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Filozofska fakulteta
Oddelek za germanistiko
Phraseologie
Kompendium für germanistische Studien
Vida Jesenšek
Maribor, 2013
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Inhalt
Inhalt........................................................................................................................................... 1
Vorwort ...................................................................................................................................... 4
3 Sprichwörter .......................................................................................................................... 40
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
3.2 Hauptmerkmale.............................................................................................................. 41
3.4 Funktionen...................................................................................................................... 49
4.2 Argumente für die Integration der Phraseologie in das Fremdsprachenlernen ............ 71
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Vorwort
küss die Hand, Hand in Hand arbeiten, alle/beide Hände voll zu tun haben, von der Hand in
den Mund leben, eine Hand wäscht die andere; Wasser auf jmds. Mühle sein, ein stilles
Wasser, stille Wasser sind tief usw.
Dass man die alltägliche Rede nicht nur und nicht immer aus einzelnen Wörtern frei
gestaltet, ist weit bekannt. Gerade komplexe und vorgefertigte lexikalische Bestandteile der
Rede – in vielen Fällen sind es Phraseme – helfen dem Menschen seit eher, sich bei der
Ausformung der sprachlichen Kommunikation der »Fertigbauweise« zu bedienen und somit
seinen kommunikativen Aufwand zu verringern. Die phraseologische Redeweise ist allen
bekannten natürlichen Sprachen eigen; die alte Tradition entwickelt sich ständig weiter und
lässt neue Phraseme entstehen. Laut der letzten Ausgabe des repräsentativen deutschen
phraseologischen Wörterbuchs aus der Duden-Reihe mit dem Titel Duden Redewendungen.
Wörterbuch der deutschen Idiomatik (2013) sind etwa folgende Phraseme in der deutschen
Sprache neu:
in trockenen Tüchern sein 'gesichert, erfolgreich abgeschlossen, erreicht sein'; die Kuh vom Eis
bringen/kriegen 'ein schwieriges Problem lösen'; (die) unterste Schublade 'niedrigstes Niveau,
billig, gemein'; den Ball flach halten 'sich zurückhalten; unnötiges Risiko, unnötige Aufregung
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Man sieht, dass es sich um ein recht interessantes, besonderes und vielfältiges sprachliches
Phänomen handelt. Das Wesen eines „echten“ Phrasems macht seine charakteristische
semantische Natur aus, denn es gilt, dass „Wortverbindungen, deren Bedeutung nicht dem
entspricht, was den allgemeinen Regeln der Sprache gemäß erwartet würde, /…/ im engen
Sinne phraseologisch /sind/“ (vgl. Palm 1997, 106). Der phraseologische Bestand einer
natürlichen Sprache ist jedoch immer sehr verschiedenartig, sodass man auch von der
Phraseologie im weiteren Sinne sprechen muss, um ihn in seiner Ganzheitlichkeit erfassen
zu können.
Die Anfänge der germanistischen Phraseologieforschung gehen auf die 70er Jahre des 20. Jh.
zurück und gründen hauptsächlich auf den früheren russischen phraseologischen Arbeiten
(eine kurze historische Übersicht über die Entwicklung der deutschen Phraseologieforschung
gibt Donalies 2009). Gegenwärtig wird der phraseologische Bestand der deutschen Sprache
aus mehreren verschiedenen linguistischen Perspektiven betrachtet:
- aus der Sicht der Systemlinguistik werden der Gegenstand der phraseologischen
Forschung definiert und die phraseologische von anderen Betrachtungsebenen
abgegrenzt; es werden formale Strukturen analysiert und klassifiziert; es wird
untersucht, wie diese die weitgehend ganzheitliche und in der Regel sehr komplexe
phraseologische Bedeutung konstituieren; bei der Erforschung der phraseologischen
Bedeutung wird in letzter Zeit großer Wert auf kulturell-historische und symbolisch-
semantische Aspekte gelegt;
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
- aus der kommunikativ-pragmatischen Sicht sucht man nach Antworten auf die
grundlegende pragmatische Fragestellung (Was tue ich, wenn ich ein Phrasem
gebrauche) und man bemüht sich, das reiche pragmatische Potenzial der Phraseme
zu erläutern und zu systematisieren;
- unter der lexikographischen Perspektive setzt man sich damit auseinander, wie
Phraseme in verschiedenartigen Wörterbüchern sowie in neuartigen elektronischen
Sprachressourcen fachgerecht und benutzerfreundlich erfasst sind bzw. erfasst
werden sollten;
- die kontrastive Untersuchungsperspektive ist mit der Suche nach Ähnlichkeiten und
Unterschieden in der Phraseologie mehrerer Sprachen beschäftigt; vor allem
Fragestellungen zu zwischensprachlichen Äquivalenzbeziehungen stoßen auf reges
Forschungsinteresse, zumal die Äquivalenz in mehreren praktischen Bereichen eine
entscheidende Rolle spielt: in der Übersetzung, in der Erarbeitung zweisprachiger
Wörterbücher und im Sprachenlernen;
- unter der sprachdidaktischen Perspektive wird die Phraseologie vor dem Hintergrund
des mutter- und fremdsprachlichen Spracherwerbs bzw. des Sprachenlernens
diskutiert; es interessieren psycholinguistische Aspekte des Phrasem-Erwerbs und
praktische sprachdidaktische Fragen zur Vermittlung der Phraseologie in
Sprachlernprozessen.
Mit diesem Nachschlagewerk zur deutschen Phraseologie werden mehrere Ziele verfolgt:
1. eine Basisübersicht über das Wesen der deutschen Phraseologie und den aktuellen
Stand der germanistischen Phraseologieforschung zu geben;
2. durch eine typologische Darstellung des äußerst heterogenen phraseologischen
Bestands des Deutschen eine systematische Einprägung bei fremdsprachigen
Sprechern zu ermöglichen und somit die Erkennbarkeit bisher womöglich
unbekannter Phraseme zu erhöhen;
3. darzulegen, wie die Phraseologie in textuellen Zusammenhängen üblicherweise
funktioniert und folgerichtig auf typische und somit vorhersehbare
Verwendungsweisen aufmerksam zu machen;
4. aus der kontrastiven (deutsch-slowenischen) Perspektive auf zwischensprachliche
Äquivalenzbeziehungen hinzuweisen und gleichzeitig einige Übersetzungsfragen
anzusprechen;
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Das Kompendium umfasst vier in sich gegliederte Kapitel, in denen einzelne Themenbereiche
theoretisch erläutert und praktisch illustriert werden. Im Anhang findet sich ein kurzes
Glossar mit den wichtigsten Fachtermini, die im Kompendium vorkommen; mit dem Zeichen
wird im laufenden Text auf die Aufnahme des jeweiligen Fachausdrucks in das Glossar
verwiesen. Im Anhang befinden sich schließlich ein Wörterbuchverzeichnis mit den Angaben
zu den Wörterbüchern, die im Kompendium besprochen werden und ein
Literaturverzeichnis, in dem die grundlegende und aktuelle Fachliteratur zur deutschen
Phraseologie und Parömiologie verzeichnet ist.
Das Kompendium ist durch seine inhaltliche Struktur und vielfältige und umfangreiche
Veranschaulichung der theoretischen Überlegungen mit konkreten Beispielen aus der
Phraseologie des Deutschen in erster Linie für Studierende verschiedener germanistischer
Studiengänge gedacht. Gut geeignet ist er aber auch für angehende und praktizierende DaF-
Lehrer und -lehrerinnen, insbesondere für jene, die im Rahmen des absolvierten
Germanistik-Studiums wenig oder gar nichts von der Phraseologie gehört haben. Schließlich
sollte er für alle, die die phraseologische Redeweise interessant finden und sich mit dem
Reichtum der deutschen Phraseologie näher auseinandersetzen wollen, von Interesse sein.
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
In diesem Kapitel wird eine erste Einsicht in theoretische Grundlagen der Phraseologie
gegeben. Es wird dargelegt, was phraseologische Einheiten einer Sprache sind und welche
typischen Eigenschaften sie haben. Dieser Teil ist nicht gänzlich einzelsprachspezifisch
orientiert, obgleich mit zahlreichen Beispielen aus der deutschen Sprache belegt; manche
Erläuterungen gelten z.B. auch für die Phraseologie der slowenischen Sprache.
Nach einer aufmerksamen Lektüre dieses Kapitels werden sie wissen, was Phraseme sind,
welche typischen Eigenschaften sie haben, wie sie sich von andersartigen aber ähnlichen
sprachlichen Phänomenen unterscheiden, wie vielfältig sie sein können und wie sie sie
fachgerecht benennen sollen.
Im Allgemeinen verstehen wir unter phraseologischen Einheiten einer Sprache, die wir
Phraseme nennen (Phrasem), mehrteilige und feste Wortverbindungen, deren jeweilige
Wort-Kombination den Sprechenden einer Sprache genau in dieser oder eventuell noch in
einer varianten Form bekannt ist. Dazu kommt, dass die Gesamtbedeutung solcher
Wortverbindungen mit der Summe von Bedeutungen einzelner Bestandteile in der Regel
nicht gleichgesetzt werden kann. Vergleichen wir folgende zwei Aussagen:
(2) Was er über Japan erzählt, ist doch alles kalter Kaffee. Erstens kann man das in jedem
Fremdenführer nachlesen und zweitens interessiert das gar nicht, denn auf das Wesentliche
kommt er gar nicht zu sprechen.
Während in der Aussage (1) ein Getränk beurteilt wird, können wir die Aussage (2)
keinesfalls mit dem beliebten Getränk in Verbindung setzen. Was in (2) mit kaltem Kaffee
benannt wird, lässt sich an dem zugehörigen Text gut nachvollziehen, nämlich 'etw. ist
altbekannt, abgestanden, sogar dumm und deshalb völlig uninteressant'. Man sieht, dass
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
1.1.1 Polylexikalität
- Phraseme mit Minimalstruktur sind Verbindungen von zwei Wörtern, von denen
mindestens ein Wort autosemantisch sein muss, vgl.
- blinder Passagier; frei Haus; auf Anhieb, im Nu
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Übung macht den Meister; Wer rastet, der rostet; Kleine Kinder, kleine Sorgen, große Kinder,
große Sorgen; Ohne Fleiß kein Preis; Verflixt und zugenäht!.
Die meisten deutschen Phraseme befinden sich auf einer Skala zwischen der Minimal- und
Maximalstruktur; man nennt sie auch satzgliedwertige Phraseme, da sie im Satz die
Satzglied-Funktion übernehmen (sie treten als Subjekt, Objekt, Prädikat, Attribut, adverbiale
Bestimmung auf), vgl.
Mutter Grün; Nummer Eins; das Auge des Gesetzes; das älteste Gewerbe der Welt; Liebe auf
den ersten Blick
sich auf die Beine machen; die Flinte ins Korn werfen; nicht von der Luft leben können; sich
benehmen wie ein Elephant im Porzellanladen
1.1.2 Stabilität
Eine weitere begriffsbestimmende Phrasem-Eigenschaft ist das Merkmal der Stabilität, auch
Festigkeit (Stabilität). Damit wird gesagt, dass Phraseme in ihrer formalen Struktur und
folgerichtig in ihrer Bedeutung fest, stabil sind. Laut Burger (2010, 16ff.) sollte man die
phraseologische Stabilität auf drei Ebenen betrachten; auf der psycholinguistischen,
strukturellen und pragmatischen Ebene.
meint, dass Phraseme im mentalen Lexikon ganzheitlich gespeichert sind und als solche nach
Bedarf abgerufen und beim Sprechen oder Schreiben reproduziert werden können. Ihr
kognitiver Status wird vor allem innerhalb der Sprachdidaktik besprochen, um damit die
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
betrifft die phraseologische Form bzw. die Phrasem-Struktur. Es wird dadurch gesagt, dass
die jeweilige Kombination von Wörtern genau in dieser (und möglicherweise noch in einer
varianten) Form bei den Sprechern einer Sprache bekannt ist.
Das Merkmal der strukturellen Stabilität ist aber nicht absolut zu verstehen. Man kann
nämlich relativ wenige Phraseme finden, deren Struktur völlig unveränderbar wäre; vielmehr
sind sie bis zu einem gewissen Grad variabel.
Eine absolute Festigkeit beobachtet man bei Phrasemen mit unikalen Komponenten, also bei
Phrasemen mit veralteten bzw. seltenen Lexemen, die phrasemextern als freie Wörter in der
Regel nicht vorkommen, vgl. gang, gäbe, klipp, Nu, rümpfen, Laufpass, Schnippchen in
folgenden Beispielen:
gang und gäbe, klipp und klar, im Nu, die Nase rümpfen, jm. den Laufpass geben, jm. ein
Schnippchen schlagen.
Einen hohen Festigkeitsgrad beobachtet man ebenso bei Phrasemen, deren Formen
morphologische und/oder syntaktische Irregularitäten nachweisen; sie weichen also von der
üblichen grammatischen Regelung aus, was ihre Festigkeit verstärkt. Das gilt für erstarrte
bzw. archaische grammatische Konstruktionen wie z.B. Gebrauch des unflektierten
attributiven Adjektivs, des Genitivobjekts, des adverbialen und vorangestellten Genitivs, der
anomale Gebrauch des Artikels, vgl.
etw. frei Haus liefern, sich bei jm. liebkind machen, Gut Ding will Weile haben (unflektiertes
Adjektiv)
guter Hoffnung sein, schweren Herzens, letzten Endes, jn. eines Besseren belehren, in (des)
Teufels Küche kommen (vorangestellter Genitiv)
*der Korb, den er mir gegeben hat (Relativsatz zu jm. den Korb geben)
*Die Flinte wurde ins Korn geworfen; *der Wurf der Flinte ins Korn; *Sie wurde ins Korn
geworfen (Passiv, Konversion und Pronominalisierung einer Phrasem-Komponente zu die
Flinte ins Korn werfen) (zit. nach Donalies 2009).
Wie bereits angedeutet, soll man die strukturelle Festigkeit bei der Mehrzahl der Phraseme
nicht absolut verstehen. Beobachtet man nämlich ihr textuelles Vorkommen, so sieht man,
dass relativ wenige völlig stabil sind (so vor allem solche mit unikalen Komponenten bzw.
erstarrt-archaischen grammatischen Strukturen, wie wir oben gesehen haben). Vielmehr gilt,
dass die Mehrheit der Phraseme zu einem bestimmten Grad veränderlich ist. So muss man
die Stabilität als eine graduell ausgeprägte Eigenschaft betrachten und für die meisten
Phraseme Folgendes feststellen:
einen großen Bock schießen (zu einen Bock schießen), den roten Faden verlieren (zu den
Faden verlieren), klar auf der Hand liegen (zu auf der Hand liegen)
etw. in jmds. Hand/Hände legen, das/sein Herz auf der Zunge tragen, jm. keinen/nicht den
Bissen Brot gönnen
die Ruhe/Stille vor dem Sturm, jm. eine/ein paar herunterhauen; ein Gesicht wie
drei/sieben/zehn/vierzehn Tage Regenwetter machen
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Nach 22 Jahren Vorstandsarbeit, davon 16 Jahre im Amt des Vorsitzenden, hat Wolfgang
Müller nicht mehr für den Posten des Vorsitzenden der Bibliser Feuerwehr kandidiert. "Es hat
sich in den letzten Jahren gezeigt, dass man nicht gleichzeitig auf zwei Hochzeiten tanzen
kann" (SprichWort, 2010).
klar auf der Hand liegen vs. auf der Hand liegen
die Maske fallen lassen vs. die Maske von sich werfen.
Modifikationen sind dagegen gelegentliche, einmalige, nur auf einen konkreten Text
gebundene Umgestaltungen der phraseologischen Ausgangsformen, vgl.
WC-Ente verdient Ihr Vertrauen. Ente gut, alles gut (Werbungsslogan; zum Sprichwort Ende
gut, alles gut).
Varianten und Modifikationen sind insbesondere als gezielt gesetzte stilistische Mittel in
meinungsbeeinflussenden Textsorten wie Werbung, journalistischer Kommentar, Glosse,
Schlagzeile gut geeignet; sie werden als Ausdruck des kreativ-spielerischen Umgangs mit der
Sprache interpretiert.
bezieht sich auf typische kommunikative Situationen, in denen Phraseme verwendet werden
und zugleich auf typische pragmatische Funktionen, die dadurch realisiert werden. Laut
Burger (2010, 28ff.) unterscheiden wir hierbei zwei Phrasem-Klassen:
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Phraseme, die in ganz bestimmten Situationstypen auftreten: dazu zählen vor allem
kommunikative/pragmatische Phraseme (Routineformeln) wie Grußformeln,
Abschiedsformeln, Glüchwunschformeln, Beileidsformeln u.Ä., vgl.
Die pragmatische Stabilität ist somit vor allem situations- und funktionsbezogene
Eigenschaft bestimmter Phraseme; so kann man voraussehen, dass Guten Tag und Auf
Wiedersehen immer dann verwendet werden, wenn ein Beginn bzw. ein Abschluss der
Kommunikation mit anderen markiert werden soll.
Zur zweiten Klasse werden Phraseme gezählt, deren Funktion darin besteht, dass sie die
Kommunikation steuern; vorrangig verwendet man sie in gesprochener Sprache, vgl.
Nicht wahr?, ich meine/denke…, siehst/verstehst du?; nach meiner Meinung, ich meine.
Man spricht hierbei generell darüber, dass bestimmte Typen von Phrasemen
gesprächssteuernde Funktionen haben.
1.1.3 Idiomatizität
Das Merkmal der Idiomatizität (Idiomatizität) gilt traditionell als Hauptkriterium zur
Unterscheidung zwischen phraseologischen und freien Wortverbindungen. Während sich die
Ersteren durch eine phraseologische, idiomatische (auch figurative, metaphorische,
übertragene) Bedeutung ausweisen würden, hätten die Letzteren eine wörtliche (auch
literale, direkte, konkrete, freie) Bedeutung, vgl.
Die Eigenschaft der Idiomatizität (griech. idioma ‚Eigentümlichkeit, Irregularität‘) meint also
die Tatsache, dass bei der Mehrzahl der Phraseme ihre phraseologische Bedeutung aus der
Summe der Bedeutungen einzelner Bestandteile (Komponenten) nicht erschließbar ist. Es
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
handelt sich also um die Umdeutung, semantische Transformation aller oder einzelner
Komponenten der jeweiligen Phrasem-Struktur, vgl.
nur Bahnhof verstehen 'nicht richtig, überhaupt nichts verstehen' (eine umgedeutete
Komponente)
keine Rose ohne Dornen 'auch bei der schönsten Sache gibt es Nachteile' (alle Komponenten
sind umgedeutet).
Erst die feste Verbindung der Komponenten ergibt eine neue, ganzheitliche phraseologische
Bedeutung. Man sieht, dass ein irreguläres Verhältnis zwischen der Bedeutung einzelner
Komponenten und der ganzheitlichen Phrasem-Bedeutung besteht. Die reguläre,
phrasemexterne Bedeutung des Wortes Bahnhof und die ganzheitliche Bedeutung des
Phrasems nur Bahnhof verstehen stehen in einer unvereinbaren Beziehung zueinander.
Bei vielen Phrasemen ist jedoch die semantische Verknüpfung einzelner Komponenten
sowohl regulär als auch irregulär; vgl. folgende Beispiele, bei denen sowohl eine wörtliche
als auch eine phraseologische Lesart möglich ist:
jm. den Zahn ziehen: 'durch Ziehen entfernen' vs. 'jdn. eine Illusion nehmen, jn. ernüchtern'
goldener Käfig: 'Käfig aus Gold' vs. 'Unfreiheit, Gebundenheit trotz großen Wohlstands,
Komforts'
auf dem Sand sitzen: 'auf der feinkörnigen, lockeren Substanz sitzen' vs. 'nicht mehr
weiterkönnen'
etw. an die Wand malen: 'etw. (Bild, Skizze) an die Wand malen' vs. 'etw. als Bedrohung
voraussagen od. behaupten'.
Die Phraseologie- und Semantikforschung sprechen hierbei über die semantische Ambiguität
(Ambiguität). Sehr oft wird diese Eigenschaft bei gelegentlichen (okkasionellen) kreativ-
spielerischen textuellen Gebrauchsweisen der Phraseologie ausgenutzt, vgl.
Beim Zahnarzt: Nun mach’ den Mund schön weit auf und beiße die Zähne zusammen!
Der Ober zum Bier trinkenden Gast: Warum schließen Sie denn beim Trinken immer die
Augen? Der Arzt hat gesagt, ich soll nicht zu tief ins Glas gucken.
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Betrachtet man den phraseologischen Bestand einer Sprache vor dem Hintergrund der
semantischen Umdeutung, so stellt man fest, dass diese entweder alle oder nur einige bzw.
keine Phrasem-Komponenten betrifft. So wird zwischen vollidiomatischen, teilidiomatischen
und nichtidiomatischen Phrasemen unterschieden.
Vollidiomatische Phraseme
sind Phraseme, bei denen alle Komponenten umgedeutet sind und die keine wörtliche Lesart
zulassen. Die phraseologische Bedeutung lässt keinen direkten Zugang zu den
phrasemexternen Bedeutungen einzelner Komponenten und eine eventuelle wörtliche
Interpretation führt zu absurden Bedeutungsinterpretationen, vgl.
mit allen Wassern gewaschen sein 'sehr gerissen sein, alle Tricks kennen'
jm. zu Kopf steigen 1. 'benommen, leicht betrunken sein', 2. 'jn. eingebildet, überheblich
machen'
Derartige Phraseme werden als unmotiviert, intrasparent, opak bezeichnet; die wörtliche
Bedeutung einzelner Komponenten erlaubt keinerlei Rückschlüsse auf die jeweilige
phraseologische Bedeutung.
Teilidiomatische Phraseme
sind Phraseme, bei denen einige Komponenten umgedeutet sind und andere noch wörtliche
Lesart zulassen, vgl.
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Derartige Phraseme werden als teilmotiviert bezeichnet; die behaltene wörtliche Bedeutung
einzelner Komponenten erlaubt Rückschlüsse auf die jeweilige phraseologische Bedeutung.
Nichtidiomatische Phraseme
sind Phraseme, bei denen wir keine Umdeutung einzelner Komponenten feststellen können,
vgl.
Solche feste und mehrgliedrige Wortverbindungen, die wohl auch mit fehlender
Idiomatizität als Wortschatzeinheiten aufgefasst werden können, werden erst in der
neueren Forschung zur Phraseologie im weiteren Sinn gezählt und oft unter der Bezeichnung
Kollokation behandelt (Kollokation). Dadurch wird zugleich klar, dass das Merkmal der
Idiomatizität nicht mehr als unentbehrliches Merkmal der Phraseologie verstanden wird. So
legen wir mit Donalies (2009, 22) fest, dass Phraseme idiomatisch sein können, jedoch nicht
unbedingt idiomatisch sein müssen.
Die Annahme von Idiomatizität als grundlegender Eigenschaft der Phraseologie ist in
mehrerer Hinsicht fraglich. Nennen wir nur die wichtigsten Problemstellungen:
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Auch wenn wir bei der traditionellen Idiomatizitätsvorstellung bleiben, müssen wir
festhalten, dass das Merkmal der Idiomatizität eine graduell ausgeprägte Eigenschaft der
Phraseme darstellt. Der jeweilige Idiomatizitätsgrad hängt damit zusammen, inwiefern
einzelne Phrasem-Komponenten noch eine wörtliche Lesart zulassen bzw. inwieweit
einzelne Phrasem-Komponenten umgedeutet sind.
Werden Phraseme als ganzheitliche Lexikon-Einheiten aufgefasst, so gilt es, dass sie
statusmäßig mit Einwortlexemen vergleichbar sind, sie sind also Lexeme. Das bedeutet
weiterhin, dass man sie im Sprachgebrauch nicht immer wieder neu produziert, sondern
dass man sie als vorher bestimmte feste Wortverbindungen reproduziert, wiederholt. Das
Merkmal der Lexikalisiertheit (Lekalisiertheit) meint also die Tatsache, dass Phraseme als
relativ feste syntaktisch-semantische Einheiten im Lexikon einer Sprache ganzheitlich
gespeichert sind und dass die Mehrheit der Sprecher dieser Sprache sie als solche erkennt
(Palm 1994, 36). Das Merkmal der Reproduzierbarkeit (Reproduzierbarkeit) ergibt sich
folgerichtig aus mehreren bisher besprochenen Phrasem-Eigenschaften: reproduziert
werden feste Wortverbindungen mit Lexem-Status. Das bedeutet weiterhin, dass Phraseme
in vergleichbarer Weise wie Einzellexeme in frühen Spracherwerbsphasen erworben und im
Sprachgebrauch verwendet werden. (Zum Phrasem-Erwerb lesen sie ausführlicher in Kap. 4).
Die hier besprochene Eigenschaft der Lexikalisiertheit soll allerdings nicht mit der
lexikographischen Kodifiziertheit eines Phrasems gleichgesetzt werden. Die lexikographische
Kodifiziertheit meint nämlich die Erfassung in einem lexikographischen Nachschlagewerk,
etwa in einem Wörterbuch. Es stimmt zwar, dass Phraseme in den allgemeinen und
speziellen Wörterbüchern vielfach dokumentiert, d.h. lexikographisch kodifiziert sind,
allerdings besagt die Lexikalisiertheit eine gesellschaftlich akzeptierte Festigung im
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Wortschatz einer Sprache, die nicht automatisch auch die Erfassung im Wörterbuch mit
einbezieht.
Phraseme sind relativ stabile (feste) Wortverbindungen. Ihr Umfang bewegt sich zwischen
der phraseologischen Minimalstruktur (Verbindung von zwei Wörtern) und einer
phraseologischen Maximalstruktur (satzwertige Wortverbindungen). Sie sind
vorgegebene, vorgeprägte Wortschatzeinheiten mit Lexemstatus und konventionalisierter
ganzheitlicher Bedeutung. Diese kann in der Regel nicht mit der Summe von Bedeutungen
einzelner Bestandteile gleichgesetzt werden. In textueller Umgebung treten sie als
syntaktisch-semantische Einheiten auf.
Somit zählen folgende Beispiele zum phraseologischen Bestand der deutschen Sprache:
Hand in Hand arbeiten, alle/beide Hände voll zu tun haben, von der Hand in den Mund leben,
Wasser auf jmds. Mühle sein
ein stilles Wasser, blinder Passagier, kalte Dusche, Liebe auf den ersten Blick
gang und gäbe, fix und fertig, hie und da, Tag und Nacht
Man sieht, dass sie sich sowohl formal-strukturell als auch semantisch-pragmatisch
voneinander unterscheiden. In der Tat fasst man unter Phraseologie recht verschiedene
Phänomene zusammen. Gegenwärtig beobachtet man sogar eine weitere Ausbreitung des
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
umfasst satzgliedwerige Phraseme, die die Eigenschaft der Polylexikalität, Stabilität und
Idiomatizität aufweisen; mitunter werden sie mit dem Fachausdruck Idiom benannt. Von
den oben aufgezählten Beispielen gehören zu dieser Gruppe folgende:
Hand in Hand arbeiten, alle/beide Hände voll zu tun haben, von der Hand in den Mund leben,
Wasser auf jmds. Mühle sein; ein stilles Wasser, blinder Passagier, kalte Dusche, Liebe auf
den ersten Blick; gang und gäbe, fix und fertig, hie und da, Tag und Nacht.
pass mal auf, wie schon gesagt wurde; guten Tag, küss die Hand; da haben wir den Salat,
verflixt noch mal!; eine Hand wäscht die andere, stille Wasser sind tief, Reden ist Silber,
Schweigen ist Gold; zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Artzt oder Apotheker
u.a.
Die formale und somit auch semantisch-pragmatische Vielfältigkeit führt zur Unterscheidung
von nicht wenigen phraseologischen Teilklassen. Auf diese wird in Kap. 2 und 3 eingegangen.
1.3 Terminologie
Im vorherigen Kap. wurde festgestellt, dass die Phraseologie einen äußerst heterogenen
lexikalischen Bereich darstellt. Dementsprechend heterogen ist auch die Terminologie, die
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Inzwischen hat sich in der germanistischen Forschung der Terminus Phrasem durchgesetzt
(analog zu Phonem, Morphem, Lexem), der als generischer Oberbegriff für den stark
heterogenen Bestand phraseologischer Einheiten steht, die zum Forschungsgegenstand
Phraseologie angehören. Der Ausdruck Phraseologie (Phraseologie) hat zwei
Bedeutungen: er bezeichnet die Forschungsdisziplin (in Übereinstimmung mit Morphologie,
Lexikologie u.a.) und benennt zugleich den Gegenstand dieser Disziplin.
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Aus der frühen phraseologischen und volkskundlichen Forschung sind die Termini
Redewendung, Redensart, sprichwörtliche Redensart bekannt. Obgleich sie nach wie vor in
Gebrauch sind (Duden 2013), werden sie hier nicht verwendet.
In Konkurrenz zu Phrasem bzw. Phraseologie stehen die Ausdrücke Idiom und Idiomatik. Das
Wort Idiom (Idiom) ist zwar mehrdeutig; ursprünglich wurde es im Sinne von 'Dialekt,
Mundart, Idiolekt' verwendet. Neuerdings kommt es auch in der Phraseologieforschung vor,
jedoch ist er in der germanistischen deutschsprachigen Forschung viel seltener zu finden als
im angelsächsischen Raum, wo er überwiegt (idiom).
Nicht zuletzt ist im Rahmen der Terminologiedarlegung zu betonen, dass die vielen
terminologischen Ausdrücke mit phras- nicht mit der pejorativen Bedeutung des Lexems
Phrase als 'nichtssagende, inhaltsleere Redensart' zu vergleichen oder sogar gleichzusetzen
sind.
Weiterführende Literatur
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Dieser Kapitel setzt sich mit Prinzipien und Kriterien der Phrasem-Klassifikation auseinander.
Dargelegt und mit zahlreichen Beispielen illustriert werden die wichtigsten Klassen und
Sonderstrukturen, die man am Bestand der deutschen Phraseme beobachten kann.
Wenn sie das Kapitel gründlich durcharbeiten, so werden sie die wichtigsten Klassen der
deutschen Phraseme kennen. Dadurch werden sie auch bisher unbekannte Phraseme in den
deutschsprachigen Texten besser identifizieren und interpretieren können.
In Kap. 1 wurde betont, dass Phraseme ein sehr vielfältiges, heterogenes Bild zeigen und so
ist es auch nicht einfach, sie systematisch zu erfassen. Mehrere verschiedene Kriterien und
Prinzipien sind aus der bisherigen Phraseologieforschung bekannt, auf deren Basis
phraseologische Klassen und Teilklassen festgelegt worden sind. Für die Zwecke dieses
Kompendiums wird nachfolgend der Klassifikationsvorschlag von Burger (2010, 33ff.) in
seinen wesentlichen Zügen übernommen und durch morphologisch-syntaktische
Klassifikationskriterien ergänzt. Die Letzteren werden in Burger (2010) lediglich am Rande
angesprochen und mit Recht auch problematisiert. Es zeigt sich nämlich, dass der vielfältige
Bestand der deutschen Phraseologie sich nur mit der Festlegung ihrer morphologisch
bedingten syntaktischen Eigenschaften nicht befriedigend erschließen lässt. Für das hier
verfolgte Ziel, eine Basisübersicht über die formale Strukturiertheit der deutschen
Phraseologie zu geben, werden sie jedoch als brauchbar angesehen.
Betrachtet man Phraseme als sprachliche Zeichen, d.h. als formale, inhaltliche und
funktionale Wortschatzeinheiten (Zeichen-Kriterium), so ergibt sich daraus eine erste
klassifikatorische Unterscheidung:
Referentielle Phraseme
beziehen sich auf Objekte, Vorgänge, Sachverhalte, Begriffe der wirklichen und/oder der
fiktiven Welt, vgl.
grüne Minna, mit offenen Karten spielen, Mogenstund(e) hat Gold im Mund(e).
Strukturelle Phraseme
helfen bei der Herstellung, dem Vollzug, der Beendigung kommunikativer Handlungen. Ihre
Funktion ist zugleich ihre Bedeutung, sie gliedern den Text, steuern die Kommunikation u.Ä.,
vgl.
guten Morgen, ich denke, meiner Meinung nach, nicht wahr? hör mal, ich würde sagen,
verflixt und zugenäht.
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Beobachtet man die Klasse der nominativen Phraseme zusätzlich unter den syntaktischen
Kriterien, so werden sie weiterhin zweigeteilt: sie sind entweder satzgliedwertig oder
satzwertig/textwertig. Die Ersteren übernehmen im Satz die Funktion eines Satzgliedes oder
Teilsatzgliedes, die Letzteren sind Sätze bzw. Texte.
Unter Einbeziehung der semantischen Kriterien, die auf das Merkmal der Idiomatizität
ausgerichtet sind, unterscheidet man zwischen voll-, teil- und nichtidiomatischen
nominativen und propositionalen Phrasemen (vgl. hierzu Erläuterungen zum Merkmal der
Idiomatizität in Kap. 1). Bei den nicht- bzw. schwachidiomatischen satzgliedwertigen
Phrasemen handelt es sich in vielen Fällen um Kollokationen, phraseologische Fachtermini
und onymische Wortverbindungen.
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
In Bezug auf die Wortart der Komponenten, potentielle syntaktische Funktionen und
morphologisches Paradigma unterscheidet man zwischen substantivischen, verbalen,
adjektivischen und adverbialen Phrasemen. Nachfolgend werden einzelne Klassen kurz
dargelegt und mit Beispielen veranschaulicht.
Die substantivischen Phraseme kommen im Satz als Subjekt, Objekt oder substantivisches
Attribut vor; man nennt sie auch Nominal- bzw. Substantivphraseme. Der semantisch-
syntaktische Kern ist immer ein Substantiv, welches mit verschiedenen Attributen die
phraseologische Wortverbindung bildet. Folgende syntaktische Strukturen deutscher
substantivischer Phraseme kann man beobachten:
das Auge des Gesetzes 'die Polizei'; das Ei des Kolumbus 'eine überraschend einfache Lösung';
der Stein des Anstoßes 'die Ursache eines Ärgernisses'; die Spitze des Eisberges 'der offen
liegende, kleinere Teil einer misslichen, üblen Sache, die in Wirklichkeit weit größere Ausmaße
hat'; der Duft der großen, weiten Welt 'das Flair der Weltoffenheit, Freiheit, Unabhängigkeit'
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Hans in Glück 'ein Glückspilz'; Halbgötter in Weiß 'Ärzte'; ein Fels in der Brandung 'jm., der
unerschütterlich, unbeirrt ist'; eine Fahrt ins Blaue 'Ausflugsfahrt, bei der das Ziel nicht vorher
festgelegt wurde'; das Tüpfelchen auf dem i 'die letzte, alles abrundende Kleinigkeit'
jedoch ist das eher selten der Fall. So kann man eine derartige durch die Wortbildung
gegebene Möglichkeit bei folgenden Beispielen nicht beobachten, vgl.
Substantivische Phraseme zeichnen sich durch unterschiedliche Grade der Idiomatizität aus:
sie sind vollidiomatisch (der Stein des Anstoßes, das Auge des Gesetzes), teilidiomatisch (eine
Fahrt ins Blaue) oder nichtidiomatisch. Unter den nicht- bzw. schwachidiomatischen
substantivischen Phrasemen finden sich viele Fachtermini, vgl.
und ebenso onymische Phraseme, also Phraseme, die als Eigennamen fungieren, vgl.
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Dazu kommen noch Kollokationen (belegtes Brötchen, gesammelte Werke, blaues Meer).
Die verbalen Phraseme kommen im Satz als Prädikat vor. Sie sind zahlenmäßig stark
vertreten und in ihrer formalen Struktur vielfältig. Sie stellen den Kern des phraseologischen
Bestandes aus; nach einigen Zählungen sollten etwa 75 % aller satzgliedwertiger deutscher
Phraseme verbale Phraseme sein (Földes/Kühnert 1990, 16). Der syntaktische Kern ist immer
ein Verb, welches durch Substantiv-/Adjektiv-/Adverbial-/Verbalgruppe erweitert werden
kann. Folgende Strukturmodelle verbaler deutscher Phraseme sind bekannt:
- Substantiv/Substantivgruppe + Verb
die/seine Karten aufdecken 'seine wahren Absichten, Pläne erkennen lassen'; sein blaues
Wunder erleben 'eine große, unangenehme Überraschung erleben'; reinen Tisch machen 'eine
Angelegenheit bereinigen, in Ordnung bringen'; tauben Ohren predigen 'mit seinen
Ermahnungen nichts erreichen'; eine lange Leitung haben 'schwer begreifen';
den Boden unter den Füßen verlieren 'die Existenzgrundlage, den Halt verlieren'; die Katze im
Sack kaufen ‘etw. ungeprüft übernehmen, kaufen'; den Nagel auf den Kopf treffen ‘den
Kernpunkt einer Sache in einer Äußerung treffend erfassen'; ein Haar in der Suppe/in etw.
finden 'an einer sonst guten Sache etwas entdecken, was einem nicht passt, was zu kritisieren
ist';
jm. die Leviten lesen 'jn. wegen eines tadelnswerten Verhaltens gehörig zurechtweisen';
jmdm. einen Bären aufbinden 'jm. etwas Unwahres so erzählen, dass er es glaubt'; jn. unter
die Arme greifen 'jn. in einer Notlage helfen'; etw. aus dem Ärmel schütteln 'etw. mit
Leichtigkeit schaffen, besorgen';
auf seine Kosten kommen ' in seinen Erwartungen zufriedengestellt werden'; von Pontius zu
Pilatus gehen/laufen ‘in einer Angelegenheit viele Wege machen, von einer Stelle zur anderen
gehen'; vom Regen in die Traufe kommen 'aus einer unangenehmen Lage in eine noch
unangenehmere geraten'
- Adjektiv/Adjektiv-/Adverbialgruppe + Verb
langsam schalten ‘schwer begreifen’; zu kurz kommen 'zu wenig berücksichtigt werden,
benachteiligt werden'; fest im Sattel sitzen 'eine sichere, ungefährdete Position inne haben'
- Verb/Verbalgruppe + Verb
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
baden gehen 'keinen Erfolg mit etw. haben, mit etw. scheitern'; kein Wässerchen trüben
können 'harmlos sein'; die Engel im Himmel singen hören 'von Schmerzen fast umkommen,
starke Schmerzen empfinden'; etw. nicht wahrhaben wollen 'etw. nicht zugestehen, bemerken
wollen'
Die adjektivischen Phraseme sind Phraseme, deren syntaktischer Kern immer ein Adjektiv ist.
Im Deutschen sind sie relativ schwach vertreten; es überwiegen Strukturen mit dem Part. II
bzw. komparative Phraseme und Paarformeln (die Letzteren werden unter Phraseologischen
Sonderstrukturen (Abschnitt 2.3) gesondert besprochen), vgl.
frisch/neu gebacken 'in einer Situation neu'; kurz angebunden 'unfreundlich und abweisend';
schwer/langsam von Begriff 'schwer/langsam auffassen'; dünn/dick gesät 'selten/häufig
vorkommend'; gut/schlecht/knapp bei Kasse 'reichlich/wenig Geld haben';
hungrig wie ein Wolf 'sehr großen Hunger haben'; klar wie Kloßbrühe/dicke Tinte/dicke Suppe
'sich von selbst verstehen, völlig klar sein';
schlicht und einfach 'ganz einfach, ohne Umstände (gesagt)'; ganz und gar 'völlig'.
Beobachtet man ihr Satzvorkommen, so stellt man schnell fest, dass sie in der Verwendung
eingeschränkt sind. Sehr selten kommen sie in der syntaktischen Funktion eines Attributes
vor, vgl.
gut gepolstert 'wohlbeleibt, mit viel Geld': ich kenne eine gut gepolsterte Dame;
viel öfter werden sie nämlich nur prädikativ bzw. adverbial verwendet, vgl.
30
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Die adverbialen Phraseme sind Phraseme mit der syntaktischen Funktion eines Adverbs; im
Satz treten sie somit als adverbiale Bestimmungen auf. Ihre formalen Strukturen sind
vielfältig, es überwiegen präpositionale Konstruktionen, vgl.
- Präposition + Substantiv
auf Anhieb 'sofort, gleich zu Beginn'; auf Zeit 'befristet'; ohne/von Belang 'von großer/kleiner
Bedeutung; zu Hause 'daheim'; im Handumdrehen 'überraschend schnell, schon im nächsten
Augenblick'; in der Tat 'tatsächlich'; um ein Haar 'fast, beinahe';
mit der linken Hand 'ohne Anstrengung, völlig mühelos'; unter freiem Himmel 'im Freien’; auf
jeden Fall 'unbedingt, ob so oder so'; unter vier Augen '(in Bezug auf ein Gespräch) zu zweit,
im Vertrauen, ohne Zeugen';
von Hause aus 1. 'von der Familie her', 2. 'von Natur aus'; von klein auf 'von Kindheit an'; von
Kopf bis Fuß 1. von oben bis unten', 2. 'völlig'
- Präposition + Adverb/Adjektiv
für gewöhnlich 'üblicherweise'; in bar 'in Form von Geldscheinen oder Münzen' ; im Voraus
'schon vorher'.
Im Folgen werden zwei Strukturtypen nominativer Phraseme dargelegt, die sich durch
syntaktisch-strukturelle und semantisch-pragmatische Besonderheiten auszeichnen; es sind
phraseologische Paarformeln, komparative Phraseme und phraseologische Teilsätze.
31
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
2.3.1 Paarformeln
Syntaktisch-strukturelle Eigenschaften
frank und frei 'geradeheraus, offen'; Lug und Trug 'Betrug, Täuschung'; klein, aber fein 'klein,
aber sehr gut'; früher oder später 'zwangsläufig irgendwann einmal'; weder Fisch noch Fleisch
'nicht zu bestimmen, nicht einzuordnen sein; nichts Eindeutiges sein'; von Zeit zu Zeit
'manchmal'; von heute auf morgen 'sehr schnell, innerhalb kurzer Zeit', 2. 'ganz überraschend,
ohne dass man darauf vorbereitet ist'; auf Schritt und Tritt 1. 'überall', 2. 'ständig';
wennschon, dennschon/wennschon – dennschon 'wenn etwas schon getan wird, dann soll es
auch richtig, gründlich getan werden'.
Darüber hinaus kennt das Deutsche auch einige Drillingsformeln bzw. Vierlingsformeln, d.h.
phraseologische Strukturen mit drei bzw. vier wortartidentischen Komponenten, vgl.
heimlich, still und leise 'völlig unbemerkt'; frisch, fromm, fröhlich, frei 'sorglos, unbekümmert'.
- substantivische Wortpaare
das Hab und Gut 'alles, was man besitzt'; js. Tun und Lassen/Treiben/Trachten 'alles, was jmd.
tut'; das Für und Wider 'das, was dafür und das, was dagegen spricht'; Groß und Klein
'jedermann, alle'
- verbale Wortpaare
32
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
hegen und pflegen 1. 'mit liebevoller Fürsorge umgeben', 2. 'sich in besonderer Weise
bemühen, etw. aufrechtzuerhalten'; es/etw. drehen und wenden 'etw. von jedem nur
denkbaren Blickpunkt aus betrachten'; bitten und betteln 'inständig bitten'
null und nichtig '(rechtlich) ungültig'; kurz und bündig 'ohne Umschweife, mit wenigen
treffenden Worten'; weit und breit 'in der ganzen Umgebung'; hin und wieder 'manchmal';
schwarz auf weiß 'gedruckt, schriftlich'; mit Ach und Krach 'mit Mühe und Not, gerade noch,
unter großen Schwierigkeiten'; mit Sack und Pack 'mit allem, was man besitzt'; bei Nacht und
Nebel 'heimlich (bei Nacht)'; seit eh und je 'solange man denken kann, sich erinnern kann';
weder Fisch noch Fleisch 'nicht zu bestimmen, nicht einzuordnen sein; nichts Eindeutiges sein';
von Zeit zu Zeit 'manchmal'; früher oder später 'zwangsläufig irgendwann einmal'; mehr oder
minder/weniger 'fast ohne Ausnahme'; von heute auf morgen 1. 'sehr schnell, innerhalb
kurzer Zeit', 2. ganz überraschend, ohne dass man darauf vorbereitet ist'.
Ebenso möglich ist, dass Wortpaare als Bestandteile anderer, etwa verbaler Phraseme
vorkommen. In solchen Fällen ist eine klare morphologisch-syntaktische Festlegung wegen
der nur fakultativen verbalen Komponente erschwert, weswegen mit zweifachen
Zuordnungen zu rechnen ist, vgl.
von Mund zu Mund gehen 'durch Weitererzählen verbreitet werden'; jm. etw. hoch und heilig
versprechen/beteuern (o. Ä.) 'jm. etw. mit allem Nachdruck versprechen/beteuern (o. Ä.)';
etw. unter Dach und Fach bringen 'etw. glücklich zum Abschluss bringen'; in Saus und Braus
leben 'ein üppiges, verschwenderisches Leben führen'.
Der Gebrauch von adjektivischen Wortpaaren ist syntaktisch beschränkt; sie werden meist
nur adverbial bzw. prädikativ verwendet, vgl.
Er ist fix und fertig vs. *Ich kenne diesen fix und fertigen Studenten nicht.
Die Einschränkung gilt noch insbesondere für substantivische Wortpaare, die in der Regel
nur als Präpositionalgruppen attributiv zum Verb verwendet werden, vgl.
Er hat auf Leben und Tod gekämpft 'bis zum Äußersten, bis zur Vernichtung';
so auch
zwischen Tür und Angel 'eilig, nur flüchtig zusammentreffend'; mit Ach und Krach 'mit Mühe,
gerade noch'; mit Haut und Haar(en) 'gänzlich, völlig' (ist/geschieht etw.); in Hülle und Fülle
33
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
'sehr viel, im Überfluss' (ist etw. vorhanden); unter Dach und Fach 'glücklich, erfolgreich
abgeschlossen' (ist etw.).
Semantisch-pragmatische Eigenschaften
- zwei (oder mehrere) Komponenten der gleichen Wortart sind zueinander oft (quasi)
synonym oder semantisch eng verwandt; meist werden sie mit der gleichordnenden
Konjunktion und verbunden, vgl.
Lug und Trug, null und nichtig, mit Ach und Krach, seit eh und je
Freund und Feind 'jedermann'; das Wohl und Wehe 'das Wohlergehen, Schicksal'
Tod und Teufel 'Fluch'; Land und Leute 'das Land, die Region und ihre Bewohner, ihre Sitten
und Gebräuche'.
Eine weitere Eigenschaft vieler Wortpaare sind rhythmische Reimstrukturen. Hierbei werden
im Wesentlichen folgende unterschieden:
mit Mann und Maus 1. 'ohne dass jemand gerettet wird', 2. 'mit allen verfügbaren Kräften';
Geld und Gut 'alles, was man besitzt'; in Samt und Seide 'in auffallend kostbarer Kleidung'
Lug und Trug ' Betrug, Täuschung'; außer Rand und Band 1. 'übermütig, ausgelassen', 2.
'außer Kontrolle'
Komparative Phraseme (auch phraseologische Vergleiche) sind Phraseme, die, wie der
Name sagt, einen Vergleich versprachlichen, vgl.
lügen wie gedruckt 'hemmungslos lügen'; zittern wie Espenlaub '(vor Kälte, Angst) sehr
zittern'; sich (wohl)fühlen wie ein Fisch im Wasser/wie die Made im Speck 'sich sehr
wohlfühlen'; laufen wie geschmiert 'reibungslos funktionieren, sehr gut verlaufen'; es ist, um
auf die Bäume zu klettern 'es ist nicht mehr auszuhalten, es ist zu verzweifeln'.
Gebildet werden sie nach einem sehr produktiven Muster, denn nicht nur in deutscher
Sprache sind solche Phraseme zahlreich. Zugrunde liegt ein leicht nachvollziehbares logisch-
semantisches Konzept: es sind Ausdrücke, »bei /denen/ etwas mit etwas aus einem anderen
(gegenständlichen) Bereich im Hinblick auf ein beiden Gemeinsames in Beziehung gesetzt
und dadurch eindringlich veranschaulicht wird« (Földes 2007, 426).
Komparative Phraseme gehören meist zur Klasse der teilidiomatischen verbalen Phraseme,
man findet sie aber auch im adjektivischen, adverbialen und substantivischen Bereich.
35
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Syntaktisch-strukturelle Eigenschaften
Die typische syntaktische Struktur komparativer Phraseme besteht in der Regel aus drei
Elementen: aus Vergleichsobjekt (das, was verglichen wird; comparandum), aus tertium
comparationis (gemeinsames Merkmal des comparandum und comparatum) und aus
Vergleichsmaß (comparatum). Als Verbindugselement kommt eine Vergleichspartikel vor
(im Deutschen überwiegend wie, jedoch auch als, als ob). Die wichtigsten Strukturmodelle
der deutschen komparativen Phraseme sind:
(aussehen) wie eine gebadete Maus 'völlig durchnässt'; (dastehen) wie ein begossener Pudel
'nach einer Zurechtweisung o. Ä. nichts mehr zu sagen wissen';
frech/stolz wie Oskar 'sehr frech und unbekümmert, sehr stolz'; alt wie Methusalem 'sehr alt';
dumm wie Bohnenstroh/wie die Nacht 'sehr dumm'; gesund wie ein Fisch im Wasser 'völlig
gesund'
lügen wie gedruckt 'hemmungslos lügen'; aussehen wie geleckt 1. 'sehr sauber aussehen' , 2.
'sehr sorgfältig gekleidet sein'; antworten wie aus der Pistole geschossen 'prompt, ohne
Zögern antworten'; aufspringen wie von der Tarantel gestochen 'plötzlich und überaus heftig
aufspringen'
reden, wie einem der Schnabel gewachsen ist 'freiheraus, ungeniert reden'
ein Mensch wie du und ich 'ein ganz normaler, durchschnittlicher Mensch'; Zustände wie im
alten Rom 'unmögliche, unhaltbare Zustände'
dümmer (sein), als die Polizei erlaubt 'sehr dumm (sein)'; so still (sein), dass man eine
Stecknadel (zu Boden/zu Erde) fallen hören kann/könnte 'absolut still (sein)'; es ist, um auf die
Bäume zu klettern 'es ist nicht mehr auszuhalten, es ist zu verzweifeln'.
36
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Im verbalen Bereich ist im Deutschen eine variable Reihenfolge im Prinzip möglich, vgl.
dastehen wie ein begossener Pudel bzw. wie ein begossener Pudel dastehen,
Die meist gebrauchten Verben bei deutschen komparativen Phrasemen sind (aus)sehen,
(da)sitzen, (da)stehen, schlafen, gehen, reden – man sieht, dass sie alle sich auf
grundlegende menschliche Aktivitäten beziehen; samt dem kognitiv immanenten Bedürfnis
des Menschen, die Welt um sich herum durch Vergleich zu ordnen und systematisieren mag
das ein wesentlicher Grund für die Vielzahl und Vielfältigkeit solcher Phraseme in vielen
Sprachen sein (vgl. Földes 2007, 426f.).
Semantisch-pragmatische Eigenschaften
aussehen wie aus dem Ei gepellt 'sehr sorgfältig gekleidet sein' (körperliche Eigenschaft)
sich wie neugeboren fühlen 'sich prächtig erholt fühlen' (psychische Eigenschaft).
Der Vergleich erfolgt in der Regel anhand konventionaler Vorstellungen über die typischen
Eigenschaften von Tieren, Pflanzen, Gegenständen, Umständen u. Ä. Die vergleichende
Darstellung kann intensivierende, expressive, spezifizierende, differenzierende Züge tragen,
vgl.
(stark u.Ä.) wie ein Bär 'in auffallend hohem Maß, sehr' (intensivierend)
37
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
antworten wie aus der Pistole geschossen 'prompt, ohne Zögern' (spezifizierend-
differenzierend);
sie kann aber auch kulturspezifisch markiert sein. So kommt es vor, dass zwischen einem
Vergleichsobjekt und einem Vergleichsmaß unterschiedliche Gemeinsamkeiten (tertia
comparationis) festgelegt werden, vgl. Phraseme mit der Vergleichsgröße Fisch (zit. nach
Burger 2010, 47):
stumm wie ein Fisch, kalt wie ein Fisch, sich wohlfühlen wie ein Fisch im Wasser.
Bei komparativen Phrasemen beobachten wir oft eine starke Variabilität der
Vergleichsgrößen, was kulturell bedingt sein kann, vgl.
von etw. so viel verstehen wie der Hahn vom Eierlegen/wie die Kuh vom Radfahren/wie die
Kuh vom Sonntag/wie die Kuh vom Schachspielen 'gar nichts von etw. verstehen'.
Vereinzelt sind komparative Phraseme auch polysem, meist in einer antonymen Hinsicht,
vgl.
passen wie die Faust aufs Auge 1. 'überhaupt nicht passen', 2. 'sehr gut, ganz genau passen'.
Die gegensätzlichen Bedeutungen können zweierlei interpretiert werden: entweder hat man
es »mit der ambivalenten Natur der menschlichen Psyche und der Denkweise zu tun, /…/ ein
und dasselbe Verhalten /.../ sowohl positiv als auch negativ zu deuten« oder es geht um
sprachgeschichtliche Gründe, wonach Folgendes gilt: »wenn eine der Bedeutungen später
hinzugekommen ist, kann sich durch häufigen ironischen Gebrauch der ersten,
ursprünglichen Bedeutung, die neue, gegenteilige herausbilden«(Földes 2007, 428).
38
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
wissen/sagen (o.Ä.), wo jm./jn. der Schuh drückt 'js. Sorgen, Nöte kennen'
nicht (mehr) wissen, wo einem der Kopf steht 'durch Arbeit, Sorgen o.Ä. überlastet sein'
wissen/sehen/fragen/jm. zeigen (o.Ä.), wie der Hase läuft 'wissen, jm. zeigen, wie etw.
gemacht wird, damit es die gewünschte Wirkung, den gewünschten Erfolg erzielt'.
Diese relativ kleine Gruppe der phraseologischen Sonderstrukturen weist einen hohen Grad
der grammatischen Variabilität auf; der Nebensatz wechselt leicht seinen grammatischen
Status, vgl. die Aussage
Weiterführende Literatur
39
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
3 Sprichwörter
Das Thema dieses Kapitels sind Sprichwörter. Es wird dargelegt, was Sprichwörter sind und
welche typischen Eigenschaften sie haben. Dieser Teil des Kompendiums ist nicht gänzlich
auf einzelne Sprachen, hier auf die deutsche Sprache, ausgerichtet, obgleich mit zahlreichen
deutschsprachigen Beispielen belegt; manche Erläuterungen gelten nämlich für Sprichwörter
allgemein und so z.B. auch für slowenische Sprichwörter.
Nach einer aufmerksamen Lektüre dieses Kapitels werden sie wissen, was Sprichwörter sind,
welche typischen Eigenschaften sie haben, wie sie sich von andersartigen aber ähnlichen
satzwertigen Phrasemen unterscheiden und wie sie typischerweise im gegenwärtigen
Sprachgebrauch vorkommen.
In Abschnitt 2.1 haben wir gesehen, dass Sprichwörter zur Klasse der propositionalen
nominativen Phraseme gezählt werden; sie sind satzwertige Aussagen über Objekte,
Vorgänge, Begriffe u. Ä. Aus kulturhistorischer Sicht werden sie folgendermaßen definiert:
»Sprichwörter sind allgemein bekannte, festgeprägte Sätze, die eine Lebensregel oder
Weisheit in prägnanter, kurzer Form ausdrücken« (Röhrich/Mieder 1977).
40
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
sind Sprichwörter seit langem ein beliebtes Forschungsthema; in der letzten Zeit werden sie
aber auch aus der sprachwissenschaftlichen Perspektive intensiv untersucht Die
Sprachwissenschaft zählt Sprichwörter zum phraseologischen Bestand einer Sprache und
somit zur Phraseologie im weiteren Sinn (vgl. hierzu den Abschnitt 1.1). Die
Sprachwissenschaft untersucht formalstrukturelle, semantische und pragmatische
Eigenschaften von Sprichwörtern, geklärt werden Fragen zu ihrer lexikographischen
Erfassung (Phraseographie) und ebenso Fragen zu ihrer Vermittlung in Prozessen des
Sprachenlernens und -lehrens (Phraseodidaktik).
So soll die Feststellung nicht überrraschen, dass eine einheitliche Definition dessen, was
Sprichwörter sind, nicht vorliegt (und auch nicht vorliegen kann). Die jeweilige Definition ist
nämlich immer von Forschungsansätzen abhängig; diese gehen von verschiedenartigen (und
nicht immer gleichen) Sprichwortmerkmalen aus und je nach der Forschungsperspektive
variiert auch die jeweilige Definition. Das obige Zitat von Röhrich/Mieder stellt somit eine
kulturhistorische Sprichwortdefinition dar, während die Sprachwissenschft Sprichwörter als
satzwertige, idiomatische und sprechaktunspezifische Mehrworteinheiten versteht (Ďurčo
2005, 32). Donalies (2009) benennt sie mit dem Ausdruck Satzphrasem, Burger (2010)
dagegen auch mit dem Ausdruck propositionale Mehrworteinheit. Im Folgenden werden die
Hauptmerkmale der Sprichwörter in ihren Wesenszügen erläutert.
3.2 Hauptmerkmale
41
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Dazu kommen die Unbekanntheit der Quelle und die allgemeine Bekanntheit innnerhalb
einer Sprachgemeinschaft. So kann man für das Sprichwort Die Zeit heilt alle Wunden
('irgendwann vergeht jeder Schmerz, ist jede Enttäuschung überwunden') sagen, dass es sich
um einen festgeprägten, kurzen und prägnanten Satz unbekannter Herkunft handelt, der auf
eine bildhaft-metaphorische Art eine verallgemeinerte »Weisheit« vermittelt und unter den
muttersprachlichen Sprechern des Deutschen als allgemein bekannt gehalten werden kann.
Wir kennen jedoch auch andersartige festgeprägte Satzkonstruktionen, die dem Sprichwort
zwar ähnlich, mit ihm aber nicht einfach gleichzusetzen sind, weil sie teilweise verschiedene
Charakteristika aufweisen. Diese sprichwortähnlichen Konstruktionen sind unter Anderem
Sentenzen, geflügelte Worte, Aphorismen, Maximen und Epigramme. Von den Sprichwörtern
unterscheiden sie sich hauptsächlich durch die Bekanntheit der Quelle. Wenn diese aber
durch die Häufigkeit des Vorkommens verblasst und bei den Sprechern sogar nicht mehr
bekannt ist, so treten sie leicht zu den Sprichwörtern über. Die wesentlichen Eigenschaften
von Sentenzen, geflügelten Worten, Aphorismen, Maximen und Epigrammen werden in
Abschnitt 3.8 kurz skizziert.
Legen wir nun die Hauptmerkmale eines Sprichwortes unter Perspektive der linguistischen
Phraseologieforschung fest.
Das Merkmal der Polylexikalität und Satzwertigkeit meint, dass Sprichwörter aus mehreren
Wörtern (Lexemen) bestehende satzwertige Konstruktionen sind. Sie sind satzwertige
Mehrworteinheiten des Lexikons einer Sprache, sie gelten als in sich geschlossene Sätze, die
»durch kein lexikalisches Element an den Kontext angeschlossen werden müssen« (Burger
2010, 106). Man meint dazu auch, dass sie als selbständige Mikrotexte aufgefasst werden
können. Das heißt, dass sie im Gedächtnis als syntaktische und semantische Einheiten
gespeichert werden, bei Bedarf (beim Sprechen und/oder Schreiben) ganzheitlich abgerufen
werden und dazu auch außerhalb eines konkreten Textes/Kontextes verstanden werden
können. (Näheres zur Form der deutschen Sprichwörter finden sie in Abschnitt 1.1.3).
42
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
3.2.2 Stabilität
Das Merkmal der Stabilität (Festigkeit) bezieht sich grundsätzlich auf die angenommen feste,
unveränderbare Form und Bedeutung eines Sprichworts. Mit dieser Eigenschaft eng
verbunden ist die sprichworteigene Modellhaftigkeit. Die linguistisch ausgerichtete
(germanistische) Parömiologie konnte nämlich feststellen, dass Sprichwörter weitgehend
nach syntaktischen Mustern und inhaltlichen Benennungsmodellen gebildet werden, was die
Stabilität entschärft und zu Varianten und Modifikationen führt. (Näheres zur
Modellhaftigkeit und Variabilität der deutschen Sprichwörter finden sie in Abschnitt 3.3).
3.2.3 Idiomatizität
Die Bedeutung des Sprichworts lässt sich also nicht von der Bedeutung einzelner
Bestandteile ableiten bzw. einzelne oder sogar alle Sprichwort-Komponenten verletzen die
übliche und erwartbare Wortkombinatorik. Die Idiomatizität ist eine graduell ausgeprägte
Eigenschaft, aufgrund deren wir über voll- bzw. teilidiomatische Sprichwörter reden können,
vgl.
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
3.3 Formen
Wie oben gesagt, gehören Sprichwörter zur Gruppe der satzwertigen Phraseme. Der
syntaktischen Form nach sind (deutsche) Sprichwörter:
- syntaktisch vollständige Sätze, Satzreihen bzw. Satzgefüge; sie enhalten ein finites
Verb und valenzbedingte Ergänzungen, sie sind einfache Sätze bzw. koordinative/
subordinative Satzverbindungen, vgl.
44
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Den überwiegenden Teil des deutschen Sprichwortbestandes machen Sprichwörter mit der
einfachen Aussagesatzstruktur aus. Sprichwörter in Form von Fragesätzen bzw.
Ausrufesätzen mit imperativischer Verform sind eher selten, vgl.
Häufig sind Satzstrukturen mit Modalverben (sollen, dürfen, müssen), diese kommen oft in
Kombination mit dem Indefinitpronomen man vor, vgl.
In den Texten werden Sprichwörter nicht selten durch deutlich erkennbare Stilfiguren
markiert. So kennen wir
Ohne Fleiß kein Preis; Mit Geduld und Spucke fängt man jede Mucke
45
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
- Parallelismus, vgl.
Eine weitere bedeutende Eigenschaft der Sprichwötrer ist ihre Modellhaftigkeit. Sie folgen
nämlich weitgehend syntaktischen Modellstrukturen und inhaltlichen Benennungsmodellen.
So konnten für das Deutsche mehrere strukturelle und inhaltliche Modelle ermittelt werden
(Röhrich/Mieder 1977, 61f.). Sie reichen von den einfachen bis zu den komplexen
Satzkonstruktionen, auf deren Grundlage Reihen von formal vergleichbaren sprichwörtlichen
Strukturen gebildet werden, vgl.
- A ist A
- A ist B
- ohne A kein B
- lieber/besser A als B
Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach; Besser spät als nie
- wie A so B
Wie man sich bettet, so liegt man; Wie man plant, so fährt man) usw.
46
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Auch inhaltlich ist bei vielen Sprichwörtern Modell- bzw. Musterhaftigkeit erkennbar. Es geht
um abstrakte Benennungsmodelle, um die so genannten All-Sätze, auf denen konkrete
Sprichwörter basieren, vgl.
- man soll eine Sache tun, solange es nicht zu spät dazu ist
Man muss das Eisen schmieden, solange es heiß ist; Forme aus dem Lehm, solange es feucht
ist
Das Merkmal der musterhaften Modellhaftigkeit drängt nahezu zur Bildung von Varianten
und Modifikationen. Die Variabilität (Variabilität) ist somit eine weitere bedeutende
Eigenschaft von Sprichwörtern; variable Sprichwortformen sind Sprichwortvarianten
(Variante). Man unterschidet dabei zwischen quantitativer und quantitativer Variabilität.
Alles hat ein Ende/Alles hat einmal ein Ende vs. Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei.
Qualitative Varianten sind dagegen grammatisch bzw. lexikalisch bedingte Änderungen der
sprichwörtlichen Ausgangsform. So sind einzelne Sprichwortkomponenten austauschbar, vgl.
47
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Bei manchen Sprichwörtern beobachtet man zum Teil offene Modellstrukturen, die als
Muster gelten und dem Kontext entsprechend gefüllt werden können. So lässt die usuelle,
„kanonische“ Sprichwortform Das Geld regiert die Welt zwei zum Teil offene
Modellstrukturen zu: X regiert die Welt und Das Geld regiert X. Vgl. die Verwendung im
Text:
König Fußball regiert die Welt, und Deutschland erlebt wieder ein Sommermärchen. Die
Euphorie, die die Nation vor allem nach dem Einzug der deutschen Nationalmannschaft ins
Halbfinale ergriffen hat, ist bis in den Deutschen Bundestag spürbar. (SprichWort 2010)
Das Setting selbst ist natürlich nicht partikular deutsch, sondern universal. Das Geld regiert
die Politik - das gab und gibt es überall und immer. (SprichWort 2010)
Stetter Tropfen höhlt die Leber; Reden ist Schweigen, Silber ist Gold; Viele Köche verderben
die Köchin; Erst die Freizeit, dann das Vergnügen.
Die stilistisch-pragmatische Wirkung kommt jedoch nur dann zum Tragen, wenn das
grundlegende Sprichwort vom Leser bzw. Hörer erkannt wird, also
Stetter Tropfen höhlt den Stein; Reden ist Silber, Schweigen ist Gold; Viele Köche verderben
den Brei; Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.
Die sprichworteigene Variabilität wird darüber hinaus durch ihr grammatisch bedingtes
syntaktisches Umwandlungspotential beeinflusst. Das bedeutet, dass Sprichwörter noch
längst nicht nur als völlig feste, unveränderbare satzwertige Zitate in den Texten
vorkommen; sie verfügen nämlich über die Fähigkeit, sich syntaktisch-syntagmatisch an die
jeweilige texutuelle Umgebung anzupassen und kommen somit grammatisch entsprechend
eingebettet vor.
48
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Die syntaktische Umwandlungsfähigkeit (Transformation) ist vielfältig; verstärkt zeigt sie sich
als Konversionsfähigkeit (Übergänge zu nichtsatzwertigen Phrasemen und umgekehrt), vgl.
Die Niederlage in Salzburg? Abgehakt! Aber nicht vergessen. Das Hagebau Team Tirol
träumte vor dem heutigen dritten Kampf gegen Salzburg von süßer Rache. (SprichWort 2010)
Nach 22 Jahren Vorstandsarbeit, davon 16 Jahre im Amt des Vorsitzenden, hat Wolfgang
Müller nicht mehr für den Posten des Vorsitzenden der Bibliser Feuerwehr kandidiert. "Es hat
sich in den letzten Jahren gezeigt, dass man nicht gleichzeitig auf zwei Hochzeiten tanzen
kann", [...] Die Belastung seines Amtes als Kreisbrandinspektor stelle erhöhte Anforderungen
an ihn, sodass er sich außerstande sehe, so für den Verein zu arbeiten, "wie ich es eigentlich
möchte." (SprichWort 2010)
Die Möglichkeit des variablen Umgangs mit den Sprichwortformen wird bei den Sprechern
oft wahrgenommen; insbesondere gilt das für textuelle Kontexte bzw. Textsorten, in denen
das Variabilitätspotential zu den jeweils aktuellen textuellen Funktionen und
Sprecherintentionen gewinnbringend beiträgt, unter Anderem in Werbungstexten,
Schlagzeilen und Titeln. Dies mag daran liegen, dass Sprichwörter zu indirekten, verhüllten
Aussagen tendieren (Röhrich/Mieder, 1977), was den Spielraum für einen kreativ-
spielerischen Umgang öffnet, vgl.
»Ein Zwilling kommt selten allein«. Die romantische Familienkomödie mit Witz und Tempo!
Eine Neuverfilmung von Erich Kästners Kinderbuchklassiker »Das doppelte Lottchen«.
(SprichWort 2010)
3.4 Funktionen
Wie wir oben gesehen haben, besteht eine wesentliche Funktion von Sprichwörtern darin,
dass sie verschiedene Inhalte generalisierend darstellen können. An ihrem textuellen
Gebrauch kann man jedoch auch weitere Funktionen beobachten. Sie haben eine soziale
Funktion (Benennung nach Grzybek) indem sie »als Formulierungen von Überzeugungen,
Werten und Normen gelten, die in einer bestimmten Kultur und Zeit soziale Geltung
49
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Ich bin schon lange alleinerziehend und frage mich, ob ich vielleicht in manchen Dingen zu
streng war. Erst die Arbeit und dann das Vergnügen, so bin ich erzogen worden. (SprichWort
2010)
Lügen haben kurze Beine... so haben es die meisten schon in der Kindheit gelernt. Es lohnt
sich nicht zu lügen, mit Lügen schadet man sich und andern. (SprichWort 2010)
Warnung, Rat
"Sie sollten nicht mit zu viel Ehrgeiz an die Sache herangehen", riet Jung den etwa 100
Zuhörern zu Beginn. Eile mit Weile sei vielmehr das Motto. Bevor der Anfänger oder
Wiedereinsteiger überhaupt mit dem Sport beginne, sei erst einmal ein Gesundheitscheck
fällig. (SprichWort 2010)
Argument
50
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Beruhigung
Gestern, zurück in Berlin, schwieg Stoiber dann lieber zum Richtlinien-Thema. Was Merkels
Helfer in ihrer Theorie bestätigt, mit der sie sich beruhigen: Hunde, die bellen, beißen nicht.
Die Angriffe aus München werden in Berlin mit einem „psychologischen Problem” erklärt.
(SprichWort 2010)
Erst die Arbeit, dann das Vergnügen: So hielten es jüngst die Mitglieder des [...] Ortsvereins
Remagen. Sie schlossen an ihre Jahreshauptversammlung [...] einen gemütlichen Nachmittag
mit musikalischer Begleitung an. (SprichWort 2010)
[...] dem Klub droht der Zerfall. Die Spieler haben sich aufgegeben, obwohl noch neun Spiele
zu absolvieren sind. Bonhof will sich damit nicht abfinden und forderte sie auf, Zeichen zu
setzen. [...] Goalie Robert Enke und Stürmer Markus Feldhoff haben schon ihren Abschied
verkündet, die Fans dankten es ihnen mit dem Spruchband: "Die Ratten verlassen das
sinkende Schiff "(SprichWort 2010)
Man kann aus guten Gründen annehmen, dass Sprichwörter aufgrund der menschlichen
Bedürfnisse, das Leben im Einklang mit der Natur und in Kooperation mit den Mitmenschen
zu gestalten, entstanden sind. Die praktischen Lebenserfahrungen und allgemeine
Erkenntnisse wurden in Form von kurzen und prägnanten Äußerungen, als so genannte
51
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Man ist sich einig, dass die Herkunft von Sprichwörtern sehr oft nicht exakt zu ermitteln ist.
Betrachtet man sie jedoch entweder einzelsprachlich oder sprachenübergreifend, so können
drei Herkunftsquellen angenommen werden:
Sprichwörter entstammen den schriftlichen Werken. Viele gehen auf die Antike, die Bibel
oder auf das mittelalterliche Schrifttum zurück. Ursprünglich sind sie also Zitate aus
nachweisbaren literarischen, weltlichen und/oder religiösen Texten, also aus der Bibel, aus
Fabeln, Märchen, Sagen und dergleichen, die durch die häufige Wiederholung ebenso zu
allgemein verbreiteten Aussagen wurden, vgl.
Die Hunde bellen, und die Karawane zieht weiter (Entlehnung aus dem Türkischen).
Aus volkskundlicher Sicht werden Sprichwörter sehr oft als Besonderheit und
Eigentümlichkeit einzelner Sprachen interpretiert (sie seien somit idiosynkratisch). Das mag
aber eher für eine kleinere Anzahl der Sprichwörter zustimmen. Vielmehr gilt, dass etliche
Sprichwörter zwischensprachlich übereinstimmen, dass also ein Sprichwort nicht nur auf
52
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Alle Wege führen nach Rom (slow. Vse poti vodijo v Rim)
Nachts sind alle Katzen grau (slow. Ponoči so vse krave črne) (Unterschiede im
Komponentenbestand und in der bildhaft-metaphischen Grundlage)
Ohne Fleiß kein Preis (slow. Brez dela ni jela) (Unterschiede im Komponentenbestand, in der
syntaktischen Struktur und in der bildhaft-metaphischen Grundlage)
Man lernt nie aus (slow. Človek se uči, dokler živi) (Unterschiede im Komponentenbestand, in der
syntaktischen Struktur und in der bildhaft-metaphischen Grundlage)
53
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
3.6 Sprichwortsammlungen
Beobachtet man die fachliche Auseinandersetzung mit den Sprichwörtern aus historischer
Perspektive, so kann man auf zahlreiche Sprichwortsammlungen hinweisen, die in
volkskundlicher Tradition entstanden sind und die gegenwärtig in vielfältiger
methodologischer Ausprägung und recht unterschiedlichem Umfang für viele Sprachen
vorliegen. Das Sprichwortsammeln hat Jahrtausende lange Tradition, und die
Sprichwortsammlungen sollte man als tradierte Quellen für die (diachrone)
Sprichworterforschung betrachten. Ob bzw. inwiefern sie auch bei der Erarbeitung
moderner synchroner Wörterbücher anwendbar sind, ist allerdings fraglich, zumal sie
54
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Seit der angenommen ersten europäischen Sprichwortsammlung aus dem Jahr 1023 von
Egbert von Lüttich (Fecunda ratis (Das vollbeladene Schiff)), die lateinische und biblische
Sprichwörter enthält, verzeichnet man in Europa eine intensive Beschäftigung mit der
lexikographieähnlichen Dokumentierung der Sprichwörter. Die ältesten dokumentierten
sprichwortähnlichen Texte seien die auf sumerischen Tafeln in Keilschrift verfasste Texte aus
dem 2. Jahrtausend v. u. Z. Historisch sehr bedeutend für die Sprichworterforschung vieler
Sprachen sind allerdings Sprichwortsammlungen aus antiker Zeit, zumal zahlreiche
allgemeineuropäische Sprichwörter auf diese kulturell bahnbrechende Epoche zurück gehen.
55
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Die Aufklärungsepoche des 18. Jahrhunderts war den Sprichwörtern weniger zugeneigt;
Originalität und Individualität als Schreibstil wurden nämlich viel höher geschätzt als etwa
Wiederholung tradierter Sprüche. In den Texten der deutschen Klassiker (Goethe, Schiller,
Lessing u.a.) fanden Sprichwörter aber trotzdem eine hohe Beachtung, dies vorrangig als
bewährte und wirksame Stilmittel. Für Sprichwortsammlungen dieser Epoche sind
Kommentare und Bedeutungserläuterungen typisch, so z.B. Deutsches Sprichwörterbuch von
Joachim Christian Blum (1780–1782).
Im 19. Jahrhundert beobachtet man erneut ein stärkeres Interesse an den Sprichwörtern. Es
seien hier einige Werke erwähnt, die als Meilensteine für die weitere (volkskundliche und
lexikographische) Beschäftigung mit den Sprichwörtern verstanden werden können: Johann
Michael Sailer's Die Weisheit auf der Gasse, oder Sinn und Geist deutscher Sprichwörter
(1810) – eine Sammlung ausführlich analysierter und semantisch kommentierter
Sprichwörter; die Literatur der Sprichwörter von Christian Conrad Nopitsch (1822) – ein
Verzeichnis der bis zu jener Zeit veröffentlichten Arbeiten zum Phänomen Sprichwort; das
monumentale Werk von Karl Friedrich Wilhelm Wander – das fünfbändige Deutsche
Sprichwörterlexikon (1867–1880) umfasst mehr als 250.000 Sprichwörter, die stellenweise
mit Kommentaren, Anmerkungen sowie Angaben von Varianten, Quellen und
anderssprachigen Äquivalenten versehen sind; und schließlich die populärste deutsche
Sprichwortsammlung von Karl Simrock mit dem Titel Die deutschen Sprichwörter (1846).
3.7 Sondergruppen
Wegen ihrer inhaltlichen und formalstrukturellen Besonderheiten kann man von einigen
Sondergruppen der Sprichwörter sprechen: Bauernregeln bzw. Wettersprichwörter,
Rechtssprichwörter, medizinische Sprichwörter und Wellerismen. Im Folgenden werden sie in
Kürze dargelegt.
Wenn die Schwalben nieder fliegen und die Tauben baden, so bedeutet's Regen.
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Im deutschsprachigen Raum haben sie eine sehr lange Tradition. Der erste Hinweis findet
sich bei A. Magnus (13. Jh.), die älteste gedruckte Sammlung von Bauernregeln in deutscher
Sprache stammt aus dem Jahr 1505 (Wetterbüchlein); seither ist auch der Begriff
Bauernregel im Umgang.
Kalendergebundene Klimaregeln
Werden die Tage länger, wird der Winter strenger; Der Februar hat seine Mücken, baut von
Eis oft ¸feste Brücken; Der Mai in der Mitte, hat für den Winter stets noch eine Hütte; Im Juni,
Bauer, bete, dass der Hagel nicht alles zetrtrete.
Christnacht hell und klar, deutet auf ein gutes Jahr; Am Tage von St. Valentin (14. Februar)
gehen Eis und Schnee dahin; Der Matthias (24. Februar) bricht's Eis, findet er keins, dann
macht er eins.
Wetterregeln betreffen Aussagen zum weiteren Wetterablauf, die auf der Beobachtung
des momentanen Wetterzustandes beruhen, vgl.
Ziehen die Wolken dem Wind entgegen, gibt's am anderen Tage Regen; Steigt Nebel empor,
steht Regen bevor; Dunkle Wolken verkünden Regen; Geht die Sonne feurig auf, folgen Wind
und Regen drauf.
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Witterungsregeln gehen von einem Wetterzustand aus und versuchen, das Wetter der
bevorstehenden Wochen oder längerer Perioden vorherzusagen. In der Regel gelten
kirchliche Feiertage als Orientierung:
Ist der Januar hell und weiß, wird der Sommer sicher heiß; Nasser April – trockener Juni;
Regnet's an St. Peters-Tag (29. Juni), drohen 30 Regentag'; Geht Barbara (4. Dezember) im
Grünen, kommt's Christkind im Schnee.
Tier- und Pflanzenregeln versuchen die weitere Wetterentwicklung aus dem Verhalten
von Tieren und Pflanzen zu schließen, vgl.
Ziehen die wilden Gäns' und Enten fort, ist der Winter bald am Ort; Späte Rosen im Garten,
der Winter läßt warten; Fällt das Laub sehr bald, wird der Herbst nicht alt.
Ernteregeln beschreiben die Auswirkung der Wetterbedingungen auf die Ernte und sind
oft jahreszeitbezogen, vgl.
Im Märzen kalt und Sonnenschein, wird's eine gute Ernte sein; Juli schön und klar, gibt ein
gutes Bauernjahr; Regen Ende Oktober verkündet ein gutes Jahr; Dezember mild mit viel
Regen, ist für die Saat kein großer Segen.
Mondregeln sind Aussagen vom Einfluß der Mondphasen auf das Wetter, auf Pflanzen
und Tiere, auf das Verhalten von Menschen, auf die Gestaltung des Alltags, vgl.
Bei Mondwechsel ändert sich auch das Wetter; Im wachsenden Mond sind Rosmarin und
Majoran zu säen; Alles was wachsen soll, ist im zunehmenden Mond zu beschneiden, was
nicht wachsen soll, im abnehmenden Mond; Die Schafe soll man im Vollmond scheren.
In der modernen Zeit haben die Wettersprichwörter an der Bedeutung stark verloren und
werden mitunter sogar mit humorvoll-ironischer Wirkung modifiziert, vgl.
Kräht der Hahn auf dem Mist, ändert sich das Wetter, oder es bleibt, wie es ist.
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
3.7.2 Rechtssprichwörter
Es geht um eine Sondergruppe von Sprichwörtern, deren Inhalt die Rechtsregelung oder
soziale Ordnung thematisiert. Somit sind sie notwendigerweise historisch-kulturell bedingt,
vgl.
Einem geschenkten Gaul sieht man nicht ins Maul; Gleich gefangen, gleich gehangen.
Wenn man die historischen Hintergründe nicht mehr kennt, kann das für das gegenwärtige
Verständnis störend sein. Sie haben eine lange Tradition; im europäischen Mittelalter
stellten sie Autorität gegenüber der Richter dar, zumal diese oft rechtliche Laien gewesen
sind und ihre Urteile folgerichtig auf solchen Sprichwörtern gründeten.
Die bisher umfangreichste Sammlung der deutschen medizinischen Sprichwörter ist Seidl's
enzyklopädisches Werk Medizinische Sprichwörter (Seidl 2010). In den fast 5000
»volkstümlichen Gesundheitsregeln« sind jeweils eine Vorschrift, ein Verbot, ein Rat, eine
Empfehlung zu Fragen der Ernährung, der Psychologie und Physiologie, der Prävention und
Hygiene, der Medizin und Mediziner enthalten. Ihre tradierte Überlieferung kann man als
eine logische Folgerung der hohen Wertschätzung der Gesundheit verstehen, die nach den
Meinungsumfragen bei den meisten Menschen noch immer an erster Stelle steht.
Manche medizinische Sprichwörter sind heute fachlich überholt, mache gründen sogar auf
falschen physiologischen Vorstellungen. Man kann aber allein daher nicht behaupten, dass
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
sie generell überholt wären. Sehr viele sind nämlich noch immer gültig, wie etwa das
folgende Sprichwort:
Bei einem kleineren Anteil kann man allerdings auch von Irtümlichkeit oder einer extrem
irrationalen Haltung sprechen, vgl.
Wer viel schimmlig Brot isst, der wird alt; Wenn's Kind zahnt, soll die Mutter den Unterrock
verkaufen, um ihm Wein zu geben; Kinder soll man nicht Engel nennen, sonst sterben sie.
Betrachtet man diese Sprichwort-Gruppe genauer, so kann man auch hier einige typische
Struktur-Merkmale beobachten, u.a. gibt es Reihen von Realisierungen typischer
syntaktischer Muster (dazu auch in Abschnitt 3.3):
wer x, (der) y
Wer alt werden will, muss früh damit anfangen; Wer zeitig alt wird, der lebt lange
x ist y
x macht/machen y
x heilt /vertreibt y
Alkohol ist gut fürs Herz; Eberwurzel ist für alles gut
x hilft gegen/vor/für y
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
An manchen Beispielen ist gut sichtbar, dass auch medizinische Sprichwörter sehr variant
sein können. So sind (ohne wesentliche Inhaltsfolgen) einzelne Komponenten austauschbar
(lexikalische Variabilität) oder sie unterscheiden sich in der syntaktischen Satzstruktur
(syntaktisch-syntagmatische Variabilität). Sehr oft hat eine derartige Varianz pragmatische
Folgen: so interpretiert man eine Variante als Ratschlag und Empehlung (Ein Apfel am Tag,
und du brauchst keinen Arzt), eine andere eher als Vorschrift bzw. Aufforderung (Iss täglich
einen Apfel und du bleibst gesund). Das bekannte Sprichwort zur Nützlichkeit und
Heilsamkeit des Apfels soll die Neigung zur Sprichwortvariabilität veranschaulichen; Seidl
(2010) verzeichnet hierzu sogar 16 variante Formen, einige davon sind
Der Apfel macht den Doktor und Apotheker arbeitslos; Ein Apfel kurz vor der Nacht, hat
manchen Arzt zum Bettler gemacht; Ein Apfel am Tag, und du brauchst keinen Arzt; Ein Apfel
jeden Tag, spart den Gang zum Arzt; Ein Apfel pro Tag hält den Arzt fern; Ein Apfel pro Tag,
mit dem Doktor keine Plag; Ein Apfel pro Tag hält gesund und munter; Einen Apfel täglich und
keine Krankheit quält dich; Einen Apfel täglich essen und du kannst den Arzt vergessen; Iss
täglich einen Apfel und du bleibst gesund; Wer viele Äpfel isst, braucht keinen Arzt.
Neben den Gruppen von synonymen Sprichwörtern wie die aufgezählten Apfel-Sprichwörter
findet man auch semantisch widersprüchliche, also antonyme Sprichwort-Paare, vgl.
Sport ist Mord, ein wahres Wort!; Treib Sport und du bleibst gesund.
Wie der Sprichwortbestand einer Sprache an sich dynamisch ist, so trifft das auch für
medizinische Sprichwörter zu: einige veralten und kommen außer Gebrauch, andere
kommen wiederum neu in den Umlauf. Die Letzteren gründen einerseits auf bewährten
Struktur-Modellen und andererseits auf immer wieder neuen medizinischen Ansichten, vgl.
Das letzgenannte Beispiel (Fünf am Tag) illustriert eine typische Enstehungsgeschichte von
Sprichwörtern. War Fünf am Tag bzw. 5 am Tag zunächst die Empfehlung der
Gesundheitsorganisationen (fünf Portionen Obst und Gemüße sollte man pro Tag
einnehmen), so wird sie heute als sprichwortähnliche »Wahrheit« in mehreren Sprachen
62
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
akzeptiert und meist als Werbeslogan verwendet (vgl. engl. 5 A Day - For a better Health;
slow. Pet na dan).
3.7.4 Wellerismen
Der Name Wellersimus entstammt dem Charles Dickens' Roman Pickwick Papers (1837) und
bezieht sich auf den Protagonisten Samuel Weller, der sie oft verwendet. Gemeint sind
modellhafte Erweiterterungen von Sprichwörtern, wodurch eine in der Regel dreiteilige
Struktur entsteht (auch Sagwörter, apologische Sprichwörter, erweiterte Sprichwörter). Den
Anfangsteil stellen bekannte Sprichworter, Zitate oder Sprüche dar, darauf folgt die Angabe
des Sprechers (oft eine bekannte Figur aus Märchen, Fabeln, Sagen oder stereotype
menschlich schwache Person wie der dumme Bauer, die schlampige Frau, der betrügerische
Müller u. ä.) und im Schlussteil wird die Situation genannt, in der der Wellerismus geüßert
wird; häufig geht es um eine ironisch-groteske wörtliche Interpretation des
Ausgangssprichworts, vgl.
Aller Anfang ist schwer, sagte der Dieb und stahl einen Amboß; Alter schützt vor Torheit nicht,
sagte die Greisin und lies sich liften; Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, sagte der
Ochs, als er gebraten wurde.
Wellerismen haben einen mit den Sprichwörtern nicht völlig vergleichbaren stilistischen
Wert. Dadurch, dass die Ausgangssprichwörter ironisiert und relativiert werden, geht ihre
Lehrhaftigkeit in der Regel verloren. Sie fungieren nur als Grundlage für humorvolle,
ironische, satirische, parodistische oder auch sarkastisch-kritische Bewertung der
menschlichen Psychologie und zwischenmenschlicher Beziehungen und ebenso der jeweils
aktuellen sozialpolitischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten. Die nachfolgenden
Wellerismen stammen vom slowenischen Autor Žarko Petan, der u.a. gerade durch
Antisprichwörter bekannt wurde:
Blut ist kein Wasser, hat der Fleischhauer gesagt und den Preis für Blutwürste erhöht; Alles
fließt, sagte der moderne Heraklit, und ein Installateur ist nicht aufzutreuben.
63
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Wie in Abschnitt 3.2 angedeutet, kennen wir einige sprichwortähnlichen Strukturen, die bei
der hohen Verwendungshäufigkeit leicht zu den Sprichwörtern übergehen. Das sind
Sentenzen, geflügelte Worte, Aphorismen, Maximen und Epigramme. Sehen wir uns ihre
wesentlichen Eigenschaften an.
3.8.1 Sentenz
Sentenzen (aus lat. sententia 'Meinung, Sinn, Ausspruch') sind kurze, prägnant formulierte
Sätze mit philosophisch-literarischem Hintergrund (Sentenz). Der Author und die Quelle
sind bekannt. Von den Sprichwörtern unterscheiden sie sich auch inhaltlich: während
Sprichwörter sich auf tradierte menschliche Erfahrungen stützen, bringen Sentenzen eine
philosophische Betrachtung der Welt hervor. Eine konkrete Situation oder Erkentnis wird in
einem kurzen Satz zusammengefasst und zur allgemeinen Bedeutung erhoben. So ist der
Satz Axt im Haus erspart den Zimmermann ein Zitat aus Schiller's Werk Wilhelm Tell,
aufgrund der häufigen Verwendung, die eine allgemeine Bekanntheit mit sich bringt, kann er
jedoch auch als Sprichwort aufgefasst werden.
Geflügelte Worte (aus gr. epea pteroenta, Buchtitel der Zitatensammlung von Georg
Büchmann 1864) sind literarische Zitate, die allgemein verwendet werden und folglich auch
als allgemein bekannt einszuschätzen sind. Ihre Quelle (oft klassische Literatur und Bibel) ist
nachweisbar, sie wird aber nicht mehr mitgedacht, vgl.
Nutze den Tag! (Horaz); Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral (Brecht); Im Westen
nichts Neues (Remarque); Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben (Gorbatschow).
Somit nähern sie sich stark den Sprichwörtern. Die meist bekannte und vielfach
nachgedruckte und erweiterte Sammlung geflügelter Worte ist das Werk Georg Büchmanns
Geflügelte Worte (Erstausgabe 1864, seither immer wieder aufgelegt).
64
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Es ist äußerst schwierig, zwischen Sprichwort, geflügeltem Wort und Sentenz klar zu
unterscheiden. Der Satz Wissen ist Macht wird häufig verwendet, was eine allgemeine
Bekanntheit mit sich bringt. So könnte man ihn bereits als Sprichwort auffassen, obgleich es
sich in der Tat um ein Zitat des englischen Philosophen Francis Bacon (17./18. Jh.) handelt
(en. Knowledge itself is power).
3.8.3 Aphorismus
Aphorismen (aus. gr. aphorismós 'Abgrenzung, Definition, Lehrsatz') sind kurze, unabhängige,
originelle, als eigenständige Texte konzipierte Gedanken. Von einem Sprichwort
unterscheidet sich ein Aphorismus dadurch, dass er nicht allgemein bekannte Weisheiten
ausdrückt, sondern originelle, autorbezogene, oft subjektive und kritische Urteile, Erkentnise
hervorbringt. Aphorismen bestehen aus einem Satz oder, was seltener vorkommt, auch aus
mehreren Sätzen. In der Literaturwissenschaft werden sie als eigenständige Gattung mit
satirischen, (selbst)ironischen Zügen und typischen Stilmitteln angesehen (Paradoxie, Ironie,
Doppeldeutigkeit, Manipulation der phrasologischen und sprichwörtlichen Aussagen). Oft
thematisieren sie gesellschaftliche und/oder individuelle Moral und Ethik in politischen,
wirtschaftlichen und psychologischen Zusammenhängen.
Der erste bekannte Aphoristiker war Hippokrates, bekannt durch seine medizinischen
Lehrsätze. Im deutschen Sprachraum sind u.a. folgende Autoren als Aphoristiker bekannt
geworden: Georg Christoph Lichtenberg, Marie von Ebner-Eschenbach, Arthur Schnitzler,
Johann Wolfgang von Goethe, Theodor W. Adorno, Elias Canetti, Karl Kraus, Franz Kafka,
Friedrich Nietzsche, Robert Musil. Ein bekannter slowenischer Aphoristiker ist Žarko Petan,
dessen ausgewählte Aphorismen auch in deutscher Fassung vorliegen. Ein Paar seine sollen
das Wesen dieser Gattung illustrieren:
Wissen ist Macht, Nichtwissen Übermacht; Reden ist Silber, Schweigen ist Karriere;
65
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
3.8.4 Maxime
Maximen (lat. maxima 'höchste Regel, oberster Grundsatz, oberste Aussage') werden als
Lebensregeln verstanden, die von subjektiven, individuellen Grundsätzen moralischen
Handelns ausgehen. Der Unterschied zum Sprichwort besteht hauptsächlich in ihrer
fehlenden Geläufigkeit. Besonders stark entwickelt war die Maxime im französischen
Sprachraum zur Zeit der Moralistik als philosophische Gattung (La Rochefoucauld, 17. Jh.)
und im deutschsprachigen Raum beim Philosophen Immanuel Kant (kategorischer Imperativ
als grundlegendes Prinzip der Ethik, 18. Jh.). Zu den bekanntesten deutschen
Maximensammlungen zählt das Werk Goethes Maximen und Reflektionen (1833), dem
folgende Beispiele entstammen:
Wer streiten will, muss sich hüten, bei dieser Gelegenheit Sachen zu sagen, die ihm niemand
streitig macht; Gar selten tun wir uns selbst genug, desto tröstender ist es, andern genug
getan zu haben; Zuerst belehre man sich selbst, dann wird man Belehrung von andern
empfangen.
3.8.5 Epigramm
Das nachfolgende Epigramm von Erich Kästner soll das Gesagte illustrieren:
66
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Eine bibliographische Übersicht über die Forschung im Bereich der Parömiologie (und
Phraseologie) gibt Mieder (2009); die Literaturliste enthält mehr als 10 000 Einträge mit
erklärenden Stichwort-Annotationen. Verzeichnet werden Forschungspublikationen,
erschienen bis 2007. – In Röhrich/Mieder (1977) werden die wichtigsten Sprichwort-
Aspekte angesprochen (Definition, Herkunft, Form, Funktionen) und grundlegende
Sprichwortsammlungen dargestellt. – Mieder (1995) ergibt einen Einblick in die traditionelle
und innovativ-kreative Verwendung von Sprichwörtern und Zitaten, wie diese sich in den
Medien, in der schönen Literatur und in der Werbung zeigt. Für slowenische Leser ist die
Studie zu den sprichwörtlichen Aphorismen von Žarko Petan von besoderem Interesse. –
Anhand der deutschen und slowakischen Sprichwörter bespricht Durčo (2005) die gängigen
Methoden der Sprichwortanalysen sowie einige Aspekte der kontrastiven
Sprichwortforschung. – Lee (2005) ist eine vergleichende Studie zu deutschen und
chinesischen Sprichwörtern; interessant wegen dem Vergleich zweier sprachtypologisch und
kulturell extrem unterschiedlicher Sprachen und Kulturen. – Umurova (2005) gibt einen
Einblick in den gegenwärtigen Sprichwortgebrauch in modernen Medien.
67
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
4 Phraseologie im Sprachenlernen
Das Thema dieses Kapitels sind Fragestellungen, bezogen auf die Stellung der Phraseologie
im (fremd)sprachlichen Sprachenlernen und Sprachenunterricht. Verschiedene linguistische,
kognitive und sprachdidaktische Stellungen dazu werden dargelegt und Argumente für die
Einbeziehung der phraseologischen Inhalte in Sprachlernprozesse erläutert. Anschließend
werden Vorschläge zur künftigen Planung und Durchführung des fremdsprachlichen
Unterrichts mit Blick auf die Phraseologie unterbreitet
Wenn sie das Kapitel gründlich durcharbeiten, so werden sie die Phraseologie als
sprachdidaktisches Thema kennen lernen, die wichtigsten Argumente für ihren Einsatz als
Lehr- und Lerngegenstand und notwendige sprachdidaktische Folgen interpretieren können.
Im folgenden Kapitel werden Fragen zur Einbeziehung der phraseologischen Inhalte in das
Sprachenlernen, in erster Linie in das Lernen und Lehren von Fremdsprachen, besprochen.
Im Vordergrund stehen prinzipielle allgemeine Überlegungen zu methodisch-didaktischen
Fragestellungen zum Thema Phraseologie im Sprachenlernen.
Fakt ist, dass Phraseme zum lexikalischen Inventar einer jeden natürlichen Sprache gehören,
dass sie etablierte Elemente des Sprachsystems (Langue) sind und dass sie folglich den
Sprachgebrauch (Parole) ausschlaggebend mit konstituieren. Das gilt sowohl für die
Phraseologie im engeren Verständnis (satzgliedwertige idiomatische Wortverbildungen) als
auch für die Phraseologie im weiteren Sinn (satzwertige Phraseme wir z.B. Sprichwörter,
Zitate u.dgl.). Das gesamte Spektrum der Phraseologie ist in der gegenwärtigen
Kommunikation aktuell, lebendig und produktiv. Umfangreiche Textkorpora, die uns für eine
analytische Beobachtung des schriftlichen (und neuerdings auch mündlichen)
Sprachgebrauchs in vielen Sprachen zur Verfügung stehen, zeugen deutlich davon, wie
lebendig Phraseme sind und wie vielfältig sie in verschiedenen Bereichen der
68
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Kommunikation vorkommen können. Ihr gegenwärtiger Gebrauch ist keineswegs nur auf die
schöngeistige Literatur und gehobene kommunikative Situationen beschränkt, was hie und
da noch immer zu hören ist; als durchaus aktuelle, potente und flexible Sprachmittel
bestätigen sie sich gleicherweise in Textsorten und Domänen der modernen
massenmedialen und digitalisierten Kommunikation. Sie bleiben somit feste Bestandteile des
aktuellen Sprachgebrauchs, was die Annahme erlaubt, dass Sprecher sie als wirksame
Sprachmittel empfinden und mehr oder weniger gezielt und absichtlich verwenden.
69
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Aus dieser Perspektive können allerdings keine generell und allgemein gültigen Rezepturen
für die Behandlung der Phraseologie im Sprachenlernen festgelegt werden. Es lassen sich
aber auch Positionen nicht vertreten, die sich nur auf eine einzelne Sprache isoliert beziehen
würden – gerade in gegenwärtiger Zeit ist das nicht angebracht, wo Sprachen (und ihre
Sprecher) ständig und massiv mit anderen Sprachen (und Sprechern) konfrontiert sind.
70
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Argumente, die für eine intensive und systematische Einbeziehung der Phraseologie in das
gesamte Sprachenlernen sprechen, sind mehrere. Die wichtigsten werden hier in ihren
Wesenszügen dargelegt.
Phraseologische Redeweise ist ein Normalfall der geschriebenen und gesprochenen Sprache.
Phraseme konstituieren den Sprachgebrauch in verschiedenen Kontexten wesentlich mit.
Dies gilt sprachenübergreifend und ist primär darin begründet, dass die Phraseologie
weitgehend auf Prozessen der Metaphorisierung beruht. Wie man weiß, waren Metaphern
immer schon eine übliche Art der Versprachlichung umweltlicher Umstände, menschlicher
Eigenschaften und Verhaltensweisen. Es ist deutlich, dass der Mensch die Welt auf der Basis
seiner naiven nicht-wissenschaftlichen Vorstellungen und Erfahrungen wahrnimmt und sie
dann nach Ähnlichkeitsprinzipien ordnet, systematisiert und zu verstehen versucht. Man
nennt dies Konzeptualisierung. Wahrnehmungskonzepte werden versprachlicht und man
kann sie anhand der Bedeutung sprachlicher Einheiten interpretieren.
Der Wal wird von den meisten Menschen bzw. überwiegend als Fisch wahrgenommen,
obgleich die Zoologie nicht derselben Meinung ist – Wale sind nämlich Säugetiere. Die naive,
71
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Hand ist Arbeit, Hand ist Werkzeug, Hand ist Macht, Hand ist Einfluss u.a. (Jesenšek 2008).
Die zugrunde liegende Metaphorik ist zunächst biologisch und kognitiv begründet, folglich
sozial verbreitet und somit in der Kultur des Sprechers geankert. Derartige Metaphern sind
primär auf einen Kulturraum und nicht auf eine einzelne Sprache gebunden. Diese
sprachenübergreifende bzw. außersprachliche Eigenschaft kann zwischensprachliche
Beziehungen intensivieren und dadurch Förderung der zwischensprachlichen
phraseologischen Konvergenz zur Folge haben.
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
- der Mensch nimmt die Welt auf der Basis seiner naiven nicht-wissenschaftlichen
Erfahrungen wahr und ordnet, kategorisiert, konzeptualisiert sie nach
Ähnlichkeitsprinzipien und
- die Sprache spiegelt im Prinzip die Wahrnehmungskonzepte wider, zugleich trägt sie
aber zu ihrer Gestaltung bei.
von der Hand in den Mund leben, slow. živeti iz rok v usta
von seiner Hände Arbeit leben, slow. živeti od dela svojih rok
alle/beide Hände voll zu tun haben, slow. imeti polne roke dela
freie Hand haben/freie Hand jmdm. lassen, slow. imetiproste roke/pustiti komu proste roke
jmdm. sind die Hände und Füße gebunden, slow. imeti zvezane roke (in noge)
jmdm. geht etw. (leicht/gut) von der Hand, slow. kaj gre komu (dobro) od/izpod rok
- Kampf, Gewalt
- Hilfe, Zusammenarbeit
jmdm. zur Hand/an die Hand gehen, slow. iti komu na roko/na roke
für jmdn./etw. die/seine Hand ins Feuer legen, slow. dati roko v ogenj za koga/kaj
sich für jmdn./etw. die Hand abhacken/abschlagen lassen, slow. dati/pustiti si roko odrezati
za koga/kaj
seine/die Hand über jmdn. halten, slow. držati roko nad kom/čim
die/seine Hand auf jmdn./etw. haben/halten, slow. imeti/držati roko nad kom/čim
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
die/alle Fäden in der/seiner Hand haben/halten, slow. imeti/držati vse niti v (svojih) rokah
jmdm. jmdn./sich/etw. in die Hand geben, slow. dati v roke (komu koga/sebe/se/kaj)
jmdm. etw. aus der Hand nehmen, slow. vzeti iz rok komu kaj
- Entfernung
etw./jmdn. bei der Hand/zur Hand haben, slow. imeti pri roki kaj/koga.
Hand ist Arbeit, Hand ist Werkzeug, Hand ist Macht, Hand ist Einfluss, Hand ist Hilfe.
Laut der Theorie der kognitiven Metapher (Lakoff) sind das konzeptuelle Metaphern. Die
Metaphorisierung basiert offensichtlich auf funktionalen und topographischen
Bedeutungsdimensionen der Lexeme Hand und roka. Dabei überwiegen funktional-
75
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
motorische im Sinne 'halten' bzw. 'Halten' und 'arbeiten'/'tätig sein' bzw. 'Arbeit'/'Tätigkeit'.
Wenn die Hand das primäre und elementare Arbeitsgerät sowie die elementare Waffe ist,
dann ist die Annahme plausibel, dass 'Arbeit', 'Tätigkeit', 'Verhältnis zur Arbeit', auch 'Kampf'
als idiomatische Bedeutungsdimensionen des Lexems Hand auf der konzeptuellen
Metaphern HAND IST ARBEIT, HAND IST WERKZEUG, HAND IST MACHT basieren.
Die Phraseologische Redeweise ist also begründet in der Art, wie der Mensch seine Umwelt
und sich selbst wahrnimmt, wie er diese Wahrnehmungen zu verstehen versucht und wie es
sie versprachlicht. Damit wird die Phraseologie zu einem nicht mehr wegzudenkenden
Bestandteil der alltäglichen sprachlichen Kommunikation und somit zu einem unabdingbaren
Element des Sprachenlernens.
Phraseme sind im individuellen Gedächtnis eines Menschen verankert und zwar schon seit
sehr frühen Phasen des muttersprachlichen Spracherwerbs. Nach Ergebnissen der
Spracherwerbsforschung folgt die Entwicklung der muttersprachlichen phraseologischen
Kompetenz der allgemeinen kognitiven Entwicklung, sodass Kinder schon sehr früh, etwa im
Kindergartenalter, Phraseologie verstehen und gebrauchen können (Häcki Buhofer 1997).
Phraseme werden somit nicht erst in einer relativ späten Entwicklungsstufe des
Spracherwerbs verstanden und gelernt, was die so genannte Entwicklungsstufen-These
behauptet und auch in der Fremdsprachendidaktik nicht selten vertreten wird. Es konnte
nämlich nachgewiesen werden, dass man sie in der Muttersprache in jeder
Entwicklungsstufe erwirbt. Plausibel ist dementsprechend die Lexikon-These zum
Phraseologie-Erwerb (laut Häcki Buhofer 1997), die besagt, dass Phraseme einzeln und
genauso wie Wörter erworben/gelernt werden, nur müssen sie in genügend großen
Kontexten eingebettet vorkommen – was aber sowieso eine natürliche Sprechsituation ist.
Das heißt weiterhin, dass die Kinder sich dabei in der Regel keine expliziten Gedanken
machen über spezielle phraseologische Strukturen und Bedeutungen. Phraseme werden
76
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Die Aneignung von muttersprachlicher Phraseologie verläuft parallel mit der Aneignung von
Einzelwörtern und ist nicht an ein bestimmtes Alter bzw. an eine höhere kognitive
Entwicklungsstufe gebunden. Auch aus psychologisch-kognitiven Gründen wäre also
angemessen, die Phraseologie didaktisch entsprechend aufzufassen und als
Unterrichtsgegenstand zu etablieren (Hessky 1997; Jesenšek 2008, 2011, 2013). Aus
kognitiver Sicht ist es also nicht gerechtfertigt, Phraseme als Extreme und/oder exotische
Besonderheiten im Wortschatz zu behandeln, aber auch nicht als etwas, was an sich eine
sprachliche Besonderheit und Eigenartigkeit einer jeden einzelnen Sprache wäre, weswegen
man sie beim fremdsprachlichen Unterricht entweder vernachlässigen oder auf spätere
Phasen des Lernens verschieben oder sogar von den Lerninhalten ausklammern könnte oder
sollte.
77
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
nicht generell die Meinung zu teilen, dass die Phraseologie zur Eigentümlichkeit und
Spezialität einer jeden einzelnen Sprache gezählt wird.
Es ist längst anerkannt, dass die Muttersprache im Prinzip immer ein wichtiger Faktor beim
Fremdsprachenlernen ist, auf den man als Lerner greift, bewusst oder unbewusst und auch
nicht nur in den Anfangsphasen des Fremdsprachenlernens. So kam auch Hallsteinsdóttir
(2001) zum Schluss, dass der bekannten muttersprachlichen Phraseologie eine
entscheidende Rolle beim Verstehen fremdsprachlicher Phraseme zukommt. Ihre
Untersuchung zum Deutsch als Fremdsprache bestätigt deutlich, dass die phraseologischen
Kenntnisse in der Muttersprache auf fremdsprachliche Phraseologie übertragen werden und
dadurch die Grundlage für das Verstehen fremdsprachlicher Phraseme bilden.
Konsequenzen, die sich aus dem Gesagten ziehen lassen, sind methodisch-didaktischer und
praktischer Art und betreffen das Fremdsprachenlernen in mehrerer Hinsicht. Sie zielen
sowohl auf das individuelle und/oder das institutionelle Fremdsprachenlernen als auch auf
die gesamte Planung des Sprachen-Unterrichts.
79
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
80
Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Wird der Faktor Muttersprache als eine wesentliche Größe verstanden, die das
Fremdsprachenlernen linguistisch und psychologisch in allen Lernstufen mitbestimmt, so ist
dem auch didaktisch nachzugehen, und zwar so, dass ausführliche und didaktisch
aufbereitete sprachvergleichende Beschreibungen von Phraseologie entwickelt und
erarbeitet werden. Es sind dabei solche vom Nutzen, die ausgewählte Bereiche der
jeweiligen muttersprachlichen Phraseologie den entsprechenden fremdsprachlichen
gegenüberstellen und dadurch auf Übereinstimmungen und Unterschiede deutlich
aufmerksam machen. So ist dem Fremdsprachenlernenden ständig die Möglichkeit gegeben,
auf die muttersprachliche Phraseologie zuzugreifen. Weiterhin sollten solche
Lernmaterialien didaktisch aufbereitet werden, denn pure Angaben von anderssprachigen
(fremdsprachigen) Äquivalenten genügen im Fremdsprachenlernen weniger oder überhaupt
nicht. Zur Entwicklung einer aktiven phraseologischen Kompetenz benötigt der Lernende
ausführliche Informationen zur Semantik, Grammatik und Pragmatik der ausgewählten
Phraseologie.
Hinsichtlich der Kriterien, nach denen man didaktisch relevante Phraseologie auswählt, ist
weiterhin sehr wichtig, dass die selektionierten Phraseme im täglichen muttersprachlichen
Sprachgebrauch auch aktuell und geläufig sind. Es hat ja nur wenig Sinn, wenn veraltete und
wenig geläufige Phraseme im Fremdsprachenlernen thematisiert werden. Ebenso beeinflusst
die Geläufigkeit das Verstehen von fremdsprachlichen Phrasemen wesentlich, eben nach
dem Motto: Je öfter man ein Phrasem zu hören oder zu lesen bekommt, desto leichter und
schneller versteht und erlernt man ihn. Darüber hinaus können Phraseme nur dann als
didaktisch relevant gelten, falls sie in didaktisch relevante thematische Felder eingebettet
werden können, womit sie an kommunikativer Brauchbarkeit gewinnen.
Für eine systematischere und effektive Entwicklung der phraseologischen Kompetenz ist
weiterhin notwendig, dass die Phraseologie prinzipiell in genügend großen Kontexten, das
heißt in textuellen und somit funktionalen Zusammenhängen behandelt wird. Dies deshalb,
weil Phraseme in der Rede, im Sprachgebrauch ja prinzipiell im Text eingebettet und nicht
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
isoliert vorkommen und auch deshalb, weil der entsprechende Kontext beim Verstehen bzw.
bei der Konstruktion der Bedeutung Hilfe leistet (Hallsteinsdóttir 2001). Eine textisolierte
Behandlung von Phrasemen würde dagegen eine künstliche, unnatürliche Situation
herbeiführen, ähnlich einer isolierten Nachschlagehandlung in einer Wörterbuch-Situation.
Und nicht zuletzt kann man sich auf die Wörterbücher und ihre Behandlung der Phraseologie
nicht immer vollständig verlassen.
Phraseologie als selbständiges Studienfach sollte zum festen Bestandteil der universitären
Ausbildung in Lehramt-Studienprogrammen und zum Inhalt der Fortbildungs- und
Weiterbildungsprogramme für Sprachenlehrer werden. Das ist zurzeit im europäischen
Germanistik-Studium nicht unbedingt und nicht immer der Fall. Dies wäre eine wichtige
Aufgabe der gerade aktuellen universitären Bildungsreform in Europa.
die Aufgabe der Phraseologen, die kontrastiv arbeiten und Lexikographen, die zwei- oder
mehrsprachige Wörterbücher, Datenbanken und/oder andersartige Lernmaterialien
entwickeln.
Eine integrative, fächerübergreifende Koordination der Lerninhalte ist notwendig, die jedoch
nicht bei den Fremdsprachen stehen bleibt, sondern unbedingt auch die jeweilige
Muttersprache mit einbezieht. Dies ist die Aufgabe der Sprachenlehrer und
Sprachendidaktiker, da eigentlich nur diese für curriculare Entwicklung und Festlegung und
somit für die Sprachenpolitik zuständig sein sollten.
Weiterführende Literatur
Zu den hier besprochenen Fragen zur Phraseodidaktik finden sie weitere Informationen in
Burger (2010), Hallsteinsdottir 2001 und 2011, Jesenšek 2006, 2008, 2011 und 2013,
Kacjan/Kralj 2011, Kacjan 2012, Jazbec/Enčeva 2012.
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
ANHANG
Teil A: Glossar
Ambiguität
Aphorismus
Äquivalenz
Bauernregel
Epigramm
literarische Gattung mit typischer formaler Struktur: meist Distichon, ein Verspaar,
bestehend aus einem Heksameter und einem Pentameter und Titel
Festigkeit
Stabilität
Geflügeltes Wort
literarisches Zitat, das allgemein verwendet wird und folglich als allgemein bekannt
gilt; die Quelle (oft klassische Literatur und Bibel) wird beim Gebrauch nicht mehr
mitgedacht
Idiom
Idiomatik
Idiomatizität
Kollokation
Konvergenz
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Komparative Phraseme
Komponente
Lexem
Einheit des Wortschatzes, des Lexikons; Lexeme sind Einzelwörter und/oder feste
Wortverbindungen
Lexikalisiertheit
Maxime
Medizinisches Sprichwort
Sprichwort, dessen Inhalt Ratschläge zum Erhalten oder Erlangen der Gesundheit
thematisiert
Mehrdeutigkeit
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Ambiguität
Mehrgliedrigkeit
Polylexikalität
Modifikation
Paarformeln
Phraseme, bestehend aus zwei Komponenten, die identische Lexeme sind oder der
gleichen Wortart angehören; verbunden werden sie in der Regel durch
Konjunktionen und Präpositionen; auch Zwillingsformeln
Phrasem
Phraseologie
Phraseologischer Teilsatz
Parömiologie
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Polylexikalität
Eigenschaft der Phraseme, wonach diese immer aus mehreren Teilen (Wörtern;
Komponenten) bestehen; sie sind immer polylexikal (mehrgliedrig); auch
Mehrgliedrigkeit
Rechtssprichwort
Reproduzierbarkeit
Sentenz
Sprichwort
Sprichwortmodifikation
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Sprichwortvariante
Stabilität
Eigenschaft der Phraseme, wonach diese in Struktur und Bedeutung (relativ) fest
sind; im mentalen Lexikon werden sie als feste Einheiten gespeichert und in der Rede
als solche reproduziert; auch Festigkeit
Variabilität
Variante
Wellerismus
Wettersprichwort
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Zwillingsformeln
Paarformeln
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Teil B: Wörterbuchverzeichnis
http://archive.org/details/deutschessprich00blumgoog
Büchmann, Georg (1993): Geflügelte Worte. Der klassische Zitatenschatz. 39. Aufl. Frankfurt
am Main, Berlin. (Erstausgabe 1864).
Büchmann, Georg (2007): Der Neue Büchmann – Geflügelte Worte. Der klassische
Zitatenschatz. Berlin. http://www.aronsson.se/buchmann/
DUDEN (2013). Redewendungen. Wörterbuch der deutschen Idiomatik. 4., neu bearbeitete
und aktualisierte Aufl. Berlin, Mannheim, Zürich.
Nopitsch, Christian Conrad: Literatur der Sprichwörter. Ein Handbuch für Literarhistoriker,
Bibliographen und Bibliothekare
Petri (Peters), Friedrich (1605; 1983): Der Teuschen Weißheit. Hamburg. Nachdruck hrsg.
von W. Mieder. Bern.
Röhrich, Lutz (1991, 1992): Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. 3 Bde.
Freiburg.
Schmidt, Walter (2012): Morgenstund ist ungesund. Unsere Sprichwörter auf dem Prüfstand.
Reinbek bei Hamburg.
Schulze, Carl (1860; 1987): Die biblischen Sprichwörter der deutschen Sprache. Göttingen.
Nachdruck hrsg. von W. Mieder. Bern.
Sailer, Johann Michael: Die Weisheit auf der Gasse, oder Sinn und Geist deutscher
Sprichwörter.
http://books.google.si/books/about/Die_weisheit_auf_der_gasse.html?id=7PtHAAAAMAAJ
&redir_esc=y
Seidl, Helmut A. (2012): Den Kopf halt kühl, die Füße warm! Sprichwörtliche
Gesundheitstipps und was dahinter steckt. Darmstadt.
Simrock, Karl (1846; 1988): Die Deutschen Sprichwörter. Nachdruck von W. Mieder.
Stuttgart.
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
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Phraseologie. Kompendium für germanistische Studien
Teil C: Literaturverzeichnis
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bearbeitete Aufl. Berlin.
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zeitgenössischen Forschung. Berlin; New York.
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Dobrovol’skij, Dimitrij, Elisabeth Piirainen (2009): Zur Theorie der Phraseologie: Kognitive
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Phraseologie. Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung. 1. Halbband.
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Hessky, Regina (1997): Feste Wendungen – ein heißes Eisen? Einige phraseodidaktische
Überlegungen für den DaF. In: Deutsch als Fremdsprache 3, 139-143.
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Äquivalenten. In: Hyvärinen, Irma, Annikki Liimatainen (Hrsg.), 147-203.
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Jazbec, Saša, Milka Enčeva (2012): Aktuelle Lehrwerke für den DaF-Unterricht unter dem
Aspekt der Phraseodidaktik. In: Porta ling. 17, S. 153-171.
Jesenšek, Vida (2000): Frazeologija In horoskop pri pouku nemškega jezika. In: Vestnik 34, H.
1-2, S. 35-42.
Jesenšek, Vida (2007): Pregovori med preteklostjo in prihodnostjo. In: Jesenšek, Marko (Hg.):
Besedje slovenskega jezika. Maribor, 276-290.
Jesenšek, Vida (2008): Begegnungen zwischen Sprachen und Kulturen. Beiträge zur
Phraseologie. Bielsko-Biała.
Jesenšek, Vida (2013): Sprichwörter im Sprachenlernen und was sollten Lehrende davon
wissen. (Im Druck).
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Jesenšek, Vida, Melanija Fabčič (Hgg.) (2007): Phraseologie kontrastiv und didaktisch. Neue
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Kralj, Nataša, Brigita Kacjan (2011): Phraseologieunterricht in der Zeit der neueren
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Phraseologie. Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung. Bd. 1. Berlin,
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Lee, Jing-Ru (2005): Deutsche und chinesische Sprichwörter. Ein linguistischer konfrontativer
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Malberg, Horst (1999): Bauernregeln. Aus meteorologischer Sicht. 3. Aufl. Berlin etc.
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York, 1033-1044.
Mieder, Wolfgang (1992): Sprichwort – Wahrwort!? Studien zur Geschichte, Bedeutung und
Funktion deutscher Sprichwörter. Frankfurt am Main.
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Piirainen, Elisabeth (2012): Widespread Idioms in Europe and Beyond. Toward a Lexicon of
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Umurova, Gulnas (2005): Was der Volksmund in einem Sprichwort verpackt ...: moderne
Aspekte des Sprichwortgebrauchs anhand von Beispielen aus dem Internet. Frankfurt am
Main etc.
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