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ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 631 / 17.10.

2017

»Was bleibt in Wirklichkeit?«


Oktoberrevolution Vom Scheinleben des
Kriegskommunismus - Rosa Luxemburgs
»kritische Würdigung« der russischen
Revolution

Von Frigga Haug

Es war der Satz, der Rosa Luxemburg, die ihr Leben lang gegen die
Bourgeoisie und für eine sozialistische Revolution gekämpft hatte, in
einen Apostel der Demokratie und der Freiheit überhaupt umgewandelt
hatte; dessen sich auch diejenigen bedienen konnten, die Luxemburgs
politische Vorstellungen nicht im mindesten teilen. Es war der Satz,
den Helmut Kohl in seinem Wahlkampf 1994 meinte zitieren zu
müssen, nicht ohne den Hinweis, dies sei das einzig Gute, was »diese
Frau« jemals geschrieben habe, und es war der Satz, den die DDR-
Ausgabe von »Die russische Revolution. Eine kritische Würdigung« aus
dem Jahr 1983 in einer winzigen, kaum lesbaren Fußnote in
Schriftgröße 8 Punkt versteckte.

Geschrieben im Dezember 1918 im Gefängnis in Breslau, nur wenige


Wochen vor ihrer Ermordung, war er Teil von Rosa Luxemburgs
Überlegungen zu einer basisdemokratischen Politik von unten und zu
einer anderen Parteiführung, die nicht von oben herab regiert und
verwaltet, sondern sich unaufhörlich in den Dienst der Massen stellt -
als Teil ihrer Kritik an der russischen Revolution im Jahr 1917.

»Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer
Partei - mögen sie noch so zahlreich sein - ist keine Freiheit. Freiheit
ist immer Freiheit der Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus
der Gerechtigkeit, sondern weil all das Belebende, Heilsame und
Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine
Wirkung versagt, wenn die Freiheit zum Privilegium wird.« (1)

Luxemburgs Kritik an der politischen Linie von Lenin und Trotzki gilt
nicht dem Wagnis, die Revolution überhaupt begonnen zu haben. Sie
kritisiert aber - ausgehend von ihren Vorstellungen von revolutionärer
Realpolitik - alle Maßnahmen, die in der Perspektive keine sozialistische
Gesellschaft anzielen. Dazu gehören für sie zum einen Lenins Politik
»Alles Land den Bauern«, weil es der Kollektivierung des Bodens
zuwider lief, und zum anderen das Selbstbestimmungsrecht der
einzelnen Nationen im Sowjetreich, weil dies der Entwicklung des
Internationalismus schade.

In der Hauptsache verurteilt sie die Weise, wie aus dem Notstand des
Umsturzes die Formen der sozialistischen Gesellschaft fortgeschrieben
wurden, so als herrsche permanenter »Kriegskommunismus«. Rosa
Luxemburg verbindet in ihrer Kritik ihre eigene Hoffnung auf eine
sozialistische Revolution mit den Befürchtungen, die diese zugleich mit
sich bringen könne. Nach einem leidenschaftlichen Plädoyer für die
»entschlossene revolutionäre Haltung« und der positiven
Unterstreichung dessen, was in Russland erreicht wurde, schreibt sie:
»Das Gefährliche beginnt dort, wo sie (die Bolschewiki) aus der Not
eine Tugend machen, ihre von diesen fatalen Bedingungen
aufgezwungene Taktik nunmehr theoretisch in allen Stücken fixieren
und dem internationalen [Proletariat] als das Muster der sozialistischen
Taktik zur Nachahmung empfehlen wollen. Wie sie sich damit selbst
völlig unnötig im Licht stehen und ihr wirkliches, unbestreitbares
historisches Verdienst unter den Scheffel notgedrungener Fehltritte
stellen«.

In dieser Weise würden die Bolschewiki praktisch die »Ausstrahlungen


des Bankerotts des internationalen Sozialismus« zur Norm für
kommende Sozialismen machen. Dies geschah tatsächlich nach
Luxemburgs Tod: Das von ihr als Kriegskommunismus kritisierte
Sowjetmodell wurde zum Muster für den internationalen Sozialismus.

Auf dem Weg zur bürgerlichen Diktatur

Nicht nur die Zentralisierung des Regierung anstelle der vielfältigen


Einbeziehung des Volkes wird von Rosa Luxemburg scharf kritisiert,
sondern vor allem die Abschaffung gerade derjenigen Formen aus der
bürgerlichen Gesellschaft, die zu den Kampfbedingungen gehört
hatten: »Lenin und Trotzki haben anstelle der aus allgemeinen
Volkswahlen hervorgegangenen Vertretungskörperschaften die Sowjets
als die einzig wahre Vertretung der arbeitenden Massen hingestellt.
Aber mit dem Erdrücken des politischen Lebens im ganzen Lande muss
auch das Leben in den Sowjets immer mehr erlahmen. Ohne
allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit,
freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen
Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das
tätige Element bleibt. (...) Der einzige Weg zu dieser Wiedergeburt: die
Schule des öffentlichen Lebens selbst, uneingeschränkte breiteste
Demokratie, öffentliche Meinung. Gerade die Schreckensherrschaft
demoralisiert. Fällt das alles hinweg, was bleibt in Wirklichkeit? (...)
Das öffentliche Leben schläft allmählich ein.«

Rosa Luxemburg legt hier geradezu hellseherisch dar, dass die


Lähmung des öffentlichen Lebens, also die Folge der
Nichteinbeziehung der Massen, einen doppelten Effekt auf die
Gesamtstruktur der sozialistischen Führung hat. Von ihr wird ein
unglaublicher Idealismus, werden hervorragende Qualitäten gefordert,
während die geschulte Arbeiterklasse zu Scheingrößen verkommt, die
Zustimmung vorspielen. Am Ende entsteht so eine Art bürgerlicher
Diktatur. »Einige Dutzend Parteiführer von unerschöpflicher Energie
und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren, unter ihnen
leitet in Wirklichkeit ein Dutzend hervorragender Köpfe, und eine Elite
der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen
aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen,
vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde also
eine Cliquenwirtschaft - eine Diktatur allerdings, aber nicht die Diktatur
des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker, d.h.
Diktatur im rein bürgerlichen Sinne, im Sinne der Jakobinerherrschaft.
(...) Solche Zustände müssen eine Verwilderung des öffentlichen
Lebens zeitigen: Attentate, Geiselerschießungen, etc. Das ist ein
übermächtiges, objektives Gesetz, dem sich keine Partei zu entziehen
vermag.«

Sozialistische Demokratie als Diktatur des Proletariats

Rosa Luxemburg stellt der bürgerlichen Diktatur die Diktatur des


Proletariats entgegen. Nach ihr geht es in der Revolution nicht darum,
die »bürgerliche Demokratie« zu schützen, sondern die »Endziele des
Sozialismus als unmittelbares Programm der praktischen Politik«
kundzutun. Und es geht nicht um die Frage »Diktatur oder
Demokratie«, um die die unterschiedlichen Fraktionen in der
bolschewistischen Politik streiten. Luxemburg geht es um das
Aufzeigen einer falschen Polarisierung, die den bürgerlichen Inhalt der
jeweiligen Formen festschreibt. Die proletarische Diktatur kann nicht
bürgerliche Diktatur bloß mit Proletariern an der Spitze sein.

»Der Grundfehler der Lenin-Trotzki'schen Theorie ist eben der, dass


sie die Diktatur, genau wie Kautsky, der Demokratie entgegenstellen.
Diktatur oder Demokratie heißt die Fragestellung sowohl bei den
Bolschewiki wie bei Kautsky. Dieser entscheidet sich natürlich für die
Demokratie, und zwar für die bürgerliche Demokratie, da er sie eben
als die Alternative der sozialistischen Umwälzung darstellt. Lenin-
Trotzki entscheiden sich umgekehrt für die Diktatur im Gegensatz zur
Demokratie und damit für die Diktatur einer Handvoll Personen, d.h.
für bürgerliche Diktatur. Es sind zwei Gegenpole, beide gleich weit
entfernt von der wirklichen sozialistischen Politik.«

Die »historische Aufgabe des Proletariats, wenn es zur Macht gelangt«,


sei demgegenüber aber nicht, »jegliche Demokratie abzuschaffen«,
sondern »anstelle der bürgerlichen Demokratie eine sozialistische
Demokratie zu schaffen.«

Die Unterscheidung zwischen bürgerlicher Demokratie und


sozialistischer Demokratie bestimmt sie wie folgt: Die bürgerliche
Demokratie braucht keine Schulung der Massen, weil sie in ihrem
System eine Elite über die Massen stellt, denen sie zwar das
Wahlrecht, aber keine wirkliche Beteiligung an der Gestaltung der
Gesellschaft zumisst. Die Demokratie in einer sozialistischen
Gesellschaft verwandelt sich hingegen in ein Instrument zur
Beteiligung der Massen, zu ihrer Schulung und Erziehung, zur
Anfeuerung des Experiments, zum Wettstreit, eben zur Veränderung
der Vielen, die die Entwicklung der Gesellschaft als eigene Aufgabe
vorantreiben. Dies, welches ja das Ziel war, um dessentwillen
gekämpft wurde, muss nach Luxemburg sogleich und von Anfang an
den Wiederaufbau der Gesellschaft in eine sozialistische bestimmen.
Da es dafür noch kein klares Konzept und keine Erfahrung gibt, ist
»die praktische Verwirklichung des Sozialismus« als einem
»wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen System eine Sache, die
völlig im Nebel liegt«.

In einer Randbemerkung ergänzt sie: »Die Bolschewiki werden selbst


mit der Hand auf dem Herzen nicht leugnen wollen, dass sie auf Schritt
und Tritt tasten, versuchen, experimentieren, hin- und herprobieren
mussten und dass ein gut Teil ihrer Maßnahmen keine Perle darstellt.
So muss es, so wird es uns allen gehen, wenn wir darangehen«.

Luxemburg verdammt die bolschewistische Revolution keineswegs.


»Worauf es ankommt, ist, in der Politik der Bolschewiki das
Wesentliche vom Unwesentlichen, den Kern von dem Zufälligen zu
unterscheiden.«
Trotz ihrer scharfen Kritik hebt sie als »wesentlich« und »bleibend«
»das unsterbliche geschichtliche Verdienst« hervor, die Probe gewagt
zu haben, und so »mit der Eroberung der politischen Gewalt und der
praktischen Problemstellung der Verwirklichung des Sozialismus dem
internationalen Proletariat vorangegangen zu sein (...) In Russland
konnte das Problem nur gestellt, es konnte nicht in Russland gelöst
werden, es kann nur international gelöst werden«.

Zur Gestaltung braucht es alle. »Die Diktatur des Proletariats« denkt


Rosa Luxemburg einerseits als unbeschränkte Herrschaft, den
sozialistischen Umsturz »mit einer Reihe Gewaltmaßnahmen «
durchzusetzen: Enteignung, »Bahn frei der sozialistischen Wirtschaft«.

Zwang zur Entwicklung

Andererseits begreift sie eben diese Diktatur als »sozialistische


Demokratie«, die »mit dem Abbau der Klassenherrschaft und dem
Aufbau des Sozialismus« beginnt. Immer wieder schärft sie ganz
unmissverständlich ein, dass eine sozialistische Politik, eine
sozialistische Demokratie ein Werk von unten, nicht von oben sein
muss oder eben ihren Daseinszweck verfehlt.

»Sie muss das Werk der Klasse und nicht einer kleinen führenden
Minderheit im Namen der Klasse sein, d.h. sie muss auf Schritt und
Tritt aus der aktiven Teilnahme der Masse hervorgehen, unter ihrer
unmittelbaren Beeinflussung stehen, der Kontrolle der gesamten
Öffentlichkeit unterstehen, aus der wachsenden politischen Schulung
der Volksmassen hervorgehen.«

Die Perspektive erscheint so selbstverständlich wie schwierig zu


verwirklichen. Aus Erfahrung, aus dem Machen, aus der Gestaltung
selbst sollen die Massen ihre Gesellschaft als sozialistisch konstituieren.
Diktatur kann hier als Zwang zur Entwicklung verstanden werden oder
permanenter kategorischer Imperativ: Alle sollen lernen zu regieren,
indem sie die Regierung übernehmen.

Rosa Luxemburg schrieb bereits im Jahr 1904: »Fehltritte, die eine


wirkliche revolutionäre Arbeiterbewegung begeht, sind geschichtlich
unermeßlich fruchtbarer und wertvoller als die Unfehlbarkeit des
allerbesten Zentralkomitees.«

Der Beitrag Frigga Haugs wurde entnommen aus »Die Linie


Luxemburg-Gramsci«, in »Rosa Luxemburg und die Kunst der Politik«,
Argument Sonderband AS 300 (2007). Er wurde redaktionell
bearbeitet.
Anmerkung:

1) Die russische Revolution. Eine kritische Würdigung, Berlin 1922 S. 109; Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke Band
4, S. 359, Anmerkung 3. Dietz Verlag Berlin (Ost), 1983.

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