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des FranciscoSuárez
Herausgegeben von
Oliver Bach, Norbert Brieskorn und Gideon Stiening
DE GRUYTER
KurtSeelmann
ZurhistorischenWandelbarkeit
des
Naturrechts
Kanndas Naturrecht sich wandeln, darf man es andern?Dasist eine Frage,die
an die Fundamente unseres Rechtsverstandnissesrührt. Mehrnoch, sie rührt an
dieFundamente unseres Verstandnissesvon Recht,Moralund Religion,spielen
Normenund ihre Verbindlichkeitdoch mindestensin diesendrei Gebieteneine
ganz entscheidende Rolle. Ob und von wem solche Normengeandert werden
dürfen, hangt von mancherlei wichtigen Umstandenab, etwa davon, wer der
Normgeberist, wie und wem gegenüberNormenzu begründensind, wie stark
die Geltungwelcher Normenim Fall von Normenkollisionen ist und wie es um
die Geschichtlichkeitund Kulturabhangigkeitvon Normensteht. Manmuss nur
an ganz aktuelle Debatten um Begründung,Ausgestaltungund Durchsetzung
vonMenschenrechtendenken, um sich klar zu machen,wie sehr solcheGrund-
satzfragen nichtpositiver Richtigkeitskriterienuns heute noch in ihren Bann
ziehen.
1 Suárez'Anderungsverbot
unddie
Vorgeschichte
Wennman bei der BehandlungsolcherFragenin ersterLinieFrancisoSuárezzu
Ratezieht, so kann man dies allein schon mit seinemim Jahr 1612erschienenen
bedeutsamenWerk über die Gesetzeund Gott den Gesetzgeber,De Legibusac
DeoLegislatore,begründen. Es steht am Ende jener groBenund wissenschaft·
lich so fruchtbaren Epoche der SpanischenSpatscholastik- oder, was die Be-
deutungund die innere Spannung dieser Zeitnoch mehr betont - der »Renais-
sance-Scholastik«.Somit erfáhrt man viel bei Suárezüber diese seine Epoche,
über seine berühmten Vorgangerund Vordenkerund deren wissenschaftliche
Auseinandersetzungen.Hinzu kommtaber, dass Suáreznicht einfachals Kom-
mentatorund Zusammenfasserauftritt, der eine Summeaus dem Bisherigenzu
ziehentrachtet. Auch das tut er zwar, aber für uns interessantwird sein Werk
überdie Gesetzenoch mehr aus dem Grund,weil er eine beeindruckendeSelb-
standigkeitdes Denkens an den Tag legt und Gesammeltesnicht nur ausstellt
und ausbreitet, sondern befragt,verwirft,weiterentwickeltund neu ordnet.
214 - KurtSeelmann
1.1 Suárez'Anderungsverbot
Fragt man im Text von Francisco Suárez' De legibus ac Deo legislatorenach
seiner Sicht von einer Wandelbarkeit des Naturrechts, so scheint die Antwort,
zunachst jedenfalls, klar und eindeutig: Das Naturrecht verandert sich nicht, es
ist also unwandelbar und universell. So ist von vornherein keine Normeniinde•
rung insgesamtmoglich, keine Anderung des Gesetzes als solchen, so erkHirt
uns eindeutig das 13. Kapitel des zweiten Buches in diesem seinem Werk. Weiter
konnen der Mensch und selbst Gott auch nicht im Einzelfallvon Normen des
Naturrechts einen Dispens erteilen, so belehren das 14. und das 15. Kapitel im
selben zweiten Buch des genannten Werks. Und schlieBlich kann auch der Ge-
danke der Interpretationnach BilligkeitNaturrecht nicht andero im Sinne von
verbessern oder mildern, sei das Naturrecht doch eindeutig und bedürfe keiner
lnterpretation - so schreibt Suárez es im anschlieBenden 16. Kapitel.
1 Isidorus Hispalensis: Etymologiarum sive originum libri XX. Recognovit brevique adnotatio-
ne critica instruxit W.M.Lindsay, tomus I-II, Oxford 1911,V 4,1.
2 Gratian: Decretum Magistri Gratiani. Cur. Emil Ludwig Richter, instr. Emil Friedberg. Leipzig
2
1879, Sp. 31 (Dictum Introductorium in D. XIII), vgl. dazu Sten Gagnér: Studien zur Ideenge-
schichte der Gesetzgebung. Stockholm u.a. 1960, S. 181.
3 Gratian: Decretum Magistri Gratiani (s. Anm. 2), Sp. 11 (D. VI, C. 3). Vgl. demgegenüber die
neuere Nachkriegs-Naturrechtstradition etwa bei Johannes Messner: Das Naturrecht. Hand-
buch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik. Innsbruck et. al. 51966, wonach
der Gedanke einer Anderung des Naturrechts vollig unproblematisch erscheint, vgl. etwa
S. 119: »Mit der Kulturentwicklung entstehen vollig neue Forderungen des Naturgesetzes [...]
Das sittliche Bewusstsein von einzelnen Volkem und der Menschheit im Ganzen unterliegt der
Entwicklung.« Auf diese neuere Tradition des Naturrechts wird im Folgenden nicht eingegan-
gen.
Zur historischen Wandelbarkeit des Naturrechts - 215
1.3 ThomasvonAquin
Thomas von Aquin hat ein Jahrhundert spater, im 13. Jahrhundert, daran ange-
knüpft: Unwandelbar sind für ihn die ersten, obersten Prinzipien des Natur-
4 Gratian: Decretum Magistri Gratiani (s. Anm. 2), Sp. 7 (Dictum Introductorium in D. V),vgl.
dazu Gagnér: Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung (s. Anm.2), S. 183,
S Ebd., S. 184.
6 Ebd., S. 181.
7 Ebd., S. 185.
8 Gratian: Decretum Magistri Gratiani (s. Anm. 2), Sp. 31 (Dictum Introductorium in D. XIII),
vgl. Gagnér: Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung (s. Anm.2), S. 181.
9 Gratian: DecretumMagistriGratiani (s. Anm. 2), Sp. 31 (in D. XIII,C. 1).
10 Gagnér: Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung (s. Anm. 2), S. 186. Für Gratian galt
noch allgemein: »Ius naturale est, quod in lege et evangelio continetur.« (Gratian: Decretum
Magistri Gratiani [s. Anm. 2), Sp. 1 [in D. I, C.1]).
216 - KurtSeelmann
rechts, da sie einfach zu erkennen 11 und dem menschlichen Herzen nach dem
Romerbrief (2.15) eingeschrieben, »scriptum in cordibus hominum«, seien.12
Sofem aus diesen obersten Prinzipien aber Schlüsse gezogen werden, woraus
dann ein konkreteres Naturrecht zweiter Ordnung entsteht, kann dieses Natur-
recht zweiter Ordnung sich bei Thomas wandeln - allerdings nur weil und nur
insofem sich der Gegenstand wandelt, der durch dieses Naturrecht geregelt
wird - eine dritte Legitimation zum Abweichen vom Naturrecht, die uns spater
bei Suárez dann immer wieder begegnen wird als eine von der geregelten Sache
her einschrankende Relativitat der weiterhin universell geltenden Norm.13 Ein
Beispiel ist bei Thomas wie schon in langer Tradition vor ihm das »Depositum«,
dessen philosophische Bedeutung ja bis Kant und Hegel in einem umgekehrten
Verhaltnis zu seinem juristischen Nischendasein steht. Man soll Anvertrautes
zurückgeben, um das Vertrauen zu schützen - Waffen aber muss man nicht an
einen Verrückten zurückgeben und Geld nicht an jemand, der das Vaterland
damit kriegerisch bekampft. 14 Aber auch Rufinus' Differenzierungen hinsicht-
lich der Normen des »Alten Testaments« hfilt er aufrecht und differenziert sie
weiter.15 Über die Interpretationglaubt Thomas allerdings Naturrecht nicht an-
dem zu konnen, denn die naturrechtlichen Regeln seien, anders als menschli-
ches Recht, »per se nota« und folglich nicht der Interpretation bedürftig. 16
1.4 DunsScotus
U.a. Duns Scotus, wieder ein Jahrhundert spater, im 14. Jahrhundert, greift die
Problematik auf und unterscheidet, anders als Thomas, drei Stufen des Natur-
rechts. Anders auch als Thomas halt er namlich ebenfalls auf der zweiten Stufe,
derjenigen der unmittelbaren Schlussfolgerungen aus den obersten Grundsat-
zen, eine .Anderung des Naturrechts nicht für moglich, da es sich auch bei den
Schlussfolgerungen um logisch zwingende Ableitungen aus den obersten Prin-
11 Ausführlich dazu Robert Schnepf: Franclco Suárez über die Veranderbarkeit von Gesetzen
durch Interpretation. In: DieOrdnung der Praxis. Neue Studien zur Spanischen Spatscholastik.
Hg. von Frank Grunert u. Kurt Seelmann. Tübingen 2001,S. 75-108, hier S. 81;bei Thomasvon
Aquin: STh1-11,q. 94 art. s.
U »Scriptum in cordibus hominum«, den Herzen der Menschen eingeschrieben, vgl. die
Referenzauf Paulus auch noch bel Suárez DL11.s. 10, Pereña III, 67.
13 Schnepf: Veranderbarkeit(s. Anm. 11),S. 81.
14 STh1-11,q. 94, art. 4, resp., DThA13,82f.;Schnepf: Veranderbarkeit(s. Anm. 11),S. 81.
15 Gagnér: Studien zur ldeengeschichte der Gesetzgebung(s. Anm.2), S.187.
16 Schnepf: Veranderbarkeit(s. Anm. 11),S. 83f.
Zur historischen Wandelbarkeit des Naturrechts - 217
zipien handle - seien diese unwandelbar, so auch jene.17Die Gebote auf einer
weiteren, der dritten Stufe, stimmen zwar mit denen der anderen Stufen zu-
sammen, sind wertungsmafüg mit ihnen konsistent, folgen aber nicht logisch
aus ihnen und konnen deshalb gewandelt werden. Zu diesen Normen der drit-
ten Stufe gehort für Duns Scotus aber fast alles, was das Verhaltnis zwischen
Menschen regelt, namlich die gesamte zweite Tafel des Dekalog und damit auch
das Totungsverbot und alle anderen im Verhaltnis zwischen Menschen gelten-
den Verbote in diesen 10 Geboten.18 Einzig und allein die drei ersten Gebote,
also die der ersten Tafel, die nur das Verhfiltnis Mensch-Gott festlegen, sind
unwandelbar und gehoren zum absolut geltenden Naturrecht. Die Gebote der
zweiten Tafel folgen nicht zwingend aus denen der erste Tafel und rufen des-
halb geradezu nach einer positiv-rechtlichen Regelung, die sich um die Inter-
pretation der grundlegenden naturrechtlichen Normen bemüht. Deshalb wird
Duns Scotus ja gerne zum Ahnherrn einer Philosophie von der Dignitat des
positiven Rechts erklart. 19 Wenn auf der dritten Stufe aber auch interpretiert
werden darf, ja muss, bedeutet dies seit den Glossatoren nicht nur, dass dunkle
Stellen aufzuhellen waren, sondern auch, dass Gesetze auf Grund einer anderen
Interpretation der Grundregeln verandert werden dürfen,20 eine vierteGelegen-
heit zur Abweichung vom Naturrecht neben derjenigen der Güterkollision, der
Ebenen-Differenzierung des Alten Testaments und der Veranderung der Um-
stande.
Allerdings kann sich Duns Scotus durchaus auch eine revocatiogottlicher
Gebote ganz direkt durch Gott vorstellen, ist für ihn Gottes Wille doch keines-
falls von vornherein an eine ewig unveranderliche gottliche Vernunft gebun-
den. Der Sündenfall veranlasst seiner Auffassung nach Gott, ein praeceptum,
etwa das des »omnia communia«, zurückzunehmen 21 - eine Vorstellung, in der
ihm etwa Wilhelm von Ockham folgt.22 Andere Autoren, wie Conradus Sum-
menhart, losen dieselbe Problematik dadurch, dass das praeceptumvon vorn-
herein nur für den Zustand vor dem Sündenfall aufgestellt worden sei, es einer
revocatiodurch Gott folglich gar nicht bedurft hatte. 23 Auch so, mit dem Sün-
denfall-Einschnitt, lasst sich in einer fünften Variante das Gebot als solches
formal aufrecht erhalten, namlich für Menschen »qui sunt naturae integrae, non
corruptae«, 24 aber de facto doch davon abweichen, da eben die Voraussetzun-
gen vor dem Sündenfall nicht mehr bestehen, d.h. es die integren Menschen vor
dem Sündenfall eben nicht mehr gibt, für die allein die ursprüngliche Norm
galt.
Legitimitat des Privateigetums zumindest an Land - zum Meer gab es eine spe-
zielle Diskussion - im Prinzipjedenfalls überzeugt. Wie lieB sich das vereinba-
ren: omniacommunia,das Gemeineigentum, gehort zum unwandelbaren Natur-
recht, und doch hat es sich zum dominiumin particulari,zum Privateigentum,
gewandelt?
Die Argumentationen sind unterschiedlich. Vitoria und Soto bedienen sich
einer Differenzierung innerhalb des Naturrechts. Das »omnia communia« sei
kein naturrechtliches Gebot, sei überhaupt nicht normativ gemeint, sondem,
wie Vitoria sagt, eine bloBe»concessio«, eine bloBe Erlaubnis, von der mensch-
liches Recht jederzeit abweichen konnte. 28 Ahnlich formuliert es Soto, der in
Bezug auf das Privateigentum davon ausgeht: »lex naturalis [...] permisit«,29
also das Naturrecht hat es zugelassen, nicht gefordert. Auch dies war eine Mog-
lichkeit, die sechste, die Moglichkeit des Abweichens vom Naturrecht in das
formal unwandelbare Naturrecht zu integrieren. Ganz anders argumentiert
Vázquez, für den das »omniacommunia« im scotistischen Sinn ein echtes Gebot
ist, das aber - entgegen Duns Scotus - nicht durch eine revocatiosondem im
Wege einer Prinzipienkollision, weil das Privateigentum zu einem sorgsameren
Umgang mit Ressourcen führe und Hungersnote eher verhindere, aufgehoben
werden dürfe. 30 Gratians eher nebenher und ausschlieBlich für die dispensatio
gemachte Bemerkung von den beiden Übeln, deren kleineres zu wahlen sei,
erlebt im 16. Jahrhundert eine Anwendung als allgemeines Prinzip - die siebte
Moglichkeit - in unserer Zahlung - von unwandelbarem Naturrecht abzuwei-
chen.
2 Suárez'WegeeinerRelativierungdes
Anderungsverbots
Was macht nun Suárez aus diesem Stand der Debatte? Zunachst fállt auf, dass
Suárez die Diskussion um die Anderbarkeit von Naturrecht weit intensiver,
sowohl umfassender als auch genauer, führt als seine Vorganger. Thomas' Ge-
31 Zur Intensitat der Beschaftigung von Sufuez mit dieser Problematik vgl. Schnepf: Veran-
derbarkeit (s. Anm. 11),S. 90.
32 ZurEinteilung ebd., S. 90, Fn. 55.
Zur historischen Wandelbarkeitdes Naturrechts - 221
und schlieBlich - der schwierigste Fall - die Problematik des ius gentium,also
des dem Naturrecht nahen, >inter nationes< weit verbreiteten Gewohnheits-
rechts (= elftens).
Will man das reiche von Suárez und seinen Vorlaufem herangezogene Ma-
terial sinnvoll und übersichtlich sowie ohne Redundanzen gliedem und die
wichtigsten Schwerpunkte setzen, so kann man folgende Argumentationswege
auflisten und in den Vordergrund stellen:
2.1 Als einzigen ausdrücklichen Fall einer wirklichen Anderung des Natur-
rechts führt Suárez eine Anderung durch Gottes revocatioin oberster Herr-
schafts-Gewalt auf - in zwei anderen groBen Fallgruppen (gleich unten 2.2)
und 2. 3) bemüht er sich hingegen um den Nachweis, dass eine wirkliche
Anderung nicht vorliege.
2.2 Eine erste Fallgruppe von - aus Suárez' Sicht nur scheinbaren- Verande-
rungen liegt, so konnte man sagen, vor, wenn das Ziel, das Telos des Natur-
gesetzes bestehen bleibt, der Einzelne aber an dessen Formulierung aber
nicht gebunden ist. Suárez nennt hierfür, wenn ich recht sehe, drei Anwen-
dungsfálle: einmal den einer den Wortlaut korrigierenden Interpretation,
die sich aber am Zweck des Gesetzes orientiert (2. 2. 1), zum anderen den
Fall, dass die Umstande sich andem und so das Ziel des Naturrechts nur
durch Reaktion auf diese Veranderung der Umstande erreicht werden kann
(2. 2. 2) und drittens den Fall, dass das Gesetz selbst immanente Schranken
aufweist, also bei genauerer Betrachtung bestimmte Ausnahmen schon bei
Orientierung an seinem Ziel enthalt (2. 2. 3).
2.3 Die zweite Fallgruppe solcher aus der Sicht von Suárez bloB scheinbarer
Anderungen betrifft sodann Falle, bei denen man in moderner Terminologie
von »Privatautonomie« sprechen konnte. Es geht hier also um Falle, die
durch menschlichen Mitwirkungsbedarf gekennzeichnet sind: Etwa durch
die Abgabe eines Gelobnisses gestaltet der Einzelne das Naturrecht inhalt-
lich mit, wonach er das Gelobnis nunmehr halten muss - eine Verpflich-
tung, die er so vorher nicht hatte (2. 3. 1). Zu diesen Fallen der Privatauto-
nomie gehort aber auch der Fall, dass das Naturrecht nur eine Erlaubnis
erteilt, von welcher der Mensch Gebrauch machen darf, von der Gebrauch
zu machen er aber auch verzichten und dadurch die Situation anders ge-
stalten kann (2. 3. 2). Oder weiter, das Gesetz beschreibt nur einen Zustand,
der nicht normativ verpflichtend ist, sondern durch Gewohnheit geandert
werden kann (2. 3. 3). SchlieBlich hat bei Handlungspflichten der Einzelne
immer unvermeidbar einen Handlungsspielraum (2. 3. 4).
2.1 revocatio
Den einzigen echten Fall von Anderung des Naturrechts, namlich eine gottliche
revocatio- behandelt Suárez in aller Kürze und gewissermaBen »mit spitzen
Fingem« - da ist ihm nicht so ganz wohl. Die Quellen geben klar die Unaban-
derlichkeit des Naturrechts vor, und doch kann und will er natürlich Gottes
Allmacht nicht leugnen. Gott, so meint er, konne natürlich Ausnahmen vom
Naturrecht vorsehen - in diesem Fall liege aber kein Dispens, sondem ein Ein-
griff gottlicher Herrschaftsgewalt in die Umstande vor, die vom Naturrecht ge-
regelt würden. Wenn Gott einem bereits Verheirateten befehle, noch einmal zu
heiraten, wird dieser Mensch eben vom Bigamieverbot ausgenommen und nicht
das Bigamieverbot als solches wird wirklich verandert. Mit seiner Herrschafts-
gewalt kann Gott alle Umstande andero und das Naturrecht doch beibehalten.
Suárez unterscheidet namlich zwischen Gott als oberstem Gesetzgeber, als
»supremus legislator« 33 - und für einen solchen würde sich die Frage der dis-
pensatiostellen - und Gott als oberstem Herrscher, als »supremus dominus«, 34
und als solcher dispensiert er nicht im eigentlichen Sinn, aber er kann »tollere
materiam legis«,35 also die Umstande andero, auf die sich die naturrechtliche
Norm bezieht.
lnteressanter sind die beiden anderen Fallgruppen, in denen nach Suárez'
Auffassung von voroherein eine Anderung ausgeschlossen ist - in denen er
aber dennoch Wege findet, um Abweichungen vom Naturrecht de facto dann
doch moglich zu machen.
2.2 TeleologischeBetrachtungen
Betrachten wir zuerst diejenigen Falle na.her, in denen unter Hinweis auf das
Telas des Gesetzes für einen groBzügigen Umgang mit diesem eingetreten wird.
Hier interessiert uns zunachst die den Wortlaut korrigierende Interpretation.
2.2.1 lnterpretation
Ein Einfallstor filr Anderungen bildet die Interpretation. Das mag den heutigen
Juristen befremden, ist es doch heute verbreitetes Verstandnis, dass Interpreta-
tion nur innerhalb der Grenzen des moglichen Wortsinns stattfindet und nur
andere juristische Argumentformen, wie Analogie, argumentuma fortiorietc.,
die Wortlautgrenze übersteigen konnen. Interpretation wird im 17.Jahrhundert
aber weiter verstanden als in der heutigen Begriffsverwendung und umfasst
auch Billigkeit und »Auslegung« contralegem.36 Suárez kennt dieses weite Ver-
standnis von Interpretation, das von den Glossatoren und Kommentatoren her-
rührt und das Interpretation auch im Sinne von Korrekturen des Gesetzes mit
einschlieBt.37 Für das Naturrecht ist nach Suárez' Auffassung eine solche an
Billigkeit orientierte Interpretation verboten. 38 Nur Veranderungen der Umstan-
de, des Regelungsgegenstandes, erlauben nach Suárez eine Interpretation con-
tra legem39 - also auch hier macht sich wieder das formen universell bleibende
Naturrecht de facto von den relativen Umstanden abhangig.
2.2.2 VeriinderteUmstiinde
Wichtiger filr das teleologische Verstandnis des Naturrechts ist deshalb filr
Suárez eben dieser Gesichtspunkt sich verandemder Umstande - ein Gesichts-
punkt, der immer wieder in verschiedensten Kontexten aufscheint und der uns
sogar bereits bei der Problematik einer moglichen Revocatio durch Gott begeg-
net ist. Schon im 13. Kapitel steht die Veranderung der Umstande, wir würden
heute vielleicht sagen: der Gedanke eines Fortfalls der Geschaftsgrundlage, filr
36 DL 11. 15. 2, Pereña IV, 47: »etiam praeter verba eius«. Ausführlich zur Interpretation bei
Suárez im Fall menschlicher Gesetze vgl. Oliver Bach: Juridische Hermeneutik. Francisco
Suárez zur Auslegung und Veranderung der menschlichen Gesetze (DLVI). »Auctoritas omni-
um legum«. Francisco Suárez' >Delegibus< zwischen Theologie, Philosophie und Jurisprudenz.
Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskom u. Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013,
S.267-309.
37 Zum Ausgang von diesem weiten Interpretationsverstandnis von Suárez vgl. Schnepf:
Veranderbarkeit (s. Anm. 11),S. 88, S. 96.
38 DL II. 16. 7, Pereña IV, 84: »propria epiikia non habet locum in aliquo praecepto naturali,
[ ...).«
39 DL II. 16. 12, Pereña IV, 93: »Quoties ergo praeceptum aliquod naturale videtur non obligare
in aliqua opportunitate, necesse est mutari materiam talis actus [...].«; vgl. auch Schnepf:
Veranderbarkeit (s. Anm. 11),s.100.
224 - KurtSeelmann
Suárez im Zentrum der Anderbarkeitsdebatte 40- und dieser Gedanke des Fort-
falls der Geschaftsgrundlage lebt natürlich von der Ausrichtung an einem Ge-
setzeszweck, dessen Beibehaltung bei veranderten Umstanden nur mit einem
Abweichen von der Norm bewerkstelligt werden kann. Suárez' allgemeines
Beispiel: Ein Vater hore auf, Vater zu sein, wenn er sterbe, aber ebenso, wenn
sich an ihm nichts verandere, aber der Sohn sterbe. Ebenso kéinne sich ein Ge-
setz selbst andem oder aber die auBeren Umstande anderten es, obwohl es als
Gesetz streng genommen gleich bleibe. 41 Als Beispiel aus dem Recht nennt
Suárez die hier schon bei Thomas von Aquin und in der Tradition immer wieder
angesprochene Pflicht, einen verwahrten Gegenstand zurückzugeben: diese
Pflicht gelte von Natur unabanderlich, aber es kéinne gute Gründe geben, ein-
zelne Personen oder Gegenstande nicht davon erfasst zu sehen: etwa wenn die
Rückgabe der Gegenstande Einzelnen oder der Gemeinschaft Schaden verursa-
che.42
2.2.3 lmmanenteSchranken
Drittens schlieBlich ergeben sich aro Zweck des Gesetzes orientierte Quasi-
Anderungen, »loquitur de mutatione impropria«, 43dadurch, dass das Gesetz
selbst immanente Schranken aufweist, die es nicht ausdrücklich benennt. Na-
turrecht sei eben nur sehr allgemein in unseren Herzen formuliert, deshalb
müsse man es mit »Einschrankungen und umsichtigen Klauseln«44 anwenden,
»cum limitatione et circumspectione«, 45wie es Suárez fomuliert. Dafür nennt er
dann auch wieder das Depositum-Beispiel: die Ausnahmen von der Rückgabe-
pflicht verstehe man stillschweigend, »subintelliguntur«, 46wie eres nennt, er
bezieht sich aber auch auf vorausgehende Beispiele wie das Téiten in Notwehr
oder die Ehe mit der Schwester, um die Menschheit zu erhalten. 47
2.3 Privatautonomie
Aber wenden wir uns nun den Fallen der Abweichung vom Naturrecht zu, in
denen man von einer »Privatautonomie« im weitesten Sinn sprechen konnte, in
denen also für das Zustandekommen der Norm eine Mitwirkung einzelner Per-
sonen erforderlich ist
2.3.1 MenschllcheBetelligung
Genannt werden hier bei Suárez einige Beispiele für menschliche Beteiligung
am Naturrecht, wie der Abschluss von Vertragen und Vereinbarungen, das Ein-
gehen von Verpflichtungen und die Abgabe von Gelübden oder Versprechen. Zu
deren Einhaltung gebe es naturrechtliche Vorschriften, aber der Mensch habe es
vollig in der Hand, sich in solche vom Naturrecht geschützten Verpflichtungen
zu begeben oder zu entscheiden, es nicht zu tun, und je nachdem gelte die Ver-
pflichtung oder sie gelte nicht - ganz im Unterschied zu den Pflichten der Got-
tesliebe, der Pietat gegenüber den Eltern oder der Nachstenliebe, die unabhan-
gig von menschlichen Entscheidungen gfilten.48 Aber obwohl der Mensch hier,
bei den privatautonomen Selbstverpflichtungen, über die Anwendbarkeit von
naturrechtlichen Normen entscheiden kann, sie »per humanas voluntates int-
roducuntur«, 49 ist auch dies für Suárez nicht wirklich ein Fall von Anderung des
Naturrechts durch Menschen - ja überhaupt kein Fall der Anderung von Natur-
recht, da dieses in derlei Fallen ohnehin nur bedingt durch menschliche Selbst-
Verpflichtungen gelte.
2.3.2 Erlaubnls.nlchtGebot
Weiter kann man diesen Fallen der Privatautonomie Falle zurechnen, in den
das Naturrecht nur eine Erlaubnis und kein Gebot vorsieht, eine Erlaubnis von
welcher der Mensch Gebrauch machen kann oder nicht. Naturrecht konne, so
Suárez, auf unterschiedliche Weise verstanden werden - gemeint sein konne,
dass »lex aliqua naturalis id praecipit«, 50 aber auch, dass etwas »de iure natura-
48 DL11.14. 7.
49 DLII. 14. 7, Pereña IV, 23.
50 DL11.14. 6, Pereña IV, 22.
226 - Kurt Seelmann
li solum permissive«51 sei. Er fügt Beispiele an, die uns gerade in diesem Zu-
sammenhang schon bei Autoren ein halbes Jahrhundert vor Suárez, bei Vitoria
und Soto, begegnet sind, namlich »rerum communitas« und »hominum liber-
tas«.52Gemeineigentum und Freiheit, beides von alters her Gegenstande des
Naturrechts, haben sich ja spater in Privateigentum und Sklaverei gewandelt,
und es war schon in der früheren Spatscholastik eine wenn auch umstrittene
Losung dieses Gegensatzes gewesen, das ursprüngliche Gemeineigentum und
die ursprüngliche Freiheit nur als Erlaubnisse anzusehen, von denen nach
menschlichem Recht deshalb bedenkenlos abgerückt werden konnte. Dennoch
zeigt die genauere Lektüre, dass Suárez dem Naturrecht nicht einfach, wie es
bei Vitoria und Soto in der Tradition von Thomas der Fall zu sein scheint, eine
gewisse Neutralitat in dieser Sache zubilligt, sondem durchaus eine menschli-
che Neigung zu Gemeineigentum und Freiheit voraussetzt 53 und auch für den
Zeitraum des Gemeineigentums und der ursprünglichen Freiheit ein Gebot an-
nimmt, sich an diese Vorgaben zu halten. 54 Eine gewisse Sympathie mit diesen
beiden ursprünglichen Gegebenheiten scheint hier durch. 55 Ihre Abschaffung
rechnet er ausschlieBlich menschlichem Recht zu, denn »non habent illam
intrinsecam necessitatem, ut divisio rerum et servitus« - Privateigentum und
Sklaverei haben eben nicht jede instrinsische Notwendigkeit wie ihr Gegenteil
(es hatte). 56
2.3.3 DurchGewohnheltentstandenerZustand
Weiter kann eine Quasi-Anderung von Naturrecht dadurch erfolgen, dass Ge-
genstand der naturrechtlichen Regelung nur ein »Zustand« ist ohne normative
Bedeutung und mithin von menschlichem positiven Recht jederzeit gestaltet
werden kann. In diesem Kontext behandelt Suárez das >ius gentium<, dessen
Bedeutung schon das Mittelalter über und dann bis ins frühe 17. Jahrhundert
hochst umstritten ist. Manche Autoren, insbesondere die meisten Juristen, ver-
stehen unter >ius gentium< das speziell für die Menschen geltende Naturrecht,
andere sehen darin nur eine Abart des ius dvile, des van Menschen gemachten
Rechts. Ius gentiumware dann eben das bei vielen oder im Grenzfall allen Vol-
kem in gleicher Weise geltende positive Recht. Suárez laviert etwas, ist sich
etwas unsicher, wenn er das »ius gentium« als »naturali (se. iure) proximum«,
also »dem Naturrecht am nachsten« bezeichnet.57Auch behandelt eres «prius-
quam ad positivum transeamus«, also bevor er sich dem positiven Recht zu-
wendet, dem es somit eigentlich nicht angehore, da es doch »magnam habet
cum iure naturali affinitatem«, 58 es sei »quasi medium ínter naturale ius, et
humanum«, 59 meint er, um es dann aber am Ende nach vielen, teilweise etwas
verwirrenden Argumenten doch dem ius dvile zuzurechnen und von Gott wie
van den Menschen für anderbar zu erklaren: »ideo mutabile«.60 Das ius gentium
legt also auf übemationaler Ebene Gewohnheiten fest, ist eine Art übemationa-
les Recht, darin dem Naturrecht ahnlich. Weist man es wie Suárez gleichwohl
dem menschlichen Recht zu, sind diese Gewohnheiten Zustande, die menschli-
ches positives Recht jederzeit andern kann. Da es diese Rechtsmaterie des ius
gentiumwar, die aus der Sicht der Theologen und Juristen der Zeit das omnía
communiaund die libertas aufgehoben haben, so leuchtet es angesichts der
angesprochen Sympathien van Suárez für diese Einrichtungen des Gemeinei-
gentums und der Freiheit auch ein, dass das ius gentium,das Privateigentum
und Sklaverei brachte, letztlich doch dem menschlichen Recht zuordnet, gerade
um dieses Recht auch wieder van Menschen andem lassen zu konnen.
2.3.4 Handlungspflichten
etwa gegen das Gebot, Armen in Not zu helfen? Wer ist arrn, wer ist in Not - und
falls, was nahe liegt, sehr viele gleichzeitig ann und in Not sind, wem soll zuerst
geholfen werden, wem anschlieBend? Hier, bei den Handlungspflichten, auch
soweit sie eindeutig naturrechtlich begründet erscheinen, gibt es offenbar un-
venneidlich ein den Verpflichteten betreffendes Auswahlrecht, ja eine Aus-
wahlpflicht, ohne welche die Handlungspflicht gar nicht bestehen konnte.
Wahrend also »praecepta negativa«, d.h. Unterlassungspflichten, »prohibent
res per se [...] et pro semper«, 61 ist dies dagegen anders bei den Handlungs-
pflichten. Diese, meint Suárez, gelten zwar auch immer, aber nicht »für immer«,
also »licet semper obligent, non tamen pro semper«. 62 Damit ist eigentlich im
Prinzip schon die klassische Unterscheidung in uneingeschrankt und immer
geltende »vollkommene« Unterlassungspflichten und situationsabhangig gel-
tende »unvollkommene« (Handlungs-)Pflichten angesprochen, die nach dem
bisherigen Stand der Debatte erst von Grotius soll initiiert worden sein und van
Pufendorf und Leibniz übernommen worden ist.63
3.1 lntuitionismus
Fragt man nach der Herkunft des Naturrechts, so verweist Suárez mit der Tradi-
tion auf zweierlei: Zum einen ist nach dem heiligen Paulus das Naturrecht
»scriptum in cordibus hominum« 64• Auch die Heiden, die mit der christlichen
Überlieferung zunachst keinen Kontakt haben, sind sich angesichts dieser
»natürlichen« lntuition, des Gewissens (der »Synderesis«), wie Suárez mit
Thomas erganzt, nach der Aussage von Paulus selbst das Gesetz65 und leben
folglich nicht in einem gesetzlosen Zustand. Zum anderenaber sieht Suárez für
das natürliche Gesetz als Erkenntnisquelle auch das »dictamen naturale rectae
rationis«. 66 Cor und ratio,Herz und Verstand, lassen den Menschen so die Gebo-
te des Naturrechts erkennen, ganz unabhangig von geschriebenem Recht und
Offenbarung - welch letztere dann aber seit Gratian doch auch zumindest in
Teilen zum Naturrecht hinzugerechnet wurde. Der Mensch hat in dieser Er-
kenntnis seines Herzens und seins Verstandes tell am ewigen Gesetz Gottes.67
Der allgemein-menschliche Intuitionismus dieser Sicht kommt dem Projekt
einer neuen Stufe von Universalisierung entgegen. Dieser lntuitionismus breitet
namlich einerseitsden Kreis der diesem Recht Unterworfenen weit ilber den des
grundsatzlich nur die Getauften erfassenden Kirchenrechts hinaus aus. Ande-
rerseitssetzt er Papst und Krone Grenzen - zwei Umstande, auf die besonders
hinzuweisen ist. 68
Dieser naturrechtliche lntuitionismus erscheint zudem dem heutigen Men·
schen fast modero, spielen doch auch noch heute bei der Begründung von Wer-
tungen die Intuitionen im Gefolge des metaethischen Intuitionismus eine zent-
rale Rolle. Zugleich wird aus diesem Intuitionismus verstandlich, dass Suárez so
groBe Zurilckhaltung übt bei der Vorstellung einer Anderung des Naturrechts
durch lnterpretation. Der Interpretation bedarf, was nicht eindeutig sondem
mehrdeutig ist. Unmittelbar von Herz und Verstand eingeschriebene MaBstabe
des Richtigen aber konnen nicht mehrdeutig sein und sind infolge dessen der
lnterpretation nicht bedilrftig. Ja, sie sperren sich in einer Zeit, da Intuition auf
Wahrheit zielt, jedem Wandel - oder lassen, bei allem praktischen Bedilrfnis
nach Wandel, kein theoretisches Konzept des Wandels zu, so dass ein Abwei-
chen vom Naturrecht, wie zu sehen war, auf - elf verschiedenen - anderen
Wegen begründet werden muss.
3.2 Konsensorientierung
Dennoch beschrankt sich die Naturrechtsbegründung nicht auf diesen Aspekt
der Intuition. Insbesondere für diejenigen Autoren, die im »ius gentium« wirkli-
ches Naturrecht für Menschen sehen, für Suárez selbst also nur - aber immerhin
- sehr eingeschrankt als Quasi-Naturrecht, gewinnt neben der Intuition das
Element des Konsenses naturrechtsbegründende Bedeutung. Naturrecht ent-
steht nach diesem Ansatz als Gewohnheitsrecht, als allgemeine Übung unter
den Menschen - und dass sehr viele diese Gewohnheit teilen, ist dann ein Ar-
gument für ihre Fundierung. Auch dieses Argument erscheint uns durchaus
noch heute aktuell- Konsens- und Diskurstheorien zur Normbegründung spei-
sen sich auch ganz aktuell aus diesen Überlegungen.
Auch für Suárez ist der in der Gewohnheit des »ius gentium« steckende
Konsens von rechtsbegründender Art und überspielt gewissermaBen die Mangel
des »ius gentium«. Dieses ius gentium ist - aus Suárez' Sicht und im Gegensatz
zu der unter den Juristen der Zeit vorherrschenden Meinung - nicht von natur-
rechtlicher Dignitat. Und es ist nicht von der Verschriftlichung des ius civile
gekennzeichnet. Dennoch ist es, auch für Suárez, im Vollsinne Gesetz.69 Der
Gedanke einer gewohnheitsmaBigen Aufhebung des »omnia communia« wie
überhaupt gewohnheitsrechtlicher Begründungen beim ius gentium70 einerseits
und der Gedanke des Konsenses andererseits hatten schon traditionell flieBen-
de Übergange. Vitoria etwa lasst die Entwicklung stattfinden »non consensu
certo et formali, sed quodam consensu interpretativo«.71 Aus der Gewohnheit
wird hier auf einen stillschweigenden Konsens geschlossen, dem wiederum
69 Vgl. dazu Gldeon Stiening: >Quasi medium inter naturale ius, et humanum,. Francisco
Suárez' Lehre vom iusgentium(DL11.17-20). In: »Auctoritas omnium legum«. Francisco Suárez'
>De Legibus< zwischen Theologie, Philosophle und Rechtsgelehrtheit. Hg. van Oliver Bach,
Norbert Brieskom u. Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Canstatt 2013, s. 175-194, hier S. 180.
70 Zum gewohnheitsrechtlichen Charakter des ius gentiumals »consuetudo communlssima«
vgl. Robert Schnepf: Suárez über das Gewohnheitsrecht (DL VII). In: »Auctoritas omnium
legum«. Francisco Suárez' >DeLegibus< zwischen Theologie, Philosophie und Rechtsgelehrt-
heit. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskom u. Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Canstatt 2013,
S. 311-331,hier S. 322.
71 Vitoria: De iustitia (s. Anm. 25), q. 62, a. 1, nr. 23
Zur historlschenWandelbarkeitdes Naturrechts- 231
3.3 DieModernitatdesAltmodischen
Was führt nun aber Suárez einerseits zu seiner groBen Zurückhaltung gegen·
über der von anderen Autoren seiner Zeit anerkannten Konsensorientierung des
Gewohnheits-Naturrechts als eines modernen Naturrechts und andererseits :z;ur
besonderen Betonung des Anderungen behindemden Intuitionselements b~i
der Naturrechtsbegründung? Es konnte seine schon erwahnte Sympathie rnit
einem Zustand sein, der schon nach Isidor und Gratian dem Naturrecht eJl~·
spricht, der aber nach der gangigen Auffassung seiner Zeit durch Gewohnh~it
auBer Kraft getreten ist, namlich der Zustand des Gemeineigentums einerseits
und der Freiheit vor Sklaverei andererseits. Wie weit darin ein jesuitisches Ide-
al, wie Wilenius vermutet, verfolgt wird, das in Paraguay eine praktische f orrn
bekommen habe,74 ware noch genauer zu ergründen. Diesen zustand bemüht
sich Suárez, wie wir saben, aus dem Bereich einer reinen Erlaubnis einerseits
etwas herauszuführen und andererseits die Anderung dieses Zustands als rein
menschliches Gesetzeswerk ohne naturrechtliche Dignitat zu betrachten . .Als0
in cordibusscriptum,wenn auch nur als eine Art empfohlener Erlaubnis, siJld
sowohl das Gemeineigentum als auch das Nichtbestehen der Sklaverei.Zugleich
aber gelingt es Suárez, durch die (Wieder)Einflihrung75 einer klaren Dichotornie
zwischen dem Naturrecht und dem von Menschen wandelbaren ius gentium.
letzteres und damit auch die ihm weniger sympathischen Auspragungen des ius
gentium, eben Privateigentum und Sklaverei, aus einem naturrechtlichen
Schutz herauszunehmen - es liegt m.a.W. an den Menschen, ob sie das Privat-
eigentum mit (z.B. Gemeinwohl-)Schranken versehen und die Sklaverei wieder
abschaffen wollen.
Formal geht Suárez also in der Entwicklung der Naturrechtsbegründung
hinter das Konsenselement zurück - denn das ius gentium ist filr ihn gerade in
seiner Abhangigkeit von arbitriumund consensus76 Menschenwerkund er stellt
das iusgentiumin einen klaren Gegensatz zum »in cordibus scriptum« des intui-
tiven Naturrechts.77 Das unterscheidet ihn, wie zu sehen war. von vielen ande-
ren spatscholastischen Autoren bereits vor seiner Zeit, die im Konsenselement
des für Menschen gilltigen Naturrechts etwas behaupteten, was schon kurze
Zeit spater zur Grundlage für die neuzeitlichen Gesellschaftsvertragstheorien
werden konnte. Sein eigenes Gegenkonzept erscheint Suárez offenbar inhaltlich
modemerals die über das »ius gentium« konstruierbaren strukturellmoderneren
Varianten der Naturrechtsbegründung und -begrenzung aus dem Gedanken
des in Gewohnheit erkennbaren Konsenses. Denn mit einer Veranderbarkeit
von Privateigentum und Sklaverei durch einfaches menschliches Recht, die er
sich mit einer Zurückstufung des ius gentium auf bloBes ius dvile erkauft, be-
gründet er eine, gemessen am weiteren Verlauf, inhaltlichmodernere Position,
auch wenn ihn das in der Begründungsstruktur seiner Naturrechtslehre und
einer gewissen Geringschatzung der konsensbegründeten Gewohnheit strUktU-
rellaltmodischer aussehen lasst.
-
haltnis von ius natura/eund iusgentiumkontrovers eréirtert,vgl. dazu ausführlich Kurt Seel ·
mann: Ius naturale(s. Anm.30), S. 235ff.
76 DL11.17.8, PereñaIV, 108:[...) praecepta iuris gentium ab hominibus introducta sunt per
arbitriumet consensum[...)«.
77 DL11.17.8, PereñaIV,108:» [... ) nam omnia praecepta, quae a Deo sunt in cordibusbonti-
num scripta,pertinentad ius naturae.«