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J. Vogl: M.

Foucaults, Dits et ecrits 1954-1988 279


Michel Foucault, Dits et ecrits 1954 -1988. 4 Bde. Hg. von Daniel Defert und Frangois Ewald. Gal-
limard, Paris 1994, 3425 S., FF 880,—.

Anders als in Michel Foucaults großen Monographien tritt sein Denken in


den vorliegenden Dits et ecrits nicht in gereinigter Methode und als gestrafftes
Programm auf. Es ist vielmehr das Verdienst dieser Sammlung, die die verstreu-
ten, von Foucault selbst noch autorisierten Aufsätze, Artikel, Vorträge und
Gespräche enthält, daß sie - chronologisch geordnet und um eine ausführliche
Chronologie zu Biographie und Werk ergänzt — die Experimente und Neuan-
sätze, die Peripetien und Umwege und vor allem die Bewegungen dokumen-
tiert, mit denen Foucault der überlieferten Reflexionsmasse ausweicht, um
gerade diese noch einmal und anders zu fassen. Während Foucaults Laufbahn
fast reibungslos und im Schutz der Institutionen bis hin zum Lehrstuhl für die
„Geschichte der Denksysteme" am College de France ansteigt, wird er selbst
von einer Arbeit getrieben, die erst nach Abstoßungen und Korrekturen jene
Justierung erreicht, die den akademischen Fachverstand irritiert hat und eine
Genealogie abendländischen Wissens, eine Beschreibung moderner Diszipli-
narmächte ermöglicht.
Der gelernte Psychologe hat sich zum Historiographen des Wahns, der Phä-
nomenologe zum Strukturalisten, der Strukturalist schließlich zum Analytiker
von Diskurspraktiken gewandelt, und der gedankliche Abstand zwischen der
frühen Einleitung zu Binswangers Traumanalyse von 1954 (Bd. i, S. 65 — 119)
und Wahnsinn und Gesellschaft (1961) ist ebenso groß wie der, welcher die
strukturale Analyse des ärztlichen Blicks (Geburt der Klinik, 1963) von einer
Archäologie der Humanwissenschaften (Die Ordnung der Dinge, 1966) son-
dert. In mehreren Etappen hat Foucault den intellektuellen Bruch mit der
Generation Merlau-Pontys und Sartres vollzogen und deren Hang zu den
Sinnqualitäten der Geschichte durch eine Passion für die unpersönlichen,
systemischen Zusammenhänge ersetzt (Bd. i, S. 5i3ff.). Er hat damit die gro-
ßen Lehren und Ideologien antizyklisch gedacht und war sich bewußt, daß
diese Loslösung keine einfache Lösung bedeutet. In Auseinandersetzung mit
Marxismus und Hermeneutik, Phänomenologie und Strukturalismus hat er
sich seit den sechziger Jahren — das zeigen die Äußerungen im ersten Band der
Dits et ecrits — der Frage ausgesetzt, wie und wohin sich eine Kritik der
Geschichte verschiebt, wenn die Allgemeinheit der Vernunft und die Unantast-
barkeit des Subjekts nicht länger verbindlicher Maßstab bleiben. Schon im Vor-
feld des Methodenbuchs Archäologie des Wissens von 1969 hält er die Leit-
linien fest (Bd. i, S. 673ff., 696ff.). Er verlangt Analysen, die Aussagen nicht
auf Bedeutungen, sondern auf ihre Materialität, Diskurse nicht auf sprechende
Subjekte, sondern auf Regelmäßigkeiten verpflichtet. Und schon hier kommt
Foucault den späteren Einwänden zuvor: Denn was wäre eine Kritik, die von
den Differenzen in der Geschichte immer wieder nur zu den gleichförmigen
Idealitäten des Geistes emporstiege? — Wenn Foucault darum in Interviews
stets Selbstdefinitonen zurückweist — nein, er sei kein Philosoph, kein Histori-
ker, weder Marxist noch Strukturalist (vgl. Bd. i, $85ff., 6oiff., 66 .) - so
folgt dies nicht nur einem antidogmatischen Reflex, mit dem er flüchtige Al-
lianzen eingeht und sich schon bald Anleihen bei den Sprachspielen der analy-
tischen Philosophie, später einer Affinität zur Frankfurter Schule zugesteht
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i 8o J. Vogl: M. Foucaulis, Dits et ecrits 19)4-1988
(Bd 3 S 541; Bd. 4, S. 72ff.). Es ist vielmehr eine Art induktiver Gesinnung,
die den Primat des Sachverhalts achtet und erst im nachhinein dessen theoreti-
sche Fassung präsentiert. All das Tasten und Wiederholen, das seine Spur
durch die Dits et ecrits zieht, gilt damit der Suche nach jener niemals endgülti-
gen Balance, in der historischer Gegenstand und Beschreibungsebene aut glei-
cher Höhe aufeinandertreffen.
Darum hat Foucault sich entschieden, weder Institutionen noch Verhaltens-
weisen, sondern „Archive" und „Dispositive" zu untersuchen, eine hetero-
gene Schicht, in der das Zusammenspiel von Sichtbarem und Gesagtem, von
Machttechniken und Wissensformen jene Wahrheiten erzeugt, die immer
schon da sind, wenn die Individuen sich über sich selbst aussprechen wollen.
Sei es eine Geschichte des Strafens oder der Sexualität - die Ablagerungen des
Archivs und die Vielheiten des Dispositivs verlangen einen historischen Sinn,
der noch der Seele und ihren Lüsten einen geschichtlichen Platz anweisen
kann. So geht es Foucault zunächst um die Auflösung jener Einheiten und
Begriffe, die als stabile Größen die Geschichte im Innern der Geschichte still-
stellen: Subjekt, Bewußtsein, Erfahrung, Sinn, Struktur... Wie lassen sich
diese Begriffe umgehen? Wie läßt sich vermeiden, was noch allzu homogen,
allzu ideologisch, allzu ewig an ihnen ist? Wie läßt sich sichtbar machen, daß
sie nicht konstituierend, sondern selbst konstituiert sind? Und wie kann
schließlich das historische Wissen über eine Geschichte beschaffen sein, die
die Aufteilung von wahr und falsch hervorbringt, auf der eben jenes Wissen
beruht? (Bd. 4, S. 30) - Foucaults kritischer Historizismus erkennt darum die
entscheidende Erneuerung der Philosophie weder in der phänomenologischen
noch in einem ,linguistic turn£, sondern in einer Philosophie des Wissens, die
ihn mit Nietzsches Genealogie ebenso wie mit der französischen Epistemolo-
gie zwischen Bachelard und Canguilhem verbindet (Bd. 3, S. 43off.; Bd. 4,
S. 763ff.). Dabei ist eine Analyse des Wissens von der Wissenschaftsgeschichte
und vom geistesgeschichtlichen Projekt gleichweit entfernt und unterläuft die
Zwecksetzungen erkennender Vernunft ebenso wie die Rekonstruktion konti-
nuierlicher Entwicklungen. Sie untersucht nicht die umwegigen oder asympto-
tischen Annäherungen an einen Horizont von Realitäten, sie orientiert sich
nicht am Ursprung einer schöpferischen Subjektivität. Sie appelliert vielmehr
an eine „nominalistische Kritik der Geschichte" (Bd. 4, S. 34; Bd. 3, S. 819),
die die Illusion zerstreut, das Beharrungsvermögen von Ausdrücken ließe auf
begriffliche Identitäten schließen; und sie stiftet jene transversalen Bezüge, für
die eine wissenschaftliche Aussage, ein alltäglicher Satz, ein schizophrener
Unsinn gleichermaßen Wissen ist: auch die Literatur, auch die Phantasmen
kommen nicht aus der Tiefe des Herzens, sondern aus den Bibliotheken her-
vor (Bd. i, S. 297). So sehr also Foucault wußte, daß noch die Unterscheidun-
gen von Realität und Fiktion selbst trügerisch sind, so sehr hat er sich schließ-
lich dem Ungrund „historischer Aprioris" ausgesetzt, der nicht nur die Ein-
heit der Diskurse und Fachgebiete aufbricht, sondern die Aussageverkettun-
gen des Wissens auf nicht-diskursive Praktiken und Technologien hin öffnet.
In wichtigen, hier erstmals zugänglichen Vorträgen - die die späteren Studien
zu Normalisierung, Biopolitik und Regierungskunst vorbereiten - hat Fou-
cault den vermeintlichen Konflikt zwischen Wahrheitsansprüchen und Macht-
relationen unterlaufen, vielmehr dessen Herkommen skizziert und belegt, wie

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U. J. Beil:/. H. Miller, Topographie; 281
sich die Wirksamkeit moderner Mächte gerade aus einem komplexen Zusam-
menspiel von Wissensformen, Erkenntnisweisen, Rationalitäten, Disziplinar-
techniken und ökonomischen Regulationen erklärt: Voraussetzungen für eine
neue „Kritik der politischen Vernunft" (vgl. Bd. 2, S. 538ff.; Bd. 3, S. 534ff.,
6 35 ff.; Bd. 4, i34ff.)-
Bis zum Schluß folgt Foucaults „Rückkehr zur Geschichte" (Bd. 2,
S. 268ff.) einer Methode des Abbaus, die den Staub historischer Fakten ebenso
wie das Gewicht sozialgeschichtlicher Realitäten entmystifiziert, auch hier
noch Konstruktionen erkennt und sich schließlich — leicht paradoxal — in einer
„historischen Ontologie unserer selbst" zuspitzt (Bd. 4, S. 576). Was immer
eine Diskursanalyse der Diskursanalyse — nicht zuletzt am Leitfaden dieser
Dits et ecrits — zutage fördern wird: Foucault hat die Prägnanz historischer Ein-
bildungskraft erhöht und schließlich auf jene Räume gewendet, die real sind
und doch nicht wirklich da, in die Gegenwart eingelassen und doch nicht in
dieser Zeit, greifbar und entrückt - auf jene Orte ohne Ort, die er in einem
1967 geschriebenen Text „Heterotopien" nannte (Bd. 4, S. 752ff.). Bibliothek
oder Gefängnis, Anstalt, Archiv oder Museum: diese Räume, in denen sich die
Zeit umkehrt, verengt oder weitet, die eine Geographie neben der Geographie
entwerfen und eine Differenz in das Jetzt einführen, erzeugen die Träume und
Alpträume, in denen die Gegenwart ihre Vergangenheit umschließt. Und in
dieser Hinsicht hat Foucault von Anfang an vielleicht nichts anderes versucht,
als Heterotopien zu denken: Traumanalysen der Geschichte.
Taborstraße 6 Joseph Vogl
D-10997 Berlin

J. Hillis Miller, Topographies. Stanford University Press, Stanford 1995. XIVAjjo S., £ 11,95.

Man mag gegen die Dekonstruktion einwenden, was immer man will: daß sie
den ,Logos* ihrer eigenen Argumentationsstruktur nicht genügend reflektiere,
daß sie in ihrem Kampf gegen die Metaphysik selbst metaphysisch, in ihrer
Ablehnung des akademischen Status quo selbst scholastisch geworden sei und
so, in die Jahre gekommen, das Schicksal der klassischen Avantgarden teile.
Den Vorwurf aber, sie habe sich in der »geistigen Situation der Zeit* nicht
behaupten können, sei Thema nur noch, wie George Steiner kürzlich unkte,
auf „irgendeinem Campus in Nebraska" — diesen Vorwurf muß man ihr er-
sparen. Vor der dekonstruktivistischen Versuchung war in den letzten Jahren
kaum eine philologische Disziplin mehr sicher, und Unternehmen wie die
Cambridge History of Literary Criticism zeigten sich eifrig bemüht, diese
nach wie vor höchst umstrittene Gruppierung einzuordnen und sie - nicht
ganz ohne apotropäischen Gestus - zu historisieren.1 Dennoch ist es, als gehe

1
Raman Seiden (Hg.), The Cambridge History of Literary Criticism. Vol. VIII: From Forma-
lism to Poststructuralism. Cambridge 1995.
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