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2017
Es war der Satz, der Rosa Luxemburg, die ihr Leben lang gegen die
Bourgeoisie und für eine sozialistische Revolution gekämpft hatte, in
einen Apostel der Demokratie und der Freiheit überhaupt umgewandelt
hatte; dessen sich auch diejenigen bedienen konnten, die Luxemburgs
politische Vorstellungen nicht im mindesten teilen. Es war der Satz,
den Helmut Kohl in seinem Wahlkampf 1994 meinte zitieren zu
müssen, nicht ohne den Hinweis, dies sei das einzig Gute, was »diese
Frau« jemals geschrieben habe, und es war der Satz, den die DDR-
Ausgabe von »Die russische Revolution. Eine kritische Würdigung« aus
dem Jahr 1983 in einer winzigen, kaum lesbaren Fußnote in
Schriftgröße 8 Punkt versteckte.
»Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer
Partei - mögen sie noch so zahlreich sein - ist keine Freiheit. Freiheit
ist immer Freiheit der Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus
der Gerechtigkeit, sondern weil all das Belebende, Heilsame und
Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine
Wirkung versagt, wenn die Freiheit zum Privilegium wird.« (1)
Luxemburgs Kritik an der politischen Linie von Lenin und Trotzki gilt
nicht dem Wagnis, die Revolution überhaupt begonnen zu haben. Sie
kritisiert aber - ausgehend von ihren Vorstellungen von revolutionärer
Realpolitik - alle Maßnahmen, die in der Perspektive keine sozialistische
Gesellschaft anzielen. Dazu gehören für sie zum einen Lenins Politik
»Alles Land den Bauern«, weil es der Kollektivierung des Bodens
zuwider lief, und zum anderen das Selbstbestimmungsrecht der
einzelnen Nationen im Sowjetreich, weil dies der Entwicklung des
Internationalismus schade.
In der Hauptsache verurteilt sie die Weise, wie aus dem Notstand des
Umsturzes die Formen der sozialistischen Gesellschaft fortgeschrieben
wurden, so als herrsche permanenter »Kriegskommunismus«. Rosa
Luxemburg verbindet in ihrer Kritik ihre eigene Hoffnung auf eine
sozialistische Revolution mit den Befürchtungen, die diese zugleich mit
sich bringen könne. Nach einem leidenschaftlichen Plädoyer für die
»entschlossene revolutionäre Haltung« und der positiven
Unterstreichung dessen, was in Russland erreicht wurde, schreibt sie:
»Das Gefährliche beginnt dort, wo sie (die Bolschewiki) aus der Not
eine Tugend machen, ihre von diesen fatalen Bedingungen
aufgezwungene Taktik nunmehr theoretisch in allen Stücken fixieren
und dem internationalen [Proletariat] als das Muster der sozialistischen
Taktik zur Nachahmung empfehlen wollen. Wie sie sich damit selbst
völlig unnötig im Licht stehen und ihr wirkliches, unbestreitbares
historisches Verdienst unter den Scheffel notgedrungener Fehltritte
stellen«.
»Sie muss das Werk der Klasse und nicht einer kleinen führenden
Minderheit im Namen der Klasse sein, d.h. sie muss auf Schritt und
Tritt aus der aktiven Teilnahme der Masse hervorgehen, unter ihrer
unmittelbaren Beeinflussung stehen, der Kontrolle der gesamten
Öffentlichkeit unterstehen, aus der wachsenden politischen Schulung
der Volksmassen hervorgehen.«
1) Die russische Revolution. Eine kritische Würdigung, Berlin 1922 S. 109; Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke Band
4, S. 359, Anmerkung 3. Dietz Verlag Berlin (Ost), 1983.