ergebnisse stützen sich auf die Zeit vor 2 Milliarden
Jahren, als der Oklo-Reaktor kritisch war. Sie reichen also,
verglichen mit dem Alter der Erde (4,6 Milliarden Jahre)
und dem Alter des Universums (13,7 Milliarden Jahre),
nicht allzu weit zurück.
(b) Wenn sich die verschiedenen Konstanten gleichzeitig geän-
dert haben, kann das Gesamtergebnis anders ausfallen.
(c) Die Annahmen, auf welche Weise die Naturkonstanten zur
Lage des Resonanzniveaus beitragen, sind ebenso stark
vereinfacht, wie die Annahmen über die Temperatur im In-
neren des kritischen Reaktors.
Es ist damit weit enger als das zuerst angegebene. Wegen der Fehler-
grenze von ± 0,8 x 10-17/Jahr kann man aber eigentlich überhaupt
keine klare Aussage machen. Dazu müsste die Fehlergrenze deutlich
unter ± 0,2 x 10-17/Jahr gedrückt werden. Wenn man andererseits den
linken Ast der Kurven von Abbildung 11.5 heranzieht, ist ∆Er eindeu-
tig nicht Null, woraus man ableiten kann, dass sich die Feinstruktur-
konstante seit dem Oklo-Ereignis geändert hat. Das Ausmaß dieser
Änderung kann man abschätzen:17
Änderungsrate von α (oder αS) / Wert von α (oder αS) < 10-10/Jahr.
Untergrund-Spekulationen
Der Oklo-Reaktor war möglicherweise nicht der einzige. Die Bedin-
gungen, die herrschen müssen, damit eine Kettenreaktion aufrecht-
erhalten werden kann, sind zwar ungewöhnlich, aber durchaus nicht
völlig abwegig. Es kann gut sein, dass man andere Lagerstätten abge-
baut hat, ohne zu bemerken, dass sich dort einmal ein Reaktor be-
232 Das 1 × 1 des Universums
funden hatte. Vielleicht warten solche Plätze auch noch auf ihre
Entdeckung. Obwohl es Minen in Afrika und den USA (Colorado)
gibt, die einen Mangel an U235 aufweisen, der durch natürliche Kern-
reaktionen entstanden sein könnte, glaubt man aber nicht, dass es
sich um frühere Reaktoren handelt.
Die Entdeckung der natürlichen Kernreaktoren ist nicht nur für
das Studium der Naturkonstanten von
Dieses Salz ist vor 200 Millionen Jahren großer Wichtigkeit. Sie gibt den Kern-
durch uralte geologische Prozesse physikern auch die notwendigen Aus-
im deutschen Gebirge entstanden.
künfte über die zukünftige Stabilität
Verfallsdatum April 2003.
von nuklearem Abfall und über die Be-
Aufschrift auf einer Salzpackung25 schaffenheit von Plätzen, wo er für
lange Zeit unterirdisch eingelagert wer-
den kann. Vielleicht wird eines Tages erneut die sorgfältige chemi-
sche Buchführung eines Wissenschaftlers zu einer Reihe aufregender
Untersuchungen wie jenen führen, mit denen der Schleier vom Ge-
heimnis des Oklo-Reaktors gerissen wurde.
Wenn es auf der Erde natürliche Reaktoren geben kann, warum
dann nicht auch anderswo? Es ist verlockend, über eine neue lebens-
unterstützende Wärmequelle zu spekulieren, die vielleicht in ande-
ren Welten eine ungewöhnliche Rolle beim Anschub der biochemi-
schen Evolution gespielt haben könnte. Wir haben schon Fred
Hoyles Science-Fiction-Roman Comet Halley erwähnt, in dem die
Entstehung von Leben beschrieben wird, das im Innern eines Kome-
ten von natürlichen Kernreaktionen in Gang gesetzt und aufrecht-
erhalten wird. Vielleicht wird man bei der Suche nach Planeten oder
Monden in anderen Sonnensystemen auf ein Exemplar stoßen, auf
dem ein Oklo-Reaktor weit größeren Ausmaßes tätig war, das Innere
über lange Zeiten aufheizte und zur Entwicklung von komplexem
bakteriellem Leben führte, bis er erlosch und den Planeten schlafend
und äußerlich tot zurückließ.
Der Gedanke ist ernüchternd, dass das Zeitfenster der kosmischen
Geschichte, in dem Leben existieren kann, uns auch einige interes-
sante nukleare Konsequenzen auferlegt. Wir haben gesehen, dass
wegen der zwei unterschiedlichen Halbwertszeiten der beiden Urani-
sotope U235 in der Vergangenheit häufiger als heute war, während es
in der Zukunft immer seltener werden wird. Im letzten Jahrhundert
Variationen über ein Thema 233
haben wir in der Erdkruste Elemente entdeckt, mit denen wir die
Atombombe bauen können, wenn es uns nur gelingt, die aktiven
U235-Isotope von den häufigeren U238-Isotopen zu trennen. Bei einem
ersten Auftritt des Menschen auf der Erde zu einer viel früheren Zeit
(oder einem Auftritt erst in ferner Zukunft) wären die Aussichten,
Kernwaffen zu entwickeln und anzuwenden, völlig anders gewesen.
Johann von Neumann, einer der bemerkenswertesten Wissenschaft-
ler des 20. Jahrhunderts, analysierte die Lage zu Beginn des Nuklear-
zeitalters sehr weitblickend:
Wäre der Mensch mit seiner Technologie schon vor einigen Milliarden Jahren
auf der irdischen Bühne erschienen, wäre die Abtrennung von U235, das für die
Herstellung der Bombe entscheidend ist, weit leichter gewesen als heute. Wäre
er später aufgetreten, sagen wir einmal 10 Milliarden Jahre später, wäre der
Anteil an U235 zu gering gewesen, um ihn praktisch nutzen zu können.26
Rückblicke
Stellen wir uns vor, dass ein Nachfolgemodell des Hubble Space Tele-
scope Zeichen intelligenter Lebewesen von einem Sternensystem ir-
gendwo in unserer Galaxis aufgefangen hat. Wir senden gebündelte
Radiowellen in die entsprechende Richtung und nach ein paar Jahren
erhalten wir eine Antwort. Ein langsamer Austausch von Botschaften
beginnt, die von den jeweiligen Adressaten mühelos entschlüsselt
werden. Nach und nach erfahren wir Seltsames und (zumindest für
einige von uns) auch Enttäuschendes über unsere extraterrestrischen
Brieffreunde: Sie interessieren sich nur für Astronomie. Es scheint in
ihrer Zivilisation kein anderes Thema zu geben. Alle Fortschritte in
der Mathematik, der Computertechnik und den Naturwissenschaf-
ten dienen bei ihnen nur dem einen Ziel, mehr über die Sterne heraus-
zufinden. Wir wissen nicht, wie es dazu gekommen ist. Vielleicht gibt
es tiefe religiöse Zwänge. Es ist sicher, dass die fernen Wesen auch an-
dere technische Dinge treiben, aber sie interessieren sich nicht beson-
ders dafür – es sei denn, sie haben auch kosmische Anwendungen.
Während die irdischen Astronomen über diese Schieflage nicht
unglücklich sind, ist es für viele andere eine Pleite, nur Fachidioten
entdeckt zu haben. Man beschließt, dass eine der Fragen, die man
mit den interstellaren Korrespondenten diskutieren könnte, die
nach den Werten der Naturkonstanten ist. Bei diesem Thema kann
man ziemlich sicher gehen, über die gleichen Dinge zu sprechen. Al-
lein schon die ausgetauschten Radiosignale sind ein Beweis, dass es
gemeinsame elektromagnetische Erfahrungen gibt. Es dürfte nicht
Der Griff nach den Sternen 235
allzu schwer sein, ihnen zu sagen, was wir unter der Feinstruktur-
konstante verstehen. Man könnte die Aliens bitten, verschiedene En-
ergieniveaus in bestimmten Atomen und Molekülen zu messen. Die
Antwort würde uns mit Lichtgeschwindigkeit erreichen. Wir würden
es genau so machen und ihnen unsere Messergebnisse schicken.
Da all dies bis jetzt noch nicht passiert ist, weiß ich nicht, wie der
Vergleich der Daten ausgehen würde. Aber unsere kleine Science-Fic-
tion-Geschichte macht deutlich, wie uns Informationen, die wir aus
fernen Gebieten unseres Universums zusammentragen, eine Überprü-
fung erlauben, ob die physikalischen Gesetze unbegrenzt gelten und
die Naturkonstanten wirklich überall gleich sind. Was wäre, wenn wir
die Aliens umgehen könnten und unsere Informationen über die Na-
turkonstanten direkt aus den Fernen des Alls zu beziehen versuchen?
Erstaunlich aber wahr: Diese Fiktion ist schon Wirklichkeit ge-
worden, und die ungeheuren Aufwendungen für eine Kommunika-
tion mit extraterrestrischen Wesen und die Mühen bei der Entziffe-
rung ihrer Botschaften haben sich erübrigt. Wenn wir einen Fixstern
beobachten, erhalten wir nicht nur Informationen aus großer Ferne,
sondern auch aus längst vergangenen Zeiten. Da sich das Licht mit
einer zwar großen, aber begrenzten Geschwindigkeit ausbreitet, be-
nötigt es zur Überwindung der ungeheuren Distanzen zu den Ster-
nen eine lange Zeit. Von der Sonne zur Erde sind es etwa 8 Minuten,
von den nächsten Fixsternen – Alpha und Proxima Centauri – bereits
4,2 Jahre, während es von den am weitesten entfernten Objekten, die
beobachtet werden können, 13 Milliarden Jahre und mehr sind. Das
Licht von diesen fernen Galaxien kann uns sicher wichtige Informa-
tionen über die physikalischen Prozesse liefern, durch die sie in
grauer Vorzeit entstanden sind.
George Gamow war einer der ersten, der auf die Idee kam, astrono-
mische Beobachtungen zur Untersuchung der Frage heranzuziehen,
ob die Naturkonstanten wirklich konstant sind.2 Er wollte insbeson-
dere die Bestätigung für eine Variation der Feinstrukturkonstante
finden, die Diracs Koinzidenzen der großen Zahlen erklären würde,
und dann überprüfen, ob diese Variation einen Beitrag zur Rotver-
schiebung des Lichts von fernen Galaxien liefert. Die Expansion des
Universums bedeutet, dass sich die Galaxien von uns entfernen und
daher ihr Licht von unseren Fernrohren mit einer niedrigeren Fre-
236 Das 1 × 1 des Universums
quenz eingefangen wird als der, mit der es ausgesandt wurde: Die
Farbe des Lichts ist zum roten Ende des Spektrums hin verschoben,
ein Vorgang den man Rotverschiebung3 nennt. Gamow glaubte ei-
nen Weg gefunden zu haben, wie man aus der Rotverschiebung auf
die Werte der Naturkonstanten schließen kann, die sie in dem Mo-
ment hatten, als der Lichtstrahl seine Reise vom fernen Stern in das
irdische Teleskop begann. In Abbildung 12.1 ist ein Telegramm abge-
bildet, das Gamow an Ralph Alpher, einen seiner früheren Studen-
ten, geschickt hat. Er berichtet darin von seiner neuen Idee und von
einigen der Schlussfolgerungen, die man aus ihr ziehen könnte.
A b b ild u n g 1 2 .1
»Triplet paper flies to Washington …«:
Gamows Telegramm an seinen früheren Studenten Ralph Alpher.4
Der Griff nach den Sternen 237
Man muss nun auf Erden die beiden Wellenlängen λ1 und λ2 äußerst
genau messen und mit den Messungen am Licht des fernen Objekts
vergleichen. Hat man die linken Seiten der Gleichung für beide Mes-
sungen bestimmt, kann man sie durcheinander dividieren und er-
hält
[(λ1 – λ2) / (λ1 + λ2)]Erde / [(λ1 – λ2) / (λ1 + λ2)]Quasar = αErde2 / αQuasar2
Absorption
Linienauf-
spaltung
Wellenlänge
A b b ild u n g 1 2 .2
Spektrallinien eines typischen Dublett-Systems.
Schon wenig später untersuchten Bahcall und Schmidt8 ein Paar von
Sauerstoff-Emissionslinien in den Spektren von fünf Galaxien, die
Radiowellen aussenden. Ihre Rotverschiebung von 0,2 besagt, dass
sie ihr Licht vor etwa 2 Milliarden Jahren auf den Weg schickten –
ungefähr zu der Zeit, als auf der Erde der Oklo-Reaktor aktiv war.
Das Ergebnis glich dem von 3C191, wobei die Genauigkeit jetzt weit
größer war. Nach diesen Untersuchungen ist die Feinstrukturkon-
stante seit 2 Milliarden Jahren konstant und es gilt
α2 / α0 = 1,001 ± 0,002
kann. Man vergleicht die Rotverschiebung des Lichts, das von Koh-
lenmonoxid und Wasserstoff in der gleichen Wolke ausgesandt
wird.9 Auch bei diesen radioastronomischen Untersuchungen kann
man den irdischen Wert von α mit dem Wert der astronomischen
Quelle vergleichen.10 Aus Daten von Objekten mit den Rotverschie-
bungen z = 0,25 und z = 0,68 erhielt man
Eine der Schwierigkeiten dieser Methode ist, dass man sicher sein
muss, Atome und Moleküle mit der gleichen Bewegung aus der glei-
chen Wolke zu untersuchen.
Bei einer dritten Methode untersucht man die Rotverschiebung von
Radiowellen im 21 cm-Band, die von Atomen der gleichen Wolke ausge-
schickt werden und optische Energieübergänge aufweisen. Das Verhält-
nis der Frequenzen dieser Signale erlaubt es, eventuelle Änderungen ei-
ner weiteren Kombination von Konstanten zu untersuchen, der Größe
A = α2 mel/mpr
mit mel = Masse des Elektrons und mpr = Masse des Protons. Beob-
achtungen einer Gaswolke11 mit einer Rotverschiebung von 1,8 führ-
ten für die Änderung von A zu
Absorption des
Quasar-Lichts
Quasar-Licht
Quasar
Erde
Interstellare
Gaswolke
A b b ild u n g 1 2 .3
Absorption von Quasar-Licht durch chemische Elemente
in einer interstellaren Wolke zwischen dem Quasar und der Erde.
Die neue Methode hat eine Reihe großer Vorzüge: Zunächst einmal
gibt es eine Vielzahl von Linienpaaren, die untersucht werden kön-
nen. Dazu kommt, dass man aus dem umfangreichen Datenmaterial
die Linienpaare aussuchen kann, deren Abstand am empfindlichsten
auf eine zeitliche Änderung von α reagiert.12 Darüber hinaus hat die
Methode noch einen ungewöhnlichen Vorzug: Man kann die Diffe-
renz der Wellenlänge, die man aus den astronomischen Daten und
im Labor bestimmt, auch mithilfe umfangreicher Computersimula-
tionen berechnen. Sie geben an, wie sich die Lage eines Energieni-
veaus verändert, wenn man α variiert.13 Die Lageverschiebungen un-
terscheiden sich je nach Linienpaar deutlich. Erhöht man den Wert
von α um 10-6, wird in einigen Fällen der Abstand zunehmen, in eini-
gen abnehmen und bei anderen gleich bleiben. Das Ensemble der
242 Das 1 × 1 des Universums
Schwankende Konstanten
Die MM-Methode erwies sich als ideal, um die neuen Entwicklungen
in der extragalaktischen Astronomie, die Riesenteleskope und die
neuen Detektoren optimal zusammenzuführen. Die Ergebnisse, die
unser Team – John Webb, Mike Murphy, Victor Flambaum, Vladimir
Dzuba, Chris Churchill, Michael Drinkwater, Jason Prochaska, Art
Wolfe und ich selbst, dazu Wallace Sargent, der weitere Daten beitra-
gen konnte – gesammelt und analysiert hat, waren für uns unerwar-
tet und hatten weitreichende Folgen. Wenn sich als wahr erweist,
was sie zu belegen scheinen, sind sie nach den Worten von Robert
Scherrer »die aufregendste Entdeckung der letzten 50 Jahre«15.
Schon die ersten Untersuchungen mit der MM-Methode im Jahr
199916 belegten eine Abweichung der Feinstrukturkonstante in der
Vergangenheit mit
∆A/A = (Az – A0)/A0 = (-1,09 ± 0,36) x 10-5
10
(⌬␣Ⲑ␣) in Einheiten von 10-5
–10
1 2 3
Rotverschiebung
244 Das 1 × 1 des Universums
–0,5
–1
–1,5
0,5 1 1,5 2 2,5 3
Rotverschiebung
A b b ild u n g 1 2 .4
Änderung der Feinstrukturkonstante α in Abhängigkeit
von der Rotverschiebung und damit vom Alter des Universums.
Auf den ersten Blick sieht es so aus, als belegten diese dramatischen
Ergebnisse eine weit größere Änderungsrate als die Untersuchungen
am Oklo-Reaktor. Bei genauerem Hinsehen stehen aber die Ergeb-
nisse nicht in direktem Widerspruch. Wenn man einmal alle Unge-
wissheiten beiseite lässt, die bezüglich der genauen Abhängigkeit der
Neutroneneinfangrate im Oklo-Reaktor von der Feinstrukturkon-
stante bestehen, so ist noch zu beachten, dass die Ergebnisse von
Oklo für die Zeit vor 2 Milliarden Jahren gelten. Das entspricht einer
Der Griff nach den Sternen 245
tensatz, was so weit gehen kann, dass man letzten Endes überhaupt
nicht das gemessen hat, was man eigentlich hatte messen wollen.19
Systematische Fehler stellen für die gesamte experimentell arbei-
tende Naturwissenschaft eine Herausforderung dar. In irdischen La-
boratorien ist es üblich, die Experimente auf verschiedene Art zu wie-
derholen, wobei man jeweils die Messanordnung verändert und damit
möglichst viele systematische Fehler
Ich hoffe, dass ich bei den Experimental- auszuscheiden versucht. In der Astro-
physikern kein allzu großes Ärgernis nomie gibt es aber ein Problem: Wir
errege, wenn ich hinzufüge, dass es auch verfügen nur über ein einziges Univer-
ein gesunder Grundsatz ist, dass man
kein übergroßes Vertrauen auf Beobach-
sum, mit dem wir zudem keine Experi-
tungsergebnisse setzen soll, solange mente anstellen können. Wir sind auf
sie nicht durch die Theorie bestätigt eine Rolle als bloße Beobachter be-
worden sind. schränkt, die nehmen müssen, was ih-
Arthur S. Eddington20 nen geboten wird und nur versuchen
können, die Zusammenhänge zwischen
den vielen Einzelfakten herauszufinden. Gibt es beispielsweise im
Licht aller interstellarer Gaswolken mit bestimmten Rotverschiebun-
gen bestimmte Abweichungen bei bestimmten Linienpaaren? Man
kann versuchen, systematische Fehler zu vermeiden, stößt dabei aber
vielleicht auf Grenzen. Ein Beispiel: Wenn man versucht, ein Verzeich-
nis aller Galaxien anzulegen, wird sofort klar, dass die helleren und
damit leichter zu erkennenden das Verzeichnis dominieren. Dem
kann man nichts entgegensetzen, was das Verzeichnis ›gerechter‹ ma-
chen würde. Ein noch größeres Problem stellen aber systematische
Fehler dar, von denen man gar nichts weiß. Die Daten, die man zur
Untersuchung möglicher Variationen der Feinstrukturkonstante her-
angezogen hat, wurden natürlich umfangreichen Prüfungen unterzo-
gen, um die Einflüsse aller nur denkbaren systematischen Fehler zu
eliminieren. Bis jetzt hat man nur eine signifikante Fehlerquelle ge-
funden. Wenn man die durch sie bewirkte Verfälschung der Daten
berücksichtigt, treten die gefundenen Variationen der Feinstruktur-
konstante aber sogar noch besser in Erscheinung.21
Die Reaktion der meisten Physiker und Chemiker auf die Vorstel-
lung, dass sich die Feinstrukturkonstante im Laufe der Milliarden
Jahre geändert haben könnte, ist irgendwo zwischen Horror und
völligem Unglauben angesiedelt. Alle chemischen Theorien basieren
Der Griff nach den Sternen 247
A b b ild u n g 1 2 .5
Blick in den Weltraum (und in die Vergangenheit) bis zu den Quasaren und wei-
ter in die Zeit, als der Raum noch nicht strahlungsdurchlässig war und der ho-
hen Temperaturen wegen noch keine Atome existieren konnten (300 000 Jahre
nach dem Big Bang; das Universum war zu dieser Zeit
tausendmal kleiner als heute).
letzten Mal eine Wolke durchdrang, bis in die Epoche der Quasare
stetig hätte zunehmen müssen. Das ist nicht gerade ein überzeugen-
des Ergebnis, wenn wir an die zahlreichen Varianten der Entste-
hungsgeschichte der Galaxien denken. Es gibt so viele andere kleine
Einflüsse auf die Temperaturverteilung, die alle einleuchtend erklärt
werden können und insgesamt Auswirkungen haben, die denen ei-
ner verminderten Feinstrukturkonstante gleichen. Ohne zusätzliche
Informationen über Details, nach denen genauer gesucht werden
sollte, erscheint dieser Weg für die Bestimmung von α in der Urzeit
des Universums nicht allzu vielversprechend. Aber möglicherweise
ändert sich die Lage, wenn die neuen Karten der Hintergrundstrah-
lung und ihrer Variationen, die der MAP-Satellit der NASA zur Erde
sendet, vollständig analysiert sind.
Wir wären damit in die Lage, die Theorie anhand von Beobachtun-
gen zu überprüfen.
Ändern sich die Konstanten G und α nicht mit der Zeit, kann man die
Geschichte unseres Universums recht einfach beschreiben. Während
der ersten 300 000 Jahre war die Strahlung die vorherrschende Energie
im Universum. Die Temperatur lag oberhalb 3 × 109 K und war damit
für die Existenz von Atomen und Molekülen zu hoch. Das Universum
stellte eine trübe Suppe aus Elektronen, Photonen und Kernen dar.
Man nennt diesen Zeitabschnitt die ›Strahlungs-Ära‹ des Univer-
sums. Nach 300 000 Jahren kam es dann zu einer gewaltigen Umstel-
lung. Die Materie hatte aufgeholt und schließlich die Strahlung als
Energieform überrundet. Die Temperatur fiel bald tief genug, um die
Bildung der ersten Atome und Moleküle zu erlauben. Die Expansi-
onsrate des Universums wurde nun vorwiegend davon bestimmt, wie
dicht es mit Wasserstoff- und Heliumkernen angefüllt war. Im Laufe
der nun folgenden 13 Milliarden Jahre bildeten sich immer kompli-
ziertere Strukturen heraus: Galaxien, Sterne, Planeten und schließlich
Menschen. Diesen Zeitabschnitt der Geschichte des Universums
nennt man die ›Materie-Ära‹ oder ›Staub-Ära‹. Es ist durchaus mög-
lich, dass wir diese Ära schon hinter uns haben, denn wenn sich das
Universum schnell genug ausdehnt, verliert schließlich die Materie
ihre bestimmende Rolle. Die Expansion löst sich aus den bremsenden
Fesseln der Schwerkraft – wie eine Rakete, die mit mehr als der Flucht-
geschwindigkeit von der Erde wegfliegt. Wir sprechen dann von einer
Ära, die von der ›Raumkrümmung‹ beherrscht wird, da jene schnelle
Expansion zu einer negativen Krümmung des astronomischen Raums
führt, die in etwa der Gestalt eines Pferdesattels ähnelt.
Drei Abläufe der Expansion (siehe wieder Abbildung 8.3) sind vor-
stellbar: Das ›geschlossene‹ Universum dehnt sich zu langsam aus, um
die bremsende Wirkung der Schwerkraft zu überwinden und kollabiert
schließlich zu einem Gebilde mit extrem hoher Dichte. Beim ›offenen‹
Universum überwiegt die Expansionsenergie die Schwerkraft. Die Ex-
pansion geht ewig weiter und wird dabei immer rasanter. In einem Uni-
versum zwischen diesen beiden Extremen, das man auch ›flaches‹ oder
›kritisches‹ Universum nennt, sind Expansionsenergie und Schwerkraft
im Gleichgewicht, und es dehnt sich weiterhin gleichmäßig aus. Unser
Universum liegt äußerst nah an diesem ›kritischen‹ Zustand.
252 Das 1 × 1 des Universums
Wir
befinden
uns hier!
A b b ild u n g 1 2 .6
Drei Phasen der Expansion eines Universums wie dem unseren,
dessen Energie derzeit zu 70 Prozent aus einer unbekannten Form
von Vakuumenergie besteht, die die Expansion beschleunigt.
Was wird aus diesem Szenario, wenn sich α ändert? Die Expansion
ist von einer Änderung der Feinstrukturkonstante im Wesentlichen
unabhängig, sofern sie so langsam ist, wie es die Beobachtungen be-
stätigen: um eine Million Mal langsamer als die Expansion des Uni-
Der Griff nach den Sternen 253
Zeit
A b b ild u n g 1 2 .7
Änderungen der Feinstrukturkonstante in den drei Expansionsphasen
unseres Universums.
Das Ergebnis ist faszinierend und deckt sich recht gut mit allen Beo-
bachtungen. Unser Universum begann sich ab einer Rotverschie-
bung von etwa 0,5 beschleunigt auszudehnen, daher kann man seit
der Zeit des Oklo-Reaktors mit keiner signifikanten Änderung von α
rechnen. Im Zeitabschnitt, der durch die Quasar-Beobachtungen
abgedeckt wird, deutet das Modell hingegen auf ein niedrigeres α –
genau, wie es die Beobachtungen belegen. Gehen wir dann noch
254 Das 1 × 1 des Universums
Strahlungs-
Ära
Materie- Krümmungs-
Ära Ära
Zeit
A b b ild u n g 1 2 .8
Änderungen der Gravitationskonstante G in den drei Expansionsphasen
unseres Universums.
Der Griff nach den Sternen 255
Multiversen
Unsere Ausflüge auf den neuen Wegen, die sich uns bei den Versu-
chen eröffnet haben, die Naturkonstanten zu verstehen und zu er-
klären, haben eine Menge großer Fragen über die Natur der Dinge
aufgeworfen. Wir haben gesehen, dass sich die Kosmologen einge-
hend mit ›anderen‹ Welten befassen, deren Naturkonstanten sich
von denen in unserer Welt unterscheiden. Es hat den Anschein, dass
schon kleine Änderungen bei der einen oder anderen Konstante Le-
ben unmöglich machen würden. Damit stellt sich natürlich die
Frage, ob diese anderen Welten in irgend einem Sinne ›existieren‹
und, wenn es sie gibt, worin sie sich von der Welt unterscheiden, die
wir vor Augen haben und (zumindest ein wenig) kennen. Die Exis-
tenz alternativer Welten würde auch den ›Beweis‹ für einen Schöp-
fungsplan zunichte machen, der sich auf die ›offensichtlich‹ so feine,
Leben schenkende Abstimmung unserer Welt gründet. Denn wenn
es alle nur denkbaren Alternativen gibt, so leben wir eben in einer
von ihnen, die unsere Existenz zulässt. Wir können sogar noch wei-
ter gehen und eine Wette wagen, dass wir in der wahrscheinlichsten
Sorte lebensfördernder Universen leben.2 Der wohl Erste, der von
›vielen‹ Welten ausging, ist der Biologe Charles Pantin aus Cam-
bridge. Er wollte für seine Überlegungen zu den besonderen Struk-
tureigenschaften des Universums, seinen Gesetzen und den Natur-
konstanten einen Rahmen finden, indem er ein Ensemble aus vielen
Welten postulierte, von denen jede ganz bestimmte physikalische
Eigenschaften aufweist:
Neue Welten – neue Rätsel 257
Wenn wir sicher sein könnten, dass unser Universum nur ein Exemplar aus
einer unendlichen Zahl von Universen mit jeweils anderen Eigenschaften ist,
könnten wir vielleicht eine Lösung in Analogie zum Prinzip der natürlichen
Auslese angeben: Nur in bestimmten Universen, zu denen zufällig auch unse-
res gehört, sind die Bedingungen für Leben geeignet. Und wenn diese Bedin-
gungen nicht erfüllt sind, gibt es auch niemand, der das feststellen kann.3
Eines der Probleme, sich ein solches Multiversum aus zahlreichen Uni-
versen auch nur vorzustellen, besteht darin, dass es unzählige Möglich-
keiten von Andersartigkeit gibt. Wir wissen aus der Mathematik, dass es
jenseits der Logik vom ausgeschlossenen Dritten, die wir üblicherweise
benützen, noch andere Logiken gibt, nach denen beispielsweise Aussa-
gen sowohl wahr als auch falsch sein können. Ganz ähnlich gibt es auch
unterschiedliche mathematische Strukturen, unterschiedliche Natur-
gesetze, andere Werte der Naturkonstan-
ten, Universen mit unterschiedlich vielen Dass uns das Universum so einmalig
Raum- und Zeitdimensionen, andere erscheint, rührt in erster Linie von den
Anfangsbedingungen und andere Zu- vielen Alternativen her, die wir uns
vorstellen können.
fallsresultate komplexer Ereignisketten.
4
Es sieht so aus, dass das Ensemble aller Charles Pantin
möglichen Welten zumindest alle denk-
baren Permutationen und Kombinationen dieser unterschiedlichen
Parameter enthalten muss. Dieses Füllhorn von Möglichkeiten zu be-
greifen ist sicher eine immens schwere Aufgabe.
Wir haben schon gesehen, was sich ereignen kann, wenn man für
die eine oder andere mögliche Welt konkrete Änderungen vorgibt,
beispielsweise mehr Dimensionen oder andere Werte der entschei-
denden Konstanten festlegt. Wir wissen allerdings nicht, ob diese
anderen Welten auch wirklich funktionieren könnten. Handelt es
sich tatsächlich um erlaubte Alternativen – oder sind sie so unwahr-
scheinlich wie eckige Kreise? Es könnte sein, dass die noch zu fin-
dende Theorie für Alles den Bauplänen anderer Welten große Ein-
schränkungen auferlegt. Dass wir uns so viele andere Welten
vorstellen können, die durch kleinere oder größere Naturkonstanten
definiert werden, ist vielleicht nur Ausdruck für unsere Ignoranz ge-
genüber der logischen Konsistenz einer Theorie für Alles.
Man kann sich der Vorstellung von anderen Universen auf zwei
Wegen annähern. Der konservative Weg nimmt unser Universum als
258 Das 1 × 1 des Universums
sein befindet, wird uns wenig anderes einfallen als ›im Programm‹.
Es ist Teil der Software, die auf der Maschine läuft, und besteht aus
einer Ansammlung komplexer Theoreme, die, ableitbar aus den An-
fangsbedingungen, die Programmlogik darstellen. Diese Art von Le-
ben ›existiert‹ im mathematischen Formalismus.
Diese Beispiele sollen zeigen, wie sich Aspekte von Leben als Com-
puterprogramm verwirklichen lassen. Unsere Überlegungen führen
zu dem Schluss, dass entsprechend definiertes ›Leben‹, wenn es in
einem mathematischen Formalismus existieren kann, auch wirklich
in vollem Sinne existiert. Das Ganze ist dem berühmten ontologi-
schen Gottesbeweis eines Anselm von Canterbury nicht unähnlich.
Man könnte nun fragen, ab welcher Stufe von Komplexität es
möglich ist, von Leben innerhalb eines mathematischen Formalis-
mus zu sprechen. Die einzige merkliche Schranke taucht auf, wenn
wir die Komplexität der Arithmetik erreichen. An diesem Punkt ist
Selbstreferenzialität möglich: Es kann zu einer eindeutigen Zuord-
nung der Arithmetik und der Sätze über die Arithmetik kommen,
was bei einfacheren Strukturen wie der Geometrie nicht möglich ist.
Zellulare Automaten wie in John Conways ›game of life‹8 erweisen sich
in ihrer logischen Struktur als der Arithmetik gleichwertig. Es ist be-
merkenswert, dass mit dem Erreichen der Komplexität von Arithme-
tik die ›Gödelsche Unvollständigkeit‹9zu einer Eigenschaft des Sys-
tems wird. Einige Autoren, insbesondere John Lucas und Roger
Penrose, haben die Vermutung geäußert, dass diese Eigenschaft mög-
licherweise ein wesentliches Merkmal von Bewusstsein ist. Wenn das
stimmt, ist die Komplexitätsschranke, die man beim Erreichen der
Arithmetik überschreitet, das niedrigste Niveau, ab dem ›bewusste‹
Informationsverarbeitung in einem logischen System beginnen
kann. Interessant ist auch, diese untere Schranke für selbstreferenzi-
elle Komplexität in logischen Systemen mit der unteren Schranke zu
vergleichen, die vor dem Entstehen von Komplexität in diskreten
Zellautomaten zu überwinden ist, wie sie von Stephen Wolfram in A
New Kind of Science diskutiert werden. Einfache eindimensionale Al-
gorithmen mit Regeln für die unmittelbaren Nachbarn können
Komplexitätsniveaus erreichen, die auch nicht übertroffen werden,
wenn man sich in höhere Dimensionen begibt, komplexere Regeln
aufstellt oder zufällige Störungen und Mittelbildung zulässt.
Neue Welten – neue Rätsel 261
›Imaginäre‹ Universen sind so viel schöner als unser dumm konstruiertes ›rea-
les‹. Aber die meisten der schönen Früchte, die den Launen eines Vertreters
der angewandten Mathematik entspringen, müssen – traurig, aber wahr – so-
fort nach ihrer Schöpfung aufgrund eines hinreichenden Grundes zurückge-
wiesen werden: Sie stehen in Widerspruch zu den Fakten.11
möglicher Welten gibt, in denen die Sonne morgen nicht aufgeht, sonst
aber alles so ist wie in unserer lebensfördernden Welt – was sollen wir
dann daraus schließen, dass bei uns die Sonne morgen doch aufgeht?
Diese Frage ist nicht so paradox wie sie auf den ersten Blick er-
scheint. Wir müssen einen Weg finden, um die Wahrscheinlichkeit
der verschiedenen Geschichtsverläufe herauszufinden, wobei es
nicht ausreichen dürfte, sie einfach nur zu zählen. Die Universen, in
denen die Geschichte lange Zeit wohlgeordnet verläuft, aber in ei-
nem bestimmten Moment in Chaos umschlägt, müssen ganz be-
stimmte Konstruktionsmerkmale aufweisen. Diese sind der Grund
dafür, dass diese Universen weniger wahrscheinlich als die anderen
sind, in denen alles weiter seinen geregelten Gang geht.
Die anderen Welten, mit denen wir uns gerade beschäftigt haben,
sind für uns so fiktiv wie die Schattenbilder Platons. Ihre Existenz
hat nichts von dem, was wir unter realer ›Existenz‹ eigentlich verste-
hen. Sie sind mehr virtuell als real. Irgendwie lebt das Leben in ma-
thematischen Formalismen oder in einem Computerprogramm
nicht wirklich. Vielleicht leiden ja alle ›bewussten‹ Informations-Ver-
arbeiter in diesen Formalismen unter denselben Wahnvorstellungen
von Größe und Einmaligkeit. Aber wir wollen nun annehmen, dass
mit ihnen alles in Ordnung ist – und lieber zu konkreteren En-
sembles anderer Welten übergehen.
a)
b)
Energie
A B C D E
Feldgröße
A b b ild u n g 1 3 .1
a) Universum mit Regionen, die auf unterschiedliche Weise eine Inflati-
onsphase durchmachen.
b) Der niedrigste Energiezustand der Materie am Ende einer Inflation
kann verschieden ausfallen. Das hat zur Folge, dass die Zahl und die
Stärke der Naturkräfte je nach dem von der Materie erreichten Mini-
mum verschieden sein wird.
264 Das 1 × 1 des Universums
Die moderne Suche nach einer Theorie für Alles lässt Raum für
andere Welten. Man hat sich oft vorgestellt, dass eine solche ultima-
tive Theorie auch alle Naturkonstanten bestimmen wird. Das er-
scheint inzwischen aber eher unwahrscheinlich, und man vermutet
nun, dass nur ein Teil der Naturkonstanten durch die strikte, innere
Logik der Theorie absolut festgelegt wird, während der Rest ver-
schiedene Werte annehmen kann, die das Ergebnis symmetriebre-
chender Zufallsprozesse sind. Wir waren in Kapitel 8 mit einer sol-
chen offenen Zukunft konfrontiert und müssen, wie wir gesehen
haben, die anthropische Auslese heranziehen, um zu erklären, wa-
rum bei uns die Werte der Naturkonstanten in einem engen, lebens-
fördernden Bereich liegen.
Bis jetzt waren wir damit zufrieden, Ensembles anderer Welten zu
schaffen, indem wir an Teilen unserer eigenen Welt herumgebastelt
haben und ihre natürliche Tendenz ausnützen konnten, dass die
Realität von Ort zu Ort verschieden ausfällt. Es ist nun an der Zeit,
weiterreichende Spekulationen anzustellen und Wege zur Änderung
der Naturkonstanten zu überlegen, die alle Möglichkeiten umfassen.
Dazu wollen wir die Zwänge der gängigen Physik verlassen und uns
in das Reich fantastischerer Vorstellungen begeben.
Grenzenlose Welten
Bevor man den selbst-reproduktiven Charakter des ewig inflationären
Universums14 erkannt hatte, war man davon ausgegangen, dass man
die Inflation vielleicht in einem Teil des Universums anregen kann,
indem man dort bestimmte Zusammenstöße von Elementarteilchen
mit hohen Energien arrangiert – ein Versuch, den Zufall auszuschal-
ten. Das Szenario ewiger Inflation beruht darauf, dass nichts arran-
giert werden muss. Das Universum bringt die kontinuierlichen Infla-
tionsperioden zustande, ohne dass es intelligente Hilfe braucht und
ohne dass unintelligente Unglücksfälle eine Rolle spielen.
Was aber, wenn sich das Universum bis in alle Ewigkeit in seinen
Inflationsphasen immer wieder neu erfindet? Vielleicht hat es in Re-
gionen, die sich in der Vergangenheit inflationär ausgedehnt haben,
Neue Welten – neue Rätsel 267
Größe
Zeit
A b b ild u n g 1 3 .2
Oszillierendes Universum,
in dem nach jedem Big-Crunch ein neuer Zyklus beginnt.
Größe
Zeit
A b b ild u n g 1 3 .3
Oszillierendes Universum, in dem die Zunahme der Entropie den jeweils nächs-
ten Zyklus größer werden lässt. Voraussetzung ist die Gültigkeit
des Energieerhaltungssatzes.
Das ist recht interessant, denn das Universum wird sich in diesem
Fall auf lange Zeit gesehen immer mehr dem Zustand der kritischen
Expansion nähern. Es gibt aber bei der Geschichte noch einen weite-
ren Dreh. Mariusz Dąbrowski hat zusammen mit mir gezeigt, dass
aus dem beobachteten Wert der kosmischen Vakuumenergie, die für
die beschleunigte Expansion des Universums sorgt, ein Ende der
Oszillationen folgt und das Universum dann in alle Zukunft be-
schleunigt weiter expandiert (Abbildung 13.4).22
Größe
Zeit
A b b ild u n g 1 3 .4
Oszillierendes Universum mit einer kleinen positiven kosmologischen
Konstante, die dazu führt, dass die Expansion des Universums beschleunigt wird
und die Oszillationen enden.
Neue Welten – neue Rätsel 271
Das Endresultat ist immer, dass das Universum mit seinem letzten
Satz von Naturkonstanten auskommen muss und in einem Zustand
expandiert, in dem die Vakuumenergie in einem fein austarierten
Gleichgewicht mit den anderen Energieformen steht. In der Tat: Es
sieht dann ein wenig aus wie unseres.
zen zerstören und damit den Baum des Lebens in ferner Zukunft
seiner Blätter berauben und alles Leben auslöschen? Sind unsere
Konstanten mit der Expansionsrate unseres Universums gekoppelt
oder sind sie wirklich konstant – und damit eine isolierte Enklave in
der Entwicklung der Komplexität und des Lebens, des Wirbels der
Sterne und Galaxien um uns herum? Entwickeln sie sich weiter und
ändern sie sich von Zyklus zu Zyklus eines Universums, dessen Ge-
schichte weder Anfang noch Ende hat, eines Universums, das alle
Möglichkeiten durchspielt und ein Multiversum aller denkbaren
Welten hervorbringt, die alle in sich konsistent sind, aber meist ohne
Leben und ihrer eigenen Existenz nicht bewusst?
Große Rätsel – die aber ihren Ursprung in kleinen Rätseln haben.
Wir haben unseren Blick auf die physikalische Realität Stufe für
Stufe erweitert, haben das Geflecht von Verbindungen zwischen
ganz unterschiedlichen Gebieten aufgedeckt und erkannt, dass das
Universum einzig auf Zahlen beruht. Und Zahlen verstehen wir, we-
nigstens zum Teil. Das mag für den einen oder anderen enttäu-
schend sein. Aber obwohl die Naturkonstanten Zahlen sind, sind sie
nicht nur reine Zahlen, und sie sind nicht nur Zahlen. Sie sind die
Barcodes der letzten Wirklichkeit, die PINs und TANs, die uns das
Tor zu den letzten Geheimnissen des Universums öffnen werden –
eines Tages.
Anmerkungen
Kapitel 1
1 Siehe Bryan Appleyards Buch Der halbierte Mensch und Václav Havels
Rede zur Verleihung der Philadelphia Liberty Medal am 4. Juli 1994
(http://www.hrad.cz/president/Havel/speeches/index_uk.html).
Havel schreibt der Naturwissenschaft und der von ihr angeschobenen
»technologischen Zivilisation« die Verantwortung für all das Uner-
wünschte in der Welt (und insbesondere in den früher kommunistischen
Staaten Osteuropas) zu. Seine Hoffnung setzt er darauf, »in der Erde und
gleichzeitig im Kosmos verwurzelt« zu sein und wieder zu begreifen, dass
wir alle Freiheit dem »Schöpfer« verdanken.
Kapitel 2
1 Bennett, Fourty Years On, S. 80.
2 A.a.O., S. 37.
3 Der Vorsitzende des House Science Committee, F. James Sensenbrenner,
gab vor der Presse nur ein ungewöhnlich kurzes Statement ab, als er von
der Katastrophe hörte: »Ich bin sprachlos.«
4 »Mars Climate Orbiter Mishap Investigation Board. Phase I Report« vom
10. November 1999, S. 6, siehe ftp://ftp.hq.nasa.gov/pub/pao/reports/
1999/MCO_report.pdf.
5 Ein interessantes Beispiel gibt der Aufbau des britischen Eisenbahnnetzes
ab, für das die Zeitmaße in den weit entfernten Städten in Übereinstim-
mung gebracht werden mussten.
6 Joan Rivers in: An Audience with Joan Rivers (London Weekend Television,
1984).
7 Im 19. Jahrhundert gab es in Deutschland mehr als 30 verschiedene
Fuß- und Ellenmaße, die zum öffentlichen Gebrauch oft an Kirchen
angebracht waren. Erst 1871 wurde im Deutschen Reich der Meter einge-
führt. Auch heute noch behaupten Politiker gern, sie würden keinen Zoll
weichen und keinen Fußbreit Landes dem Feind überlassen, während in
Anmerkungen 275
von ± 0,135 mg entsprach. Der britische Prototyp ist bis auf ± 0,053 mg
genau, der amerikanische bis auf ± 0,021 mg.
18 Das Urkilogramm ist auch heute noch gültig. Es gibt allerdings zahlrei-
che Bemühungen, auch die Maßeinheit für die Masse auf eine solidere
Basis zu stellen, beispielsweise das Kilogramm durch die Masse einer
bestimmten Anzahl von Atomen zu definieren. (Anm. d. Übers.)
19 Inzwischen wurde das ›SI-System‹ Gesetz, das auf sieben Basisgrößen
und Basiseinheiten beruht: Länge (Meter), Masse (Kilogramm), Zeit (Se-
kunde), Stromstärke (Ampère), Temperatur (Kelvin), Stoffmenge (Mol)
und Lichtstärke (Candela). (Anm. d. Übers.)
20 Things you ought to know, Rawdon, o.J., S. 9.
21 Um 1800 genügte der Industrie ein Urmeter, das auf ± 0,25 mm genau
war, 1900 war die Toleranzgrenze bereits auf ± 0,01 mm geschmolzen,
1950 auf ± 0,25 µm und 1970 auf ± 12 nm (Nanometer), weil heute an
Strukturen im Nanometerbereich gearbeitet wird.
22 J. C. Maxwell, »Presidential Address« an die British Association for the Ad-
vancement of Science, 1870, zitiert nach: Petley, Physical Constants, S. 15.
Beim Studium von Texten aus dem 19. Jahrhundert muss man beden-
ken, dass einige Begriffe damals noch anders definiert waren als heute. So
finden wir bei Maxwell den Begriff ›Molekül‹ anstelle von ›Atom‹. Lord
Kelvin nannte jedes System von Maßen und Gewichten ›metrisch‹, wobei
er sich einfach auf das griechische µετρον bezog. Das heutige ›metrische
System‹ mit dem Meter als Grundeinheit hieß damals ›Dezimalsystem‹.
Um Konfusionen zu vermeiden, werden hier wie im Folgenden in Zitaten
aus älteren Arbeiten die modernen Begriffe eingesetzt. (Anm. d. Übers.)
23 Den Vorschlag, zur Definition eines Längenstandards die Wellenlänge
von Licht heranzuziehen, hat vermutlich als Erster im Jahr 1827 der fran-
zösische Physiker Jacques Babinet gemacht. Geräte, um die entsprechen-
den Messungen durchzuführen, standen aber erst nach Babinets Tod
(1872) zur Verfügung.
24 1960 wechselte man zur Wellenlänge einer orangeroten Linie von Kr86.
Diese Linie erlaubt genauere Messungen als die Cd-Linie. Seit 1983 ist
1 m als der Weg definiert, den das Licht im Vakuum in 1/299.792.458 s
zurücklegt – wozu natürlich wiederum die Sekunde definiert werden
muss: 1 s ist die 9.192.631.770-fache Periodendauer der Strahlung, die
dem Übergang zwischen zwei bestimmten Hyperfeinstrukturniveaus von
Cs133 entspricht. (Anm. d. Übers.)
25 Singer, Kabbalist vom East Broadway, S. 65.
26 Stoney hielt seinen Vortrag ein weiteres Mal am 16. Februar 1881 vor der
Royal Society Dublin. Er wurde unter dem Titel »On the Physical Units of
Nature« in: Phil. Mag. (Ser. 5) 11 (1881), S. 381–390, und in: Sci. Proc. Roy.
Dublin Soc. 3 (1883), S. 51–60, veröffentlicht.
Anmerkungen 277
Die Bedeutung der Arbeiten Stoneys wird durch den Artikel »Electron«
von Robert Millikan in frühen Ausgaben der Encyclopaedia Britannica und
durch Anmerkungen in seinem Buch The Electron unterstrichen.
27 Siehe David Andersons Buch The Discovery of the Electron und I. B. Cohen,
»Conservation and the Concept of Electric Charge: An Aspect of Philoso-
phy in Relation to Physics in the Nineteenth Century«, in: Clagett, Critical
Problems.
Der von Stoney überlieferte Begriff ›electron‹ wurde dem Begriff ›corpus-
cle‹ vorgezogen, an den Thomson zunächst gedacht hatte.
28 G. J. Stoney, »On the Cause of Double Lines and of Equidistant Satellites
in the Spectra of Gases«, in: Sci. Trans. Roy. Dublin Soc. (Ser. 2) 4 (1891),
S. 563–608, hier: S. 583.
29 Stoney hatte die Eigenheit, seinen Einheiten die Endung ›ine‹ anzuhän-
gen. So bezeichnete er die Längeneinheit Meter mit ›lengthine‹, das Gramm
mit ›massine‹ und die Sekunde als Zeiteinheit mit ›timine‹.
30 J. G. O’Hara, »George Johnstone Stoney, F. R. S., and the Concept of the
Electron«, in: Not. Rec. Roy. Soc. 29 (1974–75), S. 265–276, Tafel 14; Wie-
dergabe mit Genehmigung der Royal Society Library.
31 Stoneys Vermutung, es gäbe eine Elementarladung, scheint nicht die Auf-
merksamkeit erregt zu haben, die ihr eigentlich zukam. Das kann man
aus dem Brief schließen, den er am 4. September 1894 an die Herausgeber
des Philosophical Magazine schrieb, einer seinerzeit führenden wissen-
schaftlichen Zeitschrift. Er beklagte sich darin, dass ein gewisser Ebert in
einem Artikel behauptet hatte, »von Helmholtz … sei der Erste gewesen,
der zeigen konnte, … dass es eine kleinste Menge von Elektrizität geben
müsse, … die wie ein elektrisches Atom nicht mehr weiter teilbar ist«.
Stoney verwies auf seinen Vortrag von 1874 und die Artikel, die er 1881
und 1883 veröffentlicht hatte. (G. J. Stoney, »On the ›Electron‹ or Atom
of Electricity«, in: Phil. Mag. (Ser. 5) 38 (1894), S. 418–420, siehe auch http:
//dbhs.wvusd.k12.ca.us/Chem-History/Stoney-1894.html.)
32 Zu den Mitgliedern zählten auch James Maxwell und William Thomson,
der spätere Lord Kelvin; siehe dazu J. G. O’Hara, »George Johnstone
Stoney, F. R. S., and the Concept of the Electron«, in: Not. Rec. Roy. Soc. 29
(1974–75), S. 265–276.
33 Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie dehnt die Newtonsche Theorie
auf Bereiche aus, in denen die Schwerkraft außerordentlich groß ist und
Bewegungen mit einer Geschwindigkeit nahe der Lichtgeschwindigkeit
stattfinden. Die entscheidende Konstante in Einsteins Theorie ist die
Größe G/c4, was die universelle Stellung der Gravitationskonstante un-
terstreicht und den relativistischen Aspekt betont.
34 In den frühen 1960er Jahren wurde von den Astronomen eine Zeit lang die
Idee verfolgt, dass G möglicherweise immer kleiner wird. Der Grund für
278 Das 1 × 1 des Universums
39 Planck, Epilogue, S. 217. Der Epilog, ein fiktives Gespräch zwischen Ein-
stein, Planck und dem Übersetzer und Herausgeber James Murphy, ist in
den deutschen Ausgaben von Where is Science Going? nicht enthalten.
40 Siehe dazu seine Aufsätze »Wissenschaft und Glaube« und »Religion und
Naturwissenschaft« (der Aufsatz endet mit dem Aufruf »Hin zu Gott!«),
sowie »Mystery of Our Being« (insb. S. 153).
41 Die von Planck vertretene Loslösung der wissenschaftlichen Beschrei-
bung von den menschlichen Konventionen war nicht unumstritten. An-
dere Physiker wie Pierre Duhem und Percy Bridgman hielten das für prin-
zipiell unerreichbar. Sie sahen die Naturkonstanten und die Theorien,
deren Grundlage sie bilden, ganz und gar als vom Menschen verfertigte
Kunstprodukte, die dazu dienen, die Welt überzeugend zu erklären.
42 Rosenthal-Schneider, Reality and Scientific Truth, Titelbild; in der deut-
schen Ausgabe ist dieses Bild nicht enthalten.
43 Mit Eddington werden wir uns insbesondere in Kapitel 5 ausführlich
befassen.
44 Max Planck an Ilse Rosenthal-Schneider am 30. März 1947, zitiert in:
Rosenthal-Schneider, Begegnungen, S. 41.
45 Planck, Vorlesungen, S. 167f. (§ 164. Natürliche Maßeinheiten). In Ergän-
zung zu dieser Sammlung von Vorlesungen, die Planck 1906/7 in Berlin
gehalten hat, siehe auch »Über irreversible Strahlungsvorgänge«, in: Ann.
Phys. 1 (1900), S. 69–122.
46 Wirkung = Energie x Zeit. Für das Plancksche Wirkungsquantum gilt
h = 6,6261 x 10-34 Js.
47 Planck, Vorlesungen, S. 168f. Die oben angegebenen Werte der natürlichen
Einheiten sind aus dieser Quelle übernommen. Heute werden sie meist
mit ħ anstelle von h angegeben, was an der Größenordnung nichts än-
dert.
Der Grund für die Ähnlichkeit der natürlichen Massen-, Längen- und
Zeiteinheiten bei Stoney und Planck liegt in der Tatsache verborgen,
dass die Größe e2/hc eine dimensionslose Naturkonstante darstellt, die
ungefähr 1/860 beträgt, wenn man die bekannten Werte von e, h und c
einsetzt. Ersetzt man in Stoneys Einheiten e2 durch hc, erhält man die
Planckschen Einheiten bis auf einen Faktor √860 ≈ 29,3. Man könnte auf
diese Weise auch eine Stoneysche Temperatureinheit konstruieren.
48 Planck, Über irreversible Strahlungsvorgänge, a.a.O., S. 122.
49 Ebd.
50 P. Drude, »Über Fernewirkung«, in: Ann. Phys. (3. F.) 62, Beilage (1897),
S. I–XLIX, hier: S. XLIX. Drude hat seine Erkenntnisse in seinem Lehrbuch
der Optik breiter ausgeführt.
51 Einige Jahre später gab Drude einen Satz von Grundgrößen an, der
dem Plancks glich und c, G und zwei Strahlungskonstanten umfasste,
280 Das 1 × 1 des Universums
Kapitel 3
1 Doyle, Bruce-Partington-Pläne, S. 113. Die Geschichte wurde zuerst im De-
zember 1908 im Strand Magazine veröffentlicht.
Anmerkungen 281
2 Die Ergänzung »im Vakuum« ist sehr wichtig. In einem Raum, der mit
Materie gefüllt ist, bewegt sich das Licht langsamer fort, und es kann
durchaus sein, dass es dort Bewegungen mit größerer Geschwindigkeit
als der des Lichts gibt. In diesem Fall kommt es zur Cerenkov-Strahlung,
einem Effekt, der dem Knall gleicht, wenn die Schallmauer durchbrochen
wird. Diese Strahlung ist nach dem sowjetischen Physiker Pawel A. Ce-
renkov benannt, der sie 1934 entdeckte. Sie ist von großem Nutzen, wenn
man schnelle Teilchen der kosmischen Strahlung nachweisen will. Der
Weltraum stellt für alle praktischen Zwecke ein Vakuum dar. Wenn nun
die Teilchen, die sich im Weltraum mit nahezu Lichtgeschwindigkeit fort-
bewegen, in einen irdischen Wassertank eindringen, bewegen sie sich dort
schneller als das Licht und lösen Cerenkov-Effekte aus, die man leicht
registrieren kann.
3 Albert Einstein an Ilse Rosenthal-Schneider am 11. Mai 1945, zitiert in:
Rosenthal-Schneider, Begegnungen, S. 24.
4 Siehe dazu mein Buch Theorien für Alles.
5 Einstein wollte mit seiner einheitlichen Feldtheorie die Schwerkraft und
den Elektromagnetismus vereinigen. Er schien weder Interesse an der
›schwachen‹ atomaren Kraft zu haben, die bei der Radioaktivität eine
Rolle spielt, noch an der ›starken‹ Kraft im Inneren der Atomkerne. Man
könnte sagen, dass in Einsteins Programm zur Vereinheitlichung nur
die Hälfte der Puzzlesteine eine Rolle spielte. 1980 sprach ich darüber
in Berkeley mit dem Mathematiker und Physiker Abraham Taub, der
in Princeton eng mit John von Neumann zusammenarbeitete und auch
Kontakt zu Einstein hatte. Er sagte mir, dass er eines Tages Zeuge war, wie
man Einstein diesen Einwand vorbrachte. Einstein habe darauf geantwor-
tet, man würde irgendwann erkennen, dass die schwache und die starke
Kraft nur Erscheinungsformen der elektromagnetischen Kraft sind. Das
war ein weitblickender Kommentar, denn heute glauben wir, dass die
schwache und die elektromagnetische Kraft im Rahmen der gut belegten
Glashow-Weinberg-Salam-Theorie vereinigt werden können. Es gibt auch
bereits Theorien, in denen die starke Kraft mit einbezogen ist; sie sind
aber noch nicht hinreichend durch Beobachtungen bestätigt.
6 Einstein maß gern die Qualität von Theorien an der ›Stärke‹ ihrer Glei-
chungen. (Siehe dazu sein Buch Grundzüge der Relativitätstheorie, insb.
S. 132ff.) Mit dieser ›Stärke‹ ist die Zahl der frei und unabhängig von-
einander wählbaren Größen in einer Gleichung gemeint. Einstein legte
diesen Maßstab für die Tauglichkeit einer Theorie auch an die Zahl der
notwendigen Naturkonstanten an.
7 Rosenthal-Schneider, Begegnungen, S. 23ff.
8 Albert Einstein an Ilse Rosenthal-Schneider am 11. Mai 1945, zitiert
a.a.O., S. 24. Mit e ist hier die Eulersche Zahl gemeint.
282 Das 1 × 1 des Universums
25 Die Masse eines Atoms beträgt etwa 10–24 g, sein Volumen etwa 10–24 cm3.
Die daraus berechnete Dichte von 1 g/cm3 ist auch die Dichte des Was-
sers. Die Dichten aller Flüssigkeiten und Festkörper sind von der gleichen
Größenordnung.
26 Nach einem Diagramm in B. J. Carr u. M. J. Rees, »The Anthropic Prin-
ciple and the Structure of the Physical World«, in: Nature 278 (1979),
S. 605–612, hier: S. 606.
27 Norman Packard, zitiert in: Bass, Predictors, S. 172.
28 Newton wurde schon von Philosophen wie Bischof George Berkeley für
seine Vorstellung kritisiert. Er erkannte, dass hier eine Schwäche seiner
Theorie lag, hielt sie aber trotzdem für nützlich, da ihre Gesetze die ›loka-
len‹ Bewegungen äußerst genau zu beschreiben erlaubten.
Die Vorstellung eines ruhenden Hintergrunds ist eine Idealisierung,
denn auch die fernsten Sterne tragen den Namen ›Fixsterne‹ zu unrecht:
Sie ruhen relativ zu uns keineswegs, ihre Bewegungen erscheinen nur
– von uns aus gesehen – äußerst langsam. Eine der Annahmen, mit der die
Einsteinsche Theorie über die Newtonsche hinausging, war der Abschied
von diesem imaginären Hintergrund eines ›absoluten Raumes‹.
29 Eine Rotationsbewegung ist immer eine beschleunigte Bewegung, selbst
wenn der Betrag der Rotationsgeschwindigkeit konstant ist, da ständig
die Richtung der Bewegung geändert werden muss, um die Bahn einzu-
halten. Der Vektor der Geschwindigkeit, der durch Betrag und Richtung
bestimmt wird, ändert sich – und jede Änderung der Geschwindigkeit
bedeutet Beschleunigung.
Kapitel 4
1 R. P. Crease, »Do Physics and Politics Mix?«, in: Physics World (Februar
2001), S. 17.
2 Siehe dazu mein Buch Die Natur der Natur.
3 Srinivasa Ramanujan, zitiert in: Pickover, Mathematik und das Göttliche,
S. 32.
4 Quadrivium: Teilbereich der Artes liberales mit den Disziplinen Arithme-
tik, Geometrie, Astronomie und Musik. Die Vierzahl wurde weitgehend
von anderen Glückszahlen wie der 3 und der 7 abgelöst, hat sich aber
noch im vierblättrigen Kleeblatt, der Vierzahl der Jahreszeiten, Himmels-
richtungen und Evangelisten sowie der Vierfruchtmarmelade erhalten.
(Anm. d. Übers.)
5 Wir erwarten nicht, dass alle nach den Naturgesetzen möglichen ›Zu-
stände‹ des Universums auch durchlaufen werden. Unsere reale Welt ist
daher nur ein Exemplar aus der Vielzahl möglicher Welten. Es bleibt eine
interessante Frage, was gegen eine Welt einzuwenden wäre, deren Gesetze
284 Das 1 × 1 des Universums
13 Man weiß heute noch nicht, was nach dieser Explosion übrig bleibt. Die
Theorien reichen vom absoluten Nichts über ein Loch im Raum und ein
Wurmloch in ein neues Universum bis zu einer stabilen Masse.
14 Während man bei den genannten Konstanten heute 8–10 Stellen sicher
angeben kann, sind es bei G bestenfalls 5. (Anm. d. Übers.)
15 Wir wissen beispielsweise nicht einmal, ob die Feinstrukturkonstante
eine rationale oder irrationale Zahl ist.
16 Butler, Number Symbolism.
17 2:1 entspricht der Oktave, 3:2 der Quinte und 4:3 der Quarte.
18 Mit ein wenig statistischem Geschick kann man Beispiele für die Sphä-
renharmonie finden. So liegt in sechs von acht Fällen das Verhältnis
der Aphelgeschwindigkeiten benachbarter Planeten (also etwa Merkur/
Venus) nahe den musikalischen Harmonien. (Anm. d. Übers.)
19 Kommentar der Schriften des Aristoteles von Alexandros Aphrodisiensis
in seiner Metaphysica (38, 10), zitiert nach: Guthrie, History of Greek Philoso-
phy, Bd. 1, S. 303f.
20 Primzahlen wie 7 und 23 sind durch keine andere Zahl teilbar – 1 und
sich selbst ausgenommen. Euklid ist es gelungen, auf wunderschöne Art
zu beweisen, dass es unendlich viele von ihnen gibt: Nehmen wir an, ihre
Zahl ist endlich. Wenn man nun alle Primzahlen miteinander multipli-
ziert und 1 addiert erhält man wieder eine Primzahl, denn bei jeder Divi-
sion durch die Faktoren bleibt 1 als Rest. Daraus folgt, dass die neue Zahl
entweder eine Primzahl ist oder durch eine Primzahl dividiert werden
kann, die größer ist als die größte der ursprünglichen Liste. Eine solche
Primzahl kann es aber nicht geben, denn wir hatten ja angenommen, dass
unsere Liste vollständig ist. Damit ist bewiesen, dass es unendlich viele
Primzahlen gibt.
21 Perfekte Zahlen kann man mit ausgewählten n als 2n-1 (2n – 1) darstellen:
Mit n = 3 erhält man beispielsweise 22 (23 – 1) = 28. Der große Schweizer
Mathematiker Leonhard Euler konnte zeigen, dass alle geraden perfekten
Zahlen diese Form haben, wobei 2n – 1 eine Primzahl sein muss. Man weiß
nicht, ob es auch ungerade perfekte Zahlen gibt.
22 Laut Iamblichos war für Pythagoras ein Freund »einer, der ein anderes Ich
ist, wie 220 und 284«.
23 Inzwischen hat man mehr als tausend dieser Zahlenpaare gefunden. Die
nächstgrößeren sind 1 184 und 1 210, 2 620 und 2 924, 5 020 und 5 564,
6 232 und 6 368 sowie 10 744 und 10 856.
24 1. Mose 32,14: »Und er blieb die Nacht da und nahm von dem, was er
erworben hatte, ein Geschenk für seinen Bruder Esau: zweihundert
Ziegen, zwanzig Böcke, zweihundert Schafe, zwanzig Böcke …«. Auf der
Geschenkliste stehen dann allerdings noch 30 Kamele, 40 Kühe, 10 Stiere
und 30 Esel. (Anm. d. Übers.)
286 Das 1 × 1 des Universums
25 Trachtenberg, Jewish Magic, zitiert in: Pickover, Mathematik und das Göttli-
che, S. 115. Kumin ist Kreuzkümmel.
26 Theon von Smyrna über die Tetraktys und den Tod, zitiert in: Butler,
Number Symbolism, S. 9.
27 Good, Quantal Hypothesis for Hadrons.
28 Der Aprilscherz stand in M. Gardners Kolumne »Mathematical Games«
unter dem Titel »Six Sensational Discoveries that Somehow or Another
Have Escaped Public Attention«, in: Sci. American (April 1975), S. 126–133.
Er wurde dann in der Juliausgabe aufgedeckt: »On Tessellating the Plane
with Convex Polygon Tiles«, in: Sci. American (Juli 1975), S. 112–117.
Es kann bewiesen werden, dass man eine rationale Zahl erhalten kann,
wenn man eine irrationale Zahl mit einer irrationalen Zahl potenziert:
Nehmen wir an, wir potenzieren die irrationale Zahl √2 mit √2. Das
Ergebnis (√2)√2 kann nun entweder rational oder irrational sein. Ist es
rational, ist schon bewiesen, was wir beweisen wollen, daher nehmen wir
nun an, dass es irrational ist. Potenziert man es wieder mit √2, so hat man
nun (√2)√2 x √2 = (√2)2 = 2. Damit hat man die als irrational angenommene
Zahl (√2)√2 mit einer irrationalen Zahl potenziert und ein rationales Er-
gebnis erhalten, womit der Beweis geführt ist.
29 Die King-James-Bibel war das Ergebnis der Hampton Court Conference
von 1604, die von König Jakob I. einberufen wurde, um die verschiedenen
›High Church‹- und ›Low Church‹-Fraktionen wieder zusammenzubringen.
Die Authorized Version (die im Übrigen nicht wirklich in offizieller Weise
›autorisiert‹ wurde), die aus diesen Bemühungen hervorging, erschien
1611. Sie beruht vorwiegend auf den Übersetzungen von William Tyndale
aus den Jahren 1525–1534 und wurde durch Beiträge von John Wycliffe
(oder Wyclif) vom Ende des 14. Jahrhunderts ergänzt. Shakespeare lebte
von 1564 bis 1616. (Anm. d. Übers.)
30 Psalm 46: »Gott ist unsere Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den gro-
ßen Nöten, die uns getroffen haben …«
31 Der Anfang des Psalms – ohne die einleitenden Worte »Ein Lied der
Söhne Korah, vorzusingen, nach der Weise der ›Jungfrauen‹« – lautet in
der Fassung der Authorized Version:
»God is our refuge and strength,
A very present help in trouble.
Therefore will not we fear, though the earth be removed,
And though the mountains be carried into the midst of the sea;
Though the waters thereof roar and be troubled,
Though the mountains SHAKE with the swelling thereof«.
Der Schluss lautet:
»He breaketh the bow, and cutteth the SPEAR in sunder;
He burneth the chariot in the fire.
Anmerkungen 287
Kapitel 5
1 Shakespeare, Sommernachtstraum, S. 53 (4. Akt, 1. Szene). Arthur Edding-
ton zitiert diese Stelle in seinem Buch Dehnt sich das Weltall aus? »Zettels
Traum« begegnet uns wieder als Zettel’s Traum bei Arno Schmidt, der im
Übrigen in seinen Werken eine Vielzahl kosmologischer Vorstellungen
verwertete. (Anm. d. Übers.)
2 Siehe die Biografien von Allie Douglas, Clive Kilmister und Subrahama-
nyan Chandrasekhar.
3 Foto: Eddingtons Schwester; Douglas, Eddington, Tafel II.
4 Carroll, Alice im Wunderland, S. 57–61.
5 W. H. Williams, »The Einstein and the Eddington«, in: Whitrow, Records of
288 Das 1 × 1 des Universums
20 A.a.O., S. 222.
21 Wenn sich auch Eddington sehr mit den Riesenzahlen der Größenord-
nung 1040 und Potenzen davon beschäftigte, war er doch nicht der Erste,
der ihr Auftreten im Zusammenhang mit Naturkonstanten entdeckte.
Herman Weyl stellte schon 1919 fest: »Es ist eine Tatsache, dass am
Elektron reine Zahlen auftreten, deren Größenordnung gänzlich von 1
verschieden ist; so das Verhältnis des Elektronenradius zum Gravitations-
radius seiner Masse, welches von der Größenordnung 1040 ist; das Verhält-
nis des Elektronen- zum Weltradius mag von ähnlicher Größenordnung
sein.« (H. Weyl, »Eine neue Erweiterung der Relativitätstheorie«, in: Ann.
Phys. 59 (1919), S. 101–133, hier: S. 129.) Später schrieb Weyl: »Die Gra-
vitationsanziehung zweier Elektronen ist 1040-mal so schwach wie ihre
elektrische Abstoßung. … Diese reine Zahl 1040, die am Elektron auftritt,
ist für unsere Naturerkenntnis eine harte Nuss. … Und wirklich zeigt sich,
wenn unsere Ausdeutung der Hubbleschen Beobachtungen das Richtige
trifft, dass das Radienverhältnis 1040 am Elektron wiederkehrt als das Ver-
hältnis zwischen dem Weltradius (1027 cm) und dem Elektronenradius
(10–13 cm); demnach ist die reine Zahl 1040 im wesentlichen = √N, nämlich
gleich der Quadratwurzel aus der Zahl N der vorhandenen Teilchen.« (H.
Weyl, »Universum und Atom«, in: Naturwiss. 22 (1934) S. 145–149, hier:
S. 147f.)
22 Eddington, Philosophie der Naturwissenschaft, S. 87.
23 Eddington, Naturwissenschaft auf neuen Bahnen, S. 234.
24 A.a.O., S. 238. Eddington erklärte es an anderer Stelle so: »Es erscheint
wahrscheinlich, dass elektrische Ladungen, die in einem perfekten Gitter
sitzen, 1/137 ihrer Masse verlieren. Da der Atomkern annähernd starr ist,
sollte diese Größe ein angenähertes Maß für den Packungsanteil sein.« (A.
Eddington, »The Interaction of Electric Charges«, in: Proc. Roy. Soc. A 126
(1930), S. 696–728.)
25 Vladimir Fock, zitiert in: Gamow, Biographie der Physik, S. 378.
Fock war ein einflussreicher sowjetischer Physiker, der sich darum
bemühte, Einstein und sein Werk in der Stalinära politisch durchzuset-
zen. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe seines zuerst 1955 in Moskau
erschienen Buches betonte er, dass die Theorie in keiner Weise gegen
die absoluten Wahrheiten des dialektischen Materialismus gerichtet
sei: »Nicht zuletzt soll aber das Buch die Unzulässigkeit der sich in der
Literatur eingebürgerten Auffassung der Gravitationstheorie als einer
Art ›allgemeiner Relativität‹ zeigen; diese Auffassung soll durch eine
konsequentere ersetzt werden, welche … die Begriffe ›Relativität‹ und ›Ko-
varianz‹ streng unterscheidet. Wie auch der Titel zeigt, wird in unserem
Buch nicht das Relative, sondern das Absolute betont.« (Fock, Raum, Zeit
und Gravitation, S. VI).
290 Das 1 × 1 des Universums
Kapitel 6
1 Valéry, Rede zur Geschichte, S. 437.
2 Um 1980 befasste man sich mit der Möglichkeit, dass auch das Proton
instabil ist und mit einer Halbwertszeit von 1031 Jahren zerfällt. Eine
Zeit lang nahm man auch an, den Zerfall beobachtet zu haben, was sich
Anmerkungen 291
aber letztlich nicht bestätigte. Ich habe damals darauf hingewiesen, dass
das Verhältnis dieser prognostizierten Halbwertszeit zur Planck-Zeit un-
gefähr 1080 beträgt. (J. D. Barrow, »The Proton Half-Life and the Dirac
Hypothesis«, in: Nature 282 (1979), S. 698–699.)
3 Die ›Wirkung‹ des Universums entspricht in etwa seiner Energie multipli-
ziert mit seinem Alter.
4 Die meist Λ genannte kosmologische Konstante kennzeichnet die ab-
stoßende Gegenkraft zur Gravitation. Ist Λ positiv, beschleunigt sich die
Expansion des Weltalls.
5 P. A. M. Dirac, »The Cosmological Constants«, in: Nature 139 (1937),
S. 323 (Brief an den Herausgeber vom 5. Februar 1937), siehe auch ders.,
»A New Basis for Cosmology«, in: Proc. Roy. Soc. A 165 (1938), S. 199–208.
6 Dirac, Cosmological Constants, a.a.O..
7 Dirac war der Ansicht, dass ein Ensemble dimensionsloser Naturkonstan-
ten zu jedem anderen proportional sein müsse, wobei die Proportionali-
tätskonstante von der Größenordnung 1 ist, also beispielsweise 10 oder
100 betragen kann. Sie könnte sich aus dimensionslosen Faktoren wie
2 oder π zusammensetzen, dagegen sind Zahlenfaktoren, die sehr klein
oder sehr groß sind – etwa 1 000 000 – nicht erlaubt.
8 Der Schluss N ~ t2 brachte Dirac zur – allerdings falschen – Annahme, es
müssten dauernd neue Protonen entstehen. Tatsächlich besagt die Bezie-
hung nur, dass für uns im Laufe der Zeit immer mehr Protonen über dem
Horizont auftauchen. (P. A. M. Dirac, »Long Range Forces and Broken
Symmetries«, in: Proc. Roy. Soc. A 333 (1973), S. 403–418.)
9 Die heftigste Kritik kam von Herbert Dingle, der die Theorie von Dirac
(und eine ähnliche von Milne mit zwei Zeitskalen) zusammenfassend als
»Beispiele einer Kombination aus der Paralyse des Verstands und der Ver-
giftung durch die Fantasie« bezeichnete: »Anstatt aus den Phänomenen
auf Grundprinzipien zu schließen, wird uns hier die Pseudowissenschaft
einer rückgratlosen ›Kosmythologie‹ präsentiert, und wir werden eingela-
den, uns umzubringen, um zu vermeiden, sterben zu müssen.« (H. Dingle,
»Modern Aristotelianism«, in: Nature 139 (1937), S. 784–786; Dirac erwi-
derte diese Kritik im gleichen Band von Nature auf S. 1 001–1 002.)
10 P. A. M. Dirac, »The Relation between Mathematics and Physics«, in: Proc.
Roy. Soc. (Edinburgh) 59 (1938–39), S. 122–129.
11 Siehe Barrow u. Tipler, Anthropic Cosmological Principle, Abschnitt 4.5.
12 E. Teller, »On the Change of Physical Constants«, in: Phys. Rev. 73 (1948),
S. 801–802.
13 Siehe dazu wieder Barrow u. Tipler, Anthropic Cosmological Principle, Ab-
schnitt 4.5.
14 Paul Dirac an George Gamow am 10. Januar 1961, zitiert in: Kragh, Dirac,
S. 236f.
292 Das 1 × 1 des Universums
ten. In ferner Zukunft wird das für uns sichtbare Universum größer sein
und mehr Galaxien enthalten – wenn es dann noch Sterne und Galaxien
gibt. (Eine aktuelle Koinzidenz: Auf 100 Milliarden US-Dollar wurden die
Kosten des 2. Irak-Kriegs vor Kriegsbeginn geschätzt – kriegsübliche und
Kollateralschäden nicht gerechnet; Anm. d. Übers.)
34 Hooke, Works, S. 143. Durch die Schlafenszeiten, das Vergessen und andere Ein-
schränkungen wird die Zahl allerdings erheblich reduziert. (Anm. d. Übers.)
35 Zu derartigen Netzwerken siehe Mark Buchanans Buch Small Worlds.
36 M. Holderness, »Think of a Number«, in: New Scientist (16. Juni 2001), S. 45.
Kapitel 7
1 Adams, Restaurant am Ende des Universums, S. 307.
2 Bilder dieses dramatischen Ereignisses sind beispielsweise unter http:
//nssdc.gsfc.nasa.gov/planetary/sl9/comet_images.html zu besichtigen.
3 Ward, Unsere einsame Erde, S. 195.
4 A.a.O.
5 B. Carter, »The Anthropic Principle and its Implications for Biological
Evolution«, in: Phil. Trans. Roy. Soc. A 310 (1983), S. 347–363.
6 Es gibt inzwischen zahlreiche Arbeiten über dieses so genannte ›Dooms-
day‹-Argument, siehe beispielsweise John Leslies Buch The End of the World
sowie N. Keyfitz, »On Future Population«, in: J. Am. Statist. Assoc. 67 (1972),
S. 347–363; H. B. Nielsen, »Random Dynamics and Relations between the
Number of Fermion Generations and the Fine Structure Constant«, in:
Acta. Phys. Polonica B 20 (1989), S. 427–468; J. R. Gott, »Implication of the
Copernican Principle for our Future Prospects«, in: Nature 363 (1993),
S. 315–319; ders., »Future Prospects Discussed«, in: Nature 368 (1994),
S. 108 (Antwort auf Anmerkungen von S. N. Goodman und A. L. Mackay
zur Frage, ob das Kopernikanische Prinzip mit dem Ansatz von Thomas
Bayes vereinbar ist). Zu weiteren Arbeiten siehe die Website von Nick
Bostrom: www.anthropic-principle.com/preprints.html.
7 Die Anzahl der Möglichkeiten für die beiden Zeiten, sich stark zu unter-
scheiden, ist weit größer als die, dass sie nahezu gleich sind.
8 M. Livio, »How Rare Are Extraterrestrial Civilizations, and When Did
They Emerge?«, in: Astrophys. J. 511 (1999), S. 429–431, siehe auch arXiv,
astro-ph/9808237 (21. August 1998).
9 J. Laskar u. P. Robutel, »The Chaotic Obliquity of the Planets«, in: Nature
361 (1993), S. 608–612; siehe auch S. 185–191 in meinem Buch Der kosmi-
sche Schnitt.
10 Die Neigung der Erdachse (oder ›Schiefe der Ekliptik‹) schwankt etwa ± 1,3°
um den Wert 23,3°. Sie nimmt derzeit jährlich um 0,47“ ab. (Anm. d. Übers.)
11 ›Lebende‹ Materiewolken erregten schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts die
294 Das 1 × 1 des Universums
Kapitel 8
1 Willard Quine in einem Interview für das Harvard Magazine, zitiert in:
Hersh, Mathematics, S. 170.
2 Siehe dazu H. Pagels, »A Cozy Cosmology«, in: The Sciences 25 (1985),
S. 34–38; G. L. Kane, M. J. Perry u. A. N. Zytkow, »The Beginning of the
End of the Anthropic Principle«, in: New Astronomy 7 (2002), S. 45–53.
3 D. A. Redelmeier u. R. J. Tibshirani, »Are Those Other Drivers Really Go-
ing Faster?«, in: Chance 13 (2000), S. 8–14.
4 Siehe dazu Nick Bostroms Buch Anthropic Bias und www.nickbostrom.com
sowie www.anthropic-principle.com/phd/ (dort auch: »Cars in the Next
Lane Really Do Go Faster«).
5 © Bettmann/Corbis.
Anmerkungen 295
21 Diese Beweise für die Existenz Gottes stützten sich auf die Vielfalt in der
existierenden Welt, in der es unzählige Beispiele gibt, die ›eindeutig‹ zei-
gen, dass der Natur ein Schöpfungsplan zugrunde liegt. Eine Sammlung
solcher Beispiele stellt beispielsweise William Paleys Buch Natural Theology
dar. Wallace und Darwin wurden durch Bücher wie dieses erst auf das
Problem gestoßen und versuchten dann, neue andere Erklärungen zu fin-
den. (Siehe dazu wieder Barrow u. Tipler, Anthropic Cosmological Principle.)
22 Mit ›Realisierungen‹ sind die jeweils besonderen Exemplare gemeint, die sich
aus der Fülle der Möglichkeiten realisieren. Man kann auch sagen, dass ein
System einen ›Zustand‹ aus einer Vielzahl möglicher Zustände einnimmt.
In der Differenz der Naturgesetze und ihrer Realisierungen spiegelt sich die
›ontologische Differenz‹ von Sein und Seiendem wider. (Anm. d. Übers.)
23 Diese verschiedenen Einflüsse werden systematisch in meinem Buch The-
orien für Alles diskutiert.
24 Das 13. Kapitel des Buchs ist den großen Zahlen und den variablen Kon-
stanten gewidmet.
25 Diese Schlussfolgerung ist aber nicht zwingend. Wir wissen, dass die Realisie-
rungen der Naturgesetze nicht das gleiche Maß an Symmetrie haben müssen
wie die Naturgesetze selbst. Die Realisierungen sind bei weitem komplizier-
ter, asymmetrischer und – wenn man so will – weniger schön als die Gesetze.
26 Dyson, Innenansichten, S. 266.
27 A.a.O., S. 160.
28 Carter, Large Number Coincidences, S. 291.
29 A.a.O., S. 292.
30 Wie wir später sehen werden, geht Whitrow so vor, um zu begründen,
warum unser Raum drei Dimensionen hat.
31 Carter bezieht sich im Folgenden auf Diracs Anmerkungen zu Dicke in:
Nature 192 (1961), S. 441.
32 Carter, Self-selection, S. 187f.
33 M. Tegmark, »Is ›The Theory of Everything‹ Mereley the Ultimate En-
semble Theory?«, in: Ann. Phys. 270 (1998), S. 1–51, hier: S. 26, verein-
fachte Darstellung nach Barrow u. Tipler, Anthropic Cosmological Principle.
34 Freeman Dyson hat zum ersten Mal in »Energy in the Universe«, in: Sci.
American (September 1971), S. 50–59, darauf hingewiesen, dass bereits
eine Erhöhung der starken Wechselwirkung um 70 keV Dineutronen und
Diprotonen zulässt.
35 M. Tegmark, »Is ›The Theory of Everything‹ Mereley the Ultimate En-
semble Theory?«, in: Ann. Phys. 270 (1998), S. 1–51, hier: S. 27, verein-
fachte Darstellung nach Barrow u. Tipler, Anthropic Cosmological Principle.
36 Daniel Berger hat die vier anthropischen Prinzipien in einem »imperti-
nent resumé« polemisch mit den folgenden Merksätzen gekennzeichnet:
»›Weiches‹ – Wenn wir nicht hier wären, wären wir nicht hier; ›Hartes‹
Anmerkungen 297
– Nur ein Universum mit uns ist möglich; ›Partizipatorisches‹ – Wenn wir
nicht hier wären, könnte das Universum nicht existieren; ›Finales‹ – Das
Universum sind wir.« (Siehe http://www.bluffton.edu/~bergerd/essays/
impert.html; Anm. d. Übers.)
37 Eine Anmerkung ist noch nötig: Es wird keine Aussage darüber gemacht,
dass Leben entstehen und andauern muss.
38 Es gibt Biologen, für die zu Leben alles zählt, was einem Evolutionspro-
zess unterliegt.
39 Siehe dazu J. D. Barrow, R. Bean u. J. Magueijo, »Can the Universe Escape
Eternal Acceleration?«, in: Month. Not. Roy. Astron. Soc. 316 (2000), S. L41–
L44, siehe auch arXiv, astro-ph/0004321 (23. April 2000).
40 Woody Allen, zitiert in: Observer (27. Mai 2001), S. 30.
41 Siehe Barrow u. Tipler, Anthropic Cosmological Principle, S. 668. Zur weiteren
Diskussion siehe L. M. Krauss u. G. D. Starkman, »Life, the Universe, and
Nothing: Life and Death in an Ever-expanding Universe«, in: Astrophys. J.
531 (2000), S. 22–30.
Die Beschleunigung ist möglicherweise auf die Tatsache zurückzufüh-
ren, dass die schon genannte kosmologische Konstante positiv ist. Sie wirkt
wie eine additive Größe im Gravitationsgesetz. Im Gegensatz zum New-
tonschen Gesetz, nach dem die Schwerkraft umgekehrt proportional zum
Quadrat des Abstands abfällt, nimmt sie linear mit der Entfernung ab. Die
kosmologische Konstante wird mit der Vakuum-Energie des Universums er-
klärt, ihre Größe bleibt mit 10-55 cm-2 oder 10-121 lPl-2 (lPl ist die Planck-Länge)
ein Mysterium, ist sie doch damit 10121 mal kleiner als der ›natürliche‹ Wert,
den man nach der Theorie der Elementarteilchen erwarten würde.
42 Ein Schlupfloch, das man im richtigen Typ von Universum ausnützen
kann, ist die Möglichkeit, dass die Beschleunigung durch eine neue Art
von Materie bewirkt wird, die eine positive kosmologische Konstante vor-
täuscht und als neue Energiequelle angezapft werden kann. Schließlich
würde aber auch diese Quelle nur noch die Expansion antreiben und das
unaufhaltsame Absinken der Informationsqualität begänne erneut.
43 K. Gödel, »An Example of a New Type of Cosmological Solutions of
Einstein’s Field Equations of Gravitation«, in: Rev. Mod. Phys. 21 (1949),
S. 447–450.
44 Siehe M. R. Reinganum, »Is Time Travel Impossible? A Financial Proof«,
in: J. Portfolio Management 13 (1986), S. 10–12.
Kapitel 9
1 Adams, Einmal Rupert und zurück, S. 880f.
2 Diese Argumentation steht auf keinem sicheren Boden: Es ist zwar einzu-
sehen, warum unsere ›letzte‹ Theorie auch nicht um das Geringste geän-
298 Das 1 × 1 des Universums
dert werden kann, ohne ihre innere Stimmigkeit zu zerstören, aber woher
können wir die Gewissheit haben, dass es keine völlig andere, aber in sich
konsistente Theorie gibt, die in keiner Weise etwas mit unserer angeblich
›letzten‹ Theorie zu tun hat?
3 Auf den ersten Blick könnte es scheinen, dass dies der Situation in der
Biologie vor der Entdeckung der Evolution mit ihrer natürlichen Auslese
ähnelt. Es ist aber ganz anders. Es geht um die Entdeckung einer voll-
ständigen Theorie zur Beschreibung aller Naturgesetze und -konstanten.
Aber selbst wenn wir sie hätten, könnten wir nicht alle Realisierungen
vorhersagen, die in ihrem Rahmen möglich sind.
4 Heinlein, Zahl des Tiers, S. 15.
5 Das bedeutet nicht, dass ein Universum in allen Einzelheiten so sein
muss, wie das unsere. Zwei Universen mit identischen Naturgesetzen und
-konstanten, ja selbst den gleichen Startbedingungen, können trotzdem
anders ausfallen und im Einzelnen eine unterschiedliche Entwicklung
nehmen, da Symmetrieverletzungen und Quanteneffekte wie die Un-
schärfe ins Spiel kommen.
6 Carter, Large Number Coincidences, S. 295f.
7 Wallace, Des Menschen Stellung im Weltall, S. 300.
8 Born, Minimalprinzipien, S. 83.
9 Lumpiness = Klumpigkeit, Maß für die Zusammenballung von Materie.
10 Siehe Alan Guths Buch Die Geburt des Kosmos aus dem Nichts und seinen
Artikel »Inflationary Universe: A Possible Solution to the Horizon and
Flatness Problems«, in: Phys. Rev. D 23 (1981) S. 347–356.
11 Siehe dazu mein Buch Der Ursprung des Universums.
12 Da das Universum in seinem Aufbau Inhomogenitäten aufweist, ist es im
Übrigen auch unmöglich, dass die Expansion exakt auf dieser Linie liegt.
Sie muss also äußerst dicht an ihr begonnen haben.
13 Die Beschleunigung ist so immens, dass schon eine Phase von 10-35 bis
10-33 s für diesen Effekt ausreicht.
14 Näheres zu diesem Thema findet sich in dem Buch Die linke Hand der
Schöpfung, das ich zusammen mit Joseph Silk verfasst habe.
15 COBE = Cosmic Background Explorer: Satellit zur Messung der diffusen
Infrarotstrahlung und der kosmischen Mikrowellen-Hintergrundstrah-
lung, der im November 1989 in eine Umlaufbahn gebracht wurde. (Anm.
d. Übers.)
16 Siehe dazu Das Echo der Zeit von Goerge Smoot und Keay Davidson sowie
The Very First Light von John Mather und John Boslough.
17 MAP = Microwace Anisotropy Probe: Satellit zur Messung der kosmi-
schen Mikrowellen-Hintergrundstrahlung, der am 30. Juni 2001 gestartet
wurde. Das Projekt läuft jetzt unter dem Namen WMAP, wobei das W für
den 2002 verstorbenen Astronomen Denys Wilkinson steht, der zu seinen
Anmerkungen 299
Kapitel 10
1 Reichenbach, Philosophie der Raum-Zeit-Lehre, S. 322.
2 J. W. McReynolds, »George’s Problem«, in: Scripta Mathematica 15 (1949),
S. 156–158.
3 © AKG London.
4 Kant, Schätzung der lebendigen Kräfte, S. 33ff. (§§ 9–11).
5 Um das zu begreifen, wollen wir uns eine Masse vorstellen, die in einem
Punkt konzentriert ist. Nun umgeben wir sie mit einer Kugelschale.
Durch jeden Punkt der Kugelschale geht eine Kraftlinie, die auf das Mas-
sezentrum zuläuft. Die Oberfläche der Kugelschale sagt uns, zu welcher
negativen Potenz die Kraft proportional ist. Im dreidimensionalen Raum
ist die Kugeloberfläche proportional zum Quadrat des Radius, im n-di-
mensionalen Raum entsprechend proportional zur (n-1)-ten Potenz des
Radius.
6 A.a.O., S. 35 (§§ 10–11). Die Dimensionen heißen bei Kant ›Abmessungen‹.
7 Diese Entdeckung wäre schon früher möglich gewesen, man hätte nur die
Zeichnungen von Dreiecken, Geraden oder anderen geometrischen Gebil-
den in einem gekrümmten Spiegel betrachten müssen. Die Euklidische Ge-
ometrie geht dann in die Geometrie einer gekrümmten Fläche über, aber die
optischen Gesetze garantieren, dass die mathematischen Zusammenhänge,
die in der Ebene gelten, auf der gekrümmten Fläche erhalten bleiben.
8 Die Herausforderung, sich ein Leben in zwei Dimensionen vorzustellen,
kam vor der mit vier Dimensionen. Der deutsche Mathematiker Carl
Friedrich Gauß stellte sich beispielsweise zweidimensionale Wesen vor,
die er ›Bücherwürmer‹ nannte, und die auf unendlich großen Papierbo-
gen lebten. Hermann Helmholtz versetzte 1881 die Bücherwürmer auf
die Oberfläche eines Balls und verschaffte ihnen damit eine Welt mit end-
licher Ausdehnung, aber ohne Grenzen. (Siehe Kaku, Hyperraum, S. 56 u.
65; Anm. d. Übers.)
9 Wladimir Iljich Lenin in einer Kritik der Untersuchung n-dimensionaler
Geometrien durch Ernst Mach. Siehe dazu Lenins Schrift Materialismus
und Empiriokritizismus.
10 Die Idee wurde in regelmäßigen Abständen von anderen Autoren aufge-
griffen, die immer neue geometrische und topologische Spitzfindigkeiten
hinzufügten. Beispiele sind Dionys Burgers Silvestergespräche eines Sechsecks,
Alexander Dewdneys Planiversum und Ian Stewarts Flatterland (das sich im
Untertitel –Like Flatland, Only More So – direkt auf Abbotts Buch bezieht).
11 Insbesondere Johann Zöllner und Mitglieder der Society for Psychical
Research, die in Oscar Wildes Gespenst von Canterville verspottet werden.
12 J. C. F. Zöllner, »On Space of Four Dimensions«, in: Quart. J. Sci. (N. F.) 8
(1878), S. 227–237.
Anmerkungen 301
13 Näheres dazu findet man in The Unseen Universe von Balfour Stewart und
Peter Guthrie Tait. Tait war einer der Pioniere der Knotentheorie und
fand heraus, dass man dreidimensionale Knoten in der vierten Dimen-
sion lösen kann.
14 Eine interessante Untersuchung des Verhältnisses von Doyle und Holmes
stellt Martin Gardners Essay »The Irrelevance of Conan Doyle«, in: ders.
Science: Good, Bad and Bogus, dar.
15 Auch über die Medizin hatte James Hinton recht ungewöhnliche An-
sichten. In seinem Buch The Mystery of Pain. A Book for the Sorrowful ver-
trat er die Theorie, dass »alles, was wir als Schmerz empfinden, uns in
Wirklichkeit etwas gibt«, auch wenn uns das nicht sofort einleuchten
will. Sein Sohn Charles versuchte später, diese Theorie mathematisch zu
formulieren und griff dazu auf eine höherdimensionale Geometrie und
unendliche Reihen zurück. (Zu James und Charles Hinton siehe auch
Kaku, Hyperraum, S. 92ff.)
16 Hinton, Picture of Our Universe, S. 41.
17 C. Hinton, »What is the Fourth Dimension?«, in: Univ. Mag. (Dublin), 1880.
Der Essay wurde 1884 als Pamphlet in der Reihe Scientific Romances von Swan
Sonnenschein & Co., London, wieder veröffentlicht. Sonnenschein war ein
Anhänger der Ideen Hintons und brachte in den folgenden zwei Jahren
weitere neun seiner Streitschriften heraus, die als zweibändige Sammlung
unter dem Titel Scientific Romances auf den Markt kamen. Die Essays »Eine
flache Welt«, »Was ist die vierte Dimension?« und »Der König von Persien«
sind in dem Sammelband Wissenschaftliche Erzählungen enthalten.
18 C. Hinton, »A Mechanical Pitcher«, in: Harper’s Weekly (20. März 1897),
S. 301–302.
19 Siehe dazu wieder Kaku, Hyperraum.
20 Sie dazu Arthur I. Millers Buch Einstein, Picasso: Space, Time and the Beauty
that Causes Havoc.
21 Marcel Duchamp, Nu descendant un escalier, 1912, Philadelphia Museum
of Art, Sammlung Louise und Walter Arensberg, Philadelphia (Penn.). Zu
Anfang des 20. Jahrhunderts entstand eine ganze Reihe solcher ›Kineto-
graphien‹, u.a. von El Lissitzky und Giacomo Balla. Im Life Magazine 284 er-
schien 1952 eine Fotomontage von Eliot Eliofson mit dem Titel Duchamp,
eine Treppe herabsteigend, die Duchamps Bild persifliert. (Anm. d. Übers.)
22 © Succession Picasso/DACS 2002.
23 Hier sei an unser ›Sekundenpendel‹ erinnert: Für L = 1 m ist t ≈ 2 s.
24 A. Einstein, »Elementare Betrachtungen über die thermische Molekular-
bewegung in festen Körpern«, in: Ann. Phys. 35 (1911), S. 679–694, hier:
S. 687.
25 Albert Einstein an Ilse Rosenthal-Schneider am 13. Oktober 1945, zitiert
in: Rosenthal-Schneider, Begegnungen, S. 26.
302 Das 1 × 1 des Universums
Kapitel 11
1 G. A. Cowen, »A Natural Fission Reactor«, in: Sci. American 235 (Juli 1976),
S. 36–47.
2 R. Bodu, H. Bouzigues, N. Morin u. J. P. Pfiffelman, »Sur l’existence
d’anomalies isotopiques rencontrées dans l’uranium du Gabon«, in: C.
Rend. Acad. Sci., D 275 (1972), S. 1731–1732.
3 Die Uranlagerstätten liegen zwischen Mounana, Moanda und France-
ville nahe dem Ogooué oder Ogowe, dem größten Fluss Gabuns. An
seinem Unterlauf liegt Lambarene, 1913–1965 die Wirkungsstätte Albert
Schweitzers. (Anm. d. Übers.)
4 Ein Isotop ist eine Variante eines Elements mit der gleichen Anzahl Pro-
tonen, aber verschieden vielen Neutronen. Das einfachste Beispiel ist der
Wasserstoff, dessen Kern nur aus einem Proton besteht. Das Deuterium,
304 Das 1 × 1 des Universums
das leichteste Isotop des Wasserstoffs, besteht aus je einem Proton und
einem Neutron, das Tritium aus einem Proton und zwei Neutronen.
Die Analyse wird mit einem Massenspektrometer durchgeführt. Die
Gasmoleküle von Uranhexafluorid (UFl6) werden ionisiert und beschleu-
nigt, bevor sie ein Magnetfeld durchlaufen, in dem sie abgelenkt werden.
Die Ablenkung ist von der Masse der Isotope abhängig. Die Methode
erlaubt Messungen von großer Präzision.
5 Ein Beispiel ist Nd142, eines von neun Neodym-Isotopen, das kein Spalt-
produkt ist und daher als Maß für den Neodym-Anteil in Oklo vor dem
Betrieb des Reaktors dienen kann.
6 M. Neuilly, J. Bussac, C. Fréjacques, G. Nief, G. Vendryes u. J. Yvon, »Sur
l’existence dans un passé reculé d’une réaction en chaîne naturelle de fis-
sions, dans le gisement d’uranium d’Oklo (Gabon)«, in: C. Rend. Acad. Sci.
D 275 (1972), S. 1847–1849.
7 P. K. Kuroda, »On the Nuclear Stability of Uranium Minerals«, in: J. Chem.
Phys. 25 (1956), S. 81–82, und ders., »On the Infinite Multiplication Con-
stant and Age of U Minerals«, in: J. Chem. Phys. 25 (1956), S. 1295–1296.
8 Nach George Cowan wurde schon 1953 eine – allerdings weniger detail-
lierte – Vorhersage von George Wetherill (UCLA) und Mark Inghram
(University of Chicago) gemacht. Die beiden Forscher untersuchten
eine Lagerstätte von Uranpecherz (eine Erzmischung, die vor allem aus
Uranoxid besteht, das in kristalliner Form als Uraninit, in einer pech-
glänzenden Masse als Pechblende und in Pulverform als Uranschwärze
vorkommt) und stellten fest: »Unsere Rechnungen zeigen, dass 10 Pro-
zent der erzeugten Neutronen absorbiert werden und die Kettenreaktion
aufrecht erhalten. Daher hat das Erzlager 25 Prozent des Wegs zu einem
Kernreaktor zurückgelegt. Es ist auch von Interesse, 2 Milliarden Jahre
zurückzurechnen, als der U235-Anteil noch 3 anstelle von 0,7 Prozent
betrug. Eine solche Lagerstätte wäre sicher noch dichter davor, einen
kritischen Reaktor zu bilden.« (G. W. Wetherill u. M. G. Inghram, in: Proc.
Conf. Nucl. Processes Geol. Settings, Nat. Research Council, Washington DC
1953, S. 30–32; hier zitiert nach G. A. Cowen, »A Natural Fission Reactor«,
in: Sci. American 235 (Juli 1976), S. 36–47.)
9 Mithilfe der Uran-Blei-Methode konnte bestimmt werden, dass der Reaktor
zum ersten Mal vor 1,84 ± 0,07 Milliarden Jahren kritisch wurde. Dieser Zeit-
punkt musste weit genug in der Vergangenheit liegen, damit der Anteil an
U235 noch genügend hoch war, andererseits musste aber schon ausreichend
Wasser zur Verfügung stehen, damit sich die hochangereicherte Unranoxid-
Lösung bilden konnte. Die Lebensdauer des Reaktors wird mit 2,29 ± 0,7 x
105 Jahren angegeben. (Y. V. Petrov, »The Oklo Natural Nuclear Reactor«, in:
Sov. Phys. Usp. 20 (1978), S. 937–944; R. Naudet, »The Oklo Nuclear Reactors:
1800 Million Years Ago«, in: Interdisc. Sci. Rev. 1 (1976), S. 72–84.)
Anmerkungen 305
10 M. Maurette, »Fossil Nuclear Reactors«, in: Ann. Rev. Nucl. Sci. 26 (1976),
S. 319–350; J. C. Ruffenach, R. Hagemann u. E. Roth, »Isotopic Abun-
dance Measurements a Key to Understanding the Oklo Phenomenon«,
in: Z. Naturforsch. 35A (1979), S. 171–179.
11 Foto mit freundlicher Genehmigung von Ilya Shlyakhter; weitere Infor-
mationen finden sich unter http://alexonline.info.
12 Vereinfachte Darstellung nach Y. Fujii et al., »The Nuclear Interaction at
Oklo 2 Billion Years Ago«, in: Nucl. Phys. B 573 (2000), S. 377–401, hier:
S. 381; siehe auch arXiv, hep-ph/9809549v2 (4. Januar 2000).
13 A. I. Shlyakhter, »Direct Test of the Constancy of Fundamental Nuclear
Constants«, in: Nature 264 (1976), S. 340; siehe auch Shlyakhters ATOMKI-
Report von 1983, der im Internet unter http://alexonline.info zu finden ist.
14 T. Damour u. F. Dyson, »The Oklo Bound on the Time Variation of the
Fine-Structure Constant Revisited«, in: Nucl. Phys. B. 480 (1996) S. 37–54,
siehe auch arXiv, hep-ph/9606486 (28. Juni 1996).
15 Y. Fujii et al., »The Nuclear Interaction at Oklo 2 Billion Years Ago«, in:
Nucl. Phys. B 573 (2000), S. 377–401, siehe auch arXiv, hep-ph/9809549v2
(4. Januar 2000).
16 1 Barn (Zeichen: b) = 10-28m2.
17 Aus der Analyse von Damour und Dyson kann man auf die Schranken
-94 ± 26 meV und 46 ± 44 meV schließen, die von den Autoren zu einem
einzigen Bereich -120 meV < ∆Er < 90 meV zusammengefasst wurden.
18 Siehe wieder Y. Fujii et al., Nuclear Interaction, S. 381, wo der Neutronenein-
fang eines Gadolinium-Isotops untersucht wird – ein vielversprechender
Ansatz, der sich auf neue Proben stützt. Leider ist weiterhin das Problem
von Verunreinigungen akut, das umfangreiche Korrekturen der Analy-
sen erfordert. Am vernünftigsten erscheint es, sich auf die Lösung vom
rechten Ast der Samariumkurve zu stützen, nach der in drei von vier un-
tersuchten Proben keine Verschiebung der Resonanzenergie festgestellt
werden konnte.
19 Die Kaluza-Klein-Theorien mit ihren zusätzlichen Raumdimensionen,
die wir im letzten Kapitel diskutiert haben, sagen sowohl für α als auch
αS voraus, dass ihre Änderungen proportional zu r-2 sind, wenn sich r, der
mittlere Durchmesser der Zusatzdimensionen, zeitlich ändert.
20 Teller, Geheimnisse der Physik, Fußnote S. 104. Jacksons Präsidentschaft
dauerte von 1829 bis 1837.
21 D. H. Wilkinson, »Do the ›Constants of Nature‹ Change with Time?«, in:
Phil. Mag. (Ser. 8) 3 (1958), S. 582–585.
22 F. Dyson, »Time Variation of the Charge of the Proton«, in: Phys. Rev. Lett.
19 (1967), S. 1291–1293.
23 Re187: 43,5 Milliarden Jahre (ionisiert in heißem Plasma: 32,9 Milliarden
Jahre; es zerfällt in das stabile Os187), K40: 1,3 Milliarden Jahre.
306 Das 1 × 1 des Universums
Kapitel 12
1 Wilde, Sätze und Lehren, S. 255.
2 G. Gamow, »Electricity, Gravity and Cosmology«, in: Phys. Rev. Lett. 19
(1967), S. 759–761. Zu ersten Messungen siehe auch M. P. Savedoff, »Physi-
cal Constants in Extra-Galactic Nebulae«, in: Nature 178 (1956), S. 688–689.
3 Der relativen Rotverschiebung z = ∆λ/λ der Strahlung, die von einem
Stern oder einer Galaxie ausgeht, kann man – abhängig von der Modell-
vorstellung, die man vom Kosmos hat – eine Entfernung und ein Alter des
Objekts zuordnen. (Anm. d. Übers.)
4 R. A. Alpher, »Large Numbers, Cosmology, and Gamow«, in: American
Scientist 61 (1973), S. 51–58, hier: S. 56. Wiedergabe mit freundlicher Ge-
nehmigung von American Scientist.
5 J. N. Bahcall, W. L. Sargent u. M. Schmidt, »An Analysis of the Absorption
Spectrum of 3C 191«, in: Astrophys. J. 149 (1967), S. L11–L15.
6 Quasar = Quasistellare Radioquelle; 1960 entdeckte man leuchtkräftige
Objekte in großer Entfernung, die optisch Sternen ähneln (daher ›quasis-
tellar‹), aber im wesentlichen Radiowellen ausstrahlen. (Anm. d. Übers.)
7 Aus »My Star«, einem Gedicht von Robert Browning, in: ders., Poems.
8 J. N. Bahcall u. M. Schmidt, »Does the Fine-Structure Constant Vary with
Cosmic Time?«, in: Phys. Rev. Lett. 19 (1967), S. 1294–1295.
9 M. J. Drinkwater, J. K. Webb, J. D. Barrow u. V. V. Flambaum, »New Limits on
the Possible Variations of Physical Constants«, in: Month. Not. Roy. Astron. Soc.
295 (1998), S. 457, siehe auch arXiv, astro-ph/9711290 (15. November 1977).
10 Genauer gesagt vergleicht man gpr α2, wobei gpr der so genannte Proton-g-
Faktor ist, von dem man in diesem Zusammenhang voraussetzt, dass er
sich nicht ändert.
11 L. L. Cowie u. A. Songaila, »Astrophysical Limits on the Evolution of Di-
mensionless Physical Constants over Cosmological Time«, in: Astrophys.
J. 453 (1995), S. 596–598. Die Grenzwerte beziehen etwaige Ungenauig-
keiten, die durch lokale Geschwindigkeitsvariationen der absorbierenden
Gase entstehen, nicht mit ein.
Anmerkungen 307
12 In den Gesetzen für die relativistischen atomaren Effekte tritt die Fein-
strukturkonstante in der Form (αZ)2 auf, wobei Z das Atomgewicht ist.
Die Ergebnisse werden daher erheblich genauer, wenn man anstelle von
Linien-Dubletts eines Atoms Linien von Atomen mit möglichst unter-
schiedlichem Z auswählt.
13 Man hat diese Rechenprogramme entwickelt, um für die Laborunter-
suchungen die Lage von Energieniveaus vorauszusagen. Die Untersu-
chungen wurden von Victor Flambaum und seinen Mitarbeitern an der
University of New South Wales durchgeführt.
14 Multiplett: analog zu Dublett und Triplett ein Satz von mehreren Ener-
gieniveaus.
15 Robert J. Scherrer, zitiert in G. Musser, »Inconstant Constants«, in: Sci.
American (November 1998), S. 13–14.
16 J. K. Webb, V. V. Flambaum, C. W. Churchill, M. J. Drinkwater u. J. D. Bar-
row, »Search for Time Variation of the Fine Structure Constant«, in: Phys.
Rev. Lett. 82 (1999), S. 884–887.
17 J. K. Webb, M. T. Murphy, V. V. Flambaum, V. A. Dzuba, J. D. Barrow, C. W.
Churchill, J. X. Prochaska u. A. M. Wolfe, »Further Evidence for Cosmologi-
cal Evolution of the Fine Structure Constant«, in: Phys. Rev. Lett. 87 (2001),
091 301, siehe auch arXiv, astro-ph/0 012 539v3 (4. September 2001).
18 Die fraglichen Absorptionslinien mit der erforderlichen Genauigkeit zu
messen ist eine große Herausforderung – vermutlich gab es zuvor dafür
noch keinen Bedarf. Je mehr Laborwerte vorliegen, umso mehr Informa-
tionen können mit der MM-Methode aus den vorliegenden Daten gewon-
nen werden.
19 Eddington, Naturwissenschaft auf neuen Bahnen, S. 200.
20 Es gibt noch andere Fehler, die insbesondere von Politikern ganz bewusst
begangen werden, wenn sie die Wahlergebnisse interpretieren. So nimmt
zum Beispiel eine Partei, die mit einem 10-Punkte-Katalog von Forderun-
gen auftritt, nach der gewonnenen Wahl ganz selbstverständlich an, dass
das Volk allen 10 Punkten zugestimmt hat. Es kann aber durchaus sein,
dass es eine Mehrheit nur für einen Teil der Punkte gab.
21 Es handelt sich um die Dispersion, die wellenlängenabhängige Brechung
des aus dem All kommenden Lichts in der Atmosphäre. Ihr Ausmaß ist
von der Dicke der Atmosphäre und damit von der geographischen Lage
des Teleskops und seiner Höhe über dem Meeresspiegel abhängig. Der
Effekt ist sehr gering und kann normalerweise in der Astronomie ver-
nachlässigt werden, aber er ist von der Größenordnung der gefundenen
Variationen der Feinstrukturkonstante. Korrigiert man den Fehler, wird
die aus dem Sternenlicht bestimmte Feinstrukturkonstante noch etwas
kleiner, das heißt, der Effekt wird sogar deutlicher.
22 J. D. Prestage, R. L. Tjoelker u. L. Maleki, »Atomic Clocks and Variations
308 Das 1 × 1 des Universums
of the Fine Structure Constant«, in: Phys. Rev. Lett. 74 (1995), S. 3 511–
3 514.
23 In der Zukunft werden möglicherweise neue Atominterferometer die
von Prestage und seinen Mitarbeitern angegebenen Grenzen weiter
verbessern. Die derzeitige Auflösung mit dieser Technologie liegt bei
Veränderungen von α in der Größenordnung 10-8 in 1 bis 2 Stunden.
Man wird vielleicht später mit dieser Methode die Konstanz von α im
Labor besser überprüfen können, zur Zeit besteht jedoch noch keine
Aussicht, die Genauigkeit astronomischer Messungen zu erreichen.
Angeregt durch neue atomphysikalische Rechnungen (V. A. Dzuba u. V.
V. Flambaum, »Atomic Optical Clocks and Search for Variation of the
Fine-Structure Constant«, in: Phys. Rev. A 61 (2000), 034 502, S. 1) hat
J. R. Torgerson die Möglichkeit diskutiert, Hohlraumresonatoren aus-
zunützen, um zu verbesserten Messungen der Änderungsrate von α zu
kommen (»Method for Precision Test of Fine Structure Constant Varia-
tion with Optical Frequency References«, in: arXiv, physics/0 012 054v3
(24. Dezember 2001)). Er nimmt an, dass man schon bald in Laborexpe-
rimenten eine zeitliche Variation der Größenordnung 10-15/Jahr feststel-
len kann.
24 P. P. Avelino, C. J. A. P. Martins, G. Rocha u. P. Viana, »Looking for a
Varying Alpha in the Cosmic Microwave Background«, in: Phys. Rev. D
62 (2000), 123 508; R. A. Battye, R. Crittenden u. J. Weller, »Cosmic Con-
cordance and the Fine Structure Constant«, in: Phys. Rev. D 63 (2001),
043 505.
25 Da die Auflösung von Anisotropiemessungen der Mikrowellen-Tempe-
ratur etwa 2 x 10-5 beträgt und die letzten Streuereignisse nach unseren
besten Altersschätzungen 14 Milliarden Jahre zurückliegen, können wir
als Grenze für die Variation von α bestenfalls (2 x 10-5)/(14 x 109 Jahre) ≈
1,4 x 10-15/Jahr erreichen.
26 In C. Brans u. R. H. Dicke, »Mach’s Principle and a Relativistic Theory
of Gravitation«, in: Phys. Rev. 124 (1961), S. 925–935, wird eine Theorie
mit einem variablen G entwickelt, in H. B. Sandvik, J. D. Barrow u. J. Ma-
gueijo, »A Simple Cosmology with a Varying Fine Structure Constant«,
in: Phys. Rev. Lett. 88 (2002), 031 302, eine kosmologische Theorie mit va-
riablem α, die an J. D. Bekenstein, »Fine-Structure Constant: Is it Really a
Constant?«, in: Phys. Rev. D 25 (1982), S. 1 527–1 539, anknüpft.
27 Für weitere Einzelheiten siehe J. D. Barrow, H. Sandvik u. J. Magueijo,
»The Behaviour of Varying-alpha Cosmologies«, in: Phys. Rev. D 65 (2002),
063 504, siehe auch ArXiv, astro-ph/0 109 414v1 (24. September 2001)
28 J. D. Barrow, H. B. Sandvik u. J. Magueijo, »Anthropic Reasons for Non-
zero Flatness and Lambda«, in: Physical Review D 65 (2002), 123 501.
Anmerkungen 309
Kapitel 13
1 Aus »O World of Many Worlds«, einem Gedicht von Wilfred Owen, in:
ders., Collected Poems.
2 Es ist ein schwerwiegendes Problem, dem Begriff ›wahrscheinlich‹ im
kosmischen Zusammenhang Substanz zu verleihen. Jeder Versuch ei-
ner exakten Definition ist bis jetzt gescheitert. Ohne ein Maß für die
Wahrscheinlichkeit kann man aber nicht quantitativ abschätzen, wie
wahrscheinlich eine Leben fördernde Entwicklung des Universums ist.
Man weiß einfach nicht, welche anderen Resultate gleich häufig sind,
wenn man alle denkbaren Ausgangssituationen des Universums oder
alle möglichen Varianten, die aus der chaotisch-inflationären Theorie des
Universums folgen, einbezieht. Die Problematik wird zudem verschärft,
weil man nur schwer definieren kann, ›wann‹ die Wahrscheinlichkeiten
universell, also für jeden Ort im Universum gelten. Auf diesem Gebiet
wird derzeit viel geforscht, das Problem ist aber noch ungelöst.
3 Pantin, Life, S. 104. Pantin spricht zwar von einer Analogie zur natürli-
chen Auslese, führt diese Idee aber nicht weiter aus.
4 Pantin, Life, S. 94.
5 Dieser Schluss könnte in die Irre führen, wenn die Theorie für Alles Quer-
verbindungen zwischen den Konstanten enthält, die bei einer kleinen Än-
derung der Feinstrukturkonstanten von 10-11 bei anderen lebenswichtigen
Konstanten beispielsweise eine Verdopplung oder Halbierung bewirken.
6 Wenn Leben nichts als das Nebenprodukt hoher Komplexität ist, kann es
auch im Geschwindigkeitsraum oder in der Struktur der Raumzeit oder
auch in der Miniwelt der Atome, Kerne und Elementarteilchen existieren. Es
würde dann dem nahe kommen, woran derzeit die Nanotechnik arbeitet.
7 Siehe dazu mein Buch Ein Himmel voller Zahlen. Zur weiteren Entwicklung
siehe auch M. Tegmark, »Is ›The Theory of Everything‹ Mereley the Ul-
timate Ensemble Theory?«, in: Ann. Phys. 270 (1998), S. 1–51, siehe auch
arXiv, gr-qc/9 704 009 (1. Dezember 1998).
8 Das Spiel wurde 1970 im Scientific American vorgestellt. Siehe dazu John
Conways Buch Über Zahlen und Spiele. (Anm. d. Übers.)
9 Das Theorem Kurt Gödels aus dem Jahr 1931 besagt, dass eine formale
arithmetische Theorie nicht alle in ihr wahren Aussagen beweisen kann.
(Anm. d. Übers.)
10 Wenn es in einem logischen System auch nur einen falschen Satz gibt,
kann man mit ihm die Wahrheit jeder falschen Aussage (z.B. von 0 = 1)
beweisen. Es gibt die berühmte Anekdote über Bertrand Russell, der auf
die Aufforderung eines Diskussionsteilnehmers, er solle beweisen, dass er
der Papst sei, wenn 2 = 1 gelte, geantwortet haben soll: »Sie und der Papst
sind zwei, wenn aber 2 = 1 ist, dann sind Sie und der Papst eins.«
310 Das 1 × 1 des Universums
Whole«, in: Phys. Rev. 37 (1931), S. 1 639–1 660, und ders., »On the Theore-
tical Requirements for a Periodic Behaviour of the Universe«, in: Phys. Rev.
38 (1931), S. 1 758–1 771.
22 J. D. Barrow u. M. Dąbrowski, »Oscillating Universes«, in: Month. Not. Roy.
Astron. Soc. 275 (1995), S. 850–862.
23 Raymo, Skeptics, S. 221.
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316 Das 1 × 1 des Universums