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Lengwiler, Martin: Risikopolitik im Sozialstaat. bis in die 1970er-Jahre hinein verfolgt wird, in
Die schweizerische Unfallversicherung (1870- eine einleuchtende Reihe gebracht. Dabei erweist
1970). Köln: Böhlau Verlag 2006. ISBN: 3-412- sich die Frage nach dem Spannungsverhältnis zwi-
08606-1; 445 S. schen politischer Interessenartikulation und versi-
cherungstechnischer Expertise, das heißt also die
Rezensiert von: Daniel Speich, Departement Frage nach dem Verhältnis von Politik und Wis-
Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften, ETH senschaft, als eigentliches Generalthema. Lengwi-
Zürich ler stellt hier Tendenzen einer Verschiebung fest.
In der politisch sehr umstrittenen Planungsphase
Das Versicherungsgeschäft ist eine trockene An- konnten die Versicherungsfachleute entscheiden-
gelegenheit. Hinter den Zahlenreihen und Berech- de Handlungsanweisungen geben, weil ihr wissen-
nungsformeln steckt allerdings eine große Brisanz. schaftliches Expertentum allseits als neutral aner-
Zum einen haben die modernen Sozialversicherun- kannt wurde. Politik wurde verwissenschaftlicht.
gen den gesellschaftlichen Wandel wesentlich mit- Im Zuge der Konstituierung und auch in der Kon-
geprägt. Und zum anderen haben die Unfallver- solidierungsphase kam es dagegen immer wieder
sicherung, die Altersvorsorge, die Arbeitslosen-, zu Konstellationen zwischen Wissenschaft und Po-
die Kranken- und die Pflegeversicherung seit dem litik, die man als Politisierung von Wissen charak-
ausgehenden 19. Jahrhundert einen eigenständigen terisieren kann. Lengwiler wendet sich aber gegen
Diskurs hervorgebracht, der seine Wurzeln in den Peter Weingart, der die zunehmende Entgrenzung
Naturwissenschaften suchte, und damit seine so- der zwei Gegenstandsbereiche als großen Trend
ziale Genese erfolgreich verhüllte. Man muss der beschrieben hat. Das Material zur SUVA zeigt, wie
Sachlichkeit der Materie mit Wissen über Wissen, sehr Wissenschaft und Politik bereits im 19. Jahr-
mithin also mit Theorie, auf den Grund gehen, um hundert aufeinander verwiesen.
ihre soziale und politische Dimension zu klären. Das Buch ist überzeugend, weil es Licht auf ka-
Gerade die Trockenheit macht den Reiz des The- tegoriale Vermischungen wirft. Wissenschaft wird
mas aus. nicht als über- oder außergeschichtliche Größe
Martin Lengwilers Darstellung der Geschich- konzipiert, deren Einfluss auf den gesellschaftli-
te der Schweizerischen Unfallversicherung weiß chen Wandel vermessen werden kann. Vielmehr
um diesen Theoriebedarf und bringt viele relevan- wird die Herstellung von versicherungstechni-
te Einsichten hervor. Eine Fülle von Bezugspunk- schem Wissen immer auf die entstehenden In-
ten wird in Aussicht gestellt. Sie reicht von Gøs- stitutionen des Sozialstaates zurückgebunden. So
ta Esping-Andersens Kategorisierung des Sozial- erscheint der Verwissenschaftlichungsprozess des
staats über Theda Skocpols Rekonzeptualisierung Sozialen nicht als reiner Anwendungs- oder Ver-
von Staatlichkeit zu Michel Foucaults Gouverne- wertungsprozess, sondern als „interaktive und koe-
mentalitätsbegriff und weiter zur Risikosoziologie volutive Wechselwirkung zwischen wissenschaft-
von Ulrich Beck. Die wissenssoziologischen Ent- licher Expertise und institutionellem Wirkungs-
würfe von Helga Nowotny, Nico Stehr und Bru- feld“ (S. 355). Das ist als Differenzierung der
no Latour werden ebenso in Anschlag gebracht historischen Reflexion gemeint, die Lutz Rapha-
wie die Arbeiten zur Geschichte der wissenschaft- el über das moderne Verwaltungswissen angestellt
lichen Quantifizierung von Theodore Porter oder hat.
Lorraine Daston. Nach einem ersten einführenden Abschnitt folgt
Dieser reichhaltige Theoriepool ermöglicht es in Kapitel 2 eine konzise Darstellung der Exper-
Lengwiler, die staatliche Unfallversicherungsan- tenrolle in der frühen Planungsphase des SUVA-
stalt der Schweiz (SUVA) gesellschaftsgeschicht- Projekts. Kapitel 3 geht der Frage nach, wie die
lich einzubetten. Die Institution wird zum Gegen- Debatte um die Soziale Frage im ausgehenden 19.
stand einer Studie gemacht, die exemplarisch das Jahrhundert auf die Entwicklung der Wissenschaf-
Potenzial der Verbindung von Sozial- und Wis- ten rückwirkte. Hier berührt Lengwiler freilich ein
senschaftsgeschichte aufzeigen will. In einem Dut- zu großes Feld. Welche Rolle die quantifizierenden
zend Kapitel werden der Planungsprozess der SU- Methoden eines Adolphe Quételet auf die (Nicht-)
VA, der in den 1870er-Jahren einsetzte, ihre Kon- Entstehung der qualitativen Sozialforschung in der
stitutionsphase nach der eigentlichen Gründung Schweiz hatte, bleibt unklar. Immer wieder scheint
1918 und ihre Konsolidierungsphase, die von 1945 ein unplausibler Gegensatz zwischen probabilisti-