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Katharina Grätz, Sebastian Kaufmann (Hrsg.

)
Nietzsche als Dichter
Nietzsche-Lektüren

Im Auftrag der Heidelberger Akademie der


Wissenschaften und der Friedrich-Nietzsche-Stiftung

Herausgegeben von
Andreas Urs Sommer, Sebastian Kaufmann,
Katharina Grätz, Ralf Eichberg und Christian Benne

Wissenschaftlicher Beirat:
Francisco Arenas-Dolz (Valencia), Paul Bishop (Glasgow), James Conant (Leipzig),
Jakob Dellinger (Wien), Paolo D’Iorio (Paris), Maria Cristina Fornari (Salento),
Friederike F. Günther (Würzburg), Helmut Heit (Freiburg im Breisgau), Shanghai
Beatrix Himmelmann (Tromsø), Soichiro Itoda (Tokio),
Anthony Jensen (Providence), Enrico Müller (Bonn), Axel Pichler (Stuttgart),
Carlotta Santini (Paris), Philipp Schwab (Freiburg im Breisgau), Freiburg i. Br.
Hubert Thüring (Basel), Vivetta Vivarelli (Florenz), David Wellbery (Chicago),
Patrick Wotling (Reims), Claus Zittel (Stuttgart)

Band 1
Nietzsche als
Dichter

Lyrik – Poetologie – Rezeption

Herausgegeben von
Katharina Grätz und Sebastian Kaufmann

Unter redaktioneller Mitarbeit von


Armin Thomas Müller und Milan Wenner
Die Drucklegung dieses Bandes wurde im Rahmen der gemeinsamen Forschungsförderung von
Bund und Ländern im Akademienprogramm mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und
Forschung und des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Baden-
Württemberg ermöglicht.

ISBN 978-3-11-047280-6
e-ISBN (PDF) 978-3-11-047437-4
e-ISBN (EPUB) 978-3-11-047412-1

Library of Congress Cataloging-in-Publication Data


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Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek


Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston


Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen
Druck: ■■■
♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier
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www.degruyter.com
Inhalt

Siglenverzeichnis IX

Katharina Grätz und Sebastian Kaufmann


Nietzsche als Dichter: Zur Einführung 1

Sebastian Kaufmann
Lyrik und Lyriktheorie im Werk Nietzsches 7

Armin Thomas Müller


Nietzsches Jugendlyrik am Beispiel des Gedichtzyklus In der Ferne 25

Armin Thomas Müller


Nietzsches Gimmelwalder Melancholie-Gedichte aus dem Sommer 1871 47

Katharina Grätz
„doch sehen wir sein Sprechen nur“: Nietzsches Gedicht Um Mittag /
Am Gletscher und die Lesbarkeit der Natur 79

Sebastian Kaufmann
Heiterkeit, Heroismus, Sentimentalität: Nietzsches Idyllen aus Messina
und sein poetologisches Konzept der Idylle 95

Milan Wenner
„Nach neuen Meeren“: Nietzsches Abenteurerlyrik vor dem Hintergrund
der Fröhlichen Wissenschaft 121

Thomas Forrer
Philologische Dichtung: Friedrich Nietzsches Lied eines theokritischen
Ziegenhirten 153

Stavros Patoussis
Philosophie als Tanz: Eine philosophische Lektüre von An den Mistral.
Ein Tanzlied 179
VI Inhalt

Mike Rottmann
„Das Unglück holt den Flüchtigen ein – und sei’s“: Nietzsches inszenierte
Melancholie als poetische Begründung des zukünftigen Philosophen.
Mit zwei Exkursen zum Problem der Interpretation Nietzschescher
Gedichte 207

Jan Kerkmann
Die Einkreisung der schwarzen Schlange: Zur Figur des Wahrsagers im
Zarathustra 245

Natalie Schulte
Nur Narr, nur Dichter? Das Lied der Schwermuth in Nietzsches
Zarathustra 273

Michael Buhl
Textstrategie und Performativität: Dialogizität, Literarizität und
Polyperspektivität im Kontext von Nietzsches Kommunikationstheorie 297

Patrick Wagner
Schein und Wahrheit: Nietzsches Philosophie der Poesie 315

Julius Thelen
Das Dasein zwischen Komödie und Tragödie: Zum ersten Abschnitt der
Fröhlichen Wissenschaft 339

Christina Kast
„Nur Narr! Nur Dichter!“ Nietzsches Versuch einer Neubegründung der
Philosophie in der Dichtung 377

Robert Krause
Dandysme: Zu einem Motiv aus Nietzsches Baudelaire-Exzerpten 401

Sarah Scheibenberger
„Ich trinke die Flammen in mich zurück, die aus mir brechen“: Nietzsche, Carlo
Michelstaedter und Rhetorik als (auto-)poietisches Verfahren 421

Ann-Christin Bolay
„eine durch und durch poetische, künstlerische Natur“: Zu Ernst Bertrams und
Theobald Zieglers Rezeption des Dichters Nietzsche 445
Inhalt VII

Katharina Grätz
Nietzsches Rezeption als Dichter in der literarischen Moderne 465

Namenregister 481
Siglenverzeichnis
AC Nietzsche, Friedrich, Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum [1888],
in: KSA 6, 165–254.
BAW Nietzsche, Friedrich, Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtaus-
gabe: Werke, 5 Bde. [Jugendschriften 1854–1869], München 1933–
1940.
DD Nietzsche, Friedrich, Dionysos-Dithyramben [1888], in: KSA 6, 375–411.
DW Nietzsche, Friedrich, Die dionysische Weltanschauung, in: KSA 1, 551–
577.
EH Nietzsche, Friedrich, Ecce homo. Wie man wird, was man ist [1888], in:
KSA 6, 255–374.
FW Nietzsche, Friedrich, Die fröhliche Wissenschaft („la gaya scienza“)
[1882/87], in: KSA 3, 343–651.
GD Nietzsche, Friedrich, Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Ham-
mer philosophirt [1888], in: KSA 6, 55–161.
GM Nietzsche, Friedrich, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift [1887],
in: KSA 5, 245–412.
GSA Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar.
GT Nietzsche, Friedrich, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
[1872], in: KSA 1, 9–156.
IM Nietzsche, Friedrich, Idyllen aus Messina [1882], in: KSA 3, 333–342.
JGB Nietzsche, Friedrich, Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philoso-
phie der Zukunft [1886], in: KSA 5, 9–243.
KGB Nietzsche, Friedrich, Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von
Giorgio Colli / Mazzino Montinari, Berlin / New York 1975 ff.
KGW Nietzsche, Friedrich, Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Gior-
gio Colli / Mazzino Montinari, Berlin / New York 1967 ff.
KSA Nietzsche, Friedrich, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15
Einzelbänden, hrsg. von Giorgio Colli / Mazzino Montinari, 3. Auflage,
München / Berlin / New York 1999.
KSB Nietzsche, Friedrich, Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8
Bänden, hrsg. von Giorgio Colli / Mazzino Montinari, 2. Auflage,
München / Berlin / New York 2003.
MA I–II Nietzsche, Friedrich, Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für
freie Geister [1878/86] = KSA 2.
M Nietzsche, Friedrich, Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vor-
urtheile [1881], in: KSA 3, 9–331.
Mp … Mappensignaturen in Nietzsches Nachlass (Goethe-Schiller-Archiv,
Weimar).

DOI 10.1515/9783110474374-203
X Siglenverzeichnis

NK Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken,


hrsg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Berlin /
Boston 2012 ff.
NL Nietzsche, Friedrich, Nachlass, zitiert nach KSA oder KGW.
NPB Campioni, Giuliano / D’Iorio, Paolo / Fornari, Maria Cristina / Fronte-
rotta, Francesco / Orsucci, Andrea (Hrsg.), unter Mitarbeit von Müller-
Buck, Renate: Nietzsches persönliche Bibliothek, Berlin / New York
2003.
PHG Nietzsche, Friedrich, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Grie-
chen [1873], in: KSA 1, 799–872.
SGT Nietzsche, Friedrich, Sokrates und die griechische Tragoedie, in: KSA 1,
601–640.
ST Nietzsche, Friedrich, Socrates und die Tragoedie, in: KSA 1, 533–549.
UB I DS Nietzsche, Friedrich, Unzeitgemäße Betrachtungen. Erstes Stück: David
Strauss der Bekenner und der Schriftsteller [1873], in: KSA 1, 157–242.
UB II HL Nietzsche, Friedrich, Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom
Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben [1874], in: KSA 1, 243–
334.
UB III SE Nietzsche, Friedrich, Unzeitgemäße Betrachtungen. Drittes Stück: Scho-
penhauer als Erzieher [1874], in: KSA 1, 335–427.
UB IV WB Nietzsche, Friedrich, Unzeitgemäße Betrachtungen. Viertes Stück: Ri-
chard Wagner in Bayreuth [1876], in: KSA 1, 429–510.
VMS Nietzsche, Friedrich, Menschliches, Allzumenschliches. Anhang: Ver-
mischte Meinungen und Sprüche [1879], in: MA II.
W… Heftsignaturen in Nietzsches Nachlass (Goethe-Schiller-Archiv, Wei-
mar).
WA Nietzsche, Friedrich, Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem [1888],
in: KSA 6, 9–53.
WL Nietzsche, Friedrich, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen
Sinne [1873], in: KSA 1, 873–890.
WS Nietzsche, Friedrich, Der Wanderer und sein Schatten [1880], in: MA II.
Za Nietzsche, Friedrich, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und
Keinen [1883/85] = KSA 4.
Katharina Grätz und Sebastian Kaufmann
Nietzsche als Dichter: Zur Einführung
Nietzsche war beides, Philosoph und Dichter. Diese Doppelrolle wurde ihm nicht
nur von anderen zugeschrieben,1 sondern sie entspricht seinem Selbstverständnis:
Schon 1872 bekannte er sich zum ‚gemischten‘ Ideal des „P h i l o s o p h e n - K ü n s t -
l e r s “, dessen Philosophie „ein K u n s t we r k […] mit ästhetischem Werthe“ sein
soll.2 Und noch 1886 sympathisiert er in einem Nachlass-Notat mit der Rolle eines
„verwegene[n] Dichter-Philosoph[en]“.3 Freilich verdankt er seine exzeptionelle
Stellung weniger der bloßen Tatsache, dass er die Grenze zur Literatur überschritt
(damit wäre er in der Geschichte der Philosophie kein so seltener Fall), sondern
vielmehr der Nachdrücklichkeit, mit der er das getan hat. Nietzsche realisierte in
seinem Schaffen die Verbindung von Literatur und Philosophie in seltener Kon-
sequenz: Er bediente sich in forcierter Weise literarischer Darstellungsmittel; seine
Texte umkreisen reflektierend immer wieder die Frage, wie sich Philosophie und
Poesie zueinander verhalten, und er wechselte als Lyriker sowie als Autor von Also
sprach Zarathustra scheinbar vollständig auf die Seite der Dichtung.
Als ‚Dichterphilosoph‘ hat Nietzsche mit den zeitgenössischen Konventionen
des Philosophierens gebrochen und das Register der philosophischen Ausdrucks-
formen und Schreibweisen erheblich erweitert. Der Kosmos seines Gesamtwerks
konstituiert sich aus einer Vielfalt literarischer Genres und Textformen wie Ge-
dicht, Aphorismus, Kurzessay, Dialog und Parabel. Nietzsche bildete keinen
einheitlichen Schreibstil aus, sondern beanspruchte, wie er in Ecce Homo selbst-
bewusst verkündet, für sich „die vielfachste Kunst des Stils überhaupt, über die je
ein Mensch verfügt hat.“4 Tatsächlich charakterisiert ihn das Vermögen, souverän
zwischen unterschiedlichen Stilen zu wechseln. Dabei dürfte er erheblich von
seiner philologischen Ausbildung profitiert haben, vom intensiven Studium der
antiken Literatur, aber auch allgemein von seiner großen Belesenheit auf den
verschiedensten Gebieten. Nicht zuletzt zeugen davon auch die vielen intertextu-
ellen Referenzen, die eine weitere Besonderheit seiner Texte ausmachen, und die
ebenso auf wissenschaftliche wie auf literarische Werke verweisen. Zitate und

1 Die Einordnung als ‚Dichterphilosoph‘ bildet von früh an bis heute eine – wenngleich noch
nicht zureichend reflektierte – Konstante in der Nietzsche-Rezeption. Vgl. beispielsweise Diner,
Joseph, Friedrich Nietzsche. Ein Dichterphilosoph, in: Freie Bühne für modernes Leben, Jg. 1, Heft
13, Berlin 1890, S. 368–371.
2 NL 1872, 19[39], KSA 7, 431, 12–14.
3 NL 1886, 6[22], KSA 12, 240, 13 f.

4 EH Warum ich so gute Bücher schreibe 4, KSA 6, 304, 11 f.


DOI 10.1515/9783110474374-001
2 Katharina Grätz und Sebastian Kaufmann

Allusionen sind nicht selten auf sehr kunstvolle Weise in seine Texte eingefügt;
häufig verweisen sie nicht unmittelbar auf eine Quelle, sondern stehen, spiele-
risch verwendet, im Dienst des Andeutens und der Verrätselung.
Alle Texte Nietzsches weisen in großer Dichte sprachlich-stilistische Merkma-
le auf, die gemeinhin als Ausweis von Literarizität gelten. Sie strotzen vor rhetori-
schen Tropen und Figuren, setzen in extensiver Weise Metaphern, Ausrufe und
rhetorische Fragen, Anaphern, Parallelismen und Antithesen ein und folgen, bis
in das Satztempo hinein, musikalischen Prinzipien. Dabei ist zu sehen, wie Nietz-
sche einerseits an konventionelle Formen anknüpft, ihnen dann aber doch eine
eigene, originelle Prägung gibt; so greift er traditionelle Metaphern und Symbole
auf und weist ihnen neue Bedeutung zu. Auffällig ist zudem eine ausgeprägte
Neigung zum Sprachspiel; immer wieder scheint die Wortwahl nicht durch den
semantischen Gehalt, sondern durch klangliche und rhythmische Qualitäten
gesteuert zu werden. Nicht nur gemessen an traditionellen philosophischen
Schreibweisen, auch im Vergleich zur zeitgenössischen ‚schönen Literatur‘ zeich-
net sich damit eine deutliche Differenz ab: Während die Literatur des poetischen
Realismus dazu tendiert, ihren Kunstcharakter zu verschleiern, rückt Nietzsche
die kunstvolle rhetorische Sprachgestalt seiner Texte immer wieder selbstreflexiv
in den Vordergrund. Das lässt seine Schreibweise seltsam unzeitgemäß erschei-
nen. Indem sie den Eigenwert der sprachlichen Form, der Bilder und des Klangs
betont, unterscheidet sie sich markant sowohl von den literarischen als auch von
den philosophischen Schreibstilen der Zeit; sie zielt auf Konnotation und Assozia-
tion statt auf Klarheit und Präzision.
So gründet der Ausnahmestatus, der Nietzsche unter den Philosophen zu-
kommt, nicht zuletzt in seinem besonderen, genuin künstlerischen Verhältnis zur
Sprache: „weit mehr als die Ideen selbst […] sicherte die Wucht, Kraft und
Schönheit seiner Sprache, die unwiderstehlich Freund und Feind fortriß, den
Erfolg Nietzsches. Wie edle Gemmen formte er die Ideen. Er ist ein Künstler der
Sprache“,5 schrieb 1911 der Literaturhistoriker Alfred Biese. Der Grenzen spren-
gende Denker Nietzsche war zugleich ein Grenzen sprengender Sprachkünstler
und Sprachartist, der traditionelle Gattungsdifferenzen und, grundsätzlicher
noch, den Unterschied zwischen Philosophie und Dichtung zum Verschwimmen
brachte. Gerade darauf beruht die große Wirkmächtigkeit, die bis heute weit über
die disziplinären Grenzen der Philosophie hinaus von seinen Schriften ausgeht.
Deren eigene poetische Qualität wurde schon früh wahrgenommen,6 und so

5 Biese, Alfred, Deutsche Literaturgeschichte, Bd. 3: Von Hebbel bis zur Gegenwart, München 1911,
S. 486.
6 So schreibt etwa bereits Theobald Ziegler in seiner im Todesjahr Nietzsches erschienenen
Werkbiographie Friedrich Nietzsche: „Nietzsche ist Dichter – nicht nur weil und wo er Verse macht
Nietzsche als Dichter: Zur Einführung 3

erstaunt es nur wenig, dass nicht Philosophen, sondern Schriftsteller die ersten
begeisterten Rezipienten Nietzsches waren. Ganze Dichtergenerationen standen
im Sog des Zarathustra und des späten Dithyrambenstils, die als stilprägende
Vorbilder wirkten und der modernen Literatur und insbesondere der Lyrik im
ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert wichtige Impulse gaben.
Weil die Rezeption von Nietzsches dichterischem Werk vom Eindruck des
Zarathustra und der Dionysos-Dithyramben dominiert wurde, geriet bis heute
nahezu in Vergessenheit, dass er ein umfangreiches lyrisches Werk hinterlassen
hat, das bislang weder intensiv erforscht7 noch editorisch befriedigend erschlos-
sen ist8 – was bisweilen zu der irrigen Annahme veranlasste, Nietzsche habe
überhaupt nur wenige Gedichte geschrieben.9 Tatsächlich tritt seine Vorliebe für
lyrische Formen in allen Werkphasen markant hervor; Gedichte stehen am Beginn
und am Ende seines Schaffens, insgesamt stammen aus seiner Feder rund 700
erhaltene lyrische Texte, von denen freilich die meisten im Nachlass versteckt
blieben.10 Zwar hat Nietzsche nur wenige Gedichte eigenständig publiziert (ein
Ausnahmestatus kommt insofern dem 1882 in Ernst Schmeitzners Internationaler
Monatsschrift veröffentlichten Gedichtzyklus Idyllen aus Messina zu),11 doch ent-
halten zahlreiche seiner ‚philosophischen Werke‘ lyrische Texte. Deutlich vom

und Dramen entwirft, sondern mitten in seiner Prosa und mitten in seinem Philosophieren; er ist
der Dichter unter den Philosophen, wie vor Sokrates Empedokles ein solcher gewesen ist. Denn
schon von Haus aus ist er eine durch und durch poetische, künstlerische Natur, das giebt seinen
Gedanken den Glanz und den Schimmer, das Ansehen und den Reiz von Kunstwerken“ (Ziegler,
Theobald, Friedrich Nietzsche, Berlin 1900, S. 3). Zu Zieglers Nietzsche-Rezeption vgl. den Beitrag
von Ann-Christin Bolay im vorliegenden Band. Zur Rezeption von Nietzsches Lyrik um 1900
allgemein vgl. den Beitrag von Katharina Grätz im vorliegenden Band.
7 Einen gewissen Überblick über die vorhandene Forschungsliteratur zum Thema „Nietzsche als
Dichter“ vom Ende des 19. Jahrhunderts bis heute liefert die Bibliographie in NK 3/1, 578–582. Es
handelt sich zwar um eine Spezialbibliographie zu den Idyllen aus Messina, erfasst werden
darüber hinaus aber auch wichtige Schriften zu Nietzsches Lyrik. – Erfreulicherweise wendet sich
die gegenwärtige Nietzsche-Forschung dem Thema wieder verstärkt zu. So fand vom 15. bis 18.
Oktober 2015 in Naumburg die von Christian Benne und Claus Zittel organisierte Tagung „‚Ja,
mein Herr! Sie sind ein Dichter!‘ Nietzsche und die Lyrik“ statt, auf die eine umfängliche
Sammelpublikation zu Nietzsches Lyrik folgen soll.
8 Zu entsprechenden editionsphilologischen Überlegungen vgl. Groddeck, Wolfram, „Gedichte
und Sprüche“. Überlegungen zur Problematik einer vollständigen, textkritischen Ausgabe von Nietz-
sches Gedichten, in: Martens, Gunter / Woesler, Winfried (Hrsg.), Edition als Wissenschaft. Fest-
schrift für Hans Zeller, Tübingen 1991, S. 169–180.
9 Vgl. Reich-Ranicki, Marcel (Hrsg.), 1400 deutsche Gedichte und ihre Interpretationen, Bd. 12:
Von Rolf Dieter Brinkmann bis Durs Grünbein, Frankfurt/Main 2002, S. 108.
10 Nähere Details in NK 3/1, 472 f.; sowie in Sebastian Kaufmanns Beitrag zu Nietzsches Lyrik und

Lyriktheorie im vorliegenden Band.


11 Vgl. hierzu den entsprechenden Beitrag von Sebastian Kaufmann im vorliegenden Band.
4 Katharina Grätz und Sebastian Kaufmann

Kontext abgesetzt erfüllen sie spezifische kompositorische und rezeptionsleiten-


de Funktionen als „Motto“, „Vorspiel“ und „Anhang“. Es handelt sich also um
lyrische ‚Paratexte‘, deren Verhältnis zum aphoristischen ‚Haupttext‘ eigene Per-
spektiven eröffnet und besondere Interpretationsanstrengungen herausfordert.
Das mit ihnen etablierte Wechselspiel von Lyrik und Prosa führt zu Brechungen,
die ein neues Licht auch auf Motive und Bilder des ‚Haupttexts‘ fallen lassen.
Nietzsches Texte reflektieren selbst wiederholt den unterschiedlichen Aus-
sagemodus von lyrisch-poetischem und prosaisch-philosophischem Sprechen.
Berühmt sind die bedauernden Worte anlässlich der Neuausgabe der Geburt der
Tragödie 1886: „Sie hätte s i n g e n sollen, diese ‚neue Seele‘ – und nicht reden!
Wie schade, dass ich, was ich damals zu sagen hatte, es nicht als Dichter zu sagen
wagte: ich hätte es vielleicht gekonnt!“12 Ungeachtet dieses klaren Bekenntnisses
zum poetischen Sprechen sind die poetologischen Selbstreflexionen im Werk
Nietzsches durch Ambivalenzen und Widersprüche gekennzeichnet. Immer wie-
der kommen seine Texte auf das Verhältnis von Ästhetik und Erkenntnis, von
Kunst und Wissenschaft zu sprechen und formulieren unterschiedliche, ja gegen-
sätzliche Urteile. Kunst und Poesie gelten dabei wechselweise als überlegene,
wahrhaftere Ausdrucksmöglichkeiten; sie werden aber ebenso auch als notwen-
dige und lebenserhaltende Illusionen13 eingestuft oder gar als irreführende Täu-
schungen zurückgewiesen. Nietzsche bildete also keine klar konturierte Ästhetik
oder Kunsttheorie aus, vielmehr spielen seine Texte unterschiedliche Einstellun-
gen zur Kunst durch und beziehen wechselnde Blickpunkte.14 Derart zeugen
gerade auch die Überlegungen zu Kunst und Dichtung von der für Nietzsche
typischen (multi)perspektivischen Betrachtungsweise, die gekennzeichnet ist
durch die dauernde Verschiebung des Betrachter-Standpunkts. Damit erfasst sie
ihren Gegenstand immer wieder neu und nimmt ihn immer wieder anders in den

12 GT Versuch einer Selbstkritik 3, KSA 1, 15, 9–12.


13 Als bezeichnend hierfür sei folgende Textstelle aus der Fröhlichen Wissenschaft angeführt:
„Hätten wir nicht die Künste gut geheissen und diese Art von Cultus des Unwahren erfunden: so
wäre die Einsicht in die allgemeine Unwahrheit und Verlogenheit, die uns jetzt durch die
Wissenschaft gegeben wird – die Einsicht in den Wahn und Irrthum als in eine Bedingung des
erkennenden und empfindenden Daseins –, gar nicht auszuhalten“ (FW 107, KSA 3, 464, 10–15).
14 Bereits Peter Pütz betonte das Unsystematische von Nietzsches kunsttheoretischen Über-
legungen: „Er kann sich niemals mit einer Phänomenologie der Kunst begnügen, weil ihm das
System, in welches sie einzuordnen wäre und in dem sie Funktionen zu erfüllen hätte, fehlt. Seine
Frage nach der Seinsweise der Kunst stößt daher ins Leere, wird immer wieder zurückgenommen,
neu gestellt und anders beantwortet“ (Pütz, Peter, Kunst und Künstlerexistenz bei Nietzsche und
Thomas Mann. Zum Problem des ästhetischen Perspektivismus in der Moderne, 3. Auflage, Bonn
1987, S. 12).
Nietzsche als Dichter: Zur Einführung 5

Blick, gewinnt ihm unterschiedliche Facetten ab, produziert aber auch unverein-
bare Widersprüche und Aporien.
Wie sein gesamtes Schreiben und Denken sind auch die ästhetischen und
poetologischen Überlegungen aus Nietzsches Feder von grundsätzlicher Sprach-
und Erkenntnisskepsis geprägt. Es präsentiert sich ein Autor, der im Bewusstsein
der Unzulänglichkeit des Mediums Sprache („D i e W o r t e l i e g e n u n s i m W e -
g e !“)15 schreibt und dessen Erkenntnisstreben sich im Bewusstsein der Uneinhol-
barkeit von absoluter Erkenntnis oder Wahrheit vollzieht. Die Texte setzen diese
prinzipiellen Erkenntniszweifel performativ um, indem sie wechselnde Sprecher-
instanzen und Perspektiven zur Geltung bringen und mit Relativierungen, Para-
doxien und Ironie arbeiten – mit Darstellungsmitteln, die die Verbindlichkeit von
Aussagen unterminieren und dadurch das unterbinden, was viele Rezipienten
von Philosophie erwarten: den Entwurf eines systematischen Gedankengebäudes
oder wenigstens definitive, logisch sauber hergeleitete Aussagen, die sich als
‚Wahrheiten‘ präsentieren. Stattdessen sind Nietzsches Texte durchzogen von
unterschiedlichen Formen des uneigentlichen Sprechens und von vielfältigen
Strategien der Distanzierung vom Aussagegehalt. Höchst ungewöhnlich für phi-
losophische Texte sind etwa die häufigen Fiktionalitätssignale, insbesondere die
Vorliebe für den Konjunktiv und das hypothetische ‚Als ob‘, die das Dargelegte
unter Vorbehalt stellen. Doch auch wenn die große Bandbreite unterschiedlicher
Ausdrucksformen und Darstellungsmodi in Nietzsches Werk derart als Äuße-
rungsweise einer Philosophie erscheint, die unter dem Zeichen der Erkenntnis-
skepsis steht, sollte man nicht übersehen, dass die literarische Gestaltung gerade
hierbei ein eigenes Gewicht erhält. Der Wechsel in den Modus des dichterischen
Sprechens lässt sich als Ausfluss einer erkenntnisskeptischen Haltung verstehen,
die im poetischen Ausdruck eine Alternative sucht und die Erkenntnisleistung der
Dichtung auf die Probe stellt.
In diesem Sinn nimmt der hier vorgelegte Band den Dichter Nietzsche ernst;
er nähert sich ihm aus dreifacher Perspektive an: Ein besonderes Augenmerk gilt
erstens Nietzsches lyrischer Produktion, die in textnahen Gedichtinterpretationen
beispielhaft erschlossen und vorgestellt wird. Ein zweiter Schwerpunkt liegt bei
den sprachtheoretischen, ästhetischen und poetologischen Reflexionen, die ins-
besondere in ihren Aussagen zur Erkenntnis- und Wahrheitsfähigkeit der Dich-
tung untersucht werden. Schließlich kommt drittens die zeitnahe Rezeption des
Dichters Nietzsche zur Sprache, und zwar sowohl in übergreifend-horizontbilden-
der Hinsicht wie auch in der exemplarischen Aneignung durch einzelne Autoren.

15 M 47, KSA 3, 53, 12.


6 Katharina Grätz und Sebastian Kaufmann

Der Band beruht im Wesentlichen auf den Ergebnissen des 2. Forums Junger
Nietzscheforschung, das als Kooperationsveranstaltung zwischen dem Kolleg
Friedrich Nietzsche der Klassik Stiftung Weimar und der Forschungsstelle Nietz-
sche-Kommentar der Heidelberger Akademie der Wissenschaften unter dem Titel
Nietzsche als Dichter vom 23. bis zum 28. März 2015 auf dem Wielandgut Oß-
mannstedt stattfand. Für ihre große Hilfe bei der Redaktion des Bandes danken
wir Armin Thomas Müller und Milan Wenner.
Sebastian Kaufmann
Lyrik und Lyriktheorie im Werk Nietzsches

Abstract: Lyric and lyric theory in Nietzsche’s works. The article provides a
general overview of Nietzsche’s lyrical work and his reflections on lyric theory.
Aspects of the history of editions and the history of receptions are taken into
account as well as main issues such as the relation between Nietzsche’s poetry
and his philosophical writings, his lyric’s different phases (from the adolescent
poetry to the late creative period), forms (song, sentence, dithyramb) and models
(e. g. Archilochus, Heine).

1 Nietzsches lyrisches Schaffen: Umfang und


Rezeption
Im Laufe seines bewussten Lebens brachte Nietzsche nur ein einziges rein lyrisches
Werk selbst zur Veröffentlichung: den Gedichtzyklus Idyllen aus Messina, der 1882
im Maiheft von Schmeitzners Internationaler Monatsschrift erschien.1 Die Publika-
tion eines weiteren Gedichtzyklus, der Dionysos-Dithyramben, wurde von Nietzsche
zwar seit Herbst 1888 vorbereitet, aufgrund des geistigen Zusammenbruchs im
Januar 1889 jedoch nicht mehr selbst zu Ende geführt.2 Das heißt jedoch keines-
falls, dass die lyrische Produktion für Nietzsches Werk insgesamt von zu vernach-
lässigender Bedeutung wäre. Das Gegenteil ist der Fall: Von frühester Jugend an
und bis zuletzt hat Nietzsche – in Phasen unterschiedlicher Intensität – Gedichte
und Gedichtentwürfe verfasst, von denen so viele erhalten sind, dass sie einen
eigenen Band beträchtlichen Umfangs füllen können.3 Hinzu kommt der bemer-
kenswerte und auch schon des Öfteren bemerkte Umstand, dass lyrische Werke
buchstäblich am Anfang und am Ende von Nietzsches Schaffen stehen:4 Die ersten

1 Internationale Monatsschrift. Zeitschrift für allgemeine und nationale Kultur und deren Literatur,
Jg. 1, Heft 5, Chemnitz 1882, S. 269–275.
2 Vgl. den Überblickskommentar zu DD in NK 6/2, 641–660.
3 Zu den Jugendgedichten von 1854–1869 vgl. die Verzeichnisse der Gedichtanfänge und -über-
schriften in BAW 1, 488–495; BAW 2, 481–485; BAW 3, 485–488; ein Verzeichnis der Gedichte seit
1869 findet sich in KSA 15, 263–271.
4 Vgl. z. B. Ziemann, Rüdiger, Die Gedichte [Artikel], in: Ottmann, Henning (Hrsg.), Nietzsche-
Handbuch. Leben – Werk ‒ Wirkung, Stuttgart / Weimar 2000, S. 150–156, hier S. 150.

DOI 10.1515/9783110474374-002
8 Sebastian Kaufmann

erhaltenen Texte sind Gedichte des Schülers, zu den letzten von Nietzsche für den
Druck vorbereiteten Werken gehören die Dionysos-Dithyramben.
Von Nietzsches beachtlicher lyrischer Produktivität zeugen denn auch zahl-
reiche (Auswahl-)Ausgaben seiner Gedichte. Die erste wurde unter dem Titel
Gedichte und Sprüche von Friedrich Nietzsche bereits zwei Jahre vor dem Tod des
umnachteten Philosophen veröffentlicht und erlebte mehrere Auflagen; 1898
erschien sie zuerst mit einem umfänglichen Vorwort der Herausgeberin, seiner
Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche, die darin die „dichterische[ ] Entwicklung
meines Bruders während eines Zeitraums von dreißig Jahren“ als eine solche
beschreibt, die vom „erste[n] Stammeln des poetischen Ausdrucks“ bis zur
„höchsten Erhebung des dichterischen Geistes [reicht], die nur noch in Dithyram-
ben redet“.5 Weitere Ausgaben erschienen 19236 und 1944; bei letzterer handelt es
sich um eine von Kläre Buchmann herausgegebene „Feldauswahl“, die demons-
triert, wie man im NS-Staat versuchte, Nietzsche – zumal als Lyriker – welt-
anschaulich zu vereinnahmen. Mehrere Neuausgaben folgten,7 so 1977 die Aus-
gabe von Jost Hermand,8 1994 die von Ralph Kray und Karl Riha,9 1999 eine von
Ralph-Rainer Wuthenow10 und 2010 die Reclam-Ausgabe von Mathias Mayer.11
Auch gibt es etliche in verschiedene Sprachen übersetzte Gedichtausgaben. Darü-
ber hinaus ist Nietzsche in zahlreichen Anthologien deutschsprachiger Lyrik ver-
treten, oft schon im Titel nach dem Muster ‚Gedichte von/bis Nietzsche‘.12 Eine
historisch-kritische Gesamtausgabe von Nietzsches Gedichten ist freilich nach
wie vor ein Desiderat.13

5 Förster-Nietzsche, Elisabeth, Vorwort, in: Nietzsche, Friedrich, Gedichte und Sprüche [hrsg. von
Elisabeth Förster-Nietzsche], Leipzig 1898, S. IX–XVIII, hier S. IX.
6 Nietzsche, Friedrich, Gedichte, Leipzig 1923 (Insel-Bücherei Nr. 361, mehrere Auflagen bis
1964).
7 Zur editionsphilologischen Kritik an den Ausgaben von Förster-Nietzsche bis Hermand vgl.
Groddeck, Wolfram, „Gedichte und Sprüche“. Überlegungen zur Problematik einer vollständigen,
textkritischen Ausgabe von Nietzsches Gedichten, in: Martens, Gunter / Woesler, Winfried (Hrsg.),
Edition als Wissenschaft. Festschrift für Hans Zeller, Tübingen 1991, S. 169–180, hier S. 169 f.

8 Nietzsche, Friedrich, Gedichte, hrsg. von Jost Hermand, Stuttgart 1977.


9 Nietzsche, Friedrich, Gedichte, hrsg. von Ralph Kray / Karl Riha, Frankfurt/Main / Leipzig 1994.
10 Nietzsche, Friedrich, Sämtliche Gedichte, hrsg. von Ralph-Rainer Wuthenow, Zürich 1999.
11 Nietzsche, Friedrich, Gedichte, hrsg. von Mathias Mayer, Stuttgart 2010.
12 Vgl. etwa Muschg, Walter (Hrsg.), An die Schweiz. Gedichte von Haller bis Nietzsche, Basel
1945; Schickele, René (Hrsg.), Das Vermächtnis. Deutsche Gedichte von Walther von der Vogelweide
bis Nietzsche, Freiburg 1948; Stöcker, Julius (Hrsg.), Zuweilen ruft mich eine Stille. Deutsche
Gedichte seit Nietzsche, Bonn 1960; Kirsten, Wulf (Hrsg.), „Beständig ist das leicht Verletzliche“.
Gedichte in deutscher Sprache von Nietzsche bis Celan, Zürich 2010.
13 Vgl. hierzu Groddeck, „Gedichte und Sprüche“.
Lyrik und Lyriktheorie im Werk Nietzsches 9

Der Vielzahl von (Lese-)Ausgaben von Nietzsches Gedichten und ihrer


Aufnahme – mit hervorgehobener Position von Nietzsches Namen als
Epochenmarker – in Anthologien bis in die jüngste Vergangenheit korrespondiert
schon früh eine teils außerordentliche Wertschätzung seiner lyrischen Produktio-
nen. So schwärmt nicht nur Elisabeth Förster-Nietzsche von der „höchsten Erhe-
bung des dichterischen Geistes“ in den ‚reifen‘ Gedichten ihres Bruders, sondern
ganz ähnlich meint ebenfalls Kläre Buchmann im Nachwort zu der von ihr
besorgten „Feldauswahl“, Nietzsche sei „einer der größten Lyriker deutscher
Sprache“.14 An dieser Ansicht wird auch in der neueren Forschung festgehalten.
Breuer etwa attestiert Nietzsche, mit seinen Gedichten „strenge Maßstäbe“ für die
moderne Lyrik aufgestellt zu haben, an denen sich lyrische Texte „im 20. Jahr-
hundert […] messen lassen“15 müssen. Ähnlich enthusiastisch äußern sich Man-
fred Riedel, nach dessen Einschätzung, Nietzsche der „moderne[n] Lyrik […] den
Weg bereitet“16 hat, sowie Theo Meyer, der betont: „Nietzsche ist ein bedeutender
Lyriker, ja, er hat eine Reihe von Gedichten geschrieben, die zu den Marksteinen
der deutschen Lyrikgeschichte gehören.“17 Selbst dort, wo in neueren Publikatio-
nen zu Nietzsches Lyrik mitunter skeptische Töne laut werden, bleibt diese
Wertung im Prinzip bestehen. So urteilt beispielsweise zwar Schirnding, dass die
„Größe Nietzsches […] nicht in seinem Gesang, sondern in seiner Rede“ liege, und
schränkt die Zahl „der vollkommenen Gedichte[ ], die von seiner Hand stammen“
auf „zwölf oder fünfzehn“ ein (ohne dies allerdings weiter zu präzisieren), spricht
mit Blick auf diese aber von einem „Hauch von Unsterblichkeit“.18 Und Mathias
Mayer räumt zwar ebenfalls in diesem Sinne, wenngleich rhetorisch abge-
schwächt durch eine Litotes ein, dass Nietzsche „nicht in allen Fällen […],
ungeachtet des stilistischen Glanzes, geschmacklich ganz sicher gewesen wäre“,
weist Nietzsche jedoch trotzdem „seinen dauerhaften Platz in der Geschichte der
Lyrik“ zu.19

14 Buchmann, Kläre, Nachwort, in: Nietzsche, Friedrich, Gedichte. Feldauswahl, hrsg. von Kläre
Buchmann, Stuttgart 1944, S. 90–92, hier S. 90.
15 Breuer, Dieter, Deutsche Metrik und Versgeschichte, München 1981, S. 242.
16 Riedel, Manfred, Freilichtgedanken. Nietzsches dichterische Welterfahrung, Stuttgart 1998,
S. 64.
17 Meyer, Theo, Nietzsche und die Kunst, Tübingen / Basel 1993, S. 118. – Zur Wirkung Nietzsches
auf die Lyrik der klassischen Moderne vgl. auch Kray, Ralph / Riha, Karl, Nachwort, in: Nietzsche,
Gedichte (1994), S. 141–159, hier S. 146–150.
18 Schirnding, Albert von, „… sie hätte singen / Nicht reden sollen diese neue seele!“ Nietzsche als
Lyriker, in: Friedrich, Heinz (Hrsg.), Friedrich Nietzsche. Philosophie als Kunst. Eine Hommage,
München 1999, S. 217–223, hier S. 223.
19 Mayer, Mathias, Nachwort, in: Nietzsche, Gedichte (2010), S. 173–186, hier S. 174 u. 186.
10 Sebastian Kaufmann

Gleichwohl fällt an solchen einschränkenden Aussagen ein gewisser Vor-


behalt zumindest gegenüber einem Teil, wenn nicht gar gegenüber dem Großteil
von Nietzsches lyrischem Schaffen auf, der von den erwähnten Versuchen Ab-
stand nimmt, Nietzsche vorbehaltlos zu den bedeutendsten Lyrikern deutscher
Sprache zu zählen. Als früher prominenter Vertreter jener kritischeren Wertung
kann Thomas Mann gelten, der in seinem Essay Nietzsches Philosophie im Lichte
unserer Erfahrung von 1947 Nietzsches dichterische bzw. lyrische Begabung be-
reits ein Stück weit in Abrede stellte. Mann weist dort den von Nietzsche in Ecce
Homo für sich erhobenen Anspruch auf eine singuläre ‚dichterische Inspiration‘
mit den Worten zurück:

Nietzsche war vor allem ein großer Kritiker und Kultur-Philosoph, ein aus der Schule
Schopenhauers kommender Prosaist und Essayist obersten Ranges […]. Ein Dichter mag
weniger sein als solch ein Kritiker, aber zu diesem Weniger reichte es nicht, oder doch nur in
einzelnen lyrischen Augenblicken, nicht für ein ausgedehntes Werk von kreativer Ursprüng-
lichkeit.20

Mann wendet hier die implizite Einschränkung der philosophischen Bedeutung


Nietzsches, die sich oft mit dem Hinweis auf seine literarische Begabung ver-
band,21 ins Gegenteil, indem er sie nur ironisch aufgreift („Ein Dichter mag
weniger sein …“) und umgekehrt behauptet, Nietzsche sei kein ‚echter‘ Dichter
gewesen, weil er dafür zu sehr Denker war.

2 Ein „verwegener Dichter-Philosoph“


Nietzsche selbst bekennt sich hingegen schon früh zum ‚gemischten‘ Ideal des
„P h i l o s o p h e n - K ü n s t l e r s“, dessen Philosophie gleichfalls „ein K u n s t w e r k
[…] mit ästhetischem Werthe“ sein soll,22 und versteht sich auch später noch als
„ein verwegener Dichter-Philosoph“.23 Als ein solcher ist er auch gleich zu Beginn
seiner intensiven Rezeption um 1900 wahrgenommen worden. So versieht bereits
Joseph Diner seinen 1890 in der ersten Nummer von Otto Brahms Freier Bühne für
modernes Leben veröffentlichten Essay zu Nietzsche mit dem programmatischen

20 Mann, Thomas, Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung, in: Ders., Essays, Frank-
furt/Main 1997, Bd. 6, S. 56–92, hier S. 63 f.

21 Vgl. kritisch dazu Heidegger, Martin, Nietzsche. Erster Band, 6., aktualisierte Auflage, Stutt-
gart 1998, S. 3.
22 NL 1872, 19[39], KSA 7, 431, 12–14.
23 NL 1886, 6[22], KSA 12, 240, 13 f.

Lyrik und Lyriktheorie im Werk Nietzsches 11

Titel Friedrich Nietzsche. Ein Dichterphilosoph.24 Dass Nietzsche als Philosoph


zugleich auch Lyriker war, begünstigte zweifellos eine derartige Rezeption; Nietz-
sches Ruhm oder – je nachdem – Ruch als „Dichterphilosoph“ geht aber darüber
hinaus und betrifft allgemein die literarische Qualität seiner oft rhetorisch durch-
komponierten ‚Aphorismen‘, die zudem häufig ästhetisch-poetologische Themen
behandeln, sowie insbesondere die lyrische Prosa der im biblischen Verkündi-
gungston verfassten ‚Erzählung‘ Also sprach Zarathustra. Dabei sind diese Aspek-
te im Werk Nietzsches keineswegs klar getrennt. Er ist nicht Philosoph und
nebenbei auch noch Dichter, sondern beides zugleich.
Dieses Ineins von Philosophie und Dichtung zeigt sich nicht zuletzt daran,
dass Nietzsche – abgesehen von den Idyllen aus Messina und den projektierten
Dionysos-Dithyramben – Gedichte ausschließlich im Kontext seiner ‚philosophi-
schen‘ Werke veröffentlicht oder für die Veröffentlichung vorgesehen hat. Zu
nennen sind hier das Epigramm Freunde, es giebt keine Freunde! … aus Mensch-
liches, Allzumenschliches,25 der Zweizeiler Schicksal, ich fo l g e dir! … aus der
Morgenröthe,26 das „Vorspiel in deutschen Reimen“, welches unter dem Goethe
entlehnten Titel „Scherz, List und Rache.“ die erste Ausgabe der Fröhlichen Wis-
senschaft von 1882 einleitet,27 das ‚Motto-Gedicht‘ Der du mit dem Flammenspee-
re …, das dem Vierten Buch der Fröhlichen Wissenschaft vorangestellt ist28, sowie
die Motto-Verse Ich wohne in meinem eigenen Haus … der Neuausgabe von 188729
und die – zum Teil aus den Idyllen aus Messina hervorgegangenen – Lieder des
Prinzen Vogelfrei,30 die die zweite Fassung der Fröhlichen Wissenschaft als „An-
hang“ abschließen (und ihr damit insgesamt einen lyrischen Rahmen verleihen).
Hinzu kommen die in der 1886 veröffentlichten Schrift Jenseits von Gut und Böse
enthaltenen Gedichte Ist das noch deutsch? …31 und Aus hohen Bergen, welches
den „Nachgesang“ zu Jenseits bildet,32 ferner das aus zwei Gedichten bestehende
„Nachspiel“ Unter Freunden zur 1886 erschienenen Neuausgabe von Mensch-

24 Diner, Joseph, Friedrich Nietzsche. Ein Dichterphilosoph, in: Freie Bühne für ein modernes
Leben, Jg. 1, Heft 13, Berlin 1890, S. 368–371. – Vgl. auch Oppeln-Bronikowski, Friedrich von,
Friedrich Nietzsche als Dichter-Philosoph und Künstler, in: Die Umschau, Jg. 3, Frankfurt/Main
1899, S. 519–523, 541–545 u. 567–571; und Knodt, Karl Ernst, Friedrich Nietzsche – nur Dichter. Eine
Studie, in: Deutsche Heimat, Jg. 6, Leipzig 1903, S. 993–1007 u. 1041–1051.
25 MA I 376, KSA 2, 263, 31–34.
26 M 195, KSA 3, 168, 10 f.

27 FW Vorspiel, KSA 3, 353–367.


28 FW [Motto des Vierten Buches], KSA 3, 521, 3–10.
29 FW [Motto der Ausgabe 1887], KSA 3, 343.
30 FW Anhang, KSA 3, 639–651.
31 JGB 256, KSA 5, 204, 17–29.
32 JGB Aus hohen Bergen. Nachgesang, KSA 5, 241–243.
12 Sebastian Kaufmann

liches, Allzumenschliches I33 sowie das bekannte ‚Venedig-Gedicht‘ An der Brücke


stand …, das Nietzsche in Ecce homo platziert hat.34
Einen Sonderfall bilden die ‚lyrischen Einlagen‘ des Zarathustra, darunter die
Gedichte des „Zauberers“35 und des „Wanderers“,36 die allerdings nur im Pri-
vatdruck von Zarathustra IV erschienen und später in die Dionysos-Dithyramben
eingegangen sind, und das besonders prominente ‚Mitternachts-Lied‘ Oh Mensch!
Gieb Acht! aus Zarathustra III.37 Um einen Sonderfall handelt es sich bei den
Zarathustra-Gedichten deshalb, weil im Zarathustra die Grenzen zwischen lyri-
scher Dichtung und ‚philosophischer‘ Prosa vollends zerfließen und Nietzsche
selbst ganze Kapitel als dithyrambische ‚Gesänge‘ („Lieder“) Zarathustras ver-
standen wissen wollte, mithin als „Poesie“, wie er in Ecce Homo schreibt.38 Grod-
deck argumentiert vor diesem Hintergrund dafür, den ganzen Zarathustra „als
‚Gedicht‘ in Langversen“ zu verstehen.39
Sieht man einmal von der Sonderfrage nach dem poetischen Status des Zara-
thustra ab, der in unterschiedlichste Gattungstraditionen eingereiht wird, unter
anderem auch in diejenige philosophischer „Lehrgedichte“,40 so wird jedenfalls
deutlich, dass die von Nietzsche selbst publizierte Lyrik zum Großteil eingebunden
ist in Werkkontexte, in denen sie je spezifische kompositorische Funktionen erfüllt,
sei es als ,Motto‘, als „Vorspiel“, „Anhang“, „Nachgesang“ oder ‚Einlage‘ bzw.
‚Zwischenspiel‘. Nimmt man diese Gattungsmischung von Lyrik und (philosophi-
scher) Prosa als konzeptionelle Strategie ernst, erscheint die Veröffentlichung der
aus dem Kontext herausgelösten lyrischen Texte in separaten Ausgaben von Nietz-
sches Gedichten problematisch, wie schon verschiedentlich hervorgehoben wur-
de.41 Dies gilt nicht nur für den ohnehin schon im Ganzen zwischen den Gattungen
changierenden Zarathustra, vielmehr ebenso für die Prosaschriften.
Aber worin genau besteht die kompositorische Funktion der darin enthalte-
nen Gedichte? Im editorischen Nachwort zu den Dionysos-Dithyramben bestimmt
Giorgio Colli den „,architektonischen‘ Grund“ der Integration von Lyrik als die
Absicht Nietzsches, „innerhalb ausgefeilter Prosaschriften das Spielerische und

33 MA I Unter Freunden. Ein Nachspiel, KSA 2, 365 f.


34 EH Warum ich so klug bin 7, KSA 6, 291, 15–26. Vgl. hierzu auch NK 6/2, 434 f.

35 Za IV Der Zauberer 1, KSA 4, 313, 18–317, 5 u. Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371, 8–
374, 20.
36 Za IV Unter Töchtern der Wüste 2, KSA 4, 380, 26–385, 12.
37 Za III Das andere Tanzlied 3, KSA 4, 285, 20–286, 17.
38 EH Warum ich so gute Bücher schreibe 4, KSA 6, 305, 5.
39 Groddeck, „Gedichte und Sprüche“, S. 171.
40 Wuthenow, Ralph-Rainer, Nachwort: Narr und Dichter – ist das alles?, in: Nietzsche, Sämtliche
Gedichte, S. 225–244, hier S. 225.
41 Z. B. von Ziemann, Die Gedichte, S. 150; und Mayer, Nachwort, S. 175.
Lyrik und Lyriktheorie im Werk Nietzsches 13

Leichte hervorzuheben oder […] auf gefällige Weise eine gewisse Spannung zu
lockern“.42 Zumindest für jenes Prosawerk, das die meisten lyrischen Texte ent-
hält, nämlich für die Fröhliche Wissenschaft, trifft diese Beschreibung durchaus
etwas Richtiges. In Bezug auf den Titel der ganzen Schrift erläutert Nietzsche
selbst in der Vorrede, die der Neuausgabe von 1887 beigegeben wurde, die Funk-
tion der „Handvoll Lieder, welche dem Buche dies Mal beigegeben sind“ – ge-
meint sind die Lieder des Prinzen Vogelfrei –, „als etwas Thorheit, Ausgelassen-
heit, ‚fröhliche Wissenschaft‘“.43 Und schon in der Erstausgabe heißt es im
letzten Abschnitt des Zweiten Buchs, das zu einem wesentlichen Teil der Pro-
blematik der Kunst gewidmet ist, unter der Überschrift „U n s e r e l e t z t e D a n k -
b a r k e i t g e g e n d i e K u n s t “:

wir müssen unsrer Thorheit ab und zu froh werden, um unsrer Weisheit froh bleiben zu
können! Und gerade weil wir im letzten Grunde schwere und ernsthafte Menschen […] sind,
so thut uns Nichts so gut als die S c h e l m e n k a p p e : wir brauchen sie vor uns selber – wir
brauchen alle übermüthige, schwebende, tanzende, spottende, kindische und selige
Kunst,44

womit Nietzsche hier vor allem seine eigene lyrische Dichtung vor Augen hat.
Indes geht das Gemeinte weit über eine bloß stilistische Auflockerung oder Ent-
spannung hinaus, bekennt Nietzsche sich hiermit doch zur Notwendigkeit des
ästhetischen Scheins als Gegenwicht einer auf schonungslose Desillusionierung
ausgerichteten ‚strengen Wissenschaft‘, die ohne jenes Korrektiv selbstzerstöreri-
sche Konsequenzen nach sich zöge.
Zugleich handelt es sich bei dem Verhältnis von lyrischer Poesie und phi-
losophischer Prosa für Nietzsche gleichwohl auch um eine Stilfrage. So formuliert
Nietzsche in Abschnitt 92 der Fröhlichen Wissenschaft unter der Überschrift „P r o -
s a u n d P o e s i e “ folgende Beobachtung, die – obzwar vordergründig auf andere
Autoren wie Goethe, Leopardi, Mérimée, Emerson und Landor gemünzt – letztlich
selbstreflexiv gemeint ist: „Man beachte doch, dass die grossen Meister der Prosa
fast immer auch Dichter gewesen sind, sei es öffentlich, oder auch nur im
Geheimen und für das ‚Kämmerlein‘; und fürwahr, man schreibt nur i m A n g e -
s i c h t e d e r P o e s i e gute Prosa!“45 Schon durch die Gegenüberstellung von Prosa
und Poesie bzw. Dichtung wird deutlich, dass Nietzsche hier im bis zum 19. Jahr-
hundert geläufigen Sinn unter Poesie/Dichtung nicht, wie erst später üblich, die
‚schöne Literatur‘ in allen drei Gattungen (Epik, Dramatik, Lyrik), sondern noch

42 KSA 6, 455.
43 FW Vorrede 1, KSA 3, 346, 20–22.
44 FW 107, KSA 3, 464,32–465, 6.
45 FW 92, KSA 3, 447, 19–23.
14 Sebastian Kaufmann

ausschließlich die – lange als die höchste geltende – poetische Gattung der Lyrik
versteht.46 Die These lautet also, dass nur Autoren, die sich auch als Lyriker
betätigen, eine ‚geschliffene‘ Prosa zu schreiben verstehen. Ein solches an der
Lyrik orientiertes Stilideal, das Nietzsche hier für seine wie für alle Prosa aufstellt,
impliziert mithin ebenfalls auf der Ebene der sprachlichen Gestaltung – neben
derjenigen der inhaltlichen Komplementarität von literarischem Scherz und phi-
losophischem Ernst – eine notwendige Zusammengehörigkeit, ja wechselseitige
Durchdringung von Dichten und Denken, auch wenn diese andererseits in einem
spezifischen Spannungsverhältnis stehen: Nietzsche spricht von einem „ununter-
brochene[n] artige[n] Krieg“ zwischen beiden.47

3 ‚Kammer-Poesie‘. Die Bedeutung des lyrischen


Nachlasses
Dass in Abschnitt 92 der Fröhlichen Wissenschaft die „Meister der Prosa“ in solche
eingeteilt werden, die ihre habituelle Neigung zu lyrischer Produktion entweder
„öffentlich“ oder aber „im Geheimen“ kultivieren, ist ebenfalls mit Blick auf
Nietzsches eigene Lyrik bemerkenswert, gehört er selbst doch in beide Gruppen –
allerdings noch etwas mehr in die der ‚Kammer-Poeten‘. Denn neben den zwei
selbständigen Gedichtzyklen (Idyllen aus Messina und Dionysos-Dithyramben)
sowie den zahlreichen im Kontext der philosophischen Hauptwerke veröffent-
lichten Gedichten gibt es noch eine dritte Gruppe von lyrischen Texten Nietz-
sches, die zahlenmäßig sogar den deutlich größeren Anteil seiner Lyrik aus-
macht: die in Briefen, vor allem aber im sonstigen Nachlass enthaltenen
Gedichte, Gedichtentwürfe und verschiedenen Gedichtfassungen, die bis ins Jahr
1854 zurückreichen. Bereits 1858, mit 14 Jahren also, stellt Nietzsche in der auto-
biographischen Skizze Aus meinem Leben, wo er nicht weniger als drei „Perioden“
seiner bisherigen Lyrik unterscheidet, ein 46 Titel umfassendes „Verzeichniß
meiner Gedichte“ seit 1855 zusammen,48 fügt jedoch gleich hinzu, dass es sich
dabei „nicht [um] die einzigen“ handle, sondern bloß um eine „Auswahl“, die
neuere Produktionen enthalte, „aber auch von den älteren mehrere, deren ich
mich wohl noch erinnere, sie jedoch nicht mehr besitze“.49 Möglicherweise hatte

46 Zu dieser poetologischen Tradition vgl. Kaufmann, Sebastian, „Schöpft des Dichters reine
Hand …“ Studien zu Goethes poetologischer Lyrik, Heidelberg 2011, S. 476–478.
47 FW 92, KSA 3, 447, 23 f.

48 NL 1858, 4[77], KGW I/1, 307, 31.


49 NL 1858, 4[77], KGW I/1, 309, 18–20.
Lyrik und Lyriktheorie im Werk Nietzsches 15

der jugendliche Dichter bereits einige seiner früheren Werke selbst vernichtet.
Einen ausdrücklichen Hinweis auf ein (weiteres?) Autodafé gibt es später (1867),
als der 23-Jährige, der im Oktober 1865 zum Studium nach Leipzig gekommen
war, berichtet: „ich pflegte die Zeit der Selbsterkenntnis von da an bei einem
Jünglinge zu datieren, wo er seine Dichtungen in den Ofen steckt, und habe es
selbst dieser meiner Anschauung gemäß in Leipzig gemacht. Friede auch dieser
Asche!“50 Viele von Nietzsches Jugendgedichten sind demnach verloren, gleich-
wohl liegen aus der Zeit bis 1869 noch zahlreiche Gedichte vor: Anhand der
Verzeichnisse der Gedichtanfänge in BAW 1–3 ergibt sich eine Zahl von 263
„Dichtungen“, allerdings sind darunter auch Übersetzungen und versdramati-
sche Entwürfe. In KGW I/1–4, wo es keine separaten Verzeichnisse der Gedichte
gibt, lassen sich insgesamt 293 zählen; die Differenz resultiert hauptsächlich aus
anders gezogenen Textgrenzen. Bei aller Vorsicht, mit der diese Zahlen also zu
genießen sind, wird aus ihnen doch in jedem Fall die erstaunliche Produktivität
des jugendlichen Lyrikers Nietzsche ersichtlich.
Diese lyrische Produktivität brach auch später nicht ab, obzwar in den 1870er
Jahren, die dafür mehr der lyriktheoretischen Reflexion gewidmet waren, deutlich
weniger Gedichte entstanden als in der Jugendzeit und dann später wieder in den
80er Jahren. Was Nietzsche – selbständig oder im Kontext seiner Prosaschriften –
publizierte, bildet jedenfalls lediglich die Spitze des Eisbergs. Um einen ungefäh-
ren Eindruck vom Größenverhältnis zwischen der Zahl der veröffentlichten und
der nachgelassenen Gedichte Nietzsches zu vermitteln, sei nur darauf verwiesen,
dass das schon erwähnte Verzeichnis seiner lyrischen Texte seit 1869 in KSA 15,
263–271 insgesamt 427 verschiedene Gedichte bzw. Gedichtentwürfe auflistet.
Zwar befinden sich unter den zahlreichen Nachlassgedichten auch solche, die als
Varianten oder Vorstufen zu einigen der veröffentlichten Gedichte zu bezeichnen
sind, wobei in manchen Fällen gleich eine ganze Reihe von (Vor-)Fassungen
vorliegt: beispielsweise bei dem bekannten Kolumbus-Gedichts Nach neuen Mee-
ren aus den Liedern des Prinzen Vogelfrei,51 das ursprünglich Columbus novus
betitelt war52 und noch in weiteren Zwischen-Versionen erhalten ist, oder bei dem
ebenfalls im „Anhang“ zur Zweitausgabe der Fröhlichen Wissenschaft erschiene-
nen ‚Zarathustra-Gedicht‘ Sils-Maria,53 das zuerst Portofino hieß.54 Obwohl Nietz-
sche also in seinem lyrischen Schaffen – ebenso wie mit seinen philosophischen

50 NL 1867/68, 60[1], KGW I/4, 516, 28–31.


51 Vgl. FW Anhang, KSA 3, 649, 1–9. Vgl. hierzu den Beitrag von Milan Wenner im vorliegenden
Band.
52 Vgl. NL 1882, 1[101], KSA 10, 34, 3–11.
53 Vgl. FW Anhang, KSA 3, 649, 10–16.
54 Vgl. NL 1882, 3[3], KSA 10, 107, 18–108, 2.
16 Sebastian Kaufmann

Schriften – nicht selten dem Prinzip des work in progress bzw. des patchwork folgte
und mithin etliche Gedichte permanent um- und neugestaltete, enthält das Ge-
dichtverzeichnis in KSA 15 doch einen Großteil eigenständiger lyrischer Texte bzw.
Textentwürfe. Besonders reichhaltig sind solche in den Jahren 1882 (dem Entste-
hungsjahr der Idyllen und der Erstausgabe der Fröhlichen Wissenschaft), 1884 (nach
der Veröffentlichung von Zarathustra III; im Herbst dieses Jahres schreibt Nietzsche
sein bis heute prominentestes Gedicht Der Freigeist / Die Krähen schrei’n …55) und
1888 (der Zeit der Druckvorbereitung der Dionysos-Dithyramben) verfasst worden.
Darunter finden sich auch Entwürfe zu weiteren umfänglichen Gedichtzyklen wie
etwa einem „Lieder und Sinnsprüche“ enthaltenden „NARREN-BUCH“,56 dessen
Titel auf die für den mittleren und späten Nietzsche – auf je verschiedene Weise –
charakteristische Verbindung von Narr und Dichter verweist.

4 „Nur Narr! Nur Dichter!“ Spannungsverhältnisse


zwischen Poesie und Philosophie
Dass Nietzsche den deutlich überwiegenden Teil seiner Gedichte zurückhielt bzw.
über die Projektierung von lyrischen Großzyklen kaum hinausgelangte, mag auch
mit der recht ambivalenten Selbsteinschätzung seines lyrischen Talents zusam-
menhängen. Diese Ambivalenz zieht sich durch seine gesamte Schaffenszeit hin-
durch. Anfang der 1870er Jahre sah Nietzsche für sich noch eine Alternative
zwischen der begonnenen Philosophen- und einer möglichen Dichterexistenz,
wobei er sich noch keineswegs sicher war, was von beidem aus ihm werden
würde. Entsprechend schreibt er etwa am 29. März 1871 an den Freund Erwin
Rohde: „So lebe ich mich allmählich in mein Philosophenthum hinein und glaube
bereits an mich; ja wenn ich noch zum Dichter werden sollte, so bin ich selbst
hierauf gefaßt. Einen Kompaß der Erkenntniß, wozu ich bestimmt sei, besitze ich
ganz und gar nicht“.57 Bereits anderthalb Jahre später scheint Nietzsche jedoch
gemeint zu haben, einen solchen „Kompaß“ endlich zu besitzen. So erklärt er in
einem Brief vom November 1872 an Hugo von Senger, „daß ich weder Musiker
noch Dichter bin“ und verweist stattdessen entschieden auf „meine Eigenschaft
als Philosoph“.58 Tatsächlich wendet sich Nietzsche im folgenden Jahrzehnt – mit
Ausnahme etwa des lyrisch ertragreichen Sommers 1877, in dem die (noch titello-

55 Vgl. NL 1884, 28[64], KSA 11, 329, 1–330, 9.


56 NL 1882, 20[1], KSA 9, 680, 1 f. Vgl. hierzu Groddeck, „Gedichte und Sprüche“, S. 175 f.
   

57 KSB 3, Nr. 130, S. 190, Z. 45–49.


58 KSB 4, Nr. 273, S. 87, Z. 7–11.
Lyrik und Lyriktheorie im Werk Nietzsches 17

sen) Erstfassungen der bekannten Rosenlauibad-Gedichte Im deutschen Novem-


ber59 und Am Gletscher60 entstehen – verstärkt der philosophischen Schriftstel-
lerei zu und beschränkt seine poetische Produktion auf einige Widmungsgedichte
und Gelegenheitsverse.
Nahezu schlagartig ändert sich dies indes wieder ab Ende 1881/Anfang 1882;
im unmittelbaren Vorfeld bzw. Umkreis der Arbeit an den Idyllen aus Messina und
der Fröhlichen Wissenschaft entstehen in relativ kurzer Zeitspanne (bis Sommer
1882) außerordentlich viele Gedichte und Gedichtentwürfe, die nur zum Teil in
jene beiden Werke einfließen. Schon in dieser Zeit bezeichnet sich Nietzsche in
Briefen an seine Familie und Freunde erneut explizit, wenn auch bisweilen nicht
ohne Selbstironie als „Dichter“. Dasselbe gilt für sein Selbstverständnis als Autor
des Zarathustra, dessen erste Konzeption ja ebenfalls in jene Schaffensphase
zurückreicht. Nietzsche selbst betrachtete den Zarathustra – keineswegs nur im
Blick auf die lyrischen ‚Einlagen‘ – als ein großes ‚Gedicht‘, wie beispielsweise
aus dem Brief an Erwin Rohde vom 22. Februar 1884 hervorgeht, in dem im Zuge
einer Charakterisierung des poetischen Zarathustra-Stils uneingeschränkter An-
spruch auf den Titel „Dichter“ erhoben wird:

Mein Stil ist ein T a n z ; ein Spiel der Symmetrien aller Art und ein Überspringen und
Verspotten dieser Symmetrien. Das geht bis in die Wahl der Vokale. […] Übrigens bin ich
D i c h t e r bis zu jeder Grenze dieses Begriffs geblieben, ob ich mich schon tüchtig mit dem
Gegentheil aller Dichterei t y r a n n i s i r t habe.61

Kommt in dieser Äußerung, welche die Philosophie zur Gegenspielerin der Dich-
tung erklärt und die Beschäftigung mit jener geradezu als masochistische Selbst-
quälerei erscheinen lässt, die bereits in Abschnitt 92 der Fröhlichen Wissenschaft
zur Sprache gebrachte fruchtbare Feindschaft zwischen philosophischer Prosa
und lyrischer Poesie in einer neuen Variante abermals zum Ausdruck, so neigt
Nietzsche wenig später gar dazu, im Rückblick die Lyrik als das bessere, ihm
angemessenere Ausdrucksmedium zu bevorzugen. Bekannt sind die Worte, mit
denen er gegen Ende seines Versuchs einer Selbstkritik in der Neuausgabe der
Geburt der Tragödie 1886 bedauert, in seiner Erstlingsschrift nicht als ‚Sänger‘
aufgetreten zu sein: „Sie hätte s i n g e n sollen, diese ‚neue Seele‘ – und nicht
reden! Wie schade, dass ich, was ich damals zu sagen hatte, es nicht als Dichter
zu sagen wagte: ich hätte es vielleicht gekonnt!“62

59 NL 1877, 22 [93], KSA 8, 395, 16–396, 10.


60 NL 1877, 22[94], KSA 8, 396, 11–397, 21.
61 KSB 6, Nr. 490, S. 479 f.

62 GT Versuch einer Selbstkritik 3, KSA 1, 15, 9–12.


18 Sebastian Kaufmann

Diese Formulierung, die Stefan George nicht von ungefähr am Schluss seines
Nietzsche-Gedichts aus dem Jahr 1900 (Erstdruck 1901) in leicht abgewandelter
Form zitiert, scheint zu zeigen, dass für Nietzsche schließlich die Poesie als
Siegerin aus dem „Krieg“ mit der Prosa hervorgegangen ist, er sich in der letzten
Phase seines Schaffens mehr zur Lyrik und weniger zur Philosophie hingezogen
fühlte. Doch dies griffe zu kurz. Vielmehr bleibt die Ambivalenz in Nietzsches
Selbsteinschätzung als Lyriker bis zum Schluss bestehen. Dass eines der letzten
von ihm selbst für den Druck vorbereiteten Werke die Dionysos-Dithyramben
waren, spricht nicht etwa dagegen, sondern durchaus dafür. Denn paradoxer-
weise enthält die poetologische Selbstreflexion, die gleich für das erste Gedicht
mit dem programmatischen Titel Nur Narr! Nur Dichter! konstitutiv ist, eine merk-
liche Abwertung der Dichtung. Anders als noch in der Fröhlichen Wissenschaft
und im Umkreis dieser Schrift erscheint das dichterische Narrentum hier nicht
mehr positiv als nötiges Gegengewicht der philosophischen ‚Wissenschaft‘; statt-
dessen versperrt es den Zugang zu einer „Wahrheit“, als deren „Freier“ sich das
lyrische Ich doch verstehen will.63 Dagegen baue der Dichter lediglich „lügneri-
sche[ ] Wortbrücken“64 und sei bestenfalls zu der Einsicht fähig, dass er „v e r -
b a n n t s e i / v o n a l l e r W a h r h e i t !“65 Dass bereits im Gedichttitel – und dann
auch mehrfach im Gedicht selbst – epanaleptisch exponierte „Nur“ hat demnach
eine degradierende Funktion: Der dem bunten Schein verhaftete Dichter bzw.
Lyriker wird nunmehr, wie ähnlich schon im Zarathustra-Kapitel „Von den Dich-
tern“, unter den wahrheitssuchenden Denker herabgesetzt. Zu einer gewissen
Spannung zwischen Gehalt und Form kommt es dabei freilich, insofern diese –
den alten platonischen Vorwurf variierende – Dichtungskritik ihrerseits im Medi-
um der Lyrik vorgetragen wird.
Doch beschränkt sich Nietzsches Dichtungs- bzw. Lyriktheorie keineswegs
auf selbstbezügliche Aussagen bzw. auf die immanente Poetologie seiner Gedich-
te, sondern greift innerhalb seines Werks von früh an viel genereller Raum.
Gerade auch zu seiner Philosophie gehört wesentlich die ästhetisch-poetologi-
sche Reflexion, insbesondere auf die lyrische Gattung. Dabei zeichnet sich, neben
manchen konzeptionellen Verschiebungen, eine bemerkenswerte Kontinuität ab,
die das Frühwerk mit dem Spätwerk verbindet: die (traditionsreiche) Assoziation
von Lyrik und Musik,66 die wahrscheinlich auch damit zusammenhängt, dass der
junge Nietzsche viele lyrische Dichtungen zuerst über Vertonungen von Kom-
ponisten wie Franz Schubert oder Robert Schumann kennenlernte. Den Leit-

63 DD Nur Narr! Nur Dichter!, KSA 6, 378, 12.


64 DD Nur Narr! Nur Dichter!, KSA 6, 378, 7.
65 DD Nur Narr! Nur Dichter!, KSA 6, 380, 19 f.

66 Vgl. dazu u. a. Riedel, Freilichtgedanken, S. 16–20.



Lyrik und Lyriktheorie im Werk Nietzsches 19

gedanken von der engen Verbindung zwischen beiden Künsten entwickelte Nietz-
sche theoretisch jedenfalls bereits im Rahmen seiner philologischen Arbeit wäh-
rend der Zeit der Basler Professur. In seiner zum ersten Mal im Sommer 1869 und
bis zum Winter 1874/75 mehrfach gehaltenen Vorlesung Die griechischen Lyriker
hebt Nietzsche in diesem Sinne die ursprüngliche Einheit von Lyrik und Musik in
der Antike hervor und spricht von der Tonkunst als der „natürlichen Stütze“67 der
griechischen Lieddichtung, was in der modernen Lyrik leider nicht mehr der Fall
sei.
In den Kapiteln 5 und 6 der Geburt der Tragödie führt er diese These anhand
des hier zum ‚Urbild‘ des Lyrikers stilisierten Archilochos (7. Jh. v. Chr.), der auch
schon in der Vorlesung behandelt wurde, weiter aus. Archilochos tritt dabei als
der erste „dionysisch-apollinische[ ] Genius“68 auf, der somit die von Nietzsche
behauptete Synthese des Dionysischen und Apollinischen in der attischen Tragö-
die auf dem Gebiet der Lyrik antizipiert. Zugleich soll Archilochos, der primär
rauschhaft-musikalischer, also dionysischer Genius – und erst an zweiter Stelle
auch traumhaft-bildnerischer, also apollinischer Genius – sei, „das wichtigste
Phänomen der ganzen antiken Lyrik“ repräsentieren, nämlich die „als natürlich
geltende Vereinigung, ja Identität d e s L y r i k e r s mit d e m M u s i k e r “ – und
damit ebenfalls „den Lyriker“ schlechthin.69 Über „den Lyriker“, wie ihn Archilo-
chos idealtypisch verkörpere, hält Nietzsche fest:

Er ist zuerst, als dionysischer Künstler, gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und
Widerspruch, eins geworden und producirt das Abbild dieses Ur-Einen als Musik […]; jetzt
aber wird diese Musik ihm wieder wie in einem gleichnissartigen Traumbilde, unter der
apollinischen Traumeinwirkung sichtbar. […] Die dionysisch-musikalische Verzauberung
[…] sprüht jetzt gleichsam Bilderfunken um sich, lyrische Gedichte, die in ihrer höchsten
Entfaltung Tragödien und dramatische Dithyramben heissen.70

Aufgrund dieser primären Einheit des Lyrikers mit dem Ur-Einen weist Nietzsche
die auf Hegel zurückgehende Auffassung, in der Lyrik äußere sich die Subjektivi-
tät des Dichters, scharf zurück. Das ‚lyrische Ich‘ sei kein konkretes Subjekt,
sondern vielmehr die „ewige, im Grunde der Dinge ruhende Ichheit“,71 der „Welt-
genius“,72 den Nietzsche im Anschluss an Schopenhauers Ästhetik auch als

67 KGW II/2, 107.


68 GT 5, KSA 1, 42, 15 f.

69 GT 5, KSA 1, 43, 27–33.


70 GT 5, KSA 1, 43, 33–44, 26.
71 GT 5, KSA 1, 45, 12.
72 GT 5, KSA 1, 45, 26.
20 Sebastian Kaufmann

„reines ungetrübtes Sonnenauge“ bezeichnet, das „völlig losgelöst von der Gier
des Willens“ ist.73
Im Zusammenhang mit dem Theorem von der Geburt der Lyrik aus dem Geist
der Musik setzt der frühe Nietzsche die Lyrik überhaupt mit dem Volkslied gleich,
da die „Melodie“ gegenüber dem Text als „das bei weitem wichtigere und noth-
wendigere in der naiven Schätzung des Volkes“74 erscheine. Die Texte seien
dagegen, wie bezeichnenderweise am romantischen Beispiel von Achim von
Arnims und Clemens Brentanos Sammlung Des Knaben Wunderhorn (1805–1808)
dargelegt wird, nur die „Bilderfunken“, welche die Melodie um sich „sprüht“.75
Insofern gilt Archilochos für Nietzsche nicht nur als Begründer der Lyrik, sondern
in eins damit als Begründer des Volkslieds:

In der Dichtung des Volksliedes sehen wir also die Sprache auf das Stärkste angespannt,
d i e M u s i k n a c h z u a h m e n : deshalb beginnt mit Archilochus eine neue Welt der Poesie,
die der homerischen in ihrem tiefsten Grunde widerspricht. Hiermit haben wir das einzig
möglich Verhältniss zwischen Poesie und Musik, Wort und Ton bezeichnet: das Wort, das
Bild, der Begriff sucht einen der Musik analogen Ausdruck und erleidet jetzt die Gewalt der
Musik an sich.76

Diese auf der Assoziation, ja Identifikation von Lyrik und Musik basierende
Fokussierung auf das – vermeintliche – Volkslied, zeigt sich auch in Nietzsches
eigener früher Lyrik, die zu einem großen Teil den sogenannten Volkston un-
gebrochen imitiert (parodistische Adaptionen finden sich erst später, so auch in
den Idyllen aus Messina).
Obgleich Nietzsche seine willensmetaphysisch grundierte Poetologie des
Volkslieds recht bald aufgab, hielt er doch fortan an seiner Grundthese einer
engen Verbindung von Lyrik und Musik fest; noch die späte Hinwendung zur
Praxis dithyrambischen Dichtens in den Dionysos-Dithyramben ist in diesem Kon-
text zu sehen, auch wenn es sicherlich zu weit geht wie Alexander Nebrig zu
sagen, Nietzsche ziehe damit die dichtungspraktische „Konsequenz aus der in Die
Geburt der Tragödie formulierten Dichtungstheorie“.77 Jedenfalls bleibt für Nietz-
sche weit über Die Geburt der Tragödie hinaus die Ansicht leitend, dass die
poetische Gattung der Musik engverwandt ist. Zwar formuliert er nirgends mehr

73 GT 6, KSA 1, 51, 16 f. 

74 GT 6, KSA 1, 48, 30 f.  

75 GT 6, KSA 1, 49, 6 f.

76 GT 6, KSA 1, 49, 14–21.


77 Nebrig, Alexander, Nietzsches Dichterbild und die Wiederbelebung des Dithyrambus durch die
Philologie, in: Dehrmann, Mark-Georg / Nebrig, Alexander (Hrsg.), Poeta philologus. Eine Schwel-
lenfigur im 19. Jahrhundert, Bern 2010, S. 219–242, hier S. 238.
Lyrik und Lyriktheorie im Werk Nietzsches 21

eine zusammenhängende, ausführlichere Lyriktheorie, sondern äußert sich nur


sporadisch zu lyriktheoretischen Fragen. Gleichwohl kommt er immer wieder,
allerdings unter veränderten Vorzeichen, auf den Aspekt der Musikalität zurück,
etwa in Abschnitt 84 der Fröhlichen Wissenschaft, der unter der Überschrift „V o m
U r s p r u n g e d e r P o e s i e “ auf die bezwingende Wirkung von „Rhythmus“78,
„Tact[ ]“79 und „Melos“80 abhebt, oder in der Götzen-Dämmerung, wo es heißt:
„Der Lyriker blieb am längsten mit dem Musiker geeint“.81 Selbst im Hinblick auf
die Lyrik Heines, der beim späten Nietzsche die (freilich gewandelte) Vorbild-
Rolle einnimmt, die beim frühen der ‚Urlyriker‘ Archilochos innehatte, lobt er in
Ecce Homo nicht nur und nicht zuerst „jene göttliche Bosheit, ohne die ich mir
das Vollkommne nicht zu denken vermag“, sondern zuvörderst die unvergleichli-
che Musikalität: „Den höchsten Begriff vom Lyriker hat mir H e i n r i c h H e i n e
gegeben. Ich suche umsonst in allen Reichen der Jahrtausende nach einer gleich
süssen und leidenschaftlichen Musik.“82 Wie weit dabei die Identifikation Nietz-
sches mit dem musikalischen Lyriker Heine reicht, verrät die anschließende Pro-
phezeiung: „Man wird einmal sagen, dass Heine und ich bei weitem die ersten
[d. h. erstrangigen] Artisten der deutschen Sprache gewesen sind“.83

5 Lieder, Sprüche, Dithyramben. Zum


Formenspektrum von Nietzsches Lyrik
Musikalität, Boshaftigkeit, Sprachartistik – mit dieser kategorialen Trias charakte-
risiert Nietzsche mithin nicht nur Heine, sondern genauso sehr sich selbst, auch
und gerade als Lyriker. In gewisser Weise entspricht dieses dreidimensionale
Lyrik- bzw. Selbstverständnis den drei Gedichtformen, in denen sich der Lyriker
Nietzsche vor allem hervorgetan hat: „Lied, Spruch und Hymnus“.84 Dabei kann
man mit aller gebotenen Vorsicht gegenüber vorschnellen Generalisierungen von
einer Entwicklung seiner Lyrik sprechen, die mit einem entsprechenden Wandel
dieser drei Formen einhergeht:85 Während die Jugendlyrik Ende der 1850er, An-

78 FW 84, KSA 3, 440, 22.


79 FW 84, KSA 3, 440, 25.
80 FW 84, KSA 3, 441, 13.
81 GD Streifzüge eines Unzeitgemäßen 11, KSA 6, 118, 23 f.

82 EH Warum ich so klug bin 4, KSA 6, 286, 14–16.


83 EH Warum ich so klug bin 4, KSA 6, 286, 21–23.
84 Meyer, Theo, Nietzsche. Kunstauffassung und Lebensbegriff, Tübingen 1991, S. 386.
85 Vgl. hierzu bereits Peter Pütz, Friedrich Nietzsche, Stuttgart 1967, 51–56.
22 Sebastian Kaufmann

fang der 60er Jahre zum großen Teil noch recht konventionell, ja epigonal – abge-
sehen von wenigen originelleren Texten wie dem 1864 entstandenen Gedicht Dem
unbekannten Gott / Noch einmal eh ich weiter ziehe …86 – den ‚volkstümlichen‘ Ton
früher Goethe’scher und vor allem romantischer Lieddichtung à la Eichendorff
oder Lenau nachahmt, wendet sich der ‚mittlere‘ Nietzsche verstärkt der spöttisch-
zugespitzten Spruchdichtung zu, allerdings ohne die Lieddichtung aufzugeben.
Doch letztere entfernt sich merklich von der Imitation romantischer Stimmungs-
lyrik und weist nunmehr auch (selbst)ironische, satirische und parodistische
Merkmale auf. Parallel zu den oftmals bissigen Sinnsprüchen des „Vorspiels“ zur
Fröhlichen Wissenschaft, die Nietzsche bald als „weise Reime in altdeutscher
Manier“,87 bald als „Epigramme[ ] in V e r s e n “88 bezeichnet, entstehen zahlreiche
Texte, die Nietzsche selbst als „Lieder“ klassifizierte, darunter im Frühjahr 1882 der
weitgehend liedhafte Zyklus Idyllen aus Messina. Das Nebeneinander von ‚musika-
lischen‘ Liedern und witzig-‚boshaften‘ Sinnsprüchen reflektiert ein viel-, meist
aber unvollständig zitiertes poetologisches Gedicht aus dieser Zeit auf ironische
Weise unter dem programmatischen Titel Lieder und Sinnsprüche:89

Takt als Anfang, Reim als Endung


und als Seele stets Musik:
solch ein göttliches Gequiek
nennt man Lied. Mit kürzrer Wendung,
Lied heißt: „Worte als Musik“.

Sinnspruch hat ein neu Gebiet:


er kann spotten, schwärmen, springen,
niemals kann der Sinnspruch singen;
Sinnspruch heißt: „Sinn ohne Lied“. –

Darf ich euch von Beidem bringen?

Mit diesem Gedicht, das seinerseits schon lied- und sinnspruchhafte Elemente
vereinigt, charakterisiert Nietzsche in der rhetorischen Frageform einer Leser-
ansprache die beiden Hauptgebiete seiner damaligen Lyrik und bringt deren
Zusammenhang gemäß seinem dichterischen Selbstverständnis pointiert zum
Ausdruck. Zeigt sich hieran bereits, dass trotz der ausgestellten Gegensätzlichkeit
beider Dichtarten, des musikalischen Liedes und des boshaft-spöttischen Sinn-

86 Vgl. NL 1864, 17[14], KGW I/3, 391. Vgl. hierzu den Beitrag zur Jugendlyrik von Armin Thomas
Müller im vorliegenden Band.
87 Postkarte an Franziska und Elisabeth Nietzsche, 01. 04. 1882, KSB 6, Nr. 219, S. 188, Z. 3 f.

88 Postkarte an Ernst Schmeitzner, 08. 05. 1882, KSB 6, Nr. 224, S. 191, Z. 13 f.

89 NL 1882,19[13], KSA 9, 679, 1–11.


Lyrik und Lyriktheorie im Werk Nietzsches 23

spruchs, sehr wohl Mischformen möglich und von Nietzsche auch durchaus
intendiert sind, so gilt dies nicht minder für seine späteren freirhythmischen
Hymnen, in denen der Aspekt der Sprachartistik im Vordergrund steht wie in
lyrischen Texten aus dem Zarathustra und vollends in den Dionysos-Dithyramben
sowie nachgelassenen Versen der späten 1880er Jahre. In Nietzsches Werk sind
generell Überschneidungen zwischen liedhafter, spruchhafter und hymnischer
Lyrik möglich, so dass etwa auch hymnische bzw. ‚dithyrambische‘ Gedichte, wie
sie vermehrt in der letzten Schaffensphase entstehen, als – wenngleich kaum
sangbare – „Lieder“ firmieren und bisweilen ebenfalls sentenziös-prägnante
Formulierungen nach der Art geschliffener Sinnsprüche enthalten.90 Umgekehrt
weist auch Nietzsches liedhafte Lyrik bisweilen nicht nur sinnspruchartige, son-
dern genauso sehr hymnische Elemente auf. Dies gilt nicht zuletzt für die Idyllen
aus Messina, etwa für das Gedicht Vogel Albatross, in dem Nietzsche eine pathos-
geladene Erhebungsmetaphorik entfaltet, deren virtuose sprachliche Gestaltung
in Ansätzen bereits auf die Dionysos-Dithyramben vorausweist.91
Letztlich beschränkt sich diese Neigung zum Gattungs- oder Formensynkretis-
mus aber keineswegs auf Nietzsches lyrisches Schaffen; vielmehr betrifft sie, wie
bereits angedeutet, grundsätzlich das Verhältnis zwischen Literatur bzw. Lyrik
und Philosophie, die in seinem Gesamtwerk in enger Wechselwirkung stehen.
Letztere reicht über die rahmende oder auflockernde Einlagerung von Gedichten
in die philosophischen Schriften weit hinaus; so wie Nietzsches philosophische
Prosa auf weiten Strecken literarisch („im Angesicht der Poesie“) verfasst ist, so
erweist sich seine ‚reife‘ Lyrik häufig als philosophische Dichtung. Obgleich auf-
grund des ästhetischen Eigenwerts der Gedichte nicht einfach von versifizierter
Philosophie gesprochen werden kann, ergeben sich doch zahlreiche inhaltliche
Verbindungen zwischen lyrischer Rede und philosophischer Reflexion. Insofern
ist Theo Meyer grosso modo zuzustimmen, wenn er festhält: „Nietzsches Lyrik ist
philosophische Lyrik bzw. lyrische Philosophie.“92 Über die gedichtimmanente,
metapoetische Verhandlung der Beziehung zwischen Dichtung und Philosophie
unter dem Gesichtspunkt von Lüge/Schein vs. Wahrheit hinaus schließt dies
etliche andere, nicht-ästhetische Aspekte von Nietzsches Philosophie mit ein,
etwa das Konzept des ‚freien Geistes‘, die Religions- und Kirchenkritik, das Ver-
hältnis der Geschlechter und vieles mehr. Für die Interpretation von Nietzsches
Lyrik folgt daraus, dass diese thematischen Korrespondenzen zwischen den Ge-
dichten und der Philosophie Nietzsches jeweils zu berücksichtigen sind.

90 Vgl. hierzu bereits Bertram, Ernst, Nietzsche. Versuch einer Mythologie, 8., aus dem Nachlaß
ergänzte Auflage mit einem Nachwort von Hartmut Buchner, Bonn 1965, S. 232–236.
91 Vgl. den Stellenkommentar zu IM Vogel Albatross, KSA 3, 341, 23 in NK 3/1, 536.
92 Meyer, Nietzsche, S. 402.
Armin Thomas Müller
Nietzsches Jugendlyrik am Beispiel des
Gedichtzyklus In der Ferne

Abstract: Nietzsche’s adolescent poetry based on his cycle of poems In der


Ferne. Although his adolescent poetry forms a main part of Nietzsche’s literary
remains from the period between 1852 and 1864, it has been given little attention
in research so far. The article first provides general information about the publica-
tion history and the style and themes of the poems, which mostly confine to
canonical German lyric around 1850 (mainly Classicism and Romanticism). Poin-
ting to the later work as well, emphasis is then laid on the thematic focus of
Nietzsche’s adolescent poetry being constituted by the motifs of loneliness and
homelessness. Finally, the general observations are specified by analysing the
cycle of poems In der Ferne from 1860 which is discussed for the first time in detail
here.

1 Hinführung
Nietzsches lyrische Juvenilia sind nicht nur kulturgeschichtlich von Interesse,
weil sie einen Großteil des umfangreichen frühen Nachlasses einer bedeutenden
Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts darstellen, sondern auch, weil sie – ungeach-
tet ihrer wiederholt bemängelten künstlerischen Qualität1 – Einblicke in Nietz-

1 Für Johannes Klein verrät „unter den Jugendgedichten […] nur e i n e s und gerade das letzte
eine besondere Begabung“ (Klein, Johannes, Die Dichtung Nietzsches, München 1936, S. 38;
gemeint ist das Gedicht Noch einmal eh ich weiter ziehe …, NL 1864, 17[14], KGW I/3, 391). Theo
Meyer sieht sie „angefüllt mit sprachlichen Klischees, stereotypen Bildern und floskelhaften
Wendungen“; ihnen fehle „künstlerische Originalität und Qualität“, kurz: sie seien „schablonier-
te Gefühlspoesie“ (Meyer, Theo, Nietzsche. Kunstauffassung und Lebensbegriff, Tübingen 1991,
S. 404). Der junge Nietzsche hegt selbst Zweifel an seinen poetischen Fähigkeiten und reflektiert
diese in Gedichten; vgl. hierzu die erste Strophe eines Neujahrsgedichts: „Wollt auch hohe /
Lieder dir bringen / Voll von Begeistrung / S’will nicht gelingen“ (NL 1858/59, 5[34], KGW I/2, 27,
2–5). Auch sein poetologisch-satirisches Sonnet (NL 1862/63, 14[34], KGW I/3, 75 f.) ist in diesem

Zusammenhang ein lesenswertes Zeugnis. Hermann Josef Schmidt hingegen äußert sich wieder-
holt positiv über die Qualität der Lyrik. Schon die frühesten erhaltenen Gedichte lobt er als „z.T.
recht originelle[ ] und pfiffige[ ] Knittelverse“ (Schmidt, Hermann Josef, Nietzsche absconditus
oder Spurenlesen bei Nietzsche. I. Kindheit, 2 Bde., 2. Aufl., Berlin / Aschaffenburg 1991, Bd. 1,
S. 175). – Es sei darauf hingewiesen, dass die Manuskripte des jungen Nietzsche signifikante

DOI 10.1515/9783110474374-003
26 Armin Thomas Müller

sches frühe Gedanken- und Gefühlswelt gewähren und gewissermaßen die Keim-
zelle seines späteren Werks bilden.2 Tatsächlich finden sich viele Grundzüge, die
das Werk des Erwachsenen charakterisieren, schon in den Versen des Heran-
wachsenden angelegt. Wesentlich sind dabei die Motive Einsamkeit und Heimat-
losigkeit, die von den frühesten Versuchen an3 über die ‚Freigeist‘-Metaphorik der
‚mittleren Phase‘ bis hin zu den Dionysos-Dithyramben präsent sind.4 Dieser Leit-
thematik gilt in dem folgenden Überblick über die Jugendlyrik Nietzsches daher
ein besonderes Augenmerk. Darüber hinaus sollen die editorische Situation, der
Stil sowie zentrale Themen vorgestellt werden. Daran schließen sich exempla-
risch detaillierte Textbeobachtungen zu dem fünf Gedichte umfassenden Zyklus
In der Ferne aus dem Jahr 1860 an.
In dem Fünfzeiler Jugendschriften, der Nummer 36 aus dem Vorspiel zur
Fröhlichen Wissenschaft, distanziert sich das lyrische Ich, das hier auf den empiri-
schen Autor Nietzsche verweist, von seinen „ersten fünf Büchlein“,5 wie es im
Titel einer früheren Fassung des Textes aus einem Brief an Paul Rée vom Septem-
ber 1879 heißt. Angespielt wird auf das unter dem geistigen Einfluss Wagners und
Schopenhauers entstandene Frühwerk, das die Geburt der Tragödie sowie die vier
Unzeitgemäßen Betrachtungen umfasst:

Meiner Weisheit A und O


Klang mir hier: was hört’ ich doch!
Jetzo klingt mir’s nicht mehr so,
Nur das ew’ge Ah! und Oh!
Meiner Jugend hör ich noch.6

Das mit der Werk-Biografie des Autors kokettierende Ich bemängelt ‚selbstiro-
nisch‘ das einseitige Pathos seiner frühen Schriften. Entsprechend vermisst es
auch im „Versuch einer Selbstkritik“ zur Geburt der Tragödie aus dem Jahr 1886
das Lachen als „die Kunst des d i e s s e i t i g e n Trostes“.7

Rechtschreib- und Ausdrucksfehler aufweisen, die KGW I aus Gründen philologischer Genau-
igkeit übernimmt. Damit halte ich es genauso.
2 Vgl. Figl, Johann, Edition des Frühen Nachlasses Friedrich Nietzsches – grundsätzliche Perspek-
tiven, in: Nietzscheforschung, Jg. 1, Berlin 1994, S. 161–168, hier S. 167.
3 Der ungefähr Zehnjährige dichtet schon: „Dort auf jener Felsenspitze / Dort da ist mein
Lieblingssitz. –“ (NL 1854–56, 1[4], KGW I/1, 6, 2 f.).

4 Vgl. auch Grundlehner, Philip, The Poetry of Friedrich Nietzsche, New York / Oxford 1986, S. 6.
5 KSB 5, Nr. 879, S. 440, Z. 19.
6 FW Vorspiel 36, KSA 3, 361, 19–15.
7 GT Versuch einer Selbstkritik 7, KSA 1, 22, 7.
Nietzsches Jugendlyrik am Beispiel des Gedichtzyklus In der Ferne 27

Diese Selbstriktik ließe sich auch auf Nietzsches lyrische Juvenilia aus den 15
Jahren zwischen 1854 und 1869 beziehen.8 Vor allem die reiche Menge an Gedich-
ten, die aus der Zeit bis 1864 erhalten ist, präsentiert einen frühreifen und melan-
cholischen Heranwachsenden, der versucht, familiäre Trauerfälle und mehrfache
Ortswechsel sowie damit in Verbindung stehende Fremdheits- und Andersartig-
keitsgefühle dichterisch zu verarbeiten.9 Dementsprechend konstatierte schon
Johannes Klein „einen gewissen Hang zur Traurigkeit […] sowie eine auffallende
Weichheit“ in Nietzsches Jugendlyrik.10 Diese orientiert sich an den damals kano-
nischen Dichtern: Karl Pestalozzi nennt „Brentano, Eichendorff, Heine, Goethe,
Platen, Lenau, Rückert“ und weitere als Vorbilder.11 Namentlich die spätroman-
tisch-epigonale Lyrik Eichendorffs, die Nietzsche wahrscheinlich über die zahl-
reichen Vertonungen Mendelssohn Bartholdys und Schumanns zunächst aus
zweiter Hand kannte,12 ist in seinen naturlyrischen Versuchen präsent. Damit eng
verbunden ist die problematische Religiosität des jungen Nietzsche, die sowohl
erbaulich als auch zweifelnd in seine Dichtung einfließt.13 Diesem ‚sentimentalen‘
Bereich steht eine selbstbewusste Rezeption der Weimarer Klassiker gegenüber,
die wiederum eine Beschäftigung mit der antiken Literatur einschließt.14 Nietz-
sches Dichtung trägt damit schon in Jugendjahren dichotomische Züge. Gegen die

8 Vgl. auch Meyer, Nietzsche, S. 403.


9 Eine „Liste“ der prägenden Zumutungen und Schicksalsschläge aus Nietzsches Röckener
Kindheit bringt Schmidt, Nietzsche absconditus I, Bd. 2, S. 855–858.
10 Klein, Die Dichtung Nietzsches, S. 31.
11 Pestalozzi, Karl, Nietzsches Gedicht „Noch einmal eh ich weiter ziehe …“ auf dem Hintergrund
seiner Jugendlyrik, in: Nietzsche-Studien, Jg. 13, Berlin / New York 1984, S. 101–110, hier S. 102.
12 Vgl. Ziemann, Rüdiger, Abschiede – Zu zwei Jugendgedichten Nietzsches, in: Nietzsche-
forschung, Bd. 1, Berlin 1994, S. 181–189, hier S. 185 f. Zum möglichen Einfluss Clemens Brentanos

auf den jungen Nietzsche vgl. ebenfalls Ziemann, Rüdiger, Das liebe ewge Leben – Zur Brentano-
Lektüre des jungen Nietzsche, in: Nietzscheforschung, Jg. 1, Berlin 1994, S. 335–350.
13 Vgl. die Gedichte Abendläuten (NL 1859, 6[18], KGW I/2, 53 f.) und Vor dem Crucifix (NL 1863,

15[1], KGW I/3, 109–112).


14 Ziemann, Abschiede, S. 184, zeigt mit Blick auf Nietzsches gleichbetitelte Nachformung des
Schiller-Gedichts Hektors Abschied (vgl. Hecktors Abschied (nach Homer), NL 1858, 4[53], KGW I/1,
261 f.), wie der junge Poet es „unternimmt, Schillers Gedicht gleichsam von seinen Unvollkom-

menheiten zu befreien.“ Zur Übernahme „der Hymnik Goethes“ siehe ebenfalls Ziemann, Rüdiger,
Der Halb-Unsinn und das Ewig-Närrische. Goethes Gegenwart in Gedichten Nietzsches, in: Kjaer,
Jørgen (Hrsg.), Nietzsche im Netze. Nietzsches Lyrik, Ästhetik und Kindheit im deutsch-dänischen
Dialog, Aarhus 1997, S. 39–59, hier S. 39. – Auf diverse Dramenfragmente, die der junge Nietzsche
hinterlassen hat, kann aus räumlichen Gründen nicht weiter eingegangen werden. Generell lässt
sich aber konstatieren, dass sie eng mit dem ‚klassisch-griechischen‘ Einflussbereich zusammen-
hängen. Nietzsches Entwürfe zu einem Prometheus-Drama seien als prägnantes Beispiel genannt
(vgl. NL 1859, 6[2]–6[7], KGW I/2, 36–51).
28 Armin Thomas Müller

Annahme einer reinen „imitatio-Poetik“, wie Pestalozzi sie dem jungen Nietzsche
attestiert,15 sprechen indes sowohl poetologische Selbstaussagen16 als auch die
enge Verbindung von Leben und Werk, die Hermann Josef Schmidt umfassend
dargestellt hat.17 Die Übernahme von formelhaften Elementen dient eigenen Aus-
druckszwecken des jugendlichen Dichters.18

2 Editorische Situation
Ausgewählte Jugendgedichte wurden bereits zu Nietzsches Lebzeiten veröffent-
licht: Die Literaturzeitschrift Pan druckte 1897 fünf Gedichte,19 in der 1898 er-
schienenen Sammlung der Schwester Elisabeth nehmen die Juvenilia stolze 44
Seiten ein.20 Auch die jüngste, von Mathias Mayer herausgegebene Ausgabe
enthält immerhin 14 Jugendgedichte,21 während die sogenannte ‚Feldauswahl‘

15 Pestalozzi, Nietzsches Gedicht „Noch einmal eh ich weiter ziehe …“ auf dem Hintergrund seiner
Jugendlyrik, S. 103.
16 In Aus meinem Leben, dem ‚Lebensrückblick‘ des 13-Jährigen, formuliert der junge Nietzsche
einen Vorrang der „Gedanken“ gegenüber der Form: „Man muß überhaupt bei den Schreiben
eines Werks vorzüglich die Gedanken berücksichtigen; eine Nachlässigkeit im Styl verzeiht man
eher, als eine verwirrten Idee. Ein Muster hiervon sind die göthischen Gedichte in ihren gold-
klaren, tiefen Gedanken. – Die Jugend, der noch e i g n e Gedanken fehlen, sucht ihre Ideenleere [!]
hinter ein schillernden glänzenden Styl zu verbergen.“ (NL 1858, 4[77], KGW I/1, 307, 18–24).
17 Vgl. Schmidt, Nietzsche absconditus I; und Schmidt, Hermann Josef, Nietzsche absconditus
oder Spurenlesen bei Nietzsche. II. Jugend, 2 Bde., Berlin / Aschaffenburg 1993–1994.
18 So auch Meyer, Nietzsche, S. 404 f., der in diesem Sinne einen Brief Nietzsches an Wilhelm

Pinder von Mitte Februar 1859 zitiert (vgl. KSB 1, Nr. 55, S. 47–50).
19 Unter dem Titel „Jugendgedichte von Friedrich Nietzsche“, in: Pan, Jg. 3, Heft 2, Berlin 1897/
98, S. 103 f. Es handelt sich um zum Teil verkürzte und sprachlich normalisierte Wiedergaben

folgender lyrischer Texte: Aus der Sammlung „Neue Gedichte. // Der Germania. // Für September
1862“ (NL 1862, 13[21], KGW I/2, 454–463) das zweite (456, 20–457, 3) und dritte „Lied[ ]“ (457, 5–
15) sowie den siebten Titel Schweifen, O Schweifen! (461, 27–462, 20). Dazu kommen das Gedicht
Zweiter Abschied (NL 1863/64, 16[15], KGW I/3, 289, 3–20) und die zweite Strophe des Gedichts
Erinnerung (NL 1863/64, 16[16], KGW I/3, 290, 10–19). Vorangestellt ist ein Faksimile der Hand-
schrift des Gedichts Noch einmal eh ich weiter ziehe … (ebd., S. 102a; NL 1864, 17[14], KGWI/3,
391). – Zur Rezeption von Nietzsches Lyrik in der Moderne vgl. den entsprechenden Beitrag von
Katharina Grätz in diesem Band.
20 Nietzsche, Friedrich, Gedichte und Sprüche [mit einem Vorwort von Elisabeth Förster-Nietz-
sche und einem Nachbericht von Peter Gast], 17./20. Tausend, Leipzig 1908, S. 1–44. – Zur
Editionsgeschichte von Nietzsches Lyrik vgl. auch Kaufmann, Sebastian, Kommentar zu Nietz-
sches ‚Idyllen aus Messina‘, in: NK 3/1, 457–543, hier 467 f.; sowie Sebastian Kaufmanns Beitrag

zur Lyrik und Lyriktheorie im Werk Nietzsches in diesem Band.


21 Nietzsche, Friedrich, Gedichte, hrsg. von Mathias Mayer, Stuttgart 2010, S. 91–104.
Nietzsches Jugendlyrik am Beispiel des Gedichtzyklus In der Ferne 29

von 1944 – ein Dokument der nationalsozialistischen Vereinnahmung des Lyri-


kers Nietzsche – zwölf von ihnen an den Anfang setzt.22 Viele Anthologien ver-
zichten jedoch auf die Berücksichtigung der Jugendgedichte, zum Beispiel dieje-
nige von Ralph Kray und Karl Riha23 oder Kurt Hildebrandts Ausgabe aus dem
Jahr 1931.24 Eine Sonderstellung kommt Nietzsches bekanntestem Jugendgedicht
zu: Noch einmal eh ich weiter ziehe ... (wohl 1864 als letztes Gedicht in Pforta
entstanden). Es wurde an den Anfang von Sammlungen gestellt, obwohl – oder
gerade weil – es „schon den unverwechselbaren Nietzsche-Ton“ zeige.25 Das
Gedicht wurde auf diese Weise zum ‚Durchbruch‘ und Auftakt des Hauptwerkes
stilisiert und in der Folge eher diesem als dem Jugendwerk zugerechnet. Unter
dem irreführenden Titel „Dem unbekannten Gott“, den es schon in Elisabeth
Förster-Nietzsches Gedichten und Sprüchen trägt,26 bildet es etwa den Auftakt der
erfolgreichen, bis 1964 mit wenigen Veränderungen in neuen Auflagen heraus-
gegebenen Edition des Insel-Verlags.27
Abseits der zahlreichen Gedichtanthologien liegen Nietzsches Jugendschrif-
ten dem Anspruch nach vollständig innerhalb zweier Werkeditionen vor:28 Zwi-
schen 1933 und 1940 erschien bei C. H. Beck in München mit den ersten (und
einzigen) fünf Bänden der von Hans Joachim Mette, Karl Schlechta und anderen
herausgegebenen Historisch-Kritischen Gesamtausgabe der Werke (BAW) die bis
Mitte der 1990er Jahre gültige Standardedition. Johann Figl, Herausgeber der
Neuedition von Nietzsches Juvenilia im Rahmen der ersten Abteilung von Collis
und Montinaris Gesamtausgabe, lobt die dort präsentierten Texte als „in hohem
Ausmaß philologisch exakt entziffert“, was die Ausgabe als „wertvolle und be-
achtenswerte Leistung innerhalb der wechselvollen Geschichte der Nietzsche-
Editionen“ ausweise.29 Diesem Vorzug stehen allerdings wesentliche Versäum-

22 Nietzsche, Friedrich, Gedichte. Feldauswahl, Auswahl und Nachwort von Kläre Buchmann,
Stuttgart 1944, S. 7–16.
23 Nietzsche, Friedrich, Gedichte, hrsg. von Ralph Kray und Karl Riha, Frankfurt/Main / Leipzig
1994.
24 Nietzsche, Friedrich, Gedichte, mit einem Nachwort von Kurt Hildebrandt, Leipzig [1931].
25 Meyer, Nietzsche, S. 407.
26 Nietzsche, Gedichte und Sprüche, S. 44.
27 Nietzsche, Friedrich, Gedichte, Leipzig [1923] (Insel-Bücherei Nr. 361).
28 Eine kritische Ausgabe der Gedichte Nietzsches, zumal seiner Jugendlyrik, existiert nicht. Vgl.
zu diesem Punkt Groddeck, Wolfram, „Gedichte und Sprüche“. Überlegungen zur Problematik einer
vollständigen, textkritischen Ausgabe von Nietzsches Gedichten, in: Martens, Gunter / Woesler,
Winfried (Hrsg.), Edition als Wissenschaft. Festschrift für Hans Zeller, Tübingen 1991, S. 169–180.
29 KGW I/1, VI.
30 Armin Thomas Müller

nisse gegenüber:30 Erstens fehlen wichtige Textgruppen, wie beispielsweise


Schulabschriften und -notizen, alle Kollegnachschriften aus der Studentenzeit
sowie Gedichtabschriften und Handschriftenteile. Zweitens verstößt die – über-
dies inkonsequent umgesetzte – Aussonderung der Schriften aus der Zeit vor dem
Eintritt in die Landesschule Pforta am 5. Oktober 1858 gegen das selbstauferlegte
Gebot einer chronologischen Wiedergabe des Materials.31 Schließlich sind die
systematischen Kriterien intransparent, zum Beispiel fehlt eine adäquate Erläute-
rung der wiederholt angewandten Ausschlusskriterien.
Figl hat diese Mängel in der von ihm verantworteten neuen Ausgabe be-
hoben: „Die Edition der Jugendschriften folgt im generellen den Prinzipien, die
für die KGW insgesamt maßgebend waren und die Mazzino Montinari mit den
Begriffen Manuskripttreue, strikte chronologische Anordnung und Vollständig-
keit gekennzeichnet hat“.32 Der Bestand von Nietzsches Jugendgedichten ist
durch die neu hinzugezogenen Manuskripte, die der Herausgeber mit den Sig-
naturen A bzw. K versehen hat,33 allerdings nicht qualitativ erweitert worden.34
Es handelt sich vorrangig um Diktiertes (A-Signaturen) aus frühester Zeit und um
Gedichtabschriften (K-Signaturen) anlässlich verschiedener Feier- oder Geburts-
tage im nächsten Angehörigenkreis. Dementsprechend hebt Figl mit Blick auf den
erweiterten Textbestand in erster Linie dessen „kulturgeschichtlichen Wert, auch
in interdisziplinärer Hinsicht“ hervor.35

30 In seinem Beitrag zur Edition des Frühen Nachlasses Friedrich Nietzsches, S. 161–168, formu-
liert Figl die Kritik ausführlicher als im Vorwort zu KGW I.
31 Die Tendenz der ‚Beck’schen Ausgabe‘, bekanntere Texte des jungen Nietzsche durch ihre
widersystematische Platzierung innerhalb der Edition „in Aufmerksamkeit erregender Weise“
hervorzuheben, moniert auch Schmidt, Nietzsche absconditus II, Bd. 2, S. 618 f., mit Blick auf die

‚finale‘ Stellung von Noch einmal eh ich weiter ziehe ... in BAW 2, 428.
32 KGW I/1, XI.
33 Vgl. KGW I/1, IX bzw. XII.
34 Bei der grundsätzlichen Orientierung innerhalb der großen Menge von Nietzsches Jugend-
gedichten leisten also die Gedichtverzeichnisse in BAW 1, 488–495; BAW 2, 481–485 und BAW 3,
488 noch gute Dienste. KGW I/1–4 weist zwar mit 293 ‚lyrischen Produktionen‘ eine größere Zahl
auf als die in BAW 1–3 angezeigte (263), doch ist dieser Unterschied hauptsächlich durch die in
BAW und KGW I verschieden konstituierten Texteinheiten zu erklären: BAW fasst zum Teil
Fragmente und Gedichte als Sammlungen und Zyklen zusammen, die KGW I isoliert bringt (vgl.
NK 3/1, 472; sowie Sebastian Kaufmanns Beitrag zu Nietzsches Lyrik und Lyriktheorie in diesem
Band).
35 KGW I/1, X.
Nietzsches Jugendlyrik am Beispiel des Gedichtzyklus In der Ferne 31

3 Stil und Motive


Viele Jugendgedichte Nietzsches sind als Casualcarmina oder im Rahmen von
Schulaufgaben entstanden.36 Auch hatte laut Elisabeth Förster-Nietzsche ihr
Bruder „zu allen Lebenszeiten eine große Neigung […], seine früheren Produktio-
nen zu verbrennen“.37 Von den erhaltenen Gedichten auf Nietzsches dichteri-
sches Selbstverständnis zu schließen, erscheint daher auf den ersten Blick nicht
unproblematisch: Offenbar hat er den Großteil seiner Werke vernichtet, das
Übriggebliebene besteht aus Geschenktexten für die Mutter und einer von der
Schwester ‚geretteten‘ Auswahl. Im Einzelnen zeigt sich aber, dass Nietzsches
Jugendgedichte, selbst wo sie verschiedenen thematischen Bereichen zuzuord-
nen sind, im Prinzip eine einheitliche Grundstimmung erkennen lassen: die
Melancholie. In späteren Gedichten wie An die Melancholie oder in den eingangs
zitierten kritischen Versen zum jugendlichen „Ah und Oh!“ bezieht sich das von
Nietzsche instanziierte lyrische Ich denn auch oft auf das weltschmerzliche
Pathos der Jugendschriften, wo die Einsamkeit noch „in tiefer Wüstenei / Un-
schön gekrümmt“ und im Gestus eines „Büßer[s], ob in jugendlichen Jahren“,
beklagt wird.38 Die lyrische Dichtung des erwachsenen Nietzsche rekurriert damit
gewissermaßen ex negativo auf seine Juvenilia.39 Allein das macht sie selbst in
solchen Fällen interessant, in denen der junge Nietzsche nur konventionelle

36 Vgl. Ziemann, Rüdiger, Die Gedichte [Artikel], in: Ottmann, Henning (Hrsg.), Nietzsche-Hand-
buch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart / Weimar 2000, S. 150–156, hier S. 150.
37 Förster-Nietzsche, Elisabeth, Vorwort zur 1. Auflage, in: Nietzsche, Gedichte und Sprüche,
S. IX–XVIII, hier S. XI. Im Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre schreibt Nietzsche selbst: „[I]ch
pflegte die Zeit der Selbsterkenntnis von da an bei einem Jünglinge zu datieren, wo er seine
Dichtungen in den Ofen steckt, und habe es selbst dieser meiner Anschauung gemäß in Leipzig
gemacht“ (NL 1867/68, 60[1], KGW I/4, 516, 28–30). Dem korrespondiert die Tatsache, dass aus
Nietzsches Studentenzeit so gut wie keine Gedichte erhalten sind. Glaubt man Elisabeth, verdankt
sich auch der Erhalt eines Großteils früherer Produktionen ihrem Rettungseifer (vgl. Förster-
Nietzsche, Vorwort zur 1. Auflage, S. XI).
38 An die Melancholie, NL 1871, 15[1], KSA 7, 389, 18 f. u. 21. Vgl. auch Mayer, Mathias, Nachwort,

in: Nietzsche, Gedichte (2010), S. 173–186, hier S. 181. Die topische Überwindung der Schwermut,
wie sie beispielsweise auch die Texte des Zarathustra leitmotivisch durchwirkt (etwa in Za III Vom
Gesicht und Räthsel, KSA 4, 197–202), blitzt in den Aufzeichnungen des jungen Nietzsche nur
vereinzelt auf. Eine dieser wenigen Ausnahmen stellt das Gedicht Ohne Heimath dar (NL 1860/61,
9[2], KGW I/2, 223 f.), in dem die titelgebende Heimatlosigkeit des lyrischen Ichs insbesondere

durch den liedhaft-fröhlichen Refrain heiter gebrochen wird.


39 Rückblickende Auseinandersetzungen mit dem eigenen Werk sind charakteristisch für Nietz-
sches Texte – vgl. etwa die 1886 verfassten, nachträglichen Vorreden zu GT (Versuch einer Selbst-
kritik, KSA 1, 11–22), MA I (KSA 2, 13–22) und II (KSA 2, 369–377), M (KSA 3, 11–17) und FW (KSA 3,
346–352). Schon mit 13 Jahren unterscheidet er im ‚Lebensrückblick‘ drei Perioden seiner Lyrik;
32 Armin Thomas Müller

Formen aus der kanonischen Lyrik des 19. Jahrhunderts oder zeitgenössischen


Kirchenliedern übernimmt, ohne dabei einen ‚originellen‘ Gestaltungsanspruch
an den Tag zu legen.
Beim Heranwachsenden fällt bereits jene polare Disposition auf, die das Werk
des Erwachsenen maßgeblich prägt: einerseits ein ausgeprägtes Interesse für die
Antike, das wahrscheinlich Nietzsches Großvater David Ernst Oehler angeregt
und bis zu seinem Tod gefördert hatte,40 sowie eine damit verbundene ‚Lust am
Süden‘; andererseits eine defizitäre körperlich-seelische Konstitution, die sich in
Erfahrungen von Krankheit und Weltschmerz äußert und nach Linderung und
Trost verlangt.41 Der junge Nietzsche sucht für beides Ausdrucksmöglichkeiten
und findet sie in den Dichtungssprachen der Klassik und Romantik. Selbst-
bewusst bearbeitet er antike Stoffe42 oder widmet sich punktuell verwandten
Motiven wie dem Topos der ‚Italiensehnsucht‘,43 um seiner partiellen Bewun-
derung für das ‚schöne, starke Leben‘ nachzugehen. Die Komplementärgedichte
Strahlenentsendente und Wolkenaufthürmende Blitzeentsendtende (sic) aus dem
Jahr 1859 belegen überdies pantheistische Gedanken (die – wie schon die forcier-
ten Komposita – an die Sturm-und-Drang-Lyrik Goethes erinnern):44 Die apostro-
phierte Sonne wird sowohl als monistischer Urgrund des Lebens wie auch als
dessen allmächtige Zerstörerin gepriesen.

die ersten zwei schilt er nachdrücklich (vgl. NL 1858, 4[77], KGW I/1, 292, 2–4; 295, 23–34; und 306,
33–307, 24).
40 Zur Rolle des Großvaters im Hinblick auf Nietzsches ‚Graecophilie‘ vgl. Schmidt, Nietzsche
absconditus I, Bd. 2, S. 961–972.
41 Schmidt, Nietzsche absconditus II, Bd. 1, S. 509, geht in Bezug auf Nietzsches Kränklichkeit
von psychosomatischen Zusammenhängen aus.
42 Vgl. Hecktors Abschied (nach Homer), NL 1858, 4[53], KGW I/1, 261 f.; Jason und Medea,

NL 1858, 4[33], KGW I/1, 246–248; oder Leonidas und Telakeus, NL 1856/57, 2[10], KGW I/1, 139–
142. Zur Bedeutung der Antike für den jungen Nietzsche vgl. ausführlicher Müller, Renate G.,
„Wandrer, wenn du in Griechenland wanderst…“ – Reflexionen zur Bedeutsamkeit von „Antike“ für
den jungen Friedrich Nietzsche, in: Nietzscheforschung, Jg. 1, Berlin 1994, S. 169–180.
43 So im Gedicht Italia, das Nietzsche aus etwas holprigen Hexametern erstellt und das nicht
formal, aber motivisch auf Mignons Lied Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn ... rekurriert
(vgl. Goethe, Johann Wolfgang von, Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 7, hrsg.,
textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz, 8., neubearbeitete Auflage, Mün-
chen 1973, S. 145): „Seht die Orange, sie reifet in rötliche Lichte erglühend / Durch die Zweige so
grün, blicket hochgelb die Citron’“ (NL 1858, 4[21], KGW I/1, 240, 2 f.). Auch an Goethes Maifest

(Goethe, Werke, Bd. 1, S. 30 f.; später Mailied) schließt Nietzsche an, wobei sein Maigesang noch

eine pessimistische Schlusspointe enthält (NL 1856/57, 2[14], KGW I/1, 147, 28 f.) und sein Maien-

lied (NL 1858/59, 5[18], KGW I/2, 19 f.) durch „eine eher reflexive, die Naturstimmung gewisserma-

ßen kommentierende Diktion gekennzeichnet“ ist (Meyer, Nietzsche, S. 405).


44 NL 1859, 6[34], KGW I/2, 61–63; und NL 1859, 6[37], KGW I/2, 63 f.

Nietzsches Jugendlyrik am Beispiel des Gedichtzyklus In der Ferne 33

Ein Gedicht des Zwölfjährigen, Wandrer, wenn du in Griechenland wan-


derst ...,45 erinnert in seinem Gestus an Nietzsches späteren „Lieblingsdichter“
Hölderlin,46 dessen Roman Hyperion oder Der Eremit in Griechenland von der
Begeisterung für die Antike zeugt.47 Obwohl Nietzsche selbst es als Beispiel seiner
ersten, ‚unpoetischen‘ Dichtungsperiode anführt,48 bezeugt das Gedicht doch den
Willen zur sentimentalischen Reflexion: „Weine Wandrer um die tapferen Hel-
den / Weine auch daß du nicht bist dabei gewesen“.49 Nietzsche verbindet hier die
Bewunderung des ‚heroischen Lebens‘ mit der Wehmut des ‚Spätgeborenen‘,
nicht an diesem Leben teilhaben zu können. Die lakonische Schlusspointe des
Gedichts – der Wanderer stirbt klagend nach langer Reise und fällt „in die Grube
die ehr / da gegraben hat“50 – weist wohl nicht nur auf Nietzsches früh entwickel-
ten Sinn für Humor hin, sondern auch auf sein schon vorhandenes Reflexions-
vermögen: In der Verherrlichung antiken Lebens und Sterbens ignoriert der
lyrische Sprecher nicht die prinzipielle Vergänglichkeit des Irdischen. Daher auch
des Wanderers Resümee: „Wie vergänglich ist das Glück / Das hab ich nun
angeschaut. / Ewig mans im Himmel findet“.51 Das Gedicht bemüht eine trans-
zendente Seligkeitsvorstellung, um die Glückssuche zu einem befriedigenden
Ende zu bringen. Die antike Vorstellungswelt bietet noch keine ausreichende
Möglichkeit zur Rechtfertigung des Lebens im Sinne einer an ihr orientierten
ästhetischen Kosmodizee, wie sie später in der Geburt der Tragödie vertreten
wird.52 Als Wiegenstadium einer noch glücklichen Menschheit – obwohl unwie-
derbringlich verloren wie die eigene Kindheit – bildet die Antike in der dichteri-
schen Vorstellungswelt des Elf- oder Zwölfjährigen jedoch einen wichtigen Gegen-
entwurf zu der als mangelhaft erfahrenen Wirklichkeit. Im Hinblick auf die Menge
der erhaltenen Gedichte dominiert ihr Einfluss zwar nicht; aber Nietzsches späte-

45 NL 1856/57, 2[2], KGW I/1, 125–129.


46 NL 1861/62, 12[2], KGW I/2, 338, 3.
47 Hölderlin, Friedrich, Sämtliche Werke und Briefe, 3 Bde., Bd. 2, hrsg. und kommentiert von
Jochen Schmidt, Frankfurt/Main 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 108). Nietzsches Höl-
derlin-Begeisterung weist neben der sonstigen Beschäftigung mit kanonischen Dichtern auf einen
selbstständigen Geschmack hin. Zudem klingen zu Beginn zwei Verse aus Schillers Der Spazier-
gang an: „Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest / Uns hier liegen
gesehn, wie das Gesetz es befahl.“ (Schiller, Friedrich, Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 1,
hrsg. von Georg Kurscheidt, Frankfurt/Main 1992 (Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 74), S. 38).
48 vgl. NL 1858, 4[77], KGW I/1, 291, 31–292, 2.
49 NL 1856/57, 2[2], KGW I/1, 126, 1 f.

50 NL 1856/57, 2[3], KGW I/1, 129, 19 f.


51 NL 1856/57, 2[3], KGW I/1, 129, 15–17.


52 Vgl. GT 5, KSA 1, 47, 26 f.

34 Armin Thomas Müller

rer Werdegang zeigt bekanntlich, dass das Gewicht der Antike die religiösen und
sentimentalen Elemente letztlich aus seiner Gedankenwelt hinausdrängen wird.
Eben jene Elemente stellen indes den anderen Hauptaspekt von Nietzsches
Jugendlyrik dar: In idyllischen Naturbildern mit religiöser Konnotation artikuliert
der lyrische Sprecher seine melancholisch-elegische Grundstimmung offener aus
einer Position der Schwäche und Trostbedürftigkeit heraus, als es in Nietzsches
zeitgleich entstandener antikisierender, an der Klassik orientierten Dichtung der
Fall ist.53 Diese Naturlyrik lässt vergleichsweise wenig pantheistische Ansätze
erkennen; die Erscheinungen der Natur sind vorrangig sakral konnotiert und
ersetzen nicht, sondern vertreten den transzendenten personalen Gott. Sie bilden
eine poetische Gegenwelt, in welcher der Weltflüchtling Schutz und Geborgenheit
vor den Unbilden des Lebens sucht. In einem Fragment aus dem Jahr 1858
erscheint die Natur als „ein Buch zu Gottes Ehre“, aus dem „[i]m Blühen und
verblühn er vieles lehret“.54 Diese auf Augustinus zurückgehende Metapher des
liber naturae verweist ebenso wie die Verherrlichung des „Waldesfrieden[s]“ an
anderer Stelle auf die Bilder- und Ideenwelt der Romantik,55 in der Nietzsche sich

53 Ich widerspreche Schmidt, Nietzsche absconditus II, Bd. 1, S. 387, der von einer prinzipiellen
Ablösung der religiösen durch die naturfromme Lyrik ausgeht. Es existieren zwar Gedichte
pantheistischen Gehalts, auch tauchen pantheistische Elemente verseweise in anders gelagerten
Gedichten auf, aber in der Mehrzahl der ‚Wald-und-Flur-Gedichte‘ stehen die Naturlyrismen offen
in einem metaphysischen Bezug. Im Grunde übernimmt Nietzsche Eichendorffs Handhabe der
Natur als irdischen Offenbarungsraum göttlichen Heils. Ein Beispiel für Nietzsches religiös-
naturlyrischen Synkretismus ist das Gedicht Im Freien, auf das Hödl in diesem Zusammenhang
verweist (vgl. Hödl, Hans Gerald, Jugendschriften (1852–1869). IV. Schriften der Schulzeit (1854–
1864) [Artikel], in: Ottmann (Hrsg.), Nietzsche-Handbuch, S. 67–73, hier S. 68): „Geh ins Freie,
lerne kennen / Jede Schönheit der Natur / Denn willst du das ganze nennen / Suche es im einzeln
nur. // Sieh, ein Buch ist aufgeschlagen / Selig, wer nur darin ließt / Schwinden da nicht Leiden,
Klagen / Wo der Herr des Lebens ißt. // Singe zu des Herren Ruhme / Steige meine Gebet empor! –
/ Denn in seinen Heiligthume / Tönt der Schöpfung hoher Chor. –“ (NL 1858, 4[51], KGW I/1, 260,
14–26). In der ersten Strophe klingt deutlich Goethes weltanschauliche Lyrik an, dann kippt das
Gedicht über die romantische Motivik ins Christliche.
54 NL 1858, 4[19], KGW I/1, 239, 4–7. Ziemann, Abschiede, S. 188, interpretiert die Metapher
ebenfalls christlich als das „fromme Bild, das die Natur als das zweite Buch der göttlichen Offen-
barung liest“, und vermutet überdies die Einwirkung von Emanuel Geibels Morgenwanderung.
55 NL 1859, 6[70], KGW I/2, 92, 10. Die Gedichte Nach Pforta (NL 1858, 4[9], KGW I/1, 221 f.) und

Saaleck (NL 1860/61, 9[2], KGW I/2, 222) stellen weitere Beispiele dar: Nietzsche rückt hier das
Geheimnisvolle und Unheimliche in den Blick, wählt verlassene Burgen oder die „nebelum-
wallt[en]“ Gebäude der Landesschule Pforta als Kulissen (KGW I/1, 222, 6) und lässt im Abend-
zwielicht Gespenster ein Rittergelage mit „viel Lieder[n] / Von Jagdlust, von Kampf und Wein“
abhalten (KGW I/2, 222, 15 f.). Auch Eichendorffs Werk bevölkern Ritter und geisterhafte Gestalten,

vielfach tummeln sie sich in verzauberten Burg- und Schlossruinen, die nachts zu Feststätten
werden (vgl. exemplarisch Das Marmorbild in: Eichendorff, Joseph Freiherr von, Neue Gesamt-
Nietzsches Jugendlyrik am Beispiel des Gedichtzyklus In der Ferne 35

sinnfällig bewegt. Im Fragment gebliebenen Ich habe viel geweinet ...56 beschwört
er, ganz im Stil von Eichendorffs Gedicht Abschied,57 den Wald als topische Sehn-
suchtslandschaft: Ein lyrisches Ich schildert rückblickend, wie es aus Trauer und
innerer Leere über den Tod des Vaters oft „[z]um düstren Wald hinaus“ flüchtete
und dort „[d]er Jugend Blüthenwonne […] / Im Schatten der Eichen“ wiederfand.
Es folgen Apostrophe und Lobpreis des Waldes:

O süßer Waldesfrieden
Du stilltest meinen Schmerz
Und gabest Ruh hinieden
Den schmerzerfüllten Herz
Was mir die Welt versagte
Fand ich so bald, so bald
In deinen weiten Hallen
Du deutscher, heilger Wald!58

Nietzsches lyrisches Ich stellt, hier recht eindimensional, der vom Tod des Vaters
überschatteten „Welt“ den entrückten Ruheort „Wald“ gegenüber, dessen „weite[ ]
Hallen“ den Jenseitsbezug anzeigen. Im „freien Tempel der Natur“,59 in Gottes
unberührter Schöpfung, findet der Mensch träumend zur kindlichen Unbeküm-
mertheit zurück und kann dem weltlichen ‚Jammertal‘ zeitweise entfliehen. Das
Präteritum markiert freilich, in Analogie zum Konjunktiv in Eichendorffs Mond-
nacht,60 die eigentliche Distanz zwischen Glücksort und lyrischem Ich. Hier wird
das epigonale Element spätromantischer Lyrik deutlich, zu der sich der junge
Nietzsche wiederum selbst als Epigone verhält.
Die ‚Nachtseite‘ von Nietzsches Jugendlyrik zeigt in seltenen Ausbrüchen
auch ein extremes Gepräge, wenn sich das Einsamkeitsmotiv ins Lebensbedrohli-
che steigert. Im Regelfall schmälert der Autor ihren Sog durch den ‚metaphysi-

ausgabe der Werke und Schriften, 4 Bde., Bd. 2, hrsg. von Gerhart Baumann in Verbindung mit
Siegfried Grosse, Stuttgart 1957, S. 307–346). Die Verwendung der populären Volksliedstrophe, die
insbesondere von der romantischen Lyrik – namentlich durch Brentanos und von Arnims Samm-
lung Des Knaben Wunderhorn – weitverbreitetet wurde, legt ebenso die Vorbilder offen wie der
Einsatz von Naturlyrismen als Indikatoren seelischer Befindlichkeit (vgl. hierzu beispielhaft
Eichendorffs Bei einer Linde in: Ders., Neue Gesamtausgabe der Werke und Schriften, Bd. 1, S. 219).
Schmidt, Nietzsche absconditus II, Bd. 1, S. 219, weist nach, dass Nach Pforta sogar explizit als
Zweit- oder „Gegenstimme“ zu Heinrich Heines Lied von der Loreley konzipiert ist.
56 NL 1859, 6[70], KGW I/2, 91 f.

57 Eichendorff, Neue Gesamtausgabe der Werke und Schriften, Bd. 1, S. 35 f. 

58 NL 1859, 6[70], KGW I/2, 92, 10–17.


59 NL 1858, 4[9], KGW I/1, 217, 8.
60 Eichendorff, Neue Gesamtausgabe der Werke und Schriften, Bd. 1, S. 306.
36 Armin Thomas Müller

schen Trost‘ des Glaubens (noch nicht der Kunst) und durch romantisch-natur-
frommen Eskapismus. Das Gedicht Verzweiflung bildet indes einen Grenzfall, der
die leitmotivische Einsamkeit exponiert und zur absoluten Isolation radikalisiert:

Von ferne tönt der Glockenschlag;


Die Nacht sie rauscht so dumpf daher.
Ich weiß nicht, was ich thuen mag.
Mein Freud ist aus, mein Herz ist schwer.

Die Stunden fliehn gespenstisch still,


Fern toßt der Welt Gewühl, Gebraus.
Ich weiß nicht, was ich thuen will.
Mein Herz ist schwer, mein Freud ist aus.

So dumpf die Nacht, so schauervoll


Des Mondes bleiches Leichenlicht!
Ich weiß nicht, was ich thuen soll.
Wild rast der Sturm, ich hör ihn nicht.

Ich hab nicht Rast, ich hab nicht Ruh.


Ich wandle stumm zum Strand hinaus
Den Wogen zu, dem Grabe zu!
Mein Herz ist schwer, mein Freud ist aus!61

Das Gedicht beginnt noch in der Manier romantischer Schauerpoesie: Ein solitä-
res lyrisches Ich hört „[v]on ferne“ den „Glockenschlag“ in stürmischer Nacht und
beklagt seine melancholische Antriebslosigkeit. Die unheimliche Stimmung ver-
stärkt sich durch den „gespenstisch[en]“ Verlust des Zeitgefühls; die Diskrepanz
zwischen Ich und Welt wächst zunehmend, denn gegenüber der subjektiv emp-
fundenen Stille „toßt [fern] der Welt Gewühl, Gebraus“. Im zweiten Teil des
Gedichts steigert sich diese Konstellation ins Extrem: Der Mond wird zum Todes-
symbol, die Apathie hat sich zur Verzweiflung potenziert (erst wusste das Ich
nicht, was es tun „mag“, dann, was es tun „will“, zuletzt, was es tun „soll“), und
der Bruch zwischen Mensch und Welt ist vollständig und unheilbar. Am Schluss
steht der suizidale Gang ins Wasser. Nietzsche geht damit über das Formen- und
Motivrepertoire romantischer Gefühlspoesie hinaus, seine unerbittliche Zuspit-
zung der (Seelen-)Bilder („Wild rast der Sturm, ich hör ihn nicht“) hebt sich vom
Großteil seiner verklärenden Jugendlyrik ab. Der Verzicht auf tröstliche Gegen-
welten und der angedeutete Suizid des lyrischen Ichs weisen überdies auf die

61 NL 1860/61, 9[2], KGW I/2, 219 f.



Nietzsches Jugendlyrik am Beispiel des Gedichtzyklus In der Ferne 37

prinzipielle Verfemung des Trostes im Werk des Erwachsenen voraus.62 Vor


diesem Hintergrund erscheint die von Peter Pütz aufgezeigte Reminiszenz63
an Gretchens Lied Meine Ruh’ ist hin ...64 als Euphemismus des Todeswun-
sches.

4 Der Zyklus In der Ferne


Hermann Josef Schmidt hat plausibel dargelegt, dass es sich bei Nietzsches
Gedichtzyklus In der Ferne65 höchstwahrscheinlich um ein Geschenk an die Mutter
zu deren Geburtstag am 2. Februar 1860 handelt.66 Die Gedichte II und V scheinen
auch direkt an Franziska Nietzsche gerichtet zu sein, die zu dieser Zeit noch um
ihren am 17. Dezember 1859 verstorbenen Vater David Ernst Oehler trauert. Die
anderen drei Gedichte stammen aus den vergangenen zwei Jahren, reihen sich
thematisch aber nahtlos in die offenbar als Trostgabe intendierte Sammlung ein.
Nicht zuletzt aus diesem Grund können alle fünf Gedichte auch über ihren Ge-
schenkstatus hinaus interpretiert werden. Selbst die als Casualcarmina konzipier-
ten Gedichte II und V unterscheiden sich nicht tiefgreifend von der sonstigen
melancholisch getönten Lyrik des jungen Nietzsche. Nur das Abschlussgedicht ist

62 Es gibt weitere Jugendgedichte Nietzsches, die Charakteristika des Hauptwerks vorwegneh-


men. Colombo (NL 1858, 4[67], KGW I/1, 273 f.) ist das erste Zeugnis der Kolumbus-Identifikation

Nietzsches, die im Umkreis der Fröhlichen Wissenschaft wiederholt zum Vorschein kommt –
beispielsweise in dem Gedicht Nach neuen Meeren (FW Anhang, KSA 3, 649, 1–9), in den dazuge-
hörigen Fragmenten (vgl. zur Übersicht KSA 14, 277) oder in M 575, KSA 3, 331, 27–30. Vgl. zu
diesem Komplex den Beitrag von Milan Wenner in diesem Band. In dem Jugendgedicht projiziert
der Heranwachsende seine Isolationsgefühle auf das Bild des Entdeckers und Seefahrers Chris-
toph Kolumbus, der den sicheren Heimathafen verlassen hat und auf hoher See mit der Ein-
samkeit, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit des vom Land Abgeschnittenen konfrontiert
wird. – Das Gedicht Ohne Heimath (NL 1860/61, 9[2], KGW I/2, 223 f.) aus dem Jahr 1859 weist

bereits auf die Trobador-Motivik der Fröhlichen Wissenschaft voraus; der junge Nietzsche deutet
seine Leitmotive Einsamkeit und Heimatlosigkeit zur Ungebundenheit eines ‚vogelfreien‘ Sängers
um. – Hermann Josef Schmidt hat ferner in dem Gedicht Zwei Lerchen (NL 1858, 4[50], KGW I/1,
259 f.) die „zwei für Nietzsche zentrale[n] Modi menschlicher Existenz“ vorgeprägt gefunden: „das

seinem Drang folgende Genie“ und „das zwischen seinem Drang und seinen Reflektionsmöglich-
keiten eingespannte Wesen“, in dessen „Spannungsfeld […] sich Nietzsche lebenslang bewegen“
werde (Schmidt, Hermann Josef, „Auf nie noch betretener Bahn“. Poetische Selbstfindungsversuche
des Kindes Nietzsche, in: Kjaer, Nietzsche im Netze, S. 10–38, hier S. 35).
63 Vgl. Pütz, Peter, Friedrich Nietzsche, Stuttgart 1967, S. 51.
64 Goethe, Werke, Bd. 3, S. 107–109.
65 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 180–183.
66 Vgl. Schmidt, Nietzsche absconditus II, Bd. 1, S. 486 f.

38 Armin Thomas Müller

etwas offensiver als Erbauungsgedicht entworfen, als man es selbst von seinen
religiösen Gedichten gewohnt ist. Im Ganzen aber ist der spätromantische Duktus
des Zyklus für Nietzsches Jugendlyrik beispielhaft.67 Auch deren Heterogenität
spiegeln die fünf Gedichte, indem sie zwischen Naturlyrismen, religiösem Erbau-
ungspathos und einem mythologischen Zwischenspiel mäandern.
Das Auftaktgedicht findet sich schon in einem Brief an Wilhelm Pinder aus
dem Frühsommer 1859;68 dort unterscheidet es sich nicht wesentlich vom späte-
ren Text der Geburtstagssammlung. Es weist, wie die Gedichte II, III und V, keine
strophische Gliederung auf und mischt frei Paarreime, umarmende Reime und
Assonanzen. Dem kontrastiert die strenge Umsetzung des trochäischen Vierhe-
bers in der gesamten Versgruppe. Ungeachtet dieser formalen Spannung lässt
sich das Gedicht syntaktisch und inhaltlich in drei Segmente aufteilen: Es besteht
aus genau drei Sätzen, denen je verschieden perspektivierte Reflexionsstufen des
lyrischen Ichs korrespondieren. Zunächst formuliert dieses den melancholischen
Rückblick auf sein „einstig Glück“, um es in den darauffolgenden zehn Versen
mittels einer paradiesischen Natur-Metaphorik als „ewge[ ] Freuden“ aus der
Sicht von Wanderern zu idealisieren:69 Die Natur wird zur Chiffre eines ideal
gedachten Lebens- und Zeitalters.70 Dem steht die Gegenwart des Ichs gegenüber,
die der Text als Welt der „Schranken / Kahler, nichtiger Gedanken“ mit den
glücklichen Erinnerungen kontrastiert: hier die beschränkende, farblose und
leere Welt des Denkens, dort ewige, bunte, volle Sinnlichkeit, der sich die Wan-
derer allerdings mit „geheimnißvollem Grauen“ ergeben.71 Dieses „Grauen“

67 Ziemann, Das liebe ewge Leben, S. 346 f. zieht das Eröffnungsgedicht sogar als Beispiel für den

Einfluss der Verssprache Brentanos auf Nietzsches Jugendlyrik heran.


68 Vgl. KSB 1, Nr. 76, S. 65 f. Hinweis bei Schmidt, Nietzsche absconditus II, Bd. 1, S. 496.

69 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 180, 17 u. 30.


70 In verwandten Bildern drückt sich später MA II WS 168, KSA 2, 622, 7–12 mit Blick auf
italienische Opernmusik aus: „Als wir noch Kinder waren, haben wir den Honigseim vieler Dinge
zum ersten Mal gekostet, niemals wieder war der Honig so gut wie damals, er verführte zum
Leben, zum längsten Leben, in der Gestalt des ersten Frühlings, der ersten Blumen, der ersten
Schmetterlinge, der ersten Freundschaft“. Kurz darauf heißt es: „[D]ie Kindes-Seligkeit und der
Verlust der Kindheit, das Gefühl des Unwiederbringlichsten als des köstlichsten Besitzes, – das
rührt dabei die Saiten unsrer Seele an, so stark wie es die reichste und ernsteste Gegenwart der
Kunst allein nicht vermag“ (622, 23–26). – Die Kindheitsbilder sind so stark idealisiert, dass sie als
Metaphern über die Abbildung der persönlichen Kindheit hinausreichen. Sie evozieren eine
vitalistisch geprägte Vorstellungswelt ursprünglicher Menschlichkeit mitsamt ihrer Kunst und
daran anschließend den antiken Topos des Goldenen Zeitalters. Die Struktur der Naturbilder
bleibt im Vergleich zum Jugendgedicht konstant, allerdings wechselt die Konnotation von christ-
lichem Erlösungspathos ins Vitalistische.
71 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 180, 28 f. u. 25. Ähnlich empfindet auch das lyrische Ich in Saaleck:

„Die Saaleck liegt so traurig / Dort oben im oeden Gestein. / Wenn ich sie sehe, so schauert’s / Mir
Nietzsches Jugendlyrik am Beispiel des Gedichtzyklus In der Ferne 39

drückt die Faszination eines Isolierten aus, der den Verlust einer geheimnis-
umwitterten, „blüthenreichen […] himmlisch süßen“ Sphäre ahnt.72
Die Konstellation des sehnsuchtsvoll in ein fernes Glück Blickenden intensi-
viert der dritte Teil auf Kosten der zuvor etablierten Bilderwelt: Er rekurriert auf
den Orpheus-Mythos, um den Verlust der poetisch beschworenen glücklichen
Erinnerungen so schmerzvoll zu inszenieren, wie es die Klagelieder des mythi-
schen Sängers um seine verlorene Frau Eurydike tun. Nietzsche gesteht seinem
lyrischen Ich leidvolle Verlusterfahrung von mythischem Ausmaß zu; entspre-
chend schmerzlich fällt der resümierende Schlussvers aus: „Meine Hoffnung ist
zu nichte!“73 Der Sprung von der idealisierten Natur- bzw. Erinnerungsschau
hinein in die mythische Unterwelt ist graphisch durch zwei Gedankenstriche und
semantisch durch den unvermittelten Auftritt von „Charons Nachen“ markiert.
Das lyrische Ich schlüpft in die Rolle des Orpheus und versucht mithilfe „der
goldnen Leier Saiten“ nicht weiter bestimmte ‚Versunkene‘ hervorzurufen.74 In
der traditionellen Überlieferung des Mythos, in Vergils Georgica (IV 453–527)75
und Ovids Metamorphosen (X 1–85),76 schafft es Orpheus durch seinen Gesang,
alle unterweltlichen Hindernisse zu überwinden und Hades die Rückgabe seiner
verstorbenen Frau Eurydike unter der Bedingung des Blickverbots – Eurydike
folgt Orpheus in die Oberwelt, doch dieser darf sich nicht nach ihr umblicken –
abzudingen. Kurz vor dem Ziel schaut Orpheus aber zurück und verliert sie damit
für immer. In Nietzsches Gedicht stellt der Gang in die Unterwelt den Versuch dar,
die zu Beginn eingeführten „seelge[n] Zeiten“ wiederzugewinnen,77 und zwar in
einem betont poetologischen Sinne: Nietzsche rekurriert auf die traditionelle
Zusammengehörigkeit von ‚Lyra‘ (λύρα, griechisch für ‚Leier‘) und ‚Lyrik‘ (ur-
sprünglich der Gesang zur Leier) und inszeniert damit performativ Dichtung als
Möglichkeit, Vergangenes zu aktualisieren. Das Ich beschwört durch das Leier-

tief in die Seele hinein“ (NL 1860/61, 9[2], KGW I/2, 222, 23–26). Die Ahnung des ‚Wunderbaren‘ in
der Landschaft wirkt auf das lyrische Ich im Auftaktgedicht faszinierend und erschreckend
zugleich. Auch in Nach Pforta verwendet Nietzsche dieses Motiv: „Ich kann ihn nun nie vergessen
/ Den Eindruck so wunderbar / Es zieht mich an selbige Stätte / Warum? Das wird mir nicht klar“
(NL 1858, 4[9], KGW I/1, 222, 9–12).
72 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 180, 22 f.

73 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 181, 6.


74 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 180, 31 f.

75 Vergil, Georgica, 2 Bde., hrsg., übersetzt und kommentiert von Manfred Erren, Heidelberg
1985, Bd. 1, S. 147–151.
76 Ovid, Metamorphosen. Das Buch der Mythen und Verwandlungen, nach der ersten Prosaüber-
setzung durch August von Rode neu übersetzt und hrsg. von Gerhard Fink, 4. Auflage, Zürich /
München 1994, S. 236–238.
77 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 180, 26.
40 Armin Thomas Müller

spiel seine versunkenen Erinnerungen, die sich tatsächlich im „Zauberlichte“


zeigen. Aber so, wie Eurydike wieder entschwindet, als Orpheus den Blick wen-
det, verblassen die Erinnerungen, als ihr Beschwörer sie „fassen“ will.78 In
seinem Versuch, die ‚Versunkenen‘ nach mythischem Muster zu vergegenwärti-
gen, scheitert das lyrische Ich also. Der Dichtung als Bewahrungsort vergangenen
Glücks wird damit eine Absage erteilt. Das erklärt, innerhalb der Logik des Zyklus,
die Wendung von der antiken Mythologie ins Christliche, von ‚unten‘ (Hades)
nach ‚oben‘ (Himmelreich).79
Das freirhythmische Gedicht II ist für das Verständnis des Zyklus zentral: Das
„herrliche Gefühl der Heimathsliebe“, das in der Mitte des Textes als Bindemittel
des „edlen Geist[es]“ an die irdische Lebenswelt vorgestellt wird, ist die bestim-
mende Kraft hinter allen den Zyklus durchziehenden Reflexionen des lyrischen
Ichs über Verlust, Sehnsucht und Trost.80 Nach einer einführenden Fantasie
über die kosmische Flucht der empfindsamen, weltabgewandten Seele in die
„seelge[n], bessre[n] Höhen“ des Göttlichen, ändert das Gedicht die Perspektive
und präsentiert den mit Heimatliebe gesegneten Menschen zunächst als Glück-
lichen, dem „das Leben blüthen reich und voll / Von Liebe und Erquikung“
erscheint.81 Es folgt eine längere idyllische Rückschau, in der Kindheit und frühe
Jugend in der paradiesischen Bilderwelt, die schon aus dem ersten Gedicht
bekannt ist, evoziert werden. Das Erinnern selbst wird dabei – im Gegensatz zum
ersten Gedicht, wo es nur ungreifbare Visionen hervorbringen konnte – in die
beseligende Schau des Schönen miteinbezogen („Des Lebens Blüthenmai jüngt
sich noch einmal“).82
Allerdings knüpft das Gedicht das Erinnerungsvermögen an die Existenz
einer realen Umgebung, in der das Erinnerte konserviert wurde: „O glücklich, wer
in dieses Lebens Sturm / Ein Haus weiß, wo er ruhen kann“.83 Mit dem Verlust
desselben geht das Unvermögen erfüllter Erinnerung einher, sodass nur die
Beschwörung schnell erblassender Bilder bleibt. Ebendiesen Verlust beklagt der
Sprecher am Ende des zweiten Gedichts für das lyrische Du mit der Konsequenz,

78 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 181, 3 f.


79 Dieselbe Bewegung vollzieht sich auch am Ende von Eichendorffs Marmorbild, konzentriert in
Fortunatos letztem Lied: „Sie selbst [Frau Venus] muss sinnend stehen / So bleich im Frühlings-
schein, / Die Augen untergehen, / Der schöne Leib wird Stein. – // Denn über Land und Wogen /
Erscheint, so still und mild, / Hoch auf dem Regenbogen / Ein andres Frauenbild.“ (Eichendorff,
Neue Gesamtausgabe der Werke und Schriften, Bd. 2, S. 343). Gemeint ist am Ende die Jungfrau
Maria, die den Bann der das Heidnische verkörpernden Frau Venus bricht.
80 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 181, 19 u. 8.
81 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 181, 11 u. 17 f.

82 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 181, 28.


83 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 181, 20 f.

Nietzsches Jugendlyrik am Beispiel des Gedichtzyklus In der Ferne 41

dass das eskapistische Anfangsszenario gültig bleibt. Der empfindsamen Seele


wird jedes Recht eingeräumt, die „Nichtigkeit des Lebens“ zu fliehen, um sich
kosmischer Gottesnähe hinzugeben.84 Erscheint der Auftakt des zweiten Gedichts
also zunächst widerrufen, wird schließlich gerade der Widerruf aufgehoben. Die
fast im Stile einer unio mystica präsentierte Fantasie etabliert der Text als völlig
gerechtfertigten Eskapismus, als einzigen Trost in einer mangelhaften Welt: Das
Subjekt erhebt sich von der Erde und stellt sich dort, wo „Sterne neben ihm um
Sonnen wandeln“, in Gottes unmittelbare Nähe.85 Grundlehner spricht mit Blick
auf die Transzendenzbewegung auch von „a Wertherian escape into the cos-
mos“.86 Im Zentrum steht aber auch hier der Heimatverlust, der die Flucht in eine
höhere Sphäre motiviert.
Die pessimistische Grundstimmung, die schon den Schluss des Auftaktge-
dichts bestimmt, findet folglich im zweiten Gedicht Bestätigung. Hier wie dort
setzt in gleicher Manier ein fatal-hoffnungsloser Ausruf den Schlusspunkt.87 Das
motivische Zentrum indes, das aus Gedicht I nur spekulativ herausgelesen wer-
den kann, gestaltet Gedicht II explizit aus, sodass die Naturmetaphorik beider
Gedichte transparent wird und die assoziative Projektionsfläche des ‚Heimat‘-
Begriffs als thematisches Fundament offenbart. Die folgenden Gedichte bauen
auf diesem Grundgerüst auf. Zitate spätromantischer Naturmetaphorik dienen
dem Ausdruck eines epigonalen Selbstverständnisses, das nur durch die Flucht in
die transzendente Sphäre des Ewigen, die als Ersatzheimat fungiert, überwunden
werden kann.
Das in der Sammlung zentral platzierte Gedicht, das ausweislich der Ab-
schrift für eine Sammlung im Dezember 1860 aus dem Jahr 1858 stammt88 und
außerdem im Nachlass der Sommermonate 1859 auftaucht,89 zeichnet sich be-
sonders durch die Intensivierung der pessimistischen Weltabkehr aus, die Ge-
dicht II am Ende wieder offen hervorkehrt.90 Es klingen sogar Stilfiguren barocker

84 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 181, 10.


85 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 181, 12.
86 Grundlehner, The Poetry of Friedrich Nietzsche, S. 5.
87 Vgl. NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 181, 6 u. 33. Der solitäre umarmende Reim („geboren“ –
„verloren“; 181, 31 u. 33) betont die pessimistische Schlusspointe besonders.
88 Vgl. NL 1860/61, 9[2], KGW I/2, 218; dort Heimweh betitelt.
89 Vgl. NL 1859, 6[18], KGW I/2, 53 f.

90 Schmidt, Nietzsche absconditus II, Bd. 1, S. 387–389, argumentiert anhand einer vermeintli-
chen reservatio mentalis Nietzsches dafür, das Gedicht nur als fadenscheiniges religiöses ‚Be-
kenntnis‘ zu lesen, das der Mutter zuliebe in christlichen Formeln gehalten ist. De facto sei sogar
die „Seligpreisung am Ende […] Parodie oder purer Hohn“ (ebd., S. 389). Dem ist entgegen-
zuhalten, dass Nietzsches Naturfrömmigkeit, die Schmidt als Gegenentwurf zu seiner religiösen
Lyrik versteht, vielmehr eine Spielart seiner problematischen Religiosität darstellt: Nietzsches
42 Armin Thomas Müller

Lyrik an.91 Das zweimal vorkommende Glockenläuten92 verbindet als Leitmotiv


den Heimatverlust direkt mit dem metaphysischen Trost und erweitert die indivi-
duelle Erfahrung dieser Bewegung auf die allgemeinmenschliche Ebene. Formal
handelt es sich um eine Zusammensetzung von vier Vierzeilern aus (freieren, mit
zusätzlichen Senkungen versehenen) jambischen Dreihebern93 mit umarmendem
Reim- bzw. Kreuzreimschema zu einer 16-zeiligen Versgruppe. Die Verse eins bis
vier sowie neun bis zwölf orientieren sich an der beliebten Volksliedstrophe, die
in vielen verschiedenen Kontexten gebraucht wurde – schon früh etwa „als Form
geistlicher Lieder mit besonders innigem Klang“,94 wie er auch Nietzsches Ge-
dicht kennzeichnet. Die anderen acht Verse erzielen mit der „leichten inneren
Spannung“ des umarmenden Reimschemas den Eindruck „einer beiläufigen
Nachdenklichkeit“,95 die sich hier in den Reflexionen des lyrischen Ichs wieder-
findet.
Das lyrische Ich, dessen Gedanken und Gefühle in Gedicht III wieder im
Mittelpunkt stehen, nimmt das abendliche Glockenläuten zum Anlass, „Heimath
und Heimathsglück“ zu irdisch unerreichbaren Sehnsuchtsvorstellungen zu de-
klarieren.96 Das bedeutet eine Intensivierung der zuvor im Zyklus herausgestell-
ten persönlichen Heimatlosigkeit. Die individuelle Klage darüber weicht der in
ihrer Nüchternheit neuen Feststellung, dass es sich um ein universelles Phäno-
men handelt. Nicht nur der „edle[ ] Geist“97 leidet am Verlust kindlichen Glücks
und sucht dessen irdische Wiedererlangung vergebens, sondern jeder Mensch
trägt diese Bürde. In dieser neuen Perspektive ersetzt Nietzsche das lyrische Ich
durch ein Wir und verwendet das insbesondere die barocke Lyrik prägende
vanitas-Motiv des memento mori („Der Erde kaum entwunden / Kehrn wir zur Erde
zurück“),98 das die Diesseitsbezogenheit des Menschen negiert. Nicht nur Hei-
matglück bleibt ihm verwehrt, auch das Leben ist höchst vergänglich. Mit dem

romantische Naturbilder sind, wie oben gezeigt, offen für eine Transzendenz, die als Gegen-
gewicht zum Weltschmerz fungieren soll.
91 Ziemann, Die Gedichte, S. 150, geht davon aus, dass die Choralliteratur Nietzsche „eine
solide – obgleich kaum als solche reflektierte – Verbindung zur Barocklyrik“ vermittelte. Mehr als
eine „solide“ Kenntnis ist für den Einsatz einzelner rhetorischer Mittel, wie Nietzsche ihn hier
praktiziert, sicherlich nicht notwendig.
92 Vgl. NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 182, 2 u. 10.
93 Ausnahmen bilden die trochäischen Dreiheber in der zweiten und fünften Zeile.
94 Frank, Horst Joachim, Handbuch der deutschen Strophenformen, 2., durchgesehene Auflage,
Tübingen / Basel 1993, S. 107.
95 Frank, Handbuch der deutschen Strophenformen, S. 104.
96 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 182, 6.
97 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 181, 8.
98 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 182, 8 f.

Nietzsches Jugendlyrik am Beispiel des Gedichtzyklus In der Ferne 43

Einsatz dieses Vergänglichkeitsthemas ist jedoch nicht ausschließlich demorali-


sierende Ernüchterung beabsichtigt. In der zweiten Hälfte des Gedichts wird die
kurze Lebensdauer des Menschen geradezu als Vorteil angepriesen, denn der
Weg „[z]ur ewgen Heimath hin“ sei entsprechend kurz. Das Glockengeläut – und
dazu die auf den ersten Blick negative Assoziation der Sterblichkeit und welt-
lichen Heimatlosigkeit – erhält nun eine positive Konnotation: Wer aufhört, seine
Heimat auf Erden zu suchen, der findet sie im jenseitsbezogenen Glauben und
lebt „[g]lücklich“,99 da er ohnehin nur kurze Zeit im ‚Jammertal‘ des Diesseits
ausharren muss.
Auch der Kunst, die im ersten Gedicht als Beschwörungszauber letztlich ver-
sagte, wird vor diesem Hintergrund eine positive Funktion zugewiesen: Glück
verheißt nicht nur die Absage an den irdischen Trug, sondern auch das Singen
der „Heimathslieder […] / von jener Seligkeit“.100 Der dichterische Gesang mani-
festiert das Erlösungsversprechen noch zu Lebzeiten; er muss sich nur auf die
zukünftig zu gewinnende Ewigkeit richten, um sein Potenzial zu entfalten, denn
Vergangenes könne auch die Kunst nicht wiederbeleben. In Analogie dazu erhält
der Heimatbegriff eine neue Färbung: Das unwiederbringliche Kindesalter bietet
genauso wenig wie das Zuhause, das ein lebhaftes Erinnern ermöglicht, eine
beständige Aussicht auf Glück. Einsamkeit und Heimatlosigkeit stellt der junge
Nietzsche als für das irdische Leben notwendige Zustände dar, die folglich erst in
der Negation desselben überwunden werden können: Der „edle[ ] Geist“
„schwingt […] sich empor“, der Glückliche „entschwinget“ sich der Erde.101 Als
lebenswerten Kompromiss bietet der Text somit das Leben im steten Gedanken an
Gott an, das im dichterischen Lobpreis veredelt werden kann.
Das vierte Gedicht hatte Nietzsche seiner Mutter schon einmal geschenkt, und
zwar als Abschlussgedicht der Geburtstagssammlung des Jahres 1858 unter dem
Titel Wohin?102 Bestehend aus drei gleichmäßigen Volksliedstrophen, ist es das
formal am stärksten geschlossene Gedicht des Zyklus und auch thematisch mus-
terhaft für die prinzipielle Neigung der vielfältig verwendeten Form „zum ver-
haltenen Ausdruck inniger, ja wehmütiger Empfindungen“.103 Bestimmendes
Strukturmerkmal ist die Apostrophe von „Vöglein“, „Lerchen“ und „Nachti-
gall“,104 auf die jeweils Aufforderungen des lyrischen Ichs an die Vögel folgen,

99 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 182, 13 f.


100 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 182, 16 f.  

101 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 181, 8 f., u. 182, 15.


102 Vgl. NL 1858, 4[9], KGW I/1, 226.


103 Frank, Handbuch der deutschen Strophenformen, S. 111.
104 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 182, 18, 22 u. 26. Die genannten Singvögel kommen in Nietzsches
Gedichten um 1858 zuhauf vor. Schmidt, Nietzsche absconditus I, Bd. 2, S. 1043, vermutet, „daß
44 Armin Thomas Müller

durch Grüße und Trostgaben einen symbolischen Konnex von Dies- und Jenseits
zu schaffen. Die Singvögel symbolisieren – in einer bis in die Antike zurück-
reichenden Tradition, auf die auch der spätere Nietzsche als Lyriker immer wieder
rekurriert – den Dichter, im konkreten Fall denjenigen, der Heimatlieder singt,
und sie ermöglichen die Kommunikation zwischen Himmel und Erde. Auf diese
Weise versinnbildlichen sie das himmlische Trostversprechen in der Welt. „Vaters
Grab“ ist auf der symbolischen Ebene eine sinnfällige Metapher für Einsamkeit
und Heimatlosigkeit.105 In der inneren Logik des Zyklus ging mit dem Vater auch
die Kindheit verloren – ein frühes ‚Erwachsenwerden‘ ist die Folge. Doch besteht
aufgrund des christlichen Heilsversprechens die Hoffnung auf ein Wiedersehen
im Paradies.
Wie der Heimatlieder singende Dichter aus Gedicht III fordert das lyrische Ich
die „Vöglein in den Lüften“ auf, singend „den theuren / Den lieben Heimathsort“
zu grüßen.106 Mit Blick auf die bisherige Konnotation des Heimatbegriffs ist
davon auszugehen, dass es sich dabei um die ewige Heimat des Menschen im
Paradies handelt, das sich nach traditionellen Glaubensvorstellungen im trans-
zendenten Himmel befindet. Dichter und Singvogel erscheinen hier – nicht zu-
letzt über das tertium comparationis des ‚himmlischen Gesangs‘ – bildlich ver-
bunden und fungieren als ‚Mittler‘ zwischen Himmel und Erde. Aus der
Aufforderung des lyrischen Ichs spricht eine neu gefundene Sicherheit angesichts
seiner Einsamkeit und Heimatlosigkeit. Beides ist für den Sprecher zwar untrenn-
bar mit dem menschlichen Leben verbunden, doch könne man sich schadlos
halten, indem man sich durch irdische Dienste stets auf den Himmel bezieht. Das

sowohl Nachtigall als auch Lerche Selbstbilder Nietzsches sind“, und sieht in jener den „Leidens-
aspekt […] recht gut getroffen“, in dieser den „Sonnenbezug des Apollon, Höhe, Lebensfreude der
Götter“ symbolisiert (ebd., S. 1047). Nachtigall und Lerche sind aber zugleich die Vogelarten, die
in Eichendorffs Lyrik nicht nur eine exponierte Stellung einnehmen, sondern geradezu zum
Inventar seiner Naturbilder gehören. Da Nietzsche beständig aus Eichendorffs Werk schöpft, ist es
auch als Quelle der Vogelbilder wahrscheinlich (vgl. auch Ziemann, Abschiede, S. 187). Mayer
erachtet „Lerchen, Schwalben und Adler“ ebenfalls als „Requisiten dieser Texte“, sieht sie aber
im Kontext „des Aufbruchs zu neuen Ufern“ (Mayer, Nachwort, S. 181), was auf das „Vögelpaar“
in Colombo (NL 1858, 4[67], KGW I/1, 274, 5) sicherlich zutrifft.
105 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 182, 29. Vgl. auch Mayer, Nachwort, S. 181. „Vaters Grab“ verweist
durchaus auf Nietzsches persönliche Erfahrung. Das wiederholte Vorkommen in Nietzsches
Gedichten zeugt aber von einer über die autobiographische Referenz weit hinausreichenden
metaphorischen Bedeutung (vgl. hierzu auch das Gedicht Ich habe viel geweinet ..., NL 1859, 6[70],
KGW I/2, 91 f.). Die motivische Ausweitung auf die „ganze Welt“ als „Grab“ in Verbindung mit

„Nachtigall und Lerchenschlag“ (NL 1858, 4[66], KGW I/1, 272, 14 u. 273, 7) im Gedicht O weh! Daß
ich verlassen hab ... ist ein weiteres Beispiel für den Einsatz des Bildes im Kontext beklagten
Heimatverlustes.
106 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 182, 18 u. 20 f.

Nietzsches Jugendlyrik am Beispiel des Gedichtzyklus In der Ferne 45

Schmücken des Vaterhauses und die Bitte um ein Weitertragen der Trostgaben
stellen ebenso wie die Mitnahme der „Rosenknospe“ vom Vatergrab symbolische
Handlungen dar,107 in denen sich der Mensch, den das lyrische Ich hier als
Individuum repräsentiert, mittels Kunst (Gesang, Haus- und Grabschmuck) in
Beziehung zur ‚Heimat‘ setzt und seinen Glauben praktiziert.
Im Abschlussgedicht (V) tritt der kasualpoetische Status deutlicher als bei den
anderen Gedichten des Zyklus hervor. Die Konstellation von lyrischem Ich und Du
entspricht exakt dem Trostgestus, der oben angenommen wurde: Anlässlich ihres
Geburtstags („wenn du heut durch dir Pforte / Des neuen Jahres trittst“)108 will der
Sohn die um den gestorbenen Vater trauernde Mutter trösten und ihr eine ideelle
Ersatzheimat bieten. Gleichwohl zeigt sich bei diesem Gedicht klar, wie sehr der
junge Nietzsche – namentlich wenn es sich um religiöse Gelegenheitsgedichte für
seine Mutter handelt – konventionelle Vorstellungen nach dem Muster kirchlicher
Gesangbücher übernimmt, auch wenn es sich in diesem Fall nicht um eine Form-
übernahme handelt, da er das Gedicht (mit Ausnahme der zweiten Zeile) in Blank-
versen verfasste.109 Das persönlichere Eingangsgedicht, das er auch seinem
Freund Wilhelm Pinder schickte, stellt hierzu einen merklichen Kontrast dar.
Das lyrische Ich attestiert einem nicht näher bestimmten Du „Angst“ und
„Schmerz“, um davon ausgehend ein Trostgebet „empor zu Gottes Throne“ zu
senden: „Frieden und Ruhe“ sollen wieder in das „schmerzzerissne Herz“ ein-
kehren.110 Das lyrische Ich verwendet seine Erfahrung des Heimatverlustes und
seine religiöse Selbsterbauung, um einem Du, das ebenso am Verlust leidet, die
eigene Troststrategie zu empfehlen. Im Gebet, dem Kontaktversuch von Mensch
zu Gott, öffnet sich eine Perspektive auf Erlösung, die auf das menschliche Leben
zurückstrahlt und ihm „Frieden und Ruhe“ ermöglicht. Das lyrische Ich hat diese
Erfahrung gemacht und ist sich daher sicher: „diese Bitte [um Trost] wird der Herr
gewähren“.111
Im zweiten Teil des Gedichts ist aus dem lyrischen Ich ein Wir geworden, das
einen Ersatz für die verlorene Heimat anbietet. Analog zur Universalisierung des
trostlosen Menschenschicksals im dritten Gedicht wird hier die Verallgemeine-
rung der zuvor entwickelten Erlösungsstrategie postuliert. Die in Liebe vereinte
Gemeinschaft ist gefestigt genug, um auf Erden einen Heimatersatz zu suchen.
Die christliche Trias Glaube, „Liebe“, „Hoffnung“ gibt diesem Wir Halt und lässt

107 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 182, 23 u. 28.


108 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 183, 2 f.

109 Die überwiegend im Drama eingesetzten Blankverse betonen hier, dass es sich um eine
Anrede des lyrischen Du durch das Ich handelt.
110 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 183, 2–8.
111 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 183, 9.
46 Armin Thomas Müller

es bereits im Diesseits am ewigen ‚Heimatglück‘ des Jenseits teilhaben,112 da das


Irdische so zum Vorhof des himmlischen Reiches verklärt wird. Die finale Meta-
pher bringt dies zum Ausdruck: „Hast du noch nie gesehn, wie grüne Hügel / Von
ferne blau erscheinen? Also ist / Auch unsre Hoffnung unser Himmelreich!“113
Grün, die Farbe der Hoffnung und der lebendigen Natur, erscheint himmelblau.
So exponiert das Gedicht noch einmal den irdischen Zugang zum ‚metaphysi-
schen Trost‘ über die Natur: Sie lässt das Jenseits im Diesseits, die Ewigkeit in der
Zeit erahnen. Damit wird die im ersten Gedicht vernichtete Hoffnung abschlie-
ßend wieder geweckt. Der Zyklus betont zuletzt also einen Lebenswert, statt bloß
auf den Tod als das Ende des Leidens zu vertrösten.
Der harmonische Schluss des Zyklus In der Ferne veranschaulicht ein wesent-
liches Charakteristikum der Jugendgedichte: Wo Nietzsches frühe Lyrik roman-
tisch, erbaulich oder antikisierend idealisiert, handelt es sich in aller Regel um
poetische Gegenentwürfe, deren Harmonie ex negativo auf die Insuffizienz der
wahrgenommenen Realität verweist.114 Ihnen eignet ein entschieden postulatori-
scher Charakter. Sie sind Ausdruck eines fundamentalen Zweifels an sich und der
Welt, der eines Ausgleichs bedarf, den in den Texten des reifen Nietzsche
bekanntlich oftmals die Kunst leistet. Der Glaube erscheint beim jungen Nietzsche
nicht als daseinsfundierende Gewissheit, sondern als Zuflucht verlorener
Seelen – und selbst dies nur als Wunschvorstellung.

112 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 183, 12, 10 u. 15.


113 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 183, 13–15.
114 Das späte Jugendgedicht Jetzt und ehedem (1863), das auch sprachlich die reife Lyrik Nietz-
sches antizipiert (vgl. Ziemann, Die Gedichte, S. 151), reflektiert diesen Umstand stellenweise: „O
daß ich könnte weltenmüd / Wegfliehen. / Und wie die Schwalbe nach dem Süd / Zu meinem
Grabe ziehen: / Rings warme Sommerabendluft / Und goldne Fäden. / Um Kirchhofskreuze
Rosenduft / Und Kinderlust und Reden.“ (NL 1863, 15[2], KGW I/3, 114, 9–16)
Armin Thomas Müller
Nietzsches Gimmelwalder Melancholie-
Gedichte aus dem Sommer 1871

Abstract: Nietzsche’s Gimmelwald poems on melancholy from the summer of


1871. The affinity of Nietzsche’s poems on melancholy written in July 1871 in
Gimmelwald (Switzerland) has not been shown in detail yet. In a close reading of
the two poems, this essay investigates both the functioning of the individual texts
and their interplay. In addition, the poems are read in their literary and philosophi-
cal contexts: from the long tradition of melancholy into which Nietzsche inscribes
himself to Die Geburt der Tragödie, which he was working on at exactly the same
time.

1 Einleitendes
Nietzsches Gedichte An die Melancholie und Nach einem nächtlichen Gewitter1
entstanden während eines Ferienaufenthalts in der zweiten Julihälfte 1871 in
Gimmelwald (Berner Oberland). Neben der räumlichen und zeitlichen ist die
thematische Zusammengehörigkeit evident, denn beide Texte stellen allegorische
Melancholie-Figuren ins Zentrum, die sich aufgrund der zugeschriebenen Attri-
bute ähneln. Elisabeth Förster-Nietzsche spricht in ihrer Biographie des Bruders
zudem davon, dass er in der betreffenden Zeit „zwei Gedichte an die ‚Melancholie‘
verfaßte“.2 Unter den erhaltenen Gedichten Nietzsches aus den frühen 1870er
Jahren trifft diese thematische Bestimmung nur auf die hier zu erörternden Texte
zu.3 Bei den zwei anderen Gedichten Nietzsches, die Buschendorf zufolge als
‚Melancholie-Gedichte‘ bezeichnet werden können,4 handelt es sich um den

1 NL 1871, 15[1]–[2], KSA 7, 389–391.


2 Förster-Nietzsche, Elisabeth, Das Leben Friedrich Nietzsche’s, 2 Bde., Leipzig 1895, Bd. 2, Abt. 1,
S. 61.
3 Dass im Gewitter-Gedicht nicht explizit von der Melancholie die Rede ist, während sie im ersten
Text wiederholt angerufen und als Adressatin im Titel genannt wird, ist dem Tropus der Antono-
masie geschuldet, den Nietzsche in Nach einem nächtlichen Gewitter konsequenter als im Melan-
cholie-Gedicht einsetzt.
4 Vgl. Buschendorf, Bernhard, Die Geburt der Lyrik aus dem Geiste der Parodie. Friedrich Nietz-
sches Gedicht ‚An die Melancholie‘, in: Riedel, Manfred (Hrsg.), „Jedes Wort ist ein Vorurteil“.
Philologie und Philosophie in Nietzsches Denken, Köln 1999 = Riedel, Manfred u. a. (Hrsg.), Collegi-

DOI 10.1515/9783110474374-004
48 Armin Thomas Müller

ersten Teil der Jugenddichtung Alfonso5 aus dem Jahr 1857 sowie um den Gesang
des Zauberers im Kapitel „Das Lied der Schwermuth“ aus dem Zarathustra (bzw.
den ‚Dionysos-Dithyrambus‘ Nur Narr! Nur Dichter!).6
An die Melancholie ist bereits Gegenstand mehrerer Untersuchungen gewe-
sen, die sich dem Gedicht auf unterschiedlichen Wegen genähert haben. Bu-
schendorf analysiert es im Lichte der parodistischen Verfahrensweisen Nietzsches
umfassend und moniert, dass das Gedicht „in der Forschung unter verschiedenen
Aspekten behandelt, in seiner Form und seinem gedanklichen Gehalt bislang
aber nicht auch nur annähernd erfaßt wurde“.7 Kritik an der künstlerischen
Qualität des Gedichts üben Meyer, der An die Melancholie zwischen „Pathos und
Farce“ verortet,8 und Ziemann, der vor allem „die Überhöhung des Schlusses“
unstimmig findet.9 Im Vergleich zum Melancholie-Gedicht, das die Forschung
also durchaus zur Kenntnis genommen hat, ist Nach einem nächtlichen Gewitter
bislang weitgehend unbeachtet geblieben. Meyer betitelt es als „abstruse[s]
Schauer-Gedicht“,10 Grundlehner erwähnt es nur einmal in einer Anmerkung kurz
vor dem Ende seiner Untersuchung zum Melancholie-Gedicht11 und Volz, die dem
Gedicht noch die meiste Aufmerksamkeit widmet, identifiziert die militaristisch
auftretende Melancholie-Figur kurzerhand mit Kleists Penthesilea und verwischt
die enge Zusammengehörigkeit beider Gedichte.12
Mittel- und Ausgangspunkt einer literaturwissenschaftlichen Betrachtung wa-
ren beide Gedichte zusammen also noch nicht,13 obwohl sie ein gemeinsames,
thematisch und motivisch eigenständiges Gepräge aufweisen: Nietzsche bewegt

um Hermeneuticum. Deutsch-italienische Studien zur Kulturwissenschaft und Philosophie, Bd. 1,


S. 105–130, hier S. 115 f.

5 NL 1857, 3[1], KGW I/1, 175, 3–176, 16.


6 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371–374; bzw. DD Nur Narr! Nur Dichter!, KSA 6, 377–
380.
7 Buschendorf, Die Geburt der Lyrik aus dem Geiste der Parodie, S. 113. Ein entsprechender
Kommentar der älteren (aber noch immer aktuellen) Forschungssituation findet sich ebd., S. 113 f.  

8 Meyer, Theo, Nietzsche. Kunstauffassung und Lebensbegriff, Tübingen 1991, S. 407.


9 Ziemann, Rüdiger, Die Gedichte [Artikel], in: Ottmann, Henning (Hrsg.), Nietzsche-Handbuch.
Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart / Weimar 2000, S. 150–156, hier S. 152.
10 Meyer, Nietzsche, S. 407.
11 Vgl. Grundlehner, Philip, The Poetry of Friedrich Nietzsche, New York / Oxford 1986, S. 318 f.

12 Vgl. Volz, Pia Daniela, Nietzsche – Der lyrische Melancholiker, in: Jahresschrift der Förder- und
Forschungsgemeinschaft Friedrich Nietzsche e. V., Bd. 3, Halle/Saale 1994, S. 23–45, hier S. 36 f.  

Diese Behandlung des Verhältnisses der beiden Gimmelwalder Gedichte zueinander ist beispiel-
haft für ihre bisherige Rezeption: Das Gewitter-Gedicht steht klar im Schatten des Melancholie-
Gedichts, selbst auf die naheliegende Zusammengehörigkeit wurde nur vereinzelt hingewiesen.
13 Zur frühen Rezeption von Nietzsches Lyrik insgesamt vgl. den entsprechenden Beitrag von
Katharina Grätz in diesem Band.
Nietzsches Gimmelwalder Melancholie-Gedichte aus dem Sommer 1871 49

sich zwar als Dichter im Rahmen einer umfassenden Melancholie-Tradition,14 die


nicht zuletzt die europäische Lyrik stark beeinflusst hat, versteht es aber, durch die
ironische Behandlung der Thematik und die eigenwillige Wahl der Bilder eigene
Akzente zu setzen. Interesse verdienen die beiden Texte auch deshalb, weil vom
Lyriker Nietzsche aus den 1870er Jahren nur wenige vollständige Gedichte erhalten
sind: Im Nachlass dieser Zeit finden sich zwar insgesamt 39 im weitesten Sinne
lyrische Texte, es handelt sich bei ihnen aber größtenteils um fragmentierte Stro-
phen, verstreute Einzelverse und Nonsens-Konstruktionen.15 Zusammen mit den
Erstfassungen der sogenannten Rosenlauibad-Gedichte Im deutschen November
und Am Gletscher aus dem Sommer 187716 sowie der ein Jahr zuvor entstandenen
ersten Fassung von Der Wanderer17 sind die Gimmelwalder Gedichte die einzigen
lyrischen Produktionen aus der frühen Werkphase Nietzsches, die sich als weit-
gehend abgeschlossene und zusammenhängende Sprachgebilde literaturwissen-
schaftlich erschließen lassen. Das liegt allerdings weniger an Nietzsches zurück-
haltender Produktion in den 1870er Jahren, als vielmehr – glaubt man Elisabeth
Förster-Nietzsche – an seinen Autodafés: „Liegen nun aus einer solchen Zeit […] kei-
ne ernsten dichterischen Produktionen vor, so bin ich viel mehr geneigt zu glauben,
daß sie vernichtet sind, als daß überhaupt nichts vorhanden gewesen sein sollte“.18

14 Zu den Ursprüngen dieser Tradition und ihrer Entwicklung bis ins Mittelalter hinein vgl. das
Standardwerk von Klibansky, Raymond / Panofsky, Erwin / Saxl, Fritz, Saturn und Melancholie.
Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, übersetzt von
Christa Buschendorf, Frankfurt/Main 1990. Eine Auswahl maßgeblicher Gedichte aus der spezi-
fisch literarischen Melancholie-Tradition bietet samt Einleitung die Anthologie von: Völker,
Ludwig (Hrsg.), „Komm, heilige Melancholie“. Eine Anthologie deutscher Melancholie-Gedichte. Mit
Ausblicken auf die europäische Melancholie-Tradition in Literatur- und Kunstgeschichte, Stuttgart
1983. Die in der Folge zu illustrativen Zwecken angesprochenen Gedichte aus der Tradition zitiere
ich der Einheitlichkeit wegen aus dieser Ausgabe.
15 Vgl. beispielsweise die nachgelassenen Notizen im Oktavheft N I 2 aus dem Frühherbst 1871,
17[1]–[10], KSA 7, 409 f.; oder die letzten Aufschriebe im Notizbuch N II 2 vom Sommer 1877,

22[119]–22[135], KSA 8, 401–403. Die sentimentalen Strophen NL 1877, 22[45], KSA 8, 386 f.; und

NL 1877, 22[61], KSA 8, 389, machen zusammen mit den rein scherzhaften Gedichtfragmenten
NL 1877, 22[80], KSA 8, 392 f.; und NL 1877, 22[92], KSA 8, 394 f., noch den vollständigsten Eindruck.
   

16 NL 1877, 22[93]–[94], KSA 8, 395–397. Nietzsche überarbeitet die Gedichte 1884 und gibt ihnen
ihre heute bekannten Titel (vgl. NL 1884, 28[59]–[60], KSA 11, 323–326). Vgl. zu dem Gedicht Um
Mittag / Am Gletscher den entsprechenden Beitrag von Katharina Grätz im vorliegenden Band.
17 NL 1876, 17[31], KSA 8, 302 f. Dieses Gedicht schickt Nietzsche zeitnah an Erwin Rohde (Brief

vom 18. 07. 1876, KSB 5, Nr. 542, S. 176 f., Z. 19–43) und überarbeitet es ebenfalls im Zuge der

Neugestaltung der Rosenlauibad-Gedichte (vgl. NL 1884, 28[58], KSA 11, 322 f.).

18 Vgl. Förster-Nietzsche, Elisabeth, Vorwort zur 1. Auflage, in: Nietzsche, Friedrich, Gedichte und
Sprüche [mit einem Vorwort von Elisabeth Förster-Nietzsche und einem Nachbericht von Peter
Gast], 17./20. Tausend, Leipzig 1908, S. XII.
50 Armin Thomas Müller

Ob die Gimmelwalder Gedichte zufällig oder absichtlich erhalten geblieben


sind, lässt sich nicht sicher sagen. Als einzige bekannte lyrische Werke der frühen
1870er Jahre können sie bei der Annäherung an den Dichter Nietzsche aber nicht
umgangen werden, zumal sie Auskunft über den Werdegang Nietzsches als
Lyriker gewähren (indem sie, so Mathias Mayer, auf die Abkehr von seiner melan-
cholischen Jugendlyrik hinweisen und den ironisch-heiteren Stil der frühen
1880er Jahre antizipieren).19 Nicht zuletzt enthält An die Melancholie deutliche
Verbindungen zur zeitgleich entstehenden Tragödienschrift und bewegt sich
damit auch im Bereich philosophischer Lyrik. Obwohl sie also mancherorts als
bloße „epigonale Stilübungen“ bezeichnet wurden,20 gehören An die Melancholie
und Nach einem nächtlichen Gewitter zu den interessantesten Gedichten Nietz-
sches.

2 Zur Melancholie-Tradition und ihrer Aufnahme


in Nietzsches Gimmelwalder Gedichten
Innerhalb der Tradition lassen sich zwei verschiedene Wertungen der Melancho-
lie erkennen: die pathologisch-negative und die genialisch-positive.21 Erstere ist
von Anfang an mit dem Begriff μελαγ-χολία (melancholia, ‚Schwarzgalligkeit‘)
verbunden, der in den ältesten Teilen des Corpus Hippocraticum noch die krank-
hafte schwarze Verfärbung des Gallensaftes meint, während die spezifisch
‚schwarze‘ Galle erst in der Vier-Säfte-Lehre terminologisch fixiert wird. In jünge-
ren Texten des Corpus Hippocraticum finden sich dann spezifische ‚melancho-
lische‘ Leiden, die auf die schwarze Galle zurückgeführt werden und sowohl
manische als auch depressive Phasen einschließen. Positiv wird die Melancholie
erstmals im pseudoaristotelischen Problem XXX, 1 gedeutet, wo sie als Natur-

19 Vgl. Mayer, Mathias, Nachwort, in: Nietzsche, Friedrich, Gedichte, hrsg. von Mathias Mayer,
Stuttgart 2010, S. 173–186, hier S. 181.
20 Meyer, Nietzsche, S. 407.
21 Der folgende Überblick basiert größtenteils auf Hellmut Flashars Kommentar seiner Über-
setzung des Problems XXX, 1 in: Aristoteles, Problemata Physica, übersetzt von Hellmut Flashar,
Berlin 1962 (= Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, hrsg. von Ernst Grumach, Bd. 19),
S. 711–722; sowie auf den Ausführungen von Klibansky / Panofsky / Saxl, Saturn und Melancholie;
Völker, Ludwig, Muse Melancholie – Therapeutikum Poesie. Studien zum Melancholie-Problem in
der deutschen Lyrik von Hölty bis Benn, München 1978, S. 11–29; und Völker (Hrsg.), „Komm,
heilige Melancholie“, S. 15–43.
Nietzsches Gimmelwalder Melancholie-Gedichte aus dem Sommer 1871 51

anlage bestimmt wird, die den Melancholiker zu außergewöhnlichen Leistungen


befähige. Der Anfang des Textes lautet:

Warum erweisen sich alle außergewöhnlichen Männer in Philosophie oder Politik oder
Dichtung oder in den Künsten als Melancholiker; und zwar ein Teil von ihnen so stark, daß
sie sogar von krankhaften Erscheinungen, die von der schwarzen Galle ausgehen, ergriffen
werden, wie man z. B. berichtet, was unter den Heroen dem Herakles widerfuhr?22

Das pathologische Verständnis der Melancholie besteht also hier noch neben dem
genialischen fort. Verliert die Wärme der schwarzen Galle ihr Mittelmaß, schlägt
die außerordentliche Befähigung in Wahnsinn oder Niedergeschlagenheit um.
In der Antike wird die genialische Melancholie-Vorstellung der Problemata
wiederholt aufgegriffen, etwa von Cicero, Seneca und Plutarch. Im Mittelalter
beziehen sich mehrere Scholastiker ebenfalls darauf. Doch bleibt das medizi-
nische Verständnis der Melancholie als Krankheit insgesamt dominant; im Laufe
des Mittelalters setzt es sich in der allgemeinen Meinung sogar gänzlich durch.
Erst im italienischen Humanismus, namentlich im Gelehrtenkreis um Marsilio
Ficino, erfährt die Melancholie eine Umwertung, die sie im Rückgriff auf die
Problemata und auf Platons Lehre vom ‚göttlichen Wahnsinn‘ nachhaltig als
natürliches Temperament der vita contemplativa vorstellt.23
Für das neuzeitliche Melancholie-Verständnis, wie es sich im Anschluss an
Ficino entwickelt, ist die Dialektik von Trauer und Heiterkeit wesentlich, die
schon Michelangelos berühmter Satz ausdrückt: „Meine Freude ist die Melancho-
lie“ („La mia allegrezz’ è la maninconia“).24 Von Italien hält es – nicht zuletzt im
Medium der Literatur – über England25 schließlich Einzug in ganz Europa. Dabei
ist auch die Tendenz einer auf Selbstnobilitierung zielenden Stilisierung zum
Melancholiker kennzeichnend; es entsteht ein „poetische[r] Kult der Melancho-
lie“.26
In Deutschland kommt es erst spät zur positiven literarischen Rezeption des
neuen Melancholie-Bildes: Im Barock dominiert, bis auf wenige Ausnahmen in

22 Aristoteles, Problemata Physica, S. 250.


23 Vgl. Völker (Hrsg.), „Komm, heilige Melancholie“, S. 24. So bereits Klibansky / Panofsky / Saxl,
Saturn und Melancholie, S. 361 f., die in der humanistischen „Gleichsetzung von ‚Aristotelischer‘

Melancholie und Platonischem ‚furor divinus‘, die die Antike selbst nie klar formuliert hatte“, die
Schöpfung des modernen Genie-Begriffs sehen.
24 Zitiert nach: Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur,
Philosophie und Politik 1750–1945, Bd. 1: Von der Aufklärung bis zum Idealismus, dritte verbesserte
Auflage, Heidelberg 2004, S. 107 f. 

25 John Miltons Il Penseroso (vgl. Völker [Hrsg.], „Komm, heilige Melancholie“, S. 337–346) und
Shakespeares Hamlet sind maßgebend für diese frühe englische Rezeption.
26 Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 1, S. 108.
52 Armin Thomas Müller

der Lyrik, „die volkstümlich-abwertende Melancholie-Vorstellung“ des Mittel-


alters,27 die erst Mitte des 18. Jahrhunderts von der empfindsam-verklärten Auf-
fassung der ‚Dichterfreundin‘ Melancholie abgelöst wird. Die Empfindsamkeits-
literatur des 18. Jahrhunderts, die in der englischen ‚Gräber- und Kirchhofspoesie‘
gipfelt, kultiviert die fruchtbare Verbindung von Kunst und Melancholie so sehr,
dass die ‚süße Schwermut‘ als Schutzgöttin und Muse des Dichters allen Schre-
cken verliert und in zahlreichen Werken als liebliche Allegorie auftritt, die das
Dichten befördern soll (melancholia generosa). Die Bewertung in der Literatur
nimmt durch die aufkommende Genieästhetik zwar wieder düstere Züge an, doch
die inspirierende Wirkung bleibt davon unberührt.28 Das Leiden an der Melan-
cholie artikuliert besonders die ‚Weltschmerz‘-Dichtung von der Romantik bis hin
zu Heine und Büchner, welche die existenziellen Nöte des Subjekts in den Mit-
telpunkt rückt.29 Insgesamt bewegt sich die Melancholie-Dichtung des 18. und
19. Jahrhunderts aber innerhalb des Bedeutungsspektrums von empfindsamer
Verklärung und romantischem Pessimismus, wie ihn Schopenhauer am stärksten
zum Ausdruck bringt.30 Im Anschluss an Schopenhauer und etwa auch Giacomo
Leopardi greift Nietzsche an der Schwelle zur Jahrhundertwende die pathologi-
sche Semantik nachdrücklich wieder auf.

27 Völker, Muse Melancholie – Therapeutikum Poesie, S. 12.


28 Eine prägende Gestalt des Geniekults der Stürmer und Dränger war Johann Georg Hamann,
der eine genaue Kenntnis der Melancholie-Tradition über Marsilio Ficino bis hin zu den pseudo-
aristotelischen Problemata besaß. Hamann war zwar „unverkennbar selbst ein schwerer Melan-
choliker und ‚Hypochondrist‘“, doch verlief die Grenze zum „gelehrten Rollenspiel“ fließend. Er
verkörpert musterhaft die ambivalente Melancholie-Vorstellung der Genieästhetik (vgl. hierzu:
Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 1, zur „Aktualisierung der traditionellen Ver-
bindung von Genie und Melancholie“ im Sturm und Drang am Beispiel Hamanns S. 105–110, hier
S. 109). – Eine umfassende Studie zum Thema der Melancholie im 18. Jahrhundert mit besonderer
Berücksichtigung des religiösen und mystischen Kontextes bietet Schings, Hans-Jürgen, Melan-
cholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des
18. Jahrhunderts, Stuttgart 1977. – Einen soziologischen Blick auf die Melancholie-Thematik in der
betreffenden Zeit wirft das Kapitel „Zum Ursprung bürgerlicher Melancholie: Deutschland im
18. Jahrhundert“ in: Lepenies, Wolf, Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt/Main 1969, S. 79–
117.
29 Einen Textüberblick mit Gedichten von Tieck, Droste-Hülshoff, Heine u. a. enthält das Kapitel

über „Romantik und Biedermeier“ in Völker (Hrsg.), „Komm, heilige Melancholie“, S. 107–156.
30 Schopenhauer bietet im 31. Kapitel der Welt als Wille und Vorstellung („Vom Genie“) gewisser-
maßen ein kleines Resümee des neuzeitlichen Melancholie-Verständnisses (samt den wichtigsten
Zitaten aus der Tradition), das er auf der Folie seines Voluntarismus erläutert (vgl. Schopenhauer,
Arthur, Die Welt als Wille und Vorstellung I und II, nach den Ausgaben letzter Hand hrsg. von
Ludger Lütkehaus, 5. Auflage, München 2011, S. 446 f.).

Nietzsches Gimmelwalder Melancholie-Gedichte aus dem Sommer 1871 53

Nietzsche verbindet beide Traditionszweige – die empfindsam-verklärende


und die pathologisierende – in ironisch-parodistischer Weise.31 Dieser Ansatz
ermöglicht ihm auf der einen Seite, sein Wissen über die tradierten Motive in die
Gedichte einfließen zu lassen; auf der anderen Seite gelingt ihm ein innovativer
Umgang mit ihnen.
Zugleich kommt den Gimmelwalder Gedichten eine autobiographische Di-
mension zu. Sie lassen sich als Versuch Nietzsches verstehen, sich von der bedrü-
ckenden Melancholie zu befreien. Diese beschäftigt ihn persönlich und theo-
retisch immer wieder (auch über den Sommer 1871 hinaus); er strebt danach, sie
zu überwinden und zu einer stilisierten Heiterkeit durchzubrechen. Ein Notat aus
dem Winter 1880/81 lautet dementsprechend: „immer melancholisch – aber ein
Princip der Tapferkeit von Kindheit an macht, daß ich viele kleine Siege habe und
in Folge dessen heiterer bin als es meiner Mel〈ancholie〉 geziemt“.32 Und im
vierten Teil seiner Vorrede zur zweiten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft
fordert das sprechende Ich als Gegenstück zum „romantische[n] Aufruhr und
Sinnen-Wirrwarr“ „eine Kunst für Künstler“, die es – wohl mit Blick auf das
Gestaltungsprinzip der Parodie – als „eine spöttische, leichte, flüchtige, göttlich
unbehelligte, göttlich künstliche Kunst“ charakterisiert.33 Die melancholische
Gefährdung bei Nietzsche, der zugleich die Möglichkeit zur Überwindung einge-
schrieben ist, bringt ein Fragment aus dem Nachlass pointiert zum Ausdruck:
„Die höchsten Menschen leiden am meisten am Dasein – aber sie haben auch die
größten G e g e n - K r ä f t e .“34

3 An die Melancholie
Bereits die Adressierung der Melancholie im Titel des Gedichts eröffnet zwei
große Bedeutungskomplexe: Einerseits kann das Gedicht aufgrund des Titels als
biographisch geprägte Auseinandersetzung mit Nietzsches eigenen melancho-
lischen Stimmungen gelesen werden, die ihn in regelmäßigen Abständen über-
fielen. Zahlreiche Briefe enthalten Klagen über melancholische Zustände, so
schreibt Nietzsche am 14. Mai 1874 an Erwin Rohde: „ich gerathe mitunter in eine

31 Buschendorf, Die Geburt der Lyrik aus dem Geiste der Parodie, S. 105–113 erarbeitet vor dem
Hintergrund des Melancholie-Gedichts sogar einen eigenen Parodiebegriff Nietzsches, dem zu-
folge Nietzsche „die Parodie als ein – zuweilen komisches, zuweilen aber auch durchaus
ernstes – Verfahren der spielerischen Anverwandlung von Traditionen“ verstehe (ebd., S. 113).
32 NL 1880/81, KSA 9, 8[42], 391, 19–21.
33 FW Vorrede 4, KSA 3, 351, 21 f. u. 25–29.

34 NL 1884, 25[157], KSA 11, 54, 26 f.



54 Armin Thomas Müller

schreckliche Klagerei und bin i m m e r mir einer tiefen Melancholie meines Da-
seins bewusst, bei aller Heiterkeit“.35 Knapp zwei Wochen später rät er seinem
Freund Rohde brieflich zum metaphorischen „Aderlass“ (dabei auf Goethes Tas-
so36 anspielend):

Sage einmal, liebster Freund, willst Du nicht auch das Mittelchen gebrauchen, das ich
selbst, ebenso Overbeck, gebrauchen? Man ritzt sich die Adern und lässt etwas Blut
fliessen – unzeitgemäss wie die Andern schreien, die den Aderlass als ein überwundenes
und antiquiertes Heilmittel betrachten. Ich meine: willst Du nicht auch einmal Dein und
unser Elend etwas ausschütten und sagen, was Du leidest? Es liegt ganz gewiss etwas
Befreiendes darin, den Leuten grob zu sagen, wie unser einer sich eigentlich unter ihnen
befindet. Beseitigen wir den Bandwurm der Melancholie schriftlich – indem wir die Andern
zwingen, unsre Schriften zu verschlucken.37

In den 1880er Jahren verschlimmern sich die melancholischen Attacken noch; in


Briefen an Köselitz und Overbeck ist die Rede von „der schwärzesten Melancho-
lie“ beziehungsweise von einer „unbewegliche[n] schwarze[n] Melancholie“.38
Und noch am Ende der 80er Jahre beklagt Nietzsche derartige Zustände, etwa in
einem Briefentwurf an Overbeck oder zum Schluss eines Briefs an die Mutter.39
Zudem lässt bereits die große Zahl melancholischer Jugendgedichte auf schwer-
mütige Gefühlszustände in jungen Jahren schließen.40

35 KSB 4, Nr. 364, S. 226, Z. 8–10.


36 Goethes poetologische Verse am Schluss seines Dramas sind auch ein berühmtes Zeugnis der
neuzeitlichen Melancholie-Tradition: „Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, / Gab mir
ein Gott, zu sagen, wie ich leide.“ (Goethe, Johann Wolfgang von, Werke. Hamburger Ausgabe in
14 Bänden, hrsg. von Erich Trunz, Bd. 5, textkritisch durchgesehen und kommentiert von Josef
Kunz, unveränderter Nachdruck der 7. Auflage, München 1974, S. 166).
37 KSB 4, Nr. 368, S. 233, Z. 18–28. Im Brief vom 20. Oktober 1871 zitiert Nietzsche sein Melan-
cholie-Gedicht gegenüber Rohde, als er die eigene Haltung auf einer Gruppenphotographie zu-
sammen mit Rohde und Carl von Gersdorff selbstironisch in Anführungszeichen als eine „un-
schön gekrümmt[e]“ beschreibt (KSB 3, Nr. 162, S. 233, Z. 8 f.). Im Gegensatz zu einem

Gruppenbild der Burschenschaft Franconia aus dem Jahr 1864 und Gustav Adolf Schultzes
Fotografie von 1882 zeigt das betreffende Bild Nietzsche allerdings gar nicht in der ikonischen
Pose, sondern stehend mit angewinkeltem Arm.
38 KSB 6, Nr. 390, S. 343, Z. 9 f.; und KSB 6, Nr. 393, S. 348, Z. 6.

39 Vgl. KSB 8, Nr. 1067, S. 364, Z. 43 f.: „Ich bin mitunter auf eine unbeschreibliche 〈Weise〉

melancholisch“; und KSB 8, Nr. 1069, S. 367, Z. 72 f.: „ich war bisher außerordentlich bedrückt

und melancholisch“. – Weitere Ausführungen zum Thema der „Depressivität in Nietzsches Bio-
graphie“ bietet Volz, Nietzsche – Der lyrische Melancholiker, S. 23–25.
40 Vgl. bezüglich Nietzsches Jugendgedichten meinen Beitrag zu seiner Jugendlyrik am Beispiel
des Gedichtzyklus In der Ferne in diesem Band.
Nietzsches Gimmelwalder Melancholie-Gedichte aus dem Sommer 1871 55

Neben der biographischen Lesart, der zufolge das Gedicht als Beispiel der
Rohde brieflich beschriebenen poetischen ‚Wurmkur‘ verstanden werden kann,
lässt sich eine kontextualisierende unternehmen, welche die explizite Anknüp-
fung des Gedichts an die geistesgeschichtliche Tradition sowie die offensicht-
lichen intertextuellen Bezüge zur Geburt der Tragödie berücksichtigt. Da An die
Melancholie, wie schon Buschendorf darlegt,41 in wesentlichem Maß auch eine
Parodie der Melancholie-Tradition darstellt und zugleich Philosopheme des zeit-
gleich entstandenen Erstlingswerkes dichterisch verarbeitet, kann es nicht völlig
unabhängig von diesen intertextuellen Bezügen betrachtet werden. Die Widmung
im Titel und die direkte Anrede der Melancholie als Allegorie sind beispielweise
typische Merkmale der empfindsamen Melancholie-Dichtung, die sich noch in
Melancholie-Gedichten des 20. Jahrhunderts finden.42
Die achtzeilige Kreuzreimstrophe aus jambischen Fünfhebern mit männlich-
weiblich alternierenden Kadenzen, die Nietzsche für sein Gedicht benutzt, wird
erst im 19. Jahrhundert geläufig und dort besonders für „umfänglichere Anreden,
Betrachtungen und Bilder“ eingesetzt.43 Nietzsche gebrauchte die Form also
gemäß ihrer allgemeinen Verwendungspraxis, vermengen sich im Gedicht doch
wiederholte Anreden mit betrachtenden Passagen und zum Teil grotesken Bildern
zu einem vielschichtigen Konglomerat mit ambivalenten Konnotationen. Im Mit-
telpunkt steht die Melancholie in verschiedenen Rollen als inspirierende und
bedrohliche Gottheit. Die erste und die letzte Strophe bilden einen poetologischen
Rahmen, der die heterogenen reflektierenden Binnenstrophen einfasst und das
lyrische Ich als Dichter vorstellt. Die fast identische Anrede am jeweiligen Stro-
phenanfang44 markiert den Rahmen deutlich. Ebenfalls strukturbildend wirkt die
Trennung der Strophen in jeweils vier Verse umfassende Satz- und Sinneinheiten,
die nur in der vorletzten Strophe bewusst aufgehoben wird.
Nietzsches Gedicht beginnt mit der Bitte des lyrischen Ichs an die apostro-
phierte (und dadurch anthropomorphisierte) Melancholie, ihm und seiner Hal-
tung Nachsicht entgegenzubringen. Der folgende Vers ist zweideutig, denn einer-

41 Vgl. Buschendorf, Die Geburt der Lyrik aus dem Geiste der Parodie, S. 113 f.

42 Die literaturgeschichtliche Konstanz der Kombination aus Widmung und Anrede im Gedicht
bezeugen die Gedichte Guoths (Völker [Hrsg.], „Komm, heilige Melancholie“, S. 73 f.), Stäudlins

(ebd., S. 86–88), Brinckmanns (ebd., S. 96 f.), Seumes (ebd., S. 102–105), Arndts (ebd., S. 126 f.),
   

Neuffers (ebd., S. 136 f.), Raimunds (ebd., S. 138–140), Lenaus (ebd., S. 143), Mengers (ebd.,

S. 171 f.), Trakls (ebd., S. 203), und Hesses (ebd., S. 224 f.).
   

43 Frank, Horst Joachim, Handbuch der deutschen Strophenformen, 2., durchgesehene Auflage,
Tübingen / Basel 1993, S. 664. Frank führt Nietzsches Gedicht sogar als Beispiel für die Ver-
wendung der Strophe zum Zweck der ‚Meditation‘ an.
44 Vgl. NL 1871, 15[1], KSA 7, 389, 2; und 390, 21.
56 Armin Thomas Müller

seits kann er dem durch die ‚spitze Feder‘ paraphrasierten Schreibakt selber
gelten. Andererseits verweist Nietzsche mit der ‚spitzen Feder‘ auf den ironischen,
‚überspitzten‘ Ton des Gedichts, das die traditionelle Musenpreisung parodiert. In
die Bitte um Nachsicht schließt das Ich seine Verweigerung des traditionellen
Melancholie-Pose ein, die unmittelbar im Anschluss evoziert wird: Offenbar wider
Erwarten sitzt das Ich nicht mit dem „Kopf gebeugt zum Knie, / Einsiedlerisch auf
einem Baumstumpf“.45 Es handelt sich um die Haltung versunken-schwermütigen
Grübelns, die schon lange ikonographisch fixiert ist.46 Pars pro toto vertritt sie in
Nietzsches Gedicht die gesamte Tradition melancholischer Symbolik, sowohl in
Hinsicht auf die pathologische Lebensentfremdung als auch auf die künstlerische
Inspiration und die philosophische Nachdenklichkeit. Der zum Knie gebeugte
Kopf veranschaulicht die melancholische ‚Innerlichkeit‘ sowie Nachdenklichkeit
des Kontemplativen und geht einher mit der einsamen Zurückgezogenheit vom
Leben als Gegenentwurf zur vita activa. Im engeren Kontext des Gedichts ist die
Opposition von Schreibakt und passivem Sitzen auf dem „Baumstumpf“ entschei-
dend. Nietzsche spannt hier bereits den Bogen zur letzten Strophe, in der eine
Emanzipation von der lähmenden Melancholie kraft des Schreibens angedeutet
wird. Indem das lyrische Ich nicht unbeweglich in seiner Schwermut verharrt,
sondern sie produktiv umzusetzen versucht, entzieht es sich ihrer bedrückenden
Macht – ganz so wie Nietzsche es seinem Freund Rohde wenige Jahre später
empfiehlt: „Beseitigen wir den Bandwurm der Melancholie schriftlich“.47 Diese
emanzipatorische Intention verstärkt Nietzsche mit der hyperbolischen Beschrei-
bung der Melancholie-Pose durch das lyrische Ich, welches die so ‚einsiedlerische‘
Haltung – und damit die Melancholie samt ihrer Ausdrucksformen – entschieden
von sich weist.
Es folgt ein Tempuswechsel ins Präteritum, der eine mehrere Strophen um-
fassende Retrospektive des lyrischen Ichs einleitet: Noch bis in die jüngste Ver-
gangenheit hinein (bis „gestern noch“)48 verhält sich das Ich der Melancholie-
Tradition entsprechend.49 Auffällig ist das den melancholischen Zustand kontras-

45 NL 1871, 15[1], KSA 7, 389, 4 f. 

46 Zu den berühmtesten Beispielen dieser ikonographischen Tradition gehört Albrecht Dürers


Meisterstich Melencolia I, den Nietzsche ausweislich eines Briefs an Erwin Rohde vom 11. Novem-
ber 1869 kannte (vgl. KSB 3, Nr. 40, S. 73, Z. 46–48).
47 KSB 4, Nr. 368, S. 233, Z. 26 f.

48 NL 1871, 15[1], KSA 7, 389, 6.


49 Möglicherweise spielt das lyrische Ich hier auch auf die melancholische Jugendlyrik des
empirischen Autors Nietzsche an, deren Produktion sich bis in die 1860er Jahre erstreckt. Die
Selbstbezeichnung als „Büßer, ob in jugendlichen Jahren“ (NL 1871, 15[1], KSA 7, 389, 21) verweist
auf Gedichte wie das programmatisch betitelte Bußlied (NL 1860/61, 9[2], KGW I/2, 220) oder das
bekanntere Noch einmal eh ich weiter ziehe ... (NL 1864, 17[14], KGWI/3, 391), in dem ein lyrisches
Nietzsches Gimmelwalder Melancholie-Gedichte aus dem Sommer 1871 57

tierende, vitalistisch konnotierte Bild der ‚heißen Morgensonne‘, die das Ich
bestrahlt. Die Melancholie ist in der antiken Vier-Säfte-Systematik mit dem
Herbst, dem Kalt-Trockenen und entweder dem Greisenalter oder dem späten
Mannesalter, in beiden Fällen also tendenziell dem ‚Lebensabend‘ belegt.50 Hier
steht der Melancholiker dagegen – das legen zumindest die unten für sich in
Anspruch genommenen „jugendlichen Jahre[ ]“ nahe51 – am ‚Lebensmorgen‘.
Obwohl der (Lebens-)Tag voller Energie erst hereinbricht, übt sich das junge
lyrische Ich in widernatürlichen, lebens-müden Gesten. Diese Zuschreibung passt
ins Bild vom heranwachsenden Nietzsche, der oft einen frühreifen Ernst an den
Tag legte, sich einsam und heimatlos fühlte und dessen Jugendgedichte in großen
Teilen von einer epigonalen Grundhaltung und einem christlichen Büßerpathos
bestimmt sind.
Der Doppelpunkt markiert die Fortsetzung des Rückblicks.52 Unvermittelt
wird die Vorstellung von Aasvögeln („Geyer“) evoziert,53 die über ihrer Beute
kreisen. Mit gleicher Bedeutung tritt der Geier in Nietzsches Texten stets anstelle
des Adlers Ethon als Quälgeist des Prometheus in Erscheinung.54 Das entspricht
einer Variante des Prometheus-Mythos, der in der Antike nur einmal bezeugt ist,
in der Neuzeit – etwa bei Karl Philipp Moritz – dagegen häufiger vorkommt.55
Kruse interpretiert den Geier ferner als „groteske Umkehrung der singenden
Nachtigall, welche seit Milton das Symboltier der ‚süßen Melancholie‘ abgibt“.56

Ich einem „unbekannte〈n〉 Gotte“ (391, 11) seine Dienstbereitschaft erklärt (vgl. auch Grundlehner,
The Poetry of Friedrich Nietzsche, S. 55 f.).

50 Vgl. Klibansky / Panofsky / Saxl, Saturn und Melancholie, S. 48 f. 

51 NL 1871, 15[1], KSA 7,389, 21.


52 NL 1871, 15[1], KSA 7, 389, 7.
53 NL 1871, 15[1], KSA 7, 389, 8.
54 Vgl. NL 1870/71, 7[20], KSA 7, 141, 4 f.; GT 4, KSA 1, 40, 15 f.; GT 10, KSA 1, 73, 31–33; Fünf
   

Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern 3: Der griechische Staat, KSA 1, 767, 29 f.; NL 1874,

38[1], KSA 7, 835, 1, u. 836, 11 f.; NL 1874, 38[2], KSA 7, 836, 22–26; M 83, KSA 3, 79, 5; FW 300,

KSA 3, 539, 24–26.


55 Vgl. Brandt, Reinhard, Die Titelvignette von Nietzsches ‚Geburt der Tragödie aus dem Geiste der
Musik‘, in: Nietzsche-Studien, Jg. 20, Berlin / New York 1991, S. 314–328, hier S. 317. Hinweis bei
Buschendorf, Die Geburt der Lyrik aus dem Geiste der Parodie, S. 125.
56 Kruse, Bernhard-Arnold, Apollinisch – Dionysisch. Moderne Melancholie und Unio Mystica,
Frankfurt/Main 1987 (= Hochschulschriften Literaturwissenschaft, Bd. 79), S. 231. – Die biogra-
phistische Lesart Landerers und Schusters, vom „Geyer“ auf Nietzsches Verhältnis zu Richard
Wagner zu schließen und das Melancholie-Gedicht folglich als „bisher unbeachtete[n] Mosaik-
stein für ein Verständnis von allgemeiner Chronologie und spezifischen Ursachen der beginnen-
den Entfremdung Nietzsches von Wagner“ zu interpretieren (Landerer, Christoph / Schuster,
Marc-Oliver, „Begehrlich schrie der Geyer in das Thal“. Zu einem Motiv früher Wagner-Entfremdung
58 Armin Thomas Müller

Im Rückblick der zweiten Strophe schildert das Ich die Konsequenzen melan-
cholischer Zustände und belegt sie mit positiven Vorstellungen, insofern sie eine
erkenntnisfördernde Funktion erfüllen. Vor dem Hintergrund der ersten Strophe
schreibt Nietzsche der Melancholie folglich einen ambivalenten Charakter zu:
Einerseits macht sie den Melancholiker zur scheinbar ‚leichten Beute‘ einer mit-
leidlosen Umwelt, andererseits ermöglicht sie die lustvolle Anschauung des
Wesens dieser Welt. Sie befähigt und gefährdet zugleich.
Mit der Anrede des Geiers setzt Nietzsche den Rückblick des lyrischen Ichs zu
Beginn der zweiten Strophe fort, indem er auf die augenscheinliche Identität von
Ich und „Aas“ anspielt, um diese sogleich als Sinnestäuschung des „wüste[n]
Vogel[s]“ zu entlarven: Obwohl das Ich als ‚leichte Beute‘ erscheint, ist es noch
lange keine solche. Mit der selbstironischen Paraphrase der melancholischen
Geste57 distanziert sich das Ich weiter von der früheren Gebärde. Es folgt in der
restlichen Strophe eine Erklärung für den ‚Irrtum‘ des Geiers: Das Ich schien ‚tot‘,
weil es sich infolge seines melancholischen Zustandes weit vom ‚äußeren Leben‘
entfremdet hatte. Währenddessen intensivierte sich aber das ‚innere Leben‘ umso
stärker, was das rollende „Auge“ samt Zuschreibungen bezeugte („wonnen-
reich“, „stolz und hochgemuthe“).58
In der Tragödienschrift ist das Fundament des ‚schönen Scheins‘ der Kunst die
intuitive (nicht rationale) Erkenntnis des dionysischen „Ur-Eine[n], als das ewig
Leidende und Widerspruchsvolle“.59 Dem entspricht im Gedicht des „Daseins
Abgrund“, den das Ich in seiner tiefen Versenkung „blitzend aufzuhellen“ ver-
sucht.60 Die melancholische Abwendung von der Welt ermöglicht den Blick ins
Innere bis hin zu den ‚Quellen des Lebens‘, die der apollinisch-individualisierten
Welt gegenüberstehen. Diese Form der Kontemplation geht mit einer Abwendung
von der äußeren Lebenswelt einher, die sogar die Gefahr durch den Geier in Kauf
nimmt. Der Blick geht notwendigerweise in die Tiefe, nicht in die „Höhen“ des
Vogels, für dessen Bedrohlichkeit wie auch erhabenen Lebensraum das Ich in
seiner Konstitution keinen Sinn hat (das „Auge“ ist „[e]rstorben“ für den Blick in
die Ferne).61 Dafür stellt das Gedicht eine zunächst unbestimmt bleibende tempo-
räre („blitzend[e]“) Erkenntnis des wiederum als bedrohlich konnotierten ‚Daseins-
grundes‘ in Aussicht. Die spezifische Kombination von Versunkenheit, Erkenntnis

in Nietzsches Nachlass, in: Nietzsche-Studien, Jg. 34, Berlin / New York, S. 246–255, hier S. 254),
lässt den wichtigen Bezug zur Melancholie-Tradition außen vor und bleibt daher einseitig.
57 Vgl. NL 1871, 15[1], KSA 7, 389, 11.
58 NL 1871, 15[1], KSA 7, 389, 12 f.

59 GT 4, KSA 1, 38, 30 f.

60 NL 1871, 15[1], KSA 7, 389, 17.


61 NL 1871, 15[1], KSA 7, 389, 12–15.
Nietzsches Gimmelwalder Melancholie-Gedichte aus dem Sommer 1871 59

und Melancholie steht schon am Beginn der neuzeitlich-literarischen Melancholie-


Tradition, so bei Miltons Il Penseroso (der Titel ist bezeichnend), wo der „zu Boden
gerichtete[ ] ‚bleierne[ ]‘ Blick […] nur das Zeichen völliger Versunkenheit [ist], die
nichts ist als die andere Seite eines seherisch-ekstatischen Zustands“.62 Auch in der
romantischen Dichtung ist der betont innerlich verlaufende Weg zur Erkenntnis
von zentraler Bedeutung; er wird bevorzugt im Rahmen einer Bergwerksmotivik
verbildlicht, die den Weg ins Innere der Erde mit der sukzessiven Selbst- und
Welterkenntnis des Menschen parallelisiert.63 Allerdings dient die metaphysische
Versenkung in Nietzsches Gedicht keinem transzendenten Ideal, vielmehr ver-
anlasst sie das lyrische Ich schließlich zur Überwindung der Melancholie.
Die dritte Strophe schließt an die erste an, indem das Ich sein ‚Bekenntnis‘
wiederholt und die Distanz zu der in den vorangegangenen Versen detailliert
aufgeschlüsselten Einsiedlerhaltung nochmals vergegenwärtigt. Die anfängliche,
negative Bewertung der Melancholie kehrt wieder, denn das Ich bezeichnet die
„wonnenreich[e]“ Versenkung unter Rückgriff auf das verwendete Adjektiv als
„tiefe[ ] Wüstenei“, die dazugehörige Haltung als eine „[u]nschön gekrümmt[e],
gleich opfernden Barbaren“.64
Mit Beginn der zweiten Strophenhälfte ändert das lyrische Ich wieder die
Perspektive und rückt die Wirkung der Melancholie in den Mittelpunkt, womit es
die ironisierte Außendarstellung aufgibt. In der Büßerpose sitzend erfreut es sich
an den Manifestationen der bedrohlichen Natur, am Flug des Aasgeiers und den
erstmals genannten „rollenden Lawinen“, die sich mit Donnergrollen ankündi-
gen.65 Im Zustand kontemplativer Distanz zum Leben sieht das Ich mit seinem
„Sonnenauge“ über die Bedrohung hinweg und genießt das bloße Naturphäno-
men. Die folgende Anrede der Melancholie-Figur klärt diese paradox anmutende
Bekundung auf: Sie sei „unfähig Menschentrugs“ und „[w]ahrhaftig“, zeige dem
unterworfenen Ich also stets die Wahrheit, so „schrecklich“ sie auch sein möge.66
Die ‚schreckliche Wahrheit‘ besteht vor dem Hintergrund dieser Strophe in der
omnipräsenten Bedrohung des Ichs durch die Natur: Geier und Lawine sind
Chiffren der existenziellen Gefährdung des Subjekts durch das Lebensprinzip
selbst, das den (individuellen) Tod als Mittel des (ganzen) Lebens einschließt. Die
Melancholie gewährt demnach Einsicht in das gefährdete principium individuatio-
nis, das – wie Nietzsche in seiner ‚Erstlingsschrift‘ mit Schopenhauers Worten

62 Klibansky / Panofsky / Saxl, Saturn und Melancholie, S. 337.


63 Musterhaft verwenden diese Motivik Novalis im Heinrich von Ofterdingen und E. T. A. Hoff-
mann in den Bergwerken zu Falun.
64 NL 1871, 15[1], KSA 7, 389, 18 f.

65 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 2.


66 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 3 f.

60 Armin Thomas Müller

feststellt – den Menschen folgendermaßen umfangen hält: „Wie auf dem toben-
den Meere […] auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug ver-
trauend; so sitzt, mitten in einer Welt von Qualen, ruhig der einzelne Mensch,
vertrauend auf das principium individuationis“.67
Die zwei aufeinanderfolgenden Apostrophen der Melancholie in der vierten
Strophe bestätigen die ambivalente Konnotation: Als „herbe Göttin wilder Fels-
natur“68 malt das lyrische Ich sie streng, ehrfurchtsgebietend und macht sie zur
Elementarkraft einer archaischen (gefährlichen, nicht im Stile Rousseaus ver-
klärten) Natur, wie sie als ‚germanische‘ Naturvorstellung schon vom Geier in
Strophe eins assoziiert wird.69 In der Geburt der Tragödie wird diese Naturvor-
stellung in ähnlicher Weise mit einer „Göttin“ verknüpft, die jedoch direkt die
„Philosophie der wilden und nackten Natur“ meint. Dort wird aber auch ihr die
„unverhüllte[ ] Miene der Wahrheit“ und das „blitzartige[ ] Auge“ zugeschrieben,
vor dem die Träger der hellenischen Kultur (gleichzusetzen mit der ‚Zivilisation‘)
„erbleichen“ und „zittern“.70
Der Anrede als „herbe Göttin“ steht im Gedicht diejenige als „Freundin“
gegenüber,71 die liebende Verbundenheit, Nähe, Gleichberechtigung sowie eine
längere gemeinsame Vergangenheit suggeriert. Diese Rolle der langjährigen Be-
gleiterin nimmt die Melancholie auch in Nikolaus Lenaus gleichnamigem Gedicht
ein.72 Nietzsche kannte Lenaus Texte seit frühester Jugend; unter anderem seine
Gedichte benutzte er als Vorlagen für erste eigene dichterische Versuche.73
Lenaus „Felsenklüfte“ und sein donnernder „Waldstrom“74 erinnern an die „wil-
de[ ] Felsnatur“ und den „Donnerlauf[ ] der rollenden Lawinen“ bei Nietzsche,
nur kommt anstelle des Adlers bei diesem der Geier vor. In der Forschung herrscht
dementsprechend Einigkeit darüber, dass Nietzsches Darstellung der Hoch-

67 GT 1, KSA 1, 28, 12–17.


68 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 5.
69 Die Vorstellung einer solchen „germanisch-begriffenen Natur“ ist aus Nietzsches Notizen zu
Schillers Ästhetik ersichtlich, die ebenfalls aus dem Jahr 1871 stammen (NL 1871, 9[76], KSA 7, 302,
12). Vgl. hierzu den Überblick zu Nietzsches Konzept des Idyllischen aus den frühen 1870er Jahren
in Kaufmann, Sebastian, Kommentar zu Nietzsches ‚Idyllen aus Messina‘, in: NK 3/1, 457–543, hier
487 f.; oder Sebastian Kaufmanns Beitrag zu Nietzsches ‚Idyllen aus Messina‘ und seinem poetologi-

schen Konzept der Idylle in diesem Band.


70 GT 10, KSA 1, 73, 21–25.
71 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 6.
72 Vgl. Völker (Hrsg.), „Komm, heilige Melancholie“, S. 143.
73 Vgl. Pestalozzi, Karl, Nietzsches Gedicht „Noch einmal eh ich weiter ziehe …“ auf dem Hinter-
grund seiner Jugendlyrik, in: Nietzsche-Studien, Jg. 13, Berlin / New York 1984, S. 101–110, hier
S. 102.
74 Völker (Hrsg.), „Komm, heilige Melancholie“, S. 143.
Nietzsches Gimmelwalder Melancholie-Gedichte aus dem Sommer 1871 61

gebirgslandschaft als locus terribilis der Tendenz romantischer Dichtung nach


1800 entspreche, die Melancholie-Figur wieder zu ambiguisieren und ihr etwas
von der gefährdenden Kraft der ursprünglich pathologischen atra bilis zuzuspre-
chen.75
In der vierten Strophe findet ein Wechsel zurück ins Präsens statt, das bis zum
Ende nicht mehr verlassen wird. Gleichwohl setzt das Ich seinen Rückblick in
beständiger Anrede der Melancholie fort – freilich in intensivierter und vergegen-
wärtigender Weise.76 Das Ich teilt in den Strophen vier und fünf unmittelbar und
anschaulich mit, was es beim versuchten Blick in „[d]es Daseins Abgrund“ erkannt
hat. Das Präsens signalisiert die Unmittelbarkeit der melancholischen Erfahrung
und lässt die vierte und fünfte Strophe zeitlich mit der ersten und letzten zusam-
menfallen, in denen das lyrische Ich ‚tatsächlich‘ gegenwärtig spricht.
Konkret zeigt die Melancholie dem Ich „des Geyers Spur“ und „der Lawine
Lust, mich zu verneinen“.77 Explizit weist der Text so auf die tödliche Bedrohung
des Ichs durch die Natur hin, deren vernichtende Gewalt in den zwei folgenden
Versen ebenfalls zum Ausdruck kommt: „Rings athmet zähnefletschend Mord-
gelüst: / Qualvolle Gier, sich Leben zu erzwingen!“78 Die in diesem Bild aufgeru-
fene Lust-Leid-Dialektik samt ihrer dezidiert schöpferischen Potenz79 schließt
konzeptionell an die Rede vom ‚Daseinsabgrund‘ an und verweist auf das Diony-
sische als universelles, ursprüngliches Lebensprinzip, wie Nietzsche es in der
Geburt der Tragödie nach dem Schema von Schopenhauers Willens-Begriff ent-
wickelt. Schopenhauer selbst versteht den Willen unmissverständlich als „blinde
[n], unaufhaltsame[n] Drang“ und „Willen zum Leben“,80 woraus sich die Quint-
essenz seiner pessimistischen Philosophie ergibt, der zufolge „wesentlich alles

75 Vgl. Buschendorf, Die Geburt der Lyrik aus dem Geiste der Parodie, S. 119 f.; Kruse,

Dionysisch – Apollinisch, S. 235; Völker, Muse Melancholie – Therapeutikum Poesie, S. 50; und
Volz, Nietzsche – Der lyrische Melancholiker, S. 34. – Ferner gleicht die Landschaft wohl der
„erhabensten Gebirgseinöde“ in Gimmelwald (Brief an Rohde vom 19. 07. 1871, KSB 3, Nr. 147,
S. 211, Z. 3), die Nietzsche nach Buschendorf, Die Geburt der Lyrik aus dem Geiste der Parodie,
S. 116, mutmaßlich ebenfalls „zu der im Gedicht gewählten Topographie und Stimmung anregte“.
76 Diese Intensivierung verstärkt Nietzsche noch durch die anaphorische Wiederholung des
„Du“ in NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 5–7.
77 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 7 f.

78 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 9 f.


79 Deutlicher an die traditionelle literarische Melancholie-Motivik angelehnt, drückt Nietzsche


das Phänomen melancholischer Lust-Leid-Dialektik in GT 9, KSA 1, 68, 31–34 aus: Die „Werdelust
des Künstlers, die jedem Unheil trotzende Heiterkeit des künstlerischen Schaffens“, so heißt es
dort, sei „nur ein lichtes Wolken- und Himmelsbild, das sich auf einem schwarzen See der
Traurigkeit spiegelt“.
80 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 361 f.

62 Armin Thomas Müller

Leben Leiden ist“.81 In der Tragödienschrift bezeichnet Nietzsche sein anverwan-


deltes ontologisches Prinzip zwar analog „als das ewig Leidende und Wider-
spruchsvolle“,82 das aber bei allem Vernichtungstriebe auch stets „eine höchste
künstlerische Urfreude im Schoosse des Ur-Einen ahnen“ lasse.83 Während das
künstlerische Genie bei Schopenhauer eine Art Vorstufe des Asketen ist, der den
Lebenswillen vollständig verneint, belegt Nietzsche es bereits in seiner Erstlings-
schrift mit vitalistischen Vorstellungen. In diesem Kontext stehen auch die letzten
Verse der vierten Strophe, die Nietzsche der lebenserzeugenden anstelle der
‚mordlüsternen‘ Seite des ‚Ur-Prinzips‘ widmet, indem er anthropomorphisierend
auf das Bestäubungsprinzip lepidopterophiler Pflanzen hinweist.
Die vorletzte Strophe schließt direkt an das Ende der vorangegangenen an. Das
Ich gesteht: „Diess Alles bin ich“ und wiederholt, um dem versöhnlich gefärbten
Bekenntnis pathetisch Nachdruck zu verleihen, nochmals die im Laufe des Ge-
dichts benannten Naturphänomene, wobei es „[d]es Sturmes Stöhnen“ zusätzlich
in die Reihe mitaufnimmt.84 Der Einschub („schaudernd fühl’ ich’s nach“) verstärkt
den epiphanischen Charakter dieser ersten Strophenhälfte: Das Ich erkennt –
offenbar im Augenblick des „blitzend“ aufgehellten ‚Daseinsabgrundes‘ – die
wesentliche Identität von Subjekt und Objekt als „[w]ahrhaftig“ und begreift diese
Einheit sukzessive, indem es sie ganzheitlich, das heißt körperlich, seelisch und
geistig nachvollzieht. Die in Nietzsches Gedicht verwendete Bekenntnisformel ent-
spricht, wie schon Buschendorf feststellt,85 der von Schopenhauer für die Erkennt-
nis des ‚Willens‘ adaptierten hinduistischen Grundeinsicht Tat twam asi (‚Das bist
du‘), die sich auf die erkannte metaphysische Einheit aller Dinge bezieht.
Im vierten seiner Vorträge Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten aus
dem Jahr 1872 kontrastiert Nietzsche ein naturwissenschaftlich-positivistisches
Verhältnis zur Natur, das lehre, „wie man die Natur sich unterjocht“, mit einem
romantisch-metaphysischen, das erlaube, „ohne jeden Bruch den beschaulichen
Instinkten seiner Kindheit treu bleiben zu können und dadurch zu einer Ruhe,
Einheit, zu einem Zusammenhang und Einklang zu kommen, die von einem zum
Lebenskampfe Herangezogenen nicht einmal geahnt werden können“.86 Den

81 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 405.


82 GT 4, KSA 1, 38, 30 f.

83 GT 22, KSA 1, 141, 31 f.


84 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 13 u. 16. Der Sturm stellt eine direkte Verbindung zum anderen
Gimmelwalder Melancholie-Gedicht her, in dem Nietzsche den titelgebenden nächtlichen Gewit-
tersturm mit der allegorischen Melancholie überblendet.
85 Vgl. Buschendorf, Die Geburt der Lyrik aus dem Geiste der Parodie, S. 121.
86 Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten IV, KSA 1, 716, 13 u. 22–26.
Nietzsches Gimmelwalder Melancholie-Gedichte aus dem Sommer 1871 63

Ideal-Zustand charakterisiert er wie folgt in auffallender Analogie zur fünften


Strophe des Gedichts: Zum jungen Menschen

müssen der Wald und der Fels, der Sturm, der Geier, die einzelne Blume, der Schmetterling,
die Wiese, die Bergeshalde in ihren eignen Zungen reden, in ihnen muß er gleichsam sich
wie in zahllosen auseinandergeworfenen Reflexen und Spiegelungen, in einem bunten
Strudel wechselnder Erscheinungen wiedererkennen; so wird er unbewusst das metaphysi-
sche Einssein aller Dinge in dem großen Gleichniß der Natur nachempfinden und zugleich
an ihrer ewigen Beharrlichkeit und Nothwendigkeit sich selbst beruhigen.87

Nietzsche wiederholt Gemeinplätze der literarischen Anthropologie aus der ersten


Hälfte des 19. Jahrhunderts und vermengt sie mit Schopenhauers Willens-Meta-
physik. Während das Produkt dieses Verfahrens im Vortrag allerdings nicht über
einen epigonalen Status hinauskommt, veranschaulicht die naturphänomenale
Bilderreihe im Gedicht die vom Ich reklamierte unmittelbare Erfahrung selbst und
präludiert auf diese Weise den rhetorisch hervorgehobenen Ausruf des Lebens-
dranges.
Da Nietzsche Schopenhauers ontologischen Voluntarismus in der Tragödien-
schrift in ein betont ästhetisches Verständnis übersetzt, ermöglicht die Gedicht-
stelle auf der Grundlage des philosophischen Kontextes auch folgende poetologi-
sche Deutung: Das lyrische Ich übernimmt als Dichter gleichsam die Rolle des
dionysischen ‚Ur-Grundes‘, der die verschiedenen Naturphänomene als Objekti-
vationen seiner selbst aus sich heraus gestaltet. An dieser Stelle des Gedichts
bezieht das Ich seine Eigenschaft als Dichter rückblickend auf die Einheitserfah-
rung. Diese Selbsterkenntnis veranlasst es zu dichten – womöglich ist das vor-
liegende Gedicht bereits Produkt dieses Erkenntnisprozesses, es erhielte so eine
weitere Verständnisebene. In der genannten Weise charakterisiert Nietzsche ‚den
Lyriker‘ in der Tragödienschrift: Es seien „die Bilder des Lyrikers nichts als e r
selbst und gleichsam nur verschiedene Objectivationen von ihm, weshalb er als
bewegender Mittelpunkt jener Welt ‚ich‘ sagen darf“. Diese „Abbilder“ ermögli-
chen es ihm wiederum, „bis auf jenen Grund der Dinge“ hindurchzusehen,88 der
im Gedicht in „[d]es Daseins Abgrund“ seine Entsprechung findet.
Indem das Ich sein ‚Geständnis‘ der Melancholie direkt „zum Ruhme“ zueig-
net,89 erscheint es zunächst als die zu Gedichtbeginn angekündigte Gabe, als das
„schaurig Loblied“ zu Ehren der „grimme[n] Göttin“. Doch die Haltung, „tief
gebückt, / Den Kopf am Knie“,90 klärt darüber auf, dass Nietzsche sein Ich noch

87 Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten IV, KSA 1, 716, 2–10.


88 GT 5, KSA 1, 45, 7–14.
89 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 16.
90 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 17 f.

64 Armin Thomas Müller

immer rückblickend über die Versenkungserfahrung im Zustand melancholischer


Inspiration reflektieren lässt. Dass es sich sogar um den Höhe- beziehungsweise
‚Tief‘-Punkt der Versenkung handelt, zeigt die überspitzte Ausführung der Pose,
die hier Züge einer Verzweiflungsgebärde annimmt: Der Kopf ist nicht nur zum
Knie „gebeugt“, sondern unmittelbar „am Knie“.
Die wiederholte Widmungsformel („dir zum Ruhme“)91 am Ende der fünften
Strophe leitet das Finale des Rückblicks pointierend ein: Nietzsche parallelisiert
die Diärese der Naturphänomene über die Wendung mit der Epizeuxis von
„Leben“ und weist diese so als betont unmittelbaren Ausdruck des Lebensdran-
ges aus.92 Ohnehin ist dieser Vers als jambischer Vierheber metrisch isoliert; für
Buschendorf „‚lechzt‘ [er] damit gewissermaßen nach einem weiteren Versfuß“.93
Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang das Adjektiv „unverrückt“,94 das Nietz-
sche markant am durch das Enjambement besonders hervorgehobenen Übergang
zum folgenden Vers platziert. Es meint nicht nur den beständigen Drang zu leben,
sondern weist auch auf die starre, unbewegte Versenkungshaltung des Ichs hin.
Auf diese Weise gerät der anfängliche Vorwurf gegen die Melancholie wieder in
den Fokus, dem zufolge sie ihr ‚Opfer‘ vom Leben entfremde und – der Tradition
entsprechend – den Lebenstrieb erlahmen lasse. Doch offenbar erkennt das
inspirierte Ich gerade beim Blick in das schreckliche Wesen der Welt, dass es
nichts anderes als das ‚Leben‘ will, obwohl es sich ihm schon fern fühlt. So
entsteht die extreme Spannung zwischen melancholischer Entfremdung und
drängendem Leben-Wollen, aus der heraus das lyrische Ich das Lebenspostulat
artikuliert. Der Vorwurf gegen die „herbe Göttin“ erneuert sich sogar an Ort und
Stelle, wenn man die Widmung ironisch oder spöttisch liest: Die Melancholie labe
sich am Elend des Schwermütigen, es gereiche ihr „zum Ruhme“, dass der
„Büßer“ nach „Leben lechze“.
Die Schlussstrophe beginnt, wie die Anfangsstrophe des Gedichts, mit der
Bitte um Nachsicht, nur dass die Melancholie hier als „böse Gottheit“ angespro-
chen wird.95 Der Rückblick, der den Binnenteil des Gedichts ausmacht und
schließlich in der unmittelbaren Vergegenwärtigung des Lebensdranges kulmi-
niert, ist beendet. Der Übergang vom Präteritum ins Präsens ist damit auch

91 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 16 u. 19.


92 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 20.
93 Buschendorf, Die Geburt der Lyrik aus dem Geiste der Parodie, S. 124.
94 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 19.
95 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 21. Es handelt sich um die dritte Zuschreibung, die der Melancholie
in Kombination mit ihrer Apotheose zukommt. Erst nennt sie das Ich eine „herbe“, dann eine
„grimme Göttin“ (390, 5 u. 17). Die Attribute werden demnach immer stärker und weisen eine
zunehmend negative Valenz auf, die das Emanzipationspostulat motiviert.
Nietzsches Gimmelwalder Melancholie-Gedichte aus dem Sommer 1871 65

zeitlich abgeschlossen: Das Ende der fünften Strophe greift inhaltlich den Beginn
der ersten wieder auf, bevor sich die letzte Strophe anschließt. Der Rahmenstatus
der Strophen eins und sechs wird auf diese Weise, ebenso wie durch den Rück-
griff auf „die spitze Feder“, nochmals betont.96 Als Grund für den möglichen
Argwohn der apostrophierten Melancholie nennt das Ich erneut den dichteri-
schen Schreibakt, der durch das verwendete Vokabular eine ironische Kontur
erhält. Wie zu Beginn kann es also sowohl die Dichtung selbst als auch der
dezidiert parodistische Charakter derselben sein, wofür das Ich (auch hier ins
Ironische überspitzt) um Nachsicht bittet. Über die ironisierende Funktion hinaus
legt Nietzsches Wortwahl aber noch eine weitere Deutungsmöglichkeit nahe: Die
Melancholie „mit Reimen zierlich“ zu „umflechte[n]“ kann bedeuten,97 sie qua
künstlerischer Sublimation in ein Geflecht aus ‚schönen Worten‘ zu bannen.
Neben der leitmotivisch hervorgehobenen Bedrohlichkeit der „grimme[n] Göttin“
weisen die apologetischen Wendungen, die das Gedicht rahmen, bei (oder mit)
aller Ironie auf ein emanzipatorisches Motiv des lyrischen Dichter-Ichs hin.
Diese Bedrohlichkeit evozieren auch die folgenden zwei anaphorisch ver-
bundenen und parallelisierten Verse explizit: Das „Schreckgesicht“ der Melan-
cholie mache zittern, ihre „böse Rechte“ zucken.98 Nietzsche schreibt ihr eine
‚hässliche Fratze‘ und eine bösartige Gewaltbereitschaft zu.99 Diese Beobachtun-
gen bezieht das Ich jedoch nicht direkt auf sich, sondern es gibt sie in der dritten
Person an, um sich von der schreckenerregenden Wirkung der Melancholie zu
distanzieren, ohne diese Wirkung in Abrede zu stellen. Im nächsten Verspaar, das
wieder anaphorisch verbunden und durch die wiederholten Verben noch dazu an
das vorangegangene Verspaar gekoppelt ist, greift das Ich zwar auf die bedrohli-
che Wirkung zurück; doch indem es sie an die eigene produktive Tätigkeit rück-
bindet, instrumentalisiert es ihre Macht für die eigenen Zwecke und stellt diese
Instrumentalisierung sogar noch zur Schau. Das angsterfüllte Zittern und Zucken
des gebeugten Melancholikers überführt das Ich in den Dichtungsakt, der als
Widerstandsmanifest und Freiheitsdeklaration wirkt: Es zittert nicht vor dem

96 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 27.


97 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 22.
98 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 23 f.

99 Ersteres findet man schon in der literarischen Melancholie-Tradition des Mittelalters unter
dem Namen der „Dame Mérencolye“ bei Alain Chartier, der die Melancholie-Figur in seiner
Espérance ou Consolation des Trois Vertus (1428) mit „schreckenerregendem Aussehen, bleich,
mager, in ärmliche oder gar zerlumpte Gewänder gehüllt“, darstellt (Klibansky / Panofsky / Saxl,
Saturn und Melancholie, S. 325). Die bei Nietzsche hervorgehobene Gewalttätigkeit der Melancho-
lie fehlt bei Chartier allerdings; sie findet sich aber noch deutlicher in Nietzsches Gewitter-
Gedicht, in dem sich die Melancholie als „große ewge Amazone“ (NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 18)
vorstellt.
66 Armin Thomas Müller

„Schreckgesicht“, sondern beim lyrischen Sprechen, und es zuckt nicht vor der
„böse[n] Rechten“, sondern im Zuge des „rhythmische[n] Gestalten[s]“.100
Bei der ‚passiven‘ Inspiration der Melancholie, die dem Ich zum Preis der
Knechtschaft einen Blick in das ‚Wesen der Welt‘ ermöglicht, bleibt es also nicht.
Das Ich nutzt vielmehr die melancholische Erkenntnis als Stimulans, um selbst
aktiv zu werden. Es verlässt die „mumienhaft[e]“, „unverrückt[e]“ Stellung, weist
die „herbe Göttin“ in die Schranken und produziert aus ihrer ‚schwarzen Galle‘
„Lied auf Lied“.101 Die Vorstellung vom reinigenden Schreibakt ist ein gängiger
Topos der neuzeitlichen Melancholie-Tradition, auf den Nietzsches Gedicht hier
rekurriert.102 Doch seine eigenwillige Bilderwahl („Die Tinte fleußt, die spitze
Feder sprüht“)103 verdeutlicht noch am Ende die ironische Distanz des lyrischen
Ichs, die auch den emanzipatorischen Schreibakt umfasst und durch den Rück-
griff auf „die spitze Feder“ explizit thematisiert wird. Diese Distanz gewährleistet
eine geistige Unbefangenheit, wie sie der spätere Nietzsche typischerweise durch
eine Vielzahl (potenziell humoristischer) sprachlicher Widerspruchsfiguren pro-
klamiert.104
Darüber hinaus ist die ‚sprühende‘ Feder für den frühen Nietzsche ein geläu-
figer poetologischer Terminus, verweist sie doch ebenfalls auf seine ästhetischen
Überlegungen zur Lyriktheorie, wie er sie in der Geburt der Tragödie auf der Folie
des Dualismus von Dionysischem und Apollinischem metaphorisch formuliert:

100 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 25 f.


101 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 25.


102 Vgl. zur topischen Vorstellung der ‚therapeutischen‘ Wirkung von Literatur und Kunst all-
gemein das einschlägige Kapitel bei Völker, Muse Melancholie – Therapeutikum Poesie, S. 11–30.
Nietzsches Werk durchzieht die Antithese eines pathologischen Erkenntnisdrangs und der pallia-
tiven (z. T. gleichzeitig stimulierenden) Wirkung von Kunst wie ein roter Faden. Exemplarisch sei
auf den Abschnitt 107 der Fröhlichen Wissenschaft hingewiesen, in dem das sprechende Ich – auf
die Tragödienschrift anspielend (FW 107, KSA 3, 464, 23–27 rekurriert auf GT 5, KSA 1, 47, 26 f.) –

der Kunst als dem „g u t e n Willen zum Scheine“ (FW 107, KSA 3, 464, 18 f.) eine immerhin

temporär lindernde Wirkung attestiert: „Und gerade weil wir im letzten Grunde schwere und
ernsthafte Menschen und mehr Gewichte als Menschen sind, so thut uns Nichts so gut als die
S c h e l m e n k a p p e : wir brauchen sie vor uns selber – wir brauchen alle übermüthige, schweben-
de, tanzende, spottende, kindische und selige Kunst, um jener F r e i h e i t ü b e r d e n D i n g e n
nicht verlustig zu gehen, welche unser Ideal von uns fordert“ (465, 1–8). Zur Erkenntnismotivik
bei Nietzsche vgl. auch den Beitrag von Milan Wenner in diesem Band.
103 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 27.
104 So auch von Smitmans-Vajda angedeutet: Nietzsche werte „den ‚morbiden Weltschmerz‘
einer möglichen todes-erotischen Ode an die Melancholie um in feindselig-ironische Heraus-
forderung […]: Die Tinte fließt nicht, die gespitzte Feder sprüht nicht zum Loblied, sondern zum
Aufbruch in ein neues Schreiben“ (Smitmans-Vajda, Barbara, Melancholie, Eros, Muße. Das
Frauenbild in Nietzsches Philosophie, Würzburg 1999, S. 17).
Nietzsches Gimmelwalder Melancholie-Gedichte aus dem Sommer 1871 67

Der griechische ‚Ur-Lyriker‘ Archilochos schlafe berauscht „auf hoher Alpentrift,


in der Mittagssonne“ (eine verwandte Szenerie wählt Nietzsche für den Rückblick
des Ichs im Gedicht), bis Apoll ihn mit Lorbeer berühre. Das Ergebnis des Kon-
takts: „Die dionysisch-musikalische Verzauberung des Schläfers sprüht jetzt
gleichsam Bilderfunken um sich, lyrische Gedichte, die in ihrer höchsten Entfal-
tung Tragödien und dramatische Dithyramben heissen“.105
Die ‚stotternde‘ Syntax des letzten Verses spricht dafür, dass das Gedicht An
die Melancholie auf einer hermeneutischen Metaebene bereits als Produkt der
vom Text in Szene gesetzten Emanzipationsbewegung zu verstehen ist. Durch die
Anadiplose von „Göttin“ und „laß mich“,106 wird das ‚Zittern‘ und ‚Zucken‘ des
dichtenden Ichs sprachlich veranschaulicht. Inhaltlich zieht dieses durch die
Forderung „laß mich schalten“ die Konsequenz aus dem in Strophe fünf zu-
gespitzt ausgedrückten Lebensdrang. Das einleitende Adverb „Nun“ betont den
resümierenden Charakter des Verses, in dem die „Göttin“ noch einmal angespro-
chen wird, allerdings um eine Forderung vorzubringen: Das zu Beginn gegebene
Versprechen, die Melancholie zu preisen, betrachtet das Ich als gehalten; jetzt
fordert es die Freiheit, „schalten“ und walten zu können, das heißt sich zur
künstlerischen Produktivität und einer unabhängigen Existenz hin emanzipieren
zu können.
Inwieweit dieses Postulat frei(er)en Lebens realisiert werden kann, bleibt
offen. Der bewusst eingesetzte (und auch innerhalb des Textes reflektierte) paro-
distische Ton des Gedichts bezeugt in jedem Fall eine neue Form der Distanz, die
den Umgang mit der bei aller inspirierenden Kraft zuletzt doch „böse[n] Gottheit“
Melancholie nachhaltig verändert und die Position des lyrischen Ichs souveräner
gestaltet. Die noch deutlich furchteinflößendere Darstellung der Melancholie-
Figur in Nietzsches zweitem Gimmelwalder Gedicht Nach einem nächtlichen Ge-
witter zeigt ex negativo den gewonnenen Abstand an, obgleich auch dort iro-
nische bis parodistische Elemente bereits auf eine Distanzierung von der Melan-
cholie und ihrer geistesgeschichtlichen Tradition hinweisen.

4 Nach einem nächtlichen Gewitter


Im Gegensatz zu An die Melancholie rekurriert das Gewitter-Gedicht nicht direkt
auf den umfangreichen Traditionskomplex der Melancholie. Ohne die Kenntnis
des viele parallele Wendungen enthaltenden Melancholie-Gedichts fiele es

105 GT 5, KSA 1, 44, 21–26.


106 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 28.
68 Armin Thomas Müller

schwer, nur anhand der Indizien überhaupt auf die Melancholie als angesproche-
ne und sprechende Gewalt zu verfallen, da Nietzsche diese Bezeichnung kon-
sequent durch Antonomasien ersetzt. Den schon für das Melancholie-Gedicht
charakteristischen überzeichnenden Stil spitzt das Gewitter-Gedicht zwar sukzes-
sive zu, aber Nietzsche inszeniert spezifische Motive der Tradition hier nicht
derart sinnfällig wie dort: Parodistische Elemente im weiteren Sinne blitzen nur
indirekt auf, etwa mit Blick auf literarische Vorgänger innerhalb der Melancholie-
Tradition in den Strophen eins und fünf. Nietzsche skizziert seine Melancholie-
Figur im Gewitter-Gedicht außerdem weniger vielschichtig und verzichtet auf die
Ambivalenz, die sie in dem Gedicht An die Melancholie auszeichnet. Zu Beginn
bereits erscheint sie als „[t]rübe Göttin“ und am Ende nennt sie sich sogar eine
„Tigerin“,107 ohne Hinweise auf eine inspirierende Wirkung zu liefern. So vertritt
sie nur die schreckenerregend-bedrohliche Seite der Melancholie.
Abgesehen von der Entstehungsgeschichte verweist sowohl die stilistisch-
formale als auch die inhaltliche Konstellation auf die enge Zusammengehörigkeit
der beiden hier erörterten Gedichte. Die überspitzte Sprache und die zahlreichen
Figuren der Wortwiederholung prägen den Stil beider Texte. Auch die Anrede der
„Göttin“ und die Rückblenden sind ihnen als wiederkehrende Strukturmerkmale
gemeinsam. Zudem kann das Personal beider Gedichte als identisch betrachtet
werden: Die Apotheose der dominanten Melancholie-Figur durch das lyrische Ich
stellt jeweils die Grundkonstellation dar, nur dass die Melancholie im Gewitter-
Gedicht ihren Herrschaftsanspruch erst geltend macht, während das lyrische Ich
sich in An die Melancholie von diesem zu emanzipieren versucht.
Es liegt daher nahe, den Inhalt der Texte auch in einem chronologischen
Zusammenhang zu begreifen: Erstens kann das von Colli und Montinari in der
Kritischen Gesamtausgabe unmittelbar nach An die Melancholie platzierte Ge-
witter-Gedicht in der internen Chronologie vor diesem angesiedelt sein.108 Das
Gewitter-Gedicht kann zweitens aber auch den Rückfall des lyrischen Ichs unter
das melancholische Joch schildern, der Emanzipationsversuch wäre dann ge-
scheitert oder doch nur von zeitlich begrenzter Gültigkeit. Drittens kann es sich
zudem um repräsentative Momentaufnahmen handeln, deren Zustände beständig
einander abwechseln, sodass heitere und bedrückte Phasen in der Psyche des
Ichs jeweils aufeinander folgen. Biographisch betrachtet ist letzteres wahrschein-
lich, da Nietzsche selbst unter immer wiederkehrenden depressiven Schüben litt,
sich aber stets um einen heiteren Stimmungskontrast bemühte. Aus den Gedich-

107 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 3 u. 21.


108 Diese Annahme berührt nicht die entstehungsgeschichtliche Verortung; als Prequel kann
das Gewitter-Gedicht genauso gut nach An die Melancholie geschrieben worden sein, wie umge-
kehrt.
Nietzsches Gimmelwalder Melancholie-Gedichte aus dem Sommer 1871 69

ten selbst lässt sich indes nicht erkennen, welcher der genannten Zugänge zu
bevorzugen ist.
Nietzsche verwendet für sein Gedicht eine vierzeilige Kreuzreimstrophe aus
jambischen Fünfhebern mit weiblich-männlich wechselnder Kadenz. In der deut-
schen Lyrik ist diese Strophenform seit der Empfindsamkeit gebräuchlich, wo sie
„zum Ausdruck elegischer Stimmungen, der Meditation und Klage“ verwendet
wurde. Ihr Vorbild war die „englische Mond- und Gräberpoesie“, besonders
„Thomas Grays beispielgebende[ ] ‚Elegy written in a Country Church-Yard‘ […] in
dem sogenannten Maß der ‚elegischen Stanze‘“.109 Die von Nietzsche gewählte
Strophenform rekurriert in ihren Ursprüngen also noch mehr als die des Melan-
cholie-Gedichts direkt auf die literaturhistorische Melancholie-Tradition, die In-
halt und Stil des Gedichts freilich unterhöhlen. In der ersten Strophe zitiert Nietz-
sche die romantische Ausprägung der Melancholie-Lyrik sogar an, wenn er die
schwermütige Stimmung des lyrischen Ichs in „schaurig[e]“ Naturlyrismen über-
setzt.110 Die Interpretation der Melancholie-Figur selbst als männerverachtende
‚Domina‘ (‚Herrin‘) ist eine groteske Hyperbel des pathologischen Melancholie-
Verständnisses, wie es die romantische Lyrik ansatzweise wieder aufnahm, um
sich von den zärtlichen Melancholie-Allegorien der Empfindsamkeit abzusetzen.
Noch der paradigmatische Klagelaut „Ach!“,111 der die zweite Verseinheit einläu-
tet, hat seinen Ursprung in der melancholischen Empfindsamkeitslyrik, wenn-
gleich er hier nicht zum Ausdruck einer sehnsuchtsvoll-elegischen Stimmung,
sondern vielmehr im Sinne einer Anklage genutzt wird. Diese Umdeutung ist
musterhaft: Im Laufe des Gedichts weicht der anfänglich resignative Tonfall
zunehmend einer aggressiven, ja martialischen Sprache. Die letzten zwei Stro-
phen konterkarieren den sanften Beginn geradezu: Die Melancholie-Figur ver-
neint explizit empfindsame Zuschreibungen wie „weiblich, taubenhaft und
weich“ und stellt ihnen das Selbstverständnis als „Kämpferin mit Manneshaß
und -Hohne“ gegenüber.112 Mit dieser gegenläufigen Struktur wendet sich das

109 Frank, Handbuch der deutschen Strophenformen, S. 291.


110 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 4 f. Weist Nietzsches An die Melancholie noch bemerkenswerte

Ähnlichkeiten zu Lenaus titelgleichem Gedicht auf, scheint insbesondere die erste Strophe von
Nach einem nächtlichen Gewitter Lenaus anderem Melancholie-Gedicht mit dem Titel Himmels-
trauer nachempfunden zu sein. Dort versinnbildlicht ein leichtes Gewitter, dem „kühle Schauer“
und „Nebel“ folgen, ebenfalls eine melancholische Gestimmtheit (vgl. Völker [Hrsg.], „Komm,
heilige Melancholie“, S. 144).
111 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 6.
112 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 19 u. 20. Dieser Gegenüberstellung korrespondiert die zeitliche
Struktur des Textes: Bietet Strophe eins den schauerpoetischen Gedichteingang im Präsens,
entfaltet Nietzsche in den darauffolgenden drei Strophen die aggressiver werdende Stimmung als
Rückblick im Perfekt und Präteritum. Die zwei Abschlussstrophen geben die martialischen Droh-
70 Armin Thomas Müller

Gedicht gegen die Tendenz der Empfindsamkeitslyrik (und ihre meist männlichen
Vertreter), die Melancholie als ‚süße Schwermut‘ zu beschönigen.113 Doch auch
vom romantischen Gegenentwurf setzt der Text sich ab.
Isoliert betrachtet, kündigt der Titel des Gedichts im weitesten Sinne ein im
Text dargelegtes Geschehen an, ohne über den Passus „[n]ach einem nächtlichen
Gewitter“ hinaus nähere Hinweise darauf zu geben.114 Doch der Kontext bietet
ebenfalls Ansatzpunkte: Einerseits verweist das ‚nächtliche Gewitter‘ auf die
Reihe der Naturphänomene im Mittelteil des anderen Gimmelwalder Gedichts
und schafft so eine (weitere) Verbindung zwischen beiden Texten. Andererseits
weist der Titel des Gedichts auf die Eigenart als ‚Gelegenheitsgedicht‘ hin, wie der
späte Goethe es verstand und als Bezeichnung für seine eigene Lyrik beanspruch-
te.115 Demnach gestaltet Nietzsche im Gedicht – vielleicht auch als Reaktion auf
persönlich Erlebtes – einen melancholischen Anfall am Morgen „[n]ach einem
nächtlichen Gewitter“ als Heimsuchung durch die topische „[t]rübe Göttin“.
Deren Bedrohlichkeit nimmt im Laufe des Gedichts (in der internen Chronologie
aber vorgeschaltet) rapide zu, indem sie das lyrische Ich schließlich in ihren
Dienst zwingen will. Im Kontrast zu den meditativen und reflexiven Passagen in

gebärden der Melancholie-Figur erneut im Präsens (weil in direkter Rede) wieder, obgleich sie Teil
des Rückblicks sind.
113 Als Beispiel sei auf Ludwig Christoph Heinrich Höltys Elegie auf einen Dorfkirchhof verwiesen
(vgl. Völker [Hrsg.], „Komm, heilige Melancholie“, S. 75–78). In einem Brief (mutmaßlich an
Johann Heinrich Voß) vom April 1774 bezeichnet Hölty sein Schaffen explizit als Ausdruck einer
„süssen melancholischen Schwärmerei in Gedichten“ (Hölty, Ludwig Christoph Heinrich, Gesam-
melte Werke und Briefe. Kritische Studienausgabe, hrsg. von Walter Hettche, Göttingen 1998,
S. 346).
114 Im Gegensatz dazu steht der Titel „An die Melancholie“, der sowohl auf das zu erwartende
Thema des Gedichts als auch auf die Gattungstradition des Melancholie-Gedichts verweist.
115 Vgl. hierzu Goethes Erläuterung gegenüber Eckermann: „Die Welt ist so groß und reich und
das Leben so mannigfaltig, daß es an Anlässen zu Gedichten nie fehlen wird. Aber es müssen alles
Gelegenheitsgedichte sein, das heißt, die Wirklichkeit muß die Veranlassung und den Stoff dazu
hergeben. Allgemein und poetisch wird ein spezieller Fall eben dadurch, daß ihn der Dichter
behandelt. Alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte, sie sind durch die Wirklichkeit ange-
regt und haben darin Grund und Boden. Von Gedichten aus der Luft gegriffen halte ich nichts.“
(Goethe, Johann Wolfgang, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, 40 Bde., 2 Abtn.,
Abt. 2, Band 12 [39], hrsg. von Christoph Michel unter Mitwirkung von Hans Grüters, Frankfurt/
Main 1999 = Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 167, S. 50). – Goethe versteht ‚Gelegenheits-
dichtung‘ (oder Kasualpoesie) hier nicht nach herkömmlicher Definition als ausschließlich auf
einen Anlass (z. B. Feste, Geburtstage usw.) hin konzipierte Zweckdichtung im Gegensatz zur

‚autonomen‘ Dichtung. Vielmehr beansprucht er für alle seine Gedichte ein Fundament an (Welt-)
Erfahrung, das persönlicher Natur (im Sinne eines persönlichen Erlebnisses) sein kann, aber nicht
muss. Im weitesten Sinne geht es ihm um die Orientierung an der Wirklichkeit, die er dem rein
Fantastischen vorzieht.
Nietzsches Gimmelwalder Melancholie-Gedichte aus dem Sommer 1871 71

An die Melancholie vollzieht sich hier ein Geschehen, das bei aller grotesken
Verfremdung anhand der narrativen Elemente konkret fassbar ist. Während das
Melancholie-Gedicht ein langes und bedeutsames Verhältnis zur Melancholie abs-
trakt rekapituliert, zeigt das Gewitter-Gedicht eine konkrete Episode dieses Ver-
hältnisses. Nicht zuletzt mit Blick auf das Nebengedicht, welches das Geschehen
in den größeren Zusammenhang einbindet, hat das Dargestellte gleichwohl den
Charakter einer exemplarischen Handlung. Nach einem nächtlichen Gewitter gibt
nur im Einzelnen als Vorgang wieder, was An die Melancholie im Ganzen reflek-
tiert.
Die Gedichte weisen eine weitgehend analoge Redestruktur auf: Das lyrische
Ich spricht zu einem Du, das hier wie dort die Melancholie personifiziert. Ihrem
Duktus nach lassen sie sich daher als eine einzige, lange Apostrophe verstehen.
Obwohl die Melancholie am Ende des Gewitter-Gedichts einen beträchtlichen
Redeanteil erhält, handelt es sich streng genommen nicht um einen Dialog. Die
wörtliche Rede der Melancholie-Figur platziert Nietzsche innerhalb der Rückblen-
de des lyrischen Ichs als Zitat, sodass sie letztlich in diese integriert bleibt. Auch
hier findet daher kein Gespräch im engeren Sinne statt, vielmehr hält das Ich –
wie schon im Melancholie-Gedicht – einen Monolog, der sich durch eine durch-
gängige Anrede der Melancholie-Gestalt auszeichnet und deren direkte Rede
lediglich zitiert.
Nietzsches Nach einem nächtlichen Gewitter beginnt, wie sein Melancholie-
Gedicht auch, mit der Anrede der Melancholie, die das lyrische Ich hier als „[t]
rübe Göttin“ personifiziert. Im Vergleich zu den weiteren Zuschreibungen des
Gedichts sowie denjenigen aus An die Melancholie („herbe“, „grimme“, „böse
Gottheit“)116 fällt die Bezeichnung milde aus, was der ruhigen Anfangssequenz
des Gedichts geschuldet ist. In dieser projiziert das lyrische Ich die Melancholie
„als Nebelhülle“ in die Natur, welche – anaphorisch verdeutlicht – betont „[s]
chaurig“ anmutet und eine trostlose Grundstimmung verbreitet.117 Die „bleichen
Flocken“ evozieren das Bild eines Schneetreibens; zugleich stehen die wehende
„Fülle“ derselben und die zugeschriebene Farblosigkeit in Analogie zur „Nebel-
hülle“, die dafür verantwortlich ist, dass „der volle Bach“ nur zu hören, nicht zu
sehen ist.118 Mit dieser tristen Szenerie gestaltet Nietzsche in der ersten Strophe
einen traditionellen locus melancholicus, der auch das lyrische Ich affiziert,
dessen „Fenster“ vollständig vom Nebel eingehüllt scheint.119 Die Nebelmetapher
veranschaulicht die unmittelbare Nähe und Omnipräsenz der Melancholie, die

116 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 5, 17 u. 21.


117 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 2 u. 4 f.

118 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 4 u. 5.


119 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 3.
72 Armin Thomas Müller

nicht greifbar ist und trotzdem einen trüben (oder vielmehr trübsinnigen) Schleier
über die Welt legt.
Textimmanent ist der Nebel das Resultat des titelgebenden „nächtlichen
Gewitter[s]“, das im Mittelteil des Gedichts ebenfalls zur Metapher der melancho-
lischen Heimsuchung wird. In beiden Erscheinungsformen, als depressiver Anfall
von Verzweiflung und als bleierne, lähmende Schwermut, malträtiert sie das
lyrische Ich. Das Temporaladverb „[h]eute“ kann vor diesem Hintergrund einer-
seits als Markierung gelesen werden,120 welche die Nacht (des Gewitters) in der
internen Gedichtchronologie vom (nebligen) Morgen trennt, um so auf die Wand-
lungsfähigkeit der in beiden Fällen präsenten Melancholie hinzuweisen. Anderer-
seits kommt so die Regelmäßigkeit zum Ausdruck, in der die Melancholie das Ich
als ungebetener Gast heimsucht: Dem „Heute“ geht ein ‚Gestern‘ voraus und folgt
ein ‚Morgen‘. Auch das Melancholie-Gedicht setzt, zumindest für die Vergangen-
heit, eine beständige Melancholie voraus, auf die sich das Ich im Rückblick
bezieht.
Mit Beginn der zweiten Strophe bricht das gerade entworfene Stimmungsbild
jäh ab, das Gedicht wechselt vom Modus ruhiger Beschreibung unvermittelt in
den wilder Anklage. Der Klagelaut „Ach!“ läutet in diesem Fall keine Elegie,
sondern den Vorwurf des Ichs ein, der sich gegen die als „Zauberin“ betitelte
Melancholie richtet: Sie habe während des „[n]ächtlichen Gewitters“ „den gifte-
feuchten / Todestrank […] gebraut“,121 der dem Ich nun offenbar zusetzt. Stilis-
tisch vergegenwärtigt das Ich die verhängnisvolle Nacht, indem es die Gewitter-
erscheinungen Blitz und Donner hyperbolisch aufruft. Durch Anapher und
Parallelismus verknüpft es anschließend die meteorologischen Phänomene der
Gewitternacht und des Nebelmorgens („des Thales Dampf“),122 um den zeitlichen
Übergang zu markieren und damit die beständig wandelbare Melancholie ab-

120 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 2.


121 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 8 f. Volz, Nietzsche – Der lyrische Melancholiker, S. 37 sieht in dieser

Stelle eine „Anspielung auf den Liebestrank Isoldens“. Isolde verlangt in Wagners Musikdrama
von ihrer Magd Brangäne für Tristan und sich den „Todestrank“ ihrer Mutter, einer „Zauberin“
(Wagner, Richard, Dichtungen und Schriften. Jubiläumsausgabe in 10 Bänden, hrsg. von Dieter
Borchmeyer, Frankfurt/Main 1983, Bd. 4, S. 22 u. S. 10). Brangäne gibt ihr jedoch den Liebestrank.
122 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 8. Die meteorologische Motivik erinnert an Werthers Schilderung
seiner Ossian-Lektüre im Brief vom 12. Oktober 1772: „Ossian hat in meinem Herzen den Homer
verdrängt. Welch eine Welt, in die der Herrliche mich führt! Zu wandern über die Heide, umsaust
vom Sturmwinde, der in dampfenden Nebeln die Geister der Väter im dämmernden Lichte des
Mondes hinführt. Zu hören vom Gebirge her, im Gebrülle des Waldstroms, halb verwehtes Ächzen
der Geister aus ihren Höhlen“ (Goethe, Werke, Bd. 6, S. 82). In Goethes Roman zeigt Werthers
Beschäftigung mit Homer, Klopstock und Ossian seine jeweilige Stimmung an (vgl. Schmidt, Die
Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 1, S. 331).
Nietzsches Gimmelwalder Melancholie-Gedichte aus dem Sommer 1871 73

zubilden. Mit dem Vorwurf geht der Tempuswechsel vom Präsens ins Perfekt
(zweite Strophe) oder ins Präteritum (dritte und vierte Strophe) einher; das in den
Strophen zwei bis sechs Geschilderte spielt sich vollständig in der Gewitternacht
ab, auf welche der trist gemalte Morgen in der Eingangsstrophe folgt. Der „Todes-
trank“ steht hier metaphorisch für die ‚schwarze Galle‘, deren Übergewicht
gemäß hippokratischer Humoralpathologie sowohl Niedergeschlagenheit als
auch manisches Verhalten verursachen kann.123 Beide melancholischen Verhal-
tensweisen legt das lyrische Ich im Gedicht an den Tag, sie spiegeln sich in den
meteorologischen Metaphern des Gewitters und Nebels wider. Allerdings kom-
men der atra bilis traditionell weder ‚Feuchtigkeit‘ noch ‚Giftigkeit‘ zu. Den Begriff
des „giftefeuchten / Todestrank[s]“, der in der Reihe der zahlreichen Hyperbeln
beider Melancholie-Gedichte steht, wählt Nietzsche, um dem Vorwurf des lyri-
schen Ichs eine schärfere Kontur zu verleihen: Es beschuldigt die Melancholie-
Figur, weil sie den in der ersten Strophe veranschaulichten, lebens-müden Trüb-
sinn auslöse.
In der dritten Strophe taucht das lyrische Ich tiefer in die Erinnerung an die
vergangene Nacht ein und identifiziert die angesprochene Melancholie-Figur
direkt mit dem stattfindenden Gewitter. Während das ‚Schaudern‘ im Melancho-
lie-Gedicht dem Nachvollzug des Tat twam asi gilt und eher in Form einer
ambivalenten Ergriffenheit zu verstehen ist, bezeugt die „[s]chaudernd[e]“ Wahr-
nehmung der Geräuschkulisse das Grausen des Ichs im drohenden Angesicht der
Melancholie-Figur.124 Diese tritt gerade „um Mitternächten“ auf,125 das heißt zur
‚Geisterstunde‘, in der dem Volksglauben nach allerlei Übernatürliches sein
Unwesen treibe. Die Heimsuchung des Ichs wird so im Stile einer Schauer-
geschichte vorbereitet, in der Folge verschmelzen das Unwetter und die Melan-
cholie-Figur und erzeugen eine entsprechend angsteinflößende Stimmung.
Den Donner und das Heulen des Windes nimmt das Ich als „[d]einer Stimme
Lust- und Wehgeheul“ wahr. Die Blitze erscheinen ihm einerseits als „Blinken“ der
„Augen“, andererseits als „der Rechten / Schneidig hingezückten Donnerkeil“.126
Die Metaphorik ist derjenigen verwandt, die Nietzsche in An die Melancholie ver-
wendet: Dort gibt er der Melancholie-Figur ein „Schreckgesicht“ (mit blinkenden
oder ‚blitzenden‘ Augen?) und eine (ebenfalls ‚donnernde‘?) „böse Rechte“ (ge-
meint ist die Faust).127 Das Wort „Donnerkeil“ selbst bezeichnet nach Grimms
Wörterbuch einen „zugespitzte[n] keilförmige[n] stein, wie man ihn zuweilen auf

123 Vgl. Volz, Nietzsche – Der lyrische Melancholiker, S. 26.


124 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 10; vgl. NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 13.
125 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 10.
126 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 11–13.
127 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 23 f.

74 Armin Thomas Müller

äckern findet; das volk glaubt sie seien vom blitz herabgeschleudert, zumal wenn
blitz und donner auf einen schlag kommt. meist sind es belemniten [fossile Kopf-
füßer].“ Donnerkeile werden im Volksmund auch „teufels- oder hexenfinger“ ge-
nannt, „weil man zauberei damit treibt“. Der Begriff kann aber auch schlicht den
„herabfahrende[n] blitzstrahl“ meinen.128 Das sprachliche Bild vereint demnach
mehrere Bedeutungen in sich, die zum bedrohlichen Gebaren der meteorologisch
verbildlichten Gestalt beitragen: Den Arm kann die personifizierte Melancholie
nicht nur direkt wie einen Blitz verwenden, sondern sie, die „Amazone“, kann mit
ihm auch einen ‚Donner-Keil‘ als (besonders mächtige, potenziell magische) Waffe
führen.
Die Konjunktion zu Beginn der vierten Strophe schließt unmittelbar an die
vorangehende Texteinheit an und präzisiert das Geschehen weiter. Nachdem Me-
lancholie-Figur und Gewitter überblendet wurden, schildert das lyrische Ich, wie
ihm jene in personaler Erscheinung, mit den Attributen des verheerenden Wetterp-
hänomens versehen, entgegengetreten sei („so tratst du“).129 Das Bedeutungsspek-
trum der zuvor angeführten Bilder verengt sich zugunsten einer bellizistischen
Konnotation, die zudem rhetorisch überspitzt wird: „Vollgerüstet, waffenglei-
ßend“ erscheint die Melancholie am „oede[n] Bette“ des Ichs, also in dessen
nächster Nähe.130 Der unheilvolle Charakter des Geschehens speist sich gerade aus
dem Kontrast zwischen angsterfülltem Ich und sinisterer Melancholie-Figur; indem
diese in voller Kriegsmontur in den vermeintlichen Zufluchtsort des Ichs hinein-
bricht, verstärkt ein weiteres Bild die konstitutive Antithese des Gedichts.131
Das Fensterschlagen ruft abermals den schauerpoetischen Gehalt des Ge-
dichts auf, die Verwendung der „erz’ne[n] Kette“ erinnert in diesem Zusammen-
hang an das ‚Kettenklirren‘ der zur ‚Geisterstunde‘ spukenden Gespenster.132
Gleichzeitig wirkt es als höhnische Begrüßungsgeste, der die Drohung einge-
schrieben ist, das Ich nun ‚in Ketten zu legen‘. Der Hinweis auf die „erz’ne[ ]“
Beschaffenheit der „Kette“ – hier werden Metonymie (Erz für Metall) und Pleonas-
mus (Kette aus Metall) kombiniert – untermalt die ‚eiserne‘ und unbarmherzige
Haltung der Melancholie-Figur, die gekommen ist, um das lyrische Ich in ihren
(Sklaven-)Dienst zu nehmen. Mit dem Fensterschlagen fordert sie darüber hinaus

128 Grimm, Jacob und Wilhelm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 2, München 1984 (= Fotomecha-
nischer Nachdruck der Erstausgabe 1860), Sp. 1244 f.

129 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 14 (Hervorhebung ATM).


130 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 14 f.

131 In An die Melancholie erfährt dieses Schema eine Erweiterung, wenn das Ich sich zur Wehr
setzt und seine „Feder“ gegen das ‚Schwert‘ der Melancholie erhebt.
132 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 16.
Nietzsches Gimmelwalder Melancholie-Gedichte aus dem Sommer 1871 75

die Aufmerksamkeit des Ichs und leitet ihre folgende, zwei Strophen umfassende
Figurenrede ein, in der sie sich und ihre Ansprüche vorstellt.133
Durch die Strophentrennung wird der Einleitungssatz der Rede („Nun höre,
was ich bin!“)134 als solcher formal hervorgehoben und zugleich vom spezifischen
Redeinhalt abgegrenzt. Das einleitende Adverb, das in derselben Funktion auch
im vorletzten Vers sowie in An die Melancholie vorkommt,135 markiert einen
Schnitt, den die sprechende Melancholie setzt und dem zufolge der Zweck ihres
‚Besuchs‘ erst jetzt von ihr preisgegeben werde. Bei dem bisherigen Geschehen
hat es sich also nur um ein Vorspiel gehandelt; der wahre Schrecken (nämlich die
Knechtschaft) kommt erst noch. Gleichwohl beabsichtigt die Figur auf diesem
Weg, vermeintlichen Illusionen des Ichs vorzubeugen: Aus der übertrieben mar-
tialisch gehaltenen Rede geht hervor, dass sie nicht mit einem herkömmlichen
Alptraum oder anderen nächtlichen Schrecknissen ‚zweiter Klasse‘ verwechselt
werden will, sondern Anspruch auf den Status als Nemesis des ganzen Männer-
geschlechts erhebt. Auf einer Metaebene des Textes kongruiert diese Vorstellung
mit Nietzsches Traditionskorrektur: Seine Melancholie-Figur will insbesondere
nicht für die ‚süße Schwermut‘, die idealisierte Melancholie-Figur der Empfind-
samkeitslyrik, gehalten werden; vielmehr gibt sie sich als eine hochgerüstete,
pathologische Melancholie zu erkennen, die nach heutigem Sprachgebrauch eher
als manische Depression zu bezeichnen wäre. Nietzsches Figur verkörpert im
Gewitter-Gedicht den ‚Schmerz‘, keinen ‚Weltschmerz‘.
Die Melancholie stilisiert sich als „große ewge Amazone“ gegenüber dem Ich
zur archetypischen Kriegerin.136 Daher weist sie feminine Zuschreibungen von
sich, um ihr Profil als „Kämpferin“ zu schärfen.137 So kontrastiert Nietzsches
Melancholie-Figur mit derjenigen der Empfindsamkeit. Die Rolle als melancholia
generosa, die das Melancholie-Gedicht noch thematisiert, entfällt hier gänzlich.
Das lyrische Ich spricht der Melancholie zwar auch dort den einseitig verklärten
Status als freundliche und anziehende Muse der Dichter ab. Doch im Gewitter-
Gedicht fehlt nicht nur jeder inspirierende Charakterzug, die Melancholie rekla-
miert für sich selbst unverblümt „Manneshaß und -Hohne“.138 Der traditionelle
Zusammenhang von Dichtung und Melancholie erscheint in diesem Licht als

133 Durch die Vorstellung in direkter Rede betont das lyrische Ich, dass es sich um das ‚Selbst-
Bild‘ der Figur handelt, also nicht um eine (falsche) Zuschreibung aus fremder Perspektive, die es
damit indirekt seinen dichtenden Vorgängern unterstellt.
134 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 17.
135 Vgl. NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 24; und NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 28.
136 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 18.
137 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 20.
138 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 20.
76 Armin Thomas Müller

großes Verhängnis der Dichter: Die Melancholie gebärdet sich im übertragenen


Sinne als ewige Geißel der Männer, welche die Talentiertesten schon in jungen
Jahren heimsucht und dem Leben entwendet, indem sie den taedium vitae über
sie bringt.139
Nietzsches Text akkumuliert die verschiedenen Namen, mit denen sich die
Melancholie-Figur brüstet, innerhalb eines Satzes, der sich über die ganze fünfte
Strophe erstreckt.140 Die letzten in der Reihe der Selbsttitulierungen – die als
„Siegerin und Tigerin zugleich“ – erweitert die Menge der Attribute noch um
einen triumphierenden Gestus und einen animalischen Habitus.141 Die Melancho-
lie geriert sich als unbesiegbare Macht, als beständige „Siegerin“ über ihre
Gegner (oder vielmehr Opfer) und beansprucht den Nimbus der Unbesiegbarkeit.
Die Verwendung der weiblichen Form hebt die ‚amazonenhafte‘ Selbstbehaup-
tung der Melancholie-Figur als Männerfeindin hervor. Sie verleiht ihr darüber
hinaus eine erotische Färbung, die auch den Typus der femme fatale anklingen
lässt.
In der letzten Strophe setzt sich die Selbstvorstellung der Melancholie-Figur
fort, die in der Todesdrohung gegenüber dem lyrischen Ich gipfelt. Um das
lyrische Ich weiter einzuschüchtern, erläutert die Melancholie zuvor jedoch die
ihrem Selbstverständnis als „Amazone“, Gewittermacht und „Zauberin“ gemäßen
Fähigkeiten im Stil der schon bekannten grotesken Übertreibung: Ihre Tritte seien
stets tödlich, ihr ‚böser Blick‘ vermöge Flammen zu werfen (oder ‚flammendes
Unheil‘ zu stiften) und schon einer ihrer Gedanken könne vergiften.142 Die im
Laufe des Gedichts genannten Attribute werden so noch einmal resümiert: der
Trübsal erweckende „Todestrank“ der giftmischenden ‚Hexe‘, das Blitze (dadurch
indirekt Feuer) schleudernde Gewitter, das jeweils mit den ‚blinkenden‘ oder
‚grimmen‘ „Augen“ assoziiert wird,143 und die Kampfkraft der „Amazone“, die

139 Hiermit könnte der empirische Autor Nietzsche auch auf die eigenen Depressionsschübe in
seiner Jugend rekurrieren. Das Gedicht Verzweiflung (NL 1860/61, 9[2], KGW I/2, 219 f.), in dem ein

lyrisches Ich vor der Kulisse eines Sturms (!) zunehmend resigniert und schließlich Suizid begeht,
scheint im Geiste einer solchen entstanden zu sein.
140 Vgl. NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 18–21.
141 In diesem Zusammenhang weist Volz, Nietzsche – Der lyrische Melancholiker, S. 37, auf
Heinrich von Kleists Drama Penthesilea hin. Die titelgebende Amazonenkönigin, von Achill
„[h]alb Furie, halb Grazie“ genannt, zerfleischt ihren Geliebten nach seiner absichtlichen Zwei-
kampfniederlage zusammen mit ihren Hunden im Rausch (Kleist, Heinrich von, Sämtliche Werke
und Briefe in 4 Bänden, Bd. 2, unter Mitwirkung von Hans Rudolf Barth hrsg. von Ilse-Marie Barth
und Hinrich C. Seeba, Frankfurt/Main 1987 = Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 26, S. 233 u.
239).
142 Vgl. NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 22–24.
143 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 12 u. 23.
Nietzsches Gimmelwalder Melancholie-Gedichte aus dem Sommer 1871 77

keine Gefangenen macht. Auf dem Höhepunkt dieser überzeichneten Selbst-


beschreibung platziert die Melancholie-Figur unvermittelt ihre Forderung nach
Unterwerfung und quasi religiöser Verehrung. Hierzu fordert sie die Demutsgeste
par excellence ein: das Niederknien. In diesem Stil formuliert sie auch die finale
Drohung: „Oder modre Wurm! Irrlicht, verglimm!“144
Von einer übergeordneten Ebene aus betrachtet, zeichnet Nietzsches Gewit-
ter-Gedicht den Weg melancholischer ‚Inspiration‘ nach – allerdings nicht im
verklärenden Licht der Tradition, sondern in übertriebener Schonungslosigkeit:
Die ‚Muse Melancholie‘ ist eigentlich ein Anfall von Depression, den der befallene
Dichter aus Furcht literarisch abschwächt. Diese Verklärung der Umstände ent-
larvt der Text als ‚Liebedienerei‘, als devotes Akzeptieren der Unterwerfungs-
ansprüche der Melancholie durch das lyrische Ich. Auch das lyrische Ich des
Melancholie-Gedichts erklärt zwar die „herbe Göttin“ zu seiner „Freundin“. Doch
gibt es damit zugleich den Weg in die Freiheit vor: Es verlässt die lähmende
Fixierung und greift zur „spitze[n] Feder“ – nicht um die Melancholie in süßen
Worten poetisch zu preisen, sondern um sie in ihrer Schreckensgestalt zu paro-
dieren und so in einer apotropäischen Handlung ihrer Macht zu berauben.

144 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 25.


Katharina Grätz
„doch sehen wir sein Sprechen nur“:
Nietzsches Gedicht Um Mittag / Am
Gletscher und die Lesbarkeit der Natur

Abstract: „doch sehen wir sein Sprechen nur“: Nietzsche’s poem Um Mittag /
Am Gletscher and the readability of nature. This in-depth reading of the poem
Um Mittag, which was first composed in 1877 in Rosenlauibad (Switzerland), then
revised and re-titled Am Gletscher in 1884, focuses on the question of the inter-
pretation of nature. Giving artistic form to the summer’s advance into the icy
landscape of high mountains, the poem reveals nature as a sphere distinct from
man, whose significance can only be caught by means of analogy, embodiment
and anthropomorphism. So, Um Mittag / Am Gletscher relates in many different
ways to the possibilities of perception, construal and lyrical intermediation of
natural processes.

1
In der zweiten Junihälfte 1877 schreibt Nietzsche an Paul Rée in Jena:

An diesen Ort, den das Bildchen zeigt, habe ich 3 Bücher mitgenommen: etwas Neues von
Mark Twain dem Amerikaner (ich liebe dessen Albernheiten mehr als die deutschen
Gescheutheiten), dann Plato’s Gesetze – und Sie, lieber Freund. So bin ich wohl der Erste,
der Sie in der Nähe der Gletscher liest; und ich kann Ihnen sagen, das ist der rechte Ort, wo
man überschaut das menschliche Wesen mit einer Art von Geringschätzung und Verachtung
(sich selbst s e h r einbegriffen) gemischt mit Mitleiden über die vielfältige Qual des Lebens;
und mit dieser doppelten Resonanz gelesen, wirkt Ihr Buch sehr stark.1

Die Postkarte zeigt den Ort Rosenlauibad in den Berner Alpen, wo Nietzsche am
11. Juni 1877 Quartier bezogen hatte. In der Hoffnung auf die heilsamen Kräfte des
Gebirgsklimas und der „Bergeinsamkeit“2 sollte er bis zum 1. September 1877
bleiben. Zeit seines Lebens übte das Hochgebirge starke Anziehung auf ihn aus.
Die schroffe Gebirgswelt wurde ihm zur Chiffre für die eigene sozial isolierte

1 Brief an Paul Rée aus der zweiten Junihälfte 1877, KSB 5, Nr. 627, S. 245 f., Z. 1–11.

2 Brief an Louise Ott vom 29. 08. 1877, KSB 5, Nr. 660, S. 281, Z. 4.

DOI 10.1515/9783110474374-005
80 Katharina Grätz

Existenzweise und sie bot ihm die geeignete Kulisse für Einsamkeitsorgien und
Größenphantasien: „In den Alpen bin ich unbesiegbar, namentlich wenn ich
allein bin und ich keinen andern Feind als mich selber habe.“3
Auch in Nietzsches poetischer Topographie spielen unwirtliche Klimazonen
eine wichtige Rolle. Kälte, Eis und Schnee stellen zentrale Bildfelder dar, auf die
er immer wieder zurückgreift. Seine philosophische Erkenntnissuche vollzieht
sich metaphorisch nicht selten als räumlich-geographische Erkundung, die in
extreme Räume vordringt.4 Bevorzugt aufgerufene Orte der einsamen Existenz
und des einsamen Denkens sind das Hochgebirge, die Schneeberge und Glet-
scher. So vergleicht Menschliches, Allzumenschliches die Freigeisterei „einer
höchst gefährlichen Gletscher- und Eismeer-Wanderung“5 und die Fröhliche Wis-
senschaft führt das unmittelbare Naturerleben als Inspirations- und Schaffens-
quell an: „Wir gehören nicht zu Denen, die erst zwischen Büchern, auf den
Anstoss von Büchern zu Gedanken kommen – unsre Gewohnheit ist, im Freien zu
denken, gehend, springend, steigend, tanzend, am liebsten auf einsamen Bergen
oder dicht am Meere, da wo selbst die Wege nachdenklich werden.“6
Freilich muss man sich fragen, ob hier nicht Ironie im Spiel ist. Denn wenn
Natur zum unmittelbaren Gedanken- und Ideengeber des ‚tanzenden‘, nicht auf
Bücher und schriftliche Quellen angewiesenen Philosophen erklärt wird, so steht
das im Widerspruch zu Nietzsches tatsächlich am Tropf der Quellen und der
schriftlichen Überlieferung hängenden Schaffensweise. Und schließlich: Ist die
beschworene (Natur-)Unmittelbarkeit nicht vielleicht selbst schon eine aus Lektü-
re gewonnene Referenz, eine Anspielung auf Jean-Jacques Rousseaus Les rêveries
du promeneur solitaire (1776/78)? Bezeichnend für Nietzsche jedenfalls scheint
viel eher die Konstellation, die er im Juni 1877 in der Postkarte an Paul Rée
skizziert, wo er sich als jemanden präsentiert, der im Angesicht des Gletschers
Bücher liest, der also das schriftlich Überlieferte vor der Folie der Natur und die
Natur vor der Folie des schriftlich Überlieferten betrachtet, derart Natur und
Kultur miteinander verschränkend. Um das Verhältnis von Natur und Kultur geht
es auch in dem Gedicht, das nachfolgend einer eingehenden Interpretation unter-
zogen werden soll. Um Mittag oder Am Gletscher, wie das ursprünglich in Rosen-
lauibad entstandene Gedicht in der zweiten Fassung betitelt ist, thematisiert das
Verhältnis des Menschen zur Landschaft des Hochgebirges und verweist dabei
ebenfalls auf eine Art von Lektüre. Gelesen werden allerdings nicht Mark Twain,

3 Brief an Malwida von Meysenbug vom 03. 09. 1877, KSB 5, Nr. 662, S. 284, Z. 29 f.

4 Hierzu der Beitrag von Milan Wenner, der die Motive der Seefahrt und des Meeres untersucht.
5 MA II VMS 21, KSA 2, 387, 22 f.

6 FW 366, KSA 3, 614, 5–10.


„doch sehen wir sein Sprechen nur“ 81

Abb. 1: Rosenlauibad. Stahlstich 1839

Plato oder Paul Rée, sondern die Entzifferungsversuche richten sich auf das ‚Buch
der Natur‘, das der Lektüre Widerstände entgegensetzt und seine Bedeutung nicht
ohne Weiteres preisgibt.
Bereits Jahre früher hatte ein Aufenthalt in den Berner Alpen Nietzsche zu
lyrischer Produktion inspiriert; 1871 schrieb er in Gimmelwald die Gedichte An die
Melancholie und Nach einem nächtlichen Gewitter.7 Wie die Rosenlauibader Ge-
dichte stehen auch sie unter dem Eindruck der Gebirgslandschaft.8 Die beiden
Gedichte, die aus Rosenlauibad überliefert sind, blieben zwar zunächst ohne Titel
und werden entsprechend nach dem jeweils ersten Vers Um Mittag9 und Dies ist
der Herbst10 zitiert, machen aber keineswegs den Eindruck des Fragmentarischen,

7 Siehe hierzu den Beitrag von Armin Thomas Müller im vorliegenden Band.
8 Auf Analogien zwischen Um Mittag und den Gimmelwalder Gedichten weist Grundlehner nach-
drücklich hin: „The animation of the natural scene, the invocation of a mythic presence, the
importance of the eye’s introspective role, and the symbolism of light are all elements which
combine to create the moods of both poems“ (Grundlehner, Philip, The Poetry of Friedrich Nietz-
sche, New York / Oxford 1986, S. 75).
9 NL 1877, 22[94], KSA 8, 396 f.

10 NL 1877, 22[93], KSA 8, 395 f.



82 Katharina Grätz

da sie sich durchgreifend strukturiert und kompositorisch gerundet darbieten.


Innerhalb der formalen Entwicklung von Nietzsches Lyrik kommt ihnen ein
Sonderstatus zu, denn es sind die ersten in freien Rhythmen verfassten Gedichte.
Dass er sie wertschätzte, lässt sich daraus schließen, dass er sie sich Jahre später
wieder vornahm, als er im Herbst 1884 für eine kurze Zeit die Idee einer eigen-
ständigen Gedichtausgabe verfolgte.11 Dafür legte er ein umfangreiches Gedicht-
konvolut an (in KGW und KSA ediert als Fragmentgruppe 28),12 das sich sowohl
aus neu entstandenen als auch aus überarbeiteten Gedichten zusammensetzt.
Von den beiden Rosenlauibad-Gedichten erstellte er im Zuge dieser Arbeiten neue
Fassungen, denen er nun auch Titel gab: Im deutschen November13 und Am
Gletscher.14 Zur Veröffentlichung ist es freilich nicht gekommen; beide Gedichte
erschienen erst postum.
Die Forschung hat sich kaum eingehender mit den Rosenlauibader Gedichten
beschäftigt, doch wer überhaupt auf sie zu sprechen kommt, erkennt ihnen einen
besondere Stellung innerhalb von Nietzsches lyrischer Entwicklung zu, und zwar
nicht nur in formaler Hinsicht, sondern vor allem hinsichtlich der Naturdarstel-
lung.15 Die vorgenommenen Gewichtungen zeugen freilich von sehr verschiede-
nen Zugangsweisen. Ziemann versteht die beiden Gedichte als Belege für die
Distanzierung von der romantischen Tradition, in deren Zeichen Nietzsches Lyrik

11 Vgl. hierzu den Briefentwurf an Julius Rodenberg vom November/Dezember 1884: „Zuletzt
weiß ich nicht einmal, ob Ihre ‚Rundschau‘ jemals schon Gedichte veröffentlicht hat. Der gegen-
wärtige Fall aber – daß Friedrich Nietzsche selber einer Zeitschrift das Anerbieten mache, Etwas
von mir zu drucken – geht so sehr wider alle meine Regel, daß auch Sie hier einmal eine
Ausnahme machen können – eine Ausnahme wie ich unbedingt voraussetze, zu Gunsten und
zum Vortheile Ihrer Zeitschrift. Geben Sie mir, hochgeehrter Herr, ein gefälliges Ja! zur Antwort
auf diese Zeilen, zugleich mit Ihrem Vorschlage in Betreff des Honorars“ (KGB III/1, Nr. 563,
S. 567, Z. 1–11).
12 Groddeck bezeichnet die Fragmentgruppe 28 „als das eigentliche Zentrum in Hinblick auf den
gesamten lyrischen Nachlaß Nietzsches“ (Groddeck, Wolfram, „Gedichte und Sprüche“. Über-
legungen zur Problematik einer vollständigen, textkritischen Ausgabe von Nietzsches Gedichten, in:
Martens, Gunter / Woesler, Winfried (Hrsg.), Edition als Wissenschaft. Festschrift für Hans Zeller,
Tübingen 1991, S. 169–180, hier S. 177). Ediert ist sie in KGW VII/3, 5–40 und KSA 11, 297–332.
13 NL 1884, 28[59], KSA 11, 323 f.

14 NL 1884, 28[60], KSA 11, 325 f.


15 Am ausführlichsten geht Grundlehner auf die Rosenlauibad-Gedichte ein, wobei er sich


allerdings ganz auf die späteren Fassungen konzentriert. Das ist insofern nicht ganz nachzuvoll-
ziehen, als er die Gedichte aus dem ursprünglichen autobiographischen Entstehungskontext
heraus versteht und in Nietzsches Ausscheren aus der wissenschaftlichen Laufbahn die Voraus-
setzung dafür sieht, dass er sich von starren rhetorischen Formen frei machen und mit Am
Gletscher ein „poem of sustained lyric mood“ schaffen konnte (Grundlehner, The Poetry of
Friedrich Nietzsche, S. 75).
„doch sehen wir sein Sprechen nur“ 83

bis dahin gestanden habe, und er macht dies am Wandel der Naturauffassung
fest. Während Natur in Nietzsches frühen Gedichten noch lesbar und verstehbar
sei und dem Menschen eine Botschaft zu vermitteln habe, verliert sie nach
Ziemann in den Rosenlauibad-Gedichten diese Orientierungsfunktion; dort be-
gegne „der Leser einer Natur, die so von Leid und Schmerz zerrissen ist, daß sich
eine Landschaft gar nicht mehr herstellen kann; die Bilder sind nicht mehr im
klassischen Sinne ‚symbolisch‘, in ihnen fallen nicht mehr Bild der Natur und Bild
der Seele zusammen, sondern die Elemente des Landschaftsbildes sind nur noch
Material für Bilder einer nervösen, versehrten, modernen Seele“.16 Ziemann rückt
die Rosenlauibad-Gedichte damit dezidiert in den Horizont der literarischen
Moderne, er versteht sie als Vorklang der Décadence-Dichtung und einer moder-
nen Nervenkunst.
Konträr dazu fällt die Einschätzung von Klein aus, der zwar ebenfalls den
Bruch mit der romantischen Tradition konstatiert, aber eine andere literatur-
geschichtliche Zuordnung vornimmt, wenn er bemerkt: „[H]ier kommt etwas zur
Geltung, was sich bereits im poetischen Realismus regte: die Objektivierung des
Menschen, die Hingabe an die Welt im Sinnbilde der Landschaft“.17 Ziemann wie
Klein sehen also beide die Einheit von Mensch und Natur in den Rosenlauibad-
Gedichten zerbrochen. Ausgehend von dieser Annahme gelangen sie aber jeweils
zu einem ganz unterschiedlichen Verständnis der Naturdarstellung in Nietzsches
Gedichten: Dient die Natur nach Ziemann als Bildspender für die Selbstinszenie-
rung des überreizten modernen Individuums, so tritt der Auffassung Kleins zu-
folge das Subjektive vollständig hinter der Darstellung der Natur zurück.
Mit Blick auf die wenigen Interpretationsansätze, die zu den Rosenlauibad-
Gedichten vorliegen, kann man festhalten: Es herrscht weitgehend Konsens darü-
ber, dass diesen Gedichten eine Schwellenfunktion in Nietzsches lyrischem Werk
zukommt; sie werden aufgefasst als Durchbruch zu einer neuen lyrischen Form
und zu einer neuen Art der Naturdarstellung. Darüber hinaus fallen die Einschät-
zungen jedoch kontrovers aus und schon das den Gedichten zugeschriebene
Innovationspotential wird sehr unterschiedlich bestimmt.

16 Ziemann, Rüdiger, Die Gedichte [Artikel], in: Ottmann, Henning (Hrsg.), Nietzsche-Handbuch.
Leben –Werk – Wirkung, Stuttgart / Weimar 2000, S. 150–156, hier S. 152.
17 Klein, Johannes, Die Dichtung Nietzsches, München 1936, S. 65.
84 Katharina Grätz

2
Um Mittag oder Am Gletscher, wie der Titel der späteren Fassung lautet, fügt sich
einem Strang der Naturlyrik ein, der die Landschaft des Hochgebirges ins Zentrum
rückt. Bekannte Beispiele hierfür sind Albrecht von Hallers Langgedicht Die Alpen
(1729), Nikolaus Lenaus Zyklus Wanderung im Gebirge (1830), Anastasius Grüns
Lieder aus dem Gebirge (1830/31) und die Abteilung In den Bergen in Conrad
Ferdinand Meyers Gedichtsammlung Sämtliche Gedichte von 1882. Nietzsche greift
also auf eine Landschaft zurück, die längst dem Repertoire der literarischen Tradi-
tion eingespeist ist und die vor allem als Landschaft des Erhabenen topische
Bedeutung erhalten hatte.18 Mit „Eisgebirg“, „Schneegebirg“, „Fels“ und „Sturz-
bach“ greift auch Nietzsches Gedicht die charakteristischen Elemente des Natur-
Erhabenen auf. Im Mittelpunkt freilich steht nicht die Entfaltung der erhabenen
Landschaft, sondern die Gestaltung eines dynamischen Naturgeschehens, das
durch eine spezifische, jahreszeitlich wiederkehrende meteorologische Konstella-
tion ausgelöst wird, nämlich durch das Vordringen des Sommers in die Eisland-
schaft des Hochgebirges. Nietzsche, und das ist durchaus typisch für ihn, knüpft an
die ästhetische und literarische Tradition der Landschaftsdarstellung nur an, um
sie umzudeuten.19
Ich konzentriere mich in meiner Analyse des Gedichts wesentlich auf die erste
Fassung von 1877, da sie in Struktur und Thematik bereits alle zentralen Aspekte
enthält. Sie lautet:

Um Mittag, wenn
Der junge Sommer in’s Gebirge steigt,
Da spricht er auch,
Doch sehen wir sein Sprechen nur:

18 In folgender Weise besingt etwa Barthold Heinrich Brockes in dem Gedicht Die Berge die
unverwüstliche Größe der Berge: „Ihre grauen Häupter decken / Unvergänglichs Eis und Schnee,
/ Ihre Felsen-Füsse stecken / In dem Grund der tiefsten See, / Und die starre Brust erträget /
Unverändert, unbeweget / Alle Wetter, Frost und Hitz’, / Donner, Hagel, Sturm und Blitz.“
(Brockes, Barthold Heinrich, Auszug der vornehmsten Gedichte aus dem Irdischen Vergnügen in
Gott, Faksimile-Druck der Ausgabe Hamburg 1738, Stuttgart 1965, S. 124). Nietzsches Vertrautheit
mit den traditionellen ästhetischen Kategorien der Landschaftsauffassung zeigt sich etwa in
Menschliches, Allzumenschliches II in dem Entwurf einer arkadischen Landschaft: „Links Felsen-
hänge und Schneefelder über breiten Waldgürteln, rechts zwei ungeheure beeiste Zacken, hoch
über mir, im Schleier des Sonnenduftes schwimmend, – Alles gross, still und hell. Die gesammte
Schönheit wirkte zum Schaudern“ (MA II WS 295, KSA 2, 686, 24–28).
19 Günzel spricht in diesem Zusammenhang von einer „Ent-Transzendierung der Bilderwelt bzw.
der landschaftlichen Motive“ (Günzel, Stephan, Geophilosophie. Nietzsches philosophische Geo-
graphie, Berlin 2001, S. 242).
„doch sehen wir sein Sprechen nur“ 85

5 Sein Athem quillt wie eines Wandersmanns


In Winterfrost:
Es geben Eisgebirg und Tann und Quell
Ihm Antwort auch,
Doch sehen wir die Antwort nur.
10 Denn schneller springt vom Fels herab
Der Sturzbach wie zum Gruss
Und steht als weisse Säule horchend da.
Und dunkler noch und treuer blickt die Tanne
Als sonst sie blickt.
15 Und zwischen Eis und todtem Graugestein
Blickt plötzlich Leuchten auf:
Wer deutet dir’s?
In todten Mannes Auge
Wird wohl noch einmal Licht:
20 Sein Kind umschlang ihn harmvoll
Küsst’ ihn.
Da sagt des Auges Leuchten:
„Ich liebe dich“
Und Schneegebirg und Bach und Tann
25 Sie sagen auch
Zum Sommerknaben nur
Dies Eine Wort:
Wir lieben dich!
Wir lieben dich!
30 Und er – er küsst sie harmvoll,
Inbrünstiger stets
Und will nicht gehn:
Er bläst sein Wort wie Schleier nur
Von seinem Mund – ein schlimmes Wort. –
35 Da horcht es rings
Und athmet kaum:
Da überläuft es schaudernd wie
Ein Glitzern am Gebirg
Rings die Natur:
40 Sie denkt und schweigt. –
Um Mittag war’s

Mein Gruss ist Abschied


Ich sterbe jung. –20

20 NL 1877, 22[94], KSA 8, 397 f.



86 Katharina Grätz

Für Lyrik – und schon gar für Naturlyrik – eher untypisch ist der gleich zu Beginn
markant hervortretende narrative Charakter des Gedichts.21 Er unterstreicht, dass
hier nicht subjektives Naturerleben, sondern ein dynamisches Naturgeschehen
vorgestellt wird. Entsprechend gibt es kein lyrisches Ich, das als Zentrum von
Erfahrungen oder Stimmungen fungieren würde. Als Sprecher dient vielmehr ein
beobachtendes „wir“, das der Natur in unaufhebbarer Distanz gegenübersteht. In
seiner Funktion als wahrnehmende Instanz wird es zweimal genannt („sehen
wir“, V. 4, V. 9), sonst tritt es vollständig hinter dem wiedergegebenen Geschehen
zurück. Zu den narrativen Elementen kommen dramatische hinzu: Eine wichtige
Rolle spielt die wörtliche Rede, die insgesamt dreimal begegnet und unterschied-
lichen Sprecherinstanzen zugeordnet ist.
Die grammatisch vollständigen Sätze sind in reimlosen Versen angeordnet,
die jeweils Sinneinheiten vorstellen und mit einer schwankenden Länge von
zwischen 4 und 10 Silben schon äußerlich Unregelmäßigkeit demonstrieren. Als
in freien Rhythmen verfasstes Gedicht weist Um Mittag22 kein Metrum und keinen
Reim auf, auch gibt es (abgesehen von den beiden räumlich abgesetzten Schluss-
versen) keine strophische Gliederung. So stellt sich die Frage, was überhaupt den
lyrischen Charakter des Gedichts ausmacht. Neben der Rhythmisierung, die ins-
besondere durch die zahlreichen viersilbigen Verse erfolgt, sind hier vor allem die
vielen Inversionen von Satzgliedern zu nennen. Besonders auffällig sind die
Umstellungen in den Versen 7–16, deren Syntax durch das Zurückstellen des
Subjekts von der normalsprachlichen abweicht. Dies hat einen semantischen
Effekt; denn weil es zu einer stärkeren Betonung des Verbs führt, tritt das Dyna-
mische der Natur dadurch deutlicher hervor, z. B. wenn es heißt: „Denn schneller
springt vom Fels herab / Der Sturzbach wie zum Gruss“ (V. 11 f.).  

Weitere kunstvoll eingesetzte gestalterische Mittel sind Wiederholungen. Sie


zeigen sich auf Wortebene (so leistet das wiederaufgenommene „harmvoll“ – es
findet sich sonst nicht in Nietzsches Wortschatz – auf lexikalischer Ebene eine
Verknüpfung von menschlicher Sphäre und Natur) wie auch auf Satzebene: Das

21 Freilich haben neuere Forschungen vorgeführt, dass sich narratologische Analysekategorien


durchaus auf Gedichte übertragen lassen und sich die gattungsstrukturellen Möglichkeiten von
Lyrik und Prosa weniger stark voneinander unterscheiden als bislang angenommen (vgl. hierzu
Schönert, Jörg / Hühn, Peter / Stein, Malte, Lyrik und Narratologie. Text-Analysen zu deutsch-
sprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Berlin / New York 2007).
22 In formaler Hinsicht weist Klein Um Mittag eine Übergangsfunktion zu den Dionysos-Dithy-
ramben zu: „In der rhythmischen Fügung erinnern sie noch an die freien Rhythmen Goethes. Die
Loslösung hat noch nicht einen äußersten Grad erreicht, sondern ist bei einer freien Verwendung
wohlklingender Takteinheiten stehengeblieben. Von der dynamischen Wucht der späteren freien
Rhythmen kann noch keine Rede sein“ (Klein, Die Dichtung Nietzsches, S. 63).
„doch sehen wir sein Sprechen nur“ 87

wörtlich vorgebrachte „Ich liebe dich“ (V. 23) wird variiert in dem identisch
wiederholten und dadurch intensivierten „Wir lieben dich!“ (V. 28 f.). Für die

Gesamtstruktur des Gedichts sind vor allem die anaphorisch mit „Da“ eröffneten
Versanfänge wichtig: „Da spricht er auch“ (V. 3), „Da horcht es rings“ (V. 35), „Da
überläuft es schaudernd“ (V. 37). Sie sind syntaktisch den beiden ersten Versen
zugeordnet („Um Mittag, wenn / Der junge Sommer in’s Gebirge steigt“) und
bilden ein konditionales Satzgefüge, das kausale Folgebeziehungen indizierend
die übergreifende syntaktische und argumentative Klammer des Gedichts abgibt.
Auch wenn Um Mittag keine Stropheneinteilung aufweist, ist das Gedicht klar
gegliedert. Fünf Teile lassen sich unterscheiden, die man in folgender Weise grob
charakterisieren kann: 1. Die Verse 1–16 halten in anthropomorphisierender
Weise Vorgänge der Natur fest, die als dialogische Interaktion vorgestellt werden.
2. Die Verse 17–23 verlassen den Bereich der Natur und leisten eine Übertragung
auf eine existenzielle Grundsituation: die Begegnung eines Kindes mit seinem
toten Vater. 3. In den Versen 24–32 erfolgt eine Rückübertragung vom mensch-
lichen Bereich auf den der Natur. Analog zur Begegnung von Vater und Kind
wird – in durchgängiger Personifikation – die Relation der Hochgebirgsland-
schaft zum Sommer gefasst. 4. Die Verse 33–41 knüpfen an den Gedichtbeginn an;
der „junge Sommer“ spricht zur Natur und löst einen epiphanisch-herausgeho-
benen Moment des Innehaltens aus. 5. Die beiden räumlich abgesetzten Schluss-
verse 42 und 43 geben wörtlich die zuvor unverständliche Rede des „jungen
Sommers“ wieder.
Eine Besonderheit von Um Mittag liegt darin, dass es das (meteorologische)
Naturgeschehen durchgehend anthropomorphisiert und auf Grunddimensionen
der menschlichen Existenz bezieht. Das Gedicht ordnet dem Gegensatz von Som-
mer und Winter die Oppositionen von Jugend und Alter, Leben und Tod zu. Damit
schließt es an die Tradition allegorischer Naturdichtung an. Bemerkenswert ist
allerdings die Richtung, die die allegorische Auslegung nimmt. Denn das Natur-
geschehen dient nicht lediglich als Bildspender zur Erschließung menschlicher
Begebenheiten, sondern rückt selbst ins Zentrum. Die Natur und ihre Sprache
bilden den eigentlichen Mittelpunkt des Gedichts. Damit reiht sich Um Mittag
nicht selbstverständlich in die Tradition der Naturlyrik ein, sondern problemati-
siert selbstreflexiv zentrale Aspekte dieses Genres, indem es die Wahrnehmung
und Deutung von Naturvorgängen als Problem vorstellt. Explizit thematisiert das
Gedicht den Zeichencharakter der Natur und seine Bedeutung („Wer deutet dir’s“,
V. 17). Entsprechend rückt die folgende Interpretation die Relation von Mensch
und Natur und die Sprache der Natur in den Mittelpunkt.
88 Katharina Grätz

3
Ein junger Jäger saß im innersten Gebürge nachdenkend bei einem Vogelherde, indem das
Rauschen der Gewässer und des Waldes in der Einsamkeit tönte. […] Große Wolken zogen
durch den Himmel und verloren sich hinter den Bergen, Vögel sangen aus den Gebüschen
und ein Widerschall antwortete ihnen. Er stieg langsam den Berg hinunter, und setzte sich
an den Rand eines Baches nieder, der über vorragendes Gestein schäumend murmelte. Er
hörte auf die wechselnde Melodie des Wassers, und es schien, als wenn ihm die Wogen in
unverständlichen Worten tausend Dinge sagten, die ihm so wichtig waren, und er mußte
sich innig betrüben, daß er ihre Reden nicht verstehen konnte.23

In der Literatur der Romantik ist die Metapher von der Lesbarkeit der Natur
nahezu allgegenwärtig.24 Wie im voranstehenden Zitat aus Ludwig Tiecks Der
Runenberg (1804) bleibt dem von der Natur entfremdeten Menschen die Sprache
der Natur jedoch häufig unverständlich. Nietzsche entwirft in seinem Gedicht Um
Mittag eine entsprechende Konstellation, in der sich die Bedeutung der Chiffren-
sprache der Natur nicht erschließt und sich Mensch und Natur als Subjekt und
Objekt fremd gegenüberstehen. Dabei erscheint die Entzweiung mit der Natur
radikal und irreversibel. Das menschliche Subjekt tritt in Nietzsches Gedicht
(anders als in dem Auszug aus Tiecks Runenberg) überhaupt nicht mehr als Teil
des natürlichen Kosmos in Erscheinung, sondern ist zurückgedrängt auf die Rolle
eines außenstehenden Beobachters, dem die Rede der Natur unzugänglich ist, ja,
der sie nicht einmal zu hören vermag, da er kein Sensorium für sie besitzt.
Das, was in Nietzsches Gedicht metaphorisch als Rede, als ein „Sprechen“
(V. 4) aufgerufen wird, ist das als zeichenhaft aufgefasste meteorologische Natur-
geschehen, genauer: die Auswirkungen des Sommers auf die Natur und Land-
schaft des Hochgebirges. Diese Naturvorgänge sind jedoch nicht empirischer
Erfahrung entsprechend wiedergegeben, sondern durchgängig metaphorisiert
und anthropomorphisiert. So wird das meteorologische Geschehen im Bild des
„junge[n] Sommer[s]“ personifiziert, der seinerseits mit einem ins Gebirge stei-
genden Wandersmann verglichen wird. Und seine Wirkung auf die umgebende

23 Tieck, Ludwig, Der Runenberg, in: Ders., Schriften, Bd. 6: Phantasus, hrsg. von Manfred Frank,
Frankfurt/Main 1985, S. 184–209, hier S. 184.
24 So spricht etwa Novalis in den Lehrlingen zu Sais von der „Wunderschrift“ der Natur (Novalis,
Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, Bd. 1: Das dichterische Werk, Tagebücher
und Briefe, hrsg. von Richard Samuel, München / Wien 1978, S. 201) und Schelling resümiert am
Ende seines Systems des transzendentalen Idealismus: „Was wir Natur nennen, ist ein Gedicht, das
in geheimer wunderbarer Schrift verschlossen liegt“ (Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, Aus-
gewählte Schriften, hrsg. von Manfred Frank, Bd. 1: Schriften 1794–1800, Frankfurt/Main 1985,
S. 696).
„doch sehen wir sein Sprechen nur“ 89

Natur wird als eine dialogische Beziehung gefasst; er „spricht“ (V. 3) zu ihr und
erhält vielfache Resonanz („Antwort“, V. 9):

Denn schneller springt vom Fels herab


Der Sturzbach wie zum Gruss
Und steht als weisse Säule horchend da.
Und dunkler noch und treuer blickt die Tanne
Als sonst sie blickt.
Und zwischen Eis und todtem Graugestein
Blickt plötzlich Leuchten auf
(V. 10–16)

Es kommt also zu einer Dynamisierung der Natur, die gleichsam zum Leben
erwacht. Die dafür verantwortlichen physikalischen Prozesse (Erwärmung und
Schmelzen des Eises) werden als Handlungen personifizierter Akteure darge-
stellt.
Die beobachtende Instanz ist auf den visuellen Eindruck reduziert, und so
erkennt sie lediglich, dass gesprochen wird, kann aber nicht hören, was gespro-
chen wird, und bleibt folglich auch von der Bedeutung des Gesprochenen aus-
geschlossen:25 „Doch sehen wir sein Sprechen nur“, heißt es in Vers 4 und
korrespondierend in Vers 9: „Doch sehen wir die Antwort nur“. Durch die Be-
schränkung der Wahrnehmung auf das Sichtbare können zwar die ‚Gesten‘
erkannt werden, die die Rede begleiten, diese selbst aber ist nicht zu vernehmen.
Vergleichbar einer Kamera ohne Tonspur zeichnet das beobachtende Wir das als
Dialog verstandene Geschehen auf, dem derart ein Eindruck des Unzugänglichen
und Rätselhaften anhaftet. Die Narratologie bezeichnet eine solche Einstellung
zum Geschehen als externe Fokalisierung; ist dies schon in narrativen Texten eine
eher selten angewandte Technik,26 so ist sie in der Lyrik gänzlich ungewöhnlich.
Aufgrund der ‚externen Fokalisierung‘ wird die Natur, obwohl sie von Beginn
an einer anthropomorphisierenden Sicht unterworfen ist, dennoch als Deutungs-

25 In dieser Einschätzung unterscheidet sich die vorliegende Interpretation grundlegend von


den Überlegungen, die Grundlehner zu dem Gedicht anstellt. Nicht als eine problematisierende
Auseinandersetzung mit dem Zeichencharakter der Natur liest er Um Mittag / Am Gletscher,
sondern als eine Inszenierung der Überlegenheit der visuellen Wahrnehmung (als der eigentlich
poetischen) über die akustische (vgl. Grundlehner, The Poetry of Friedrich Nietzsche, S. 76).
26 In der zeitgenössischen erzählenden Prosa findet sich eine vergleichbare Außensicht auf ein
Gespräch in Theodor Fontanes wenige Jahre nach Nietzsches Gedicht entstandener Erzählung
Unterm Birnbaum (1885). Die Absprache zu einem Mord wird hier von außen beobachtet, wobei
lediglich unzusammenhängende Bruchstücke des Dialogs vermittelt werden. Auf diese Weise
werden dem Leser wichtige Informationen vorenthalten (vgl. hierzu Grätz, Katharina, Alles kommt
auf die Beleuchtung an. Theodor Fontane – Leben und Werk, Stuttgart 2015, S. 109 f.).

90 Katharina Grätz

problem wahrgenommen. Die Frage „Wer deutet dir’s?“ (V. 17), welche die
Sprechinstanz selbstbezüglich an sich richtet, betont das nicht lediglich, sondern
markiert zugleich den Wechsel der Darstellungsebene von der beobachtenden
Außenperspektive zur Deutung. Es folgt eine analogisierende Übertragung des
Naturgeschehens auf den Bereich des Menschlichen. Sie setzt bei der visuellen
Wahrnehmung an, indem sie als Entsprechung zu dem plötzlichen „Leuchten“
der erwachenden Fels- und Schneelandschaft, ein anderes „Leuchten“ aufruft:
das in der letzten Umarmung seines liebenden Kindes aufleuchtende Auge des/
seines toten Vaters. Mit einem kühnen Bild- bzw. Gedanken-Sprung wird damit
die Ebene des meteorologischen Naturgeschehens verlassen und zu einer
menschlich-existenziellen Situation übergewechselt. Auffällig ist freilich, dass
diese Analogie nicht nur recht willkürlich erscheint, sondern dass sich überdies
das angeführte menschliche Geschehen selbst als höchst rätselhaft und erklä-
rungsbedürftig erweist. Denn zwar lässt sich das Eintreten des Todes bekanntlich
an den Augen ablesen (schon seit der Antike wird ja vom ‚Brechen‘ der Augen
gesprochen), dass aber die Augen eines Toten unter dem Eindruck der Liebe ein
letztes Mal aufzuleuchten vermögen, bildet ein numinoses Geschehen und kei-
neswegs eine allgemein akzeptierte Annahme. Das lässt die vorgestellte Deutung
der Natur, die dann auch noch verbalisiert und in eine ‚Liebesrede‘ übersetzt wird
(„Ich liebe dich“, V. 23), als eigensinnig-assoziativen Analogisierungsversuch
erscheinen.
Dies gilt dann auch für die anschließende Rückübertragung in den Bereich
der Natur (V. 24–32), die nun entsprechend dem vorgegebenen Muster der Vater-
Sohn-Beziehung als eine letzte Begegnung unter dem Zeichen von Abschied und
Tod aufgefasst wird. Analog wird nun die Sprache der Natur als Liebesrede
verstanden, welche die Gebirgslandschaft an den „jungen Sommer“ richtet: „Wir
lieben dich!“ (V. 28 u. 29). Die Fragwürdigkeit der Analogisierung tritt vollends
dadurch zutage, dass sie sich als schief erweist. Bezieht man sie auf das Natur-
geschehen, dann ist der Sohn als der Sterbende zu betrachten – und gerade nicht
der Vater: Denn die unwirtliche Fels- und Eislandschaft des Hochgebirges exis-
tiert ja fort, während dem Sommer lediglich ein kurzes Zwischenspiel zukommt.
Ab Vers 33 knüpft das Gedicht wieder an den Darstellungsmodus des Anfangs
an. Verbunden damit ist die Rückkehr zur Beobachterhaltung und zur neuerlichen
Schilderung der Naturvorgänge aus einer distanzierten Außenperspektive. Erneut
wird der ‚Sprechakt‘ der Natur als optisches Ereignis wiedergegeben: „Er bläst
sein Wort wie Schleier nur / von seinem Mund“ (V. 33 f.). Das Befremdliche dieser

Wahrnehmung lässt sich im Rekurs auf die Verse 5 und 6 auflösen, wo bereits auf
die Spuren des Atems in kalter Luft hingewiesen wurde. Noch immer scheint die
Rede des Sommerknaben nur sichtbar, nicht aber hörbar zu sein. Auffällig ist
allerdings, dass sie nun als „schlimmes Wort“ (V. 34) bezeichnet wird, denn die
„doch sehen wir sein Sprechen nur“ 91

Abb. 2: Rosenlauigletscher 1869

darin enthaltene Wertung zeugt von einem Wissen um die Bedeutung dieser
Rede. Noch eine weitere Differenz zum Gedichtbeginn ist festzuhalten: Die Ge-
birgsnatur stellt für die Rede des ‚Sommerknaben‘ nun keinen Resonanzraum
mehr dar, sondern hält inne wie in höchster Anspannung und Konzentration: Sie
„horcht“ (V. 35), „athmet kaum“ (V. 36), „denkt und schweigt“ (V. 40). Das
bündelt die Aufmerksamkeit auf die beiden Schlussverse, die auch dadurch
besonderes Gewicht erhalten, dass sie räumlich vom Rest des Gedichts abge-
hoben sind. In ihnen als End- und Höhepunkt offenbart sich die Rede des
Sommerknaben nun verbal im wörtlichen Zitat: „Mein Gruss ist Abschied / Ich
sterbe jung. –“ (V. 42 f.).

Der zweiten Fassung (Am Gletscher) hat Nietzsche einen anderen Abschluss
gegeben, der einen abweichenden Akzent setzt. Dort nämlich zieht er die wörtli-
che Rede nach vorne und lässt das (jetzt in Versgruppen gegliederte) Gedicht mit
folgender Versgruppe enden:

Um Mittag war’s‚
Um Mittag‚ wenn zuerst
92 Katharina Grätz

Der Sommer ins Gebirge steigt‚


Der Knabe mit den müden heißen Augen.27

Auf der Strukturebene stellt Am Gletscher derart die Bedeutung der Mittagszeit
noch stärker heraus als dies schon in der Erstfassung des Gedichts der Fall ist.28
Freilich ist daran zu erinnern, dass diese den Mittag dafür an besonders exponier-
ter Stelle anführt, nämlich in der ersten Zeile, nach der sie zitiert wird. Das wirft
die Frage auf, weshalb gerade der Mittag im thematischen Zusammenhang des
Gedichts solch eine herausgehobene Bedeutung erhält.
Hier lässt sich zunächst auf die Sachebene, auf das thematisierte meteorologi-
sche Geschehen hinweisen. Als Tageszeit, zu der die Sonne ihren höchsten Stand
erreicht, ist der Mittag physikalisch die strahlungsintensivste, hellste und wärms-
te Zeit des Tages, zu der sich folglich der Sommer im Gebirge besonders stark
bemerkbar macht. Für das Verständnis des Gedichts freilich ist es wichtiger zu
sehen, dass Nietzsche den Mittag in produktiver Anknüpfung an überlieferte Vor-
stellungen (der Mittag als Stunde des Pan und Zeit der vollkommenen Stille) als
eine Zeit inszeniert, die Teil eines zyklischen Naturgeschehens ist und sich
zugleich auf paradoxe Weise aus dem zyklischen Geschehen heraushebt. Damit
ist in der frühen Fassung des Gedichts etwas angelegt, was sich erst in der Ent-
stehungszeit des Zarathustra voll entfaltet: Nietzsches ideosynkratische Mittags-
Symbolik. Sie ist eng an die Figur des Zarathustra gebunden, der in Aus hohen
Bergen, dem Nachgesang von Jenseits von Gut und Böse29, auch als „Mittags-
Freund“30 figuriert und dessen Name in Nietzsches Schriften von Beginn an in
Verbindung mit einem projektierten Werk unter dem Titel „Mittag und Ewigkeit“31

27 NL 1884, 28[60], KSA 11, 326, 25–28.


28 Schon in Um Mittag erfährt das meteorologische Geschehen eine doppelte zeitliche Verortung,
indem es nicht nur jahreszeitlich bestimmt, sondern auf die konkrete Tageszeit des Mittags
bezogen wird. In auffälliger Weise geschieht dies gleich am Gedichtbeginn in der Zeitangabe
„[u]m Mittag“ (V. 1), die dann bestätigend wieder aufgenommen wird im drittletzten Vers, der
damit rahmende Funktion erhält: „Um Mittag war’s“ (V. 41). Die beiden Schlussverse allerdings
brechen diese Geschlossenheit auf.
29 Dieses späte Gedicht, das auch die Hochgebirgs- und Gletschermetaphorik wieder aufgreift,
ist in seiner Motivik überhaupt sehr eng mit Um Mittag / Am Gletscher verbunden. Vgl. zur
Interpretation des Gedichts und zu seinem Zusammenhang mit dem Zarathustra: Zittel, Claus, „In
öden Eisbär-Zonen“. Die Schlussverse „Aus hohen Bergen. Nachgesang“, in: Born, Marcus Andreas
(Hrsg.): Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Berlin / Boston 2014 (Klassiker Auslegen,
Bd. 48), S. 207–236.
30 JGB Nachgesang, KSA 5, 243, 14.
31 NL 1881, 11[195], KSA 9, 519, 12. Im vierten Teil des Zarathustra wird in dem Kapitel Mittags
„die Stunde des vollkommenen Mittags“ (KSA 4, 342, 13 f.) heraufbeschworen: „Still! Ward nicht

die Welt eben vollkommen? Oh des goldnen runden Balls!“ (KSA 4, 344, 26 f.).

„doch sehen wir sein Sprechen nur“ 93

auftaucht. Doch schon für die 1877 geschriebene Erstfassung des Gedichts Um
Mittag gilt, was Marco Brusotti für die Mittagserfahrung des Zarathustra konsta-
tierte: Sie ist eine Erfahrung der Zeitlosigkeit und Ewigkeit und zugleich ist sie eine
„Erfahrung des absolut Vergänglichen“.32 Bereits hier zeigt sich, was Karl Jaspers
„die Tilgung der Zeit als die Offenbarung des Seins in dem Augenblick“33 nannte –
die Verdichtung der Zeit in dem einen Moment der Präsenz zwischen Kommen und
Gehen, auf den die Erstfassung des Gedichts zuläuft: „Mein Gruss ist Abschied /
Ich sterbe jung“.34

4
Nietzsches Gedicht Um Mittag nimmt in vielfacher Weise Muster literarischer
Naturdarstellung und -deutung auf und versteht es, ihnen eine eigene Prägung zu
geben. Es referiert auf die Tradition des Erhabenen, auf allegorische Verfahren
der Naturauslegung, auf die Vorstellung vom Zeichencharakter der Natur. Auf
diese Traditionen nimmt es nicht bloß Bezug, sondern es deutet sie um: So tritt
die Zeichenhaftigkeit der Natur in Gestalt einer nur visuell erfahrbaren Rede der
Natur zutage, so verkehrt sich die Richtung der allegorischen Auslegung, indem
sie auf die Natur selbst perspektiviert wird, und so erscheint die unzugängliche
Größe der ‚erhabenen‘ Gebirgslandschaft auf menschliches Maß zurückgenom-
men durch ihre Spiegelung in einer Vater-Kind-Beziehung. Durch unterschiedli-
che Formen der Übertragung setzt das Gedicht Natur und menschliche Sphäre auf
schwer zu durchschauende Weise zueinander in Bezug. Daraus resultieren eine
poetische Verfremdung gewohnter (Natur-)Vorgänge und der nicht auflösbare
Eindruck des Rätselhaften. Die drängenden Interpretationsfragen ergeben sich

32 Brusotti, Marco, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und ästhetische Lebensgestaltung
bei Nietzsche von ‚Morgenröthe‘ bis ‚Also sprach Zarathustra‘, Berlin / New York 1997, S. 620.
33 Jaspers, Karl, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, 4. Auflage,
Berlin / New York 1981, S. 355.
34 Die Zweitfassung Am Gletscher fügt hier verdeutlichend noch einen weiteren Vers ein: „[M]ein
Gruß ist Abschied, / mein Kommen Gehen, / ich sterbe jung“ (NL 1884, 28[60], KSA 11, 326, 14–16).
Die Verbindung von Mittag, Sommer und frühem Tod kehrt in späteren Aufzeichnungen Nietz-
sches wieder. Im Nachlass findet sich unter der Überschrift „Der kürzeste Sommer“ zwischen
mehreren Vorstufen zum Nachtlied des Zarathustra auch das folgende Notat: „Dies Alles ist noch
April und Mai und Juni: und wie ich bin, nahe dem Schnee, nahe den Adlern, nahe dem Tode
werde ich einen Sommer haben, kurz, heiß, schwermüthig und überselig. / Ach über die zögernde
Trübsal meines Frühlings! Ach über die Bosheit meiner Schneeflocken im Juni!“ (NL 1883, 13[9],
KSA 10, 458, 20–25). Vgl. auch das Bild vom „Sommer-Mittag“ in Za II Vom Gesindel, KSA 4, 126,
10.
94 Katharina Grätz

nicht zuletzt daraus, dass der Text einerseits Natur und menschliche Sphäre in
ein Verhältnis der Analogie setzt und so den Eindruck erweckt, als könnten diese
sich wechselseitig erhellen, dass er aber andererseits das Verständnis der Zei-
chensprache der Natur als zentrales Problem vorführt. Damit handelt Um Mittag
auf vielschichtige Weise von den Möglichkeiten der Wahrnehmung, Deutung und
lyrischen Vermittlung von Naturvorgängen.
Das Gedicht zeigt Natur als eine vom Menschen getrennte Sphäre. Nur durch
Analogisierung, durch Personifikation und Anthropomorphisierung lässt sich ihr
eine Bedeutung abgewinnen. Freilich ist das dadurch eingeleitete Verstehen
ambivalent, denn die der Natur zugeschriebene Bedeutung bezieht das deutende
Subjekt, oder genauer: das beobachtende Wir, aus der eigenen Sphäre. Natur-
auslegung ist also eigentlich Selbstauslegung, nur als zugeschriebene Sprache ist
die Sprache der Natur verständlich. Damit macht das Gedicht bewusst, dass der
Mensch immer nur Menschliches im Bereich der Natur wiederzufinden vermag,
ihm das Andere der Natur also notwendig unzugänglich bleiben muss. Um Mittag
entfaltet ein Zeichenspiel vor der Folie der Erkenntnis, dass die Natur dem
Menschen unzugänglich und fremd gegenübersteht.
Auf ein anschauliches Bild für die erschreckende „Unbefangenheit“ des
Naturgeschehens konnte Nietzsche in einer Erzählung von einem seiner Lieb-
lingsschriftsteller treffen, in Adalbert Stifters Abdias (1843/47): „Dort, zum Bei-
spiele, wallt ein Strom in schönem Silberspiegel, es fällt ein Knabe hinein, das
Wasser kräuselt sich lieblich um seine Locken, er versinkt – und wieder nach
einem Weilchen wallt der Silberspiegel, wie vorher.“35 Was bei Stifter als erschre-
ckende Erkenntnis vorgebracht wird, kann freilich auch beruhigende Wirkung
entfalten: „Weshalb fühlt man sich so wohl in der freien Natur? Weil diese keine
Meinung über uns hat. –“,36 schreibt Nietzsche aus Rosenlauibad an Paul Rée.

35 Stifter, Adalbert, Studien, hrsg. von Max Stefl, Bd. 2: Abdias u. a., Frankfurt/Main 1989, S. 7.

36 Brief an Paul Rée aus der zweiten Junihälfte 1877, KSB 5, Nr. 627, S. 246, Z. 16 f.

Sebastian Kaufmann
Heiterkeit, Heroismus, Sentimentalität:
Nietzsches Idyllen aus Messina und sein
poetologisches Konzept der Idylle

Abstract: Gaiety, heroism, sentimentality: Nietzsche’s Idyllen aus Messina


and his poetological conception of the idyll. Based on a short explanation of
the lyric cycle’s genesis, the article examines Nietzsche’s aesthetical conception(s)
of the idyll in the light of the genre’s tradition. Then, after a brief consideration of
the relation between the Idyllen aus Messina and German folk song (as Nietzsche
recognized it), the eight poems are finally interpreted within their cyclical cohe-
rence. Thus, the speaker’s heterogeneous attitudes (gaiety, heroism, sentimentali-
ty), which, in his ‘middle’ period, Nietzsche links to the idyll’s notion in other ways
as well, prove to be basic elements of the cycle’s setting.

1 ‚Heitere Lieder‘. Entstehung und


Erstveröffentlichung der Idyllen aus Messina
Obwohl Nietzsche von frühester Jugend an und bis zu seinem geistigen
Zusammenbruch – in Phasen unterschiedlicher Intensität – Gedichte und Ge-
dichtentwürfe verfasst sowie mehrere lyrische Zyklen projektiert hat, handelt es
sich bei den Idyllen aus Messina (1882) um das einzige rein lyrische Werk, das
Nietzsche selbst zur Veröffentlichung brachte. Die Publikation eines weiteren
Gedichtzyklus, der Dionysos-Dithyramben, wurde von ihm zwar seit Herbst 1888
vorbereitet, aufgrund des Zusammenbruchs im Januar 1889 jedoch nicht mehr
selbst zu Ende geführt. Abgesehen davon hat Nietzsche Gedichte ausschließlich
im Kontext seiner ‚philosophischen‘ Werke veröffentlicht oder für die Veröffent-
lichung vorgesehen, in denen sie als Paratexte je spezifische kompositorische
Funktionen erfüllen, sei es als ‚Motto‘, als „Vorspiel“, „Anhang“, „Nachgesang“
oder ‚Einlage‘ bzw. ‚Zwischenspiel‘. Insofern kommt den separat publizierten
Idyllen durchaus eine Sonderstellung innerhalb von Nietzsches Gesamtwerk zu,
die allerdings merkwürdig mit ihrer weitgehenden rezeptionsgeschichtlichen Ver-
nachlässigung kontrastiert.
Die Idyllen aus Messina entstanden als lyrisches ‚Nebenwerk‘ während Nietz-
sches Arbeit an der Fröhlichen Wissenschaft, mit der er nach eigenem Bekunden

DOI 10.1515/9783110474374-006
96 Sebastian Kaufmann

seine mittlere, ‚freigeistige‘ Schaffensphase zum Abschluss brachte. Nachdem


sich Nietzsche von Anfang Oktober 1881 bis Ende März 1882 in Genua aufgehalten
hatte, wo er mit der Vorbereitung des Manuskripts für Die fröhliche Wissenschaft
beschäftigt war, reiste er weiter nach Messina und verbrachte dort einige Wochen,
um sich anschließend über Luzern und Basel zur Herstellung der Druckvorlage
seines Buchs nach Naumburg zu begeben.
Ungeachtet des Titels der kleinen Gedichtsammlung sind die acht lyrischen
Texte, die sie umfasst, nicht durchweg in der Hafenstadt Messina auf Sizilien, das
Nietzsche im Anschluss an Homers Schilderung der Insel der Phäaken1 den glück-
lichen „Rand der Erde“ nannte,2 sondern zumindest teilweise bereits zuvor in
Genua niedergeschrieben worden. Dafür spricht nicht nur, dass Nietzsche das
Lied von der kleinen Brigg genannt „Das Engelchen“ (in der Druckfassung dann
einfach Die kleine Brigg, genannt „das Engelchen“) bereits am 15. März 1882 aus
Genua an Köselitz schickt,3 sondern auch der Anfang des Briefs an seine Mutter
und seine Schwester vom 1. April, in dem er sich kurz nach der Ankunft in
Messina darüber freut, dass seine „Verse“ bei den Verwandten in Naumburg
Anklang fanden – er muss sie ihnen also schon aus Genua zugeschickt haben (die
entsprechenden Briefe Nietzsches und seiner Familie sind nicht erhalten): „Euer
Vergnügen über meine Verse hat mir großes Vergnügen gemacht; Ihr wißt,
Dichter sind unbändig eitel.“4 Die Schwester will sich später zwar daran erinnern,
dass Nietzsche ihnen zuvor sämtliche Idyllen („diese reizenden scherzhaften
Lieder“) zugeschickt habe, behauptet aber zugleich, diese seien „[u]nter dem
glücklichen sicilianischen Himmel entstanden“,5 was ihre Aussagen insgesamt
unzuverlässig erscheinen lässt. Auch wenn also unklar bleibt, um welche „Verse“
es sich handelt, ist doch zu vermuten, dass sie zu den Idyllen aus Messina
gehören. Ob bzw. welche Gedichte aus dieser Sammlung eventuell tatsächlich auf
Sizilien verfasst worden sind, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen.
Fest steht allerdings, dass Nietzsche die Idyllen Mitte Mai 1882, nachdem er in
Naumburg angekommen war, seinem damaligen Verleger Ernst Schmeitzner in
Chemnitz, dem er wenige Tage zuvor auch das Manuskript der Fröhlichen Wissen-
schaft offerierte, zum Druck anbot, und zwar für die von diesem herausgegebene
Internationale Monatsschrift […] für allgemeine und nationale Kultur und deren
Litteratur. Nietzsche schreibt an Schmeitzner: „Auch der ernstesten Zeitschrift thut

1 Vgl. Odyssee, Sechster Gesang, V. 205.


2 Postkarte an Heinrich Köselitz, 08. 04. 1882, KSB 6, Nr. 220, S. 189, Z. 5.
3 Vgl. KSB 6, Nr. 209, S. 178 f., Z. 25–66.

4 KSB 6, Nr. 219, S. 188, Z. 2 f.


5 Förster-Nietzsche, Elisabeth, Der einsame Nietzsche, Leipzig 1913, S. 162.


Heiterkeit, Heroismus, Sentimentalität 97

hier und da etwas H e i t e r e s noth. Hier sind 8 Lieder für Ihre Zeitschrift.“ Zu den
„Bedingungen“, die Nietzsche für den Druck dieser so angepriesenen ‚heiteren
Lieder‘ stellte, gehörte, „daß sie alle 8 auf Ein Mal“ und „mit zierlichen und
eleganten Lettern gedruckt werden, n i c h t mit denen der Prosa-Aufsätze.“6 Das
handschriftliche Manuskript, das als Druckvorlage diente, ist noch erhalten und
wird im Goethe- und Schiller-Archiv Weimar aufbewahrt (GSA 71/22); als Faksimile
wird es in Band 3/1 des Nietzsche-Kommentars erstmals vollständig präsentiert.7
Wie aus Nietzsches Druck-„Bedingungen“ hervorgeht, kam es ihm darauf an, den
Charakter als Gedicht-Zyklus hervorzuheben: Die Sonderstellung der Gedichte
gegenüber den Prosaschriften galt es durch eine besondere Drucktype zu markie-
ren; der zyklische Zusammenhang sollte durch den Druck aller Gedichte „auf Ein
Mal“ gewahrt bleiben.
In seinen sonstigen brieflichen Äußerungen maß Nietzsche indes den Idyllen
aus Messina keine allzu große Bedeutung bei. Eher beiläufig macht er seine
engsten Freunde darauf aufmerksam; so schreibt er etwa am 24. Mai 1882 an Paul
Rée: „Sehen Sie doch das Maiheft der Schmeitznerschen Zeitschrift an: darin sind
‚Idyllen aus Messina‘.“8 Da Nietzsche anderthalb Monate nach der Veröffent-
lichung der Gedichte noch keine Reaktion seines Freundes und Zuarbeiters Köse-
litz erhalten hatte, fragte er diesen im Brief vom 13. Juli 1882 aus Tautenburg bei
Dornburg in Thüringen, wohin er sich inzwischen zur Korrektur der Druckfahnen
der Fröhlichen Wissenschaft zurückgezogen hatte: „Kennen Sie meine Harmlosig-
keiten aus Messina? Oder schwiegen Sie darüber, aus Artigkeit gegen ihren
Urheber?“9 In den folgenden Sätzen konzediert Nietzsche selbst in Anspielung
auf das die Idyllen beschließende Gedicht Vogel-Urtheil, er sei tatsächlich kein
besonders guter Dichter; allerdings stehe seine dichterische ‚Torheit‘ in einem
komplementären Bedingungsverhältnis zu seiner denkerischen ‚Weisheit‘: „Nein,
trotz dem, was der Vogel Specht in dem letzten Gedichtchen sagt – es steht mit
meiner Dichterei nicht zum Besten. Aber was liegt daran! Man soll sich seiner
Thorheiten nicht s c h ä m e n , sonst hat unsre Weisheit wenig Werth.“10
Da Köselitz in seinem Antwortschreiben vom 16. Juli durchblicken lässt, er
vermute einen Zusammenhang zwischen Nietzsches Beziehung zu Lou von Salo-
mé, über die ihn dieser im zitierten Brief erstmals informierte, und den Idyllen,11

6 KSB 6, Nr. 227, S. 193, Z. 3–12.


7 NK 3/1, 461–466.
8 KSB 6, Nr. 230, S. 194, Z. 4 f.  

9 KSB 6, Nr. 263, S. 221, Z. 7 f.


10 KSB 6, Nr. 263, S. 221 f., Z. 9–12.


11 Vgl. KGB III/2, 267, 10–12.


98 Sebastian Kaufmann

sieht sich Nietzsche dazu veranlasst, die ‚Lou-Affäre‘ als Hintergrund für die
‚Liebesgedichte‘, die immerhin die Hälfte der Texte ausmachen (Die kleine Brigg;
Lied des Ziegenhirten; Die kleine Hexe; „Pia, caritatevole, amorosissima“), zu be-
streiten: „Eine Bemerkung Ihres Briefes giebt mir Anlaß, festzustellen, daß alles,
was Sie jetzt von meinen Reimereien kennen, vo r meiner Bekanntschaft mit L〈ou〉
entstanden ist“.12 Nietzsche hatte Lou von Salomé durch Vermittlung seines Freun-
des Paul Rée in der Tat erst im April 1882 kennengelernt; es kam bekanntlich zu
einer spannungsvollen Dreiecksbeziehung und einem gescheiterten Heiratsantrag
Nietzsches.
Dass Nietzsche trotz der herabspielenden Bezeichnung seiner Idyllen aus
Messina als „Harmlosigkeiten“ und „Reimereien“ von der Qualität der Gedichte
überzeugt war, legt der Umstand nahe, dass er sie – freilich in teils veränderter,
erweiterter Form und mit Ausnahme der beiden Gedichte Die kleine Brigg und
„Pia, caritatevole, amorosissima“ – in die Lieder des Prinzen Vogelfrei integrierte,
die er der 1887 erschienenen Neuausgabe der Fröhlichen Wissenschaft als „An-
hang“ beifügte. Auch aus diesem Grund wurden die Idyllen in frühere Nietzsche-
Editionen nicht eigens aufgenommen; erst die von Colli und Montinari besorgten
Kritischen Ausgaben bieten den Text (in KGW V/2 und KSA 3). Nach der Erstver-
öffentlichung wurde der Text erstmals 1963 durch Erich Podach wiederabge-
druckt.13 In der Nietzsche-Forschung gilt die Gedichtsammlung weitgehend bloß
als ein „Intermezzo“14 zwischen Morgenröthe und Fröhlicher Wissenschaft. Die
Einschätzung von Podach, es handle sich um „das Unbekannteste von dem, was
Nietzsche veröffentlicht hat“, trifft nach wie vor zu: Untersuchungen zu den
Idyllen oder einzelnen Gedichten aus der Sammlung liegen bis heute nur wenige
vor; am ehesten erfahren sie noch in der Gestalt Beachtung, in der sie später in
die Lieder des Prinzen Vogelfrei eingegangen sind. Selbst Theo Meyer, der 1991
bereits fordert, „Nietzsches Idyllen […] auf jeden Fall […] als lyrische Gebilde ernst
zu nehmen“,15 schränkt dies letztlich doch wieder „auf Gedichte wie Prinz Vogel-
frei und Das nächtliche Geheimniss“ ein.
Die insgesamt eher stiefmütterliche Behandlung der Idyllen aus Messina
durch die Forschung korrespondiert freilich in gewisser Weise Nietzsches eige-
nem Umgang mit der Druckfassung seiner Gedichtsammlung, hatte er selbst doch
kein Exemplar des Erstdrucks mehr zur Hand, als er an die Umarbeitung der
Idyllen für den „Anhang“ zur zweiten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft gehen

12 Brief vom 25. 07. 1882, KSB 6, Nr. 272, S. 231 f., Z. 44–46.

13 Podach, Erich F., Ein Blick in Notizbücher Nietzsches. Ewige Wiederkunft. Wille zur Macht.
Ariadne. Eine schaffensanalytische Studie, Heidelberg 1963, S. 176–182.
14 Janz, Curt Paul, Friedrich Nietzsche. Biographie, 3 Bde., München / Wien 1978, Bd. 2, S. 107.
15 Meyer, Theo, Nietzsche. Kunstauffassung und Lebensbegriff, Tübingen / Basel 1991, S. 420.
Heiterkeit, Heroismus, Sentimentalität 99

wollte. Entsprechend musste er Franz Overbeck im Brief vom 27. Oktober 1886
„um ein Exemplar der ‚Idyllen aus Messina‘“ bitten: „Ich brauche sie u m g e h e n d
(wegen der Herstellung einer kleinen lyrischen Sammlung ‚Lieder des Prinzen
Vogelfrei‘) aber besitze sie nicht.“16 Dieselbe Bitte richtet Nietzsche dann auch
wenige Tage später brieflich an Köselitz: „Wissen Sie mir ein Exemplar der
‚Idyllen aus Messina‘ aufzutreiben? Ich brauche sie umgehend, weil sie mit
einigen Liederchen zusammen den Schluß der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘ abge-
ben sollen: nämlich in der neuen Ausgabe.“17 Hierin wird Nietzsches ambivalen-
tes Verhältnis zu seinem Gedichtzyklus greifbar: Einerseits hat er nicht einmal ein
gedrucktes Exemplar aufbewahrt, andererseits möchte er die Gedichte nun unbe-
dingt in die Neu-Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft aufnehmen.

2 Heroische Sentimentalität. Die Tradition der


Idylle und Nietzsches Konzepte des Idyllischen
Mit den Idyllen aus Messina knüpft Nietzsche an die ihm schon von seiner alt-
philologischen Ausbildung her vertraute abendländische Literaturtradition der
Idylle an, die bis in die griechische Antike zurückreicht. Als ihr Gründervater gilt
der altgriechische Dichter Theokrit, der im 3. Jahrhundert v. Chr. in Alexandrien
lebte und wahrscheinlich in Syrakus, also auf Sizilien, geboren wurde. Nicht nur
durch ihren Titel stellen Nietzsches Idyllen insofern einen doppelten – gattungs-
mäßigen und lokalen – programmatischen Bezug zu der von Theokrit ausgehen-
den literarischen Tradition her, sondern dieser wird auch explizit im Untertitel
von Lied des Ziegenhirten genannt: (An meinen Nachbar Theokrit von Syrakusă.)
Im „Anhang“ zur Neuausgabe der Fröhlichen Wissenschaft wurde die Theokrit-
Referenz dann sogar in den Haupttitel des Gedichts hineingenommen; der Text
hieß nun Lied eines theokritischen Ziegenhirten.
Im „Corpus Theocriteum“ sind 30 sog. Eidyllia überliefert (von denen indes
ca. ein Drittel als nicht authentisch gilt). Das griechische Wort eidyllion, auf das
die Gattungsbezeichnung ‚Idylle‘ zurückgeht, ist um 1800 noch mit ‚kleines Bild‘
ins Deutsche übersetzt worden;18 der Altphilologe Wilhelm von Christ argumen-
tierte aber 1869, also zu Nietzsches (Studien-)Zeit, dafür, dass eidyllion richtiger
mit ‚kleines Gedicht‘ zu übersetzen sei, und zwar sowohl im formalen/stilisti-

16 KSB 7, Nr. 769, S. 272, Z. 12–15.


17 Brief vom 31. 10. 1886, KSB 7, Nr. 770, S. 274, Z. 28–32.
18 Vgl. Adelung, Johann Christoph, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen
Mundart, 4 Bde., Wien 1811, Bd. 2, S. 1352.
100 Sebastian Kaufmann

schen wie im inhaltlichen/thematischen Sinn.19 Eine Gemeinsamkeit von Bild


und Gedicht, entsprechend der horazischen Formel „ut pictura poesis“, ergibt
sich im Fall der lyrischen Gattung ‚Idylle‘ allerdings, insofern für sie die statische
‚Momentaufnahme‘ heiterer Landschaft, der topische locus amoenus, konstitutiv
ist: Schattige Haine, rieselnde Quellen und flötende Hirten gehören zur typischen
Staffage solch ‚idyllischer‘ Landschaften, wie sie etwa noch Kants Beschreibung
des „Schönen“ in seinen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabe-
nen von 1764 aufruft: „die Aussicht auf blumenreiche Wiesen, Thäler mit schlän-
gelnden Bächen, bedeckt von weidenden Heerden, die Beschreibung des Elysi-
um“.20
Mit den „Heerden“ ist der eng angrenzende Bereich der Bukolik benannt, der
Hirten-Dichtung (βουκόλος = Rinder-Hirte), die aus den sizilischen Hirtengesän-
gen hervorgegangen ist und oftmals fiktive Dialoge zwischen Hirten in Hexa-
meterform gestaltet. Während die Hirten-Gedichte Theokrits noch in den ‚realen‘
altgriechischen Kolonien Süditalien und Sizilien spielen und das einfache Land-
leben aus der Perspektive des gebildeten Städters durchaus ironisch-distanziert
darstellen, verlagern die römischen Autoren, die diese Dichtungsart adaptieren,
den Schauplatz in die utopisch-idealisierte Gegenwelt Arkadiens, die den – bis
auf Hesiod (8./7. Jh. v. Chr.) zurückgehenden – Mythos des Goldenen Zeitalters
aufnimmt. Unter den römischen Idyllikern bzw. Bukolikern ragt vor allem Vergil
(70–19 v. Chr.) mit seinen zehn Eklogen (Bucolica) heraus. In der Neuzeit ist es
dann die von der Renaissance über das Barock bis hin zum Rokoko weitverbreite-
te Schäferdichtung, die diese Tradition fortsetzt. An sie schließt Nietzsche eben-
falls mit seinem Lied des Ziegenhirten an, allerdings gerade im Rückgriff auf den
‚authentischen‘ Ursprung idyllischer Hirten-Dichtung bei Theokrit selbst.
Während die um 1740 sich formierende Strömung der Anakreontik, wie der
Name schon zeigt, sich primär auf den altgriechischen Lyriker Anakreon (6. Jh.
v. Chr.) berief und in scherzhaft-galanter Manier vor stilisierten Schäferkulissen
die Themen Liebe, Wein und Geselligkeit behandelte, setzt die deutsche Tradition
der Idylle im gattungsmäßig engeren Sinn erst mit Salomon Gessners Idyllen
(1756) ein, mit denen sich auch Goethe und Schiller kritisch beschäftigten. Für
Gessner, der selbst von der Landschaftszeichnung herkam, war die Nähe zwi-
schen malerischer und dichterischer Darstellung wesentlich für die Idylle, die für
ihn in erster Linie pittoreske Naturszenerien zu evozieren hatte. Im Hinblick auf

19 Vgl. Christ, Wilhelm von, Verhandlungen der sechsundzwanzigsten Versammlung deutscher


Philologen und Schulmänner in Würzburg vom 30. September bis 3. October 1868, Leipzig 1869,
S. 49–58.
20 Kant, Immanuel, Gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der
Wissenschaften, 1. Abt., Bd. 2: Vorkritische Schriften II (1757–1777), Berlin 1905, S. 208.
Heiterkeit, Heroismus, Sentimentalität 101

Nietzsches Verständnis der Idylle und des Idyllischen ist insbesondere Schillers
geschichtsphilosophisch aufgeladene Poetik der Idylle zu berücksichtigen, wie
sie in dessen großer poetologischer Abhandlung Über naive und sentimentalische
Dichtung (1795/96) entfaltet wird. Da Nietzsche sich mit Schillers Idyllen-Theorie
intensiver auseinandergesetzt hat, sei sie wenigstens kurz skizziert.
Schiller versteht die Idylle nicht so sehr im gattungspoetologischen Sinn,
sondern generell als eine dichterische „Empfindungsweise“, die neben derjeni-
gen der Satire und der Elegie eine Form der sentimentalischen Dichtung aus-
machen kann. Im Gegensatz zum naiven Dichter, der selbst unreflektierte Natur
ist, sucht der komplementäre Gegentypus des sentimentalischen Dichters nur
mittels der Reflexion die verlorene Natur. Der kruden Wirklichkeit stellt er (auf je
verschiedene Weise) das schöne Ideal entgegen. Dem idyllisch-sentimentalischen
Dichter weist Schiller dabei die Aufgabe zu, das Ideal des in sich ruhenden
Lebens, der harmonischen Einheit mit sich selbst nicht – wie andere Idylliker des
18. Jahrhunderts – durch die imaginative Regression in vorzivilisatorische Schä-
ferwelten, sondern durch einen verklärenden Entwurf der eigenen Zukunft zu
gestalten. So bezeichnet Schiller zwar das literarische „Gemälde […], welches die
Hirten-Idylle behandelt“, als eine

schöne, eine erhebende Fiction […]. Aber ein Umstand findet sich dabei, der den ästheti-
schen Werth solcher Dichtungen um sehr viel vermindert. V o r d e m A n f a n g d e r C u l t u r
gepflanzt schließen sie mit den Nachtheilen zugleich alle Vortheile derselben aus, und
befinden sich ihrem Wesen nach in einem nothwendigen Streit mit derselben. […] Sie stellen
unglücklicher Weise das Ziel h i n t e r uns, dem sie uns doch e n t g e g e n f ü h r e n sollten,
und können uns daher bloß das traurige Gefühl eines Verlustes, nicht das fröhliche der
Hoffnung, einflößen.21

Daher formuliert Schiller stattdessen die Arbeitsanweisung für den Idylliker:

Er mache sich die Aufgabe einer Idylle, welche jene Hirtenunschuld auch in Subjecten der
Cultur und unter allen Bedingungen des rüstigsten, feurigsten Lebens, des ausgebreitetsten
Denkens, der raffinirtesten Kunst, der höchsten gesellschaftlichen Verfeinerung ausführt,
welche, mit e i n e m Wort, den Menschen, der nun einmal nicht mehr nach A r k a d i e n
zurück kann, bis nach E l y s i u m führt.22

Dieser Forderung entsprechen in gewisser Weise jene ‚bürgerlichen‘ Idyllen um


1800, die im Stil der homerischen Epen, also im Versmaß des Hexameters,

21 Schiller, Friedrich, Ueber naive und sentimentalische Dichtung [1795], in: Ders., Sämmtliche
Werke in zwölf Bänden, [hrsg. von C. G. Körner,] Stuttgart / Tübingen 1838, Bd. 12, S. 167–281, hier
S. 237 f.

22 Schiller, Ueber naive und sentimentalische Dichtung, S. 242.


102 Sebastian Kaufmann

moderne idyllische Lebensverhältnisse im kleinstädtischen Bereich darstellen,


wie etwa Johann Heinrich Voß mit seiner – von Schiller hochgelobten – Luise. Ein
ländliches Gedicht in drei Idyllen (1795) oder Goethe mit seinem Versepos Hermann
und Dorothea (1797).
Nietzsches eigene poetologische Reflexionen auf die Idylle, die wie gesagt an
Schiller anknüpfen, reichen bis ins Frühwerk Anfang der 1870er Jahre zurück und
stehen dort in Verbindung mit seinen Überlegungen zur Musikdramatik Richard
Wagners, auf den hin er auch seine Erstlingsschrift Die Geburt der Tragödie aus
dem Geiste der Musik (1872) konzipierte. Bis ins Spätwerk Ende der 1880er Jahre
kommt Nietzsche aber, wenn auch unter veränderten Vorzeichen, immer wieder
auf den Begriff der Idylle zu sprechen. In der Geburt der Tragödie stellt er das
Idyllische als negativen Grundzug des modernen Menschen und der modernen
Oper dar, gegen die Wagner profiliert wird. In Kapitel 8 setzt Nietzsche den
dionysischen Satyr der Antike dem „idyllische[n] Schäfer“ der Moderne entgegen
(ohne die Entstehung der Gattungstradition der Idylle in der griechischen Antike
zu reflektieren); beide Gestalten seien „zwar Ausgeburten einer auf das Ursprüng-
liche und Natürliche gerichteten Sehnsucht“, aber der Satyr wird positiv als
‚echte‘, der Schäfer hingegen negativ als ‚falsche‘ Inkarnation dieser Natur- und
Ursprungssehnsucht gewertet: „mit welchem festen unerschrocknen Griffe fasste
der Grieche nach seinem Waldmenschen, wie verschämt und weichlich tändelte
der moderne Mensch mit dem Schmeichelbild eines zärtlichen flötenden weich-
gearteten Hirten!“23 Nietzsche führt dies auf die der rationalen Kultur geschuldete
Unkenntnis des modernen Menschen über die ‚wahre Natur‘ zurück: „Jener idyl-
lische Schäfer des modernen Menschen ist nur ein Konterfei der ihm als Natur
geltenden Summe von Bildungsillusionen“.24
In Kapitel 19 der Geburt der Tragödie, wo sich Nietzsche auch explizit auf
Schillers Idyllen-Theorie bezieht, überträgt er dann seine Abwertung des moder-
nen idyllischen Schäfers auf die perhorreszierte vor-wagnersche Oper, als deren
Grundprinzip er das Rezitativ herausstellt. Der Rezitativstil habe zur Zeit seiner
Erfindung – zu Unrecht – als Wiederbelebung der altgriechischen Musik gegol-
ten; man habe vermeint, „jetzt wieder in die paradiesischen Anfänge der Mensch-
heit hinabgestiegen zu sein, in der nothwendig auch die Musik jene unübertroffne
Reinheit, Macht und Unschuld gehabt haben müsste, von der die Dichter in ihren
Schäferspielen so rührend zu erzählen wussten.“25 Den Hauptfehler in dieser
Auffassung sieht Nietzsche in dem sich darin manifestierenden „Bedürfniss un-

23 GT 8, KSA 1, 57, 31–58, 4.


24 GT 8, KSA 1, 59, 7–9.
25 GT 19, KSA 1, 122, 5–9.
Heiterkeit, Heroismus, Sentimentalität 103

aesthetischer Art: [der] Sehnsucht zum Idyll“, die – ganz rousseauistisch – von
der ursprünglichen Existenz eines „guten Menschen“26 ausging: und damit von
einer „optimistischen Verherrlichung des Menschen an sich“,27 die nicht nur der
von Nietzsche behaupteten tragisch-pessimistischen Grundeinstellung der alten
Griechen diametral widerspricht, sondern überhaupt völlig unkünstlerisch sei.
Indem er Schiller mit den Worten paraphrasiert, die „Idylle in weitester Bedeu-
tung“ komme dadurch zustande, dass „die Natur und das Ideal […] ein Gegen-
stand der Freude [sind], indem sie als wirklich vorgestellt werden“,28 fasst Nietz-
sche seine Überlegungen unter der Formel „einer i d y l l i s c h e n T e n d e n z d e r
O p e r“29 zusammen. Und diese idyllische Tendenz gilt ihm schließlich als „die
Frucht jenes Optimismus, der aus der Tiefe der sokratischen Weltbetrachtung hier
wie eine süsslich verführerische Duftsäule emporsteigt.“30 Die Gefahr solcher
Verführung zum idyllischen Optimismus sei allerdings durch die ‚Wiedergeburt
der griechischen Tragödie‘ in der Musikdramatik Wagners gebannt, dem damit –
als dem mächtigen Überwinder der herkömmlichen Oper – eine anti-idyllische
Tendenz attestiert wird.
Bemerkenswert erscheint indes, dass Nietzsche, ebenfalls im Ausgang von
Schiller, in der Entstehungszeit seiner Tragödienschrift noch eine andere, positiv
konnotierte Idyllen-Konzeption erprobt, die gerade Wagner als sentimentalischen
Idylliker erscheinen lässt. So heißt es in einem Nachlass-Notat aus dem Jahr 1871:

Richard Wagner das Idyll der Gegenwart: die unvolksthümliche Sage, der unvolksthümliche
Vers, und doch deutsch Beides. Wir erreichen nur noch das Idyll. Wagner hat die Urtendenz
der Oper, die i d y l l i s c h e , bis zu ihren Consequenzen geführt: die Musik als idyllische (mit
Zerbrechung der Formen), das Recitativ, der Vers, der Mythus. Dabei haben wir die höchste
sentimentalische Lust: nie ist er naiv. – Ich denke an den Schillerschen Gedanken über eine
neue Idylle.31

Wagner wird hier weniger als Überwinder denn als Vollender und Radikalisierer
der idyllischen Tendenz der Oper begriffen; seine künstlich nachgeahmte ‚Volks-
tümlichkeit‘, was die Sage/den Mythos und die Sprache seiner Musikdramen
betrifft, erscheint als Ausweis der sentimentalischen Idylle im Sinne Schillers.
Allerdings treibe die bei Wagner konstatierte Radikalisierung der Idylle zugleich
deren optimistische Komponente aus und ersetze sie durch eine pessimistische.

26 GT 19, KSA 1, 122, 12–14.


27 GT 19, KSA 1, 122, 31 f.

28 GT 19, KSA 1, 124, 13–16.


29 GT 19, KSA 1, 124, 10 f. 

30 GT 19, KSA 1, 125, 11–13.


31 NL 1871, 9[149], KSA 7, 329, 17–24.
104 Sebastian Kaufmann

Zwar gehe es auch Wagner um die ‚Rückkehr zur Natur‘, aber die Natur selbst
werde dabei nicht als heiter-harmonische verstanden, sondern gemäß Schopen-
hauers Fundamentaltheorem vom metaphysischen Leidensgrund der Welt als
‚schreckliche‘ Natur. So gelangt Nietzsche zum Konzept einer „t r a g i s c h e [n]
I d y l l e “32. Wohl auch mit Blick auf Wagners Siegfried-Idyll, bei dessen Urauffüh-
rung 1870 in Tribschen Nietzsche anwesend war und das er noch im Spätwerk von
aller Kritik ausnimmt,33 notiert er: „Der ‚Siegfried‘ z. B. gehört zur Idylle, Natur
und Ideal ist wirklich, darüber freut man sich. Dabei ist nun der Wagnersche
Begriff der N a t u r ein t r a g i s c h e r […]. Wir freuen uns an Tristan, selbst an
seinem Tode, weil diese Natur und dieses Ideal wirklich ist.“34
Dieser Konzeption entsprechend, notiert sich Nietzsche in einem weiteren
Fragment aus derselben Zeit auch den Plan, den „Schillersche[n] S p a z i e r g a n g
zu benutzen, um das Idyllische darzulegen, mit seiner Umarmung der N a t u r
nach dem höchsten Schrecken.“35 Den Natur-Kult, der nach der damaligen Auf-
fassung Nietzsches den Grundzug der neueren Kunst ausmacht, wertet er also
durchaus positiv, sofern die Natur ‚richtig‘ begriffen werde, nämlich nicht ‚roma-
nisch‘ als schöne, sondern ‚germanisch‘ als schreckliche Natur (im Hintergrund
steht hier die von Wagner übernommene Kategorie des „Erhabenen“, die schon
von Kant mit dem ‚Germanischen‘ assoziiert wird). So heißt es in dem zuletzt
zitierten Fragment weiter: „Die F l u c h t zur N a t u r i s t u n s r e K u n s t m u s e : aber
zu der germanisch-begriffenen Natur.“36 Vor diesem Hintergrund ist es mithin
auch zu verstehen, wenn Nietzsche wiederum in einer anderen gleichzeitigen
Notiz aus diesem Umkreis Wagner als „r a d i k a l e [n] I d y l l i k e r “37 beschreibt, der
eine genuin deutsche, von allen romanischen Einflüssen bereinigte Musik an-
strebt.
Während Nietzsches affirmativer Begriff der ‚tragischen‘ oder ‚radikalen Idyl-
le‘ jedoch in den zu Lebzeiten unveröffentlichten Aufzeichnungen versteckt blieb
und in der frühen Werkphase nur seine Idyllen-Kritik ans Licht der Öffentlichkeit
gelangte, kommt in der ‚mittleren‘ Phase ein gewandeltes Verständnis der Idylle
zum Vorschein, in dessen Kontext auch die Idyllen aus Messina gehören. So
evoziert Nietzsche 1879 in Menschliches, Allzumenschliches, dem ersten Werk
jener ‚mittleren‘ Phase, in der er die an Wagner und Schopenhauer orientierte
romantisch-metaphysische Weltanschauung seines Frühwerks hinter sich lässt,

32 NL 1871, 9[149], KSA 7, 330, 34–331, 1.


33 EH Warum ich so klug bin 7, KSA 6, 291, 3 f.

34 NL 1871, 9[142], KSA 7, 327, 7–11.


35 NL 1871, 9[76], KSA 7, 302, 5–7.
36 NL 1871, 9[76], KSA 7, 302, 11 f.

37 NL 1871, 9[135], KSA 7, 324, 10.


Heiterkeit, Heroismus, Sentimentalität 105

unter der programmatischen Überschrift „E t i n A r c a d i a e g o “ eine idyllische


Hirtenlandschaft, in die er „griechische Heroen“ hineinprojiziert.38 Der Kurztext
beginnt im Stil eines ‚sprachlichen Gemäldes‘ mit den Worten: „Ich sah hinunter,
über Hügel-Wellen, gegen einen milchgrünen See hin, durch Tannen und alters-
ernste Fichten hindurch: Felsbrocken aller Art um mich, der Boden bunt von
Blumen und Gräsern. Eine Heerde bewegte, streckte und dehnte sich vor mir“;
dann lässt Nietzsche die obligatorischen Hirten auftreten: „Zwei dunkelbraune
Geschöpfe, bergamasker Herkunft, waren die Hirten“, um schließlich die antiken
Helden zu assoziieren: „unwillkürlich […] stellte man sich in diese reine scharfe
Lichtwelt […] griechische Heroen hinein; man musste wie Poussin und seine
Schüler empfinden: heroisch zugleich und idyllisch.“ Nietzsche denkt hier, viel-
leicht vermittelt über eine Stelle aus Goethes Campagne in Frankreich 1792,39 an
Nicolas Poussins (1594–1665) Gemälde Les Bergers d’Arcadie, von dem es zwei
Fassungen gibt.40

Abb. 1 und 2: Nicolas Poussin: Die Hirten von Arkadien / Et in Arcadia ego
1. Fassung (1628–1630) 2. Fassung (1637/38)
Chatsworth House, Derbyshire Musée du Louvre, Paris

38 Vgl. hierzu auch Riedel, Manfred, Freilichtgedanken. Nietzsches dichterische Welterfahrung,


Stuttgart 1998, S. 173 f.

39 Vgl. Goethe, Johann Wolfgang, Sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Vollständige, neugeord-
nete Ausgabe, Stuttgart / Tübingen 1857, Bd. 25: Campagne in Frankreich [1792]. Belagerung von
Mainz [1793], S. 118.
40 Ca. 1630 und 1638; die erste befindet sich in der Devonshire Collection, Chatsworth, die zweite
im Louvre; Nietzsche hat keine der beiden Fassungen im Original gesehen.
106 Sebastian Kaufmann

Da beide Bilder antikisch idealisierte Hirten vor einer Grabplatte mit der Inschrift
„ET IN ARCADIA EGO“ zeigen, werden sie gelegentlich auch mit diesem Titel
bezeichnet, worauf Nietzsche mit seiner Überschrift rekurriert – allerdings ohne
die traditionelle Memento-mori-Assoziation des Ausspruchs, die bei Poussin in-
tendiert ist. Zuallerletzt folgt in Nietzsches Text noch ein Bekenntnis zu dem
griechischen ‚Gartenphilosophen‘ Epikur, der in der hier evozierten Weise gelebt
habe – als „einer der grössten Menschen, der Erfinder einer heroisch-idyllischen
Art zu philosophiren“.41 Die beiden grundlegenden Verschiebungen gegenüber
dem Frühwerk sind signifikant: Das Idyllische erscheint nicht mehr als Grundzug
der ‚sentimentalischen‘ Moderne, sondern der ‚naiven‘ griechischen Antike, und
an die Stelle der tragischen bzw. radikalen Idylle einer pessimistisch grundierten
schrecklichen Natur tritt nunmehr die heroische Idylle einer landschaftlichen
„Schönheit“, die zwar auch hier noch „zum Schaudern“ ist, aber doch als Schön-
heit „zur stummen Anbetung des Augenblicks ihrer Offenbarung“42 auffordert.
In einem Nachlass-Notat aus dem Sommer 1879 formuliert Nietzsche das
entsprechende Erlebnis, auf dem dieser Kurztext beruht, hier allerdings noch
nicht mit Blick auf die klassizistischen Landschaftsgemälde Poussins, sondern
auf diejenigen seines Zeitgenossen Claude Lorrain (1600–1682). Nietzsche berich-
tet in dem Notat sogar davon, angesichts des ihm neu aufgegangenen Heroisch-
Idyllischen der Natur (um St. Moritz) vor Rührung geweint zu haben:

Vorgestern gegen Abend war ich ganz in Claude Lorrain’sche Entzückungen untergetaucht
und brach endlich in langes heftiges Weinen aus. Daß ich dies noch erleben durfte! […] Das
Heroisch-Idyllische ist jetzt die Entdeckung meiner Seele: und alles Bukolische der Alten ist
mit einem Schlage jetzt vor mir entschleiert und offenbar geworden – bis jetzt begriff ich
nichts davon.43

Entscheidend ist auch hier, dass es sich, zumindest dem Anspruch nach, nicht um
eine Erfahrung angesichts schöner Kunst, sondern angesichts schöner Natur
handelt. Das Heroisch-Idyllische wird nicht etwa aus einem Gemälde Claude
Lorrains abgelesen; vielmehr bestätigt die Natur-Erfahrung so, dass die Kunst, wie
es ein Basiskonzept der traditionellen Ästhetik besagt, tatsächlich die Nachahme-
rin der Natur ist: „Ich hatte nicht gewußt, daß die Erde dies zeige und meinte, die
guten Maler hätten es erfunden.“44 Die eigentümliche Verbindung des Heroischen
und Idyllischen findet sich auch ansonsten in Nietzsches mittlerer Periode, bei-
spielsweise in einem Brief an Köselitz vom 8. Juli 1881, wo er seinen gegenwärti-

41 MA II WS 295, KSA 2, 686 f.


42 MA II WS 295, KSA 2, 686, 27–29.


43 NL 1879, 43[3], KSA 8, 610, 8–15.
44 NL 1879, 43[3], KSA 8, 610, 10–12.
Heiterkeit, Heroismus, Sentimentalität 107

gen Aufenthaltsort Sils-Maria im Oberengadin eine „ewige[ ] heroische[ ] Idylle“45


nennt, oder in einem nachgelassenen Notat aus dem Frühsommer 1883, in dem
nicht nur der „He r o i s m als Zeichen der Freiheit“ verstanden, sondern auch
festgestellt wird, dass zu solchem „Heroism […] auch der herzliche Antheil am
Kleinen, Idyllischen“46 gehöre.

Abb. 3: Claude Lorrain: Landschaft mit David und den drei Heroen (1658), National Gallery,
London

Bei allem freigeistigen Heroismus nahm der ‚mittlere‘ Nietzsche in der Tat Anteil
am Idyllischen, das er früher als das Romanisch-Moderne ablehnte. So betont er
im Brief an Franz Overbeck vom 20. Dezember 1882 mit Blick auf Bizet, den er
nach seiner Loslösung von Wagner immer wieder als dessen Antipoden darstellte:
„Ich habe die I d y l l e nöthig – zur Gesundheit.“47 Die Idylle wird damit auch zum
Remedium, zum Therapeutikum angesichts einer Krankheit, die Nietzsche stets
auf den ‚ganzen Menschen‘ bezieht, also auf Körper, Seele und Geist zugleich.
Wenngleich die Idylle derart nicht im engeren Sinn als literarische Gattung
gemeint ist, sondern Natur und Kunst allgemein umgreift, ist dieses Verständnis

45 KSB 6, Nr. 122, S. 100, Z. 16 f.


46 NL 1883, 7[38], KSA 10, 255, 5–8.


47 KSB 6, Nr. 359, S. 306, Z. 33 f.

108 Sebastian Kaufmann

des Idyllischen doch für die Konzeption der Idyllen aus Messina wichtig. Auch die
Tränen als körpersprachlicher Ausdruck der sentimentalen Empfindung des Idyl-
lischen tauchen wieder auf, wenn Nietzsche über das Kompositionsprinzip dieser
kleinen Gedichtsammlung am 16. September 1882 an Köselitz (mit Bezugnahme
auf dessen Musik) schreibt:

Auch ich, beiläufig gesagt, wurde beim Anhören Ihrer Musik, etwas begehrlich nach der
italiänischen „Sentimentalität“. In Messina, wo ich die Luft Bellini’s athmete (Catania ist
sein Geburtsort) verstand ich, daß ohne jene 3, 4 Thränen man die Heiterkeit nicht lange
aushält (Meine Idyllen aus Messina sind nach diesem Recepte componirt.)48

Dieser Selbstaussage zufolge liegt den Idyllen also jenes skizzierte heroisch-
sentimentale Verständnis des Idyllischen zugrunde, das Nietzsche in der Abwen-
dung von seinem früheren Konzept der (negativ gewerteten romanisch-optimisti-
schen bzw. positiv gewerteten germanisch-tragischen) Idylle um 1880 entwickelt
hat. In der Tat verknüpfen die Idyllen aus Messina ‚heitere‘, ‚heroische‘ und
‚sentimentale‘ Elemente.
Allerdings verwirft Nietzsche diesen heroisch-sentimentalen Begriff der Idylle
wieder und kehrt schließlich in die Nähe seiner einstigen negativen Auffassung
des Idyllischen zurück. Den Hintergrund für diese erneute Kehrtwende bildet
seine im Spätwerk sich radikalisierende Décadence-Diagnose, die nun auch die
Idylle unter den Generalverdacht der ‚Schwäche‘ stellt. Entsprechend heißt es in
einem Notat aus dem Herbst 1887, hinter dem „w e i c h l i c h e [n] und f e i g e [n]
Begriff ‚Natur‘ […], wie als ob ‚Natur‘ […] I d y l l sei“, stecke im Grunde immer der
„C u l t u s d e r c h r i s t l i c h e n M o r a l “.49 In einem anderen Notat aus derselben
Zeit stellt Nietzsche hingegen die These auf, das „Idyll“ als der „wollüstige Klang“
einer „Hirtenweise“ biete eine Art Entlastung angesichts der „furchtbare[n] Härte,
Gefahr und Unberechenbarkeit, die ein Leben der männlichen Tugenden mit sich
bringt“, und er behauptet – gegen das historische Faktum des griechischen
Ursprungs der Idylle –, erst „der Römer hat das idyllische Hirtenstück erfunden –
d. h. n ö t h i g g e h a b t “.50 Obwohl sich diese Auffassung gleichsam als spätere

Selbstdiagnose auf Nietzsches eigene Sehnsucht nach der heroisch-sentimenta-


len Idylle in den Jahren um 1880 zurückbeziehen ließe, nimmt er hier eine ent-
gegengesetzte Werthaltung ein: Die Idylle erscheint damit nicht mehr als Thera-
peutikum, das der „Gesundheit“ dient, sondern als der „V e r f ü h r u n g s r e i z
eines […] entmannten Menschheits-Ideals“.51 Mit dem Heroismus gilt sie nunmehr

48 KSB 6, Nr. 307, S. 262, Z. 40–45.


49 NL 1887, 10[170], KSA 12, 558, 4–13.
50 NL 1887, 10[157], KSA 12, 546, 25–547, 2.
51 NL 1887, 10[157], KSA 12, 546, 15 f.

Heiterkeit, Heroismus, Sentimentalität 109

als unvereinbar: Das Idyllische bildet in dieser veränderten Betrachtungsweise


geradezu das Gegenteil des Heroischen.

3 Die Idyllen aus Messina zwischen Idylle und


Volkslied
In stilistisch-formaler Hinsicht fallen die Anknüpfungen der Idyllen aus Messina
an die Gattungstradition der lyrischen Idylle vergleichsweise gering aus. Zeichnet
sich die Idylle schon bei ihrem Begründer Theokrit in formaler Hinsicht durch ihr
Verfahren der Gattungsmischung aus, indem sie das dramatische Element des
Mimus (Szenen aus dem Alltagsleben, wie sie sich bereits im 5. Jh. v. Chr. bei
Sophron finden) mit dem lyrischen Element der volkstümlichen Hirtengesänge
verbindet und beides in das epische Versmaß des Hexameters überträgt, ver-
bleiben Nietzsches Gedichte in den engeren Grenzen der lyrischen Gattung, die
nach Hegel die ‚subjektivste‘ poetische Gattung ist. Dialogische Partien gibt es
dementsprechend in den Idyllen aus Messina nicht, stattdessen dominiert die
‚unmittelbare Gefühlsaussprache‘ unterschiedlicher lyrischer (Rollen-)Subjekte
oder die pathetische Apostrophierung eines lyrischen ‚Du‘, das allerdings nicht
antwortet.
Nietzsche wählte für seinen kleinen Gedichtzyklus auch nicht antike Stro-
phenformen und Versmaße, sondern im Wesentlichen „volkstümlich“52 anmuten-
de, sangbare Strophenformen aus drei- und vierhebigen jambischen bzw. trochäi-
schen Versen mit alternierenden Kadenzen, wobei die Strophenlänge zwischen
vier-, fünf-, sechs- und achtzeiligen Strophen variiert. Hierzu passt auch das
vorherrschende (in einigen Gedichten durch eingeschobene Paarreime aufgelo-
ckerte) Kreuzreim-Schema. Auf diese formale Orientierung an einer volkstümlich
inspirierten Lyrik, wie sie in den Epochen des Sturm und Drang und der Romantik
modisch war, spielt Nietzsche an, wenn er die Gedichte selbst als „Lieder“
bezeichnet, etwa im Brief an Schmeitzner Mitte Mai 1882, als er sie ihm zum Druck
anbietet, oder wenn er später den „Anhang“ der Fröhlichen Wissenschaft, in den
er die meisten der Idyllen integriert, mit dem Titel Lieder des Prinzen Vogelfrei
versieht.
Nietzsches Vorliebe für das Volkstümliche und Volksliedhafte reicht bis ins
Frühwerk zurück. In etlichen nachgelassenen Aufzeichnungen aus den früheren

52 Ziemann, Rüdiger, Die Gedichte [Artikel], in: Ottmann, Henning (Hrsg.), Nietzsche-Handbuch.
Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart / Weimar 2000, S. 150–156, hier S. 153.
110 Sebastian Kaufmann

1870er Jahren beschäftigt er sich mit dem „Volkslied“, das er für den Ursprung
der gesamten (antiken) Dichtung und Musik hält, und in der Geburt der Tragödie
feiert er den altgriechischen Lyriker Archilochos (7. Jh. v. Chr.), bei dem sich zum
ersten Mal die Synthese des Apollinischen und Dionysischen zeige, als denje-
nigen, der „das V o l k s l i e d in die Litteratur eingeführt“53 habe. Insbesondere
bringt der frühe Nietzsche das Volkslied auch mit Richard Wagner in Verbindung,
wodurch es bereits in die Nähe der Idylle rückt – hier noch der tragischen Idylle,
wie sie in Wagners ‚Rückkehr zur Natur‘ zum Vorschein komme. In einem Notat
aus dem Jahr 1871 fragt sich Nietzsche sogar, ob „das Volkslied“ die „einzige
ächte Form der Kunst“ sei, und er fügt hinzu: „E s w i r k t a u f u n s d u r c h d a s
M e d i u m d e s I d y l l i s c h - E l e g i s c h e n .“54 Im Rahmen seiner Überlegungen
zum Volkslied reflektiert Nietzsche auch auf das entsprechende Verhältnis zwi-
schen Goethe und Wagner. Noch in einer Aufzeichnung von 1875 erhebt er
Wagner über Goethe, indem er ihm (im Widerspruch zu den vorhin zitierten
früheren Aussagen)55 Volkstümlichkeit attestiert: „Man muß dem Volksliede
nicht nachsingen, sondern v o r singen können, um ein volksthümlicher Sänger zu
sein. Und das versteht Wagner, er ist volksthümlich in jeder Faser.“56 In seiner
vierten ‚Unzeitgemäßen Betrachtung‘ Richard Wagner in Bayreuth schreibt er
umgekehrt über Goethe: „selbst das Goethische Lied ist dem Volksliede nach-
gesungen, nicht vorgesungen“.57
Mit den Idyllen aus Messina kommt Nietzsche implizit wieder auf seine alte,
eigenwillige Gleichsetzung von Volkslied und Idylle zurück, doch unter merklich
veränderten Vorzeichen; die Orientierung am „Volkslied wird zum poetischen
Vehikel einer neuen Anschauung des Idyllischen“,58 die das Tragische zwar nicht
ganz ausschließt, aber wesentlich auch das Komische, ‚Heitere‘ integriert. Denn
nicht nur sind auch Nietzsches „Lieder“ dem Volkslied allenfalls „nachgesun-
gen“, insofern es sich um kunstvoll komponierte Gebilde handelt, die ‚volkstüm-
liche‘ Schlichtheit bloß inszenieren; vielmehr stellen sie diesen Inszenierungs-
charakter überdies auch oft mit komisierender Wirkungsabsicht aus. Zu der so
inszenierten Volkstümlichkeit gehört auf formaler Ebene schon die ‚einfache‘
syntaktische Struktur der „Lieder“: Dominant ist ein parataktischer Satzbau, bei
dem die syntaktischen Grenzen oft mit den Versgrenzen zusammenfallen. Hiermit

53 GT 5, KSA 1, 48, 9 f.

54 NL 1871, 9[85], KSA 7, 304, 25–27.


55 Vgl. etwa NL 1871, 9[149], KSA 7, 329, 17–24.
56 NL 1875, 11[25], KSA 8, 213, 15–18.
57 UB IV WB 10, KSA 1, 503, 22 f.

58 Crescenzi, Luca, IM: Idyllen aus Messina [Artikel], in: Niemeyer, Christian (Hrsg.), Nietzsche-
Lexikon, Darmstadt 2009, S. 160 f., hier S. 161.

Heiterkeit, Heroismus, Sentimentalität 111

folgt Nietzsche Heines Buch der Lieder – wie bereits mit der Mischung von
sentimentalem Ernst und subversiver Ironie. Eine Ausnahme bildet in dieser
Hinsicht freilich Das nächtliche Geheimniss, dessen rätselhaft-tiefgründigem Ge-
halt seine komplexere sprachliche Gestalt mit Hypotaxen, Enjambements und
Parenthesen entspricht.
Es griffe aber auch ansonsten zu kurz, die Idyllen aus Messina pauschal dem
Strophenformtyp des Volkslieds zuzuschlagen. Bei genauerem Hinsehen verrät
Nietzsche ein erstaunlich präzises, literarhistorisch versiertes Formbewusstsein;
er adaptiert mit Kalkül eine Vielzahl von traditionsreichen Strophenformen, deren
Wahl in Bezug auf den Gehalt der Texte mittels Korrespondenz- oder Kontrast-
effekten einen semantischen Mehrwert erzeugt, den es bei der Interpretation zu
berücksichtigen gilt.

4 Heiterkeit und Tränen. Die Idyllen aus Messina


zwischen Satire und Sentimentalität
Gemäß der lockeren Anknüpfung an die Gattungstradition idyllisch-bukolischer
Dichtung, deren vorwiegende Themen Liebe, Gesang und heitere Geselligkeit,
aber bisweilen auch – so bereits in den antiken Anfängen bei Theokrit und
Vergil – düstere Leidenschaft, Trauer und Tod sind, ziehen sich verwandte Motive
durch die Idyllen aus Messina hindurch. Dies gilt auch für den ironischen Tonfall
der meisten Gedichte, den Nietzsche ebenfalls von Theokrit adaptiert. Nicht selten
kommen in den Idyllen aus Messina parodistisch-satirische Verfahren zur An-
wendung. Schiller, dessen Idyllen-Theorie Nietzsche, wie dargelegt, genauer zur
Kenntnis nahm, hob in seiner Abhandlung Über naive und sentimentalische
Dichtung eigens die Komplementarität von Idylle und Satire hervor. Gerade auch
das distanzierende Element der Satire erlaubt Nietzsche die ‚idyllische‘ Behand-
lung ernster, ja tragischer Themen wie Liebesunglück und Tod, die in seinen
Gedichten besonders dominant hervortreten. Folglich bewahren die Texte trotz-
dem den Gesamtcharakter der ‚Heiterkeit‘, auf den Nietzsche seinen Verleger
Schmeitzner hinwies, als er ihm die Idyllen zum Druck anbot.59 Wenngleich es auf
den ersten Blick so scheinen mag, als gäbe es keinen Zusammenhang zwischen
den acht Gedichten: Aufgrund der bei näherem Hinsehen sehr wohl erkennbaren
Wiederholung und Variation spezifischer Motive (und Formen), durch die eine
übergreifende konzeptionelle Kohärenz entsteht, lässt sich die Gedichtsammlung

59 Vgl. KSB 6, Nr. 227, S. 193, Z. 3 f.



112 Sebastian Kaufmann

mit Recht als lyrischer Zyklus bezeichnen. Er offenbart gerade erst in der – von
Nietzsche als notwendig erachteten – Gesamtheit der acht Texte sein idyllisches
‚Kompositionsrezept‘, wonach „ohne jene 3, 4 Thränen man die Heiterkeit nicht
lange aushält“. Die von Nietzsche intendierte Einheit der Idyllen besteht gerade in
jener (nur) auf den ersten Blick widersprüchlich oder diskontinuierlich erschei-
nenden Mischung.
Der ‚Titelheld‘ des Eingangsgedichts Prinz Vogelfrei fungiert als doppeldeuti-
ge Rollenbezeichnung des lyrischen Dichter-Ichs, das sich einer entgrenzenden
Flugphantasie und der Vorstellung eines vogelgleichen Lebens in luftigen Höhen
hingibt – wie auch im letzten Abschnitt (Nr. 575) der Morgenröthe „W i r Lu f t -
S c h i f f f a h r e r d e s G e i s t e s ! “ und in zahlreichen anderen Flugphantasien Nietz-
sches. Der vogelfreie Dichter erscheint dabei zugleich als aus allen Bindungen
sich lösender Freigeist. Da Nietzsche den „H e r o i s m als Zeichen der Freiheit“
verstand,60 entspricht das Eingangsgedicht in besonderem Maß seinem Konzept
der „heroischen Idylle“.61 Möglicherweise bezieht sich hierauf auch jene Passage
aus dem Briefentwurf an Lou von Salomé (?) von Ende November 1882, wo es
heißt: „Idyl〈len〉 aus Messina Psychol〈ogisches〉 Problem 2 Zeiten. Ich fürchtete
mich und überwand mich.“62
Die ‚heroische Freiheit‘ des vogelgleich Fliegenden fungiert überdies als
Metapher für eine Befreiung vom rationalen Denken („Vernunft“)63 zugunsten
eines ungebundenen Dichtens, das mit „Scherz“64 und ‚Spiel‘ assoziiert wird.
Diese Ziel- und Zweckfreiheit bedeutet auch Ort- und Heimatlosigkeit, die indes
nicht zu sozialer Isolation führt, geht mit ihr doch in der letzten Strophe die
programmatische Abkehr von der notwendigen – sonst oft affirmativ von Nietz-
sche betonten – Einsamkeit des Denkers einher, an deren Stelle hier die Idee einer
‚geselligen Poesie‘ tritt. Als tertium comparationis zwischen Vogel- und Dichter-
existenz gilt das ‚Singen‘, das solche Geselligkeit fordere. Das Motiv des lyrischen
Singens, das eng mit der Flug- und Vogelmetaphorik verknüpft und kontrastiv
auf das Motiv des „Kopf[es]“,65 der (philosophischen) „Vernunft“, bezogen ist,
verleiht der Gedichtsammlung gleich eingangs eine poetologisch-selbstreflexive
Dimension, die gegen Ende ganz ähnlich wieder aufgegriffen wird. Insbesondere
im Schlussgedicht Vogel-Urtheil tauchen diese motivischen Verflechtungen bzw.
Kontrastbildungen erneut auf, was dem Zyklus insgesamt einen poetologischen

60 NL 1883, 7[38], KSA 10, 255, 5.


61 KSB 6, Nr. 122, S. 100, Z. 16 f.

62 KSB 6, Nr. 336, S. 283, Z. 28 f.


63 IM Prinz Vogelfrei, KSA 3, 335, 17.


64 IM Prinz Vogelfrei, KSA 3, 335, 21.
65 IM Vogel-Urtheil, KSA 3, 342, 23.
Heiterkeit, Heroismus, Sentimentalität 113

Rahmen verleiht, der nicht zuletzt das für Nietzsche wichtige Verhältnis zwischen
Poesie und Philosophie tangiert. Wichtig ist dabei freilich auch der Hinweis auf
die Selbstironie, die bereits im Eröffnungsgedicht deutlich zu vernehmen ist und
das heroische Pathos des poetischen Höhenflugs spöttisch bricht, wenn schon in
der ersten Strophe vom unbeholfen wirkenden Hängen „auf krummem Aste“66
oder vom aufgeregten Schlagen „mit den Flügelchen“67 die Rede ist. Vollends in
ironischer Brechung erscheint das heroische Pathos des vogelfreien Freigeists
schließlich in der veränderten Fassung dieses Gedichts, die 1887 im „Anhang“ der
Fröhlichen Wissenschaft erschien: Dort wird das dumpfe „Geblök von Schafen“
zum primären Erkennungszeichen einer südlich-unschuldigen „Idylle“, nach
welcher sich der „Prinz Vogelfrei“ sehnt.68
Bei dem zweiten Gedicht: Die kleine Brigg, genannt „das Engelchen“ handelt
es sich ebenfalls um ein Rollen-Gedicht mit stark ironischen Zügen. Dessen – an
Rimbauds Le bateau ivre von 1871 erinnernde – spezifische Sprechsituation
besteht darin, dass das lyrische Ich ein Schiff ist. Dieses gibt sich zugleich als „ein
Mädchen“69 zu erkennen, genauer gesagt: als ein Schiff, das in der Fiktion des
Textes einstmals ein Mädchen gewesen ist und noch immer ‚weibliche‘ Züge
aufweist. Das sprechende Schiff-Ich charakterisiert sich in den ersten drei Stro-
phen als weibliches Wesen, da sich sein „feines Steuerrädchen“ stets „um Lie-
be“70 drehe, und es erzählt anschließend, in den Strophen 5 bis 7, seine Vor-
geschichte: Einst sei es ein ‚wirkliches‘ Mädchen gewesen, das durch „ein
bitterböses Wörtchen“71 seinen Geliebten getötet hat, woraufhin es sich selbst das
Leben nahm. Anschließend habe eine ‚Seelenwanderung‘ stattgefunden, seine
„Seele“ sei „in dies Schiffchen“72 übergegangen.
Die von Nietzsche für dieses Gedicht gewählte fünfzeilige Strophenform
ergibt sich – durch eine Verdopplung der zweiten Verszeile – aus der vergleichs-
weise selten vorkommenden vierzeiligen Form mit auftaktlosen Vierhebern und
männlich/weiblich alternierenden Kadenzen, die bereits in der geistlichen Lied-
dichtung des 17. Jahrhunderts bezeugt ist, aber erst in der galanten Poesie und
der Anakreontik bekannter wurde, bevor sie dann seit der Romantik volkstüm-
lich-stimmungshafte Ausdrucksmöglichkeiten vor allem in der Naturlyrik ge-
wann. Mit der für diese Form typischen „Gestaltung wehmütiger, sehnender oder

66 IM Prinz Vogelfrei, KSA 3, 335, 2.


67 IM Prinz Vogelfrei, KSA 3, 335, 6.
68 FW Anhang, KSA 3, 641, 18.
69 IM Die kleine Brigg, KSA 3, 336, 8.
70 IM Die kleine Brigg, KSA 3, 336, 10 f.

71 IM Die kleine Brigg, KSA 3, 337, 2.


72 IM Die kleine Brigg, KSA 3, 337, 12–14.
114 Sebastian Kaufmann

resignierender Empfindungen“73 kontrastiert allerdings merklich der ironisch-


distanzierte Duktus von Nietzsches Text, der letztlich ein stereotypes Frauenbild
mit misogynen Tendenzen transportiert. Im Brief an Köselitz, dem er das Gedicht
beifügte, betont Nietzsche selbst ausdrücklich den ‚heiteren‘ Charakter des Ge-
dichts: „Mein lieber armer Freund, hier ein Liedchen zu unsrer Erheiterung: wir
haben sie Beide so nöthig.“74 Die Behandlung des tragischen Liebestod-Motivs in
einem ‚erheiternden Liedchen‘ macht den – gemäß Nietzsches Konzeption – ‚idyl-
lischen‘ Grundzug des Textes aus. Die Idyllen aus Messina erweisen sich mithin
nicht nur auf der Ebene des gesamten Zyklus als ‚Mischkomposition‘ aus „Heiter-
keit“ und „3, 4 Thränen“, sondern auch schon auf der Ebene einzelner Gedichte.
Dies gilt ebenfalls für den dritten Text: das Lied des Ziegenhirten. (An meinen
Nachbar Theokrit von Syrakusă.), das, wie bereits der Titel anzeigt, thematisch
besonders eng an die (antike) Tradition der bukolischen Idyllik anknüpft. Das
lyrische Ich in der Rolle eines Ziegenhirten wartet nachts verabredungsgemäß auf
seine Geliebte, die jedoch nicht erscheint. Der unglückliche Ziegenhirte befürch-
tet ihre Untreue und wünscht sich schließlich den Tod, als sie bei Tagesanbruch
noch immer nicht erschienen ist. Mit der Freiheit doppelter Senkungen greift
Nietzsche in diesem „weltschmerzliche[n] Liebesgedicht“75 auf eine kleine Vier-
zeiler-Form zurück, bei der auf einen jambischen Dreiheber mit männlicher
Kadenz ein weiblich endender Zweiheber folgt, was einfach wiederholt und durch
Kreuzreim verbunden wird. Zur Gestaltung „bedauernde[r]“ oder „[s]ehnsuchts-
voll[er]“ Empfindungen kommt sie unter anderem bei Goethe und Geibel vor.76
Allerdings dominiert, wie schon im vorigen Gedicht Die kleine Brigg, auch im
Lied des Ziegenhirten der ironische, heitere Tonfall: Das zum Ausdruck gebrachte
Liebesleid wird fortwährend humoristisch konterkariert, so etwa wenn der Zie-
genhirt über seine Appetitlosigkeit klagt: „Nichts mag ich essen schier / Lebt wohl
ihr Zwiebeln!“77 – oder wenn er die Treue seiner Geliebten mit den Worten
bezweifelt: „Es wohnt noch mancher Bock / An diesem Holze?“78 Gerade mit
solchen Komisierungen lehnt sich Nietzsche aber besonders nah an die antiken
Idyllen Theokrits an. Als Prätext kommt vor allem Theokrits 3. Idylle in Betracht.
Ein Ziegenhirte klagt hier singend seinen Schmerz darüber, dass ihn seine Gelieb-

73 Frank, Horst Joachim, Handbuch der deutschen Strophenformen, München / Wien 1980, S. 174.
74 Brief vom 15. 03. 1882, KSB 6, Nr. 209, S. 177, Z. 2 f.

75 Meyer, Nietzsche, S. 419.


76 Frank, Handbuch der deutschen Strophenformen, S. 88.
77 IM Lied des Ziegenhirten, KSA 3, 338, 19 f. Die Verse spielen damit, dass Zwiebeln in der Antike

als Aphrodisiakum galten.


78 IM Lied des Ziegenhirten, KSA 3, 338, 11 f.

Heiterkeit, Heroismus, Sentimentalität 115

te verschmäht, und beschließt – genau wie Nietzsches Ziegenhirte – sein Lied mit
dem floskelhaften Wunsch zu sterben.
Das Gedicht Die kleine Hexe, das später in geringfügig veränderter Form unter
dem Titel Die fromme Beppa in die Lieder des Prinzen Vogelfrei integriert wurde,
nimmt satirisch die Heuchelei der (katholischen) Kirche in eroticis aufs Korn. Aus
der Rollenperspektive eines hübschen Mädchens, das sich auf Liebeshändel mit
einem jungen Geistlichen einlässt, werden insbesondere die Frömmigkeit der
Gläubigen und die kirchliche Praxis der Sündenvergebung als verlogene Konven-
tionen vorgeführt. Von Nietzsches späterem „Fluch auf das Christentum“79 zeigt
sich dabei allerdings noch kaum eine Spur. Entfernt davon, eine radikale Religi-
ons- und Kirchenkritik zu entfalten, macht sich das Gedicht lediglich auf spieleri-
sche Weise über den Kontrast zwischen Anspruch und Realität, Schein und Sein
der christlichen bzw. katholischen (Sexual-)Moral lustig. Damit entspricht der
Text Schillers Definition der Satire in seiner Abhandlung Über naive und sentimen-
talische Dichtung, wonach diese „den Widerspruch der Wirklichkeit mit dem
Ideale“80 gestaltet – bei Nietzsche geschieht dies freilich so, dass er das zugrunde
liegende Ideal (nämlich das der Frömmigkeit) selbst verspottet. Nietzsche wählt
hierfür nicht von ungefähr die Form der doppelten Kreuzreimstrophe aus jambi-
schen Dreihebern mit weiblich/männlich wechselnden Kadenzen: den „[h]äufigs-
ten Achtzeiler der deutschen Dichtung“, der nicht nur „durch Volkslieder“ geläu-
fig, sondern davon ausgehend auch „eine altvertraute Kirchenliedstrophe“81 war.
Es handelt sich mithin um eine Formparodie, die im Medium des metrisch-
strophischen Baus den satirischen Gehalt des Gedichts reflektiert.
Das nächtliche Geheimniss, das später – mit kleineren Änderungen in der
Interpunktion – unter dem neuen Titel Der geheimnissvolle Nachen ebenfalls in
die Lieder des Prinzen Vogelfrei aufgenommen wurde, schlägt nach den voran-
gehenden ironischen bzw. parodistisch-satirischen Gedichten nunmehr einen
pathetisch-melancholischen Ton an, der auch die folgenden beiden Texte des
Zyklus bestimmt, bevor erst das abschließende Gedicht wieder den Duktus der
‚scherzhaften Lieder‘ aufnimmt. Zu Recht wurde daher in der Forschung von einer
„Anti-Idylle“ bzw. „Gegen-Idylle“ gesprochen.82 Der „H e r o i s m als Zeichen der
Freiheit“,83 wie ihn der ‚mittlere‘ Nietzsche als konstitutiv für die „heroische[ ]
Idylle“ versteht,84 lässt nun auch seine spezifische Gefährdung erkennen: Das

79 AC, KSA 6, 165.


80 Schiller, Ueber naive und sentimentalische Dichtung, S. 204.
81 Frank, Handbuch der deutschen Strophenformen, S. 573.
82 Meyer, Nietzsche, S. 420.
83 NL 1883, 7[38], KSA 10, 255, 5.
84 KSB 6, Nr. 122, S. 100, Z. 16 f.

116 Sebastian Kaufmann

Gefühl der Freiheit und Grenzenlosigkeit kann jäh umschlagen in die depressiv
gestimmte Erfahrung abgründiger Leere, wie das Gedicht auf symbolisch-enigma-
tische Weise zu verstehen gibt.
Im Zentrum der Darstellung steht das (titelgebende) nächtliche, durch die
Einnahme von Opium bewirkte wachtraumartige Entgleiten des lyrischen Ichs in
eine leere Unendlichkeit, bevor es endlich in einen tiefen Schlaf versinkt, der am
Morgen darauf in geheimnisvoller Anspielung als „ach, so gut“85 bezeichnet wird.
Mit der sechszeiligen Strophenform dieses Gedichts variiert Nietzsche eine „alte
Hymnenstrophe“: Die „monotone Eindringlichkeit, die über die Strophe hinaus-
dringt“,86 ergibt sich durch die gleichförmige Wiederholung von nur zwei Reimen
pro Strophe und entspricht genau dem Gehalt des Textes. Die von Nietzsche leicht
abgewandelte Strophenform geht auf Kreuzeshymnen des Venantius Fortunatus
aus dem 6. Jahrhundert zurück und wurde in dieser Tradition noch im 18. und
19. Jahrhundert verwendet (z. B. von Voß und Mörike). In der Romantik findet sie
sich ebenfalls, so etwa in Eichendorffs melancholisch-düsterem Gedicht Zweifel,
dessen Stimmungslage durchaus mit der von Nietzsches rätselhaftem Text ver-
gleichbar ist.
Auch das Gedicht „Pia, caritatevole, amorosissima“. (Auf dem campo santo.),
das die Strophenform von Die kleine Hexe wieder aufgreift, lässt den ironischen
und parodistisch-satirischen Ton der vorigen Gedichte hinter sich und geht statt-
dessen ins Pathetisch-Melancholische, ja ins Sentimentale über. Wenn Nietzsche,
„begehrlich nach der italiänischen ‚Sentimentalität‘“, am 16. September 1882 an
Köselitz schreibt: „In Messina […] verstand ich, daß ohne jene 3, 4 Thränen man
die Heiterkeit nicht lange aushält“, so zeigt sich gerade mit Blick auf das vor-
liegende Gedicht, dass die Idyllen aus Messina in der Tat „nach diesem Recepte
componirt“87 wurden. In der Logik der Gedicht-Fiktion befindet sich der lyrische
Sprecher vor dem Grab einer jungen Frau, deren bildhauerische Darstellung als
Grabskulptur ihn zutiefst ergreift. Er apostrophiert die Frühverstorbene und spürt
imaginativ ihrem traurigen Schicksal nach. Die lyrische Reflexion auf die Ursache
ihres frühen Todes führt zu dem Ergebnis, dass sie vor verschwiegener Liebes-
sehnsucht starb. Implizit wird die Frömmigkeit des Mädchens für dieses Ver-
schweigen und damit auch für ihr Sterben verantwortlich gemacht. Wie bereits in
Die kleine Hexe klingt hier Religions- bzw. Kirchenkritik an, aber auf ganz andere,
sentimental-empathische Weise. Am Ende des Gedichts scheint es dann, als
stünden dem Grabbildnis Tränen in den Augen; der Akt einfühlender Zuwendung

85 IM Das nächtliche Geheimniss, KSA 3, 340, 28.


86 Frank, Handbuch der deutschen Strophenformen, S. 471.
87 KSB 6, Nr. 307, S. 262, Z. 41–44.
Heiterkeit, Heroismus, Sentimentalität 117

des sprechenden Ichs führt so gleichsam zu einer Beseelung des Denkmals,


ähnlich wie im Pygmalion-Mythos.
Im vorletzten Gedicht Vogel Albatross nimmt Nietzsche erneut das poetolo-
gisch grundierte Vogel-Motiv auf, das bereits im Eingangsgedicht zentral war.
Auch wenn nun – anders als dann wieder im Schlussgedicht – die Dichtungs-
thematik nicht explizit formuliert wird, sind die poetologischen Implikationen
doch deutlich zu erkennen: Der geschilderte Höhenflug des Vogels Albatros, den
das lyrische Ich pathetisch apostrophiert, fungiert nicht zuletzt als Reflexionsbild
für die ersehnte Inspiration, den dichterischen Aufschwung des Sprechers. Diese
dichtungstheoretische Valenz, die auch der Albatros in Baudelaires gleichnami-
gem Gedicht aus den Fleurs du mal aufweist, auf das sich Nietzsche möglicher-
weise bezieht, markiert er ausdrücklich erst in der späteren Fassung des Textes,
in der er sich 1887 in den „Liedern des Prinzen Vogelfrei“ wieder findet. Dieser –
um die zweite Strophe gekürzten Fassung – gab Nietzsche den neuen Titel Liebes-
erklärung und den poetologisch-selbstironischen Untertitel (bei der aber der
Dichter in eine Grube fiel –). Mit dieser Anspielung auf die in Platons Dialog
Theaitetos überlieferte Anekdote über den Philosophen Thales, der beim Be-
obachten der Sterne in einen Brunnen gefallen und daraufhin von einer thraki-
schen Magd ausgelacht worden sei, erfolgt eine sarkastische Distanzierung von
der impliziten Poetologie des Gedichts, das in der früheren Idyllen-Fassung noch
ohne jedes Ironiesignal auskommt und so die Dreierreihe der mit Das nächtliche
Geheimniss beginnenden pathetisch-melancholischen Texte zum Abschluss
bringt: Wenn dem lyrischen Ich angesichts seines Abstands zu dem in höchster
Höhe frei schwebenden Albatros am Ende des Gedichts „Thränʼ um Thräne“88
fließt, so erweist sich hier abermals die ‚Sentimentalität‘ als Ingrediens der ‚he-
roischen Idylle‘, deren Kompositionsprinzip in der Verbindung von „Heiterkeit“
und „Thränen“ besteht.89
Auch Vogel-Urtheil, das vermutlich in intertextuellem Bezug zu Edgar Allan
Poes The Raven stehende Schlussgedicht des Zyklus, nimmt – was ja bereits der
Titel erkennen lässt – das Vogel-Motiv auf und verbindet es, wie schon das
Eingangsgedicht, explizit mit einer poetologischen Selbstreflexion des lyrischen
Ichs. Dementsprechend änderte Nietzsche den Titel des in erheblich erweiterter
Gestalt in die Lieder des Prinzen Vogelfrei übernommenen Gedichts später zu
Dichters Berufung. Als Schlussgedicht der Idyllen sorgt der Text – nach den voran-
gehenden drei ‚ernsten‘ Gedichten – für einen ‚heiteren‘ Ausklang. Auch insofern
kann man von einem Wiederaufgreifen des Anfangs am Ende des Zyklus spre-

88 IM Vogel Albatross, KSA 3, 342, 8.


89 KSB 6, Nr. 307, S. 262, Z. 43 f.

118 Sebastian Kaufmann

chen. Der ironische Ton gilt nun (wieder) dem lyrischen Dichter-Ich selbst, womit
ein gewisser Vorbehalt gegenüber der Dichtung insgesamt zum Ausdruck kommt.
Wenn Nietzsche in der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft
von 1887 über „die Handvoll Lieder, welche dem Buche dies Mal beigegeben
sind“, schreibt, es handle sich dabei um „Lieder, in denen sich ein Dichter auf
eine schwer verzeihliche Weise über alle Dichter lustig macht“,90 dann trifft dies
vor allem auf Dichters Berufung und mithin bereits auf dessen Erstfassung, auf
das Schlussgedicht der Idyllen zu. Wie schon im Eingangsgedicht wird das Dich-
ten hier ironisch auf ‚Kopflosigkeit‘ zurückgeführt, wenn sich im Schlussgedicht
Vogel-Urtheil das lyrische Ich gegen Ende in der zweiten Person selbst anredet
und fragt, ob es seinen Verstand verloren habe, was der „Vogel Specht“91 durch
den Hinweis auf das mit ihm geteilte Dichtertum bejaht. Damit spricht er – wie
der Rabe bei Poe sein „Nevermore“ – sein „Urtheil“ über das lyrische Ich. Dessen
an sich selbst adressierte Frage: „Du ein Dichter? / Stehts mit deinem Kopf so
schlecht?“92 ist – bei aller heiter gestimmten Ironie – als Ausdruck einer dich-
tungskritischen Skepsis zu lesen, wie Nietzsche sie später noch schärfer artiku-
liert, wenn das sprechende Dichter-Ich im ersten ‚Dionysos-Dithyrambus‘ mit
dem vielsagenden Titel Nur Narr! Nur Dichter! desillusioniert feststellt, „dass ich
verbannt sei / von aller Wahrheit! / Nur Narr! Nur Dichter! …“93 Selbst die Heiter-
keit des Schlussgedichts der Idyllen aus Messina erweist sich in dieser Perspektive
mithin als nur scheinbar ungetrübt.
Nietzsches Selbstaussage über das Kompositionsrezept seiner Idyllen, wo-
nach diese heitere, aber auch sentimentale Elemente enthalten, wird durch die
Interpretation der Texte bestätigt und präzisiert. Die Mischung von „Heiterkeit“
und „Thränen“ lässt sich einerseits auf der Ebene des Gesamtzyklus beobachten:
Auf vier heitere Gedichte, die mit ironischen, parodistischen und satirischen Text-
strategien aufwarten, folgen drei sentimentale bzw. pathetisch-melancholische
Gedichte, bevor das Schlussgedicht dann einen wieder heiteren Ausklang bildet.
Andererseits gilt jenes Kompositionsrezept auch auf der Ebene einzelner Gedich-
te, insofern die ‚heiteren‘ Texte ihrerseits düstere Themen wie Tod, Leid und
Verzweiflung behandeln können. Diese konzeptionelle Doppeldeutigkeit reflek-
tiert Nietzsche noch im Abstand einiger Monate, als er sich angesichts einer
erneuten Lektüre seiner Idyllen aus Messina selbst zu Tränen gerührt fühlt. So
heißt es im Entwurf eines Briefes von Ende November 1882, der wohl an Lou von
Salomé gerichtet sein sollte, über den Gedicht-Zyklus: „So etwas Junges Anmuthi-

90 FW Vorrede 1, KSA 3, 346, 21–24.


91 IM Vogel-Urtheil, KSA 3, 342, 25.
92 IM Vogel-Urtheil, KSA 3, 342, 22 f.

93 DD Nur Narr! Nur Dichter!, KSA 6, 380, 19–21.


Heiterkeit, Heroismus, Sentimentalität 119

ges Leichtsinniges Tiefes Unbeständiges – macht mich weinen.“94 Durch eine


derartige Vereinigung von Gegensätzlichem erscheinen die Gedichte als zutiefst
doppel- bzw. mehrdeutige Gebilde. Hinzu kommt nämlich noch das von Nietz-
sche zwar nicht explizit in Bezug auf die Idyllen aus Messina, aber doch im
Rahmen seiner philosophisch-poetologischen Idyllen-Theorie erörterte Element
des Freiheitlich-Heroischen; auch dieses spielt eine zentrale Rolle in dem Ge-
dichtzyklus, der sich dadurch ebenfalls Nietzsches Konzept der „heroischen
Idylle“ zuordnen lässt.

94 KSB 6, Nr. 336, S. 283, Z. 30 f.



Milan Wenner
„Nach neuen Meeren“: Nietzsches
Abenteurerlyrik vor dem Hintergrund der
Fröhlichen Wissenschaft

Abstract: “Nach neuen Meeren”: Nietzsche’s seafaring poetry in the context


of Die fröhliche Wissenschaft. Even though the metaphor of seafaring can be
traced back to the times of the early Greeks, it was not until the 19th century that
one of its variations, the endless journey without arrival, found its place in
literature. Nietzsche picks it up and uses it in his writings to illustrate major
themes of his philosophy: for instance, the impossible journey of the philosopher
towards truth and certainty. The poem Nach neuen Meeren, on which Nietzsche
worked repeatedly over the years, alludes to his different uses of the seafaring
metaphor in his prose. The paper aims to both put Nietzsche’s poem into the
context of his philosophical prose writings and to analyse the philosophical ideas
that are connected to Nietzsche’s various uses of the metaphor in his prose.

1 Das lyrische Ich und die „Unendlichkeit“ in Nach


neuen Meeren
Der Achtzeiler Nach neuen Meeren, den Nietzsche als Teil der Lieder des Prinzen
Vogelfrei der zweiten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft 1887 beigibt, ist wohl
eines der bekanntesten Zeugnisse der Seefahrtsmetaphorik in Nietzsches Schrif-
ten. Besonders in der Fröhlichen Wissenschaft finden sich zahlreiche Abschnitte,
in denen die Bilder des riskanten Aufbruchs und der wagemutigen Fahrt ins
Ungewisse eine wichtige Rolle spielen.1 Gerade aufgrund dieser Vielzahl an
Paralleltexten, von denen her sich das Motiv der Seefahrt in Nach neuen Meeren
in den Blick nehmen lässt, ist das Gedicht ein Paradebeispiel für die Problematik,
Nietzsches Lyrik mithilfe seiner Prosatexte zu deuten. Je nach Textselektion lässt
sich für ganz unterschiedliche Interpretationen des Gedichts einleuchtend argu-

1 Henning Hufnagel spricht sogar davon, dass die Fröhliche Wissenschaft „von einer Metaphorik
der Seefahrt strukturiert wird“ (Hufnagel, Henning, „Nun, Schifflein! sieh’ dich vor!“ – Meerfahrt
mit Nietzsche. Zu einem Motiv der Fröhlichen Wissenschaft, in: Nietzsche-Studien, Jg. 37, Berlin /
New York 2008, S. 143–159, hier S. 143).

DOI 10.1515/9783110474374-007
122 Milan Wenner

mentieren, die allerdings häufig stärker von den philosophischen Vorlieben der
jeweiligen Interpreten bestimmt werden, als von dem Versuch, der Vielfältigkeit
der Deutungsoptionen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. In diesem Beitrag
wird Nach neuen Meeren nicht als bloße Lyrisierung bestimmter Prosatexte und
Gedankenfiguren Nietzsches verstanden;2 stattdessen soll ein Überblick über die
verschiedenen Interpretationsansätze gegeben werden, wobei ein besonderer
Fokus auf einem Schlüsselbegriff des Gedichts liegt – der „Unendlichkeit“.3
Da eine Identifikation der Sprecher der jeweiligen Abschnitte mit dem empiri-
schen Autor Nietzsche problematisch ist, wird in diesem Beitrag bei der Analyse
von Nietzsches Prosatexten, dem ‚lyrischen Ich‘ in Gedichten analog, von einem
‚sprechenden Ich‘ die Rede sein. Natürlich lassen sich gedankliche Tendenzen in

2 So bezeichnet etwa Hufnagel, dessen Arbeit ansonsten viele interessante Beobachtungen


enthält, Nach neuen Meeren als „die gereimte Variante des Prosaaphorismus“ FW 124 (Hufnagel,
„Nun, Schifflein! sieh’ dich vor!“, S. 150). Wenngleich sich in der Tat frappierende Parallelen
zwischen FW 124 und Nach neuen Meeren ausmachen lassen, geht eine derartige Identifikation
von Gedicht und Prosatext zu weit. Sie nivelliert die Eigentümlichkeiten des Gedichts, die u. a. in

seinen Chiffren und Personifizierungen bestehen, die gegenüber FW 124 nicht nur einen sprach-
lich-ästhetischen, sondern auch einen semantischen Mehrwert generieren. – Manfred Riedel
interpretiert Nach neuen Meeren in seiner Schrift Freichlichtgedanken ganz vom Gedanken der
Ewigen Wiederkunft her; diese Festlegung auf eine Gedankenfigur als vermeintlichem Schlüssel
zur Gedichtinterpretation ist ein wesentlicher Grund dafür, dass Riedel den Wiederkunftsgedan-
ken wiederholt auf unplausible Weise in Texte hineininterpretiert, mit denen er seine Interpretati-
on von Nach neuen Meeren zu begründen versucht (vgl. Anm. 45 u. 98). – Für grundsätzliche
Überlegungen hinsichtlich des Verhältnisses von Lyrik und Philosophie in Nietzsches Werk siehe
Kaufmann, Sebastian, Kommentar zu Nietzsches ‚Idyllen aus Messina‘, in: NK 3/1, 457–543, hier
467–479. Kaufmann hält die Auffassung für problematisch, man könne Gedichte Nietzsches, die
dieser in philosophischen Werken veröffentlicht hat, kurzerhand aus ihrem Werkkontext lösen.
Nietzsche verfolge durch die Integration von Gedichten in philosophische Werke vielmehr eine
konzeptionelle Strategie, deren wesentliche Bestandteile über bloß stilistische Überlegungen, die
allerdings auch von Bedeutung seien, weit hinausgehen: So spiele der ästhetische Schein der
Dichtung für Nietzsche eine wesentliche Rolle als „Gegengewicht einer auf schonungslose Des-
illusionierung ausgerichteten ‚strengen Wissenschaft‘, die ohne jenes Korrektiv selbstzerstöreri-
sche Konsequenzen nach sich zöge.“ (Ebd., 471).
3 Die in der Nietzsche-Rezeption so häufig konstatierte Widersprüchlichkeit seiner Texte kann
man, sofern man die sprechenden Ichs seiner Texte mit ihm selbst identifiziert, Nietzsche freilich
zum Vorwurf machen; man muss sich dann aber selbst die Frage gefallen lassen, ob man damit
nicht Nietzsches Reflexionsvermögen hinsichtlich des eigenen Schreibens unterschätzt und ob es
nicht interpretatorisch fruchtbarer wäre, werkimmanent nach Gründen für eine solche ,perspekti-
vische‘ bzw. Widersprüche produzierende Schreibweise zu suchen, als mit logischen Forderun-
gen nach Widerspruchsfreiheit und Stringenz an einen Schriftsteller heranzutreten, der eine
solche Forderung vielleicht als Ausdruck des durchaus verständlichen, doch naiven Verlangens
nach etwas ,Festem‘ nur müde belächelt hätte (vgl. dazu FW 347, KSA 3, 581–583, in dem das
sprechende Ich eine derartige Haltung einnimmt).
„Nach neuen Meeren“ 123

Nietzsches Schriften ausmachen, die, wenngleich sie nicht die Position Nietz-
sches wiedergeben, von einer starken Affinität zu bestimmten Thesen und Posi-
tionierungen zeugen. Inwiefern Nietzsche sich in seiner skeptischen, häufig hy-
pothetischen Schreibweise jedoch kaum auf eine eindeutige Position festlegen
lässt, gilt es in diesem Beitrag konkret zu zeigen.
Das lyrische Ich in Nach neuen Meeren ist nicht nur Seefahrer, sondern als
solcher auch Abenteurer und Entdecker. In der ersten Fassung des Gedichts ging
dies bereits unmittelbar aus dem Titel hervor: Statt Nach neuen Meeren wählte
Nietzsche im Sommer 1882 in einer Vorversion des Gedichts zunächst den Titel
Columbus novus,4 wodurch der Bezug zum berühmten Genueser Entdecker unmiss-
verständlich hergestellt wird. In Nach neuen Meeren ist die Kolumbus-Allusion
zwar verdeckter, aber trotzdem noch vorhanden: Indem das lyrische Ich sein Schiff
als „Genueser Schiff“5 bezeichnet, verweist Nietzsche deutlich auf den berühmten
Genueser Christoph Kolumbus.6 Allerdings handelt es sich bei Nach neuen Meeren
nicht einfach um ein Rollengedicht, wie es die mit „An – – –“ betitelte Vorversion
von Nach neuen Meeren aus dem Jahr 1882 noch gewesen war.7 An die Stelle
konventioneller, der Reise des historischen Kolumbus entlehnter Bilder, wie sie in
Colombo zu finden sind – Vögel als Vorauskünder nahenden Festlands, die dro-
hende Meuterei der Mannschaft, das unbedingte Erreichen-Wollen des Festlands
etc. – treten in Nach neuen Meeren kryptisch anmutende Personifikationen („Mit-
tag schläft auf Raum und Zeit“; „Nur dein Auge – ungeheuer / Blickt mich’s an,
Unendlichkeit“),8 die zum historischen Kolumbus in keinerlei Beziehung stehen.
Der Titel des Vorentwurfs, Columbus novus, suggeriert zwar, dass zwischen
dem lyrischen Ich und dem historischen Kolumbus entscheidende Parallelen
bestehen; ein offenkundiger Unterschied zwischen altem und neuen bzw. realem
und lyrischen Kolumbus besteht allerdings im Ziel, das beide ansteuern. Wäh-
rend der historische Kolumbus ein Festland als Ziel anvisierte, als er Indien auf
dem kürzeren Seeweg gen Westen zu erreichen hoffte, scheint das lyrische Ich in
Nach neuen Meeren gerade dies nicht mehr zu tun. Das Gedicht setzt zwar mit den
Worten „Dorthin – w i l l ich“9 ein, wodurch zunächst der Eindruck eines klar

4 NL 1882, 1[101], KSA 10, 34, 3.


5 FW Anhang, KSA 3, 649, 5.
6 Nach KSA 14, 277 zog Nietzsche noch kurz vor der Publikation der zweiten Ausgabe der
Fröhlichen Wissenschaft neben „Nach neuen Meeren“ auch den Titel „Columbus“ in Betracht.
7 Für die Vorversion siehe NL 1882, 1[15], KSA 10, 12. Für eine frühe Bearbeitung des Kolumbus-
Motivs vgl. das Jugendgedicht Colombo (NL 1858, 4[67], KGW I/1, 273 f.). Zu Nietzsches Jugendlyrik

vgl. den Beitrag von Armin Thomas Müller in diesem Band.


8 FW Anhang, KSA 3, 649, 7–9.
9 FW Anhang, KSA 3, 649, 2.
124 Milan Wenner

bestimmten Ziels erweckt wird, doch die Leseerwartung einer näheren Bestim-
mung dieses „Dorthin“ wird jäh unterlaufen: Der dritte Vers („In’s Blaue / Treibt
mein Genueser Schiff“)10 konterkariert die dezisionistisch anmutenden Worte
„Dorthin – w i l l ich“,11 deren Entschlossenheit die typographische Hervorhebung
des „w i l l “ noch unterstreicht: Das Ins-Blaue-Treiben evoziert – entsprechend der
alltagssprachlichen Redewendung des Etwas-ins-Blaue-hinein-Tuns – neben dem
Ins-blaue-Meer-Treiben den Eindruck der Plan- und Ziellosigkeit.12 Erst der
Schluss des Gedichts legt es nahe, das erste Wort „Dorthin“ auf das letzte Wort
„Unendlichkeit“13 zu beziehen. Für einen derartigen Bezug spricht nicht nur die
Komposition des Gedichts (das erste Wort verwiese so auf das letzte Wort) sowie
der Umstand, dass das „Dorthin“ ansonsten unbestimmt bliebe (freilich: ein
solcher Widerspruch könnte auch parodistisch intendiert sein); insbesondere der
Titel des Gedichts deutet auf die „Unendlichkeit“ als ‚Ziel‘ der Reise hin: Statt
nach neuen Ländern fährt das lyrische Ich ‚nach neuen Meeren‘ – es visiert also
keinen Ort jenseits des Meeres an. Dass das ,Meer‘ als Sinnbild der Unendlichkeit
hier im Plural steht, widerspricht indes einer reibungslosen Identifikation des
Meeres mit der Unendlichkeit, da es – zumindest in einem nicht-mathematischen,
alltagssprachlichen Sinne – abwegig ist, von mehr als einer Unendlichkeit zu
sprechen, weil die Unendlichkeit ihrem Begriff nach alles in sich fasst. Allerdings
setzt die Bezeichnung des Schiffs als „Genueser Schiff“14 bereits voraus, dass es
ein Festland gibt, von dem aus das lyrische Ich aufgebrochen ist. Deshalb scheint
die Unendlichkeit des Meeres eher ein durch den Anblick des Meeres evozierter
subjektiver Eindruck des lyrischen Ichs zu sein als eine faktisch gegebene Unbe-
grenztheit. In jedem Fall fällt auf, dass der ‚neue Kolumbus‘ offenbar nicht auf die
Entdeckung neuer Länder oder Kontinente aus ist, sondern das unendliche Meer
bzw. die unendlichen Meere zum Ziel seiner Entdeckerfahrt macht.

10 FW Anhang, KSA 3, 649, 4 f.


11 FW Anhang, KSA 3, 649, 2.


12 Überdies wurde der Farbe Blau u. a. von Wassily Kandinsky die Wirkung zugeschrieben,

Unendlichkeits-Empfindungen im Betrachter auszulösen: „Je tiefer das Blau wird, desto tiefer ruft
es den Menschen in das Unendliche, weckt in ihm die Sehnsucht nach Reinem und schließlich
Übersinnlichem. Es ist die Farbe des Himmels.“ (Kandinsky, Wassily, Über das Geistige in der
Kunst, München 2002, S. 93). Diese Behauptung erscheint plausibel, wenn man bedenkt, dass der
Mensch die Farbe Blau in der Natur gerade beim Blick auf das unbegrenzt erscheinende Meer und
den Himmel wahrnimmt, so dass der Anblick des Blauen Assoziationen zu derartigen Natur-
erscheinungen auslösen kann. Vgl. ferner auch das Motiv der ‚blauen Blume‘, das Novalis in
seinem Roman Heinrich von Ofterdingen im weitesten Sinne als Unendlichkeitssymbol einführt.
13 FW Anhang, KSA 3, 649, 2 u. 9.
14 FW Anhang, KSA 3, 649, 5.
„Nach neuen Meeren“ 125

Bevor die Frage in den Blick genommen wird, wie sich das ,Unendlichkeits-
Streben‘ in Nach neuen Meeren vor dem Hintergrund der philosophischen Pro-
satexte Nietzsches deuten lässt, soll zunächst noch der Topos der ‚Fahrt ins
Unendliche‘ motivgeschichtlich knapp umrissen werden, um nachvollziehbar zu
machen, auf welche Verwendungsweisen der Seefahrtsmetaphorik Nietzsche zu
seiner Zeit zurückgreifen konnte und inwiefern sich sein eigener Gebrauch von
diesen unterscheidet.

2 Motivgeschichtlicher Überblick: Der Topos der


‚unendlichen Fahrt‘ in der Literatur vor Nietzsche
Die Geschichte der literarischen Seefahrtsmetaphorik ist allzu umfangreich, um
sie hier auch nur in groben Zügen nachzuzeichnen. Darum soll sie lediglich in der
spezifischen Verwendung untersucht werden, in der Nietzsche sie in Nach neuen
Meeren gebraucht: Als eine Fahrt in die Unendlichkeit bzw. als unendliche Fahrt.
Manfred Frank stellt in seiner Arbeit zur Unendlichen Fahrt die These auf, dass der
titelgebende Topos in engem Zusammenhang mit der „neuzeitlichen Epochen-
wende“15 steht. Als Marksteine dieser Epochenwende nennt er zwei zentrale Vor-
gänge, die er zeitlich allerdings nicht genauer bestimmt: Zum einen die „koper-
nikanische Revolution“,16 also den Umbruch vom geo- zum heliozentrischen
Weltbild. Kopernikus hatte zwar bereits kurz vor seinem Tod 1543 sein Werk De
revolutionibus orbium coelestium veröffentlicht, in dem er die Theorie des helio-
zentrischen Weltbilds mathematisch ausarbeitete; empirisch fundiert wurde die
Theorie allerdings erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts, als Galilei mittels der
Konstruktion des Fernrohrs Beobachtungen anstellen konnte, die das kopernika-
nische Weltbild stützten. Mit dem heliozentrischen Weltbild, das „den Fixstern
Erde de-zentriert und mit ihm auch den Menschen aus dem Schöpfungsmittel-
punkt entfernt“,17 erreicht nach Frank der Prozess der theoretischen Neugierde

15 Frank, Manfred, Die unendliche Fahrt. Ein Motiv und sein Text, Frankfurt/Main 1979, S. 10.
16 Frank, Die unendliche Fahrt, S. 10.
17 Franks historische Rekonstruktion des astronomischen Weltbilds ist in puncto zeitlicher
Datierung ein wenig ungenau. Überdies scheint Frank zu glauben, es sei eine Konsequenz des
heliozentrischen Weltbildes, dass sich „von keinem Punkt im leeren All […] mit größerem Recht
als von irgendeinem anderen sagen [ließe], er sei das Zentrum.“ Die Auffassung, dass unser
Sonnensystem nur einen kleinen Teil des Universums ausmacht, hat sich allerdings erst im
18. Jahrhundert allgemein durchgesetzt und war keineswegs eine direkte Folge des heliozen-
trischen Weltbildes, weswegen zwischen der Dezentrierung der Erde und der Dezentrierung
126 Milan Wenner

einen vorläufigen Höhepunkt, der zu einer „Zersetzung der Struktur der hierar-
chischen, aus letzten Werten beglaubigten und zusammengehaltenen Ordnung
des christlichen Europa“18 geführt habe. Der andere zentrale Vorgang, der für
Frank zu einem Bedeutungsanstieg der Seefahrtsmetapher in der Literatur geführt
hat, ist die Welterschließung durch die großen Entdeckungs- und Eroberungs-
reisen, als deren bekannteste sicherlich die Amerika-Reise von Kolumbus im Jahr
1492 zu nennen ist.
Frank nennt überdies zwar folgende „Strukturelemente“, die „die ‚unend-
liche‘ Fahrt mit der antik-christlichen ‚Lebensreise‘ gemein hat“: „[D]as unbe-
rechenbare Meer, der Kahn, der Reisende, der Ausgangspunkt, das aufgeschobe-
ne, womöglich problematisch gewordene Ziel […]. Zum Reisenden hinzuzudenken
ist das Steuer, das Teilsymbol des Willens und der Vernunft“.19 Allerdings unter-
scheide sich die antike bzw. christliche Lebensreise von der ‚unendlichen Fahrt‘
dadurch, dass sie beschrieben werde als ein „zeitlich befristeter (‚endlicher‘)
Leidensweg, dem Kreuzgang Christi vergleichbar, dessen Ziel und Bewegung die
Erlösung von diesem Leiden ist“.20 Dem antiken bzw. christlichen Reisenden ist
sein Ziel demnach bekannt. Für den mythologischen Seefahrer Odysseus ist es
seine Heimatinsel Ithaka, für den christlichen Menschen ist es das Paradies und
das ewige Leben als Erlösung vom irdischen Jammertal. Die Antithese zum tradi-
tionellen Motiv der zielgerichteten navigatio vitae besteht für Frank im modernen
Topos der ‚unendlichen Fahrt‘, die kein Ziel mehr kennt. Eine „schlimme Ver-
einfachung“ wagend, stellt Frank schließlich die These auf, dass sich zwischen
diesen beiden Möglichkeiten „die ganze Differenz der antik-mittelalterlichen und
der modernen Metaphorik der Lebensreise“21 auftue. Wer kein Ziel habe, dem fehlt
nach Lukács das „transzendentale Obdach“.22 ‚Transzendentale Obdachlosigkeit‘
als die unveränderliche Bestimmung des Menschen, keine metaphysische Heimat
zu besitzen, ist für Frank nicht nur ein entscheidender Schlüssel zum Verständnis
der Moderne, sondern auch zur Metaphorik der ‚unendlichen Fahrt‘, die als
Daseinsmetapher die metaphysische Orientierungslosigkeit des modernen Men-
schen widerspiegelt.

unseres Sonnensystems als zwei unterschiedlichen Vorgängen klar unterschieden werden muss
(vgl. Frank, Die unendliche Fahrt, S. 10 f.).

18 Frank, Die unendliche Fahrt, S. 11.


19 Frank, Die unendliche Fahrt, S. 39.
20 Frank, Die unendliche Fahrt, S. 42.
21 Frank, Die unendliche Fahrt, S. 44.
22 Lukács, Georg, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen
der großen Epik, Neuwied / Berlin 1963, S. 35.
„Nach neuen Meeren“ 127

Ihren ersten vollkommenen Ausdruck findet die „steuerlose und ziellose


Fahrt“23 in der Sage vom Fliegenden Holländer, in der ein holländischer Schiffs-
kapitän als Strafe für seine Hybris, die sich in unterschiedlichen Versionen der
Sage je verschieden äußert, zu einer unendlichen Fahrt auf dem Meer verdammt
wird. Die Sage vom Fliegenden Holländer wird Anfang des 19. Jahrhunderts zum
ersten Mal schriftlich gefasst und gewinnt, wie Frank am Beispiel von Coleridge,
Byron, Heine und anderen zeigt, in der Literatur der (Spät-)Romantik bald große
Beliebtheit. Nietzsche kannte die 1843 uraufgeführte Vertonung dieser Sage durch
Richard Wagner. In Wagners Oper ist es dem verfluchten Kapitän erlaubt, in
bestimmten zeitlichen Abständen an Land zu gehen, um sich eine treue Frau zu
suchen, die ihn so sehr liebt, dass sie bereit ist, sich für ihn zu opfern, um
schließlich gemeinsam mit ihm zu sterben und ins Paradies einzukehren.24 In Der
Fall Wagner argumentiert Nietzsche unter Rekurs auf Wagners Fliegenden Hollän-
der, diese Erlösung durch die Liebe komme einem schöpferischen Bankrott des
Erlösten gleich: Die Anbetung und Bewunderung durch das Weib korrumpiere
den Künstler bzw. das Genie, mit dem Nietzsche den rastlosen Kapitän implizit
identifiziert. Das An-Land-Gehen und Sesshaft-Werden kommt demnach nicht
nur einer Erlösung vom Leid gleich, sondern auch einer ‚Erlösung‘ von der
kreativen Schaffenskraft, die in Nietzsches Werken zumeist weitaus höher ein-
schätzt wird als das „allgemeine grüne Weide-Glück der Heerde“, das auf „Sicher-
heit, Ungefährlichkeit, Behagen, Leichtigkeit des Lebens“25 beruhe. Ob Nietzsche
beim Abfassen von Nach neuen Meeren auch Wagners Fliegenden Holländer vor
Augen gehabt hat, lässt sich schwer sagen; fest steht jedenfalls, dass ihm das
Motiv der ‚unendlichen‘ Fahrt von Wagner her vertraut gewesen ist.
Aus dem Gesagten wird ersichtlich, dass Nietzsche mit dem Bild der ‚un-
endlichen Fahrt‘ nicht auf eine seit langem bestehende literarische Tradition,
sondern auf ein für seine Zeit typisches Motiv zurückgreift, das zu Beginn des
19. Jahrhunderts immer mehr an Popularität gewann.

23 Frank, Die unendliche Fahrt, S. 44.


24 Frank, Die unendliche Fahrt, S. 82–87.
25 JGB 44, KSA 5, 61, 16–18.
128 Milan Wenner

3 Nach neuen Meeren vor dem Hintergrund von


Nietzsches Prosatexten

3.1 Das Unendlichkeits-Streben: Wir Luft-Schifffahrer des


Geistes (M 575) und Die neue Leidenschaft (M 429)

Sucht man in Nietzsches Texten nach motivischen Parallelen zu Nach neuen


Meeren, um Aufschluss darüber zu gewinnen, was es heißen könnte, dass sich ein
Entdecker nicht mehr Festland, sondern das Meer bzw. „neue[ ] Meere[ ]“26 selbst
zum Ziel der Fahrt setzt, sticht besonders die Schlussnummer der Morgenröthe,
Wir Luft-Schifffahrer des Geistes, ins Auge. In diesem Abschnitt ist die Rede von
Schifffahrern, allerdings Luft-Schifffahrern,27 die ins unendlich weite (Luft-)Meer
aufbrechen, ohne ein dahinter liegendes Ziel anzuvisieren. Der Abschnitt endet
mit einer Reihe von Fragen über Ziel, Richtung und Aussichten der Reise, die das
sprechende Ich an seine „Brüder“28 richtet, zu denen sich der Leser allerdings
wohl höchstens dann zählen darf, sofern auch er zur illustren Kaste der geistigen
Luftschifffahrer gehört:

Und wohin wollen wir denn? Wollen wir denn ü b e r das Meer? Wohin reißt uns dieses
mächtige Gelüste, das uns mehr gilt als irgend eine Lust? Warum doch gerade in dieser
Richtung, dorthin, wo bisher alle Sonnen der Menschheit u n t e r g e g a n g e n sind? Wird
man vielleicht uns einstmals nachsagen, daß auch wir, n a c h W e s t e n s t e u e r n d , e i n
I n d i e n z u e r r e i c h e n h o f f t e n , – dass aber unser Loos war, an der Unendlichkeit zu
scheitern? Oder, meine Brüder? Oder? –29

Liest man diese Fragen im Kontext des gesamten Abschnitts, so liegt es nahe, sie
zumindest teilweise als rhetorisch zu verstehen. So lässt sich die Frage „Wollen

26 FW Anhang, KSA 3, 649, 1.


27 Für die Interpretation des letzten Abschnitts der Morgenröthe ist interessant, dass es sich bei
der Luftschifffahrt zu Nietzsches Zeiten um eine ingenieurswissenschaftliche Pionierleistung
handelte, die allerdings noch vor großen technischen Schwierigkeiten stand. Das erste lenkbare
Luftschiff, das in der Lage war, an seinen Ausgangspunkt zurückzukehren, wurde erst im August
1884 entwickelt. Zur Zeit der Publikation der Morgenröthe (1881) konnten Luftschifffahrer dem-
nach niemals umkehren, sondern nur möglichst weit geradeaus fliegen und darauf hoffen,
irgendwo einen geeigneten Landeplatz zu finden. Eine Luftschifffahrt aufs offene Meer wäre
demnach zur Zeiten der Morgenröthe fast mit Sicherheit einem Selbstmordkommando gleichge-
kommen. Zum Entwicklungsstand der Luftschifffahrt in den 1880er Jahren vgl. Eichler, Jürgen,
Luftschiffe und Luftschiffahrt, Berlin 1993, S. 22.
28 M 575, KSA 3, 331, 31.
29 M 575, KSA 3, 331, 23–31.
„Nach neuen Meeren“ 129

wir denn ü b e r das Meer“ – d. h.: Steuern wir denn überhaupt etwas jenseits des

Meeres an – vor dem Hintergrund des dem Zitat vorangehenden Satzes verneinen,
in dem die Rede davon ist, dass das ,Wir‘ des Abschnitts dorthin strebt, wo „Alles
noch Meer, Meer, Meer ist“.30 Wer einen Ort anstrebt, wo alles (nur) noch Meer ist,
der will offenkundig nicht über das Meer, sondern das Meer selbst wird ihm zum
Reiseziel. Nun drängt sich angesichts der Unmöglichkeit einer dauerhaften Exis-
tenz auf hoher See freilich die ebenfalls für Nach neuen Meeren relevante Frage
auf, wie ein derartiges Reiseziel überhaupt in Betracht kommen kann und was es
für geistig Reisende heißt, eine ‚Unendlichkeit‘ anzustreben. Die drohende Gefahr
des Scheiterns der Fahrt wird vom sprechenden Ich/Wir des Abschnitts jedenfalls
durchaus deutlich gesehen, da es das Scheitern an der „Unendlichkeit“31 – in der
Metaphorik der Seefahrt: am endlos weiten Meer – als Möglichkeit einer pos-
tumen Legendenbildung bereits ahnungsvoll vorwegnimmt. Diese kann ange-
sichts des offenen Meeres, das die ‚Luft-Schifffahrer des Geistes‘ stattdessen
anstreben, allerdings nicht als zuverlässige Beschreibung der tatsächlichen In-
tention der Luftschifffahrer gelten. Selbst die herausfordernden Fragen am
Schluss des Abschnitts („Oder, meine Brüder? Oder?“),32 die zunächst gegen die
Alternativlosigkeit des Scheiterns an der Unendlichkeit zu sprechen scheinen,
sind nicht als Infragestellung des Scheiterns zu lesen, sondern werfen lediglich
die Frage auf, ob die Nachwelt den Luft-Schifffahrern des Geistes tatsächlich
einmal in verfälschender Weise „nachsagen“33 werde, sie hätten darauf gehofft,
ein Indien zu erreichen. Das sprechende Ich/Wir in M 575 scheint daher weniger
die Gefahr des eigenen Scheiterns zu bekümmern, als vielmehr die Möglichkeit
einer unverständigen Nachwelt, die ihm und seinen Brüdern die Naivität unter-
stellen könnte, ein Ziel gesucht zu haben, um dessen Unerreichbarkeit es selbst
nur zu gut weiß.34
Wer tatsächlich ein Indien im Westen zu erreichen hoffte, war Kolumbus. Die
‚Luftschifffahrer des Geistes‘ dagegen streben – ebenso wie das lyrische Ich in
Nach neuen Meeren – dorthin, „wo alles nur Meer, Meer, Meer“35 ist. Wenngleich

30 M 575, KSA 3, 331, 22 f.


31 M 575, KSA 3, 331, 30.


32 M 575, KSA 3, 331, 31.
33 M 575, KSA 3, 331, 28.
34 In der Sekundärliteratur wird dies allerdings häufig übersehen und stattdessen nicht nur dem
sprechenden Ich des Abschnitts fälschlicherweise das Bedürfnis zugeschrieben, ein Indien errei-
chen zu wollen, sondern Nietzsche selbst (vgl. Hufnagel, „Nun, Schifflein! sieh’ dich vor!“, S. 151;
sowie Löwith, Karl, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Hamburg 2014,
S. 118).
35 M 575, KSA 3, 331, 22 f.

130 Milan Wenner

sich das metaphorische Szenario in M 575 keineswegs in eindeutiger Weise in


philosophische Begriffe übersetzen lässt, bietet es doch mehr Anhaltspunkte für
eine Aufschlüsselung des Aufbruchs-Motivs ins ‚unendliche Meer‘ als das herme-
tische Gedicht Nach neuen Meeren. Während aus diesem nicht ersichtlich wird,
was das lyrische Ich zu seinem Aufbruch bewegt hat, findet sich in M 575 ein
Hinweis, der im Kontext eines anderen Abschnitts der Morgenröthe durchaus
aufschlussreich ist: Das sprechende Wir in M 575 stellt die Frage: „Wohin reisst
uns dieses mächtige Gelüste, das uns mehr gilt als irgend eine Lust?“36 Dass ein
„mächtiges Gelüste“ die ‚Luft-Schifffahrer des Geistes‘ aufs offene Meer „reißt“,
legt nahe, dass von rationalen Beweggründen oder Motiven zum Aufbruch kaum
die Rede sein kann; vielmehr scheint das „mächtige Gelüste“ die Luftschifffahrer
geradezu gewaltsam aufs Meer zu treiben. Dass es sich um ‚Luft-Schifffahrer des
Geistes‘ handelt, spricht dafür, das „mächtige Gelüste“37 als einen geistigen Trieb
zu verstehen, dem diese sich nicht entziehen können. Sucht man in der Morgen-
röthe nach Anhaltspunkten dafür, auf welchen Trieb das „mächtigen Gelüste“ aus
M 575 verweisen könnte, stößt man auf die „Leidenschaft der Erkenntniss“.38 In
M 429 (Die neue Leidenschaft) wird sie als ein ungemein starker Trieb beschrie-
ben, der – analog zum „mächtige[n] Gelüste, das uns mehr gilt als irgend eine
Lust“ – jedes andere Glücksstreben des Menschen zurückdrängt:

Warum fürchten und hassen wir eine mögliche Rückkehr zur Barbarei? Weil sie die Men-
schen unglücklicher machen würde, als sie es sind? Ach nein! Die Barbaren aller Zeiten
hatten mehr Glück: täuschen wir uns nicht! – Sondern unser T r i e b z u r E r k e n n t n i s s ist
zu stark, als dass wir noch das Glück ohne Erkenntniss oder das Glück eines starken festen
Wahnes zu schätzen vermöchten; es macht Pein, uns solche Zustände auch nur vorzustel-
len! Die Unruhe des Entdeckens und Errathens ist uns so reizvoll und unentbehrlich
geworden, wie die unglückliche Liebe dem Liebenden wird: welche er um keinen Preis
gegen den Zustand der Gleichgültigkeit hergeben würde.39

36 M 575, KSA 3, 331, 24 f.


37 M 575, KSA 3, 331, 24 f.


38 M 429, KSA 3, 265, 2.


39 M 429, KSA 3, 264, 14–25. Vgl. auch den „Don Juan der Erkenntniss“ in Eine Fabel (M 327): „Der
Don Juan der Erkenntniss: er ist noch von keinem Philosophen und Dichter entdeckt worden. Ihm
fehlt die Liebe zu den Dingen, welche er erkennt, aber er hat Geist, Kitzel und Genuss an Jagd und
Intriguen der Erkenntniss – bis an die höchsten und fernsten Sterne der Erkenntniss hinauf! – bis
ihm zuletzt Nichts mehr zu erjagen übrig bleibt, als das absolut W e h e t h u e n d e der Erkenntniss,
gleich dem Trinker, der am Ende Absinth und Scheidewasser trinkt. So gelüstet es ihn am Ende
nach der Hölle, – es ist die letzte Erkenntniss, die ihn v e r f ü h r t . Vielleicht, dass auch sie ihn
enttäuscht, wie alles Erkannte! Und dann müsste er in alle Ewigkeit stehen bleiben, an die
Enttäuschung festgenagelt und selber zum steinernen Gast geworden, mit einem Verlangen nach
„Nach neuen Meeren“ 131

Das Verhältnis zur ‚Leidenschaft der Erkenntnis‘ ist ambivalent: Zwar wäre der
Mensch ohne diese Leidenschaft glücklicher als mit ihr, doch sobald sie erst
einmal von ihm Besitz ergreift, verliert das erkenntnislose Glück für ihn seinen
Reiz. Da den ‚Leidenschaftlichen der Erkenntnis‘ nichts dazu bewegen kann,
seine unglückliche Liebe aufzugeben, kommt eine Rückkehr zum alten Zustand
nicht mehr infrage. Wenngleich wahnhaft-glückliche „Barbaren“ mit Paradiesbe-
wohnern auf den ersten Blick wenig gemein haben mögen, ist die Parallele zum
biblischen Sündenfall offenkundig: Wer wie Adam und Eva einmal vom Baum der
Erkenntnis gekostet hat, dem bleiben die Tore des Paradieses für immer
verschlossen – und wen einmal die ‚Leidenschaft der Erkenntnis‘ ergriffen hat,
der kann zu einem illusionären Blick auf die Welt – zum „Glück“ der
„Barbaren“ – nicht mehr zurückkehren. Doch die von der ‚Leidenschaft der
Erkenntnis‘ Getriebenen verschmähen das „Glück“ der Illusion ohnehin. In einem
Vorentwurf zu M 429 wird das Gefühl ihrer ambivalenten Liebe zur Erkenntnis in
einem Oxymoron als die „Seligkeit des Unglücks der Erkenntniß“40 bezeichnet.
Auf diese ambivalente, anscheinend gar masochistische Züge tragende „Selig-
keit“ wollen und können die Erkennenden nicht mehr verzichten. Ebenso wie das
„Gelüste, was uns [den ‚Luftschifffahrern des Geistes‘] mehr gilt als irgendeine
Lust“ wird der „T r i e b z u r E r k e n n t n i s s “41 in M 429 also als eine Leidenschaft
bestimmt, gegen die jedes „Glück ohne Erkenntniss“42 unattraktiv erscheint. Dass
sich diese Leidenschaft als „Unruhe des Entdeckens und Errathens“ äußert, ist
ein zusätzliches Argument dafür, sie mit dem „mächtigen Gelüste“43 als Antrieb
der ‚Luftschifffahrer des Geistes‘ zu identifizieren, denn wie die Kolumbus-An-
spielung nahelegt, handelt es sich bei den Luftschifffahrern um geistige Ent-
decker.

einer Abendmahlzeit der Erkenntniss, die ihm nie mehr zu Theil wird! – denn die ganze Welt der
Dinge hat diesem Hungrigen keinen Bissen mehr zu reichen.“
40 NL 1880, 7[165], KSA 9, 351, 2. Überlegungen zum Begriff der ‚Leidenschaft der Erkenntnis‘ in
der Morgenröthe, die auch einen erhellenden Vergleich von M 429 mit einer Vorstufe enthalten,
bietet Montinari, Mazzino, Nietzsche lesen, Berlin / New York 1982, S. 64–78. Für eine äußerst
detaillierte Darstellung, die dem Begriff der ‚Leidenschaft der Erkenntnis‘ in der Werkphase von
Morgenröthe bis Zarathustra nachgeht und versucht, auf Fragen des Verhältnisses der Leiden-
schaft der Erkenntnis zu anderen wesentlichen Denkfiguren Nietzsches (etwa zum Wiederkunfts-
gedanken) eine Antwort zu finden, vgl. Brusotti, Marco, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Phi-
losophie und ästhetisches Lebensgestaltung bei Nietzsche von „Morgenröthe“ bis „Also sprach
Zarathustra“, Berlin / New York 1997.
41 M 429, KSA 3, 264, 18 f.

42 M 429, KSA 3, 264, 19 f.


43 M 429, KSA 3, 331, 22 u. 24 f.



132 Milan Wenner

Ein markanter Unterschied zwischen M 575 und Nach neuen Meeren springt
allerdings ins Auge: Im Vergleich mit dem sprechenden Ich in M 575 macht das
lyrische Ich in Nach neuen Meeren einen weitaus entschlosseneren, selbstgewis-
seren Eindruck, wenn es proklamiert: „Dorthin – w i l l ich und ich traue / Mir
fortan und meinen Griff“.44 Der Ausdruck des Selbstvertrauens wird durch das im
Enjambement akzentuierte selbstreflexive Pronomen „Mir“ mit formalen Mitteln
verstärkt, überdies evoziert die Betonung des Vertrauens auf den eigenen Griff
den Eindruck der Selbstständigkeit.45 Dass das lyrische Ich seinem Griff „fortan“
traut, heißt im Umkehrschluss, dass es dem eigenen Griff zuvor nicht getraut hat.
Die typographische Hervorhebung des „w i l l “46 scheint eine zusätzliche Bekräfti-
gung der Eigenmächtigkeit des lyrischen Ichs zu sein. Allerdings ließe sich diese
Bekräftigung auch anders verstehen, nämlich als Hinweis darauf, dass es sich um
einen zunächst unverständlich und unglaubwürdig erscheinenden Willen han-
deln könnte, den es daher eigens als selbstgewählt zu akzentuieren gilt. In
FW 360 findet sich eine aufschlussreiche Passage, in der die Umdichtung eines
Müssens zum Wollen mithilfe der Seefahrtsmetaphorik illustriert wird:

Ist das „Ziel“, der „Zweck“ nicht oft genug nur ein beschönigender Vorwand, eine nach-
trägliche Selbstverblendung der Eitelkeit, die es nicht Wort haben will, dass das Schiff der
Strömung f o l g t , in die es zufällig gerathen ist? Dass es dorthin „will“, w e i l es dorthin –
m u s s ? Dass es wohl eine Richtung hat, aber ganz und gar – keinen Steuermann? – Man
bedarf noch einer Kritik des Begriffs „Zweck“.47

Liest man Nach neuen Meeren vor dem Hintergrund dieser Passage und M 575,
scheint es, als würde das lyrische Ich lediglich die Notwendigkeit und Fremd-
bestimmtheit seiner Fahrt zu einer selbstbestimmten Entscheidung umdichten. In

44 FW Anhang, KSA 3, 649, 2 f.  

45 Manfred Riedel identifiziert den „Griff“ in Nach neuen Meeren mit dem „neuzeitlich-mys-
tische[n] Motiv[ ] des goldenen Griffs ‚alle Dinge ohne Irrtum zu erkennen‘ [kein Nietzsche-Zitat];
jener uns aus Hegels Begriffs-Logik geläufige Gestus umfassenden ,Greifens‘, dem offensichtlich
noch Nietzsches Wiederkunftslehre alles und jedes zutraut“ (Riedel, Manfred, Freilichtgedanken.
Nietzsches dichterische Welterfahrung, Stuttgart 1998, S. 240). Riedel gibt keine Gründe für eine
derartige Identifikation an. Der Glaube an die Unfehlbarkeit der Erkenntnis ist von den überaus
skeptischen Äußerungen zu den menschlichen Erkenntnisfähigkeiten in der Fröhlichen Wissen-
schaft denkbar weit entfernt, sodass Riedels Rekurs auf das neuzeitlich-mystische Motiv des
goldenen Griffs wenig plausibel erscheint. Der Verweis auf Hegel scheint ebenfalls lediglich auf
einer vagen Assoziation Riedels zu beruhen – jedenfalls kann keine Rede davon sein, dass die
Verbindung zwischen Nietzsches „Wiederkunftslehre“ und Hegels „Gestus umfassenden ‚Grei-
fens‘“ „offensichtlich“ sei.
46 FW Anhang, KSA 3, 649, 2.
47 FW 360, KSA 3, 607 f., 30–5.

„Nach neuen Meeren“ 133

diesem Fall wäre das lyrische Ich des Gedichts ebenso wie das sprechende Ich des
Prosatextes von einer ‚Leidenschaft der Erkenntnis‘ getrieben, der es nachträglich
den Anschein geben will, nicht Leidenschaft, sondern Ethos zu sein. Diese Selbst-
verblendung stünde zweifellos in einer gewissen Nähe zur berühmten Formel des
„Amor fati“,48 mit der eine fatalistische Schicksalsbejahung zum Ideal erhoben
wird. In der Eröffnungsnummer des vierten Buchs der Fröhlichen Wissenschaft,
Zum neuen Jahre (FW 276), in dem das sprechende Ich kundtut, welcher Gedanke
ihm „Grund, Bürgschaft und Süssigkeit alles weiteren Lebens sein soll“,49 wird
dieses ethische Ideal wie folgt formuliert: „Ich will immer mehr lernen, das
Nothwendige an den Dingen als das Schöne sehen: – so werde ich Einer von
Denen sein, welche die Dinge schön machen. Amor fati: das sei von nun an meine
Liebe! [… I]ch will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein!“50
Bis hierhin bleibt festzuhalten: Im Rekurs auf M 429 wurde dafür argumen-
tiert, dass in M 575 eine „neue Leidenschaft“ vom Menschen Besitz ergriffen hat –
eine Leidenschaft, die offenbar keinen Zielpunkt hat, d. h. in der Metaphorik der

Schifffahrt gesprochen, kein Festland kennt und „im Grunde Nichts fürchtet, als
ihr eigenes Erlöschen“.51 Auch das lyrische Ich in Nach neuen Meeren, für dessen
Identifikation mit einem geistigen Entdecker weiter oben argumentiert wurde,
kennt kein Ziel jenseits des Meeres mehr. Vor dem Hintergrund von M 575 liegt es
daher nahe, die „Unendlichkeit“52 in Nach neuen Meeren als Chiffre für das
unendliche Fortschreiten des Erkenntnisdrangs geistiger Entdecker zu verstehen.
Im Rahmen des motivgeschichtlichen Überblicks wurde bereits festgestellt, dass
das Motiv der ‚unendlichen Fahrt‘ in engem Zusammenhang mit dem Prozess der
Säkularisierung steht. In den folgenden zwei Kapiteln soll dieser Zusammenhang,
der auch für Nietzsches Metaphorik der ‚unendlichen Fahrt‘ von zentraler Bedeu-
tung ist, genauer untersucht werden.

3.2 Der Aufbruch ins Ungewisse vor dem Hintergrund der


„Nachricht, daß Gott todt ist“

Mit dem 343. Abschnitt der Fröhlichen Wissenschaft (Was es mit unserer Heiterkeit
auf sich hat) eröffnet Nietzsche das fünfte Buch, das den programmatischen Titel
Wir Furchtlosen trägt. Schon die Eröffnungsnummer gibt einen Hinweis darauf,

48 FW 276, KSA 3, 521, 22.


49 FW 276, KSA 3, 521, 19 f.

50 FW 276, KSA 3, 521, 20–27.


51 M 429, KSA 3, 264, 14 u. 28.
52 FW Anhang, KSA 3, 649, 9.
134 Milan Wenner

dass es sich bei diesen titelgebenden Furchtlosen um „Philosophen und ‚freie


Geister‘“ handeln könnte, denn diese sind es, denen das „Wagnis des Erkennen-
den wieder erlaubt“ ist und die sich – wie schon das lyrische Ich in Nach neuen
Meeren („Offen liegt das Meer“)53 – trauen, mit ihren Schiffen in ein „‚offnes
Meer‘“ auszulaufen.

In der That, wir Philosophen und „freien Geister“ fühlen uns bei der Nachricht, dass der
„alte Gott todt“ ist, wie von einer neuen Morgenröthe angestrahlt; unser Herz strömt dabei
über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung – endlich erscheint uns der Horizont
wieder frei, gesetzt selbst, dass er nicht hell ist, endlich dürfen unsre Schiffe wieder aus-
laufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagnis des Erkennenden ist wieder erlaubt, das
Meer, u n s e r Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so „offnes
Meer“.54

Der Fokus in FW 343 liegt, anders als noch in M 575, nicht auf der treibenden Kraft
des Aufbruchs – in M 575 war es das „Gelüste, das uns mehr gilt als irgend eine
Lust“55 –, sondern auf einem Ereignis, das den Aufbruch notwendig zu machen
scheint und in dessen Folge die „Schiffe wieder auslaufen“56 dürfen: der Nach-
richt vom ‚Tod Gottes‘. Ebenso wie in FW 125, in dem ein „tolle[r] Mensch“57 den
Tod Gottes verkündet, wird auch in FW 343 dieser Tod Gottes nicht einfach
festgestellt, sondern als „Nachricht“58 eingeführt. Im Fokus des Abschnitts steht
daher nicht die philosophische bzw. theologische Frage nach dem Existenzstatus
Gottes, sondern vielmehr der ‚soziologische‘ Befund, dass sich unter den Men-
schen langsam die Überzeugung verbreitet, Gott existiere nicht. Das größte neue-
re Ereignis bestehe darin, „‚dass ‚Gott todt ist‘, dass der Glaube an den christli-
chen Gott unglaubwürdig geworden ist“.59 Da die Behauptung, dass „Gott todt
ist“ in Anführungszeichen gesetzt wird, handelt es sich um indirekte Rede, d. h.  

um eine zitierte Aussage, nicht etwa um eine apodiktische Feststellung des


sprechenden Ichs.60

53 FW Anhang, KSA 3, 649, 4 u. 9.


54 FW 343, KSA 3, 574, 16–24.
55 M 575, KSA 3, 331, 25.
56 FW 344, KSA 3, 574, 21.
57 FW 125, KSA 3, 480, 31.
58 FW 344, KSA 3, 574, 17.
59 FW 344, KSA 3, 573, 9 f.

60 Anders gestaltet Nietzsche dies in der Eröffnungsnummer des dritten Buchs, Neue Kämpfe
(FW 108), in der das sprechende Ich den Tod Gottes (hier identifiziert mit Buddha) selbst feststellt:
„Nachdem Buddha todt war, zeigte man noch Jahrhunderte lang seinen Schatten in einer
Höhle, – einen ungeheuren schauerlichen Schatten. Gott ist todt: aber so wie die Art der Menschen
„Nach neuen Meeren“ 135

Der Glaubwürdigkeitsverlust des christlichen Gottes steht in enger Beziehung


zur ‚Leidenschaft der Erkenntnis‘. Er tritt nicht mit einem Schlag ein, sondern ist
das Ergebnis des immer weiter voranschreitenden und sich beschleunigenden
Akkumulationsprozesses wissenschaftlicher Erkenntnisse. In FW 37 versucht
Nietzsche, die psychologischen Motive auszuleuchten, die dem Betreiben von
Wissenschaft zugrunde liegen. Das sprechende Ich stellt die These auf, die Wissen-
schaft sei aus „drei Irrthümern“61 gefördert worden: Teils aus Frömmigkeit, „weil
man mit ihr und durch sie Gottes Güte und Weisheit am besten zu verstehen hoffte“,
teils aus dem Glauben an die „absolute Nützlichkeit der Erkenntniss […], nament-
lich an den innersten Verband von Moral, Wissen und Glück“, teils aus der Über-
zeugung, die Wissenschaft sei „etwas Selbstloses, Harmloses, Sich-selber-Genü-
gendes, wahrhaft Unschuldiges“.62 Warum es sich bei diesen Einschätzungen um
Irrtümer handeln soll, wird in FW 37 nicht begründet. Verkürzt ließe sich das Irrige
dieser Einschätzungen so darstellen: Erstens hat die Wissenschaft nicht das Ver-
ständnis Gottes, sondern seine Unglaubwürdigkeit gefördert – und in diesem Sinne
das Gegenteil dessen bewirkt, was ursprünglich bezweckt wurde; zweitens hat sich
die Wissenschaft zwar in vielen Lebensbereichen als nützlich erwiesen, allerdings
droht sie, das Leben selbst in Gefahr zu bringen, indem sie durch ihre Erkenntnisse
„Wahn und Irrthum“ aufhebt, die in Texten der Fröhlichen Wissenschaft wiederholt
als eine „Bedingung des erkennenden und empfindenden Daseins“63 dargestellt
werden. Drittens liegt es dann auf der Hand, dass die Wissenschaft nicht etwas
„Harmloses“ und „wahrhaft Unschuldiges“64 sein kann, wenn sie maßgeblich zur
Zerstörung des Glaubens an Gott beiträgt und jene Illusionen und Täuschungen
aufhebt, die an anderer Stelle als „Bedingung des erkennenden und empfindenden
Daseins“,65 d. h. als Lebensnotwendigkeit bestimmt werden.

ist, wird es vielleicht noch Jahrtausende lang Höhlen geben, in denen man seinen Schatten
zeigt. – Und wir – wir müssen auch noch seinen Schatten besiegen!“ (FW 108, KSA, 3, 467).
61 FW 37, KSA 3, 405, 29–406, 2.
62 FW 37, KSA 3, 406, 3–5 u. 7 f.

63 FW 107, KSA 3, 464, 13–5. Vgl. neben FW 107, KSA 3, 464 f. exemplarisch FW 344, KSA 3, 574–

577. Bereits die Vorrede aus dem Jahr 1886, die Nietzsche der Zweitausgabe der Fröhlichen
Wissenschaft voranstellt, stimmt den Leser auf die Infragestellung des Werts der Erkenntnis ein:
„Nein, dieser schlechte Geschmack, dieser Wille zur Wahrheit, zur ,Wahrheit um jeden Preis‘,
dieser Jünglings-Wahnsinn in der Liebe zur Wahrheit – ist uns verleidet: dazu sind wir zu
erfahren, zu ernst, zu lustig, zu gebrannt, zu tief… Wir glauben nicht mehr daran, dass Wahrheit
noch Wahrheit bleibt, wenn man ihr die Schleier abzieht; wir haben genug gelebt, um dies zu
glauben“ (FW Vorrede 4, KSA 3, 352, 5–11).
64 FW 37, KSA 3, 406, 7 f.

65 FW 107, KSA 3, 464, 14 f. So konstatiert das sprechende Ich in FW 344, es habe „den Anschein

[…], als wenn das Leben auf Anschein, ich meine auf Irrthum, Betrug, Verstellung, Blendung,
136 Milan Wenner

In der destruktiven Geschichte wissenschaftlicher Erkenntnis markiert die


kopernikanische Revolution einen besonders drastischen Einschnitt, da mit ihr
ein ganzes Welt- und Selbstbild zusammenbricht, womit der epistemischen
Autorität des Christentums ein schwerer Schlag versetzt wird. Einen vorläufigen
Höhepunkt erreicht die wissenschaftliche Selbst-Degradierung des Menschen in
Nietzsches Zeit schließlich mit der darwinistischen Evolutionstheorie. Aus dem
Menschen als Mittelpunkt des Universums und Krone der Schöpfung wird ein
„kluge[s] Thier[ ]“, das sich „[i]n irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllo-
sen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls“66 seinen eitlen Selbst-
verblendungen hingibt. Dass der Mensch infolge seines Erkenntnisstrebens die
eigene, in Nietzsches Schriften immer wieder als lebensrettend dargestellte ,Kon-
struktion‘ Gottes eigenhändig destruiert, ist ein im buchstäblichen Sinne unerhör-
tes Ereignis: „Diess ungeheure Ereigniss ist noch unterwegs und wandert, – es ist
noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen“, so der ebenso hellsichtig
wie verrückt erscheinende „tolle Mensch“,67 der einer ihn zunächst verhöhnen-
den Menschenmenge die Nachricht vom Tod Gottes überbringt. Nietzsche ist
dieses ‚unerhörte‘ Ereignis allerdings zu Ohren gekommen und so lässt er die
sprechenden Ichs der Fröhlichen Wissenschaft zum einen prospektiv die Frage
stellen, wie der Mensch zukünftig mit der Leerstelle umgehen wird, die der Tod
Gottes hinterlässt; zum anderen wird retrospektiv die Frage gestellt, wie es dazu
kommen konnte, dass die ‚Leidenschaft der Erkenntnis‘ im Menschen derart über-
handnimmt, dass er für die Erkenntnis der Wahrheit auch die tröstende Vor-
stellung par excellence – Gott – zu opfern bereit ist.
FW 343 gehört zu denjenigen Abschnitten, die sich mit der Zukunft nach dem
Tod Gottes beschäftigen. Infolge der Nachricht vom Tod Gottes zeigt sich den
„Philosophen und ‚freien Geister[n]‘“ eine „neue Morgenröthe“, von der sie sich
verheißungsvoll angestrahlt fühlen und die ihnen offenkundig Mut zu einem
Aufbruch in ein „offnes Meer“68 macht. Dabei werden die Folgen des fortschrei-
tenden Glaubwürdigkeitsverlusts des christlichen Gottes in zwei Phasen unter-

Selbstverblendung angelegt wäre“ (FW 344, KSA 3, 576, 22–25). In FW 107 heißt es: „Hätten wir
nicht die Künste gut geheissen und diese Art von Cultus des Unwahren erfunden: so wäre die
Einsicht in die allgemeine Unwahrheit und Verlogenheit, die uns jetzt durch die Wissenschaft
gegeben wird – die Einsicht in den Wahn und Irrthum als in eine Bedingung des erkennenden und
empfindenden Daseins –, gar nicht auszuhalten. Die R e d l i c h k e i t würde den Ekel und den
Selbstmord im Gefolge haben“ (FW 107, KSA 3, 464, 10–16).
66 WL 1, KSA 1, 875, 2–4.
67 FW 125, KSA 3, 481, 30 f. u. 26. Zum Topos des wahnsinnigen Sehers vgl. auch unter dem

Stichwort „Orakel“: Lamer, Hans / Kroh, Paul (Hrsg.), Wörterbuch der Antike: mit Berücksichtigung
ihres Fortwirkens, Stuttgart 1976, S. 514 f.

68 FW 343, KSA 3, 574, 16–18 u. 24.


„Nach neuen Meeren“ 137

teilt: Von den „nächsten Folgen“ zeugt der Aufbruchs-Enthusiasmus der „Phi-
losophen und ‚freien Geister“, die im Tod Gottes eine geistige Befreiung sehen,
infolge derer das „Wagniss des Erkennenden“69 wieder erlaubt sei. Die Öffnung
des Meeres lässt sich dementsprechend als Öffnung eines Denkens verstehen, das
nicht mehr von dogmatisch-religiösen Fesseln eingeschränkt wird. Dabei mag
man freilich weniger an Denkbeschränkungen auf wissenschaftlichem Gebiet
denken – hier hat die Religion bzw. die Kirche schließlich bereits zu Zeiten Nietz-
sches ihre Macht längst eingebüßt –, sondern eher an moralische Denkbeschrän-
kungen. Auf den moralischen Folgen der Nachricht, „dass der ‚alte Gott todt‘
ist“,70 liegt denn auch der Fokus des sprechenden Ichs in FW 343. Weil mit der
Glaubwürdigkeit Gottes auch die Legitimation und Verbindlichkeit der christli-
chen Moral steht und fällt, sieht das sprechende Ich eine „lange Fülle und Folge
von Abbruch, Zerstörung, Untergang, Umsturz“, eine „ungeheure[ ] Logik von
Schrecken“71 bevorstehen. Doch hierbei handelt es sich um ein langfristiges und
zugleich dystopisches Szenario. Zum beinahe ungläubigen Erstaunen des spre-
chenden Ichs strömt den Philosophen gegenwärtig das Herz noch vor „Dankbar-
keit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung“72 über. Diese zwei Phasen – kurzfristig:
Heiterkeit, langfristig: Schrecken – entsprechen gewissermaßen den unterschied-
lichen Fassungsvermögen von Philosophen einerseits und ‚gewöhnlichen Men-
schen‘ andererseits. Während die Philosophen sich von einer „Morgenröthe“
angestrahlt fühlen, haben die gewöhnlichen Menschen noch nicht einmal den
Untergang der alten Sonne, den ‚Tod Gottes‘, registriert. Die lebensweltlichen
Auswirkungen dieser Nachricht würden bei den meisten Menschen erst verzögert
ankommen, dann aber werde die „ungeheure[ ] Logik von Schrecken“ infolge des
horror vacui ihren Lauf nehmen. Die „Philosophen und ‚freien Geister‘“ sind den
‚schrecklichen Konsequenzen‘ des Gottesverlusts als Menschen in der Welt zwar
ebenso ausgesetzt, doch begrüßen sie gerade die grenzenlose Ungewissheit des
Ordnungs- und Machtvakuums und stoßen mitten hinein ins „offne[ ] Meer“
absolut freien Denkens.
Der Kontrast zwischen FW 125, in dem der ‚tolle Mensch‘ vor allem die
negativen Folgen des Gottestods in drastischen Bildern schildert, und FW 343, in
dem der Tod Gottes zwar auch als (langfristig höchst gefährlicher) Verlust, aber
doch auch und gerade als Befreiung dargestellt wird, zeigt sich deutlich bei einem
Vergleich der verwendeten Metaphern: Angesichts des Gottesmordes – der men-
schengemachten Zerstörung der Glaubwürdigkeit Gottes – fragt der ‚tolle Mensch‘

69 FW 343, KSA 3, 574, 10 f. u. 22.


70 FW 343, KSA 3, 574, 17.


71 FW 343, KSA 3, 573, 25–28.
72 FW 343, KSA 3, 574, 19.
138 Milan Wenner

in FW 125 auf dem Marktplatz die ihn umgebenden Menschen: „Wie vermochten
wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont
wegzuwischen?“73 Während der ‚tolle Mensch‘ sich vor ein Nichts gestellt sieht,
Meer und Horizont ihm als Weltkonstituenten verloren scheinen, preist das
sprechende Ich in FW 343 dagegen das „offne[ ] Meer“ und begrüßt es, dass ihm
der „Horizont wieder frei [erscheint], gesetzt selbst, dass er nicht hell ist“.74
Da die „freien Geister“ in FW 343 durch die Nachricht vom ‚Tod Gottes‘
moralisch ,befreite Geister‘ sind, liegt es nahe, dass ihre Entdeckerfahrt auf die
Erkundung bislang unbekannter Denk- und Lebensformen abzielt, die zuvor
durch christliche Moralbeschränkungen gar nicht erst in den Blick kommen
konnten. Die Folgen jener Nachricht gehen über die früher oder später notwendig
einsetzende Infragestellung moralischer Werte allerdings weit hinaus. Das ‚leer-
getrunkene Meer‘ und der ‚weggewischte Horizont‘ in FW 125 sind nicht bloß
Metaphern für verloren gegangene moralische Werte, sondern, viel fundamen-
taler, für ein Verschwinden dessen, was – um eine treffende Formulierung von
Ludger Lütkehaus aufzugreifen – „das zum philosophischen Kitsch herunter-
gekommene Wort ,Sinn‘“ meint.75 Nicht nur die Antwort auf die Frage, wie man
handeln solle, verschwindet mit dem ‚Tod Gottes‘, sondern auch die Antwort auf
die Frage, zu welchem Zweck der Mensch überhaupt etwas tun solle. Solange das
irdische Leben als ein Vorspiel zum ewigen Leben bei Gott betrachtet wird, hat es
einen Zweck und erscheint sinnvoll. Das eigene und fremde Leiden wird erträg-
lich, solange der Gläubige es als Teil eines göttlichen Plans begreifen kann,
dessen Sinn dem menschlichen Geist zwar unergründlich bleibt, der aber den-
noch unzweifelhaft vorhanden ist. Wenn nun aber die Überzeugung siegt, dass

73 FW 125, KSA 3, 481, 3 f.


74 FW 343, KSA 3, 574, 24 und 20 f. Dass der „Horizont wieder frei“ erscheint, die Schiffe „wieder

auslaufen“ dürfen, das Wagnis des Erkennenden „wieder erlaubt“ ist und das „Meer […] wieder
offen da[liegt]“ (FW 343, KSA 3, 574, 20–24), zeigt, dass es für das sprechende Ich eine Zeit
gegeben haben muss, in der das ,Abenteuer‘ des Erkennens schon einmal erlaubt war. Wenn-
gleich diese vorchristliche Zeit, in der dem menschlichen Erkenntnisstreben keine Fesseln ange-
legt wurden, in FW 343 unbestimmt bleibt, spricht vieles dafür, dass Nietzsche hier die grie-
chische Antike im Auge hat, da gerade den alten Griechen in Nietzsches Darstellungen häufig ein
besonderer geistiger Wagemut zugeschrieben wird. In der Vorrede der Fröhlichen Wissenschaft
erfolgt explizit die Parallelisierung der „Wagehalse des Geistes, die […] die höchste und gefähr-
lichste Spitze des gegenwärtigen Gedankens erklettert“ haben (FW Vorrede 4, KSA 3, 352, 26–28),
mit den Griechen, die geistig so erfahren und daher taktvoll gewesen seien, dass sie aus Scham
die Wahrheit mit dem Schleier der Kunst bedeckten – ihre Oberflächlichkeit resultierte aus ihrer
Tiefgründigkeit (vgl. ebd., 352, 20–25).
75 Lütkehaus, Ludger, „Die indische Circe, das Nichts“. Nietzsches Kampf gegen den Nihilismus,
in: Neymeyr, Barbara / Sommer, Andreas Urs (Hrsg.), Nietzsche als Philosoph der Moderne, Heidel-
berg 2012, S. 301–317, hier S. 304.
„Nach neuen Meeren“ 139

das Leben keinerlei Zweck hat und überdies auch noch in weiten Teilen leidvoll
ist, droht diese Überzeugung den Lebenswillen zu vernichten.
Der Gedanke, dass die Erkenntnis der Sinnlosigkeit des Daseins potentiell
selbstmörderische Konsequenzen nach sich zieht, wird in dem auf FW 343 un-
mittelbar folgenden Abschnitts (Inwiefern auch wir noch fromm sind) thematisiert:
Es habe, so das sprechende Ich, den Anschein, „als wenn das Leben auf An-
schein, ich meine auf Irrthum, Betrug, Verstellung, Blendung, Selbstverblendung
angelegt wäre“; der „Wille zur Wahrheit“ könne, so der Verdacht des sprechen-
den Ichs, daher „ein versteckter Wille zum Tode sein“.76 Als institutionalisiertem
Willen zur Selbsttäuschung kommt der Religion dementsprechend eine existenz-
erhaltende Funktion zu, die allerdings mit der Nachricht vom ‚Tod Gottes‘ hinfäl-
lig wird. Angesichts dieser fundamentalen Bedeutung der Religion ließe sich
zunächst vermuten, die aufbrechenden Schifffahrer in FW 343 seien auf dem Weg
zu neuen erbaulichen Rechtfertigungen des Daseins und suchten nun, nachdem
sie das alte Festland, auf dem die christliche Religion ruhte, verlassen haben, auf
dem offenen Meer nach neuen (sinnstiftenden) Ländern religiöser oder metaphy-
sischer Art.
Für FW 343 scheint diese Option wenig plausibel, denn die dort aufbrechen-
den Schifffahrer sind „Philosophen und ‚freie[ ] Geister‘“ – wobei die Konjunktion
naturgemäß nicht zwei unterschiedliche Gruppen verbindet, sondern diejenigen
zusammenführt, die sowohl Philosophen als auch ‚freie Geister‘ sind. Der Termi-
nus ‚freier Geist‘ legt nahe, dass es sich bei den aufbrechenden Philosophen nicht
um Metaphysiker handelt, sondern um Denker, die sich vom menschlichen
Grundbedürfnis nach festem Halt befreit haben und keiner Religion oder Meta-
physik mehr bedürfen.77 In Nach neuen Meeren ist die Interpretationslage etwas

76 FW 344, KSA 3, 576, 23–32.


77 Der Begriff ‚freier Geist‘ kommt in der Fröhlichen Wissenschaft lediglich einmal vor. In Jenseits
von Gut und Böse, dessen Entstehungszeit mit derjenigen des fünften Buchs der Fröhlichen
Wissenschaft teilweise zusammenfällt, werden die „Philosophen der Zukunft“ (JGB 44, KSA 5, 60,
22 f.) als „s e h r freie Geister“ (ebd., 60, 22) bezeichnet. Sie sind allerdings „nicht bloss freie Geister

[…], sondern etwas Mehreres, Höheres, Grösseres und Gründlich-Anderes, das nicht verkannt und
verwechselt werden will“ (ebd., 60, 23–25). Während Menschliches, Allzumenschliches I, das den
Untertitel „Ein Buch für freie Geister“ trägt, noch dem französischen Aufklärer Voltaire gewidmet
ist (vgl. Nietzsches Hinweis zur Erstausgabe von 1878, MA I, KSA 2, 10), sodass der Terminus
‚freier Geist‘ in Menschliches, Allzumenschliches I durchaus mit dem aufklärerischen Freidenker-
tum zu assoziieren ist, distanziert sich das sprechende Ich in JGB 44 von einem primär aufkläreri-
schen Begriff des ,freien Geistes‘. Es strebt eine (höhere) Freiheit an, die sich auch der Moral und
der „modernen Ideen“ (JGB 44, KSA 5, 61, 8 f.) zu entledigen hat und die, wie die Hervorhebung

der Einsamkeit der ‚freien Geister‘ nahelegt, eine Freiheit radikaler, kompromissloser Selbst-
bestimmtheit ist: „Und was es mit der gefährlichen Formel ‚jenseits von Gut und Böse‘ auf sich
140 Milan Wenner

komplizierter. Zwar steuert das aufbrechende lyrische Ich „[n]ach neuen Meeren“,
was dem Erreichen-Wollen eines religiösen oder metaphysischen ‚Festlands‘
prinzipiell zu widersprechen scheint. Doch die „Unendlichkeit“ lässt sich nicht
nur als Unendlichkeit des Meeres verstehen, sondern auch als Chiffre des Gedan-
kens der Ewigen Wiederkunft, den das sprechende Ich in FW 341 als Gedanken-
experiment und metaphysische Hypothese präsentiert. Vor diesem Hintergrund
ließe sich der Wille des lyrischen Ich, die Unendlichkeit zu erreichen („Dorthin –
w i l l ich“) auch als Affirmation der Ewigen Wiederkunft lesen. Bevor detaillierter
auf die Ewige Wiederkunft eingegangen wird, gilt es im Folgenden zunächst,
einen Aspekt der Seefahrtsmetaphorik zu beleuchten, der mit der Nachricht vom
‚Tod Gottes‘ in engem Zusammenhang steht und für das Verständnis des Topos
der ‚unendlichen Fahrt‘ zentral ist: die Unmöglichkeit einer Rückkehr zum alten
Festland.

3.3 Die ‚unendliche Fahrt‘ und die Unmöglichkeit der Rückkehr

Wie gezeigt wurde, haben die „Luft-Schifffahrer des Geistes“, die von einem
„mächtige[n] Gelüste“,78 der ‚Leidenschaft der Erkenntnis‘, aufs Meer gezogen
werden, weder die Fähigkeit noch den Willen zur Umkehr. Gott, der infolge des
immer weiter fortschreitenden wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses unglaub-
würdig geworden ist, lässt sich nicht wieder zum Leben erwecken. Dies jedenfalls
proklamiert der ‚tolle Mensch‘ in FW 125: „Hören wir noch Nichts von dem Lärm
der Todtengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch Nichts von der gött-
lichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir
haben ihn getödtet!“79
Die Unmöglichkeit der Rückkehr zu „alten Weltbetrachtungen“ und „alten
Culturen“ wird in Menschliches, Allzumenschliches I bereits in einem eindeutig
pessimistischen Ton konstatiert.80 Schon der Titel des Abschnitts (Trostrede eines

hat, mit der wir uns zum Mindesten vor Verwechslung behüten: wir s i n d etwas Anderes als
‚libres-penseurs‘, ‚liberi pensatori‘, ‚Freidenker‘ und wie alle diese braven Fürsprecher der ‚mo-
dernen Ideen‘ sich zu benennen lieben“ (JGB 44, KSA 5, 62, 10–14).
78 M 575, KSA 3, 331, 5 u. 24 f.

79 FW 125, KSA 3, 481, 12–16.


80 MA I 248, KSA 2, 206, 14. Da hier von „alten Weltbetrachtungen“ und „alten Culturen“ die
Rede ist (Hervorhebungen MW), lässt sich die melancholisch ersehnte Vergangenheit nicht
einfach mit einer spezifischen Weltbetrachtung und Kultur gleichsetzen. Wenn man allerdings
nach einer Kultur und Lebensform sucht, die Nietzsche selbst attraktiv scheint und deren Ver-
schwinden er bedauert, so ist dies sicherlich nicht die des dogmatischen Christentums, sondern
die der antiken Griechen.
„Nach neuen Meeren“ 141

desperaten Fortschritts) impliziert, dass es sich bei der Abkehr von alten Welt-
betrachtungen und Kulturen um einen verfehlten, da „desperaten Fortschritt“
handelt, demgegenüber eine Rückkehr zum Alten erstrebenswert, aber unmög-
lich scheint: „Ueberdiess k ö n n e n wir in’s Alte nicht zurück, wir h a b e n die
Schiffe verbrannt“.81 In FW 124 hatten das sprechende Ich und seine Gefährten
dagegen nicht die „Schiffe verbrannt“, sondern „die Brücke […] mehr noch – […]
das Land“ hinter sich „abgebrochen“:

Wir haben das Land verlassen und sind zu Schiff gegangen! Wir haben die Brücke hinter
uns, – mehr noch, wir haben das Land hinter uns abgebrochen! Nun, Schifflein! sieh’ dich
vor! Neben dir liegt der Ocean, es ist wahr, er brüllt nicht immer, und mitunter liegt er da,
wie Seide und Gold und Träumerei der Güte. Aber es kommen Stunden, wo du erkennen
wirst, dass er unendlich ist und dass es nichts Furchtbareres giebt, als Unendlichkeit. Oh
des armen Vogels, der sich frei gefühlt hat und nun an die Wände dieses Käfigs stösst!
Wehe, wenn das Land-Heimweh dich befällt, als ob dort mehr F r e i h e i t gewesen wäre, –
und es giebt kein „Land“ mehr!82

Sowohl in MA I 248 wie auch in FW 124 sind es das sprechende Ich und seine
Gefährten, die sich selbst die Rückkehr unmöglich gemacht haben. Ein zentraler
Unterschied zwischen der Metaphorik beider Abschnitte besteht darin, dass das
sprechende Ich und seine Gefährten sich in FW 124 zu einer ‚unendlichen Fahrt‘
auf dem Meer eingeschifft haben, sodass nicht nur die Rückkehr, sondern das
Erreichen von Festland überhaupt unmöglich geworden zu sein scheint. Das
personifizierte „Schifflein“ scheint dabei angesichts der bislang ruhigen Fahrt
nicht die Stunden vorauszusehen, „wo du [Schifflein] erkennen wirst, dass er [der
Ozean] unendlich ist und dass es nichts Furchtbareres giebt, als Unendlichkeit“.83
Diese Unendlichkeit wird durch den Folgesatz mit der Freiheit assoziiert, die
offenkundig nicht das ist, was sie zunächst zu sein schien, da der Vogel „nun an
die Wände dieses Käfigs“ „Unendlichkeit“ stößt, wenn er die Unendlichkeit des
Ozeans und die Furchtbarkeit dieser Unendlichkeit erkennt.84 Das Bild ist freilich
paradox, da die Unendlichkeit ihrem Begriff nach gerade das sein müsste, was
keine Grenzen kennt und an dessen Wände man demnach auch nicht stoßen
kann. Jedenfalls scheint das Freiheitsgefühl desjenigen, der sich auf dem unend-
lichen Meer befindet und in jede beliebige Richtung steuern kann, ohne auf eine
Grenze zu stoßen, ein trügerisches Gefühl zu sein. Es ist allerdings nicht deswe-
gen trügerisch, weil der Vogel in Wahrheit nicht frei wäre, sondern weil diese

81 MA I 248, KSA 2, 206, 12 u. 24 f. 

82 FW 124, KSA 3, 480.


83 FW 124, KSA 3, 480, 12 u. 15 f.

84 FW 124, KSA 3, 480, 16–18.


142 Milan Wenner

Bewertung der neu gewonnenen Freiheit umzuschlagen droht, sobald ihn das
„Land-Heimweh […] befällt“, weil „es […] kein ‚Land‘ mehr“ gibt.
Um zu verstehen, was in FW 124 mit „Freiheit“ und „Unendlichkeit“ gemeint
ist, lässt sich aufgrund der Überleitungsrolle von FW 124 zum Motiv des Gottes-
todes in FW 125 sowie der metaphorischen Nähe zu FW 343, in dem das Motiv
ebenfalls eine zentrale Rolle spielt, die Frage stellen, wie die Freiheit und der ‚Tod
Gottes‘ zusammenhängen. Mögliche Antworten auf diese Frage wurden im voran-
gegangenen Kapitel bereits skizziert. Die Befreiung, die, je nach Perspektive,
gleichzeitig auch eine Beraubung darstellt, besteht primär in einer Auflösung
moralischer Werte und Normen sowie religiöser Sinnstiftung und Zwecksetzun-
gen. Der postreligiöse Mensch, der keiner göttlichen Moral mehr Folge zu leisten
hat, besitzt unendlich viele Möglichkeiten, auf die hin er sein Leben ausrichten
kann. Das bedeutet gleichzeitig aber auch, dass er in fundamentalen lebenswelt-
lichen Entscheidungen auf sich selbst zurückgeworfen ist und es keine absolut
legitimierte Instanz mehr gibt, der er seinen Willen unterordnen kann. In FW 347,
Die Gläubigen und ihr Bedürfnis nach Glauben, reflektiert das sprechende Ich die
existenzielle Funktion des Glaubens an Gott: Der ‚gewöhnliche Mensch‘ habe ein
starkes „Verlangen nach Halt, Stütze“,85 nach etwas „,Feste[m]‘, an dem er nicht
gerüttelt haben will, weil er sich daran h ä l t “.86 Daher kommt der Verlust des
Glaubens an Gott, der bisher einen solchen Halt geboten hatte, der ungeheuren
Herausforderung des Menschen gleich, sein eigener Herr zu sein und selbst über
Gut und Böse, Richtig und Falsch zu entscheiden. Die rhetorischen Fragen des
‚tollen Menschen‘ in FW 125, was angesichts der ‚Tötung Gottes‘ zu geschehen
habe, um den Verlust dieses Sinngaranten zu kompensieren, machen dies un-
missverständlich deutlich: „Welche Sühnfeiern, welche heiligen Spiele werden
wir erfinden müssen? Ist nicht die Grösse dieser That zu gross für uns? Müssen wir
nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen?“87
In Nach neuen Meeren ist von der Unmöglichkeit einer Rückkehr zwar nicht
die Rede, wohl aber in der Erstfassung des Gedichts aus dem Sommer/Herbst
1882, die noch eine dritte Strophe besitzt. Sie lautet wie folgt:

Stehen fest wir auf den Füßen!


Nimmer können wir zurück.
Schau hinaus: von fernher grüßen
Uns Ein Tod, Ein Ruhm, Ein Glück!88

85 FW 347, KSA 3, 582, 3 f.


86 FW 347, KSA 3, 581, 21 f.  

87 FW 125, KSA 3, 481, 20–23.


88 NL 1882 1[15], KSA 10, 12, 21–24.
„Nach neuen Meeren“ 143

Dass das Motiv der ‚unmöglichen Rückkehr‘ in Nach neuen Meeren nicht mehr
vorkommt, mag damit zusammenhängen, dass ein derartiges Zurückblicken der
nachdrücklich betonten Zuversicht des lyrischen Ichs widersprochen hätte.
Schließlich will das lyrische Ich gerade nicht mehr zurück zum alten Festland,
sondern fährt in der Endfassung „[n]ach neuen Meeren“.

3.4 „Unendlichkeit“ als Chiffre der Ewigen Wiederkunft

In den Jahren 1882 und 1884 entstehen insgesamt fünf Vorversionen von Nach
neuen Meeren. Augenscheinlich erst im letzten Moment entschließt sich Nietzsche,
in der Reinschrift des Textes „Unsterblichkeit“ durch „Unendlichkeit“ zu erset-
zen.89 In den ersten beiden Entwürfen, An – – – sowie Columbus novus (beide
entstehen in der Zeit von Juli bis August 1882),90 ähneln die Schlussverse der
Gedichte noch nicht denjenigen aus Nach neuen Meeren, wo die personifizierte
Unendlichkeit eine zentrale Rolle spielt und es heißt: „Nur d e i n Auge – ungeheuer
/ Blickt mich’s an, Unendlichkeit“. Mit der dritten Version des Gedichts, die
zwischen Sommer und Herbst 1882 entsteht und als Widmungs-Epigramm für ein
geplantes Sentenzen-Buch mit dem Titel Auf hoher See fungieren sollte, entschließt
sich Nietzsche dann erstmalig, die „Ewigkeit“91 im Gedicht auftreten zu lassen.
Ebenso heißt es in der vierten Version aus dem Sommer/Herbst 1882 (Auf hohem
Meere): „Um uns braust die Ewigkeit“.92 Erst in der fünften und letzten Vorversion
aus dem Herbst 1884, Yorick-Columbus, wird die „Ewigkeit“ personifiziert und
erscheint als „schönste[s] Ungeheuer“,93 das dem lyrischen Ich zulacht. In Nach
neuen Meeren wird das „Ungeheuer“ schließlich zum Adjektiv („ungeheuer / Blickt
mich’s an“), das die Stimmung des lyrischen Ichs angesichts des Anblicks der
„Unendlichkeit“ charakterisiert, zu der die „Ewigkeit“ jetzt geworden ist.
Vor dem Hintergrund des Seefahrtmotivs in FW 343 – ins Ungewisse auf-
brechende Philosophen, die Gott und Religion offenkundig hinter sich lassen –
irritiert es freilich, dass Nietzsche in den Vorfassungen von Nach neuen Meeren
sein lyrisches Ich ausgerechnet nach der „Unsterblichkeit“ bzw. „Ewigkeit“ trach-
ten lässt.94 Da es als ,neuer Kolumbus‘ ebenso wie die Philosophen in FW 343 zu

89 Vgl. KSA 14, 277.


90 NL 1882, 1[101], KSA 10, 34; NL 1882, 1[15], KSA 10, 12.
91 NL 1882, 3[1], KSA 10, 53, 12.
92 NL 1882, 3[4], KSA 10, 108, 11.
93 NL 1884, 28[63], KSA 11, 328, 24 f.

94 Vgl. KSA 14, 277; sowie NL 1882 3[1], KSA 10, 53, 12; NL 1882 3[4], KSA 10, 108, 11; und NL 1884,
28[63], KSA 11, 328, 25.
144 Milan Wenner

den wagemutigen Erkennenden gehört, scheint die Zielvorstellung eines religiö-


sen oder metaphysischen Jenseits, an das „Unsterblichkeit“, „Unendlichkeit“ und
„Ewigkeit“ denken lassen, rückwärtsgewandt und keineswegs wagemutig, ja dem
Impetus der Abenteurertums geradezu entgegengesetzt zu sein. Die Irritation
lässt sich ein Stück weit auflösen, wenn man die „Unendlichkeit“ bzw. „Ewigkeit“
nicht mit religiösen Jenseitsvorstellungen assoziiert, sondern mit Nietzsches Ge-
danken der Ewigen Wiederkunft. Für eine derartige Lesart spräche auch Nietz-
sches Verwendung der Chiffre des „Mittag[s]“,95 die, wie u. a. ein Werktitelent-

wurf aus dem Jahr 1884 zeigt, Nietzsche im Verbund mit der ‚Ewigkeit‘ als Signum
der Ewigen Wiederkunft dient: „Mittag und Ewigkeit. Eine Philosophie der ewigen
Wiederkunft“.96 Zum anderen spricht für die Identifikation von ‚Ewigkeit‘ mit
‚Ewiger Wiederkunft‘ auch der simple Umstand, dass sich die Rede von einer
zeitlichen Unendlichkeit – sofern man sie nicht religiös verstehen will – vor dem
Hintergrund von Nietzsches Philosophie anders kaum sinnvoll dechiffrieren lässt.
Versteht man den Gedanken der Ewigen Wiederkunft als Gedankenexperiment
und nicht als metaphysische Existenzbehauptung, so lässt sich auch einer zeitlich
verstandenen Unendlichkeit in Nach neuen Meeren ein plausibler Sinn abgewin-
nen. Tatsächlich tritt der Gedanke der Ewigen Wiederkunft in der Fröhlichen
Wissenschaft nicht als metaphysische Behauptung, sondern in der konditionalen
Form einer Hypothese auf. Im vorletzten Abschnitt des vierten Buchs, das in der
Erstausgabe von 1882 den Schluss des Werks markierte, leitet der Gedanke der
Ewigen Wiederkunft in Kombination mit dem letzten Text (FW 342), der dem
Beginn des Zarathustra beinahe aufs Wort gleicht, zum ersten Band des Zarathus-
tra über:

Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts, ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nach-
schliche und dir sagte: „Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch
einmal und noch unzählige Male leben müssen; […] Die ewige Sanduhr des Daseins wird
immer wieder umgedreht – und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!“97

Riedel versteht den Wiederkunftsgedanken, den er in FW 374 (Unser neues Unend-


liches) auf fragwürdige Weise hineinliest, als das „Versprechen einer ‚neuen
Unendlichkeit‘“.98 Diese Lesart, die den Wiederkunftsgedanken zu einem trösten-

95 FW Anhang, KSA 3, 649, 7.


96 NL 1884, 26[465], KSA 11, 274, 7.
97 FW 341, KSA 3, 570, 8–19.
98 Es folgt ein Kommentar zu Riedels Interpretation von FW 374: Ich zitiere zunächst die Aussage
des sprechenden Ichs in FW 374, das denke, wir seien heute zumindest „ferne von der lächerli-
chen Unbescheidenheit, von unsrer [der menschlichen] Ecke aus zu dekretieren, dass man nur
von dieser Ecke aus Perspektiven haben d ü r f e . Die Welt ist uns vielmehr noch einmal ‚unend-
„Nach neuen Meeren“ 145

den Ersatz für unglaubwürdig gewordene Jenseitshoffnungen des Christentums


macht, trägt allerdings nicht der metaphysischen Zurückhaltung Rechnung, mit
der der Wiederkunftsgedanke als ein Gedankenexperiment eingeführt wird, in
dessen Fokus die lebensweltlichen Konsequenzen des Gedankens stehen und
nicht die Wahrscheinlichkeit seiner Wahrheit. Eine andere Interpretationsmög-
lichkeit, die den Entdeckertopos und den Gedanken der Ewigen Wiederkunft
zusammenführt, bestünde darin, das lyrische Ich als geistigen Entdecker und
Abenteurer zu verstehen, der den gefährlichsten aller Gedanken (wieder)ent-
deckt99 und zu denken wagt: den Gedanken der Ewigen Wiederkunft, den das

lich‘ geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie u n e n d l i c h e
I n t e r p r e t a t i o n e n i n s i c h s c h l i e s s t “ (FW 374, KSA 3, 627, 4–9). Im Folgenden zitiere ich
Riedels Interpretation dieser Passage, die an deren Zitation anschließt, und kommentiere sie (in
eckigen Klammern): „Auch der Wiederkunftsgedanke, das will Nietzsche sagen, bleibt ‚unsere‘
Perspektive, an ‚unseren‘ irdischen Standort gebunden und ist doch zugleich eine Fernsicht der
Zeit. [Ob Nietzsche das tatsächlich mit einem Text sagen will, in dem vom Wiederkunftsgedanken
gar nicht (auch nicht indirekt) die Rede ist, mag dahingestellt bleiben.] Und diese Sicht [die Ewige
Wiederkunft als ‚Fernsicht‘] engt ‚unseren‘ Blick nicht ein, sondern berichtigt und erweitert ihn
durch immer andere Gesichtspunkte menschlicher Welterfahrung, die einmal geschichtlich wir-
ken und folglich auch möglich gewesen sind und für die Zukunft weitere Interpretationen
erlauben. [Das mag sein – darum geht es in FW 343 aber nicht, da nicht eine menschliche
Interpretation der Welt mit anderen (vergangenen und daher wieder möglichen) menschlichen
Interpretationen kontrastiert, sondern viel allgemeiner die menschliche Interpretation der Welt
mit nicht-menschlichen Interpretationen theoretisch existenter „Wesen“ verglichen wird.] Darum
‚dürfen‘ wir den Wiederkunftsgedanken als Versprechen einer ‚neuen Unendlichkeit‘ auffassen“.
Diese Schlussfolgerung, die auf einer verfehlten Lektüre und damit auf falschen Voraussetzungen
beruht, ist nicht nur falsch, sondern fußt überdies auch auf einer irreführenden Zitation: Als
Grund dafür, dass „[d]ie Welt […] uns vielmehr noch einmal ,unendlich‘ geworden“ ist, wird vom
sprechenden Ich in FW 343 explizit angegeben, dass „wir die Möglichkeit nicht abweisen können,
dass sie u n e n d l i c h e I n t e r p r e t a t i o n e n i n s i c h s c h l i e s s t “ (FW 343, KSA 3, 627, 6–9). Aus
dieser Unendlichkeit an Interpretationen ein „Versprechen einer neuen ,Unendlichkeit‘“ (Riedel,
Freilichtgedanken, S. 244) als zeitlicher Unendlichkeit herauszulesen, ist nicht nur unplausibel;
durch die falsche Zitation bzw. kollagenhaft verfahrende Neu-Zusammensetzung des „dürfe“ und
der „,neuen Unendlichkeit‘“ (das Wort ,Unendlichkeit‘ kommt in FW 343 gar nicht vor, das
‚dürfen‘ wird, wie oben ersichtlich, in gänzlich anderer Weise verwendet) verfälscht Riedel den
Originaltext in fragwürdiger Weise.
99 Nietzsche selbst meinte, den Wiederkunftsgedanken bereits in der griechischen Antike wieder-
zufinden: „I c h h a b e d a s G r i e c h e n t h u m e n t d e c k t : sie glaubten an die e w i g e W i e d e r -
k u n f t ! D a s i s t d e r M y s t e r i e n - G l a u b e !“ (NL 1883, 8[15], KSA 10, 340, 3–5). Die Nietzsche-
Forschung verweist überdies auf verschiedene gedankliche Vorläufer des Wiederkunftsgedan-
kens. Daher muss, sofern man angesichts des Wiederkunftsgedankens überhaupt von einer ‚Ent-
deckung‘ Nietzsches sprechen will, wenn überhaupt von eine Wieder-Entdeckung die Rede sein.
Vgl. dazu Lütkehaus, „Die indische Circe, das Nichts“.
146 Milan Wenner

sprechende Ich in FW 341 als das „g r ö s s t e S c h w e r g e w i c h t “100 bezeichnet


und der im Zarathustra zum konzeptionellen Dreh- und Angelpunkt werden wird.

3.5 Die Unendlichkeit möglicher Welt-Interpretationen


(FW 374)

Ein weiterer Abschnitt neben M 575 und FW 124, in dem die Unendlichkeit eine
wesentliche Rolle spielt, ist FW 374: Unser neues „Unendliches“. Das sprechende
Ich argumentiert in FW 374 dafür, dass die Verabsolutierung einer Perspektive
auf die Welt – im Fall des Menschen wäre das die Verabsolutierung der eige-
nen, menschlichen Perspektive,101 die auf der spezifischen Beschaffenheit des
menschlichen Wahrnehmungsapparats und Intellekts beruht – einer „lächerli-
chen Unbescheidenheit“ gleichkomme:

Wir können nicht um unsre Ecke sehn: es ist eine hoffnungslose Neugierde, wissen zu
wollen, was es noch für andre Arten Intellekt und Perspektive geben k ö n n t e : zum Beispiel,
ob irgend welche Wesen die Zeit zurück oder abwechselnd vorwärts und rückwärts emp-
finden können (womit eine andre Richtung des Lebens und ein andrer Begriff von Ursache
und Wirkung gegeben wäre).102

„Wir können nicht um unsre Ecke sehn“ heißt so viel wie: Wir können unsere
Ecke, von der aus wir die Welt in den Blick nehmen, nicht verlassen, um zu sehen,
wie die Welt von einer anderen Ecke aussieht – zum Beispiel aus der Ecke von
Wesen, die eine gänzlich andere Zeiterfahrung als wir besitzen. Gäbe es Wesen,
deren Zeiterfahrung sich von der des Menschen derart fundamental unterschei-
det, wie es das sprechende Ich gedankenexperimentell beschreibt, hätte dies für
jene Wesen auch eine ganz andere Begriffsbildung zur Folge. Ihre Begriffe von
Ursache und Wirkung, mithin das gesamte Kausalitätsverständnis wäre somit ein
ganz anderes als das des Menschen. Da das sprechende Ich die Zeit nicht als eine
objektive Größe versteht, fällt auch der Maßstab weg, anhand dessen sich ent-
scheiden ließe, ob der Mensch oder andere möglicherweise existierende Wesen
die als zeitlich erfahrenen Vorgänge in der Welt so wahrnehmen, wie sie ,wirk-

100 FW 341, KSA 3, 570, 8.


101 Damit ist freilich nicht gesagt, dass der Mensch nur eine Perspektive auf ein bestimmtes
Phänomen einnehmen könne. Er kann Phänomene auf unterschiedliche Weise beschreiben –
bspw. auf literarische, naturwissenschaftliche, soziologische etc. –, aber bei all diesen Beschrei-
bungen ist er doch an seinen spezifisch menschlichen Erkenntnisapparat gebunden, der eine
bestimmte Raum- und Zeiterfahrung bedingt.
102 FW 374, KSA 3, 626, 28–627, 4.
„Nach neuen Meeren“ 147

lich‘ sind. Ein Wesen, das die Zeit vor- und zurückempfinden könnte, würde die
Welt nicht ‚richtiger‘ wahrnehmen als der Mensch, sondern lediglich anders.
Derartige, von der menschlichen Perspektive differierende Perspektiven lassen
sich vielleicht bis zu einem gewissen Grad in Worte fassen, aber ob es sie tatsäch-
lich gibt und wie die Welt aussähe, wenn man ein solches Wesen wäre, bleibt
dem Menschen notwendigerweise unbekannt. Das sprechende Ich schlussfolgert
aus dieser Überlegung, dass es sein könne, dass die Welt „u n e n d l i c h e I n t e r -
p r e t a t i o n e n i n s i c h s c h l i e s s t “ – jedenfalls lasse sich diese Möglichkeit
„nicht abweisen“:103

Die Welt ist uns vielmehr noch einmal „unendlich“ geworden: insofern wir die Möglichkeit
nicht abweisen können, dass s i e u n e n d l i c h e I n t e r p r e t a t i o n e n i n s i c h s c h l i e s s t .
Noch einmal fasst uns der grosse Schauder – aber wer hätte wohl Lust, d i e s e s Ungeheure
von unbekannter Welt nach alter Weise sofort wieder zu vergöttlichen? Und etwa d a s
Unbekannte fürderhin als‚ „d e n Unbekannten“ anzubeten?104

Die Alternative zu einer solchen Weltsicht wäre offenkundig, dass die Welt end-
lich viele Interpretationen in sich schließt, die Anzahl der möglichen Arten, die
Welt zu interpretieren also grundsätzlich begrenzt ist. Damit wird gegen die
Unendlichkeits-Hypothese nicht nur die These ausgespielt, dass es eine privile-
gierte Weltinterpretation gäbe, sondern auch die These, dass sich zwischen den
unterschiedlichen Weltinterpretationen eine abschließende (Rang-)Ordnung her-
stellen lasse. Sind unendlich viele Interpretationen möglich, wäre jeder Versuch,
eine abschließende Ordnung bzw. Hierarchie zwischen den unterschiedlichen
Weltinterpretationen herzustellen, immer nur vorläufig und überhaupt nur durch
einen Ausschluss potentieller anderer Interpretationen möglich.
Der Begriff „Interpretation“ verdeutlicht dabei die Abhängigkeit der Erkennt-
nis vom Erkennenden, mit anderen Worten: den „perspektivische[n] Charakter
des Daseins“,105 d. h. die Standortabhängigkeit jeder Erkenntnis. Die Position des
sprechenden Ichs steht damit bis zu einem gewissen Grad in der Tradition Kants,
der sich in der Kritik der reinen Vernunft darzulegen bemüht, dass die Welt dem
Subjekt nicht objektiv bzw. „an sich“ gegeben ist, sondern durch dessen Erkennt-
nisapparat (mit)konstituiert wird. Allerdings unterscheidet sich die Position des
sprechenden Ichs von derjenigen Kants schon durch den Verzicht auf metaphy-
sikverdächtige Begriffe wie ‚Subjekt‘ oder ‚Vernunft‘ stark.106 Derartig abstrakte

103 FW 374, KSA 3, 627, 7–9.


104 FW 374, KSA 3, 627, 6–13.
105 FW 374, KSA 3, 627, 14 u. 626, 20.
106 Vgl. dazu Stegmaier, Werner, Nietzsches Befreiung der Philosophie. Kontextuelle Interpretati-
on des. V. Buchs der „Fröhlichen Wissenschaft“, Berlin / Boston 2012, S. 413.
148 Milan Wenner

Begriffe setzen eine Statik voraus, die Nietzsches Denken generell fremd ist. Nicht
ein transzendentales Subjekt interpretiert die Welt mittels unveränderlicher Er-
kenntniskategorien, sondern ein konkreter Mensch, der mit seinem Erkenntnis-
apparat als Produkt einer evolutionären und kulturellen Entwicklung alles andere
als statisch ist. Die potentielle Unendlichkeit möglicher Weltinterpretationen setzt
daher nicht einmal die mögliche Existenz fremder „Wesen“107 voraus; es reicht
schon, sich vorzustellen, das sich auf lange Sicht gesehen der menschliche
Erkenntnisapparat auf Grund kontingenter Umwelteinflüsse in ganz verschiedene
Richtungen entwickeln könnte und jede dieser Entwicklungen potentiell andere
Weltinterpretationen zur Folge hätte.
Die Position des sprechenden Ichs unterscheidet sich neben dem Verzicht auf
metaphysikverdächte Begriffe noch in einer zweiten Hinsicht von der Kants:
Während Kant den Versuch unternimmt, mithilfe des Erkenntnisapparats die
Funktionsweise und die Grenzen eben dieses Erkenntnisapparats zu erkennen,
lehnt dass sprechende Ich ein derartiges Unternehmen als hoffnungslos ab:

Wie weit der perspektivische Charakter des Daseins reicht oder gar ob es irgend einen
andren Charakter noch hat, […] das kann, wie billig, auch durch die fleissigste und peinlich-
gewissenhafteste Analysis und Selbstprüfung des Intellekts nicht ausgemacht werden: da
der menschliche Intellekt bei dieser Analysis nicht umhin kann, sich selbst unter seinen
perspektivischen Formen zu sehn und n u r in ihnen zu sehn.108

Worin eine Alternative zum perspektivischen Charakter des Daseins und zur
perspektivischen Welterkenntnis des Menschen bestehen könnte, wird nicht ge-
sagt. Als kontrastierenden Begriff könnte man dem der ‚Interpretation‘ hypothe-
tisch den Begriff des ‚Urtextes‘ gegenüberstellen. Die Welt als Urtext wäre dann
die Welt, wie sie vor aller Interpretation ‚an sich‘ bzw. objektiv gegeben ist. Das
Problem einer derartigen Unterscheidung scheint für das sprechende Ich jedoch
zu sein, dass sich zwischen ‚Urtext‘ und ‚Interpretation‘ nicht unterscheiden lässt,
da die Grenzziehung zwischen beiden aus einer bestimmten Perspektive erfolgen
muss und daher selbst bereits eine Interpretation aus einer bestimmten Perspekti-
ve ist. Es lässt sich daher mithilfe des Intellekts nicht feststellen, ob eine Eigen-
schaft einem Gegenstand nur deswegen zukommt, weil der menschliche Erkennt-
nisapparat auf eine spezifische Weise funktioniert – bspw. Farbwahrnehmungen,
die bei unterschiedlichen Lebewesen verschieden sind, ohne dass eine dieser
Wahrnehmung richtiger als die andere wäre – oder ob diese Eigenschaft dem

107 FW 374, KSA 3, 626, 32.


108 FW 374, KSA 3, 626, 19–28.
„Nach neuen Meeren“ 149

Gegenstand unabhängig von jeder Interpretation zukommt.109 Anders gesagt: Es


lässt sich nicht feststellen, ob eine Weltinterpretation ‚mehr‘ ist, als nur eine
Interpretation, weil wir diesem ‚mehr‘ keine sinnvolle Bedeutung geben können.
Wir haben keinen Begriff davon, was es hieße, wenn eine Weltwahrnehmung
nicht Interpretation wäre.
Mit dieser so lapidar vorgetragenen These kratzt das sprechende Ich freilich
nur an der Oberfläche erkenntnistheoretischer Diskussionen. Auf derartige Dis-
kussionen will es sich offenkundig gar nicht erst einlassen – eine Abneigung, von
der auch eine Notiz Nietzsches aus der Zeit zwischen Herbst 1885 und Frühjahr
1886 zeugt, in der die (behauptete) logische Unmöglichkeit derartiger Vorhaben
persifliert wird: Die Prüfung des Erkenntnisvermögens mittels des Erkenntnisver-
mögens sei „schlimmer noch als ein Streichholz prüfen wollen, bevor man es
brauchen will. Es ist das Streichholz, das sich selber prüfen will, ob es brennen
wird“.110
Der Gedanke, dass die menschliche Perspektive lediglich eine neben unend-
lich vielen anderen möglichen Perspektiven sei, hat für das sprechende Ich in
FW 374 die Konsequenz, dass sich ein „Ungeheure[s] von unbekannter Welt“111
auftut. Diese „unbekannte[ ] Welt“ ist allerdings keine Welt, die sich der Mensch
als Entdecker gänzlich vertraut machen könnte. Die Unbekanntheit der Welt liegt
darin, dass diese unendlich viele nicht-einnehmbare Perspektiven beinhalten
könnte – das sprechende Ich äußert sich hier wohlgemerkt hypothetisch. Ange-
sichts der Einsicht in die Relativität und Beschränktheit der eigenen Perspektive
und des „Ungeheure[n] von unbekannter Welt“, schaudert das sprechende Ich.
Die Wortwahl und die unheimliche Stimmung erinnern an das Gedicht Nach neuen
Meeren, in dem das lyrische Ich die Unendlichkeit selbst personifiziert: „Nur d e i n
Auge, ungeheuer / Blickt mich’s an – Unendlichkeit“. Dass dem in FW 374
sprechenden Ich und seinen Adressaten die Welt „noch einmal unendlich“ gewor-
den ist und „der grosse Schauder“ es „[n]och einmal“112 fasst, suggeriert – wie
schon in FW 343, wo dem sprechenden Ich und seinen Brüdern der Horizont
endlich „wieder frei“ erscheint und ihre Schiffe „wieder auslaufen“113 dürfen –,

109 Man mag hier geneigt sein, zu widersprechen und darauf pochen, dass sich bspw. das
spezifische Gewicht eines Wasserstoffatoms exakt angeben lasse, und dass derart quantifizierbare
Daten Objektivität besitzen. Die Frage, worin Objektivität besteht und inwiefern es dem Menschen
möglich ist, objektive Erkenntnis zu erlangen, kann hier naturgemäß nicht einmal ansatzweise
diskutiert werden.
110 NL 1885/86, 1[113], KSA 12, 37, 13–15.
111 FW 374, KSA 3, 627, 10 f.

112 FW 374, KSA 3, 627, 7–10.


113 FW 343, KSA 3, 574, 20 f.

150 Milan Wenner

dass es zuvor bereits einmal einen ähnlichen Zustand gegeben haben muss. Die
rhetorische Frage, „aber wer hätte wohl Lust, d i e s e s Ungeheure von unbekann-
ter Welt nach alter Weise sofort wieder zu vergöttlichen […] und als ‚d e n Unbe-
kannten‘ anzubeten“,114 gibt einen Hinweis darauf, um was für einen Vorzustand
es sich handeln könnte. Die Personifizierung des „Ungeheure[n] von unbekannter
Welt“ als „d e n Unbekannten“ legt nahe, dass frühere Menschen die Ungeheuer-
lichkeit der Unbekanntheit der Welt nicht ausgehalten und das Unbekannte statt-
dessen personifiziert haben, um es „an[ ]beten“ und damit verfügbar machen zu
können. Das ‚neue Unendliche‘, das sich stattdessen dem sprechenden Ich in
FW 374 zeigt, bleibt fremd und unverfügbar. Man erinnere sich an die in FW 343
angesprochene veränderte Wahrnehmung derjenigen, die von der Nachricht des
Gottestodes bereits gehört haben: Ihnen müsse „unsre alte Welt täglich abend-
licher, misstrauischer, fremder, ‚älter‘ scheinen“.115
Vor dem Hintergrund von FW 374 liest sich Nach neuen Meeren als Illustrati-
on einer postreligiösen, unheimlichen Unendlichkeitserfahrung, die in engem
Zusammenhang mit der zunehmenden Weltentfremdung infolge eines Unglaub-
würdig-Werdens der christlichen Religion steht, deren zweifelhaftes Verdienst es
war, dem Menschen die unbekannte, ,unmenschliche‘ Welt vertraut und ver-
ständlich erscheinen zu lassen. ‚Unendlich‘ ist für das sprechende Ich in FW 374
nicht mehr Gott, sondern nur noch die unverfügbare Fremdheit der Welt. Der
Rückblick auf die ganz anderen Deutungen der ‚Unendlichkeit‘, die weiter oben
entwickelt wurden, zeigt freilich, dass der Rekurs auf FW 374 nur eine Deutungs-
möglichkeit von vielen offenlegt.

4 Fazit
Wie der motivgeschichtliche Überblick gezeigt hat, greift Nietzsche mit der ‚un-
endlichen Fahrt‘ ein Motiv auf, das für die geistige Stimmung des 19. Jahrhun-
derts symptomatisch ist: Es spiegelt das Gefühl der ,transzendentalen Obdachlo-
sigkeit‘ des modernen Menschen wider, für den die Welterklärungs- und
Sinnstiftungsangebote der Religion und Metaphysik keine Glaubwürdigkeit mehr
besitzen. Zwar erscheint dem Menschen angesichts der Zerstörung des alten
Glaubens die „alte Welt täglich abendlicher, misstrauischer, fremder“,116 doch
wird sie ihm damit zugleich auch neuer. Der Mensch, der die Fremdheit der Welt

114 FW 374, KSA 3, 627, 10–13.


115 FW 343, KSA 3, 573, 16 f.

116 FW 343, KSA 3, 573, 16.


„Nach neuen Meeren“ 151

akzeptiert, ohne ihr den falschen Anschein der Vertrautheit zu geben und sich
das Fremde zurecht zu dichten, wird somit wieder zum Entdecker – zu einem
Entdecker freilich, der sich durch die radikale Infragestellung der alten Welt-
betrachtungen jede Rückkehr unmöglich gemacht hat. Das Abbrechen der Brü-
cken zum alten Festland117 bedeutet demnach nicht nur einen Verlust; neben
warnenden und resignativen Tönen finden sich in der Fröhlichen Wissenschaft
auch wiederholt Passagen, in denen der gefährliche Aufbruch in’s offene Meer
bejaht wird: „[E]ndlich dürfen unsre Schiffe wieder auslaufen, […] u n s e r Meer
liegt wieder offen da“, heißt es etwa in FW 343.118
Liest man Nach neuen Meeren vor dem Hintergrund der in diesem Beitrag
besprochenen Prosatexte, eröffnet sich eine Vielzahl an semantischen Bezügen,
die, wie gezeigt wurde, ganz unterschiedliche Deutungen nahelegen: Ob es sich
bei der „Unendlichkeit“ in Nach neuen Meeren um eine zeitliche Unendlichkeit im
Sinne der Ewigen Wiederkehr, eine individualisierte Unendlichkeit im Sinne eines
unbegrenzten schöpferischen Freiraums des säkularisierten Menschen119 oder um
eine Unendlichkeit möglicher Erkenntnisperspektiven auf die Welt handelt, lässt
sich nicht zugunsten einer dieser Deutungsoptionen entscheiden. Diese Offenheit
mag als Resultat einer Gedichtinterpretation zunächst enttäuschen; doch der Reiz
der Gedichte Nietzsches besteht nicht zuletzt gerade darin, dass sie sich nicht in
einer bloßen Lyrisierung bestimmter Philosopheme erschöpfen, sondern, wie
auch viele seiner Prosatexte, durch eine detailgenaue Lektüre eher noch rätsel-
hafter werden, als sie auf den ersten, oberflächlichen Blick zu sein scheinen.
Ein Grund für die Widersprüchlichkeit der unterschiedlichen Haltungen, mit
denen die sprechenden Ichs der Texte der ‚unendlichen Fahrt‘ gegenüberstehen,
könnte darin liegen, dass die Widersprüchlichkeit der Wechselhaftigkeit der
Stimmungen Rechnung trägt, die das neu gewonnene Freiheitsgefühl des Men-
schen angesichts seines Aufbruchs „[n]ach neuen Meeren“ begleitet. Ich schließe
mit FW 124 (Im Horizont des Unendlichen), der diesen schmalen Grat zwischen
Freiheitsemphase und Haltlosigkeit auf exemplarische Weise verdeutlicht:

Wir haben das Land verlassen und sind zu Schiff gegangen! Wir haben die Brücke hinter
uns, – mehr noch, wir haben das Land hinter uns abgebrochen! Nun, Schifflein! sieh’ dich
vor! Neben dir liegt der Ocean, es ist wahr, er brüllt nicht immer, und mitunter liegt er da,

117 Vgl. FW 124, KSA 3, 480, 10–12.


118 FW 343, KSA 3, 574, 21–24.
119 Peter Gasser versteht die „Unendlichkeit“ in Nach neuen Meeren als eine „individualisierte
Unendlichkeit“, die „im Menschen selber zu entdecken [ist] als schöpferischer Freiraum, in dem
das Individuum seine Sinnsetzung in jede Richtung neu erproben kann.“ (Gasser, Peter, „Colum-
bus novus“. Zum rhetorischen Impetus von Nietzsches Philosophie, in: Nietzsche-Studien, Jg. 24,
Berlin / New York 1995, S. 137–161, hier S. 144).
152 Milan Wenner

wie Seide und Gold und Träumerei der Güte. Aber es kommen Stunden, wo du erkennen
wirst, dass er unendlich ist und dass es nichts Furchtbareres giebt, als Unendlichkeit. Oh
des armen Vogels, der sich frei gefühlt hat und nun an die Wände dieses Käfigs stösst!
Wehe, wenn das Land-Heimweh dich befällt, als ob dort mehr F r e i h e i t gewesen wäre, –
und es giebt kein „Land“ mehr!120

120 FW 124, KSA 3, 480, 9–20.


Thomas Forrer
Philologische Dichtung: Friedrich Nietzsches
Lied eines theokritischen Ziegenhirten

Abstract: Philological poetry: Friedrich Nietzsche’s Lied eines theokritischen


Ziegenhirten. More recently, classical philology’s impact on Nietzsche’s philoso-
phical writing has been frequently explored and emphasized. This does not
apply to philology’s impact on Nietzsche’s poetry. Starting from posthumous
notes called “Wir Philologen” (according to which philologists are merely able to
perpetuate antiquity “als nachschaffende Künstler”), the essay traces relations
between philology and lyric in Nietzsche. For instance, Nietzsche’s demand for
the study of classics, which is a matter of fondly reviving antiquity while likewise
perceiving historical discrepancy, recurs particularly in terms of lyric parodies.
Using the example of Lied eines theokritischen Ziegenhirten, the author shows
Nietzsche’s references to ancient models (in this case to Theocritus’ third idyll
Kōmos) and his lyric adaptation of contents. The poem turns out to be variedly
‘philological’ by creating a montage of literary allusions, subverting the modern
notion of perfect antiquity, accentuating the literary nature of idyll genre as
opposed to pseudo-native pastoral verse and discussing Christianity’s transmis-
sion of ancient texts.

1
Das Begehren nach einer verwobenen Praxis von Wissenschaft und Poesie wird in
Nietzsches Schriften verschiedentlich geweckt, am auffälligsten vielleicht anhand
von vielversprechenden Chiffren1. Namen wie Petrarca und Boccaccio, vor allem
aber Goethe und Leopardi gelangen im Zusammenhang einer vergangenen, für
die Moderne ab 1850 kaum mehr nachvollziehbaren philologischen Beschäfti-
gung zur Sprache, die – so Nietzsches wiederholte Andeutung – in ausnehmender
Weise mit einer poetischen Tätigkeit einhergeht.2 Wie Karl Pestalozzi an Nietz-

1 Von „Chiffren“ spricht in ähnlichem Zusammenhang: Campioni, Giuliano, „Gaya scienza“ und
„gai saber“ in Nietzsches Philosophie, in: Piazzesi, Chiara / Campioni, Giuliano / Wotling, Patrick
(Hrsg.), Letture della ‚Gaia scienza‘. Lectures du ‚Gai savoir‘, Pisa 2010, S. 15–37, hier S. 26.
2 Zu Francesco Petrarca und Giovanni Boccaccio siehe: KGW II/3, 347 f.; zu Johann Wolfgang

Goethe unter anderem.: UB IV WB 10, KSA 1, 503, 9–26; MA II WS 118, KSA 2, 603, 7–14; NL 1875,
3[70], KSA 8, 34, 26–31; NL 1875, 5[17], KSA 8, 44, 19–24; NL 1875, 5[54], KSA 8, 55, 4–8; NL 1875,

DOI 10.1515/9783110474374-008
154 Thomas Forrer

sches Äußerungen zu Goethe und im Besonderen zum Faust exemplarisch vor-


geführt hat, tauchen Namen bei Nietzsche vor allem auch als gedankliche „Orien-
tierungspunkte“, gewissermaßen als „Leuchttürme“, auf.3 Sie legen eine Spur zu
vorangegangenen Auseinandersetzungen, die Nietzsche mit den Vorgängern zur
„allmählichen Verfertigung der Gedanken“ geführt hat, wobei er die betreffenden
Werke oder die Eigenschaften seiner „Gesprächspartner“, mit denen er seine
eigenen Überlegungen angestellt hat, oft mit kaum einem Wort erwähnt.4 Ähnlich
verhält es sich mit einer zweiten Gruppe von Chiffren, die Nietzsche für eine
historisch entlegene Verbindung von Wissenschaft und Poesie anführt. Die Rede
ist zum einen von den Renaissance- und „Poeten-Philologen“,5 zum anderen von
den provenzalischen Trobadors und der sogenannten gaya scienza, die Anlass für
den Buchtitel „Die fröhliche Wissenschaft“ gegeben haben.6
In den Notizen Nietzsches mögen solche Namen und Stichworte der Gedan-
kenstütze dienen, in den ausgeführten Schriften hat die Geräumigkeit dieser
Nennungen jedoch durchaus Methode. So bezeichnet Nietzsche Die fröhliche
Wissenschaft einmal als seine eigene „geheime Weisheit und gaya scienza“ und
erläutert die Esoterik dabei wie folgt: „Wir ‚conserviren‘ Nichts, wir wollen auch
in keine Vergangenheit zurück“.7 Solche Distanz gegenüber dem historisch Mo-

5[109], KSA 8, 69, 3–18; NL 1875/76, 14[3], KSA 8, 274, 7–13; KGW II/3, 368 (vgl. auch KGW II/4,
433); zu Giacomo Leopardi: UB IV WB 10, KSA 1, 503, 9–26; NL 1875, 3[23], KSA 8, 22, 1–3; NL 1875,
5[17], KSA 8, 44, 19–24; NL 1875, 5[56], KSA 8, 56, 9–11. – Vgl. Campioni, Giuliano, Der französische
Nietzsche, Berlin 2009, S. 174–177.
3 Pestalozzi, Karl, „Hier ist die Aussicht frei, der Geist erhoben“. Nietzsche liest Goethe, in: Nietz-
sche-Studien, Jg. 41, Berlin / Boston 2012, S. 17–42, hier S. 21.
4 Pestalozzi, „Hier ist die Aussicht frei, der Geist erhoben“, S. 22, 24, 29, 38.
5 UB IV WB 10, KSA 1, 503, 19; NL 1875, 3[15], KSA 8, 19, 4; NL 1875, 5[17], KSA 8, 44, 19; NL 1875,
5[107], KSA 8, 68, 29 f.; NL 1875, 5[109], KSA 8, 69, 12; NL 1875/76, 14[3], 274, 11.

6 Vgl. JGB 254, KSA 5, 199, 33–200, 8; JGB 260, KSA 5, 212, 17–23; KGB 293, KSA 5, 236, 14–17;
EH FW, KSA 6, 333 f.; NL 1883, 7[44], KSA 10, 257, 15–17; NL 1885, 34[181], KSA 11, 482, 12–14; Brief

an Erwin Rohde, Anfang Dezember 1882, KSB 6, Nr. 345, S. 292, Z. 34–36. – Campioni, „Gaya
scienza“ und „gai saber“ in Nietzsches Philosophie, macht auf mehrere Quellen aufmerksam, aus
denen Nietzsche Kenntnisse über die Troubadour-Tradition, die Gaya scienza und die Kultur des
„Provenzalischen“ gewonnen hat, und er weist auf einige Parallelen zwischen den Quellen und
Äußerungen Nietzsches hin, welche den Bedeutungsspielraum des „Provenzalischen“ bei Nietz-
sche jedoch weiterhin offenlassen. – Babich, Babette E., Musik und Wort in der antiken Tragödie und
‚La gaya scienza‘. Nietzsches „Fröhliche“ Wissenschaft, in: Nietzsche-Studien, Jg. 36, Berlin / New
York 2007, S. 230–257, hier S. 244, bemerkt: „Wir brauchen mehr als nur eine Wiedererinnerung
des provençalischen Charakters und der provençalischen Atmosphäre der Troubadour-Kunst, um
Nietzsches Entwurf einer fröhlichen Wissenschaft zu verstehen, auch wenn der Geist von Okzita-
nien, in Anbetracht eines Elements einer komplexen und ,unfreiwillige[n] Parodie‘ (FW 382),
gewiss dabei hilft.“
7 FW 377, KSA 3, 628, 26 (Hervorhebung TF) u. 629, 6 f. 
Philologische Dichtung 155

numentalen korrespondiert mit Pestalozzis Befund zu Nietzsches Goethe-Lektü-


ren:

Wenn „lesen“ heißt, sich auf einen Autor einlassen, ihn in seiner Eigenart ernst nehmen, ihn
aus sich selbst verstehen, sich von ihm verwandeln lassen, gar von ihm lernen, so finden wir
davon nichts in Nietzsches Umgang mit Goethe. Er benutzt Goethe vielmehr stets dazu, seine
Ideen seinem Lesepublikum wirkungsvoll zu präsentieren […]. Am produktivsten ist sein
Verhältnis zu Goethe dann, wenn er mithilfe der Parodie zu neuen eigenen Einsichten und
Formulierungen gelangt.8

Allerdings kann Nietzsches Umgang mit den Schriften der anderen auch ein
Modell für den Umgang mit Nietzsches eigenen Schriften abgeben. Denn wie die
vagen Bezugnahmen und vielsagenden Andeutungen weite Deutungs- und Ge-
dankenspielräume eröffnen, so begünstigen sie wiederum Lektüren, die selbst für
den Verfasser dieser Andeutungen kaum absehbar sind. Im „Vorspiel“ der Fröhli-
chen Wissenschaft hat Nietzsche diese Lektüre-Haltung mit folgenden Reimen
bedacht:

Vademecum – Vadetecum.
Es lockt dich meine Art und Sprach,
Du folgest mir, du gehst mir nach?
Geh nur dir selber treulich nach: –
So folgst du mir – gemach! gemach!9

Das Gedicht problematisiert die Instruktion durch Texte gegenüber der individu-
ellen und einmaligen Lektüre und umschreibt über den Doublebind – ‚geh dir
selber nach, so folgst du mir‘ – eine unmögliche Möglichkeit, in deren Zusam-
menhang auch Nietzsches Rede von seiner eigenen „geheime[n] gaya scienza“
verstanden werden kann. Die historischen Quellen, wie immer man sie angeht,
lassen das Geheimnis nicht lüften, und dass Nietzsches Schriften dafür kaum
einen Schlüssel an die Hand geben, gehört zu ihrer Anlage: „die Schuld“, schreibt
Nietzsche in der Vorrede der Streitschrift Zur Genealogie der Moral, liegt „nicht
nothwendig an mir“, die Schrift „ist deutlich genug“. Es mangle hingegen an der
„K u n s t “ des Lesens und der Auslegung,10 d. h. nicht nur am Handwerk, sondern

auch an einem produktiven Vermögen dazu. ‚Geheim‘ erscheint Nietzsches eigene


gaya scienza vor allem unter konventionellen Lektüre-Erwartungen. Das berühm-
te „W i e d e r k ä u e n …“, das Nietzsche als Mittel zur „Lesbarkeit“ seiner Schriften

8 Pestalozzi, „Hier ist die Aussicht frei, der Geist erhoben“, S. 41 f.

9 FW Vorspiel 7, KSA 3, 354, 20–24.


10 GM Vorrede 8, KSA 5, 255, 14 f. u. 256, 3.

156 Thomas Forrer

empfiehlt,11 das wiederholte Auslegen und Erwägen, richtet sich demnach weni-
ger gegen den Widerstand der Schriften selbst als gegen die Widerstände der
Leserin oder des Lesers. Fern davon, die Lesenden einfach einzuweihen, gewäh-
ren die Schriften den Raum zu einer Auseinandersetzung, die sich im Sinne des
Vadetecum sowohl an als auch gegenüber der Schrift zu vollziehen hat. Wenn es
in der Struktur des Geheimnisses der „gaya scienza“ liegt, ein Lektüre-Begehren
zu wecken, das einer Verbindung von Poesie und Wissenschaft in den Schriften
nachgehen soll, so ist es dieselbe Struktur, die den Zufall, und das heißt beson-
ders den Einfall (sowie dessen wiederholte Erwägung), begünstigt, da sie ver-
hindert, dass die Distanz zwischen Schrift und Lektüre jemals zur Auflösung
gelangt. Auf diese Distanz deuten auch die drei Halbgeviertstriche in dem oben
zitierten Vierzeiler hin.
Wenn die Aufmerksamkeit im Folgenden dem problematischen Verhältnis
von Poesie und Wissenschaft gilt, so soll es daher nicht allein darum gehen, die
Rolle der Kunsttätigkeit im Rahmen der Wissenschaft und vor allem im Rahmen
der klassischen Philologie anhand von wissenschaftskritischen Überlegungen
Nietzsches auseinanderzusetzen – sondern zugleich einem Lektüre-Einfall zu
folgen, der Nietzsches eigene Lyrik betrifft. Ähnlich wie die sogenannten „Poe-
ten-Philologen“, die Nietzsche erwähnt, hat er von seiner Jugend an eine große
Zahl von Gedichten verfasst,12 und ab 1877 erfolgt Nietzsches lyrisches Schreiben
immer wieder parallel zur Arbeit an seinen kulturkritischen und philosophischen
Werken.13 Schon in der Geburt der Tragödie fragt Nietzsche, ob die Kunst nicht
auch „ein nothwendiges Correlativum und Supplement der Wissenschaft“ sei.14
Ein solches Verhältnis kann sich einstellen, wenn Kunstwerke den Gegenstand
und das „Reflexionsmedium“ zu einer kritischen Beschäftigung abgeben,15 wobei
die Kunst auch selbst ein Austragungsmedium entsprechend kritischer Unterneh-
men bilden kann. Deshalb soll hier Nietzsches Lyrik zu Rate gezogen werden:
Wenn Nietzsche mitunter die „Poeten-Philologen“ aufruft, finden wir in seiner
lyrischen Produktion auch eine philologische Poesie?

11 GM Vorrede 8, KSA 5, 256, 7 u. 5.


12 Von den gut 740 Gedichten und Versentwürfen Nietzsches, die uns erhalten sind (Zählung des
Verfassers), hat er 105 zu Lebzeiten veröffentlicht oder 1889 für die Veröffentlichung noch vor-
bereitet. Knapp 300 stammen aus der Jugendzeit (1852–67).
13 Vgl. NL 1877, 22[61]–22[135], KSA 8, 389–403.
14 GT 14, KSA 1, 96, 31 f.

15 Vgl. Benjamin, Walter, Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, in: Ders., Werke
und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 3, hrsg. v. Uwe Steiner, Frankfurt/Main 2008, S. 70.
Philologische Dichtung 157

2
In der Fröhlichen Wissenschaft gelangt das Zusammenspiel bzw. das wechselseiti-
ge Umspielen von Kunst und Wissenschaft nicht nur am Untertitel („la gaya
scienza“) zur Sprache, sondern es wird vor allem an der Anlage des Buches
vorgeführt. Nietzsche hat den Untertitel in der zweiten Ausgabe von 1887 hin-
zugefügt, und dies in Klammern und in Anführungszeichen, was wiederum einen
deutlichen Abstand gegenüber der gaya scienza der provenzalischen Trobadors
markiert. Diese Umkehr bei gleichzeitiger Distanzierung weist das, was „fröhliche
Wissenschaft“ heißen soll, zugleich für unzeitgemäß aus, und entsprechend ver-
hält sich diese Wissenschaft auch zur Zukunft. Die „fröhliche Wissenschaft“,
erläutert Nietzsche in der Vorrede zur zweiten Ausgabe knapp, stehe im Zeichen
der Genesung, es handle sich um die Wissenschaft eines „neu erwachten Glau-
bens an ein Morgen und Uebermorgen“, eines „plötzlichen Gefühls und Vor-
gefühls von Zukunft“.16 Die Rede vom „Vorgefühl“ gibt zu verstehen, dass diese
„Wissenschaft“ keine Vision formuliert und keine Instruktionen gibt, vielmehr
bereitet sie den Schauplatz einer unerwartbaren Ankunft, im Sinne des grie-
chischen Wortes parousía, das Martin Luther noch mit „Zukunfft“ übersetzte.17
Viele der Darstellungen in der Fröhlichen Wissenschaft folgen dieser Zeitstruktur.
Im Aphorismus 125 ruft die Formel „Gott ist todt!“ ein Heer von rhetorischen
Fragen auf, die alle zu verstehen geben: „Diess ungeheure Ereigniss ist noch
unterwegs und wandert“, seine Ankunft steht aus.18 Ähnliches bei der ‚ewigen
Wiederkunft‘; sie gelangt zur Sprache im Rahmen eines Gedankenexperiments
(„Wie, wenn dir […] ein Dämon […] sagte“), das in die Frage mündet: „hast du
einmal einen ungeheuren Augenblick erlebt“, in dem du die Vorstellung, dass
„alles unsäglich Kleine und Grosse deines Lebens […] dir wiederkommen“ müsse,

16 FW Vorrede 1, KSA 3, 346, 3–5.


17 Biblia: Das ist: Die gantze Heilige Schrift / Deudsch / Auffs new zugericht [v.] Martin Luther
[1545], Faksimile-Ausgabe, Stuttgart 1967 (s. p.), Mt 24, 27: „Denn gleich wie der Blitz ausgehet
vom auffgang / und scheinet bis zum nidergang / Also wird auch sein die Zukunfft [griech.
παρουσία] des menschen Sons.“ – Vgl. Wettstein, Jacobus (Hrsg.), Novum Testamentum Graecum
[1752], 2 Bde., Graz 1962, Bd. 2, S. 502.
18 FW 125, KSA 3, 481, 15 u. 30 f. – Eine eingehende Lektüre des Aphorismus unternimmt:

Thüring, Hubert, Nietzsches Messianismus. Eine Interpretation des ‚Tollen Menschen‘ unter Ein-
bezug von Giorgio Agamben, Pierre Legendre und René Girard, in: Mein, Georg (Hrsg.), Die
Zivilisation des Interpreten. Studien zum Werk Pierre Legendres, Wien 2011, S. 315–346. Thüring
legt den Abschnitt aus als Umschreibung eines „Ausnahmezustand[s] der Schwebe oder Span-
nung zwischen dem Moment der Erlösung vom Gewesenen und der Bindung an das Kommende“
(S. 338).
158 Thomas Forrer

bejahen konntest?19 Es gehört zur Anlage von Nietzsches Buch, die Schwelle des
Vorgefühls nicht zu übertreten, stattdessen wird ein antinomisches Feld auf-
gespannt: am einen Pol das „intellectuale Gewissen“, das als „Gewissen hinter
[dem] ,Gewissen‘“ kritisch und unnachgiebig nach der Herkunft der letzten Grün-
de fragt,20 am anderen Pol das Bewusstsein von der unentrinnbaren Welt des
Scheins, in welcher die Menschen leben und träumen. Dieses Bewusstsein wiede-
rum gipfelt nach Nietzsche in den schönen Künsten, in der menschlichen Freiheit
nämlich, „sich vor sich selber ‚in Scene zu setzen‘“,21 indem man ein Bild von sich
und der scheinhaften Welt macht.22
„Fröhliche Wissenschaft“ heißt demnach eine kritische und aufklärerische
Wissenschaft, welche die Verhaftung im Schein und die damit einhergehende
poetische Freiheit stets mitberücksichtigt. Dafür sprechen die aphoristische
Schreibweise sowie Nietzsches nachdrücklicher Gebrauch des rhetorischen
Ornatus – und schließlich der Umstand, dass das Buch Gedichte enthält. Be-
kanntlich beginnt die erste Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft von 1882 mit der
Gedicht- und Spruchsammlung „Scherz, List und Rache.“, während in der Aus-
gabe von 1887 die Lieder des Prinzen Vogelfrei als „Anhang“ hinzukommen. Viele
dieser Lieder sind in einem ‚närrischen‘ Ton gehalten, in ihnen macht sich „ein
Dichter“, wie es in der Vorrede heißt, „auf eine schwer verzeihliche Weise über
alle Dichter lustig“.23 Was also kann es bedeuten, dass Nietzsche die Gedichte
unter den Titel einer Wissenschaft, einer „fröhlichen Wissenschaft“ stellt?
Hinweise dazu finden sich auch in Nietzsches Auseinandersetzungen mit der
Philologie: Zum einen korrespondiert das „intellectuale Gewissen“ – das kritische
Prinzip der Fröhlichen Wissenschaft, das auch die „letzten und sichersten Gründe“
angeht24 – mit der historisch-kritischen Methode der klassische Philologie, der
einzigen Disziplin, in der Nietzsche „gründliche und methodische Kenntnisse“
besaß.25 Zum andern lassen sich in Nietzsches philologischen Aufzeichnungen
Spuren eines „Vorgefühls von Zukunft“ ausmachen. In den Notizen zur geplanten
‚Unzeitgemässen Betrachtung‘ mit dem Titel „Wir Philologen“26 heißt es: „Man
glaubt es sei zu Ende mit der Philologie – und ich glaube, sie hat noch nicht

19 FW 341, KSA 3, 570, 8–15 u. 21 f.  

20 FW 2, KSA 3, 373, 2; und FW 335, KSA 3, 561, 13.


21 FW 78, KSA 3, 434, 6.
22 Vgl. FW 54, KSA 3, 416 f.; und FW 107, KSA 3, 464 f.
   

23 FW Vorrede 1, KSA 3, 346, 23 f.


24 FW 2, KSA 3, 373, 15 f.

25 Benne, Christian, Nietzsche und die historisch-kritische Philologie, Berlin 2005, S. 1.
26 NL 1875, KSA 8, 14, 1–3.
Philologische Dichtung 159

angefangen.“27 Nietzsche notiert diesen Gedanken in seiner Basler Zeit, ein Jahr
nachdem er die Vorlesung Encyklopaedie der klass[ischen] Philologie28 zum zwei-
ten Mal gehalten hat. In ihr führt er in die Methode der historischen Textkritik ein,
wie er sie sich in seinem Studium bei Friedrich Ritschl angeeignet hatte. Im
Zentrum der Vorlesung stehen die Überlieferungskritik und die kritische Aus-
legung antiker Textzeugnisse. Inwiefern, so ist zu fragen, hat für Nietzsche die
Philologie „noch nicht angefangen“?
In seiner Monographie Nietzsche und die historisch-kritische Philologie hat
Christian Benne nachhaltig dargelegt, dass sich Nietzsche – auch nach der Basler
Professur – von der historisch-kritischen Methode nicht abgewandt habe. Die
Philologie kehrt unter dem Stichwort der „Genealogie“ als historische Kulturkritik
in seinen Schriften wieder. „In der Studenten- und frühen Professorenzeit“,
schreibt Benne, widmet Nietzsche „seine Kraft [den] Texten (und Kunstwerken)
aller Art. Die dabei erworbenen methodischen Grundsätze überträgt er im An-
schluss daran auf das Gebiet, das ihn für die nächsten Jahre am meisten beschäf-
tigen soll, auf historische und kulturphilosophische sowie moralische Phänome-
ne.“29 Nietzsches Notizen zu „Wir Philologen“ enthalten indes auch deutliche
Invektiven gegen die Philologie seiner Zeit, was die Nietzsche-Rezeption lange
dazu veranlasst hat, Nietzsches philologische Arbeiten gegenüber dem philoso-
phischen und kulturkritischen Werk zu vernachlässigen, wie Benne bemerkt.30
Dass Nietzsche dabei die Verbeamtung der Philologen und ihre pädagogisch
motivierte Idealisierung der Antike angreift, lege vielmehr ein „Residuum“ frei,
das „die Philologie überhaupt erst als Wissenschaft legitimiert“.31
Im Nachlass zu „Wir Philologen“ geht es also um mehr als um die Wieder-
herstellung einer inzwischen verkommenen Disziplin. Wiederholt kreisen die
Notate um den grundlegenden Widerspruch zwischen kritischer Tätigkeit und
künstlerischem Schaffen. Wenn Nietzsche dazu ansetzt, das Bildungsideal der
klassischen Philologie niederzureißen, so konfrontiert er dabei das Humanisti-

27 NL 1875, 3[70], KSA 8, 34, 26 f.


28 KGW II/3, 339–437.


29 Benne, Nietzsche und die historisch-kritische Philologie, Kap. 3, hier S. 129 f. – siehe auch:

Ders., Methodische Aspekte der Philologie im Denken Nietzsches, in: Knoche, Michael / Ulbricht,
Justus H. / Weber, Jürgen (Hrsg.), Zur unterirdischen Wirkung von Dynamit. Vom Umgang Nietz-
sches mit Büchern zum Umgang mit Nietzsches Büchern, Wiesbaden 2006, S. 15–33.
30 Benne, Nietzsche und die historisch-kritische Philologie, S. 22.
31 Benne, Nietzsche und die historisch-kritische Philologie, S. 23. – Vgl. Nebrig, Alexander, Nietz-
sches Dichterbild und die Wiederbelebung des Dithyrambus durch die Philologie, in: Ders. / Dehr-
mann, Mark Georg (Hrsg.), Poeta philologus. Ein Schwellenfigur im 19. Jahrhundert, Bern 2010,
S. 219–242, hier S. 225 f.

160 Thomas Forrer

sche mit dem Menschlichen,32 und dieses assoziiert er wiederum mit der un-
abwendbaren Freiheit zu schöpfen und zu schaffen.33 Und so notiert er: „[N]ur als
Schaffende [werden wir] etwas von den Griechen haben können. Worin aber
wären die Philologen Schaffende!“34 Daher weist er in der Basler Vorlesung die
angehenden Philologen dazu an, nicht nur „Stellen“ zu exzerpieren, sondern vor
allem auch „E i n f ä l l e “ zu notieren,35 und er warnt die Studenten vor allzu viel
Lektüre. Es sei „das sicherste Mittel, um keine eigenen Gedanken zu haben, in
jeder freien Minute ein Buch in die Hand zu nehmen“.36 Es gehöre zwar zur
Philologie, „sich in’s Alterthum liebevoll hineinzuleben“, doch ebenso gelte es,
die „Differenz“ zu empfinden, und es sei das „Wichtigste […] (u. das Schwerste)“
des philologischen Geschäfts, genau diese Spannung aufrechtzuerhalten. Nietz-
sche verlangt von den Studenten nicht weniger, als dass sie ‚moderne Menschen‘
werden,37 welche die „Antinomie der Philologie“ – wie er die Spannung in „Wir
Philologen“ auch nennt38 – produktiv zu machen vermögen.
Entsprechend ist Philologie nicht allein als textkritische, sondern explizit als
historisch-kritische Wissenschaft zu betreiben. Dahin deutet das philosophische
Propädeutikum, das Nietzsche vorschlägt, damit der Philologe „nicht einmal dem
Fabrikarbeiter gleicht“ und stattdessen die „Klassicität des Alterthums gegenüber
der modernen Welt“ je neu zu beurteilen vermag.39 Die historische Kritik betrifft
aber genauso die eigene Zeit,40 wenn Nietzsche in „Wir Philologen“ notiert: „aus
dem Erlebten hat man sich das Alterthum erklärt, und aus dem so gewonnenen
Alterthum hat man sich das Erlebte t a x i e r t , abgeschätzt. So ist freilich das
E r l e b n i s s die unbedingte Voraussetzung für einen Philologen“.41 An anderer
Stelle setzt Nietzsche überhaupt die „Einsicht in die moderne Verkehrtheit“ in
den Ausgang zur Philologie: „vieles sehr Anstössige im Alterthum erscheint dann
als tiefsinnige Nothwendigkeit.“42 Erfolgt die moderne philologische Beschäfti-
gung anlässlich eines zeitgenössischen Erlebnisses, geht sie je schon aus histori-

32 Vgl. NL 1875, 3[12], KSA 8, 17, 19–18, 10; und NL 1875, 5[60], KSA 8, 58, 1–9.
33 Besonders eingehend in dem nachgelassenen Essay von 1873, Ueber Wahrheit und Lüge im
aussermoralischen Sinne, KSA 1, 873–890.
34 NL 1875, 7[1], KSA 121, 22 f. 

35 KWG II/3, 404.


36 KWG II/3, 406.
37 KWG II/3, 368.
38 NL 1875, 3[62], 31, 6 f.

39 KGW II/3, 369 f.  

40 Vgl. NL 1875, 7[7], KSA 8, 127, 6–8: „D r e i D i n g e m u ß d e r P h i l o l o g e […] v e r s t e h e n ,


d a s A l t e r t h u m , d i e G e g e n w a r t , s i c h s e l b s t “.
41 NL 1875, 3[62], KSA 8, 31, 10–13.
42 NL 1875, 3[52], KSA 8, 28, 18–21.
Philologische Dichtung 161

scher Differenz hervor, während die Distanz gegenüber der eigenen Zeit im
‚Hineinleben‘ und in der kritischen Auseinandersetzung mit überlieferten Zeug-
nissen gefördert wird.43 In diesem Sinne wirkt der moderne Philologe als „Selbst-
denker“,44 d. h. unzeitgemäß.

Es ist vielleicht überraschend, aber vor dem Hintergrund der Geburt der
Tragödie durchaus nachvollziehbar, dass Nietzsche den Studierenden auch die
„p r a k t i s c h e K u n s t t h ä t i g k e i t “ als Mittel empfiehlt, um ein Empfinden für
jene Differenzen zu gewinnen.45 Denn die Kunsttätigkeit, auch die dionysische,
um die es in der Tragödienschrift geht, vollzieht sich je schon in der Sphäre des
Apollinischen;46 sie übersetzt, analog zum Traum, die Welt des Scheins in eine
weitere, scheinhafte Welt und schafft damit eine Distanz zur ersteren. In der
Erzeugung von Differenz, wie sie Nietzsche im Polyptoton vom „S c h e i n d e s
S c h e i n s “ formuliert, vollzieht sich das schaffende Moment des Künstlers.47
Doch erst mit Einwirkung der bejahenden und ikonoklastischen Gewalt des
Dionysischen entspringe der griechischen Kunst ein ‚zeitloses‘ Moment „ausser-
halb aller Gesellschaftssphären“,48 das Nietzsche – damals noch metaphysisch –
in einer Aufzeichnung auch als künstlerischen „Schein des Seins“ oder als
„Wiederspiegelung des ewigen Ur-Einen“ umschreibt und mit der Lyrik des
Archilochos und mit der attischen Tragödie verbindet.49
Aber auch der Philologie wohnt eine zersetzende Kraft inne, die nicht für
dionysisch, sondern im Gegenteil für aufklärerisch und analytisch gelten kann,
wie Nietzsche in seiner Vorlesung an der historisch-kritischen Methodik vorführt.
Kunsttätigkeit in der Sphäre der klassischen Philologie hätte dann die intensive
Auseinandersetzung mit den Textzeugnissen und dem je vorherrschenden Anti-
ke-Verständnis zur Voraussetzung, wobei es der Kunst zukommt, bei aller Hin-

43 Vgl. die „H a u p t g e s i c h t s p u n c t e in Bezug auf spätere Geltung des Alterthums“ (NL 1875, 3
[74], KSA 8, 35, 11 f.), insbesondere Abs. 4 (35, 21–23).

44 KGW II/3, 344.


45 KGW II/3, 368.
46 Siehe GT 5, KSA 1, 43, 33–44, 6, wo es vom dionysisch-musikalischen Lyriker heißt: „Er ist
zuerst, als dionysischer Künstler, gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und Widerspruch,
eins geworden und producirt das Abbild dieses Ur-Einen als Musik […]; jetzt aber wird diese Musik
ihm wieder wie in einem g l e i c h n i s s a r t i g e n T r a u m b i l d e , unter der apollinischen Traum-
einwirkung sichtbar.“ – Vgl. Die dionysische Weltanschauung 2, KSA 1, 564, 12–16: „die eigentli-
che Kunst ist das Erschaffenkönnen von Bildern, gleichgültig, ob dies das Vor-schaffen oder
Nach-schaffen ist. Auf dieser Eigenschaft – einer allgemein menschlichen – beruht die K u l t u r -
b e d e u t u n g der Kunst.“
47 GT 4, KSA 1, 39, 8.
48 GT 8, KSA 1, 61, 27.
49 NL 1870/71, 7[126], KSA 1, 184, 17 f. 
162 Thomas Forrer

wendung zur Antike immer auch eine Distanz ihr gegenüber zu erzeugen. In
Nietzsches Notizen zu „Wir Philologen“ heißt es: „die Philologen [wollen] die
Wirkung des Alterthums verewigen: das können sie nur als n a c h s c h a f f e n d e
K ü n s t l e r . Nicht als nachlebende Men〈schen?〉“.50 Die Unterscheidung zwischen
‚nachschaffen‘ und ‚nachleben‘ gibt einen wichtigen Hinweis auf die Rolle der
Kunsttätigkeit in der Sphäre klassischer Philologie. Nietzsches Rede vom ‚Nach-
leben‘ ist im Zusammenhang der pädagogischen Orientierung an einer moralisch
verklärten Antike zu verstehen, wie er sie in „Wir Philologen“ kritisiert. Wenn die
pädagogisch motivierte Philologie die „Wirkung“ der Antike „verewigen“ will, so
hebt sie vereinzelte, klassische Werte über die Zeit und arbeitet an deren Wieder-
verwirklichung, was Nietzsche bisweilen auch als Versuch zur „Nachahmung“
bezeichnet und mit der „Flucht aus der Wirklichkeit“ verbindet.51 Dagegen be-
zeichnet ‚nachschaffen‘ eine Praxis, die den entsprechenden Restitutionsbemü-
hungen zuwiderläuft, und gerade sie soll die Wirkung der Antike verlängern.
Auch in diesem Zusammenhang verwendet Nietzsche das Wort „Nachahmung“,52
verbindet es jedoch mit jener antinomischen Haltung, die er in der Vorlesung als
das „Wichtigste […] (u. das Schwerste)“ bezeichnet, nämlich „sich in’s Alterthum
liebevoll hineinzuleben u. die Differenz zu empfinden“. In den Notizen zur
Philologie kehrt sie als „M a a ß des Studiums“ wieder, wobei auch hier der Aspekt
der Differenz an die Produktion übertragen wird, wenn es heißt: „n u r wa s z u r
N a c h a h m u n g r e i z t , w a s mit Liebe ergriffen wird und fortzuzeugen verlangt,
soll studirt werden.“53 So wie das Verb ‚nachschaffen‘ eine historische Umkehr
mit schöpferischer Tätigkeit verbindet, umschreibt das erotische Vokabular von
„Liebe“ und ‚fortzeugen‘ ein produktives Verhältnis, das als Wiederholung bei
Wahrung von Differenz begriffen werden kann; das Präfix „fort-“ bedeutet Fort-
setzung und Distanzierung im Akt des Erzeugens gleichermaßen. Der Gedanke
findet in Platons Symposion einen Vorläufer, in der Rede der Diotima, wo es heißt:

Denn die Liebe, o Sokrates, geht gar nicht auf das Schöne, wie du meinst. – Sondern worauf
denn? – Auf Erzeugung und Geburt im Schönen. […]

50 NL 1875, 7[2], KSA 1, 122, 3–5.


51 NL 1875, 3[16], KSA 8, 19, 6 u. 8; vgl. NL 1875, 3[40], 25, 22; und NL 1875, 5[15], 43, 23 f. – Zu

beachten ist, dass der Gebrauch einzelner Termini in den Notizen zu „Wir Philologen“ je nach
Gedankenzusammenhang stark variiert: So wird das ,Nachleben‘ im Notat 5[167] auch als Mittel
gegen die disziplinierte Philologie empfohlen: „Man versuche alterthümlich zu leben – man
kommt sofort hundert Meilen den Alten näher als mit aller Gelehrsamkeit.“ (NL 1875, 5[167], KSA
8, 89, 8–10).
52 NL 1875, 6[1], KSA 8, 97, 1.
53 NL 1875, 5[171], KSA 8, 89, 26–90, 2.
Philologische Dichtung 163

[A]uf diese Weise wird alles Sterbliche erhalten, nicht so, daß es durchaus immer
dasselbe wäre, wie das Göttliche, sondern indem das Abgehende und Veraltende ein
anderes Neues solches zurückläßt, wie es selbst war. Durch diese Veranstaltung, o Sokrates,
sagte sie, hat alles Sterbliche teil an der Unsterblichkeit, der Leib sowohl als alles übrige;
das Unsterbliche aber durch eine andere.54

Keine Kontinuität oder göttliche Konstanz, sondern die Wiederholung durch ein
„anderes Neues solches“ gewährt den Erhalt des Sterblichen. Das gilt im Sym-
posion auch für die einzelne Erkenntnis. Auch sie ist vergänglich und lebt durch
erneutes „Nachsinnen“ (meléte) nur mehr als „Erinnerung“ (mnéme) fort.55 Wenn
Platon damit der Serialität das Wort reden lässt, geschieht dies indes vor dem
Horizont des Identischen – gleich Scheinendes hat Anteil am gleich Seienden –;
Nietzsche hingegen geht es um die Differenz in der Wiederholung des Vergäng-
lichen. Voraussetzung dafür ist die historische Immanenz, wie er sie bekräftigt,
wenn er in den Notizen etwa die Idee der „Vorsehung“ verwirft56 oder zur Idee der
„n a t u r g e m ä s s e n Entwicklung“ aufschreibt: „Die Kette von einem Genius zum
andern ist selten eine gerade Linie“.57 Keine Fortsetzung, sondern ein ‚fruchtbares
Ringen‘ zeichnet das Verhältnis des Genies zu den Früheren aus, aber auch das
zur eigenen Gegenwart.58
Für diesen Begriff des Genies als eines unzeitgemäßen und in gewissem Sinne
auch historisch-kritischen Menschen ruft Nietzsche immer wieder den Namen
Goethes auf. Das verleiht der philologisch-künstlerischen Praxis des ‚Nachschaf-
fens‘ oder ‚Fortzeugens‘ ein gewisses Profil. Während bei Platon die zeugende
Wiederholung bei aller Differenz im Scheinenden schließlich doch im Zeichen der
Versöhnung – das heißt in Analogie zum Unsterblichen – steht, hebt Nietzsche
einen agonalen Zug am künstlerischen ‚Fortzeugen‘ hervor: „In d e r Art hat
Goethe das Alterthum ergriffen: immer mit wetteifernder Seele.“59 Wenn Goethe

54 Platon, Symposion, in: Ders., Sämtliche Werke, 4 Bde., übersetzt von Friedrich Schleiermacher,
auf der Grundlage der Bearbeitung von Walter F. Otto, Ernesto Grassi und Gert Plamböck
neu hrsg. von Ursula Wolf, Reinbek bei Hamburg 2000, Bd. 2, S. 37–102, hier S. 81 u. 83 (206e,
208a–b).
55 Platon, Symposion, S. 82 f. (207e–208a).

56 NL 1875, 5[16], KSA 1, 44, 6 f.


57 NL 1875, 5[146], KSA 8, 77, 24 u. 77, 30–78, 1.


58 Vgl. NL 1875, 5[167], KSA 8, 89, 4 f.; außerdem: NL 1875, 5[99], 66, 15 f.: „Es giebt für das Genie
   

keine Vorsehung“.
59 NL 1875, 5[172], KSA 8, 90, 6 f. – Nietzsche adaptiert ein Goethe-Zitat aus dem Notat NL 1875,

3[48], KSA 8, 27, 10 f.: Die Alten seien „die Verzweiflung der Nacheifernden“. Montinari weist

darauf hin, dass das Zitat aus Goethes Essay-Beitrag in Winckelmann und sein Jahrhundert (hrsg.
von J. W. Goethe, 1805), Abschnitt „Antike“, stammt (vgl. KSA 14, 558).
164 Thomas Forrer

daher als letzter „Philologen-Poet[ ]“ gehandelt wird,60 so zeichnet sich ab, worin
die Wirkung des Altertums erhalten werden kann: Gegenüber der disziplinierten
Philologie liefern die ‚nachschaffenden‘ Künstler-Philologen eine vage Vorstel-
lung davon, dass in der „Liebe“ bzw. in der agonalen Hinwendung zur Antike ein
zeugender Gehalt gefördert werden kann, der ein – im emphatischen Sinne –
„anderes Neues solches“ hervorbringen lässt, worin die Antike auch gegenüber
der eigenen Zeit je neu und anders wiederkehrt. In der Vorlesung zur Philologie
spricht Nietzsche auch von Nachahmung „im großen Stile“.61
Mit der „Differenz“, deren Empfindung Nietzsche in der Vorlesung zum
„Wichtigsten“ der Philologie rechnet, ist jedoch nicht nur die historische gemeint.
Wenn es von Goethe in „Wir Philologen“ heißt, dass er vom Altertum „gewiß
nicht soviel als ein Philologe“ verstand,62 dann bildet die ästhetische Idealisie-
rung der Antike den Hintergrund dafür, während Nietzsche an der zeitgenössi-
schen Philologie die moralische Idealisierung aussetzt.63 Die „kritische Betrach-
tung“, wie er sie in seinen Notizen umreißt, richtet sich daher besonders auch auf
die inhärenten Differenzen des Altertums (die dem zeitgenössischen Verständnis
als Widersprüche erscheinen). Dabei dehnt er den Begriff der Philologie weit über
die „Conjectural- und litterarhistorische Kritik“ bis hin auf die Kulturkritik aus.64
Ziel sei es, die „U n v e r n u n f t i n d e n m e n s c h l i c h e n D i n g e n a n s L i c h t z u
b r i n g e n “,65 bzw. das „S c h l i m m e u n d F a l s c h e “,66 nicht zuletzt um aufzuwei-
sen, „was das Alterthum eigentlich für ein unzeitgemässes Ding“ sei.67 In einer
ganzen Reihe von Notaten trägt Nietzsche Einwände gegen die humanisierten
Hellenen zusammen: Bei aller Größe und „genial-frohem Temperament“ seien
„Eifersucht“, „Neid“68 und „Zwietracht“69 genauso Teil ihrer Kultur wie die „Lust
zu fabuliren“,70 die „Lust am R a u s c h e “, an der „U n z ü c h t i g k e i t “71 und

60 NL 1875, 5[17], KSA 8, 44, 19; vgl. auch NL 1875, 5[109], KSA 8, 69, 12.
61 KGW II/3, 369.
62 NL 1875, 5[167], KSA 8, 89, 3 f.  

63 Vgl. NL 1875, 3[39], KSA 8, 14, 10–14; NL 1875, 5[31], KSA 8, 48, 16–49, 7; und NL 1875, 5[45],
KSA 8, 52, 24–53, 5.
64 NL 1875, 5[19], KSA 8, 45, 6–8.
65 NL 1875, 5[20], KSA 8, 45, 9 f.

66 NL 1875, 5[30], KSA 8, 48, 9 f.


67 NL 1875, 5[55], KSA 8, 55, 26 f.  

68 NL 1875, 5[70], KSA 8, 60, 8 u. 14.


69 NL 1875, 5[101], KSA 8, 66, 23.
70 NL 1875, 5[115], KSA 8, 70, 22.
71 NL 1875, 5[146], KSA 8, 78, 32 u. 34.
Philologische Dichtung 165

schließlich auch die „Todes- und Höllenangst“.72 Kurzum: „Consequenz“ sei „das
Letzte, wozu sich die Griechen verstehen würden“.73
Wenn solch einer historischen Kulturkritik die philologische Textkritik Pate
steht, dann wäre der philologische Künstler ein Künstler der Differenz im doppel-
ten Sinne. Indem er die Antike ‚nachschafft‘, lässt er sie nicht nur unter Wahrung
von historischer Distanz wiederkehren, er macht dabei auch die Differenzen,
welche er als kritischer Philologie anhand der überlieferten Zeugnisse freilegt, für
die eigene Zeit fruchtbar: ,Nachgeschaffen‘ wird eine für die Moderne problemati-
sche Antike, deren Übersetzung in der Kunst wiederum zu unzeitgemäßen Er-
zeugnissen führt. In diesem Sinne handelte es sich bei der philologischen um eine
hineinlebende, zersetzende und zugleich schaffende Kunst.

3
Tatsächlich kehren die Momente des kritischen Zersetzens und Nachschaffens in
Nietzsches eigener Poesie wieder, besonders in den Liedern des Prinzen Vogelfrei.
Bei vielen dieser Lieder handelt es sich um Parodien, deren lyrische Vorlagen vor
allem Sander L. Gilman und Philip Grundlehner nachgewiesen haben.74 Nietz-
sches Parodien machen sich jedoch nicht lustig über die Vorlagen, sie vergrößern
gewisse Aspekte aus ihnen, erzeugen ein Übermaß, und so geben sie Zeugnis vom
analytischen und zersetzenden Hineinleben, wobei sie als eigenständige Erzeug-
nisse gleichsam Distanz schaffen, aus der sie in Bezug auf die poetischen Vor-
lagen das Dichten reflektieren.75 Doch inwiefern können sie darin nicht allein als
poetologisch,76 sondern auch als philologisch gelten? Da Philologie bei Nietzsche
immer auch die klassische Philologie meint, soll hier ein Lied besprochen wer-
den, das mit der Bukolik ein antikes und zugleich neuzeitliches Genre aufgreift.
Das Gedicht wurde 1882 in den Idyllen aus Messina gedruckt und erschien 1887 in
den Liedern des Prinzen Vogelfrei mit variierter Interpunktion und neuem Titel:

72 NL 1875, 5[126], KSA 8, 73, 16 f. 

73 NL 1875, 5[112], KSA 8, 70, 6 f.


74 Gilman, Sander L., Incipit parodia. The function of parody in the lyrical poetry of Friedrich
Nietzsche, in: Nietzsche-Studien, Jg. 4, Berlin / New York 1975, S. 52–74. – Ders., Nietzschean
Parody. An Introduction to Reading Nietzsche, Bonn 1976. – Grundlehner, Philip, The Poetry of
Friedrich Nietzsche, New York / Oxford 1986, S. 147–165.
75 Hierzu: Forrer, Thomas, Rhythmische Parodie. Friedrich Nietzsches Gedicht „Dichters Beru-
fung“, in: Christen, Felix / Forrer, Thomas u. a. (Hrsg.), Der Witz der Philologie. Rhetorik – Poetik –

Edition, Frankfurt/Main / Basel 2014, S. 108–122.


76 Vgl. Gilman, Incipit parodia, S. 63, der Nietzsches Parodien aus den Liedern des Prinzen
Vogelfrei als „analytic and self-reflexive“ bezeichnet.
166 Thomas Forrer

Lied des Ziegenhirten Lied eines


(An meinen Nachbar theokritischen
Theokrit von Syrakusă.) Ziegenhirten.

Da lieg ich, krank im Gedärm – Da lieg’ ich, krank im Gedärm, –


Mich fressen die Wanzen. Mich fressen die Wanzen.
Und drüben noch Licht und Lärm: Und drüben noch Licht und Lärm!
Ich hör’s, sie tanzen. Ich hör’s, sie tanzen …

Sie wollte um diese Stund’ Sie wollte um diese Stund’


Zu mir sich schleichen: Zu mir sich schleichen.
Ich warte wie ein Hund – Ich warte wie ein Hund, –
Es kommt kein Zeichen! Es kommt kein Zeichen.

Das Kreuz, als sie’s versprach! Das Kreuz, als sie’s versprach?
Wie konnte sie lügen? Wie konnte sie lügen?
Oder läuft sie Jedem nach, – Oder läuft sie Jedem nach,
Wie meine Ziegen? Wie meine Ziegen?

Woher ihr seidner Rock? – Woher ihr seid’ner Rock? –


Ah, meine Stolze? Ah, meine Stolze?
Es wohnt noch mancher Bock Es wohnt noch mancher Bock
An diesem Holze? An diesem Holze?

Wie kraus und giftig macht – Wie kraus und giftig macht
Verliebtes Warten! Verliebtes Warten!
So wächst bei schwüler Nacht So wächst bei schwüler Nacht
Giftpilz im Garten. Giftpilz im Garten.

Die Liebe zehrt an mir Die Liebe zehrt an mir


Gleich sieben Uebeln – Gleich sieben Uebeln, –
Nichts mag ich essen schier, Nichts mag ich essen schier.
Lebt wohl, ihr Zwiebeln! Lebt wohl, ihr Zwiebeln!

Der Mond ging schon in’s Meer, Der Mond gieng schon in’s Meer,
Müd sind alle Sterne, Müd sind alle Sterne,
Grau kommt der Tag daher – Grau kommt der Tag daher, –
Ich stürbe gerne.77 Ich stürbe gerne.78

Das wenig besprochene Lied79 gibt einen Kommentar zur antiken und neuzeitli-
chen Idyllik. Das lyrische Ich, ein Ziegenhirte, wartet klagend auf seine Geliebte,

77 IM Lied eines Ziegenhirten, KSA 3, 337, 21–338, 24.


78 FW Anhang, KSA 3, 645, 1–29.
79 Die beiden einschlägigen Beiträge stammen aus der amerikanischen Nietzsche-Rezeption:
Gilman, Sander L., Nietzsche and the Pastoral Metaphor, in: Comparitive Literature, Jg. 26,
Philologische Dichtung 167

die ihren nächtlichen Besuch versprochen hat, den Hirten jedoch sitzen lässt,
wobei die bukolische Situation durch verschiedene Elemente gestört wird. Der
Hirt scheint an einer Darmkrankheit zu leiden; die Rede ist vom „Kreuz“, dem
christlichen Symbol schlechthin, und es wächst der „Giftpilz im Garten“. Dabei
referiert Nietzsche explizit auf Theokrit, der in der Neuzeit als Vater der idyl-
lischen Literatur verehrt wird. Noch Salomon Gessner schreibt im Prolog zu
seinen Idyllen von 1756: „Ich habe den Theocrit immer fyr das beste Muster in
dieser Art Gedichte gehalten. Bey ihm findet man die Einfalt der Sitten und der
Empfindungen am besten ausgedryckt, und das Lændliche und die schœnste
Einfalt der Natur“.80 Nietzsche wiederum bezeichnet Theokrit in der Widmung
zur ersten Liedfassung als „Nachbar“, denn er schrieb das Gedicht vermutlich auf
Sizilien,81 wo Theokrit nach gewissen Quellen geboren sein soll.82 Aber die Rede
vom „Nachbar“ deutet auch auf eine Verwandtschaft. Nietzsche hält den Idyllen-
Dichter für unzeitgemäß, in den Notizen zu „Wir Philologen“ notiert er: „Wer
würde […] Theocrit noch zu seiner Zeit für möglich halten, wenn er nicht da
wäre?“83 Kann also Nietzsches Gedicht als ‚theokritisch‘ nicht nur im Wortsinn
der Gotteskritik gelten,84 sondern als ebenso kritisch und unzeitgemäß, wie Nietz-
sche die Dichtung Theokrits beurteilt? Nimmt man sich Theokrits 3. Idylle mit
dem Titel Kōmos vor, auf die Nietzsches Lied anspielt, so vermisst man zunächst
vor allem die schöne Einfalt von Natur und Sitten, die Gessner an seinem antiken
Vorbild hervorhebt.85 Im Folgenden ein Auszug der 54 Hexameter in der wort-
nahen Übersetzung von Emil Staiger:

Durham, NC, 1974, S. 289–298, und: Grimm, Reinhold, Antiquity as Echo and Disguise. Nietzsche’s
„Lied eines theokritischen Ziegenhirten“, Heinrich Heine, and the Crucified Dionysos, in: Nietzsche-
Studien, Jg. 14, Berlin / New York 1985, S. 201–249. – Ferner: Müller, Renate G., „Idyllen aus
Messina“. Versuch einer Annäherung, in: Nietzscheforschung, Jg. 3, Berlin 1996, S. 77–86, hier
S. 80 f. – Einen Zeilenkommentar gibt: Kaufmann, Sebastian, Kommentar zu Nietzsches ‚Idyllen

aus Messina‘, in: NK 3/1, 457–543, hier: 517–521.


80 Gessner, Solomon, Idyllen, in: Sämtliche Schriften in drei Bänden [Zürich 1762], hrsg. von
Martin Bircher, Zürich 1972, Bd. 2, S. Xf.
81 Zu Entstehungsort und -zeit der acht Gedichte der Idyllen aus Messina vgl. NK 3/1, 480.
82 Gow, Andrew S. F. (Ed.), Theocritus, with a translation and a commentary, 2 Bde., Cambrigde
1950, Bd. 1, Kap. 1: „The Life of Theocritus“, S. XV–XXIX.
83 NL 1875, 5[146], 78, 22 f.

84 Vgl. Liddell, Henry George / Scott, Robert / Jones, Henry Stuart (Hrsg.), A Greek-English
Lexicon. With a revised supplement, Oxford 1996, S. 790, wo das Kompositum theókritos unter
Verweis auf das Urteil des Paris mit „judge of gods“ übersetzt wird.
85 Zwar bemerkt auch Gessner einmal, dass „einige wenige Ausdryke und Bilder im Theocrit bey
so sehr abgeænderten Sitten uns veræchtlich sind“. Gleichwohl gibt er zu verstehen: „dergleichen
Umstændgen hab ich zu vermeiden getrachtet.“ – Gessner, Idyllen, S. XV.
168 Thomas Forrer

Das Ständchen [Kōmos]

6 Liebliche Amaryllis! Warum doch guckst du aus deiner


7 Grotte nicht mehr und rufst dein Schätzchen? Bin ich dir widrig?
8 Scheine ich dir stülpnasig, mein Kind, von nahem betrachtet,
9 Mit vorstehendem Kinn? Du schaffst es noch, daß ich mich hänge.
10 Schau, ich bringe dir hier zehn Äpfel. Wo du sie mich pflücken
11 Hießest, pflückte ich sie; und morgen bring ich dir andre.
12 Sieh, wie der Gram das Herz mir verzehrt.
[…]
15 Eros kenne ich nun. Ein harter Gott! An der Löwin
16 Zitze hat er gesaugt, die Mutter im Wald ihn erzogen,
17 Der mich verbrennt und hinein bis ins Mark der Knochen verwundet.
[…]
52 Kopfweh hab ich. Dich kümmert es nicht. Ich singe nicht weiter.
53 Lasse mich fallen und liege. Hier werden die Wölfe mich fressen.
54 Werde dir dies so süß wie Honig die Gurgel hinunter!86

Anders als in der Idyllendichtung des 18. Jahrhunderts erzeugt die Natur bei
Theokrit Kopfschmerzen, es gibt gefräßige Wölfe, und Eros wird als barùs theós87
aufgerufen, als belastender, schmerzender Gott. Keine harmonische oder mora-
lisch-verklärte Natur wird hier geschildert,88 bei aller Anmut ist sie mit Gewalt
durchsetzt. Wenn Nietzsches Hirtengedicht eine ebenso durchwirkte Schäferwelt
darstellt,89 bildet dies einen poetischen Kommentar gegen die Idealisierung der
antiken Bukolik, wobei bedeutend ist, dass Nietzsches Gedicht der ersten philolo-
gischen Tugend folgt; es rekurriert auf die überlieferte Schrift.
Und diese antike Schrift (Theokrits Eidýllia, die für die spätere Gattung
namensgebend sind), macht zugleich deutlich, dass es sich dabei – um das
Begriffspaar aus Friedrich Schillers gleichnamiger Abhandlung aufzugreifen –
weder um „naive“ noch um „sentimentalische Dichtung“ handelt. Während naive

86 Theokrit, Die echten Gedichte, deutsch von Emil Staiger, Zürich 1970, S. 74–77.
87 Vgl. Gow, Theocritus, Bd. 1, S. 30.
88 Vgl. Müller, „Idyllen aus Messina“, S. 80. – Siehe z. B.: Gottsched, Johann Christoph, Versuch
einer Critischen Dichtkunst für die Deutschen, 2. verbesserte Aufl., Leipzig 1737, S. 439: „Will man
nun wissen, worinn das rechte Wesen eines guten Schäfergedichtes besteht: So kann ich kürzlich
sagen; in der Nachahmung des unschuldigen, ruhigen und ungekünstelten Schäferlebens, wel-
ches vorzeiten in der Welt geführet worden. Poetisch würde ich sagen, es sey eine Abschilderung
des güldenen Weltalters; auf christliche Art zu reden, eine Vorstellung des Standes der Unschuld,
oder doch wenigstens der patriarchalischen Zeiten vor und nach der Sündfluth. Aus dieser
Beschreibung kann ein jeder leicht wahrnehmen, was für ein herrliches Feld zu schönen Beschrei-
bungen eines tugendhaften und glücklichen Lebens sich hier einem Poeten zeiget.“
89 Vgl. NK 3/1, 517.
Philologische Dichtung 169

Dichtung nach Schiller aus einem ‚natürlichen‘ Empfinden hervorgeht, handelt


die spätere sentimentalische Dichtung vom Verlust ebendieses ‚Natürlichen‘, wie
er als Differenz zwischen frühem Leben und der eigenen Kultur empfunden
wird.90 Nietzsche hat die Projektion im sentimentalischen Gefühl erkannt, wenn
er in der Geburt der Tragödie zur „i d yl l i s c h e n T e n d e n z d e r O p e r “ formuliert:
Man „träumt sich in eine Zeit hinein, in der Leidenschaft ausreicht, um Gesänge
und Dichtungen zu erzeugen: als ob je der Affect im Stande gewesen sei, etwas
Künstlerisches zu schaffen“.91 Naiv in Bezug auf die Kultur- und Kunstgeschichte
ist daher gerade das Sentimentalische, mit seinen ideellen, rein apollinischen
Projektionen, wie sie Nietzsche auch mit Gessner einmal in Verbindung bringt92 –
während Theokrits 3. Idylle verschiedene Differenzen exponiert, nicht zuletzt
diejenige zwischen Stadt- und Hirtenleben, ohne Ansatz jedoch zu deren Über-
windung. Nietzsches Hirten-Lied ‚schafft‘ solche Differenzen ‚nach‘, unter ande-
rem, indem es den Titel der 3. Idylle auseinandersetzt.
Der Titel Kōmos wird gemeinhin mit „Ständchen“ übersetzt und bezeichnet
einen Anlass des Gesangs. In seinem Theokrit-Kommentar bemerkt Andrew Gow,
dass es sich beim kōmos um einen Umzug handelt, der nach den Symposien
abgehalten worden sei. Die Angetrunkenen zogen mit Fackeln und Girlanden
durch die Gassen, suchten Freunde auf, oder sie sangen vor verschlossener Tür
ihrer Angebeteten das paraklausíthyron, ein Ständchen, um nächtlichen Einlass
zu erhalten. Wenn bei Theokrit also ein Hirte das paraklausíthyron singt, wird ein
städtischer Brauch ins Bukolische übertragen.93 Derart erzeugt das Gedicht eine
komische Situation und artikuliert zugleich eine Differenz in der Dichtung. Denn
lächerlich kann der bukolische kōmos nur dem Städter vorkommen, womit deut-
lich wird, dass Theokrits Idylle die bukolische Welt aus der Außenperspektive
beschreibt. Der Titel Kōmos ist demnach poetologisch zu verstehen, er weist
darauf hin, dass die vorliegende Dichtung und der bukolische Schauplatz, von
dem sie handelt, je schon gegeneinander verschoben sind. Entsprechend präfigu-
riert Theokrits Idylle die von Schiller so genannte sentimentalische Dichtung,
insofern sie sich genau jene Differenz zu eigen macht, die im 18. Jahrhundert
noch Gessner, Johann Christoph Gottsched oder Johann Georg Sulzer umtreibt,
wenn letzterer in der Allgemeinen Theorie der schönen Künste etwa festhält: „Was
wir [heute] Idyllen heißen, sind bloß Nachahmungen jener ursprünglichen Wald-

90 Vgl. Schiller, Friedrich, Über naive und sentimentalische Dichtung, in: Ders., Werke. National-
ausgabe, 42 Bde., Bd. 20, hrsg. v. Benno von Wiese, Weimar 1962, S. 413–503, hier S. 429–432.
91 GT 19, KSA 1, 124, 11 u. 123, 33–124, 2.
92 Vgl. NL 1870/71, 7[126], KSA 7, 183 f.; und NL 1870/71–72, 8[29], KSA 7, 232 f. (Gessner-Verweis
   

233, 10).
93 Vgl. Gow, Theocritus, Bd. 2, S. 64 (Hinweis bei Grimm, Antiquity as Echo and Disguise, S. 208).
170 Thomas Forrer

gesänge, welche die Natur selbst ihren Kindern eingab. Theokrit hat unter den
Griechen diese nachgeahmten Idyllen zu einer großen Vollkommenheit ge-
bracht.“94 Bedenkt man, dass Theokrits Idyllen für die spätere Gattung namens-
gebend sind, so kann die inhärente Differenz des Kōmos-Gedichts als gattungs-
prägend gelten.
Nietzsches Hirten-Lied reflektiert diese idyllische Differenz sehr genau, ver-
größert sie und verpasst ihr eine mediologische Wendung. Die ersten Verse – „Da
lieg’ ich, krank im Gedärm, – / Mich fressen die Wanzen.“ – spielen auf die
berühmte Katachrese der „Matrazengruft“ an, mit welcher der sterbenskranke
Heinrich Heine im Nachwort zum Romanzero das abgedunkelte Lager seines lang-
samen Dahinscheidens umschrieb.95 Nietzsche verehrte Heine und fühlte sich
ihm in Vielem verbunden.96 Für das Hirten-Lied ist vor allem bedeutend, dass das
bukolische Ich vom Bild eines modernen, schreibenden Dichters überblendet
wird.97 Entsprechend bleibt das Ich bei Nietzsche ans Zimmer gebunden und
kann die Geliebte vor Ort nicht besingen; es wird nicht zuletzt durch das Medium
der Schrift von ihr fern gehalten. Wenn Nietzsches Gedicht die bukolische kōmos-

94 Sulzer, Johann Georg, Allgemeine Theorie der schönen Künste, Neue vermehrte zweite Aufl.,
4 Bde., Leipzig 1792–94, Bd. 2, S. 583. – Ebenso: Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst für
die Deutschen, S. 438: „Ich will […] nicht behaupten, daß die ältesten Gedichte, die wir haben,
Schäfergedichte wären. Nein, was wir vom Theokritus, Bion und Moschus in dieser Art haben, das
ist sehr neu. Die allerersten Poesien sind nicht bis auf unsre Zeiten gekommen: Ja sie haben nicht
können so lange erhalten werden; weil sie niemals aufgeschrieben worden. […] Daß aber vor
Theokrits Zeiten wirklich Schäfergedichte müssen gemacht worden seyn, das kann aus seinen
eigenen Idyllen erwiesen werden.“
95 Heine, Heinrich, Sämtliche Gedichte, Kommentierte Ausgabe, hrsg. v. Bernd Kortländer, Stutt-
gart 1990, S. 676.
96 Vgl. z. B. EH Warum ich so klug bin 4, KSA 6, 286, 14–24. – Zu Nietzsches Heine-Rezeption
u. a.: Reschke, Renate, Wie und warum Friedrich Nietzsche sich Heinrich Heine als Franzosen oder

wie er sich Heine als Heine sah, in: Pornschlegel, Clemens / Stingelin, Martin (Hrsg.), Nietzsche und
Frankreich, Berlin 2009, S. 63–90; und: Spencer, Hanna, Heine und Nietzsche, in: Heine Jahrbuch,
Jg. 11, Hamburg 1972, S. 126–161.
97 Grimm, Antiquity as Echo and Disguise, S. 217–223, liest Nietzsches Hirten-Lied als „un hom-
mage à Heine à la mode de Heine“ und führt zahlreiche Heine-Verse an, in denen entweder die
Situation des in der Nacht wartenden Verliebten zur Sprache kommt oder einzelne Wörter ähnlich
wie später in Nietzsches Gedicht verwendet werden. Bedeutend ist vor allem Grimms Hinweis auf
Heines Gedicht Nr. 60 aus dem Zyklus Die Heimkehr, in dem die kōmos-Situation ebenfalls
verkehrt zur Sprache kommt. – Heine, Sämtliche Gedichte, S. 147 f. – Bei Heine wartet das Ich vor

dem Haus der feiernden Geliebten: „Du schaust mich nicht, im Dunkeln / Steh ich hier unten
allein“ (V. 5 f.), während bei Nietzsche die Rückübersetzung der kōmos-Situation in den urbanen

Zusammenhang mit einer topologischen Distanz gegenüber der Geliebten einhergeht, die – wie
im Folgenden vorgeschlagen wird – auch mediologisch und gattungshistorisch ausgelegt werden
kann.
Philologische Dichtung 171

Situation in den städtischen Kontext rücküberträgt und verkehrt, legt es die idyl-
lische Differenz zwischen Stadt und Land zugleich als eine mediale aus. Das
schreibende Hirten-Ich befindet sich nun in der stummen Rolle der antiken
Geliebten, die die fröhliche Stimmung des Trinkgelages aus der Ferne vernimmt:
„drüben noch Licht und Lärm! / Ich hör’s, sie tanzen …“
Die Differenz zwischen Literatur und Gesang hebt auch die fünfte Strophe
hervor, die Nietzsche in der Bleistiftaufzeichnung im Quartheft M III 3 (S. 22) von
1882 mit brauner Tinte nachträglich eingesetzt hat.98 Das Gedicht heißt da „Idylle.
Vom Ziegenhirten“; die ergänzte Strophe lautet:

Wie kraus und giftig macht


Verliebtes Warten!
So wächst bei schwüler Nacht
Giftpilz im Garten.

Auch die Rede vom Garten gibt das Ich als schreibenden Dichter aus, da der
Garten einen Topos für die Literatur bildet, wie man ihn etwa in Gessners Idylle
Lycas, oder Die Erfindung der Gærten findet. Darin besingt Lycas die Blumen der
Hügel, die er nicht nur in seinem Garten versammelt, sondern während des
Winters – im Sinne des Ornatus – in seinem „Zimmer“ zu ‚Gedichten ordnet‘.99 In
der Idyllen-Literatur des 18. Jahrhunderts ist ein Bewusstsein von der medialen
und kulturhistorischen Differenz zwischen verdichteter Schrift und Hirtengesän-
gen durchaus vorhanden.100 Wenn Nietzsches Hirten-Lied diese Differenz ver-
stärkt, so geht es jedoch nicht wie bei Idyllikern des 18. Jahrhunderts darum, an
die Uneinholbarkeit der prähistorischen Lautgesänge zu erinnern, vielmehr gibt
das Gedicht zu verstehen, dass sich die bukolische Dichtung je schon im Medium
der Schrift vollzogen hat. Die Rückübersetzung von Theokrits Kōmos in den
städtischen Kontext, die Überblendung des lyrischen Ich mit einem modernen
Literaten-Hirten und auch die Rede von dessen „Garten“ akzentuieren – und das
gehört zum philologischen Gehalt des Gedichts – die Literarizität dieser Gattung.

98 URL: http://www.nietzschesource.org/facsimiles/DFGA/M-III-3,22. (Stand: 16.07.2017)


99 Gessner, Idyllen, S. 53–56.
100 So auch an den „Zürcher“-Drucken idyllischer Literatur, in denen um 1750, ganz unüblich
für die Zeit, deutsche Sprache in lateinischer Type gesetzt worden ist. Der Zürcher Philologe
Johann Jacob Bodmer, der sich für deutschsprachige Antiqua-Drucke einsetzte, argumentierte für
die historische Unabhängigkeit zwischen Schriftart und Lautsprache. Die Verwendung der Anti-
qua hebt gerade die mediale Differenz zwischen Idyllen-Druck und der geschilderten, schriftlosen
Hirtenwelt hervor. – siehe: Forrer, Thomas, Schauplatz/Landschaft. Orte der Genese von Wissen-
schaften und Künsten um 1750, Göttingen 2013, S. 421–425.
172 Thomas Forrer

Wenn also der „Giftpilz im Garten“ wächst, so kann nicht die Schriftlichkeit
Grund dafür sein, sondern die Art, wie in der Schrift gedichtet wird. Anders
nämlich als die prähistorischen Hirtengesänge, die nach Gottsched und Sulzer für
immer verklungen sind, sind Tanz und Lärm für das dichtende Ich bei Nietzsche
hörbar, womit das Gedicht die Ahnung einer anderen – man darf einsetzen:
dionysischen – Sphäre gibt. Doch von der Geliebten „kommt kein Zeichen“, wie
es in der zweiten Strophe heißt, und so bleibt auch das Dionysische der Dichtung
fern, es gelangt zu keiner Übersetzung in ihr. Die Situation des verkehrten und
verhinderten kōmos, bzw. paraklausíthyron, überlagert also nicht nur antike und
moderne Dichtung, sondern setzt diese gleichsam auseinander, und sie ersetzt
die verloren geglaubten Hirtengesänge durch den Verlust des Dionysos. Darin
deutet sich zugleich eine problematische Traditionsgeschichte an, die das Ge-
dicht als christliche zu verstehen gibt. An die Fragen in der dritten Strophe: „Das
Kreuz, als sie’s versprach? / Wie konnte sie lügen?“, knüpfen die Verse der vierten
Strophe an: „Es wohnt noch mancher Bock / An diesem Holze?“ In seiner
sexuellen Konnotation spielt das Wort „Bock“ unter anderem auf die dionysische
Figur des Satyrs an101 und ferner auf das griechische Wort „Tragödie“, das
ursprünglich „Bocksgesang“ bedeutete. Reinhold Grimm hat ausgiebig dafür
argumentiert, dass die Verbindung von Bock und Kreuz in dem Gedicht auf das
kulturhistorische und philosophische Problem des „gekreuzigten Dionysos“ bei
Nietzsche deute.102 Dieser für Nietzsche grundlegenden Antinomie entspreche die
Parodie – Grimm referiert dabei auf die Wortbedeutung „Gegen-Gesang“103 – als

101 Kaufmann weist darauf hin, dass mit dem „Bock an diesem Holze“ auch auf den „Holzbock“,
eine Zeckenart, angespielt wird (NK 3/1, 519 f.). Die vermuteten Nebenbuhler würden im Gedicht

dann nicht nur als „Böcke“, sondern auch als Ungeziefer umschrieben.
102 Grimm, Antiquity as Echo and Disguise, S. 229–249.
103 Das griechische Wort parodía bedeutet auch ,Neben-‘ oder ,Nachgesang‘, was Nietzsche auf
die Komposition seiner Bücher wendet, erstmals in Jenseits von Gut und Böse von 1886, das mit
dem lyrischen „Nachgesang“ „Aus hohen Bergen“ endet (KSA 5, 241–243). Ebenfalls 1886 fügt
Nietzsche der zweiten Ausgabe von Menschliches, Allzumenschliches I das Gedicht „Unter Freun-
den“ als neuen Schluss hinzu und nennt es „Ein Nachspiel“ (KSA 2, 365 f.). Das „incipit p a r o d i a “

aus dem ersten Teil der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft von 1887
(KSA 3, 346, 31) wiederum deutet auf die als „Anhang“ beigefügten Lieder des Prinzen Vogelfrei. –
Die Struktur eines Nach- und auch Gegengesangs gelangt in Nietzsches Werk wohl erstmals in der
Geburt der Tragödie zur Sprache, am Traum des verurteilten Sokrates, in dem dieser aufgefordert
wird: „Sokrates, treibe Musik!“ (GT 14, KSA 1, 96, 13 f.). Nietzsche kommentiert darauf: „Jenes Wort

der sokratischen Traumerscheinung ist das einzige Zeichen einer Bedenklichkeit über die Grenzen
der logischen Natur: vielleicht – so musste er sich fragen – ist das mir Nichtverständliche doch
nicht auch sofort das Unverständige? Vielleicht giebt es ein Reich der Weisheit, aus dem der
Logiker verbannt ist? Vielleicht ist die Kunst sogar ein nothwendiges Correlativum und Supple-
ment der Wissenschaft?“ (GT 14, KSA 1, 96, 26–32).
Philologische Dichtung 173

Darstellungsform. „Bock“ und „Kreuz“ lassen aber auch eine Auslegung zu,
welche die Philologie betrifft. In den Notizen zu „Wir Philologen“ heißt es:
„Freilich ragte im Christenthum gerade auch das Alterthum in unsere Zeit hinein;
und wenn es schwindet, schwindet das Verständniss des Alterthums noch
mehr.“104 Nietzsche erinnert daran, dass allein das Christentum „das Alterthum
conservirt“ habe, und zwar mit einer „ungemeinen Unreinlichkeit und Unklar-
heit“, wie er an anderer Stelle schreibt.105 Deshalb sei im Untergang der christli-
chen Religion „die beste Zeit“ gekommen, das Altertum zu erkennen: „uns leitet
kein Vorurtheil zu Gunsten des Christenthums mehr, aber wir verstehen es noch
und in ihm auch noch das Alterthum“.106 Wenn im Gedicht also vermutet wird,
dass „noch mancher Bock / An diesem Holze“ wohne, so gibt sich das hölzerne
Kreuz als Symbol für eine Tradition zu verstehen, die den „Bock“ nur insofern
überbracht hat, als sie ihn verstellt und kaum mehr als eine Ahnung von ihm
vermittelt. Diese Krux äußert sich im Gedicht auch am Fernbleiben der Angebete-
ten. Das Kreuz, über dem sie ihren nächtlichen Besuch versprochen hat, verbietet
das frivole Unternehmen ja gerade.
In seiner Kritik der christlichen Tradierung spielt Nietzsches „Idylle“ auch auf
ein nachgelassenes Gedicht Goethes an, das dieser 1819 verfasst hatte, unter dem
Lektüre-Eindruck eines für die damalige Zeit provokanten religionsgeschicht-
lichen Werkes mit dem Titel Die Agape oder der geheime Weltbund der Christen.
August Kestner, der Verfasser, führt darin die These aus, dass im frühen Christen-
tum Agape nicht nur die christliche Liebe bedeutete und einen frühen Brauch des
Liebesmahls, der sich mit dem Abendmahl teilweise berührte,107 sondern dass
Agape auch der Name eines „berechneten […] Geheimbundes“ war, der die frühen
Christen organisierte, um das Christentum politisch durchzusetzen.108 Goethe
dichtet auf Kestners Schrift:

Von deinem Liebesmahl


Will man nichts wissen;
Für einen Christen ist’s
Ein böser Bissen.

104 NL 1875, 5[16], KSA 8, 44, 13–15.


105 NL 1875, 3[13], KSA 8, 18, 13 u. 17 f.; vgl. auch NL 1875, 5[29], KSA 8, 48, 1–4.

106 NL 1875, 5[16], KSA 8, 44, 15–18.


107 Vgl. Kasper, Walter (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, 11 Bde., Bd. 1, 3. Aufl.,
Freiburg/Breisgau 1993, Sp. 220–222.
108 Kestner, Christian August, Die Agape oder der geheime Weltbund der Christen, von Klemens in
Rom unter Domitians Regierung gestiftet, Jena 1819, S. 8–12.
174 Thomas Forrer

Denn kaum verläßt der Herr


Die Grabestücher,
Gleich schreibt ein Schelmenvolk
Absurde Bücher.

Gewinnen gegen dich


Die Philologen,
Das hilft uns alles nichts,
Wir sind betrogen.109

Die Korrespondenz zwischen den Gedichten Goethes und Nietzsches deutet sich
darin an, dass beide dieselbe Strophe aus dreihebigen und zweihebigen Jamben
verwenden, wobei Nietzsche die Füße vereinzelt auch mit zwei Senkungen aus-
gestaltet.110 Und auch Goethes Strophen handeln von der Überlieferung der
Antike. Mit dem „Liebesmahl“, der Agape, ist von einem antiken Fest die Rede.
Die „absurden Bücher“ deuten auf die Verstellung durch die Tradition, während
die Philologen wiederum, sollten sie Kestners Thesen widerlegen, dem tradierten
Christentum verpflichtet bleiben. „Wir sind betrogen“, heißt es bei Goethe, und
doch nicht ganz: Das Gedicht hinterlässt immerhin die Ahnung einer anderen
christlichen Antike – und eine solche Ahnung macht nicht zuletzt auch bei Nietz-
sche den Wert der philologischen Dichtung gegenüber der Philologie aus.
Nietzsches Lied eines theokritischen Ziegenhirten bildet einen Schauplatz der
philologischen Auseinandersetzung. Indem es die bukolische Welt mit störenden
Elementen durchsetzt, zersetzt es – im Rekurs auf Theokrit – die neuzeitliche
Vorstellung einer harmonisch-sittlichen Hirtenwelt. Zweitens hebt das Gedicht
durch die Verquickung des Hirten mit dem modernen Dichter Heine und durch
die Rückübersetzung der Theokrit’schen kōmos-Situation die Literarizität der
bukolischen Dichtung hervor. Nietzsches Gedicht erinnert daran, dass das spätere
idyllische Bedauern über den Verlust der vorgeschichtlichen Hirtengesänge
schriftgemacht ist und zur Gattung der Idylle gehört. Drittens gibt es die christli-
che Überlieferung der Antike als eine Geschichte der Verstellung aus, einer Ver-
stellung etwa der vom jüngeren Nietzsche favorisierten Dionysos-Kultur. Die
Ahnung von ihr tritt im Gedicht an die Stelle der neuzeitlich-idyllischen Pro-
jektionen einer intakten antiken Schäferwelt. Wenn das Gedicht in diesem Sinne
als historisch-kritisch gelten kann, worin zeichnet es sich gegenüber der philolo-
gischen Kritik aus?

109 Goethe, Johann Wolfgang, Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, 24 Bde., Bd. 2,
hrsg. v. Ernst Beutler, Zürich 1953, S. 279.
110 Frank, Horst Joachim, Handbuch der deutschen Strophenformen, München 1980, S. 88.
Philologische Dichtung 175

Beim Lied eines theokritischen Ziegenhirten handelt sich um ein philologi-


sches Traumgebilde. Statt Tagesresten und Erinnerungsbildern zitiert, entstellt
und überlagert es literarische Versatzstücke. Und so ging es hier – analog zu
Sigmund Freuds Methode der Traumdeutung111 – nicht darum, das Gedicht als
Ganzes zu deuten, sondern es wurden einige Details auseinandergesetzt, mit
Blick auf ihre literarische Vorgeschichte. Das Gedicht selbst weist auf seinen
Traumcharakter, in der letzten Strophe, welche die einzige Abweichung vom
Strophenschema enthält. Der drittletzte Vers ist drei- statt zweihebig. Nietzsche
hat die Abweichung im Entwurf von 1882 korrigiert und die Korrektur für den
Erstdruck wieder rückgängig gemacht:

Müd? sind alledie Sterne.

Abb. 1: Letzte Strophe des Lieds eines theokritischen Ziegenhirten in M III 3, 23112

Die drei Hebungen korrespondieren mit den enhoplischen Versen eines bekann-
ten, anonymen Vierzeilers, der Sappho zugeschrieben wird.113 Hier eine rhyth-
mische Übertragung der Achtsilber:

[Sappho] Nietzsche (7. Strophe)


Der Mond ist hinabgesunken, Der Mond gieng schon in’s Meer,
hinab die Plejaden. Mitte Müd sind alle Sterne,

111 Vgl. Freud, Sigmund, Die Traumdeutung, in: Ders., Gesammelte Werke, 19 Bde., Bd. 2/3, hrsg.
v. Anna Freud, Frankfurt/Main 1999, S. 100–126.
112 URL: http://www.nietzschesource.org/facsimiles/DFGA/M-III-3,23. (Stand: 16.07.2017) –
Vgl. auch das Druckmanuskript zu den Idyllen aus Messina, erstmals faksimiliert wiedergegeben
in: NK 3/1, 463.
113 Treu, Max (Hrsg.), Sappho, griechisch und deutsch, 8. Aufl., Zürich 1991, S. 211 f. – Für die

Auskunft zur Versstruktur im Griechischen danke ich Michael Pfister.


176 Thomas Forrer

der Nacht und vorbei die Stunde. Grau kommt der Tag daher, –
Ich liege allein im Dunkel.114 Ich stürbe gerne.

Während bei Sappho das Ich um die gestirnlose Mitternacht noch wacht, verlegt
Nietzsche die Situation in den Tagesanbruch, in den Moment des Erwachens, wo
man sich seiner Träume am besten erinnert. Von einem Traum handelt auch
Eduard Mörikes Gedicht Das verlassene Mägdlein, das in derselben Strophenform
wie Nietzsches Lied gehalten ist. Das titelgebende Mägdlein, welches frühmor-
gens den Herd entzünden muss, erinnert sich traurig an einen „[t]reulose[n]
Knabe[n]“, der ihm im Traum erschien. Das Gedicht endet ebenfalls in den
Morgenstunden: „So kommt der Tag heran – / O ging’ er wieder!“115 Dass auch bei
Nietzsche das ‚theokritische‘ Ich alles geträumt hat, deutet der Wunsch zu sterben
an: Das wie immer geartete Ich soll aus dem Lied verschwinden, und damit bieten
sich, analog zum Traum, allein die verdichteten Versatzstücke zur Lektüre an.
Mit seinen Verfahren der Anspielung und Überlagerung beschreibt Nietz-
sches Lied einen gebrochenen, kritischen Zeit-Raum, der insofern für unzeitge-
mäß gelten kann, als die Elemente sich untereinander bestreiten und keine
affirmative Lesart gestatten. Die Antike ist verstellt, die Moderne krankt. Und so
erzeugt das Gedicht – in dem Sinne, in dem Nietzsche seinen Studenten die
„Kunstthätigkeit“ empfiehlt – in erster Linie Differenz. An die Stelle der lebens-
bejahenden und zersetzenden Kraft des Dionysos tritt als modernes Pendant die
kritische Auseinandersetzung in und mit Literatur. Und darin ist Nietzsches theo-
kritische Idylle ‚fortzeugend‘, indem sie einen kritischen Reflexionsraum schafft,
dessen inhärente Spannung nicht nur zu unverhofften Lektüren Anlass gibt,
sondern eventuell auch zu anderen Auseinandersetzungen mit dem Altertum.
Über die Differenz, die das Gedicht erzeugt, übt es jenen „R e i z d e r U n v o l l -
k o m m e n h e i t“ aus, den Nietzsche im Aphorismus 79 der Fröhlichen Wissen-
schaft anhand der Vision eines nicht-visionären Dichters umschreibt, von dem es
heißt:

Sein Werk spricht niemals ganz aus, was er eigentlich aussprechen möchte, was er g e s e -
h e n h a b e n m ö c h t e : es scheint, dass er den Vorgeschmack einer Vision gehabt hat, und

114 Hausmann, Manfred (Hrsg.), Das Erwachen. Lieder und Bruchstücke aus der griechischen
Frühzeit, Berlin 1949, S. 103 (zit. nach: Grimm, Antiquity as Echo and Disguise, S. 228). – Nietzsche
hatte den Vierzeiler 1863 ebenfalls übersetzt: „U m M i t t e r n a c h t // Untergieng die Sonne / Und
die Pleiaden; / Mitternacht! / Vorüber gieng die Stunde; / Ich aber schlaf’ allein.“ (NL 1863, 15[7],
KGW I/3, 132, 9–14).
115 Mörike, Eduard, Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe, 19 Bde., Bd. 1, hrsg.
v. Hans-Henrik Krummacher, Stuttgart 2003, S. 72. – Vgl. Grimm, Antiquity as Echo and Disguise,
S. 225 f.

Philologische Dichtung 177

niemals sie selber: – aber eine ungeheure Lüsternheit nach dieser Vision ist in seiner Seele
zurückgeblieben, und aus ihr nimmt er seine ebenso ungeheure Beredtsamkeit des Ver-
langens und Heisshungers.116

So gibt das Lied eines theokritischen Ziegenhirten nicht nur einen kritisch-poeti-
schen Kommentar auf die Tradition der Idyllen-Dichtung. Indem es unvollkom-
men ‚nach-schafft‘, gibt es den „Vorgeschmack einer Vision“ – einer anderen
Dichtung und eventuell einer anderen Philologie –, und darin handelt es sich um
„fröhliche Wissenschaft“.

116 FW 79, KSA 3, 434, 25–31.


Stavros Patoussis
Philosophie als Tanz: Eine philosophische
Lektüre von An den Mistral. Ein Tanzlied

Abstract: Philosophy as dance: A philosophical reading of An den Mistral.


Ein Tanzlied. Considering the relation between philosophy and poetry, this con-
strual of Nietzsche’s An den Mistral addresses the poem’s references to the phi-
losophical issues of Die Fröhliche Wissenschaft. Nietzsche’s grasp of sciences is
pondered based on its connection with arts and, in doing so, the major role of
poetic shape is discussed. In particular, the function of rhythm and the motif of
dance are central as lyric forms become more important in Nietzsche’s late work.
It is shown that An den Mistral constitutes a lyrical self-commentary on Nietzsche
as philosopher.

1
Nietzsches „Tanzlied“ An den Mistral1 beschließt die zweite, unter anderem um
die Lieder des Prinzen Vogelfrei erweiterte Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft
von 1887 und nimmt explizit auf die philosophischen Aspekte des Werkes Bezug.
Ziel dieses Beitrags ist es zu zeigen, wie Nietzsche diese Aspekte im Gedicht
aufgreift und gleichzeitig weiter entwickelt. Dazu möchte ich Nietzsches auffällig
kurzen Rekurs auf die Fröhliche Wissenschaft in Ecce Homo voranstellen, da diese
späte Selbstinterpretation den Gehalt des Gedichts exemplarisch zu resümieren
beansprucht.2

Die L i e d e r d e s P r i n z e n V o g e l f r e i […] erinnern ganz ausdrücklich an den pro-


venҫalischen Begriff der „gaya scienza“, an jene Einheit von S ä n g e r , R i t t e r und F r e i -
g e i s t , mit der sich jene wunderbare Frühkultur der Provenҫalen gegen alle zweideutigen
Culturen abhebt; das allerletzte Gedicht zumal, „a n d e n M i s t r a l “, ein ausgelassenes
Tanzlied, in dem, mit Verlaub! über die Moral hinweggetanzt wird, ist ein vollkommener
Provenҫalismus.3

1 FW Anhang, KSA 3, 649–651.


2 Ironischerweise wird dieser Passus aus Ecce homo in den bisherigen Deutungen des Gedichts
besonders gern zitiert. Allerdings richtet sich jegliche weitere Arbeit mit dem Gedicht nahezu
immer nur an Nietzsches eigener Interpretation aus; detaillierter interpretiert wird es in den
seltensten Fällen.
3 EH FW, KSA 6, 333, 24–334, 6.

DOI 10.1515/9783110474374-009
180 Stavros Patoussis

Es ist erstaunlich, dass Nietzsche in seinem Rückblick ausgerechnet auf dieses


Gedicht zu sprechen kommt, wo er doch der ganzen Fröhlichen Wissenschaft nur
ungefähr eine Seite widmet. Entscheidend ist für mich die im Nachhinein geleis-
tete Selbstdeutung des Gedichts als Überwindung von Moral und dichotomischer
Weltbeschreibung.
Freilich hat nicht nur Nietzsche sein eigenes Gedicht gedeutet. Philip Grund-
lehner ist der erste, der An den Mistral in seiner breit angelegten und sicherlich
reduktiven, doch gleichzeitig paradigmatischen Studie The Poetry of Friedrich
Nietzsche ein eigenes Kapitel widmet. Grundlehner zählt An den Mistral zu den
Gedichten der „Morning Philosophy“.4 Für die „Musik“ dieser Poesie gelte:

Whereas the Venetian poem [Mein Glück, SP] expresses happiness found on a venerable city
square and stresses the need for control, „An den Mistral“ is constrained by no such
limitations. Thus, its music is not the music of the evening, which must be avoided, but
rather a morning music that excites and inspires by its dancelike cadence.5

Grundlehner arbeitet treffend heraus, dass die Sturm-Metaphorik des Gedichts


und die Entgrenzung des lyrischen Ichs zur Proklamation einer neuen Schaffens-
kraft führen.6 In Bezug auf die Metapher des Blütenkranzes aus der siebten und
letzten Strophe des Gedichts schreibt er:

The floral wreath that is carried aloft is a symbol of this will [to power, SP]. It represents a
new aesthetic that does not dissolve in emotion but is sustained by continued momentum
and further achievement.7

Den Inhalt des Gedichts fasst Grundlehner folgendermaßen zusammen:

„An den Mistral“ penetrates beyond this earthly existence to the realm of the stars. Its
dynamic of the will, however, is conveyed not so much through its imagery as though
through its use of language. […] In its ability to resist the stagnancy of rhetoric and restore
the „tempo“ […] that he knew to be inherent in the language it illustrates Zarathustra’s
radical redefinition of „Gleichnis“, or „parable“, as itself a dance movement: „Only in the
dance do I know how to tell the parable of the highest things“.8

Grundlehner hebt die Bedeutung der Sprache als künstlerisches Mittel und die
damit verbundene neue Ästhetik hervor, die in An den Mistral symbolische Dar-
stellung erfährt. Ebenfalls kommen in seiner Interpretation bereits poeseologi-

4 Grundlehner, Philip, The Poetry of Friedrich Nietzsche, New York / Oxford 1986, S. 175.
5 Grundlehner, The Poetry of Friedrich Nietzsche, S. 175.
6 Vgl. Grundlehner, The Poetry of Friedrich Nietzsche, S. 183.
7 Grundlehner, The Poetry of Friedrich Nietzsche, S. 183.
8 Grundlehner, The Poetry of Friedrich Nietzsche, S. 183.
Philosophie als Tanz 181

sche Aspekte des Gedichts zur Sprache, auch wenn diese nur auf Zarathustras
Aussagen über sein Schaffen bezogen werden.9
Rüdiger Ziemann erwähnt An den Mistral in seinem Artikel zu Nietzsches
Gedichten im Nietzsche-Handbuch.10 Er stellt vor allem die Bedeutung der Goe-
the-Referenzen für das Gedicht heraus,11 mit denen die Lieder des Prinzen Vogel-
frei beginnen und enden. Ziemanns betont neutral und kurz gehaltener Kommen-
tar lautet: Es sei

nun eigentlich alles Gleichnis, und nichts will schwer sein. Die Attacke auf eine christliche
Weltsicht kann niemand übersehen. Von da aus erscheint es seltsam, mit wie vielen alten
Bildern aus jener Welt das Gedicht arbeitet. Da wird der tradierte Bildzusammenhang
zwischen der bewegten Luft und dem spiritus sanctus für den neuen Geist in Anspruch
genommen. […] Im Wirbel der Gleichnisse werden die grausamen Unschärfen einiger Text-
stellen leicht; was da zu Kranken und Krüppeln gesagt wird, dürfen wir dann getrost
uneigentlich verstehen, wobei nach Erfahrungen mit einigen Deutungen unseres Zeitalters
wenigstens Verunsicherungen bleiben. Daß sich der Sprecher immer wieder selbst über-
stimmt, wird auch dem weniger achtsamen Leser nicht entgehen.12

Ziemanns Deutung interessiert mich vor allem im Hinblick auf die Wind-Metapho-
rik. Überdies verdanke ich insbesondere seinem Kommentar zum letzten Gedicht-
drittel vieles.
Weitere Deutungen des Gedichts stammen von Günter Schulte und Theo
Meyer.13 Schultes ,Interpretation‘ besteht neben drei rekapitulierenden Sätzen
zum Gehalt des Gedichts aus der zitierten Stelle in Ecce homo und den Ausführun-
gen zu Nietzsches Formel „gai saber“. In dieser Formel sieht Schulte, seiner

9 Grundlehners Studie ist, wie ich bereits angedeutete hatte, in jeder Hinsicht äußerst reduktiv.
Sie krankt neben der Gleichsetzung des lyrischen Ichs mit Nietzsche, dem durchgängigen Ver-
gleich mit Mein Glück und der fehlenden Orientierung an den Themen der Fröhlichen Wissen-
schaft, an stark hervorgehobenen möglichen (!) Parallelen zu Also sprach Zarathustra, die aber
nicht auf direkte intertextuelle Verweise bezogen bleiben, sondern spekulativ auf die ‚Lehren
Zarathustras‘ verweisen. Vgl. Grundlehner, The Poetry of Friedrich Nietzsche, S. 179 f., 18 f. Vgl.
   

zum paradigmatischen Problem der Identifizierung von Nietzsches Philosophie und den Lehren
in Zarathustra: Stegmaier, Werner, Anti-Lehren. Szene und Lehre in Nietzsches ‚Also sprach Zara-
thustra‘, in: Gerhardt, Volker (Hrsg.), Friedrich Nietzsche. Also sprach Zarathustra, Berlin 2000,
S. 143–167; sowie Zittel, Claus, Das ästhetische Kalkül von Friedrich Nietzsches ‚Also sprach
Zarathustra‘, Würzburg 2000.
10 Ziemann, Rüdiger, Die Gedichte [Artikel], in: Ottman, Henning (Hrsg.), Nietzsche-Handbuch.
Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart / Weimar 2000, S. 150–156.
11 Vgl. Ziemann, Die Gedichte, S. 154.
12 Ziemann, Die Gedichte, S. 154.
13 Schulte, Günter, Nietzsches ,Morgenröthe‘ und ,Fröhliche Wissenschaft‘. Text und Interpretation
von 50 ausgewählten Aphorismen, Würzburg 2002; und Meyer, Theo, Nietzsche. Kunstauffassung
und Lebensbegriff, Tübingen 1991.
182 Stavros Patoussis

Grundthese entsprechend, einen vermeintlichen Verweis auf Nietzsches versteck-


te Homosexualität. Das Gedicht wird stellenweise paraphrasiert, aber nicht ana-
lysiert.14 Meyer hingegen geht von einer Analyse des Nietzsche’schen Lebens-
begriffs aus und versteht An den Mistral als „hymnische[ ] Lobpreisung des
dynamischen Lebens“.15 Dabei stellt Meyer richtig heraus, dass der Tanz das
„Schlüsselmotiv“ des Textes sei.16 Jedoch steht bei ihm der Tanz ausschließlich
für die „neue zweckfreie Selbstentfaltung des Lebens“.17 Meyer hebt die dyna-
mischen Motive und den Rhythmus des Gedichts hervor und spricht davon, dass
sich in ihm Nietzsches „Philosophie der Umwertung des Tanzes und der Heiter-
keit“ artikuliere.18
Als Basis für mein Verständnis des Textes möchte ich eine – zugegebenerma-
ßen unvollständige – Poeseologie Nietzsches zugrunde legen, die ich aus mehre-
ren Perspektiven skizziere.19 Einerseits rekurriere ich bezüglich der schöpferi-
schen Potenz von poetischer Sprache und Lyrik auf den Aphorismus 58 der
Fröhlichen Wissenschaft. Da Nietzsche die Lieder des Prinzen Vogelfrei an dieses
Werk ‚angehängt‘ hat, besteht eine Verbindung auch zu dem genannten Aphoris-
mus, der überdies das zweite Buch eröffnet. In diesem Buch beschäftigt sich
Nietzsche besonders mit dem Thema der Kunst. Der betreffende Text bildet eine
unentbehrliche Grundlage für die Auseinandersetzung mit Nietzsches ästheti-
schen Reflexionen:

14 Schultes gesamte Nietzsche-Interpretation ist unzureichend: Er setzt die Sprecher-Ichs mit


Nietzsche gleich und ersetzt dabei „den Erkennenden“ bei Nietzsche durch „den Homosexuellen“ –
in der Annahme, jener sei eine Maske für diesen. Offenbar versucht er, den Biographismus seines
argumentativen Partners Joachim Köhler zu vermeiden, aber trotzdem die These aufrechtzuerhal-
ten, Nietzsche artikuliere in seinen Schriften seine Homosexualität (vgl. Schulte, Nietzsches
‚Morgenröthe‘ und ‚Fröhliche Wissenschaft‘, S. 15–19).
15 Meyer, Nietzsche, S. 424 f. Auch Meyer setzt das lyrische Ich mit Nietzsche gleich. Mit seiner

Interpretation geht das aber insofern konform, als er Nietzsche immer schon als dynamisches
Textsubjekt interpretiert. Meine im Haupttext noch folgende Kritik an Meyer bezieht sich indes auf
ebendiese hermeneutische Einseitigkeit.
16 Meyer, Nietzsche, S. 425.
17 Meyer, Nietzsche, S. 425.
18 Meyer, Nietzsche, S. 425.
19 Zum Poeseologiebegriff, der, mit Bezug auf den altgriechischen Begriff ‚poiesis‘ (‚machen‘/
‚schaffen‘) , den schöpferischen Aspekt von Kunst selbst gegenüber dem Künstler (und der diesen
ins Zentrum rückenden Poetologie) hervorhebt, vgl. Barner, Wilfried, Poetologie? Ein Zwischenruf,
in: Scientia Poetica, Jg. 9, Berlin u. a. 2005, S. 389–399, insb. S. 398. Ich nutze den Begriff in der

Folge, um mich von Theorien zu distanzieren, die ein starkes Autorsubjekt annehmen, um so die
Analyse stärker auf den Text und seine Strategien zu beziehen.
Philosophie als Tanz 183

N u r a l s S c h a f f e n d e ! – Diess hat mir die grösste Mühe gemacht und macht mir noch
immerfort die grösste Mühe: einzusehen, dass unsäglich mehr daran liegt, w i e d i e D i n g e
h e i s s e n , als was sie sind. Der Ruf, Name und Anschein, die Geltung, das übliche Maass
und Gewicht eines Dinges – im Ursprunge zuallermeist ein Irrthum und eine Willkürlichkeit,
den Dingen übergeworfen wie ein Kleid und seinem Wesen und selbst seiner Haut ganz
fremd – ist durch den Glauben daran und sein Fortwachsen von Geschlecht zu Geschlecht
dem Dinge allmählich gleichsam an- und eingewachsen und zu seinem Leibe selber gewor-
den: der Schein von Anbeginn wird zuletzt fast immer zum Wesen und w i r k t als Wesen!
Was wäre das für ein Narr, der da meinte, es genüge, auf diesen Ursprung und diese
Nebelhülle des Wahnes hinzuweisen, um die als wesenhaft geltende Welt, die sogenannte
„W i r k l i c h k e i t “ , z u v e r n i c h t e n ! Nur als Schaffende können wir vernichten! – Aber
vergessen wir auch diess nicht: es genügt, neue Namen und Schätzungen und Wahrschein-
lichkeiten zu schaffen, um auf die Länge hin neue „Dinge“ zu schaffen.20

Sprache dient der Erschaffung von Welt. Wichtig ist bei diesem Schaffensprozess,
dass er notwendig in Abgrenzung von einer tradierten Sprache stattfindet: Es gibt
immer schon Sprache, mit der sich das schaffende Individuum auseinandersetzen
muss. Daraus resultiert die Ambivalenz sprachlicher Mitteilung: Einerseits rekur-
riert sie immer auf eine Konvention des Sprechens – und ist damit von der
Tradition abhängig –, andererseits besitzt sie mit jedem Sprachgebrauch aber
auch die Möglichkeit, etwas Neues an die Stelle des Alten zu setzen und es damit
zu zerstören. Das ist für den Sprech-Vorgang des Gedichts zentral.
In Aphorismus 84 „Vom Ursprunge der Poesie“21 erarbeitet Nietzsche zentrale
Aspekte, welche die Dichtung gegenüber der prosaischen Rede auszeichnen.
Poetische Rede, so der Aphorismus, verunklart das Gesprochene auf eine Weise,
die der Mitteilung nicht förderlich ist.22 Der Rhythmus wird verstanden als eine
gewalttätige Neuordnung der Syntax, die den Gedanken „färbt“ und ihn „dunk-
ler, fremder, ferner macht“.23 Sofort fällt ins Auge, dass der Aphorismus sich einer
Metaphorik aus dem Bereich der Malerei bedient, obwohl er eigentlich eine klare
und nüchterne Darstellung der Funktion von Dichtung zu intendieren scheint.
Damit zeigt sich ein Phänomen, das Nietzsche auch im Aphorismus 92 der
Fröhlichen Wissenschaft thematisiert: Prosaische Rede gewinnt erst im Konfliktfall
ästhetisches Potential, nämlich in Abgrenzung von poetischer bzw. lyrischer
Rede.24 Wie stark der Einfluss des Poetischen auf die Prosa ist, geht ebenfalls aus
Aphorismus 84 hervor: Es kann demnach keinen ‚guten‘ prosaischen Text geben,

20 FW 58, KSA 3, 422.


21 FW 84, KSA 3, 439–442.
22 FW 84 KSA 3, 439 f.

23 FW 84, KSA 3, 440, 12.


24 Vgl. FW 92, KSA 3, 447 f.

184 Stavros Patoussis

der gänzlich von poetischen Elementen frei, nicht irgendwie von Poesie durch-
setzt wäre.
Allgemein ist die ‚vertiefende‘ Funktion der Poesie für das Schreiben äußerst
relevant. Sie entfernt vom common sense und nuanciert. Hierfür ist insbesondere
die nachträglich hinzugefügte Vorrede zur Fröhlichen Wissenschaft von Belang, in
der Nietzsche die alten Griechen als „oberflächlich – a u s T i e f e !“ bezeichnet und
eine „Kunst für Künstler“ als Palliativ gegen die ‚romantische Krankheit‘ seines
Text-Ichs vorstellt.25 Außerdem stellt er die disziplinierende und damit implizit
mnemotechnische Funktion der Poesie im Aphorismus 84 heraus. Die Relevanz
der Poesie für die Griechen zeigt sich Nietzsche zufolge darin, wie der Rhythmus
sowohl den Kultus als auch die Vorstellung bestimmt, die Götter seien durch ihn
zu beeinflussen.
Im Aphorismus 188 von Jenseits von Gut und Böse setzt Nietzsche – ein Jahr
vor der erweiterten Neuausgabe der Fröhlichen Wissenschaft – Rhythmus und
Reim ins Verhältnis zu den disziplinierenden Mitteln der Moral.26 Mit diesen
Reflexionen schließt er an seine Überlegungen aus dem Aphorismus 84 der
Fröhlichen Wissenschaft an, denen zufolge der Rhythmus, physisch als Tanz aus-
gedrückt, Affekte entlädt und zugleich formiert.27 Der Rhythmus besitzt folglich,
vor allem im Tanz, eine psychosomatische Funktion. Diese äußert sich primär
affektiv (oder affektpolitisch, wenn der Rhythmus bewusst verwendet wird, um
bestimmte Affekte zu evozieren). Die Affizierbarkeit des Menschen durch den
Rhythmus ist phylogenetisch veranlagt. Und Nietzsche hebt hervor, dass selbst
die „ernstesten Philosophen“ sich „auf Dichtersprüche berufen“.28 Selbst dort
also, wo es allgemeine Wahrheiten auszusprechen gilt, werden ästhetische Mittel
genutzt, die nicht der Wahrheit, sondern der Überzeugung dienen.
Zuletzt greife ich das Tanz-Motiv bei Nietzsche heraus, das für An den Mistral
besonders wichtig ist – worauf ja bereits der Untertitel verweist: Ein Tanzlied.29

25 FW Vorrede 4, KSA 3, 352, 25 u. 351, 28 f.


26 Eine umfassendere Analyse des Rhythmusgedankens und der damit zusammenhängenden


Theoreme hat Christian Benne, in seinem Aufsatz von Jenseits von Gut und Böse ausgehend,
bereits unternommen. Vgl. Benne, Christian, Good Cop, Bad Cop: Von der Wissenschaft des
Rhythmus zum Rhythmus der Wissenschaft, in: Abel, Günter / Brusotti, Marco / Heit, Helmut
(Hrsg.), Nietzsches Wissenschaftsphilosophie. Hintergründe, Wirkungen und Aktualität, Berlin /
Boston 2012, S. 189–212. Vgl. auch JGB, 188, KSA 5, 108–110.
27 Vgl. FW 84, KSA 3, 440, 32–441, 4.
28 FW 84, KSA 3, 442, 19 f.

29 Vgl. hierzu u. a. Pichler, Axel, Nietzsche, die Orchestikologie und das dissipative Denken, Wien

2010, insb. S. 193–196; und Reschke, Renate, Die andere Perspektive: Ein Gott, der zu tanzen
verstünde, Eine Skizze zur Ästhetik des Dionysischen im ‚Zarathustra‘, in: Gerhardt, Volker (Hrsg.),
Friedrich Nietzsche, ‚Also sprach Zarathustra‘, Berlin 2000, S. 257–284. Auch Udo Tietz hebt die
Philosophie als Tanz 185

Der Tanz wird im Aphorismus 84 nicht nur als leibliche Umsetzung des Rhythmus
verstanden, sondern auch als Disziplinartechnik, die den Leib formt. Sie ist aber
nicht nur darauf aus, den Leib zu binden, ihn ‚festzulegen‘, sondern sie bewegt
sich immer schon zwischen Affirmation des Tradierten und dessen Subversion,
wie Renate Reschke in einem Aufsatz zum Zarathustra herausstellt.30 Zudem ist
mit dem ‚Leib‘ – das wird einer der Kernpunkte meiner Lektüre sein – nicht nur
der faktische menschliche Körper gemeint, sondern potentiell auch das Text-
korpus. Im Folgenden wird deshalb auch danach gefragt, was es heißt, den Text
‚tanzen‘ zu lassen. Dabei steht die Deutung des Tanzes als ambivalente Disziplin-
artechnik im Vordergrund.
Auch der Aphorismus 107, der das von ästhetischen Reflexionen bestimmte
zweite Buch der Fröhlichen Wissenschaft abschließt und damit gleichermaßen als
Endprodukt eines Begriffsentwicklungs- und -verschiebungsprozesses angesehen
werden kann, interessiert mich unter dem Aspekt der Kunst, und zwar im Hin-
blick auf die „F r e i h e i t ü b e r d e n D i n g e n “, die Nietzsche hier als Wirkung der
Kunst herausstellt: Er definiert ,Kunst‘ als „g u t e n Willen zum Scheine“ und als
komplementäre Gegenkraft zur wissenschaftlich-desillusionierenden Redlich-
keit.31 Sie wird – verbunden mit der herausgestellten Rolle der Sprache als
Tradierungs- und Subversionsorgan – zu etwas Schöpferischem, das im Zusam-
menspiel mit der wissenschaftlichen Kritik das menschliche Leben auf redliche
Weise zu erhalten vermag. Diese durch die Kunst bedingte Freiheit ist aber auch
für die Überwindung der moralischen Perspektive von zentraler Bedeutung, die
mit der neugewonnenen Redlichkeit nicht vereinbar ist.

2
Damit komme ich zum Gedicht.32 Der Titel, die Widmung an den Nordwestwind in
der Provence, lässt eine Ode oder Hymne vermuten – und tatsächlich ist das

Bedeutung dieses Motivs heraus, kommt aber durch sein der Hermeneutik verpflichtetes Vokabu-
lar nicht zu einer philosophischen Deutung des Tanzes, die Nietzsches Vokabular angemessen
einbezieht. Vgl. Tietz, Udo, Musik und Tanz als symbolische Formen: Nietzsches ästhetische Inter-
subjektivität des Performativen, in: Nietzsche-Studien, Jg. 31, Berlin / New York 2002, S. 75–90.
30 Vgl. Reschke, Die andere Perspektive: Ein Gott der zu tanzen verstünde, S. 264–267 u. 276 f.

31 FW 107, KSA 3, 465, 6 f. u. 464, 18 f.


   

32 Bei der Interpretation werde ich, entsprechend traditioneller Nietzsche-Interpretationen, das


lyrische Ich und Nietzsche gleichsetzen. Ich begehe damit bewusst den Fehler, den Zittel in seiner
Studie zum Zarathustra für die Zarathustra-Forschung konstatiert: „Das Ergebnis war, daß […] die
vollzogene Trennung zwischen dem sogenannten ,kritischen Philosophen‘ Nietzsche und dem
‚naiven Dichter‘ [sich] auch in die neuere Sekundärliteratur einbürgern konnte, mit der Kon-
186 Stavros Patoussis

Gedicht im feierlichen Pathos dieser traditionellen Form gehalten. Der Untertitel


(„Ein Tanzlied“) zeigt dagegen eine ironische Brechung an, die den erhabenen
Duktus durch die Wiederholung konterkariert. Auch die formalen Eigenheiten
weisen eher auf ein Lied hin: Das Gedicht besteht aus elf sechszeiligen Strophen,
deren trochäische Vierheber jeweils Schweifreime bilden, wobei die vier paarrei-
menden Verse weiblich, die umarmenden Reime männlich kadenziert sind. Diese
Regelmäßigkeit macht das Gedicht äußert melodisch und sangbar. Zudem betont
das Reimschema jeweils den letzten Vers, der so den Status einer Pointe erhält;
vergleichbare pointierende Techniken verwendet Nietzsche auch in anderen Tex-
ten häufig. Inhaltlich kann folglich zwar von einem ‚hymnischen‘ Lobgesang „an
den Mistral“ gesprochen werden, doch kleidet Nietzsche diesen in die ‚unbe-
schwerte‘ Form eines Liedes, um den von ihm gerade gepriesenen, heiteren und
‚tänzerischen‘ Charakter des Mistral-Windes zu veranschaulichen.
Für den besungenen Mistral-Wind ist sein Bezug zur Provence charakteris-
tisch (womit eine Verbindung zwischen dem Mistral und der gaya scienza der
Trobadors besteht, die Nietzsche in Ecce homo selbst hervorhebt).33 Der Wind
bringt klaren Himmel, gute Fernsicht und vor allem kalte Luft. Otto Derschs
zeitgenössischer meteorologischer Aufsatz über den Mistral (1881) beschreibt ihn
als „heftigen Wind“, der von „Depressionen“, also von Tiefdruckgebieten her-
vorgerufen wird: „Der Mistral weht mit der größten Heftigkeit über der Proven-
ce“.34 Diese Tiefdruckgebiete erzeugen im Zusammenspiel mit verschieden ge-

sequenz, dass der Zarathustra als Ort für Weltanschauliches, pseudo-religiöse Neo-Mythen, ver-
femt blieb, während man sich den ,Philosophen‘ Nietzsche vordringlich aus den Nachlaßfrag-
menten systematisch zurechtkonstruierte. Dies ist einigermaßen befremdlich, da als ein un-
umstrittenes Ergebnis dieser Interpretationen vielfach die Untrennbarkeit von ästhetischer
Gestalt und philosophischem Gedanken bei Nietzsche ausgesprochen wurde. Die Unhintergeh-
barkeit des Ästhetischen wurde stets nur konstatiert; es wurde über Nietzsches ästhetisches
Auslegungskonzept räsoniert, nicht aber wurde mit ihm operiert.“ (Zittel, Das ästhetische Kalkül
von Friedrich Nietzsches ‚Also sprach Zarathustra‘, S. 13). – Von der durch Zittel kritisierten
Interpretationspraxis werde ich mich am Ende meiner Ausführungen ebenfalls absetzen. Vor-
läufig dient sie mir allerdings als heuristisches Mittel, um meine zentralen Beobachtungen zu
demonstrieren. Es sei auch angemerkt, dass ich mir der Problematik bewusst bin, die darin liegt,
Aussagen aus anderen Werkkontexten zum Aufzeigen von Verweisungszusammenhängen und
Leitthemen anzuführen. Ich erlaube mir den unsensiblen Umgang mit kontextuell bedingten
semantischen Verschiebungen und Entwicklungen, weil ihr heuristischer Gewinn angesichts des
begrenzten Umfangs dieser Arbeit meine methodischen Zweifel überwiegt.
33 Mike Rottmann verdanke ich den Hinweis auf einen Artikel, den Nietzsche wohl vor der
Konzeption des Gedichts gelesen hat. Vgl. Rottmanns Aufsatz in diesem Band; sowie Dersch, Otto,
Ueber den Ursprung des Mistrals, in: Zeitschrift der Österreichischen Gesellschaft für Meteorologie,
Band 16, Wien 1881, S. 52–57.
34 Dersch, Ueber den Ursprung des Mistrals, S. 52 u. 55.
Philosophie als Tanz 187

ladenen, aufeinandertreffenden Wolkenmassen „Regen und Gewitter“, die der


Mistral wiederum auflöst:

In den hohen Regionen weisse Cumuli ziehend, und mit positiver Elektricität und darunter
Wolken mit negativer Elektricität. Aus dem Kampfe dieser beiden Wolkenschichten ent-
stehen plötzlich Regen und Gewitter. Ist der Mistral vollständig zur Herrschaft gekommen,
so hört der Regen auf und es folgt klares Wetter.35

Derschs Ausführungen über den Mistral plausibilisieren dessen Bezeichnung als


„Wolken-Jäger“ in der ersten Strophe von Nietzsches Gedicht.36 Der Wind wird
hier nicht nur beschrieben, sondern auch über mehrere Bezeichnungen persona-
lisiert, etwa als „Trübsal-Mörder“.37 Der ihm ferner verliehene Beiname „Him-
mels-Feger“38 gibt ihm eine kämpferische Konnotation. Indem das lyrische Ich
ihn als „Brausende[n]“39 betitelt, wird zudem das ‚heftige Wehen‘ des Mistrals
verdeutlicht. Darauf folgt eine Liebesbekundung des lyrischen Ichs. Im Verweis
auf die meteorologische Funktion des Mistrals personifiziert Nietzsche Qualitäten
einer physikalischen Erscheinung.
Es folgt eine rhetorische Frage des lyrischen Ichs, welche die schicksalshafte
Verwandtschaft von Ich und Mistral-Wind suggeriert.40 Wollte man die erste
Strophe im Sinne von Nietzsches Philosophemen deuten, wäre die aufklärende
Wirkung des Mistrals mit Nietzsches ‚Freigeisterei‘ gleichzusetzen, die – in Analo-
gie zur vom Wind ermöglichten Fernsicht – die freie Sicht auf die Vielfalt der
Perspektiven und die ihr zugrunde liegende denkerische Redlichkeit bedingt.41
Verfolgt man diesen Ansatz weiter, erscheint der Mistral-Wind vor dem Hinter-
grund des bereits erwähnten Aphorismus 84 als kathartisch wirkendes, (anti-)
moralisches Phänomen, das – im Anschluss an die antike Vorstellung einer
therapeutischen Wirkung des Rhythmus – von den Affekten reinigt.42 Die Wasser-
und Eis-Metaphorik steht im Kontext einer von Nietzsche favorisierten Bildlich-
keit, die beispielsweise auch im Text Nummer 35 aus dem Vorspiel zur Fröhlichen
Wissenschaft, im ersten Abschnitt von Ecce homo: „Warum ich so klug bin“ sowie
in der Ecce-homo-Besprechung von Menschliches, Allzumenschliches evoziert

35 Dersch, Ueber den Ursprung des Mistrals, S. 56.


36 FW Anhang, KSA 3, 649, 19.
37 FW Anhang, KSA 3, 649, 20. Der Begriff des Mörders hat eine kriminelle Konnotation und
greift auf die Themen der achten bis zehnten Strophe vor.
38 FW Anhang, KSA 3, 649, 20.
39 FW Anhang, KSA 3, 649, 21.
40 Vgl. FW Anhang, KSA 3, 649, 22–24.
41 Vgl. hierzu bspw. FW 2, KSA 3, 373 f.; FW 124, KSA 3, 480; sowie FW 374, KSA 3, 626 f.
   

42 Vgl. FW 84, KSA 3, 440, 32–441, 4.


188 Stavros Patoussis

wird.43 Diese Metaphorik verbildlicht die kritische Attitüde des ‚freien Geistes‘
und den kathartischen sowie auch desillusionierenden Charakter seiner Erkennt-
nisse. Die Rede von der ‚ewigen Vorbestimmtheit‘ verweist auf das Schlagwort
„Amor fati“ und den Gedanken der ‚ewigen Wiederkunft‘, wobei der Zusammen-
hang durch die Reimstruktur noch untermauert wird („Brausender, wie lieb’ ich
dich! / […] / Vorbestimmte ewiglich?“).44
Auch wenn man über den Status dieser (Anti-)Lehren prinzipiell debattieren
kann, liegen hier recht eindeutige Verweise auf die Aphorismen 276 und 341 der
Fröhlichen Wissenschaft vor.45 Das lyrische Ich fühlt sich dem Mistral-Wind ver-
wandt und ‚liebt‘ dessen reinigenden Charakter, den es sich im Umkehrschluss
selbst zuschreibt. Das Stilmittel der rhetorischen Frage belässt die tatsächliche
Beschaffenheit einer solchen Verwandtschaft jedoch in der Schwebe: Die Frage
würde nicht gestellt, wäre sie nicht positiv zu beantworten; andererseits impli-
ziert die Frage aber auch, dass die Verwandtschaft nicht gesichert ist und vom
Mistral-Wind erst anerkannt werden muss. Spannend an dieser Strophe ist, dass
sie gewissermaßen das Projekt und Ziel der Fröhlichen Wissenschaft umreißt,
indem sie auf das vierte Buch zurückgreift, das von der Möglichkeit eines redli-
chen und bejahbaren Lebens im Angesicht des Nihilismus handelt.46
In der zweiten Strophe ‚läuft‘ das lyrische Ich „auf glatten Felsenwegen“ dem
besungenen Wind entgegen.47 In diesem auffälligen Bild ist der Tanz, d. h. der  

körperlich umgesetzte Rhythmus des Windes, der ‚pfeift und singt‘, mit dem
Bergsteigen verbunden. Hierauf wird der Mistral als Seefahrer ohne „Schiff und
Ruder“ und als „der Freiheit freister Bruder“ charakterisiert.48 Besonders hervor-
zuheben sind hier zum einen wieder die dritte und sechste Verszeile, welche die
klangliche Wirkung des Mistrals mit seinem Vermögen zur Fortbewegung über
das Meer ohne Seefahrzeuge zusammen führen. Zum anderen stellt das ‚Singen‘

43 Zur Illustration seien die genannten Textstellen hier vollständig zitiert: „E i s . / Ja! Mitunter
mach’ ich Eis: / Nützlich ist Eis zum Verdauen! / Hättet ihr viel zu verdauen, / Oh wie liebtet ihr
mein Eis!“ (FW Vorspiel 35, KSA 3, 361, 4–8.); „In vino v e r i t a s : es scheint, dass ich auch hier
wieder über den Begriff ‚Wahrheit‘ mit aller Welt uneins bin: – bei mir schwebt der Geist über dem
W a s s e r …“ (EH Warum ich so klug bin 1, KSA 6, 281, 8–10); „Ein Irrthum nach dem andern wird
gelassen aufs Eis gelegt, das Ideal wird nicht widerlegt – e s e r f r i e r t …“ (EH MA 1, KSA 6, 323, 6–
8). Die Verbindungen zwischen Eis-, Tanz- und Verdauungsmetaphorik sowie dem Thema der
Wahrheitskritik zeigen beispielhaft, wie sehr Nietzsches Schriften intertextuell verknüpft sind.
44 FW Anhang, KSA 3, 649, 21 u. 24.
45 FW 276, KSA 3, 521; FW 341, KSA 3, 570.
46 Vgl. Ries, Wiebrecht / Kiesow, Karl-Friedrich, Von ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ bis zur
‚Fröhlichen Wissenschaft‘ [Artikel], in: Ottman (Hrsg.), Nietzsche Handbuch, S. 91–119, hier S. 115.
47 FW Anhang, KSA 3, 650, 1.
48 FW Anhang, KSA 3, 650, 4 f.  
Philosophie als Tanz 189

des Mistrals eine Verbindung zum lyrischen Ich dar, ist doch der Gesang eine der
herausragenden Metaphern für das lyrische Wirken selbst. Der beseelte Mistral-
Wind ist damit selbst, wie das lyrische Ich auch, ein Dichter.
In welchen Zusammenhängen steht nun die Bildlichkeit dieser Strophe?
Nietzsches Bergmetaphorik steht, vereinfachend gesprochen, für einen von den
common sense-Meinungen entfernten Standpunkt ‚über den Dingen‘ – für ein
‚unzeitgemäßes‘ Denken jenseits üblicher Wertungen und Vorurteile.49 Das Motiv
des Tanzens auf glatter Oberfläche enthält auch der Sinnspruch Für Tänzer aus
dem Vorspiel zur Fröhlichen Wissenschaft. Dort handelt es sich um ein Bild für die
stilistisch sichere Handhabe von Sprache und für den nuancierten und tiefgehen-
den Zugang zu Erkenntnisproblemen.50 Die Seefahrer-Metaphorik steht in vieler-
lei Hinsicht für die Generierung neuer Erkenntnisse, für das Erkunden neuer
Wissensgebiete, aber auch für den Mut zu diesen Erkenntnissen und die größt-
mögliche Verunsicherung durch die Erkenntnis des Perspektivismus und des
Nihilismus.51 Infolge der Metamorphose des Mistral-Windes zum Dichter und
Seefahrer wie auch durch die behauptete Verwandtschaft zwischen Wind und Ich
verschmelzen die Eigenschaften des Bergwanderers, des Seefahrers und des
Dichters. Letztlich demonstriert diese Strophe Nietzsches künstlerisch-rhetorische
Ausdrucksfertigkeiten im Sinne seiner „vielfachste[n] Kunst des Stils“.52

49 Vgl. u. a. JGB Aus hohen Bergen, KSA 5, 241–243; FW 377, KSA 3, 628–631, insb. 630, 21 f.: „wir
   

ziehen es bei Weitem vor, auf Bergen zu leben, abseits, ‚unzeitgemäss‘“; EH Za 1, KSA 6, 335, 4–9:
„Die Grundconception des Werks, der E w i g e - W i e d e r k u n f t s - G e d a n k e , diese höchste Form
der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann –, gehört in den August des Jahres 1881: er ist
auf ein Blatt hingeworfen, mit der Unterschrift: ,6000 Fuss jenseits von Mensch und Zeit‘.“ – Diese
Belege sind keineswegs gleichwertig, dienen mir aber gleichermaßen dazu, die vielschichtigen
und mehrdeutigen Zusammenhänge zwischen der Bergmetaphorik und dem Motiv der zwischen-
menschlichen (JGB), moralischen, politischen, wissenschaftlichen (FW) und philosophischen
Sonderstellung (EH) des Einzelnen bei Nietzsche zu demonstrieren.
50 FW Vorspiel 13, KSA 3, 356. Vgl. in diesem Zusammenhang auch MA II WS 131, KSA 2, 610:
„D e n G e d a n k e n v e r b e s s e r n . – Den Stil verbessern – das heißt den Gedanken verbessern,
und gar Nichts weiter! – Wer diess nicht sofort zugiebt, ist auch nie davon zu überzeugen.“;
NL 1882, 1[109], KSA 10, 38, 8: „Das Erste, was noth thut, ist Leben: der Stil soll l e b e n .“; sowie
FW 290, KSA 3, 530, 8–13: „Seinem Charakter ‚Stil geben‘ – eine grosse und seltene Kunst! Sie übt
Der, welcher Alles übersieht, was seine Natur an Kräften und Schwächen bietet, und es dann
einem künstlerischen Plane einfügt, bis ein Jedes als Kunst und Vernunft erscheint auch die
Schwäche noch das Auge entzückt“. – In Bezug auf das letzte Zitat sei angemerkt, dass der Tanz
eine ähnliche affektpolitische Funktion erfüllt. Vgl. hierzu Reschke, Die andere Perspektive: Ein
Gott, der zu tanzen verstünde.
51 Vgl. M 432, KSA 3, 266; M 575, KSA 3, 331; FW 124, KSA 3, 480 sowie FW 318, KSA 3, 550.
52 EH Warum ich so gute Bücher schreibe 4, KSA 6, 304, 11.
190 Stavros Patoussis

Die folgenden drei Strophen bespreche ich weniger ausführlich, da für meine
Deutung in erster Linie die Metamorphosen des Mistrals relevant sind, die hier
nicht im Zentrum stehen. Das lyrische Ich geht dem Mistral in der dritten Strophe
entgegen und sieht ihn mit zum Horizont (zur „gelben Wand am Meer“) gerichte-
ten Blick heraufziehen.53 In dieser Strophe wird die Verbindung von Meer und
Berg durch die Schweifreimstruktur weiter untermauert. Dabei steht der offene
Horizont sinnbildlich für das Erkenntnisstreben.54
Neben dem Bild des aufhellenden Horizontes enthält die vierte Strophe ein
Jagdbild: Der Mistral verwandelt sich in eine Apoll- bzw. Helios-Figuration samt
Sonnenwagen. In der fünften Strophe erscheint der Mistral als Pfeil, wobei dieses
Bild durch den Schweifreim mit den „[e]rste[n] Morgenröthen“ in Verbindung
gebracht wird.55 Dass hier gleichermaßen die Kälte des Mistrals mit der Wärme
der Sonnengottheit verschmilzt und in der Gestalt Apolls die Gottheit der Künste
auftritt, stellt einen Kontrast zu der bisherigen Berglandschaft dar.
Die vierte und fünfte Strophe lassen sich als Kommentar auf die Morgenröthe
lesen, allgemeiner: auf das ‚freigeistige‘ Schaffen und auf die Methode der Mor-
genröthe, indem sie sich auf die Form der Sentenz und die pointierte Stilistik der
frühen Aphorismen zurückbeziehen. Durch die Akustik der Worte selbst, die viele
S-Laute enthalten, ist der „Pfeil“ – Nietzsche bezeichnet seine Sentenzen mitunter
als „Pfeile“56 – und das ‚Pfeifen des Windes‘ auch onomatopoetisch vergegen-
wärtigt („Stürmte“, „Stromesschnellen“, „Sieghaft“ „Rosse“, „Geissel“, „sprin-
gen“, „hinab[ ]schwingen“, „stossen“, „Goldstrahl“, „stürzt“).57 Die Verbindung
der Götter Apoll und Helios ist hervorzuheben, werden hier doch tradierte Bilder
der Erkenntnis übereinander gelegt, so etwa die Sonne als Wahrheit, Apoll als der
Gott des delphischen Orakels und der Jagd. Die oymorale Verschmelzung von
Wärme und Kälte verbindet das Bild des Eises, d. h. der desillusionierenden

Erkenntnisse, und des Feuers bei Nietzsche, welches sich beispielsweise im


Pathos der Erkenntnis, in Heraklits archē oder auch in der Anknüpfung an die
Sonnenmetaphorik niederschlägt. Die Überlagerung der Bilder zeugt jedoch von

53 FW Anhang, KSA 3, 650, 9.


54 Das Bild der „gelben Wand am Meer“ wirkt, als sei es einem Gemälde entnommen worden.
Dieser Umstand weist unter sprachkritischen Gesichtspunkten darauf hin, dass selbst die Rede
vom ‚offenen Horizont‘ immer schon eine metaphorische Formulierung darstellt und keineswegs
unmittelbar ein ‚reales‘ Phänomen in der Welt bezeichnet. Vgl. zum hieran anschließenden
Thema der Fiktionalisierung bei Nietzsche Pichler, Nietzsche, die Orchestikologie und das dis-
sipative Denken; sowie Zittel, Das ästhetische Kalkül von Friedrich Nietzsches ‚Also sprach Zara-
thustra‘, insb. S. 35–53.
55 FW Anhang, KSA 3, 650, 24.
56 GD Sprüche und Pfeile, KSA 6, 59–66.
57 FW Anhang, KSA 3, 650, 8–24.
Philosophie als Tanz 191

einer ambivalenten Stellung zur Erkenntnis selbst. Sie ist ‚verformt‘ und ver-
schiebt sich mit der jeweils wechselnden Ästhetik.
Auf die sechste Strophe möchte ich, aufgrund ihrer exponierten Stellung in
der Mitte des Gedichts, detaillierter eingehen: Zu Anfang ergeht an den Mistral die
Aufforderung, auf den Wellen zu tanzen. Das „t“, welches durch den Reim in den
zweiten Vers verlängert wird („Tanze“, „tausend“ und „Tücken“),58 ruft als Plosiv-
laut durch seine Akustik bereits einen Schrittton hervor, der an den Tanz erinnert.
Dieser Tanz findet auf dem Meer statt und ist mit der Seefahrt-Motivik verbunden.
Im zweiten Vers der Strophe bildet das Wort „Welle“ zusammen mit zwei weiteren
Nomen Komposita. Der Binnenreim der beiden Komposita, die auch den Reim der
ersten Zeile wiederholen, veranschaulicht innerhalb der Wörter bereits eine Wel-
lenbewegung („Wellen-Rücken“, „Wellen-Tücken“).59 Die „Rücken“ werden zu
„Tücken“: Aus dem deskriptiven wird ein perspektivisch wertender Standpunkt,
denn Tücken werden nur von den Leidtragenden als solche empfunden. Die
Wellen-Rhythmik der ersten beiden Verse wird vom dritten Vers, der das Paar-
reimschema durchbricht, durch einen Geviertstrich getrennt. Die Wellenmetapho-
rik erscheint so durchgängig, dass selbst die Trochäen als ‚Wellen-Metrum‘ ver-
standen werden können. Auf das gesamte Gedicht bezogen heißt das: Die
weiblich kadenzierten Verse bilden einen kontinuierlichen Fluss, den die männ-
lichen Kadenzen durchbrechen, sodass diese Verse stets betont werden.60
Der dritte Vers der sechsten Strophe ist ein Ausruf, ein Gruß und Segens-
wunsch an den Erschaffer neuer Tänze. Grammatisch müsste es eigentlich „Heil
dem, der …“ heißen, nicht „Heil, wer n e u e Tänze schafft!“61 Die Verkürzung
könnte sich dadurch erklären, dass hier eine männliche Kadenz angestrebt wird.
Auffällig an dieser Formulierung ist, dass der Ausruf sich an alle Schaffenden
richtet und nicht mehr nur, wie in den Strophen zuvor, an den Mistral-Wind. Aus
dem einzelnen Adressaten wird eine Adressatengruppe: Das „wir“62 kann sich
einerseits auf den Mistral und das Ich beziehen, andererseits kann es aber auch
allgemeiner verstanden werden. Meines Erachtens wird eine größere Gruppe
angesprochen, da das lyrische Wir fordert, „in tausend Weisen“ zu tanzen.63 Das

58 FW Anhang, KSA 3, 650, 25 f.


59 FW Anhang, KSA 3, 650, 26.


60 Auf dieser Beobachtung fußt auch meine Fokussierung auf die dritte und sechste Zeile jeder
Strophe.
61 FW Anhang, KSA 3, 650, 27.
62 FW Anhang, KSA 3, 650, 28.
63 FW Anhang, KSA 3, 650, 28. Selbstverständlich kann sich das lyrische Wir auch aus dem
lyrischen Ich und dem angesprochenen Mistral-Wind konstituieren. Die Sprecherinstanz aber auf
diese Lesart festzulegen, wird meines Erachtens der Vieldeutigkeit der Stelle nicht gerecht.
192 Stavros Patoussis

„wir“ schwebt in der Folge zwischen der Bezeichnung der Gemeinschaft von Ich
und Mistral sowie der Ansprache an eine größere Gruppe.64 In diesem Vers findet
sich außerdem eine der drei Hervorhebungen innerhalb der Strophe (das gesamte
Gedicht weist fünf auf), nämlich das Adjektiv „neue“. Damit wird die Neuartigkeit
der Tänze betont.
Dies leitet zu einer Aufforderung zum Tanz in „tausend Weisen“ über, die
sich an ebenjene Wir-Gruppe richtet, die auch das lyrische Ich einschließt.65 Auf
der Basis dieses Imperativs werden die Charakteristika von Kunst und Wissen-
schaft gegenüber der Gruppe von Tanzenden herausgestellt: Die Kunst sei frei
„geheissen“, die Wissenschaft „fröhlich“.66 In den beiden letzten Versen ist
jeweils das Wort „unsre“ hervorgehoben, wobei die Synkope kolloquial wirkt: Es
handelt sich um eine Gruppe von Eingeweihten, die sich einem kollektiven
Unternehmen verschrieben hat, das gleichwohl der schöpferischen Individualität
des Einzelnen bedarf, vor allem aber seine eigene Exklusivität hervorhebt. Ein
solches Unternehmen des vielfachen ‚neuen Tanzes‘ besitzt damit keinen all-
gemeingültigen Anspruch. Die Gruppe der Adressaten ist zwar ein „wir“, die
exkludierende Funktion wird jedoch stets mitgedacht. Auch das Wort „geheissen“
ist auffällig.67 Wären Kunst und Wissenschaft bereits ‚frei‘ und ‚fröhlich‘, müsste
man diese Bezeichnungen nicht mehr postulieren. Der Aphorismus 58 der Fröhli-
chen Wissenschaft gibt über die hier in Aktion tretende Funktion von Sprache
Auskunft: Dinge zu benennen und den Dingen Attribute zuzuschreiben, schaffe
die Möglichkeit und damit die „Wahrscheinlichkeit[ ]“,68 dass sie irgendwann
entsprechend ihrer Zuschreibungen wahrgenommen werden.
Der dritte und sechste Vers der sechsten Strophe entfalten durch ihre reimbe-
dingte Verbindung eine Synergie, deren Bedeutung kaum hoch genug einge-
schätzt werden kann: „Heil, wer n e u e Tänze schafft! / […] / Fröhlich – u n s r e
Wissenschaft“.69 Damit stehen die ‚Fröhlichkeit‘ der Wissenschaft und die ästhe-
tische Schaffenskraft in einer engen Verbindung. Welches sind nun diejenigen
Themenkomplexe der Fröhlichen Wissenschaft, die diese neue ‚Wissenschafts‘-

64 Ich hebe diesen Schwebezustand deshalb hervor, weil Nietzsche in der Vorrede zu Mensch-
liches, Allzumenschliches seine oft beschworene Gemeinschaft von gleichgesinnten ‚freien Geis-
tern‘ nachträglich als Imagination entlarvt. Der dort beschriebene Schaffensprozess erinnert an
die ‚schwebende‘ Konstitution des lyrischen Wir in der zweiten Hälfte des Mistral-Gedichts. Vgl.
MA Vorrede 2, KSA 2, 15. Vgl. auch meine Ausführungen zur zehnten Strophe.
65 FW Anhang, KSA 3, 650, 28.
66 FW Anhang, KSA 3, 650, 29 f.

67 FW Anhang, KSA 3, 650, 29.


68 FW 58, KSA 3, 422, 26.
69 FW Anhang, KSA 3, 650, 27 u. 30.
Philosophie als Tanz 193

Auffassung ausmachen? Ich fasse kurz zusammen: Nietzsche inszeniert Wissen-


schaft als Praxis, die nicht zuletzt leiblich stattfindet und einen eigenen Rhyth-
mus hat – folglich reflektiert das Gedicht Erkenntnisse aus dem dritten und
fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft, darüber hinaus auch aus der dritten
Abhandlung der Genealogie der Moral. Das Gedicht steht vor allem im Kontext der
Wissenschaftskritik aus dem dritten Buch der Fröhlichen Wissenschaft, denn nur
das Konzept der ‚fröhlichen Wissenschaft‘ fördere und fordere plurales Denken,
das den herkömmlichen Naturwissenschaften überlegen sei.70 An den Mistral
entfaltet eine neue Perspektive auf das, was ‚fröhliche Wissenschaft‘ heißt, und
ist selber Ausdruck dieser Wissenschafts- und Kunstform. Damit ist diese Strophe
auch in poeseologischer Hinsicht relevant: Das Gedicht ist nicht nur der Text, der
auf ‚neue Weise‘ tanzt, sondern reflektiert diesen Prozess selbst auf eine ‚neue
Weise‘.
Die folgende Strophe hat ebenfalls eine poeseologische Funktion, zielt aber
auf einen anderen Aspekt ab. In ihr ergeht an die Wir-Gruppe die Aufforderung,
von jeder Blume eine Blüte zu ‚raffen‘ und daraus einen „Kranz“ zu flechten.71 Die
metaphorische Bezeichnung der Dichtung als Garten sowie die sinnbildliche
Gleichsetzung von Blumen und Metaphern sind traditionelle Topoi der Poetolo-
gie. Der „Kranz“ verweist als Lorbeerkranz auf die Dichterwettbewerbe der Anti-
ke, des Mittelalters und der Renaissance, deren Sieger jeweils zum poeta laureatus
‚gekrönt‘ wurde. Der „Kranz“ rekurriert aber auch auf den Efeukranz, den Diony-
sos als Attribut trägt und der in der Antike generell Symbol von Heiterkeit und
Geselligkeit war. An dieser Textstelle überblendet Nietzsche beide Bedeutungs-
aspekte zu einem betont heiteren Bild der Krönung des lyrischen Wir durch und
zur Dichtung. Auf der poeseologischen Ebene des Gedichts erscheint es sogar
selbst als „Kranz“, da es das Ziel und den Zweck der ‚Dichtungs-Bewegung‘
darstellt.
Der als ‚trobadorgleich‘ bezeichnete Tanz „zwischen Heiligen und Huren“,
„[z]wischen Gott und Welt“,72 der in der zweiten Strophenhälfte thematisiert wird,
bezieht sich auf das Konzept der gaya scienza, auf den Immoralismus und auf die
Stellung zwischen dem unausgesetztem Werden der phänomenalen Welt und der
Metaphysik (den ‚Hinterwelten‘ oder dem ‚wahren Sein‘). Von diesen großen

70 Vgl. FW 108–112, KSA 3, 467–473. In diesen Aphorismen zu Beginn des dritten Buches der
Fröhlichen Wissenschaft beginnt Nietzsches Kritik der Naturwissenschaften, die sich von der Kritik
des Naturgesetzes über eine Kritik des Logischen bis hin zu einer Kritik des Kausalitätsbegriffes
erstreckt.
71 FW Anhang, KSA 3, 651, 3.
72 FW Anhang, KSA 3, 651, 5 f.

194 Stavros Patoussis

Themenkomplexen ausgehend,73 kann das poeseologische Verständnis der Stro-


phe begründet werden: So wird in der ersten Hälfte die Dichtung als appropriati-
ves Verfahren aufgezeigt, wohingegen die zweite Hälfte sie stärker als körperliche
Praxis – auch und vor allem als ‚textkörperliche‘ Praxis, d. h. das, was tanzt, ist

das Textkorpus – einer ‚ritterlichen‘ Dichter-Elite auszeichnet, die immoralistisch


und antimetaphysisch eingestellt ist. Der dritte und der sechste Vers der Strophe
lassen sich produktiv miteinander verbinden, wenn man voraussetzt, dass die
Dichtung das Spiel zwischen Sein und Werden widerspiegelt, dass der „Kranz“,
also das Gedicht, immer auch den Tanz des Textkörpers darstellt („Und zwei
Blätter noch zum Kranz! / […] / Zwischen Gott und Welt den Tanz!“).74 Die siebte
Strophe ist folglich besonders wichtig, weil in ihr die Intertextualitätsstrategie des
Textes artikuliert wird. Dies findet aber in einer Sprache statt, die zum einen
immer schon intertextuell mit Texten der Tradition verflochten ist (antike Dich-
tung: Pindar, Anakreon; mittelalterliche Trobadordichtung und vor allem Goethe:
Heidenröslein, Gott und Welt sowie Faust), andererseits aber auch die Bilder dieser
Tradition vereinnahmt.75 Die ambivalente Position des (sprachlich) Schaffenden
wird hier durch die Adaption und Umgestaltung der Metaphern realisiert. Nietz-
sche gliedert die überlieferten Elemente ein und schafft sie gleichzeitig um.
Gleichwohl bricht das lyrische Wir in der siebten Strophe auch mit der ‚ernsten‘
Reflexion.76 Die Kolloquialität und die ironische Brechung der klassischen Dich-
tungsmetaphern sind Teil einer Darstellungsstrategie, die in der zweiten Strophen-
hälfte charakterisiert wird. Dichtung wird der menschlichen Erkenntnisfähigkeit,
die Ungleiches angleicht, entgegengesetzt. Damit erscheint aber Dichtung selbst
als etwas, das zwischen ‚Heiterkeit‘ und ‚großem Ernst‘ schwebt.77 Sie ist selbst
immer schon verschiebend, gleichzeitig aber auch selbst Verschobenes, das von
der Tradition her Motive gewinnt und dabei stets von ihr abhängig ist.
Aus dieser Perspektive gestaltet sich der Blick auf die achte Strophe etwas
weniger befangen, als er es mit Blick auf die moralische Brisanz derselben sein
müsste.78 Wie bereits hervorgehoben, ist der Tanz „in tausend Weisen“ etwas, das

73 Vgl. hierzu bspw. Abel, Günter, Nietzsche: Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige
Wiederkehr, 2., um ein Vorwort erweiterte Auflage, Berlin / New York 1998; Müller-Lauter,
Wolfgang, Nietzsche-Interpretationen I: Über Werden und Wille zur Macht, Berlin / New York 1999;
sowie Müller-Lauter, Wolfgang, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze
seiner Philosophie, Berlin / New York 1971.
74 FW Anhang, KSA 3, 651, 3 u. 6.
75 Dem Deflorationsmotiv aus Goethes Heidenröslein wird durch das „Raffen“ eine gewaltsamere
Nuance verliehen.
76 Vgl. meine Ausführungen zu FW 84, KSA 3, 439–442 in der Einleitung.
77 Vgl. FW Vorrede 4, KSA 3, 351, 28 f. u. 352, 25.

78 Vgl. Ziemann, Die Gedichte, S. 154.


Philosophie als Tanz 195

keine universelle Gültigkeit beanspruchen kann. Es gibt Gruppen, die gezielt


ausgegrenzt werden. Hierzu zählen die „Krüppel-Greis[e]“, die sich „mit Binden“
wickeln müssen und dadurch „[a]ngebunden“ sind.79 Die folgenden Komposita
bezeichnen vor allem Menschen, die aus moralischen Gründen aus dem ‚Projekt‘
auszuschließen sind (so ist die Rede von „Heuchel-Hänsen“, „Ehren-Tölpeln“
und „Tugend-Gänsen“).80 Hervorzuheben sind die Alliterationen innerhalb des
Kompositums der vierten Zeile und zwischen „Tölpeln“ und „Tugend“ in der
fünften Zeile der achten Strophe. Außerdem fällt auf, dass das lyrische Wir die
ausgeschlossene Gruppe nachdrücklich als geistig unterlegen beschreibt. Es wer-
den Menschen parodiert, die sich selbst und die von ihnen vertretene Moral so
ernst nehmen, dass sich dahinter eine Unfähigkeit zur Freiheit und Pluralität
offenbart. Die Verbindung von dritter und sechster Verszeile („Angebunden,
Krüppel-Greis, / […] / Fort aus unsrem Paradeis!“)81 lässt sich nicht nur als
Ausschluss Derjenigen lesen, die aufgrund ihrer restriktiven Weltanschauungen
keine plurale Schaffenskraft besitzen; dieser Zusammenhang besteht mit Rück-
blick auf die siebte Strophe vielmehr auch in Bezug auf intertextuelle Verweise
und besonders produktive Metaphern. Wie bereits angedeutet wurde, genießen
bestimmte Traditionslinien besondere Aufmerksamkeit. Allerdings wird in An den
Mistral nicht versucht, einen kantischen Blick auf die Moral fruchtbar zu machen,
wie es Schiller versucht. Das Beispiel ist nicht zufällig gewählt, ist doch gerade
der Ausschluss kantischer – und damit nach Nietzsche immer schon implizit
christlicher – Moralvorstellungen in dieser Strophe hervorzuheben.
Aus dieser Perspektive lässt sich der Paradiesbegriff, der im bereits genannten
Gedicht Für Tänzer auch schon als „Paradeis“ auftaucht, neu lesen: Zum einen
besteht er als partikularer Ort („unsrem Paradeis“) und ist folglich nicht im Sinne
einer universellen Erlösung christlich konnotiert. Nietzsche operiert hier zwar mit
einem Terminus aus der christlichen Glaubenslehre, doch er deutet ihn sofort in
seinem Sinne um. Der metaphorische Gehalt des Begriffs macht diesen zudem,
wie den Großteil der von Nietzsche im Gedicht verwendeten Begriffe, ambivalent:
Wie kann ‚Erlösung‘ stattfinden, wenn dieser Begriff selbst immer schon künstlich
erschaffen wird? Die permanente Metaphernschichtung und Relativierung, die
sich in Formen des Tanzes „in tausend Weisen“ ausdrückt und auf der Metaebene
durch diese Metapher selbst beschrieben wird, ist potentiell endlos.
Die neunte Strophe ist die mit Abstand brisanteste des Gedichts. Das lyrische
Wir fordert, den „Kranken“ den „Staub der Strassen“ in „die Nasen“ zu wirbeln

79 FW Anhang, KSA 3, 651, 8 f.


80 FW Anhang, KSA 3, 651, 10 f.  

81 FW Anhang, KSA 3, 651, 9 u. 12.


196 Stavros Patoussis

und die „Kranken-Brut“ zu „[s]cheuchen“.82 Zudem soll „die ganze Küste“ vom
„Odem dürrer Brüste“ und von „den Augen ohne Muth“ ‚erlöst‘ werden.83 Die
ersten drei Verszeilen verbleiben in der Bildlichkeit des Windes und des Tanzes.
Der vom Wind herumgewehte Staub zeugt von der Minderwertigkeit der Aus-
geschlossenen, die – sind sie doch unfähig, mitzutanzen – von dem sonst reinigen-
den Mistral-Wind nur verschmutzt werden. Der „Krüppel-Greis“ ist jetzt zum
„Kranken“, sogar zur „Brut“ potenziert: Der Begriff des „Scheuchen[s]“ wertet
diese „Kranken-Brut“ weiter bis zur Entpersonalisierung, gar Enthumanisierung,
ab. Diese Ausgrenzung und vor allem Abwertung hat eine klare Funktion für das
‚Projekt‘: Sie dient dazu, den Ausgangspunkt desselben zu optimieren („Lösen wir
die ganze Küste“) und die Polyperspektivität und Polyphonie aufrechtzuerhalten –
dies jedenfalls lassen die Aktualisierung des Odem-Konzeptes als beseelter Atem
und das Bild der „Augen ohne Muth“ vermuten. Neben der Synästhesie von Atem,
Ton und Sehkraft, die für das Rhythmusgefühl und damit auch für das Tanzen
zentrale unbewusste, leibliche Prozesse anzeigt, ist eine weitere poeseologische
Nuance zu erkennen, die für das Schaffen bestimmte Voraussetzungen markiert:
Nicht nur muss ein solches ‚Projekt‘ seinen Ausschließungsprozess konsequent
umsetzen, um sich selbst aufrecht zu erhalten; es muss ihn auch reflektieren und
diese Reflexion als Basis allen Schaffens ansehen. Um diese Deutung zu unter-
streichen, sei auf die Synergie zwischen der dritten und sechsten Zeile dieser
Strophe verwiesen: „Scheuchen wir die Kranken-Brut! / […] / Von den Augen ohne
Muth!“84 Die Krankheit und die Unfähigkeit zur Vielfalt der Erkenntnisweisen
hängen notwendig zusammen. Diese Gedanken verbinden sich mit Nietzsches
konsequenter Kritik der Mitleidsmoral, insofern diese als Restriktion der Pluralität
des Phänomens Leben zugunsten der Sklaven fungiert.85 Mit der Mitleidsmoral
werden auch die Begriffe des ‚asketischen Ideals‘ und des ‚Priesters‘ aufgerufen,
die Nietzsche in der Genealogie der Moral mit der jüdisch-christlichen Moral in
Verbindung bringt.86 Durch die Forderungen im Text werden sie implizit als
untauglich für das Projekt einer ‚fröhlichen Wissenschaft‘ dargestellt.
Die zehnte Strophe stellt den Höhepunkt der Ausgrenzung dar und leitet
wieder zur positiven Bestimmung des ‚Projektes‘ über. Das „Scheuchen“ aus der
vorherigen Strophe wird zum „Jagen“ gesteigert:87 Ist das „Scheuchen“ noch eine
Praxis, bei der das Opfer überlebt, ist die Jagd bereits mit einer Tötungsabsicht

82 FW Anhang, KSA 3, 651, 13–15.


83 FW Anhang, KSA 3, 651, 16–18.
84 FW Anhang, KSA 3, 651, 15 u. 18.
85 Vgl. GM III 13, KSA 5, 367–372.
86 Vgl. GM III 15–19, KSA 5, 372–387.
87 FW Anhang, KSA 3, 651, 15 u. 19.
Philosophie als Tanz 197

verbunden.88 Die Komposita, welche die Gruppe der Ausgegrenzten bezeichnen,


stehen jetzt wieder explizit in Verbindung mit den meteorologischen Metaphern
zur Bezeichnung des Mistrals („Himmels-Trüber“, „Welten-Schwärzer“, „Wolken-
Schieber“).89 Die ‚Depression‘, die dem Heraufziehen des Mistrals vorausgeht und
die dieser beseitigt, wird jetzt explizit den Ausgegrenzten zugeschrieben – von
einem meteorologischen Phänomen wird sie zu einem moralischen. Die Vertrei-
bung des ‚schlechten Wetters‘ schließt allerdings deren ‚Verursacher‘ ein: Der
Mistral-Wind ‚fegt‘ auch die „Himmels-Trüber“ hinweg. Das Ziel besteht nämlich
im „Hellen“ des „Himmelreich[es]“.90 Die Alliteration lässt darauf schließen, dass
das „Himmelreich“ an und für sich ‚hell‘ ist und von den „Welten-Schwärzer[n]“
künstlich verdunkelt wurde. Auffällig ist diese Metaphorik insofern, als sie offen-
sichtlich auf die Gruppe der Pessimisten und Nihilisten gemünzt ist.91 Die Begriffe
„Himmelreich“ und „Paradeis“ verweisen auf einen christlich konnotierten, uto-
pischen Ort. Die dem Mistral-Wind zugeschriebenen Eigenschaften lassen diesen
Ort jedoch – im Gegensatz zur christlichen Deutung – als Reich potentieller
Erkenntnisse und der Pluralität „virtueller Ontologien“ erscheinen.92
Die zweite Strophenhälfte beginnt mit dem Ansatz einer Aufforderung
(„Brausen wir“93), der unvermittelt von einer Pause unterbrochen und anschlie-
ßend durch eine Apostrophe des Mistral-Windes abgelöst wird, die ihn wiederum
als den „Geist“ „aller freien Geister“ bezeichnet.94 In der Gemeinschaft mit dem
Mistral findet das lyrische Ich sein „Glück“, das „dem Sturme gleich“ brause.95
Hier manifestiert sich nochmals der Schwebezustand des lyrischen Wir, der
bereits festgestellt wurde: Der Mistral ist zwar subjektiviert, aber immer auch
schon ein plurales Subjekt. Indem er das Wort ‚Brausen‘ hervorhebt, betont Nietz-
sche den akustischen, optischen und leiblichen Aspekt des Wetterphänomens,
das er am Ende der zehnten Strophe mit dem ‚tanzenden‘ „Glück“ des Ichs
gleichsetzt.96 Über den umarmenden Reim wird die Utopie der Erkenntnisvielfalt
und des überwundenen Pessimismus mit diesem ‚tanzenden Glück‘ verbunden.

88 Vgl. hierzu auch die Formulierung „Trübsal-Mörder“ (FW Anhang, KSA 3, 649, 2).
89 FW Anhang, KSA 3, 651, 19 f.

90 FW Anhang, KSA 3, 651, 21.


91 Vgl. zu Nietzsches Kritik des (romantischen) Pessimismus allgemein die dritte Abhandlung
der Genealogie der Moral (KSA 5, 339–412) sowie das fünfte Buch der Fröhlichen Wissenschaft
(KSA 3, 573–638).
92 Zum Begriff der ‚virtuellen Ontologien‘ und seinem Wert für die Beschreibung von Nietzsches
Denken vgl. Pichler, Nietzsche, die Orchestikologie und das dissipative Denken, S. 179–190.
93 FW Anhang, KSA 3, 651, 22.
94 FW Anhang, KSA 3, 651, 22 f.

95 FW Anhang, KSA 3, 651, 24.


96 FW Anhang, KSA 3, 651, 24.
198 Stavros Patoussis

Besonders die als Steigerung arrangierte Stellung der negativ konnotierten Kom-
posita deutet darauf hin, dass dieses Glück nur im Angesicht der ‚Ausgegrenzten‘
existiert, die einerseits Entstehungsbedingung des Mistrals, aber andererseits
auch seine ‚Gegner‘ sind. Die Alliteration zwischen den Komposita-Teilen („Wel-
ten“ und „Wolken“, „Schwärzer“ und „Schieber“) aktualisiert die Wellenfigur des
Gedichts.97 Darüber hinaus verbindet sie die „Welten“ und die „Wolken“, virtuel-
le Ontologie und Kunst, und pejorisiert die dem „Hellen“ und „Brausen“ ent-
gegengesetzten Tätigkeiten des ‚Schwärzens‘ und ‚Schiebens‘.98
Übersetzte man dieses Glücksverständnis in Philosopheme Nietzsches, ließe
sich darin seine Kritik des utilitaristischen bzw. nihilistischen Glücksbegriffs
wiederfinden, die er zugunsten eines Begriffes von Glück formuliert, der Leid
nicht ausschließt.99 Das Prinzip „Glück“ offenbart sich in diesem philosophi-
schen Sinne nur als eine Metapher, die innerhalb der Moral dazu genutzt wird,
um Menschen zu disziplinieren. Innerhalb des poetischen Zusammenhanges von
Nietzsches Gedicht ist es dagegen auch möglich, die Glücksmetapher generell mit
utopischen Vorstellungen in Verbindung zu bringen. Gleichwohl relativiert der
poetische Zusammenhang den begrifflichen Geltungsbereich: Die poetische Ver-
arbeitung des Nihilismus ist gleichbedeutend mit seiner Überwindung. Aus der
Reflexion der Tatsache, dass der Nihilismus überhaupt der Grundstein dieser
utopischen Vorstellungen und ihrer poetischen Mittel ist, entspringt eine selbst-
aufhebende Bewegung der dichterischen Reflexion.
Da die Lieder des Prinzen Vogelfrei erst in der zweiten Ausgabe der Fröhlichen
Wissenschaft veröffentlicht wurden, kann an dieser Stelle sogar von einem Selbst-
zitat Nietzsches gesprochen werden. Er zitiert hier nämlich Zarathustras Rede
„Von den Dichtern“:

Das aber glauben alle Dichter: dass wer im Grase oder an einsamen Gehängen liegend die
Ohren spitze, Etwas von den Dingen erfahre, die zwischen Himmel und Erde sind. […]
Ach, es giebt so viel Dinge zwischen Himmel und Erden, von denen sich nur die Dichter
Etwas haben träumen lassen!
Und zumal ü b e r dem Himmel: denn alle Götter sind Dichter-Gleichniss, Dichter-
Erschleichniss!100

Neben der Parallele zu dem Gedicht An Goethe findet sich in diesem Passus auch
die Himmelsmetapher, die in Verbindung mit den Göttern explizit als „Dichter-

97 FW Anhang, KSA 3, 651, 20.


98 FW Anhang, KSA 3, 651, 20.
99 Vgl. bspw. Gloy, Karen, Zwischen Glück und Tragik. Philosophische Daseinsdeutungen, Mün-
chen 2014, S. 174–185.
100 Za II, KSA 4, 164, 18–29.
Philosophie als Tanz 199

Gleichniss, Dichter-Erschleichniss“ charakterisiert wird. Nietzsche erhöht den


Komplexitätsgrad der inter- bzw. intratextuellen Verweise, insofern er die zehnte
Strophe von An den Mistral über die Zarathustra-Textstelle mit dem Gedicht An
Goethe verknüpft. Dieser Verweisungszusammenhang zeigt auch, dass Nietzsche
nicht nur Personen und Figuren der geistesgeschichtlichen Tradition zum Ziel des
dichterischen Aneignungsprozesses macht, sondern auch die eigenen Metaphern
reappropriiert, reaktualisiert und refiguriert.
Wie schon die sechste Strophe als formaler Mittelpunkt des Gedichts, ist auch
die letzte Strophe durch ihre Stellung von besonderer Bedeutung für die Inter-
pretation. Auch die Wiederaufnahme des die vorherige Strophe beschließenden
Gedankenstrichs in der ersten Verszeile fällt auf.101 Ewig soll die Erinnerung an
ein ‚solches Glück‘ währen, voller Ekstase fordert das lyrische Ich den Mistral-
Wind auf, den geflochtenen „K r a n z hier mit hinauf“ zu nehmen.102 Die steigern-
de Aufzählung („höher, ferner, weiter“) leitet schließlich das Bild der „Himmels-
leiter“ ein, an deren Ende – unterbrochen durch einen Gedankenstrich – das
Aufhängen des Kranzes „an den Sternen“ steht.103
Versteht man den „Kranz“ – der als letzte Hervorhebung des Gedichts inner-
halb der Strophe im Vordergrund steht – weiterhin als Metapher für die Dichtung
und gleichzeitig für dieses Gedicht selbst, so ist diese Stelle folgerichtig als eine
ewige Bejahung der Dichtung und dieses Gedichts zu lesen. Dies steht mit dem
Gedanken der ‚ewigen Wiederkunft‘ und der Vorstellung des amor fati aus der
ersten Strophe in Verbindung. Gleichwohl wird reflektiert, inwiefern dieses Ge-
dicht selbst zur Bejahung dieses Gedankens notwendig ist, da hierfür ein per-
manenter Aktualisierungsprozess vorausgesetzt werden muss. Schließlich kann
die unausgesetzte Bejahung poetisch immer nur durch punktuelle Refigurationen
der betreffenden Motive, Gedanken und Topoi stattfinden. Diese Refigurationen
sind aber immer nur in Differenz zu den ausgeschlossenen Phänomenen, in
diesem Fall zum Nihilismus, zu denken. Zwischen diesen Polen, zwischen dem
philosophisch konstatierten Nihilismus und dessen poetischer Überwindung,
schwebt aber auch die Interpretation und Reaktualisierung der Metaphern inner-
halb des Gedichts selbst.
Die ambivalente Erhebungsbewegung zu den „Sternen“ ist hierbei höchst
relevant:104 Stehen die „Sterne[ ]“ zum einen symbolisch für das Höchste, dem
Menschen Unerreichbare, sind sie zum anderen wissenschaftlich gut erforscht
und folglich mythischen Vorstellungen weitgehend entkleidet. Das macht sie zum

101 Vgl. FW Anhang, KSA 3, 651, 24 f.


102 FW Anhang, KSA 3, 651, 27.


103 FW Anhang, KSA 3, 651, 28–30.
104 FW Anhang, KSA 3, 651, 30.
200 Stavros Patoussis

Sinnbild für den Illusionismus der menschlichen Erkenntnisfähigkeit.105 In Nietz-


sches Texten stehen sie darüber hinaus noch häufig für ein Prinzip der individuell
konzipierten, höchsten Autonomie. So etwa im „Vorspiel“-Gedicht Sternen-Mo-
ral106 und innerhalb des ersten Teils von Also sprach Zarathustra.
An den Mistral reflektiert darüber hinaus in der Bezugnahme auf die Ewigkeit
in der ersten und letzten Strophe die Gedanken der ‚Provenienz‘ und des ‚Ge-
dächtnisses‘, die zentrale Aspekte der konstatierten Ambivalenz des Schaffenden
implizit darstellen: Zum einen versteht der Schaffende sich aus der Vergangenheit
heraus und entwirft sich auf die Zukunft hin. Gleichzeitig betont Nietzsche aber
das Gedächtnis als Organ der produktiven Aufnahme und des Ursprungs der
selbstkonstituierenden Fähigkeit des Schaffenden.107 Die von mir konstatierte
Ambivalenz ergibt sich selbst immer erst aus einem unbewusst wirkenden Ge-
dächtnis, welches das (Sich-)Vergessen als schöpferischen Akt seinerseits erst
ermöglicht. Die Mnemotechnik als Produkt des Rhythmus und der Tanz als
leibliches Ausüben des Rhythmus erscheinen vor diesem Hintergrund als Funk-
tionen des Gedichts. Damit schreibt sich das Gedicht selbst in das Gedächtnis ein
und spiegelt ebendiesen Prozess reflexiv wider.

3
Abschließend werde ich versuchen, die zentralen Deutungsaspekte, die ich durch
die Analyse der einzelnen Strophen erarbeitet habe, anhand mehrerer Kernthesen
zusammenzuführen: Erstens wird mich interessieren, wofür der besungene Mis-
tral ‚steht‘. Mit Blick auf die philosophische Konzeptualisierung des Mistral-
Windes erörtere ich zweitens, inwiefern durch die dichterische Form das Ver-
fahren der philosophischen Konzeptualisierung notwendigerweise unzureichend
bleibt. Schließlich werde ich erläutern, was die Dichtung Nietzsches für sein
Philosophieren bedeutet.
Was ‚bedeutet‘ der Mistral? Er erscheint als die personifizierte Philosophie
Nietzsches. Er ist vor allem ein Movens, ein Dialogpartner, zu dem sich das
lyrische Ich verhält und der von ihm bejubelt wird. Dieser Interpretation zufolge

105 Vgl. Treccani, Irene, Nietzsche und die Astronomie, in: Heit, Helmut / Heller, Lisa (Hrsg.),
Handbuch: Nietzsche und die Wissenschaften. Natur-, geistes- und sozialwissenschaftliche Kontexte,
Berlin / Boston 2014, S. 155–172; sowie zur poetologischen Funktion: Groddeck, Wolfram, „OH
HIMMEL ÜBER MIR“. Zur kosmischen Wendung in Nietzsches Poetologie, in: Nietzsche-Studien,
Jg. 18, Berlin / New York 1989, S. 490–508, insb. S. 495 f. u. S. 505–507.

106 FW Vorspiel 63, KSA 3, 367.


107 Vgl. FW 84, KSA 3, 440 u. GM II, 1 u. 3, 291–297.
Philosophie als Tanz 201

findet von Seiten Nietzsches ein Dialog mit der eigenen Philosophie statt, die sich
anhand des Gedichts auch genauer als ‚fröhliche Wissenschaft‘ charakterisieren
lässt. Das metaphysische Bild des ‚beseelten Windes‘ wird Mittel der Überwin-
dung ebendieses metaphysischen Erbes. Im Rückgriff auf die Poeseologie, die ich
skizziert habe, wird hier Philosophie ‚neu geschaffen‘; sie kulminiert in der ‚Form‘
des Mistrals. ‚Fröhliche Wissenschaft‘ bedeutet sodann – sowohl in ihrer künst-
lerischen als auch in ihrer kritischen Umsetzung – ein neues Verständnis von
Philosophie. Dabei handelt es sich um ein Konzept, das innerhalb des Diskurses
und des (inter)textuellen Zusammenhanges immer wieder Thema ist, das aber auf
der Metaebene diese Schaffensweise von Wissen selbst bezeichnet – und damit
immer schon iteriert, erweitert und auch unterhöhlt. Hier wird eine Reflexions-
schleife in die Philosophie eingearbeitet, die nie zum Abschluss finden kann,
insofern sie immer wieder zwischen Fiktionalisierung als Produktion und der
Kritik der Fiktion als Fundament der Neuproduktion schwebt.
Beispielhaft stehen die Ausdrücke „der Freiheit freister Bruder“ und „aller
freien / Geister Geist“ für diese Denkschleife und die paradoxale Beziehung
zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit („frei[ ]“ als Zu- und Festschreibung
sowie Superlativierung des Freiseins). Sie reproduzieren sich zugleich, insofern
beide in ihrem Potential zur Neubeschreibung selbst wieder in den Kreislauf
integriert werden. Die Intertextualitätsstrategien dienen dazu, den Komplexitäts-
grad des Prozesses zu erhöhen, in dem auch die Abhängigkeit von der literari-
schen und philosophischen Tradition reflektiert und diese gleichzeitig umge-
wertet wird. Der Begriff der Metapher, der in Ueber Wahrheit und Lüge im
aussermoralischen Sinne noch als Zugang des Menschen zur Welt fungiert, wird
im Verlauf der sprachphilosophischen Reflexionen von Nietzsche aufgegeben. Im
Anschluss wird der Begriff des Zeichens zentral, der ein endloses Verweisungs-
system stiftet, sodass nur noch die Rede von einer „Zeichen-Kette“ ist.108 Der
Begriff der Metapher wird somit durch dieses Dichtungsverständnis ad absurdum
geführt, steht doch alles, was durch Sprache produziert wird, fürderhin unter

108 GM II 12, KSA 5, 314, 21 f. Zu dieser Entwicklung vgl. Tietz, Udo, Phänomenologie des Scheins.

Nietzsches sprachkritischer Perspektivismus, in: Nietzscheforschung, Jg. 7, Berlin 1999; zu meiner


Kritik an der Verallgemeinerung der in Ueber Wahrheit und Lüge geäußerten Problematik auf die
gesamte Sprachphilosophie Nietzsches vgl. Zittel, Das ästhetische Kalkül von Friedrich Nietzsches
‚Also sprach Zarathustra‘, S. 83–91; sowie Patoussis, Stavros, Die Rolle und Wichtigkeit der Sprache
in Nietzsches Konzept der Lebenskunst, in: Nietzscheforschung, Jg. 21, Berlin 2014; zur Erarbeitung
des späten Zeichenbegriffes bei Nietzsche vgl. Stegmaier, Werner, Nietzsches Zeichen, in: Nietz-
sche-Studien, Jg. 29, Berlin / New York 2000, S. 41–69.
202 Stavros Patoussis

einem ,Fiktionalismusverdacht‘. Vor diesem Hintergrund korrelieren das Philoso-


phieren und die Dichtung Nietzsches miteinander.109
Damit wird auch die Rede von einer ‚Übersetzung‘ der ‚dichterischen Meta-
phern‘ in ‚kritische Philosopheme‘ unsinnig, insofern hier kein Ursprünglichkeits-
verhältnis besteht, sondern, wie das Gedicht selbst reflektiert, ein Prozess, der
wiederaufnimmt, wiederverwendet und neu zusammensetzt. Die aufgenom-
menen Zeichen werden nicht einfach wiederholt, sondern sind Kommentare –
also immer schon kritische Repliken auf das vorherige Schaffen. In ihrem schöp-
ferischen Potential zerstören sie die vermeintliche ‚Wirklichkeit‘ der bisherigen
Zeichen und zeigen ihre Fiktionalität auf.
Die Themen des Tanzes und des Rhythmus beispielsweise, die in den Apho-
rismen der Fröhlichen Wissenschaft prosaisch durchdacht und erörtert wer-
den, hebt Nietzsche damit auf eine Metaebene. Lyrik und Prosa stehen in einem
ambivalenten Verhältnis zueinander: Die prosaische Reflexion ist nicht notwen-
dig weniger nuanciert (vor allem mit Blick auf den Aphorismus 84 ließe sich das
überzeugend zeigen), sie besitzt aber nicht dieselbe Nuance, die das Gedicht
aufweist. Damit stehen sich die beiden Texte nicht inkommensurabel gegenüber,
sondern kommentierend und verschiebend. Dichtung hat folglich eine zentrale
Rolle innerhalb des Projektes der ‚fröhlichen Wissenschaft‘ und letzten Endes
auch innerhalb der Philosophie inne. Aber erst durch die Ausreizung aller reflexi-
ven Nuancen und die Umsetzung vieler (vor allem neuer) Perspektiven lässt sich
ein derart radikales und kritisches Projekt realisieren.
Der regelmäßige Rhythmus, in den diese Verweise eingebettet werden, fällt
mit Blick auf die späte freirhythmische Lyrik Nietzsches besonders auf; dasselbe
gilt für die durch männliche Kadenzen hervorgehobenen dritten und sechsten
Verszeilen jeder Strophe. Der Tanz, den der ‚Textleib‘ aufführt, fällt weniger
komplex und weniger frei strukturiert aus, als es beispielsweise bei den Dionysos-
Dithyramben der Fall ist. Aber bereits in diesem Gedicht werden Satzzeichen als
Subtext zur Nuancierung des Rhythmus herangezogen (so zum Beispiel beim
Übergang von der vorletzten zur letzten Strophe).
Die detaillierte Interpretation hat gezeigt, dass An den Mistral eine Vielzahl
von Verweisen aufweist. Aus der Menge an Verweisen habe ich solche heraus-
gegriffen, die sich auf Nietzsches philosophische ‚Haupttexte‘ beziehen. Das
Gedicht enthält aber auch textuelle Referenzen zu Goethe, zu meteorologischem
und astronomischem Fachwissen sowie zum eigenen Werk, etwa zu Also sprach

109 Vgl. zu diesen Aspekten Pichler, Nietzsche, die Orchestikologie und das dissipative Denken,
S. 290–297; sowie Zittel, Das ästhetische Kalkül von Friedrich Nietzsches ‚Also sprach Zarathustra‘,
S. 35–45.
Philosophie als Tanz 203

Zarathustra. Somit wird das Gedicht immer schon als Fiktion entlarvt. Gleichwohl
entlarvt es selbst wiederum durch die Reaktualisierung der Verweise die Fik-
tionalität der vermeintlichen ‚Wirklichkeit‘ von Erkenntnissen und ihrer Ver-
änderlichkeit.110 So steht das Mistral-Gedicht in einem ambivalenten Verhältnis
zwischen Affirmation und Parodie der gewählten textuellen Bezüge.111 Es greift
ihren ‚Rhythmus‘ auf und formt ihn im ‚Tanz‘ neu.
Dieser Schwebezustand ist auch in der Konstitution des Mistral-Windes im-
mer schon widergespiegelt: Seine paradoxe Struktur wird durch das Plurale und
Fließende bestimmt. In gleicher Weise verleihen seine notwendig zeichenhafte
Struktur und die Redeweise des lyrischen Ichs dem Mistral einen subjekthaften
Charakter, der aber durch seine anderen Eigenschaften unterhöhlt wird: Er ist
zugleich Heiterkeit und Ernst, Tradition und Subversion, Philosophie und Dich-
tung. Selbst die zuvor genannten Eigenschaften erweisen sich angesichts der
gewonnenen Erkenntnisse als einschränkende, dem subversiven Potential des
Mistrals nicht beikommende Zeichen. Der Mistral ‚ist‘ gleichzeitig konkretes Zei-
chen und „Zeichen-Kette“.
Das Gleiche gilt für das Sprecher-Ich: Es entpuppt sich als Maske. Dabei ist
nicht klar, wie weit die Ironie geht, kann diese doch auch nur bestehen, wenn
präsumtiv eine Identifikation mit Nietzsche gegeben ist. Weder der Sprecher noch
der Mistral haben feste Identitäten: Sie tanzen und transformieren sich – ihre
Rollen sind dabei stets instabil. Der philosophische Zusammenhang besteht aus
diesem Grund in einem sich selbst parodierenden Verhältnis. Das lyrische Ich
kann als eine von Nietzsches Masken produktiv als ein In-der-Schwebe-Gehalte-
nes zwischen ‚Heiterkeit‘ und ‚grossem Ernst‘ verstanden werden.112 Es handelt

110 Dieses Verweisungsgeflecht lässt sich besonders anschaulich anhand der zweiten Ausgabe
der Fröhlichen Wissenschaft zeigen. Die Veränderungen haben Groddeck dazu veranlasst, von
„zwei Fröhliche[n] Wissenschaften“ zu sprechen, und das, was ich in diesem Beitrag versucht
habe, als ‚Tanz‘ oder ‚Choreographie‘ zu beschreiben, hat er bereits anhand des Werkkompositi-
onsprozesses der Fröhlichen Wissenschaft gezeigt. Vgl. Groddeck, Wolfram, Die „Neue Ausgabe“
der „Fröhlichen Wissenschaft“. Überlegungen zu Paratextualität und Werkkomposition in Nietzsches
Schriften nach „Zarathustra“, in: Nietzsche-Studien, Jg. 26, Berlin / New York 1997, S. 184–198.
111 Zu der parodistischen Funktion der Lieder des Prinzen Vogelfrei vgl. prinzipiell FW Vorrede 1,
KSA 3, 346, 18–32: „oh wer mir das Alles nachfühlen könnte! Wer es aber könnte, würde mit sicher
noch mehr zu Gute halten als etwas Thorheit, Ausgelassenheit, ,fröhliche Wissenschaft‘, – zum
Beispiel die Handvoll Lieder, welche dem Buche dies Mal beigegeben sind – Lieder, in denen sich
ein Dichter auf eine schwer verzeihliche Weise über alle Dichter lustig macht. – […] ‚Incipit
t r a g o e d i a ‘ – heisst es am Schlusse dieses bedenklich-unbedenklichen Buchs: man sei auf
seiner Hut! Irgend etwas ausbündig Schlimmes und Boshaftes kündigt sich an: incipit p a r o d i a ,
es ist kein Zweifel …“. Die Überblendung verschiedener Dichotomien in dieser Textstelle zeigt
ebenfalls, inwiefern Dichtung und ‚fröhliche Wissenschaft‘ immer schon zusammenhängen.
112 Vgl. FW 343, KSA 3, 573–574; FW 107, KSA 3, 464 f.; sowie FW 382, KSA 3, 635–637.

204 Stavros Patoussis

sich um ein Zusammenspiel von ‚Selbst-Verständnissen‘, die auf traditionellen


und subversiven Ich-Konzeptionen beruhen. Dieses Zusammenspiel nimmt Theo
Meyer trotz seiner ansonsten treffenden Beobachtungen überhaupt nicht zur
Kenntnis. Folglich übersieht er das subversive Element, das der Affirmation und
Appropriation inhärent ist. Alle vermeintlichen Ewigkeitsvorstellungen Nietz-
sches werden durch diese inhärente Fiktionalisierung ad absurdum geführt und
als etwas Scheinhaftes offengelegt.113
Auch das, was ich zu Beginn dieses Textes als Poeseologie bezeichnet habe,
wird durch das Gedicht kommentiert: Wir kommen an den für die Wissenschaft
entscheidenden Punkt, an dem selbst ihre Form ‚verflüssigt‘ wird. Was wir als
Text innerhalb der metaphysischen Tradition vorfinden, bedarf des kritischen
Blicks aus anderen und neuen Perspektiven. Der Text selbst ‚verflüssigt‘ die
‚klare‘, ‚feste‘, ‚starre‘ Poeseologie, die sich daher unaufhörlich wandelt. Damit
steht das Gedicht aber nicht am Ende, sondern gleichzeitig am Anfang von Nietz-
sches Philosophie, und zwar als eine Schleife zwischen Ursprung und Supple-
ment. Wie zu Beginn schon gesagt, ist die Heraushebung dieses Gedichts in Ecce
homo auffällig: Der ‚Tanz über die Moral hinweg‘, den Nietzsche rückblickend in
diesem Gedicht zu finden vermag, bezeichnet ein Tanzen, das sich selbst reflek-
tiert. Die Philosophie Nietzsches wird darin selbstreflexiv. Im Anschluss an Grod-
deck lässt sich Nietzsches Vokabularpraxis deshalb als eine „Choreographie“114
bezeichnen.
Damit leite ich zu meiner abschließenden These über. Wenn man das lyrische
Schaffen Nietzsches aus dieser poeseologischen Perspektive betrachtet, erhalten
die Dionysos-Dithyramben, die weit unzugänglicher sind als An den Mistral, eine
neuartige Relevanz für die späte Philosophie Nietzsches. Groddecks monumenta-
le Monographie zu den Dithyramben zeigt, in welcher Dichte dort Nietzsche’sche
Denk- und Subversionsschleifen vorkommen und wie viele Ebenen der Rhythmik
(bis hin zur Textzeichenrhythmik) darin zu finden sind.115 Das philosophische
Anliegen Nietzsches ist auch in seinen späten Texten ein dichterisches. Dies hat

113 Vgl. Meyer, Nietzsche, S. 425 f.


114 Damit sei auch schon ausgesprochen, was mich mit Pichler und seinem Begriff der „Orches-
tikologie“ verbindet und was mich von ihm trennt. Neben der zentralen Stellung des Tanz- Motivs
ist doch gerade die „-logie“ nicht das, was den Nuancenreichtum bedingt, sondern vielmehr das
Graphische, die Schrift. Vgl. Pichler, Nietzsche, die Orchestikologie und das dissipative Denken,
S. 190 f. Pichler entwickelt seinen Ansatz entsprechend weiter, ohne aber den Begriff weiter zu

nutzen oder zu entwickeln. Vgl. Pichler, Axel, Philosophie als Text. Zur Darstellungsform der
„Götzen-Dämmerung“, Berlin / Boston 2014.
115 Vgl. Groddeck, Wolfram (Ed.), Friedrich Nietzsche: „Dionysos-Dithyramben“, Bd. 2: Bedeu-
tung und Entstehung von Nietzsches letztem Werk, Berlin / New York 1991.
Philosophie als Tanz 205

beispielsweise weitreichende Konsequenzen für die Beurteilung des komplexen


Zusammenhangs zwischen der zeitgleichen Arbeit am Antichristen und den Dio-
nysos-Dithyramben. Die Differenz zwischen Textgattung, Intertextualitässtrategie
und Vokabularentwicklung könnte wohl kaum frappanter sein.
Vielleicht ist aber eine ‚Umwertung aller Werte‘ ohne das Dichterische gar
keine? Wie sonst könnte Nietzsche die Fröhliche Wissenschaft als Geschenk des
Monats Januar bezeichnen und in einem „Vers“ (!) besingen:

Ein Vers, welcher die Dankbarkeit für den wunderbarsten Monat Januar ausdrückt, den ich
erlebt habe – das ganze Buch ist sein Geschenk – verräth zur Genüge, aus welcher Tiefe
heraus hier die ‚Wissenschaft‘ f r ö h l i c h geworden ist.116

116 EH FW, KSA 6, 333, 6–10. Und so eröffnet sich bereits ein weiterer Verweisungstext: das
Gedicht, das ein dankbarer Nietzsche in Ecce homo dem Monat Januar widmet: „Der du mit dem
Flammenspeere / Meiner Seele Eis zertheilst, / Dass sie brausend nun zum Meere / Ihrer höchsten
Hoffnung eilt: / Heller stets und stets gesunder, / Frei im liebevollsten Muss – / Also preist sie
deine Wunder, / Schönster Januarius!“ (EH FW, KSA 6, 333, 11–18).
Mike Rottmann
„Das Unglück holt den Flüchtigen ein – und
sei’s“: Nietzsches inszenierte Melancholie
als poetische Begründung des zukünftigen
Philosophen
Mit zwei Exkursen zum Problem der Interpretation Nietzsche-
scher Gedichte

Abstract: „Das Unglück holt den Flüchtigen ein – und sei’s“: Nietzsche’s
affected melancholy as the future philosopher’s poetic foundation. Contai-
ning two digressions on the reading of Nietzsche’s poems, this article attends to
an incomplete poem of Nietzsche that was composed in the summer or autumn
of 1885 and has been edited as NL 1885 45[5] in KSA 11, 709 f. It is central to the

study to be aware of the draft’s material state which is presented in the diplomatic
transcript of workbook W I 6 in volume 4 of KGW IX. Initially, the article provides
several preliminary considerations on theoretical issues that define the herme-
neutic premise. Then, a critical evaluation of the previous research on Nietzsche’s
poetry is given. Finally, it is argued that Nietzsche’s draft becomes accessible as a
‘poetic antecedent’, if it is read in the context of a subsequent prose text that
assumes the future philosopher to be a ‘free spirit’ having arisen from a poet’s
way of life.

Nicht die Ideen machen den eigentlichen Reiz der Poesie aus;
der Philosoph hat deren vielleicht höhere: aber daß die kalte Denkbarkeit dieser Ideen
in der Poesie eine Wirklichkeit erhält, das setzt uns in Entzücken.
Franz Grillparzer, Tagebuch, 1822

Der Lyriker dagegen bemüht sich nicht,


in seinem Gedicht die Sätze aus dem Gedicht eines anderen Lyrikers zu widerlegen;
denn er weiß, daß er sich im Gebiet der Kunst und nicht in dem der Theorien befindet.
Rudolf Carnap, Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, 1932

alles Fertige hört auf, Behausung unsres Geistes zu sein;


aber das Werden ist köstlich, was es auch sei –
man sieht jetzt den warmen Atem der Arbeitenden als silbernen Hauch,
der sich immerfort verliert…
Max Frisch, Tagebuch, 1948

DOI 10.1515/9783110474374-010
208 Mike Rottmann

1 Heuristische Kurven
Es versteht sich keinesfalls von selbst, dass Nietzsches Gedichte als literarische
Texte primär literaturwissenschaftlichen Analyseverfahren unterzogen werden
können. Mehr noch: Die besondere Begründungspflicht scheint gar auf Seiten
desjenigen zu liegen, der seine Interpretation eines Gedichtes Nietzsches nicht mit
einer philosophischen Lektüre des Textes beginnen möchte oder dazu neigt, ein
um 1880 entstandenes Gedicht als ein Beispiel für ‚Lyrik im 19. Jahrhundert‘ zu
verstehen und es dementsprechend – wenn auch nur Probeweise – wie ein
Gedicht des späten Goethe oder auch Heines, Mörikes oder Eichendorffs zu
behandeln, indem er sich folgender Position anschließt: „‚Dichter‘ ist ein Schrift-
steller als ‚Lyriker‘ – das gilt für Nietzsche ebenso wie für Storm.“1 Um den Erweis
der Sinnhaftigkeit dieser Perspektive soll es im Folgenden ebenso gehen wie um
die grundsätzliche Problematisierung jener Annahme, die von ‚philosophischen
Inhalten‘ in den Gedichten Nietzsches per se ausgeht. Denn der Nachweis von
Philosophie in der Form eines Gedichts setzt eine Vielzahl von Bedingungen
voraus, die zunächst theoretisch durchdrungen und im Einzelfall dann stets aufs
Neue erwiesen werden müssen. Dabei bleibt als fortdauernde Herausforderung
bestehen, wie Heinrich Anz trefflich formuliert, „dieses Zwitterwesen Poesie als
ein eigenständiges Phänomen logisch-ontologisch positiv aufzuklären.“2
Eine weitere Einsicht mag zunächst trivial erscheinen, bei genauerem Hinse-
hen sollte ihre Tragweite aber schwer von der Hand zu weisen sein: Der Zugriff auf
Nietzsches Werk durch Forscher verschiedener Fachkulturen und das Problem der
Diskutier- und Mitteilbarkeit, welches sich insbesondere an divergierenden Inter-
pretationsbegriffen festmachen lässt.3 In der Tat ist es so, dass Nietzsches Werk
Philosophen, Theologen, Literaturwissenschaftler, Editionsphilologen, Altphilo-
logen und Kulturwissenschaftler beschäftigt. Das gemeinsame Interesse wird aber
nur dann in ein produktives Gespräch überführt, wenn jeder Beitrag, der der weit-

1 Stockinger, Claudia, Paradigma Goethe? Die Lyrik des 19. Jahrhunderts und Goethe, in: Martus,
Steffen u. a. (Hrsg.), Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur, Bern

u. a. 2005, S. 93–125, hier S. 98.


2 Anz, Heinrich, Poetische Sprache. Überlegungen zu ihrer ontologischen Bestimmung, in: Euphori-
on, Jg. 70, Heidelberg 1976, S. 340–358, hier S. 343.
3 Eine Übersicht bietet: Hermerén, Göran, Interpretation: Types and Criteria, in: Grazer philoso-
phische Studien, Jg. 19, Amsterdam u. a. 1983, S. 131–161. Zur fortbestehenden Notwendigkeit,

über das Interpretieren speziell in den Literaturwissenschaften nachzudenken, vgl. die Einleitung
zu: Albrecht, Andrea u. a. (Hrsg.), Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens, Berlin

u. a. 2015, S. 1–20. Vgl. ferner Descher, Stefan u. a., Probleme der Interpretation von Literatur. Ein
   

Überblick, in: dies. (Hrsg.), Literatur interpretieren. Interdisziplinäre Beiträge zur Theorie und
Praxis, Münster 2015, S. 11–70.
„Das Unglück holt den Flüchtigen ein – und sei’s“ 209

läufigen scientific community vorgelegt wird, zumindest kurz, unter Zuhilfenahme


etwa der Verkürzungsoptionen Fußnote, seine Prämissen wenigstens benennt.4
Festmachen lässt sich dieses Problem auch an dem Umstand, dass viele Interpreten
so tun, als habe sich ihre Interpretationshaltung rein logisch aus der Eigenart des
zu verhandelnden Textes ergeben, während es tatsächlich ihr Erkenntnisinteresse5
ist, das die Interpretation leitet,6 andererseits eine Reflexion über die Textart (hier:
lyrische Poesie) nicht vorgenommen wird. Das führt im Allgemeinen dazu, dass die
angewandten Interpretationsschritte nicht hinreichend dargelegt und begründet
werden, infolgedessen weder umfassend nachvollziehbar noch kritisierbar sind.
Die Richtigkeit der Gesamtinterpretation zeige sich demnach im sachlichen Gehalt
(oder gerne auch: in der philosophischen Tiefe) der Ergebnisse, deren Darstellung
losgelöst von ihrer textuellen Darstellungsweise ausschließlich die Mitteilung be-
stimmen. In den Geisteswissenschaften sind Forschungsresultate aber nur dann
mehr als oberflächlich diskutierbar und kritisierbar, wenn man den Argumentati-
onsgang als belehrungswilliger Rezipient durchschauen kann. Und es versteht sich
nun einmal nicht von selbst, dass Gedichte ohne Rücksicht auf ihre Form, ohne
Augenmerk auf ihren spezifischen Umgang mit Sprache diskutiert werden können;
wer Strophen wie komplexe Argumente, Verse wie Aussagen oder Beispiele be-
handelt oder in zeitlich weit auseinanderliegenden Gedichten eine zusammenhän-
gende, komplexe Argumentations- oder Denkstruktur zu erkennen glaubt, kann
bei sorgfältiger Begründung und nachvollziehbarer Darstellung viel Anerkennung
ernten – im weniger günstigen Fall leistet er lediglich einer subjektivistischen
Verfärbung wissenschaftlicher Standards Vorschub.

4 Ein Bewusstsein über diesen Mangel kommt auch in der Zielsetzung der Nietzsche-Werkstatt
2011 zum Ausdruck: „Dazu sollten nach der langen Reihe methodisch meist unorientierter und
darum auch wenig aufeinander bezogener, denkbar vielfältiger und miteinander kaum verträg-
licher, im Ganzen inzwischen unübersehbar gewordener Großinterpretationen mögliche Kriterien
einer methodischen und stärker kooperativen Nietzsche-Interpretation erarbeitet werden.“ (Berti-
no, Andrea Christian / Stegmaier, Werner, Einleitung, in: Nietzscheforschung, Jg. 19, Berlin 2012,
S. 265–267, hier S. 265).
5 Vgl. dazu die Beispiele bei Schober, Angelika, Man findet bei Nietzsche, was man sucht, in:
Pornschlegel, Clemens / Stingelin, Martin (Hrsg.), Nietzsche und Frankreich, Berlin / New York
2009, S. 117–133.
6 Das formuliert prägnant: Demmerling, Christoph, Philosophie als literarische Kultur? Bemerkun-
gen zum Verhältnis von Philosophie, Philosophiekritik und Literatur im Anschluss an Richard Rorty,
in: Schäfer, Thomas u. a. (Hrsg.), Hinter den Spiegeln. Beiträge zur Philosophie Richard Rortys mit

Erwiderungen von Richard Rorty, Frankfurt/Main 2001, S. 325–352, hier S. 345 f.: „Philosophische

und literarische Texte werden als solche nicht einfach vorgefunden, sondern was ein Text ist,
hängt immer auch davon ab, wie und als was er gelesen wird. Nicht Texten, sondern Lesern […]
kommt ein entscheidender Anteil bei der Produktion philosophischen bzw. literarischen Sinns
zu.“
210 Mike Rottmann

Aber zurück zu Nietzsche: Wenn Eugen Biser noch 1980 die „Wieder-und Neu-
entdeckung“ Nietzsches ab den 1950er Jahren zu Recht als „Prioritätsstreit zwi-
schen seiner psychologischen und seiner philosophischen Interpretation“ charak-
terisieren und im Hinblick auf die Gesamtausgabe von Colli und Montinari von
einem „ungeahnten Auftrieb“ der Nietzsche-Philologie sprechen konnte,7 so plä-
dierte Ekkehart Schaffer schon 1997 für „einen Dialog zwischen Philosophie und
Philologie […], der eine Annäherung an die Wurzeln des Nietzscheschen Denkens
ermöglicht.“8 Das für die Gegenwart festzustellende konfrontationsarme Neben-
einander philosophischer und literaturwissenschaftlicher Interpretationsansätze
einschließlich eines – soweit ich sehen kann – Fehlens von Deutungskontroversen
wird indes erst dann in einen produktiven Austausch in gegenseitiger Achtung
überführt werden, wenn der umsichtigen Forderung Schaffers Rechnung getragen
wird:

Die Verknüpfung von Philologie und Philosophie ist nach ihrem Fundament kritisch zu
hinterfragen, die Grenzüberschreitung der Wissenschaften ist wissenschaftstheoretisch zu
begründen. Erst wenn diese Begründung geleistet ist, kann sich das Gespräch zwischen
Philologie und Philosophie auf methodisch sicherem Boden bewegen.9

Weil es hierzu an Ansätzen fehlt, bleibt eine wahrnehmbare Vermittlung zwi-


schen den disziplinären Diskursen ein Desiderat.10 Wirft man einen Blick zurück
in das 19. Jahrhundert, so fällt ein Rückschritt in der Wahrnehmung wechselseiti-
ger Abhängigkeit auf:

Philologie und Philosophie bedingen sich wechselseitig; denn man kann das Erkannte nicht
erkennen ohne überhaupt zu erkennen, und man kann auch nicht zu einer Erkenntnis
schlechthin gelangen ohne, was Andere erkannt haben, zu kennen. Die Philosophie geht vom

7 Vgl. Biser, Eugen, Das Desiderat einer Nietzsche-Hermeneutik. Der Gang der Wirkungsgeschichte,
in: Nietzsche-Studien, Jg. 9, Berlin / New York 1980, S. 1–37, hier S. 6.
8 Schaffer, Ekkehart, Philosophie und Philologie bei Nietzsche. Neuere Tendenzen der Nietzsche-
Forschung, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Jg. 71,
Heft 4, Stuttgart / Weimar 1997, S. 635–646, S. 641.
9 Schaffer, Philosophie und Philologie bei Nietzsche, S. 644.
10 Instruktive Anhaltspunkte zur Rekonstruktion einer historisch überspülten Solidarität von
Philologie und Philosophie und zur „Philologie als Anwendung der Urteilskraft auf textuelle
Daten“ bietet: Thouard, Denis, Die Ausübung der Vernunft an der Sprache. Philologische Begriffe
und Wirkungen in der Philosophie, in: Geschichte der Germanistik, Jg. 31/32, Göttingen 2007, S. 78–
86. Vgl. ferner Scholtz, Gunter, Gibt es eine innere Einheit von Philologie und Philosophie?, in:
Senger, Hans Gerhard (Hrsg.), Philologie und Philosophie, Tübingen 1998, S. 58–70; sowie das
Geleitwort und die Beiträge des dem Thema „Philosophie & Philologie“ gewidmeten Heft 14 der
TEXTkritischen Beiträge, Frankfurt/Main / Basel 2013.
„Das Unglück holt den Flüchtigen ein – und sei’s“ 211

Begriff aus, die Philologie in der Behandlung ihres Stoffes, welcher die Hälfte des philosophi-
schen Gegenstandes ist (die andere Hälfte ist die Natur), vom zufällig Vorhandenen.11

Im 20. Jahrhundert hat die akademisch institutionalisierte Philosophie demgegen-


über ihre Differenz zur philologischen Methode unterstrichen, indem sie den
Gegenstand ihrer Auslegungsbemühungen so definierte, dass die Philologie wohl
hilfswissenschaftlich dienen, sonst aber nichts beitragen könne. Besonders deut-
lich hat dies Martin Heidegger12 vorausgesetzt, aber auch in späterer Generation
bleibt diese Auffassung bestehen. Dieser Beitrag versucht nicht, die zweifelsohne
wichtige wissenschaftstheoretische Fundierung zu leisten, sondern nur im Vollzug
der eigenen Arbeit philologische und philosophische Methoden in einer am Gegen-
stand orientierten und ihm angemessenen Weise zu verwenden. Um hier einem
potentiellen Einwand vorbeugend zu begegnen: Weder ist ein methodischer Puris-
mus die verdeckte Triebfeder meiner Argumentation, noch ist es das Bedürfnis,
eine fiktionale disziplinäre Rangstreitigkeit mit dem Interesse zu inszenieren, die
Zuständigkeit für Nietzsches Gedichte einzig der unter Prestigeverlust leidenden
Literaturwissenschaft zuzuschlagen. Vielmehr geht es darum, unter Berufung auf
die Eigenart der Texte für eine Priorisierung der Interpretationsschritte plädieren
zu können, für die gilt, dass Erwägungen über philosophische Gehalte von poeti-
schen Texten eben nicht am Anfang, sondern vielmehr am Ende, jedenfalls nach
einer ganzen Reihe vorgelagerter Analysen, anzustellen sind. Ferner geht es um
eine Verständigung über den Kernbereich originär literaturwissenschaftlicher
Kompetenz und eine Besinnung auf jene Fähigkeiten, die bei aller notwendigen
interdisziplinären Ausschweifung die Spezialität des Philologen ist.
Setzt man voraus, dass Nietzsche seine poetischen Texte gleich seinen phi-
losophischen Texten ernst gemeint hat, dann sollte ein Verstehen der ästhetischen
Wirkung das vorrangige Interesse des Literaturwissenschaftlers sein, will er seine
fachliche Zuständigkeit überzeugend behaupten. Nietzsches Gedichte, so also die
Überzeugung, sollen als ästhetisch-poetische Texte verstanden werden, woraus
zunächst einmal folgt, dass das darin Gesagte nie das bedeuten kann, was wir
‚einfach so‘ zu lesen vermögen (beispielsweise: Sonne = Himmelskörper). Entspre-

11 Boeckh, August, Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, hrsg. v.


Ernst Bratuschek, Leipzig 1877, S. 17.
12 Vgl. Heidegger, Martin, Kant und das Problem der Metaphysik, 2. Auflage, Frankfurt/Main
1951, S. 7: „Unablässig stößt man sich an der Gewaltsamkeit meiner Auslegungen. […] Die phi-
losophiehistorische Forschung ist mit diesem Vorwurf sogar jedesmal im Recht, wenn er sich
gegen Versuche richtet, die ein denkendes Gespräch zwischen Denkenden in Gang bringen
möchten. Im Unterschied zu den Methoden der historischen Philologie, die ihre eigenen Aufgaben
hat, steht ein denkendes Zwiegespräch unter anderen Gesetzen.“
212 Mike Rottmann

chend banal wäre die Ermittlung eines propositionalen Gehalts. Es geht also nicht
darum, einen philosophischen Gedanken zu fixieren, sondern vielmehr um die
Beschreibung sprachlicher Komplexität und Bezüglichkeit, schließlich um die
Dokumentation sinnlicher Wahrnehmung und Erkenntnis. Nach Peter Szondi ist es
entscheidend, „den ästhetischen Charakter der auszulegenden Texte nicht erst in
seiner Würdigung [zu berücksichtigen], die auf die Auslegung folgt, sondern zur
Prämisse der Auslegung selbst“13 zu machen. Dass damit kein Allgemeinplatz ver-
teidigt, sondern Neuland gewonnen werden soll, macht eine unlängst erhobene,
dabei zu Recht von Unverständnis getragene Frage Claus Zittels deutlich: „Warum
also nur diese beständige Flucht vor der Kunst seitens der Nietzsche-Interpre-
ten?“14

2 Historischer Exkurs: Hans Leisegangs


Gedichtinterpretationen
Wenn im Folgenden das Schlaglicht auf ein Stück Forschungsgeschichte gewor-
fen wird, dann dient dieses Unternehmen primär dem Zweck, die Genese von
Prämissen vor dem Hintergrund des eigenen Auslegungsinteresses historisch-
kritisch zu rekonstruieren. Die Notwendigkeit eines Blicks in die Forschungs-
geschichte erscheint mir schon deshalb gegeben, weil einmal etablierte Grund-
lagen oft ohne kritische Prüfung stillschweigend übernommen werden und den
Fortgang der Forschung als untergründige Traditionslinien bestimmen, auch
wenn nicht mehr explizit auf ältere Literatur Bezug genommen wird. Für dieses
Interesse ergibt sich ein geeigneter Ausgangspunkt, wenn wir einer Huldigung
Manfred Riedels auch ihrem sachlichen Gehalt nach folgen: „Hans Leisegang
[hat] als erster Denker in diesem Jahrhundert Nietzsches Lyrik in einer bedeuten-
den Studie gewürdigt […]. Leisegangs Achtung vor der Wahrheit des dichteri-
schen Wortes entsprach seiner Wahrhaftigkeit und einem unter Philosophen
seltenen Mut“.15 Anhand der von Riedel hochgelobten Studie Hans Leisegangs,16

13 Szondi, Peter, Einführung in die literarische Hermeneutik, hrsg. v. Jean Bollack und Helen
Stierlin, Frankfurt/Main 1975, S. 13.
14 Zittel, Claus, „In öden Eisbär-Zonen“. Die Schlussverse „Aus hohen Bergen. Nachgesang“, in:
Born, Marcus Andreas (Hrsg.), Jenseits von Gut und Böse, Berlin 2014, S. 207–236, hier S. 209.
15 Riedel, Manfred, Freilichtgedanken. Nietzsches dichterische Welterfahrung, Stuttgart 1998,
S. 337.
16 Hans Leisegang (1890–1951) studierte in Straßburg und Paris und wurde 1911 von Clemens
Baeumker promoviert. Er habilitierte sich 1920 an der Universität Leipzig und wurde 1930 als
„Das Unglück holt den Flüchtigen ein – und sei’s“ 213

die 1929 in dem von Ludwig Stein herausgegeben Archiv für systematische Phi-
losophie und Soziologie erschien und tatsächlich die erste, in einer Fachzeitschrift
erschienene Abhandlung zu den Gedichten Nietzsches darstellt,17 lässt sich auf-
grund der erkenntnistheoretischen Anlage und methodischen Durchführung ein
spezifisches Problem studieren. Seine Grundannahme, um die es mir hier geht,
legt Leisegang im ersten Absatz seiner Arbeit deutlich dar:

Philosophie und Dichtung sind irgendwie miteinander wesensverwandt und können ineinan-
der übergehen. Philosophie in Form des Gedichtes ist […] keine literarische Seltenheit. Umge-
kehrt kann man sagen, daß es keine große Dichtung gibt ohne weltanschaulichen, ohne
philosophischen Hintergrund. Nicht nur durch das Morgentor des Schönen dringt der Dichter
in der Erkenntnis Land, sondern die Erkenntnis, der tiefere Blick in die Zusammenhänge des
Lebens, der metaphysische Blick, läßt ihn das Schöne erst erfassen in seinem tieferen Sinn
und in seiner ewigen Bedeutung, durch die allein es zum Kunstwerk werden kann. Wie aber
Philosophie und Dichtung zusammenhängen, wo ihre Berührungspunkte liegen, läßt sich im
allgemeinen nicht sagen; denn die Verbindung des Dichterischen mit dem Philosophischen
ist bei jedem Denker, der zum Dichter, und jedem Dichter, der zum Denker wurde, immer
wieder ganz anders gewesen, und sie muß für jeden neu aufgefunden und erforscht werden.18

Während dem letztgenannten Gesichtspunkt, verstanden als Plädoyer für die


individualisierte Betrachtung poetischer und philosophischer Texte, unbedingt
zuzustimmen ist, so sollte der frühzeitigen, noch vor den ersten Kontakt mit einem
einzelnen poetischen Text gesetzten Behauptung von einer konstitutionellen Ver-
wandtschaft mit (oder Abhängigkeit von) der Philosophie unbedingt und aus
prinzipiellen Gründen widersprochen werden. Dabei geht es nicht darum, den
Zusammenhang von Dichtung und Philosophie grundsätzlich zu bestreiten; die

Nachfolger Max Wundts an die Universität Jena berufen. Als ‚Wunschkandidat‘ Elisabeth Förster-
Nietzsches intensivierte Leisegang den Austausch zwischen Universität und Nietzsche-Archiv und
führte als designierter Herausgeber der Historisch-kritischen Gesamtausgabe Verhandlungen mit
dem Verlag Felix Meiner, bis seine Forderung nach wissenschaftlicher Autonomie und einem
unbegrenzten Zugriff auf den Nachlass zum Zerwürfnis mit Förster-Nietzsche führte.
17 Bis 1929 verzeichnet die Weimarer Nietzsche-Bibliographie (Bd. 3: Sekundärliteratur 1867–
1998. Nietzsches geistige und geschichtlich-kulturelle Lebensbeziehungen, sein Denken und Schaf-
fen, bearbeitet von Susanne Jung u. a., Stuttgart / Weimar 2002, S. 874–885) 22 Einträge in der

Rubrik „Nietzsche als Dichter“; dabei handelt es sich zumeist um kürzere Feuilletons und
populäre Abhandlungen mit Überschriften wie „Nietzsche als Dichter“ oder „Nietzsche als Lyri-
ker“ (11) sowie um Rezensionen der von Elisabeth Förster-Nietzsche herausgegeben Gedicht-
sammlung Gedichte und Sprüche (2). Ferner findet Nietzsche in literaturhistorischen Überblicks-
darstellungen, etwa bei Philipp Witkop und Oskar Walzel, Erwähnung (4).
18 Leisegang, Hans, Zu Friedrich Nietzsches Gedichten, in: Archiv für systematische Philosophie
und Soziologie, Jg. 33, Berlin 1929 (= Festgabe für Ludwig Stein zum siebzigsten Geburtstag),
S. 281–307, hier S. 281.
214 Mike Rottmann

Forderung besteht vielmehr darin, den möglichen philosophischen Horizont eines


poetischen Textes an angemessener Stelle zu erwägen, nicht aber, Philosophie als
wesenskonstitutiv für die Begründung, Herstellung und Wirkung eines Gedichtes
a priori zu behaupten. Denn die „Achtung vor dem dichterischen Wort“ steht
gerade dann in Frage, wenn im Vollzug der sich regelmäßig aus genau dieser
Grundannahme entwickelnden Methode der Gedichtauslegung eine einseitige
Wahrnehmung begründet wird oder, in der Konsequenz noch gravierender, exter-
ne Beweisinteressen über den Text gestülpt werden. Die kritisierte Methode besteht
im ‚analytischen Extrahieren‘ der als grundlegend vermuteten (philosophischen)
Überlegung und in der daran anschließenden, zwangsläufig mehr konstruieren-
den als rekonstruierenden Rückführung des ‚poetisch verfremdeten Gedankens‘ in
die Gestalt einer propositionalen und mithin diskursfähigen Aussage und einer
Einordnung in den persönlichen und geistesgeschichtlichen Kontext.19
Es sind drei zusammenhängende Denkfiguren, die Leisegangs methodische
Orientierung und seine Nähe zur Dilthey’schen Parole des „Hineinversetzen,
Nachbilden, Verstehen“20 anzeigen. So führt er „die gröbsten Fehler“ von Inter-
preten darauf zurück, dass „es ihnen meist nicht möglich ist, die geistige Situation
nachzuerleben, aus der heraus sie [die Werke der Künstler] geschrieben wurden.“21
Eine daran anschließende Kritik an dem Dichtungskapitel „Scherz, List und
Rache“ in Ernst Bertrams Nietzschebuch22 unterstreicht diesen Punkt noch einmal
deutlicher. Bertram verfahre nicht tiefgehend genug, indem er es unversucht
lasse, sich auf „die philosophische Deutung des Inhalts und die Wiedererweckung
der geistigen Verfassung Nietzsches einzulassen, aus der sich ein miterlebendes
Verstehen von selbst ergibt.“23 Unter der Leitmethode des „miterlebende[n] Ver-
stehen[s]“ soll der Exeget also erstens versuchen, die geistige Situation des Dich-

19 Vgl. auch die Kritik Christoph Demmerlings an der Methode Richard Rortys: „Rorty übersetzt,
was die fraglichen Autoren sagen wollen, in einen propositionalen (!) Diskurs. In Frage steht
allein, was die Texte sagen. […] Was literarische Texte über dasjenige, was sie sagen, hinaus
enthalten, dasjenige also, was sie uns zeigen, wird von Rorty nicht mehr eigens thematisiert. Es ist
die Sinnlichkeit unserer Sprache, die in der Literatur in ganz anderer Weise im Zentrum steht als in
der Philosophie. […] Wer die Literatur lediglich als eine Quelle von Neubeschreibungen betrach-
tet, missachtet mit ihrer Sinnlichkeit ihren Kunstcharakter. Er reduziert den literarischen Text auf
einen Sinn ohne Sinnlichkeit – und gerade das ist der literarische Text nicht.“ (Demmerling,
Philosophie als literarische Kultur?, S. 350 f.).

20 Dilthey, Wilhelm, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frank-
furt/Main 1981, S. 263.
21 Leisegang, Zu Friedrich Nietzsches Gedichten, S. 282.
22 Vgl. Bertram, Ernst, Nietzsche. Versuch einer Mythologie, Berlin 1918, S. 237–248. Vgl. dazu
den Beitrag von Ann-Christin Bolay in diesem Band.
23 Leisegang, Zu Friedrich Nietzsches Gedichten, S. 282.
„Das Unglück holt den Flüchtigen ein – und sei’s“ 215

ters „nachzuerleben“, und zweitens die „Wiedererweckung“ der – im Text zum


Ausdruck kommenden – geistigen Verfassung des Dichters leisten. Leisegangs
methodischer Standpunkt, seine philosophisch-exegetische Methode schlechthin,
die er, wie wir noch sehen werden, auf Nietzsches Gedichte anwendet, muss aber
zum volleren Verständnis an anderer Stelle aufgesucht werden, nämlich in seinem
1928 erschienen Hauptwerk Denkformen. Dort heißt es:

Jede Methode hat sich nach dem Material zu richten, das durch sie bearbeitet werden soll.
Sollen die Denkformen nicht konstruiert, sondern aus gedachten Gedanken empirisch durch
Induktion gewonnen werden, so bilden in einzelnen Texten schriftlich ausgedrückte Gedan-
ken das Material, das auf sein logisches Gefüge zu untersuchen ist.24

Nach dieser Grundlegung unterscheidet Leisegang zwischen Inhalten erster und


zweiter Ordnung; unter einem Inhalt erster Ordnung versteht er „irgendein nicht
von Menschen geschaffenes Gebilde“, z. B. eine Pflanze; diese besitze eine
„immanente Logik“, die jedoch nicht mit den Mitteln „mathematisch-mecha-
nischen Denkens“, mit Zirkel und Lineal, erfassbar sei.25 Unter Inhalten zweiter
Ordnung versteht Leisegang „von Menschen erdachte und geschaffene sinnvolle
Werke, die in sich die ‚Logik‘ menschlichen Denkens tragen“.26 Entscheidend ist,
dass „[s]ämtliche Schriftwerke, in denen Menschen ihre Gedanken ausdrü-
cken“,27 als Inhalte zweiter Ordnung definiert werden. Weil Schriftwerke aber
nicht zwangsläufig in einer mathematisch erfassbaren logischen Struktur ge-
schaffen sind, sondern in einer „ihrem Gegenstand möglichst angepaßt[en]“
Denkform, kommt Leisegang zu folgendem Auslegungsverfahren:

Darum wird auch die Analyse eines in einer uns ungewohnten Denkform geschriebenen
Textes dann am besten gelingen, wenn wir die Inhalte wieder auffinden können, zu dessen
Erfassung sie geschaffen wurde und deren logische Struktur sich irgendwie auch in der
entsprechenden Denkform wiederfinden lassen muß.28

Genau diesen Maßstab muss Leisegang auch an die Gedichte Nietzsches anlegen,
denn:

Die Gedichte sind zunächst aus der Sphäre des rein Menschlichen heraus schwer zu ver-
stehen; denn sie wurzeln nur in einer Schicht menschlichen Lebens und Erlebens. Alles
Triebkraft-Instinktive, das sich darüber aufbauende Seelische tritt weit zurück. Wir atmen

24 Leisegang, Hans, Denkformen, Berlin / Leipzig 1928, S. 49.


25 Leisegang, Denkformen, S. 50.
26 Leisegang, Denkformen, S. 50.
27 Leisegang, Denkformen, S. 51.
28 Leisegang, Denkformen, S. 51.
216 Mike Rottmann

fast immer nur die kalte Höhenluft des rein Geistigen, das aber mit einer ungeheuren
Leidenschaft erfaßt und durchlebt wird. Die Landschaft, die Nietzsche sieht und deren
Wirkung auf sich selbst er darstellt, wird nicht erfaßt in ihrem ganzen Gefühlswert; was an
ihr wichtig ist, das ist ihre Wirkung auf den Denkprozeß, das ist der Gedanke und das
Denken selbst, das in ihr lebt.29

Nietzsche, so Leisegangs These, erlebt seine eigenen Denkbewegungen, seinen


„Denkprozeß“ (das „rein Geistige[ ]“), leidenschaftlich und dokumentiert die
Leidenschaft bei der Erzeugung philosophischer Gedanken in den Gedichten,
indem er sie sprachlich abbildet. Unter dem „Geistigen“ versteht Leisegang, wie
er an späterer Stelle erläutert, „die Gedankenwelt, in der ein Mensch lebt, die er
über sich errichtet und nach der er sein Leben und das seiner Mitmenschen
formen und gestalten möchte, weil diese Gedankenwelt für ihn die vom Individu-
um lösbare Wahrheit an sich ist, die allgemeine Anerkennung fordert.“30 Redu-
ziert man diesen Vortrag auf seinen ‚sachlichen Gehalt‘, so erscheint die Deutung
durchaus attraktiv: Im Mittelpunkt steht eine komplexe Schriftstellerpersönlich-
keit, die nicht nur Gedanken in Prosa zu Papier bringt, sondern darüber hinaus
auch die Erzeugung dieser Gedanken in lyrischer Sprache festhält.
Die Vagheit dieser Annahme (oder: ihre spekulative Höhe) wird deutlich,
sobald man versucht, die These anhand von Leisegangs Beispielen zu verifizieren.
Als Beleg für die zu konstatierende „Beschränkung auf die Region des Geistigen“
und die vollständige Abwesenheit von „Liebe zum anderen Geschlecht“ in Form
von „erotische[m] Getändel, Lüsternheit und seelenlose[m] Spiel mit dem Feuer der
Sinnlichkeit“31 dienen Leisegang eineinhalb Strophen aus dem dritten Abschnitt
des zweiten ‚Dionysos-Dithyrambus‘ Unter Töchtern der Wüste.32 Der zitierte Teil
des Gedichtes wird aber nicht ausgelegt, sondern gleichsam als Ergebnis der
Lektüre festgestellt: „An die Stelle der Liebe tritt die Sehnsucht nach Freundschaft
und der endlose Schmerz über verlorene Freunde. Was aber versteht Nietzsche
unter Freundschaft?“33 An dieser Stelle wird bereits der Mangel im Umgang mit den
zitierten Gedichten deutlich: Es geht überhaupt nicht darum, die Texte als literari-
sche Texte zu verstehen und auf ihre Funktionsweise hin zu befragen. Ohne dem
Leser auch nur den geringsten Hinweis an die Hand zu geben, woran er zu sehen
glaubt, dass es in den eineinhalb Strophen des zweiten ‚Dithyrambus‘ um „Freund-
schaft“ geht, erläutert Leisegang die völlig selbstständige Frage, was Nietzsche
unter Freundschaft verstehe. Von einer Auslegung des Gedichts kann hier nicht die

29 Leisegang, Zu Friedrich Nietzsches Gedichten, S. 282.


30 Leisegang, Zu Friedrich Nietzsches Gedichten, S. 285.
31 Leisegang, Zu Friedrich Nietzsches Gedichten, S. 283.
32 Vgl. DD Unter Töchtern der Wüste, KSA 6, 384, 1–21.
33 Leisegang, Zu Friedrich Nietzsches Gedichten, S. 283.
„Das Unglück holt den Flüchtigen ein – und sei’s“ 217

Rede sein, zugleich sind die sich anschließenden Ausführungen von Nietzsches
Freundschaftsbegriff einschließlich der Nennung eines Zarathustra-Kapitels, so-
dann Goethes und Schillers, schließlich Richard Wagners, argumentativ die Vo-
raussetzung für die Einführung von zwei weiteren Strophen des Gedichts Aus hohen
Bergen,34 das als Teil von Jenseits von Gut und Böse veröffentlich wurde. Der
„Schmerz“ nämlich, verursacht durch den Kampf „gegen sich selbst und gegen die
Freunde“, sei „der Drang“, der dem Gedicht zugrunde liege. Der Abdruck der
beiden Strophen führt abermals nicht zu einer Textauslegung, vielmehr veranlasst
er Leisegang dazu, die „Unterscheidung des rein Geistigen, in dem sich Nietzsche
bewegt, von den seelischen Regungen, die er zugunsten des Geistigen unter-
drückt“,35 noch einmal näher zu erklären. An dieser Stelle beende ich den histori-
schen Exkurs, denn es steht bereits fest, dass es in Leisegangs Beitrag nicht um
Gedichte als poetische Texte geht, sondern um den Versuch, die Ursache für das
Verfassen von Gedichten durch Entschlüsselung von biographisch-weltanschauli-
chen Zusammenhängen zu entwickeln.

3 Systematischer Exkurs: Dichtung und


Philosophie – Wahlverwandtschaft oder
Zwangsehe?
Im vorangehenden Kapitel habe ich anhand eines forschungsgeschichtlich rele-
vanten Ansatzes zu zeigen versucht, weshalb es unzulänglich ist, Gedichte als
literarische Texte lediglich auf philosophische Gedanken hin zu untersuchen,
ohne dabei mit textuellen Phänomenen zu arbeiten oder ästhetische Wirkungs-
formen zu dokumentieren. Was sich für literarische Texte als unangemessenes
Verfahren erweist, gilt freilich nicht für philosophische Texte, die als solche vom
Autor gekennzeichnet sind. So konstatiert Gottfried Gabriel mit Blick auf eine
Differenzierung bei der Interpretation literarischer und philosophischer Texte:
„Die Einwände gegen die Möglichkeit, so etwas wie den vom Autor intendierten
Sinn interpretierend reproduzieren zu können, haben bei philosophischen Texten
von vornherein aus semantischen Gründen weit weniger Plausibilität als bei
literarischen.“36 Denn: „In literarischen Texten sagt der Autor nicht, was er meint,

34 Vgl. JGB Nachgesang, KSA 5, 242, 6–15.


35 Leisegang, Zu Friedrich Nietzsches Gedichten, S. 285.
36 Gabriel, Gottfried, Zur Interpretation literarischer und philosophischer Texte, in: Danneberg,
Lutz / Vollhardt, Friedrich (Hrsg.), Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Positionen
und Perspektiven nach der Theoriedebatte, Stuttgart 1992, S. 239–250, hier S. 246.
218 Mike Rottmann

er zeigt es vielmehr. Für philosophische Texte gilt dagegen das Umgekehrte.“37


Mit dem Namen Gottfried Gabriel ist darüber hinaus ein wichtiger Forschungs-
zusammenhang angesprochen, der seit den 1980er Jahren auch in Deutschland
ein verstärktes Interesse auf sich gezogen hat: Die methodische Funktion literari-
scher Darstellungsformen in der Philosophie und das Verhältnis von logisch-
wissenschaftlichem und analogisch-ästhetischem Denken. Für meinen Beitrag ist
die Art des Umgangs mit den dort verhandelten Fragen deshalb von Bedeutung,
weil sie sich dem Phänomen grundsätzlich aus einer theoretischen Perspektive
nähern, indem prinzipielle Aussagen abseits eigener Textauslegungen getroffen
werden und damit nicht Gefahr laufen, den systematischen Anspruch im Ange-
sicht einer konkreten Interpretation aufzugeben. In einem aktuellen Beitrag, der
sich dieser Verfahrensweise verpflichtet weiß, hat Christiane Schildknecht die
Perspektiven einer Überschneidung von Literatur und Philosophie systematisch
zusammengefasst. Im Folgenden erläutere ich eine der von Schildknecht ent-
wickelten Perspektiven, die für mein Thema fruchtbar ist und darüber hinaus am
ehesten geeignet ist, dem Phänomen begrifflich gerecht zu werden: „Philosophie
in Literatur“. Daraus lassen sich vier Aspekte bzw. Fragefunktionen entwickeln,
die ich knapp umreißen möchte: 1. Der „Dichterphilosoph“ oder die Nivellierung
von Gattungsgrenzen; 2. Wissen oder Erkenntnis; 3. Wie kommt Philosophie in
die Dichtung? Das Kontext-Problem; 4. Kann man poetisch philosophieren?
Unter „Philosophie in Literatur“ versteht Christiane Schildknecht „die Be-
handlung philosophischer Inhalte in Form von Literatur“,38 also z. B. in Form von
Gedichten. Wichtig für eine Annäherung an dieses Phänomen ist die Feststellung,
dass „ Philosophie in Literatur nicht nur eine literaturwissenschaftliche Fragestel-
lung, sondern wesentlich ein philosophieinternes Thema in den Blick“ nehme, weil
„die literarische Verarbeitung philosophischer Gedanken […] eine adäquate Be-
stimmung der zentralen philosophischen Begriffe Erkenntnis und Wissen“ erforde-
re. „Wissen“ wird hier als „auf Aussagenwahrheit und Begrifflichkeit bezogenes
Satzwissen“ definiert, während „Erkenntnis“ demgegenüber auch „nicht-proposi-
tionale Aspekte wie Adäquatheit und Nicht-Begrifflichkeit“ umfasse.39 Schild-
knecht formuliert außerdem drei grundlegende Fragen, die Beachtung verdienen:

Welche Erkenntnis- und Wissensformen werden außerhalb philosophischer Texte im enge-


ren Sinne durch Literatur vermittelt und reflektiert? Wie werden philosophische Inhalte in

37 Gabriel, Zur Interpretation literarischer und philosophischer Texte, S. 245.


38 Schildknecht, Christiane, Literatur und Philosophie: Perspektiven einer Überschneidung, in:
Demmerling, Christoph / Vendrell Ferran, Íngrid (Hrsg.), Wahrheit, Wissen und Erkenntnis in der
Literatur. Philosophische Beiträge, Berlin 2014, S. 41–56, hier S. 42.
39 Schildknecht, Literatur und Philosophie: Perspektiven einer Überschneidung, S. 41 f.

„Das Unglück holt den Flüchtigen ein – und sei’s“ 219

Literatur transformiert? Wie sehen die Verfahren aus, durch die literarische Texte philoso-
phische Überlegungen vermitteln?40

Neben dieser sachlichen Grundierung ist den Ausführungen zu entnehmen, dass


die Auseinandersetzung mit „Philosophie in Literatur“ grundsätzlich an eine litera-
turwissenschaftliche Fragestellung gekoppelt ist, nämlich an die Frage nach dem
Wie: Wie werden philosophische Inhalte in Literatur transformiert? Einen Überblick
dieser und weiterer Grundfragen sollen die vier genannten Funktionen geben.
1. Der „Dichterphilosoph“ oder die Nivellierung von Gattungsgrenzen: Seit
Nietzsches Texte ausgelegt werden, haben sich Exegeten verschiedenster Couleur
darum bemüht, die offensichtliche Verschränkung einer im modernen philosophi-
schen Kontext zumindest nicht herkömmlichen Darstellungsweise (literarische
oder literarisierende Form) mit Inhalten von hohem sachlichem Gewicht zumindest
deskriptiv zu würdigen; bezeichnend dafür ist die Bezeichnung Nietzsches als
„Dichterphilosoph“.41 Die ersten rein philosophisch orientierten Interpreten haben
sich entschieden gegen diese Zuschreibung verwahrt; exemplarisch hierfür ist die
Stellungnahme Karl Löwiths in der Einleitung zu seiner Dissertation von 1922: „Er
ist unter der Rubrik der ‚Dichterphilosophen‘ unschädlich untergebracht.“42 Und:

Dadurch soll aufgewiesen werden, daß hinter der impressionistischen Aphorismenfülle des
sog. „Dichterphilosophen“ – ein Ausdruck, welcher nur eine bequeme Rechtfertigung der
Flucht von einer ernstlichen Auseinandersetzung ist – die verborgene Systematik und
unerbittliche Konsequenz einer in bestimmter Weise ansetzenden strengen Denkerpersön-
lichkeit herrscht.43

Ungeachtet dieser grundsätzlichen Kritik hat das Etikett ‚Dichterphilosoph‘ ein


Erbe, das sich anhand von drei gegenwärtigen Positionen darstellen lässt: 1. Im
Nachwort zur aktuellen Reclam-Ausgabe der Gedichte Nietzsches von Mathias
Mayer heißt es: „Als erste Frage bei der Auseinandersetzung mit Nietzsches Lyrik
stellt sich daher die Aufgabe, zu klären, in welchem Verhältnis Philosophie und

40 Schildknecht, Literatur und Philosophie: Perspektiven einer Überschneidung, S. 41 f.


41 Nietzsches eigene Stellung zu den Begriffen „Dichter-Philosoph“ und „Künstler-Philosoph“


ist nicht eindeutig. Vgl. dagegen Ulrichs, Lars-Thade, Zum Verhältnis von Philosophie und Literatur
bei Nietzsche [Artikel], in: Feger, Hans (Hrsg.), Handbuch Literatur und Philosophie, Stuttgart /
Weimar 2012, S. 135–137, hier S. 136. Ulrichs spricht von „uneingeschränkte[r] Sympathie“.
42 Löwith, Karl, Auslegung von Nietzsches Selbstinterpretation und von Nietzsches Interpretatio-
nen [Diss. phil. Universität München, 1922/23], zitiert nach einem Exemplar im DLA Marbach (NL
Löwith 07.119.1), S. 2.
43 Löwith, Auslegung von Nietzsches Selbstinterpretation und von Nietzsches Interpretationen,
S. 3.
220 Mike Rottmann

Dichtung zueinander stehen.“ 2. In einem Referenzwerk zur Geschichte der


deutschsprachigen Lyrik lesen wir: „Die herausragende, die lyrische Produktion
um und nach 1900 prägende Lyrik stammt nicht von einem Poeten im engeren
Sinn dieses Wortes, sondern von einem Philosophen.“ 3. Im einleitenden Teil des
historisch-kritischen Kommentars zu den Idyllen aus Messina wird konstatiert: „Er
ist nicht Philosoph und nebenbei auch noch Dichter, sondern beides zugleich.“44
Obschon sich etwa mit Blick auf Nietzsches Zarathustra kaum Schwierig-
keiten ergeben, dieser Einschätzung zu folgen, so wird man einsehen, dass Nietz-
sches Werk nicht allein ausgehend von dem besonderen literarischen Status eines
Textes charakterisiert werden kann. Dennoch die Annahme von einer, das ganze
Werk durchwaltenden Verschränkung von Literatur und Philosophie zur all-
gemeinen Prämisse expandiert. Aus dem Umstand, dass ein Autor mit seinen
Texten die Gattungsgrenzen überschreitet, lässt sich aber keine hinreichende
Begründung dafür ableiten, literaturwissenschaftliche und philosophische Inter-
pretations- und Argumentationsweisen zu vermischen, denn:

Wer den Texten keine Etiketten mehr anheften möchte, der sollte trotzdem seine Lektüren
nicht miteinander konfundieren. Eine philosophische und eine literarische Lektüre unter-
scheiden sich auch dort, wo sie den gleichen Text betreffen. Wer der Überzeugung ist, dass
die transzendentale Deduktion Kants richtig sei, der kann nicht die Anmut dieser Ableitung
als Grund dafür anführen.45

Die grundsätzliche Annahme einer Unterscheidbarkeit von Dichtung und Phi-


losophie sollte auch im Angesicht von Gattungsmischungen aufrechterhalten
werden. Mehr noch: Idealisierte, oder besser: Normative Gattungsbegriffe können
hilfreich sein, um bei der Analyse der Texte Grenzüberschreitungen überhaupt
fassen zu können. Nachdem Gottfried Gabriel beide Gattungen als „disjunkte
Klassen“ definiert und in einen „polar-konträren“, aber nicht übergangsfreien
„Gegensatz“ gestellt hat, formuliert er unter besonderer Berücksichtigung der
Konsequenzen für die Interpretation folgendes: „Die Anerkennung eines solchen
Kontinuums darf aber nicht dazu führen, in stetiger Nivellierung der Unterschiede
schließlich auch die Pole zusammenfallen zu lassen, sondern fordert ganz im
Gegenteil dazu heraus, die Unterschiede um so sorgfältiger herauszuarbeiten.“46

44 Der Reihe nach: Mayer, Mathias, Nachwort, in: Nietzsche, Friedrich, Gedichte, hrsg. von
Mathias Mayer, Stuttgart 2010, S. 173–186, hier S. S. 173 f.; Schnell, Ralf, Von der Jahrhundert-

wende bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, in: Holznagel, Franz-Josef u. a., Geschichte der

deutschen Lyrik, Stuttgart 2004, S. 471–580, hier S. 474; Kaufmann, Sebastian, Kommentar zu
Nietzsches ‚Idyllen aus Messina‘, in: NK 3/1, 457–543, hier 469.
45 Demmerling, Philosophie als literarische Kultur?, S. 346 f.

46 Gabriel, Zur Interpretation literarischer und philosophischer Texte, S. 245.


„Das Unglück holt den Flüchtigen ein – und sei’s“ 221

Denn jeder literarische oder philosophische Text, der sich ihm gewöhnlich zu-
geschriebenen Gattungsspezifika entzieht, verfolge damit bestimmte Absichten.47
2. Wissen und Erkenntnis: Auf die Diskussion der Valenz von Gattungsunter-
schieden würde folgerichtig die bereits angesprochene Differenzierung von Wis-
sen und Erkenntnis als Kriterium zur Unterscheidung von literarischen und phi-
losophischen Texten anschließen, zumal sich die „Diskussion darüber, inwiefern
Philosophie in literarischen Texten thematisiert wird“, „vornehmlich an der
Grenzziehung zwischen propositionalem Wissens- bzw. nicht-propositionalem
Erkenntnisbegriff [orientiert] und […] insofern epistemisch geprägt [ist].“48 Zu-
nächst möchte ich mich vorbehaltlos jener Auffassung anschließen, die erstens
besagt, dass „nicht jede Erkenntnis propositional ist“, dass es somit auch „nicht
propositionale Erkenntnisse gibt“,49 welche – zweitens – durch die Rezeption
literarischer Texte erworben werden können. Damit sei gesagt, dass es fiktionale
Literatur gibt, die einen „relevanten Erkenntniswert besitzt.“50 Ungeklärt ist hin-
gegen, auf welche Weise die aus dem Umgang mit einem literarischen Text
gewonnene Erkenntnis mitteilbar ist und welchen epistemischen Status das mög-
licherweise Mitteilbare besitzt. Die Lektüre eines philosophischen Textes sollte es
ermöglichen, ein in diesem Text enthaltenes Argument einer weiteren Person, die
diesen Text nicht selbständig gelesen hat, so mitzuteilen, dass diese das Argu-
ment ebenfalls versteht. Nach der Lektüre eines literarischen Textes kann ich
einer weiteren Person nicht nur mitteilen, auf welche Weise mich die Schilderung
eines fiktionalen Ereignisses in der Literatur (z. B. das Schicksal der Physiker in
Friedrich Dürrenmatts gleichnamiger Komödie) berührt hat, sondern auch, wel-
che Erkenntnisse (hier: über Verantwortlichkeit in den Naturwissenschaften) ich
aufgrund der fiktiven Ereignisse gewonnen habe. Die Solidität und Plausibilität
meiner Erkenntnisse basiert auf dem Text-Erlebnis.
3. Wie kommt Philosophie in die Dichtung? Das Kontext-Problem: Unabhän-
gig von der Überzeugungskraft der vorgetragenen Begründung für eine prinzipiel-
le Beibehaltung des Gattungsunterschieds wird auch der stärkste Befürworter der

47 Vgl. zu möglichen Interessen der Vermittlung, der Heuristik, des Ausdrucks und der Kritik:
Fulda, Daniel / Matuschek, Stefan, Literarische Formen in anderen Diskursformationen: Philoso-
phie und Geschichtsschreibung, in: Winko, Simone u. a. (Hrsg.), Grenzen der Literatur. Zu Begriff

und Phänomen des Literarischen, Berlin / New York 2009, S. 188–199.


48 Schildknecht, Literatur und Philosophie: Perspektiven einer Überschneidung, S. 47.
49 Gabriel, Gottfried, Zwischen Wissenschaft und Dichtung. Nicht-propositionale Vergegenwärti-
gung in der Philosophie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 51, Berlin 2003, S. 415–425, hier
S. 416.
50 Gabriel, Gottfried, Fiktion, Wahrheit und Erkenntnis in der Literatur, in: Demmerling / Vendrell
Ferran (Hrsg.), Wahrheit, Wissen und Erkenntnis in der Literatur, S. 163–180, hier S. 163.
222 Mike Rottmann

Gattungsdifferenz nicht leugnen wollen, dass literarische Texte im Allgemeinen


und Gedichte im Besonderen existieren, die Philosophie enthalten. Die sich daran
anschließende Frage, wie eigentlich Philosophie in die Dichtung kommt, hat Lutz
Danneberg nicht nur aufgeworfen, sondern mit Blick auf die sich daraus ergeben-
den interpretatorischen Probleme auch beantwortet. Seine mit vielen Beispielen
angereicherten Ausführungen münden in zwei Thesen: Die erste These lautet:
„Ohne die Einschränkung von Kontextbezügen läßt sich so viel Philosophie in
einem literarischen Text entdecken, wie es einem gefällt.“51 Diese These geht auf
die vorgelagerte Frage zurück, wie der Interpret sich selbst (und seinen Lesern)
versichern kann, „daß der für die Ausdeutung gebildete Kontext, über den Phi-
losophie in den Text fließt, auch gerechtfertigt ist“.52 Wie es Danneberg an
mehreren Beispielen aufzuzeigen gelingt, besteht das „Problem bei der Zuwei-
sung von Philosophie an einem literarischen Text über die Bildung eines Kon-
textes“ „in der Frage, welche Kontexte zulässig sind und wie sie sich begrenzen
lassen.“53 Umgekehrt bedeutet dies, dass ein für die Beschreibung von Philoso-
phie (z. B. in einem Gedicht) herangezogener Kontext nie ohne Begründung aus-
kommt.
Die zweite These lautet: „Ohne zusätzliche Anforderungen an die Fähigkeit
eines Textes zur Exemplifikation läßt sich in einem Text so viel Philosophie
entdecken, wie es einem gefällt.“54 Danneberg führt aus, dass philosophische
Gehalte in Texten regelmäßig über Exemplifikation bestimmt oder ermittelt wer-
den. Zu Recht bemerkt er, dass „[j]ede Eigenschaft eines (literarischen) Textereig-
nisses und jede Eigenschaft der von ihm beschriebenen (fiktionalen) Textwelt […]
als exemplifizierend aufgefaßt werden [kann].“55 Da aber „ein Text jede ihm
zugesprochene Eigenschaft exemplifizieren kann“,56 besteht wie im Fall der Kon-
textbildung die Pflicht, Exemplifikationsketten zu bilden, d. h. eine Begründung

für ebendiese Argumentation zu liefern. Solche Begründungen – hier liegt die


Pointe – sind nur dann erfolgreich, wenn sie am Text selbst begründet werden:

Eigenschaften eines Textes exemplifizieren und demonstrieren nur im Textzusammenhang;


mithin gibt es keine Demonstrationen, die mit Eigenschaften textunabhängig verknüpft
sind. Jede Eigenschaft kann grenzenlos zur Demonstration herangezogen werden, aber nur

51 Danneberg, Lutz, Wie kommt die Philosophie in die Literatur?, in: Schildknecht, Christiane /
Teichert, Dieter (Hrsg.), Philosophie in Literatur, Frankfurt/Main 1996, S. 19–54, S. 38.
52 Danneberg, Wie kommt die Philosophie in die Literatur?, S. 38.
53 Danneberg, Wie kommt die Philosophie in die Literatur?, S. 49.
54 Danneberg, Wie kommt die Philosophie in die Literatur?, S. 53.
55 Danneberg, Wie kommt die Philosophie in die Literatur?, S. 50.
56 Danneberg, Wie kommt die Philosophie in die Literatur?, S. 52.
„Das Unglück holt den Flüchtigen ein – und sei’s“ 223

diejenigen sind einem Werk zuzuschreiben, die sich mit seinen anderen Eigenschaften
verknüpfen lassen.57

4. Kann man poetisch philosophieren? Ist es grundsätzlich möglich, einen phi-


losophischen Gedanken in einen literarischen Text mittels „spezifisch ästheti-
scher, also traditionell poetischer Ausdrucksmittel“58 einzuweben, der sodann
vom Leser erkannt wird? Harald Fricke hat diese zugespitzte Frage dergestalt
beantwortet, dass es zwar keine „‚nicht-propositionale Erkenntnis‘“ gebe, wohl
aber „nicht-propositionales ‚Lernen‘“, sodass die „literarische Form […] den Leser
stärker ins Philosophieren hineinziehen [kann] als jeder argumentierende phi-
losophische Text.“59
Die Ausführungen in diesem Kapitel sind stets von einem Spezialfall aus-
gegangen: von einem lyrischen Gedicht, das einen philosophischen Gedanken
enthält, der verständlich, mitteilbar und zuletzt diskutierbar ist. Damit wurde den
Bedürfnissen der philosophisch interessierten Nietzscheforschung ein großes
Zugeständnis gemacht. Dieser Ansatz, der externen Evidenz viel Raum gibt, läuft
nämlich Gefahr, letztlich die Sinnkonstitution moderner Lyrik zu konterkarieren.
Denn noch heute, bald 60 Jahre nach ihrer Formulierung, gilt jene grundlegende
Überzeugung Hugo Friedrichs:

Überall beobachten wir ihre [der Lyrik] Neigung, so weit wie möglich von der Vermittlung
eindeutiger Gehalte fernzubleiben. Das Gedicht will vielmehr ein sich selbst genügendes, in
der Bedeutung vielstrahliges Gebilde sein, bestehend aus einem Spannungsgeflecht von
absoluten Kräften, die suggestiv auf vorrationale Schichten einwirken, aber auch die Ge-
heimniszonen der Begriffe in Schwingung versetzen.60

Und weiter:

Wenn das moderne Gedicht Wirklichkeiten berührt – der Dinge wie des Menschen – so
behandelt es sie nicht beschreibend und nicht mit der Wärme eines vertrauten Sehens und
Fühlens. Es führt sie ins Unvertraute, verfremdet sie, deformiert sie.61

57 Danneberg, Wie kommt die Philosophie in die Literatur?, S. 54.


58 Fricke, Harald, Kann man poetisch philosophieren? Literaturtheoretische Thesen zum Verhältnis
von Dichtung und Reflexion am Beispiel philosophischer Aphoristiker, in: Gabriel, Gottfried / Schild-
knecht, Christiane (Hrsg.), Literarische Formen der Philosophie, Stuttgart 1990, S. 26–39, hier
S. 27.
59 Fricke, Kann man poetisch philosophieren?, S. 26.
60 Friedrich, Hugo, Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte
des zwanzigsten Jahrhunderts, Neuausgabe mit einem Nachwort von Jürgen von Stackelberg,
Hamburg 2006, S. 16.
61 Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik, S. 16.
224 Mike Rottmann

Bei der Gedichtanalyse kann es folglich nicht darum gehen, die ‚Deformierung‘
eines Gedankens aufzuheben; und doch sind auffällig viele Analysen von Gedich-
ten Nietzsches von der (mal mehr, mal weniger offen eingestandenen) Überzeu-
gung getragen, nur ein in den philosophischen Diskurs einzuspeisendes, aus der
Dichtung entwickelbares Wissen sei das sinnvolle Ergebnis eines wissenschaftli-
chen Umgangs mit Nietzsches Lyrik.
Für Literaturwissenschaftler ergibt sich im Grunde eine gänzlich andere Auf-
gabenstellung, die Carsten Dutt unter Einbeziehung des weiteren epistemologi-
schen Zusammenhangs präzise formuliert:
Selbst dort, wo ein Werk […] nicht viel mehr als die Versifikation eines theologisch oder
philosophisch vorgedachten Gedankens ist, selbst dort also, wo Literatur Wissens- und
Ideenordnungen lediglich in die komplexe Prägnanz verssprachlicher Verdichtung hebt, ist
es der werkhaft generierte Mehrwert dieser Verdichtung, der Literaturwissenschaftler spezi-
fisch beschäftigen sollte. In keinem Fall geht die Produktivität literarischer Werke nämlich
im bloßen Transport, in der restlos transparenten, sich selbst zum Verschwinden bringen-
den Repräsentation oder Exemplifikation jener Kontexte auf, die ihnen, den Werken, ge-
schichtlich vorausliegen und in dieser oder jener Weise auch eingeschrieben sind.62

Das dem Gegenstand angemessene Interesse sei, so Dutt weiter,

das Interesse an individualisierender, nicht lediglich typisierender Erkenntnis im Umgang


mit Werken der Literatur. Das theoretische Fundament dieses Individualisierungsinteresses
besteht in der Einsicht in die Bedeutung der Form, d. h. der Anerkennung der semantischen,

pragmatischen und ästhetischen Produktivität der in keinem ihrer Details substituierbaren


(weil in keinem ihrer Details insignifikanten) Gestalt eines Werkes.63

Für die Philosophie besitzt die Einsicht, dass die Darstellungsformen ihren jeweili-
gen Inhalten nicht äußerlich sind, ein revolutionäres Potenzial – und es ist erfreu-
lich, dass dieser Ansatz inzwischen auch auf Nietzsches Werk angewendet wird.64
Für die Literaturwissenschaft bildet der konstitutive Zusammenhang von Form und
Inhalt seit jeher die Geschäftsgrundlage – und das wusste der Dichter Franz Grill-
parzer bereits, als die deutsche Philologie als Fach noch gar nicht existierte: „Nicht
der Gedanke macht das Kunstwerk sondern die Darstellung des Gedankens.“65

62 Dutt, Carsten, Werkzentrierte Interpretation: Zur Kritik kontextualistischer Orientierungen in der


Literaturwissenschaft, in: The German Quarterly, Jg. 86, Cherry Hill / Hoboken (New Jersey) 2013,
S. 240.
63 Dutt, Werkzentrierte Interpretation, S. 240.
64 Vgl. die Pilotstudie von: Pichler, Axel, Philosophie als Text. Zur Darstellungsform der „Götzen-
Dämmerung“, Berlin / Boston 2014.
65 Grillparzer, Franz, Sämtliche Werke. Ausgewählte Briefe, Gespräche, Berichte, hrsg. von Peter
Frank / Karl Pörnbacher, Bd. 3, München 1964, S. 285.
„Das Unglück holt den Flüchtigen ein – und sei’s“ 225

4 „Das Unglück holt den Flüchtigen ein – und


sei’s“. Ein lyrisches Fragment von 1885

Der Gegenstand, um den es nun gehen soll, begegnet uns hier in Vermittlung
durch eine Abbildung, die seiner tatsächlichen Gestalt (einzusehen im Goethe-
und Schiller-Archiv in Weimar) sehr nahe kommt. Das Faksimile konfrontiert uns
mit einer Doppelseite aus Nietzsches Arbeitsheft W I 6.66 Es ist besonders wichtig,
dem Gegenstand auf diese Weise erstmalig zu begegnen; alternativ (aber herme-
neutisch ungünstig) wäre es möglich gewesen, den editorisch hergestellten Text
der KGW bzw. KSA zu zitieren oder bereits die Transkription aus KGW IX/467 zu
bemühen. Die Unzulänglichkeit der herkömmlichen Edition68 wird sich in diesem
Kapitel deutlich erweisen, denn es ist nahezu unmöglich, eine Hypothese über
die gedankliche Reichweite des Gedichtentwurfs auf der linken Heftseite69 zu
entwickeln, wenn er unabhängig von seinem materiellen Zusammenhang ana-
lysiert wird. Darüber hinaus veranschaulicht die Abbildung die begrifflich schwer
zu fassende Individualität des Autors.70 Die Einzigartigkeit von Gedankenführung
und Sprachfindung zeigt sich in der Anschauung des Materials, sie findet ihre
Entsprechung schon in der hochgradig individualisierten Handschrift. Mehr
noch: Sie ermöglicht es, „die Ereignishaftigkeit dieser Notizen als Laboratorium
und Medium von Selbstaufzeichnungsexperimenten zugleich vor Augen zu füh-
ren.“71 Die Schwierigkeit, die dem ungeübten ‚Leser‘ eine Entzifferung der Hand-
schrift auf der Manuskriptseite 58 bereitet, sollte folglich die Interpretationshal-
tung bestimmen. Die Verstehensbemühung, herausfinden zu wollen, was der

66 Für umfänglichere Beschreibungen des Heftes vgl. den Nachbericht zu KGW IX/4, 22–24,
sowie die grundlegende Studie von: Röllin, Beat, Nietzsches Werkpläne vom Sommer 1885: eine
Nachlass-Lektüre. Philologisch-chronologische Erschließung der Manuskripte, München 2012, insb.
S. 41–44.
67 Vgl. KGW VII/3, 449–452; bzw. NL 1885, 45[5], KSA 11, 709 f. 

68 Für einen Überblick siehe: Röllin, Beat / Stockmar, René, „Aber ich notire mich, für mich.“ –
Die IX. Abteilung der Kritischen Gesamtausgabe von Nietzsches Werken, in: Nietzsche-Studien,
Jg. 36, Berlin / New York 2007, S. 22–40.
69 W I 6, 58.
70 Zu Orientierung vgl. Wohlfart, Günter, Dichten der Individualität, in: Hoffmann, Thomas Sören
/ Majetschak, Stefan (Hrsg.), Denken der Individualität. Festschrift für Josef Simon zum 65. Geburts-
tag, Berlin / New York 1995, S. 55–65.
71 Stingelin, Martin, Die Sudelbücher von Georg Christoph Lichtenberg in der Begegnung mit den
Notizheften von Friedrich Nietzsche als Ort(e), wo Experiment und Normalismus sich (nicht un-
abhängig voneinander) begegnen, in: Bartz, Christina / Krause, Marcus (Hrsg.), Spektakel der
Normalisierung, München 2007, S. 209–220, hier S. 211.
226 Mike Rottmann

Abb. 1: W I 6, 58 u. 59 (GSA-Signatur 71/154)


„Das Unglück holt den Flüchtigen ein – und sei’s“ 227

Autor mit dem Niedergeschrieben sagen wollte, stünde dann im Verhältnis zu der
Herausforderung, die Wörter und Striche, Punkte und Kommas zu entziffern und
führt zu der viel grundlegenderen, zugleich aber verwandten Frage: Was steht da
eigentlich? Das sich-Einlassen auf die Handschrift hat mit philosophischer Betäti-
gung zunächst wenig zu tun – aber, und auch das macht die Abbildung auf einfache
Weise deutlich: Niemand würde bestreiten, dass sich die beiden abgebildeten
Seiten ‚optisch‘ sehr voneinander unterscheiden, zugleich aber (durch die Grund-
lage!) miteinander verbunden sind und eine Trennung nur künstlich, durch einen
Akt der Gewalt (etwa durch das Herausreißen einer Seite) möglich wäre. Anderseits
lässt sich eine Seite schwerlich ohne weiteres durch das Verständnis der jeweils
anderen erklären. Angenommen also, die einfach(er) zu entziffernde Handschrift
auf Seite 59 enthielte nicht nur einen gut verständlichen philosophischen Gedan-
kengang, und es wäre zudem auch noch plausibel, die rechte Seite als Kontext des
Entwurfs auf der linken Seite zu begreifen – wie sollte, so verstanden, ein Ver-
ständnis der Philosophie (rechterhand) die Dichtung (linkerhand) begünstigen?
Müssten nicht zunächst beide Seiten einzeln, isoliert, ja autonom gemäß ihres Seins
behandelt werden und erst danach der Zusammenhang diskutiert werden respekti-
ve überhaupt erwogen werden, ob ein Zusammenhang vorhanden ist?
Die folgende Darstellung erprobt, wie weit die Interpretation eines solchen
Gedichtentwurfs überhaupt kommen kann, und richtet die Konzentration zu-
nächst auf die Seiten 59 und 58 des Quartheftes W I 6. Dieses Heft wurde im
Sommer 188572 von Anfang bis Mitte Juni73 zunächst von Louise Röder-Wieder-
hold in Sils-Maria verwendet; es enthält ihre Niederschrift der Diktate Nietzsches.
Die rechten Seiten74 sind durchgängig von der Hand Louise Röder-Wiederholds
beschrieben und bilden die Grundschicht (G). Von der Hand Nietzsches stammen
zwei Bearbeitungsschichten: Eine erste Bearbeitungsschicht (B1) in violetter Tinte
umfasst Überarbeitungen, Zusätze und Zweitbeschriftungen und wird von Beat
Röllin auf Ende Juni/Anfang Juli und Mitte August/Mitte September, im Zusam-
menhang mit den W I 5-Reinschriften, datiert. Eine zweite Bearbeitungsschicht
(B2) in schwarzer und anthrazitfarbener Tinte umfasst weitere Überarbeitungen
und Ergänzungen der Diktatniederschrift. Mit Blick auf Seite 59 lassen sich diese
allgemeinen Beobachtungen bestätigen: Die Heftseite enthält eine in schwarzer
Tinte niedergeschriebene Grundschicht, der Schreibfluss ist insgesamt gleich-
mäßig und verläuft von oben nach unten. Die Seite ist außerdem nahezu voll-

72 Der gesamte, für Nietzsches Werkpläne so bedeutsame Zeitraum von November 1884 bis
August 1886 lässt sich studieren anhand von: Janz, Curt Paul, Friedrich Nietzsche. Biographie,
Bd. 2, München / Wien 1978, S. 358–478.
73 Zu diesem Befund kommt Röllin, Nietzsches Werkpläne vom Sommer 1885, S. 42.
74 W I 6, 3–77.
228 Mike Rottmann

ständig beschrieben, wobei der Absatz im oberen Seitendrittel eine Unterbre-


chung markiert. Deutlich zu erkennen sind mehrere Überarbeitungen auf der
Seite, gehäuft in den ersten beiden Sätzen nach dem Absatz; es handelt sich
neben einer Durchstreichung wesentlich um Einfügungen (z. T. ganzer Satzteile)
in violetter Tinte von der Hand Nietzsches (B1). Was bei oberflächlicher Sichtung
nur schwer zu erkennen ist, zeigt die Transkription von Seite 59 in KGW IX/4:

Abb. 2: Transkription W I 6, 59 (KGW IX/4)

Es ist von Bedeutung, dass Nietzsche den aus seinem Diktat entstandenen Text
offenbar mehrfach gelesen hat. Diese Annahme ergibt sich aus der Verwendung
„Das Unglück holt den Flüchtigen ein – und sei’s“ 229

violetter,75 schwarzer76 und anthrazitfarbener77 Tinte, die er für seine Überarbei-


tung verwendet hat. Dabei kam es ihm freilich nicht nur auf die Korrektur von
Rechtschreibfehlern an; vielmehr bildete das von Röder-Wiederhold Nieder-
geschriebene eine Art ‚Behelfstext‘ als Grundlage für sein Weiterdenken und
-arbeiten. Vergleicht man die übrigen rechten Seiten dieses Heftes mit der hier
abgebildeten, so fällt auf, dass nur zwei rechte Seiten78 noch weniger Bearbei-
tungsspuren enthalten, drei weitere Seiten79 weisen etwa ähnlich viele Spuren
auf. Auf allen anderen Seiten, deren Grundschicht aus der Niederschrift Röder-
Wiederholds besteht, sind z. T. umfangreiche Bearbeitungen zu erkennen,80 die
nicht selten auf die linken Heftseiten, die ja zu diesem Zweck freigelassen worden
waren,81 geradezu ‚ausbrechen‘. Pauschal lässt sich über das, was wir von der
Hand Nietzsches auf den linken Seiten sehen, wenig Substanzielles aussagen. Wie
auch immer man die Aufzeichnungen der linken Heftseiten beschreiben würde
(als Notate, Kommentare, Glossen, Ergänzungen), sie haben keine lyrische Form.

75 Vgl. W I 6, 59, 9–13, 16 u. 23.


76 Vgl. W I 6, 59, 18 u. 36[?].
77 Vgl. W I 6, 59, 43 f.

78 Vgl. W I 6, 63 u. 71.
79 Vgl. W I 6, 3, 57 u. 73.
80 Vgl. z. B. W I 6, 17.
81 Vgl. KGW VII/4.2, 61.
230 Mike Rottmann

Abb. 3: Transkription W I 6, 58 (KGW IX/4)

Zu dem Entwurf auf Seite 58 zählen drei Versgruppen, wobei die ersten beiden82
zugleich Versuche einer ersten Strophe sind. Die Kontextualisierung bestimmter
Schlüsselwörter lässt erkennen, dass der Text das Verhältnis des Künstlers zu
seiner Umwelt, insbesondere zu seiner Leserschaft behandelt. Dabei fällt die
große Nähe zu Nietzsches eigener Lebenssituation im Sommer 1885 auf, die im

82 Vgl. W I 6, 58, 2–6 u. 8–12.


„Das Unglück holt den Flüchtigen ein – und sei’s“ 231

Folgenden nicht unerwähnt bleiben soll. Der Versuch der Zeilen 8–12 folgt auf
den Versuch der Zeilen 2–6. Anhand des Materials lässt sich nachvollziehen, dass
die oberste Versgruppe zuerst entstand:

Abb. 4: Transkription W I 6, 58, 2–6 (KGW IX/4)

Die Editoren haben zwei Überschreibungen identifiziert: Die Präpositionen „Zum“


und „Zur“ am Beginn der vierten und sechsten Zeile werden durch die Konjunkti-
on „Als“ ersetzt. Die Bedeutungsverschiebung, die durch die Ersetzung einer
sprachlichen Brücke durch das Scharnierwort ‚als‘ eintritt, ist eminent: Zunächst
hat das ‚Einholen des Flüchtigen‘ den konkreten Zweck, zweierlei auszulösen: den
„goldenen Kummer der verarmten Hand“ und die „Traurigkeit des ewig-Schen-
kenden“. „Das Unglück“ ist agens, es vollzieht eine Handlung und kalkuliert
dahinter eine gleichsam konkrete Reaktion. Durch das „Als“ verändert sich die
Bedeutung: Das „Unglück“ ist nicht mehr ein abstraktes, gleichwohl handelndes
Etwas, sondern wird erst durch sein Tun identifiziert: „Als“ bedeutet hier ‚in Form
von‘. Es werden Formen von Unglück genannt, das Unglück (als Fatum oder
Schicksal) ist nicht selbst Subjekt. In Gestalt des „goldenen Kummer[s] der ver-
armten Hand“ holt das „Unglück […] den Flüchtigen ein“, das Unglück wird in
einer Erscheinungsform manifest und begreifbar. Ebenso verhält es sich mit der
„Traurigkeit des ewig-Schenkenden“. Hatte man in Zeile 2 mit „dem Flüchtigen“
noch eine ganzheitliche Person vor Augen, so betrifft das in Zeile 6 angesprochene
Unglück nur noch ein Körperteil: „die Hand“. Die Hand, oder auch: die Hände,
sind von ausgezeichneter Bedeutung: Durch die Hand wird die schöpferische Kraft
des Schriftstellers Wirklichkeit. In der abendländischen Geistesgeschichte haben
die verschiedensten Autoren über die Bedeutung der Hand reflektiert, angefangen
bei Aristoteles über Hegel zu Heidegger83 und Derrida. Aber auch für Nietzsche

83 „Der Mensch selbst ‚handelt‘ durch die Hand; denn die Hand ist in einem mit dem Wort die
Wesensauszeichnung des Menschen. […] Durch die Hand geschieht zumal das Gebet und der
Mord, der Gruß und der Dank, der Schwur und der Wink, aber auch das ‚Werk‘ der Hand, das
‚Handwerk‘ und das Gerät. […] Der Mensch ‚hat‘ nicht Hände, sondern die Hand hat das Wesen
232 Mike Rottmann

haben die Hände einen besonderen Wert.84 Versucht man nun festzustellen, ob
Nietzsche im Sommer 1885 etwas Einschlägiges niedergeschrieben hat, so stößt
man auf ein Notat, das als Nachlassfragment 36 [36]85 ediert ist. Das gesamte Notat
umfasst genau eine rechte Seite (Seite 23) im Quartheft W I 4. Dort heißt es:

Noch jetzt ist, namentlich unter Künstlern, eine Art Verwunderung und ehrerbietiges Aus-
hängen der Entscheidung reichlich vorzufinden, wenn sich ihnen die Frage vorlegt, wo-
durch ihnen der beste Wurf gelungen und aus welcher Welt ihnen der schöpferische
Gedanke gekommen ist: sie haben, wenn sie dergestalt fragen, etwas wie Unschuld und
kindliche Scham dabei, sie wagen es kaum zu sagen ‚das kam von mir, das war meine Hand,
die die Würfel warf‘.86

Nietzsche wehrt sich hier gegen den Glauben, ein gelungenes Werk sei das
Resultat einer ‚Eingebung‘, einer gleichsam unbewussten, denkerisch mithin
nicht voll kontrollierten Handlung. Einen Ansatzpunkt zur Aufhellung seiner
Schreibintention erhält, wer den Blick auf die linke Seite (Seite 22) schweifen
lässt: Dort nämlich befindet sich der Entwurf eines Briefes an die seinerzeit 29-
jährige, promovierte österreichische Philosophin und Literaturkritikerin Helene
Druskowitz, die sich ein Exemplar des Zarathustra erbeten und daraufhin offen-
bar ankündigt hatte, eine literarkritische Abhandlung schreiben zu wollen. Nietz-
sche ringt um eine angemessene Reaktion. Seine persönlichen Eingeständnisse
gehen in diesem Entwurf sehr weit und bezeugen die tiefe Kränkung, die durch
das Ansinnen Helene Druskowitz’ nur noch einmal bestärkt wurde:

des Menschen inne, weil das Wort als der Wesensbereich der Hand der Wesensgrund des
Menschen ist. Das Wort als das eingezeichnete und so dem Blick sich zeigende ist das geschriebe-
ne Wort, d.. h. die Schrift. Das Wort als die Schrift aber ist die Handschrift.“ (Heidegger, Martin,

Gesamtausgabe, Abt. II: Vorlesungen 1923–1944, Bd. 54: Parmenides, hrsg. von Manfred S. Frings,
Frankfurt/Main 1982, S. 118 f.).

84 Vgl. NL 1885, 36[36], KSA 11, 565, 23–566, 1. Vgl. zu Nietzsches ‚Lob der Hände‘ außerdem:
Braun, Stephan, Topographien der Leere. Friedrich Nietzsche, Schreiben und Schrift, Würzburg
2007, S. 33–60.
85 KSA 11, 565 f.

86 W I 4, 23 (KGW IX/4).
„Das Unglück holt den Flüchtigen ein – und sei’s“ 233

Abb. 5: Transkription W I 4, 22, 12–24 (KGW IX/4)

Aber zurück zu dem Gedichtentwurf: In Zeile 4 wird die ernste Realität durch eine
ironische Spiegelung gebrochen. Das Paradoxon in der vierten Zeile spielt an auf
wirtschaftliche Zwänge, die hier im Hintergrund stehen: Der „Kummer“ ist ‚gol-
den‘, d. h. in Anspielung auf ein kostbares Metall veredelt, gleichwohl ist die

Hand „verarmt[ ]“. Die ökonomische Basis aller freier Schriftsteller, der ‚freien
Geister‘, ist prekär; das wirtschaftliche Auskommen ist nicht gesichert, materielle
Sorgen gehören zum Alltag und bestimmen bis zu einem gewissen Grad auch das
Handeln des unabhängigsten Schreibers:

Seit der Erfindung des freien Schriftstellers in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
schieben sich Lesen und Schreiben zum einen aufgrund der Emanzipation des Bürgertums,
zum anderen aufgrund der gesteigerten Technisierung und Ökonomisierung des Schreibakts
und der Publikationsmöglichkeiten immer mehr ineinander. Schreiben wird zur existenziel-
len Ausdrucksform und soll zugleich der ökonomischen Sicherung der Existenz dienen.87

Andererseits beruht die Wahl dieser Existenz auf einer freien Entscheidung und
stellt eine bewusst gewählte, radikale Existenzform dar:

Die Ungleichzeitigkeit des unternehmerischen Schriftstellers, der sich mit seiner phantasie-
beflügelten Produktionsweise vor der mühseligen und widerspenstigen Emanzipation der
bürgerlichen Arbeitswelt bald einen entscheidenden Vorsprung verschaffte und darum auch
dem Bürger unerbittlich sich entfremdete, hat Nietzsche so radikal wie keiner vor ihm zum
Prinzip seines Denkens und auch zu seiner äußeren Existenzform erhoben.88

87 Thüring, Hubert, Der alte Text und das moderne Schreiben. Zur Genealogie von Nietzsches
Lektüreweisen, Schreibprozessen und Denkmethoden, in: Balke, Friedrich u. a. (Hrsg.), Für Alle und

Keinen. Lektüre, Schrift und Leben bei Nietzsche und Kafka, Zürich / Berlin 2008, S. 121–148, hier
S. 124 f.

88 Lämmert, Eberhard, Nietzsches Apotheose der Einsamkeit, in: Nietzsche-Studien, Jg. 16, Berlin
/ New York 1987, S. 47–69, hier S. 58.
234 Mike Rottmann

Entsprechend meint der in der vierten Zeile genannte „Kummer“ hier keine milde,
sondern eine existenzielle Form der Traurigkeit: die „Traurigkeit des ewig-Schen-
kenden“, der keine Anerkennung erhält. Wie Zarathustra, der „den Menschen ein
Geschenk“ bringen will,89 macht der Schriftsteller das Ergebnis seiner Arbeit den
Menschen zum Geschenk. Das individuelle Erzeugnis des Schriftstellers enthält
einen Abzug seiner persönlichen Weltsicht, als Gabe wird sie allen Menschen
zuteil. In dem Zarathustra-Kapitel Von der schenkenden Tugend spiegelt sich
genau dieses Ereignis. Die Jünger reichen Zarathustra einen Stab, „an dessen
goldenem Griffe sich eine Schlange um die Sonne ringelte.“90 Zarathustra freut
sich über diese Gabe, ist aber nicht frei von Traurigkeit: Denn Gold sei deshalb
„zum höchsten Werthe“ gekommen, weil es „ungemein“, „unnützlich“, „mild im
Glanze“ und damit das ideale, einfachste Geschenk sei.91 Geistige Gaben seien
höher einzuschätzen. Das goldene Geschenk ist „Abbild der höchsten Tugend“,
welche das Besitzen-wollen ist.92
Der erste Strophenentwurf scheint Nietzsche nicht überzeugt zu haben,
sodass er neu ansetzte:

Abb. 6: Transkription W I 6, 58, 8–12 (KGW IX/4)

Der erste Vers bleibt in seiner Struktur erhalten, allerdings verändert Nietzsche
ein entscheidendes Detail: „Das Unglück“ als Akteur, zunächst mit dem Prädikat
als gegenwärtig handelndes Subjekt eingeführt, wird wesentlich neu bestimmt:
Seine Tätigkeit wird nicht nur in die Vergangenheit verlegt, sondern auch ver-
stärkt und konkretisiert. Es heißt nun: „Das Unglück fieng den Flüchtigen ein“.
Weder das „Unglück“ noch der „Flüchtige[ ]“ verhalten sich passiv, denn das
‚Einfangen‘ setzt voraus, dass derjenige, der eingefangen werden soll, sich grund-

89 Za I Zarathustra’s Vorrede 2, KSA 4, 13, 7 f.


90 Za I Von der schenkenden Tugend 1, KSA 4, 97, 9 f.  

91 Za I Von der schenkenden Tugend 1, KSA 4, 97, 13–15.


92 Unter ausdrücklichem Bezug auf Nietzsches Konzept einer „schenkenden Tugend“ hat Nicolai
Hartmann in seiner Ethik die notwendige Differenzierung zwischen materiellen und geistigen
Gütern und die Verbundenheit zwischen Schenkendem und Beschenktem entwickelt. Vgl. Hart-
mann, Nicolai, Ethik, 3. Auflage, Berlin 1949, S. 503 f.

„Das Unglück holt den Flüchtigen ein – und sei’s“ 235

sätzlich zur Wehr setzt. In den Zeilen 10 und 12 wird jener Gedanke erneut
aufgegriffen, der im ersten Strophenentwurf zum Ausdruck gebracht werden
sollte. „Sorglos u selber uneingedenk“ blicke der ‚schenkende‘ Schriftsteller auf
die eigenen Bedürfnisse. Die Sorglosigkeit ist hier im alltäglichen Sinne zu ver-
stehen,93 nicht im philosophischen.94 Von der allgemeinen Betrachtung über die
komplexen Beziehungen zwischen Schriftsteller und Leser ausgehend, verengt
das Fragment den Blick sodann zur spezifischen Abrechnung mit den Zeitgenos-
sen, die den Zarathustra ignorierten, worauf die dritte Zeile des zweiten Strophen-
entwurfs („Warf er die Perlen weg“) verweist: Im späten Nachlass ist die Metapher
der ‚Perle‘ konsequent für den Zarathustra reserviert: „Ich lese Zarathustra: aber
wie konnte ich dergestalt meine Perlen vor die Deutschen werfen!“,95 und: „Ich
habe den Deutschen das tiefste Buch gegeben, das sie besitzen, meinen
Z a r a t h u s t r a , – ich gebe ihnen hiermit das unabhängigste. Wie? Sagt mir dazu
mein schlechtes Gewissen, du willst deine Perlen – vor die Deutschen wer-
fen? …“96 „[M]eine Perlen vor die Deutschen werfen!“ – Diese humorvoll-sarkas-
tische Umformung der in der deutschen, französischen und englischen Sprache
seit dem Mittelalter belegten, durch Martin Luthers Übersetzung von Mt. 7, 6 im
deutschsprachigen Bibeltext ratifizierten Wendung („Ihr sollt das Heiligthum
nicht den Hunden geben, und eure Perlen sollt ihr nicht vor die Säue werfen, auf
daß sie dieselbigen nicht zertreten mit ihren Füßen, und sich wenden und euch
zerreißen.“) ist die zugespitzte Formel jenes bewussten Haderns des Dichters mit
seiner Lebensform, seiner Umwelt und seinen Lesern. Im September 1888 notiert
Nietzsche diese Umwidmung letztmals als Pointe eines inszenierten Zwie-
gesprächs mit einem „kleine[n] Buch“:

93 Vgl. den Artikel „sorglos“, in: Adelung, Johann Christoph, Grammatisch-kritisches Wörterbuch
der Hochdeutschen Mundart. Mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber
der Oberdeutschen, Bd. 4, Leipzig 1801, Sp. 152: „[… E]rnstlichen Richtung des Gemüthes auf einen
Gegenstand beraubt, und darin gegründet. Ich legte mich sorglos nieder. Spencers Poesie ist die
sorglose Ergießung einer warmen Einbildungskraft und lebhaften Empfindung. In engerer Bedeu-
tung bezeichnet es die Unterlassung dieser pflichtmäßigen Richtung des Gemüthes. Ein sorgloser
Mensch. Sorglos seyn. / Anm. Dieses Wort ist von dem Zeitworte sorgen, besonders in dessen
weitern Bedeutung, zusammen gesetzt, und unterscheidet sich dadurch hinlänglich von sorgen-
los, welches die Abwesenheit ängstlicher Sorgen bezeichnet.“
94 Vgl. Kranz, Margarita, Sorge [Artikel], in: Ritter, Joachim u. a.(Hrsg.), Historisches Wörterbuch

der Philosophie, Bd. 9, Darmstadt / Basel 1995, Sp. 1086–1090. Kranz weist darauf hin, dass bis
zum 20. Jahrhundert „S. weniger ein philosophischer Begriff als ein Thema der christlichen
Homiletik und […] ein Thema der Literatur“ war (Kranz, Sorge, Sp. 1087).
95 NL 1887, 9[190], KSA 12, 451.
96 NL 1888, 18[5], KSA 13, 533.
236 Mike Rottmann

Ich gestatte mir noch eine Erheiterung. Ich erzä〈hle,〉 was ein kleines Buch mir erzählt hat,
als es von seiner ersten Reise nach Deutschland zu mir zurückkam. Dasselbe heißt: J e n -
s e i t s v o n G u t u n d B ö s e , – es war unter uns gesagt, das Vorspiel zu eben dem Werke,
das man hier in den Händen hat. Das kleine Buch sagte zu mir: „ich weiß ganz gut, was mein
Fehler ist, ich bin zu neu, zu reich, zu leidenschaftlich, – ich störe die Nachtruhe. Es giebt
Worte in mir, die einem Gott noch das Herz zerreißen, ich bin ein Rendez-vous von
Erfahrungen, die man nur 6000 Fuß über jedem menschlichen Dunstkreis macht. – Grund
genug, daß die Deutschen m i c h v e r s t a n d e n …“ Aber, antwortete ich, mein armes Buch,
wie konntest du auch deine Perlen – vor die Deutschen werfen? Es war eine Dummheit! –
Und nun erzählte mir das Buch, was ihm begegnet sei.97

Das persönliche Unglück des Schriftstellers steht in der dritten Versgruppe des
Gedichtentwurfs ganz ausdrücklich im Mittelpunkt:

Abb. 7: Transkription W I 6, 58, 14–24 (KGW IX/4)

Die Einbettung dieses Gedichtentwurfs in ein Arbeitsheft und seine Rahmung


durch Diktatniederschriften, die vom Autor mehrfach gelesen und bearbeitet
worden sind, erlauben es, den Zusammenhang zwischen Nietzsches Gedichtent-
wurf und seiner Arbeitsweise probehalber zu rekonstruieren. Einen ersten An-
haltspunkt bietet der Umstand, dass der Gedichtentwurf in Blei in das Heft einge-
tragen wurde. Durchsucht man das Heft nach weiteren Eintragungen in Blei,
stößt man einzig auf einen Titelentwurf auf der ersten Seite des Heftes:

97 NL 1888, 19[1], KSA 13, 540, 21–541, 2.


„Das Unglück holt den Flüchtigen ein – und sei’s“ 237

Abb. 8: W I 6, 1 (GSA-Signatur 71/154)


238 Mike Rottmann

Auf dem Vorsatz recto (‚fliegendes Blatt‘, zugleich Seite 1) befindet sich ein
Rahmen, der den Satzspiegel umfasst; ein kleinerer Rahmen darin ist als Titel-
fenster eingerichtet. In das kleinere Ornament hat Nietzsche den Titelentwurf
„Zucht des Herzens.“ mit Bleistift eingetragen. Unterhalb dieses Ornaments hat er
einen weiteren Titelentwurf in anthrazitfarbener Tinte notiert: „Des Prinzen Vo-
gelfrei / Lieder und Gedanken. / Von / Friedrich Nietzsche.“ Den zweiten Titel-
entwurf hat Nietzsche eigenhändig mit einem wellenförmig gezeichneten Kasten
umrahmt, ebenfalls in anthrazitfarbener Tinte. Der Gedichtentwurf auf Seite 58
steht somit rein materialiter aufgrund des gemeinsamen Schreibgerätes (Bleistift)
mit dem oberen der beiden Titelentwürfe auf Seite 1 („Zucht des Herzens“) in
Verbindung. Es ist möglich, dass Nietzsche nach der Niederschrift des Entwurfs
auf Seite 58 den Titelentwurf auf Seite 1 eingetragen hat, um auf den in diesem
Heft enthaltenen Entwurf hinzuweisen, oder um schlicht einen Titel für das
Gedicht festzuhalten. Ein wichtiger Hinweis zum Verständnis des Titelentwurfs
(„Zucht des Herzens“) ergibt sich aus der Lektüre des vierten Teils der Vorrede zu
Menschliches, Allzumenschliches. In diesem „Denkmal einer rigorösen Selbst-
zucht“98 taucht die Wendung „Zucht des Herzens“ nämlich ebenfalls auf:

Von dieser krankhaften Vereinsamung, von der Wüste solcher Versuchs-Jahre ist der Weg
noch weit bis zu jener ungeheuren überströmenden Sicherheit und Gesundheit, welche der
Krankheit selbst nicht entrathen mag, als eines Mittels und Angelhakens der Erkenntniss,
bis zu jener r e i f e n Freiheit des Geistes, welche ebensosehr Selbstbeherrschung und Zucht
des Herzens ist und die Wege zu vielen und entgegengesetzten Denkweisen erlaubt –, bis zu
jener inneren Umfänglichkeit und Verwöhnung des Ueberreichthums, welche die Gefahr
ausschliesst, dass der Geist sich etwa selbst in die eignen Wege verlöre und verliebte und in
irgend einem Winkel berauscht sitzen bliebe, bis zu jenem Ueberschuss an plastischen,
ausheilenden, nachbildenden und wiederherstellenden Kräften, welcher eben das Zeichen
der g r o s s e n Gesundheit ist, jener Ueberschuss, der dem freien Geiste das gefährliche
Vorrecht giebt, a u f d e n V e r s u c h hin leben und sich dem Abenteuer anbieten zu dürfen:
das Meisterschafts-Vorrecht des freien Geistes! Dazwischen mögen lange Jahre der Gene-
sung liegen, Jahre voll vielfarbiger schmerzlich-zauberhafter Wandlungen, beherrscht und
am Zügel geführt durch einen zähen W i l l e n z u r G e s u n d h e i t , der sich oft schon als
Gesundheit zu kleiden und zu verkleiden wagt. Es giebt einen mittleren Zustand darin,
dessen ein Mensch solchen Schicksals später nicht ohne Rührung eingedenk ist: ein blasses
feines Licht und Sonnenglück ist ihm zu eigen, ein Gefühl von Vogel-Freiheit, Vogel-
Umblick, Vogel-Uebermuth, etwas Drittes, in dem sich Neugierde und zarte Verachtung
gebunden haben. Ein „freier Geist“ – dies kühle Wort thut in jenem Zustande wohl, es wärmt
beinahe. Man lebt, nicht mehr in den Fesseln von Liebe und Hass, ohne Ja, ohne Nein,
freiwillig nahe, freiwillig ferne, am liebsten entschlüpfend, ausweichend, fortflatternd,
wieder weg, wieder empor fliegend; man ist verwöhnt, wie Jeder, der einmal ein ungeheures
Vielerlei unter sich gesehn hat, – und man ward zum Gegenstück Derer, welche sich um

98 EH MA 5, KSA 6, 327, 2 f.

„Das Unglück holt den Flüchtigen ein – und sei’s“ 239

Dinge bekümmern, die sie nichts angehn. In der That, den freien Geist gehen nunmehr
lauter Dinge an – und wie viele Dinge! – welche ihn nicht mehr b e k ü m m e r n …99

Wie William H. Schaberg im Anschluss an Montinari dargelegt hat, war Nietzsche


„besonders interessiert an einer neuen, überarbeiteten Ausgabe von Mensch-
liches, Allzumenschliches“, sodass er „im Juni 1885 begann, Menschliches, All-
zumenschliches in Sils-Maria zu überarbeiten.100 Demgegenüber geht Röllin da-
von aus, dass die Umarbeitungen nicht vor Anfang/Mitte September 1885
aufgenommen worden sind.101 Im Herbst 1885 kam Nietzsche mit dem Verleger
Credner überein, eine Neuauflage des Werks drucken zu lassen.102 Im vierten Teil
der Vorrede bringt er das zum Ausdruck, was er im Gedichtentwurf lyrisch dar-
stellen wollte. Ein Resümee liefert die Äußerung in Ecce homo: „‚Menschliches,
Allzumenschliches‘ ist das Denkmal einer Krisis. Es heisst sich ein Buch für f r e i e
Geister: fast jeder Satz darin drückt einen Sieg aus – ich habe mich mit demselben
vom U n z u g e h ö r i g e n in meiner Natur freigemacht.“103 Es ist besonders interes-
sant, dass Nietzsche für Menschliches, Allzumenschliches ursprünglich den Titel
„Die Pflugschar“ vorgesehen hatte.104 Das Wort ‚Pflugschar‘ bezeichnet genau
genommen nur die Schneide des Pfluges,105 nicht aber, wie in der Umgangs-
sprache, pars pro toto den Pflug insgesamt. In dieses semantische Feld gehört
auch der Begriff ‚Zucht‘: „In der eigentlichen Bedeutung, ein Werkzeug oder Ding
zum Ziehen, in welcher doch nur in der Landwirthschaft einiger Gegenden die
Kette am Pfluge, welche den Pflug und die Räder zusammen hält, die Zucht
genannt wird.“106 Hier besteht eine Analogie zum lyrischen Sprechen, denn

99 MA I Vorrede 4, KSA 2, 17 f.

100 Schaberg, William H., Nietzsches Werke. Eine Publikationsgeschichte und kommentierte
Bibliographie, aus dem Amerikanischen von Michael Leuenberger, Basel 2002, S. 171.
101 Röllin, Nietzsches Werkpläne vom Sommer 1885, S. 135–140.
102 Vgl. Röllin, Beat, Ein Fädchen um’s Druckmanuskript und fertig? Zur Werkgenese von ‚Jenseits
von Gut und Böse‘, in: Born, Marcus Andreas / Pichler, Axel (Hrsg.), Texturen des Denkens.
Nietzsches Inszenierung der Philosophie in „Jenseits von Gut und Böse“, Berlin / Boston 2013, S. 47–
68, hier S. 48.
103 EH MA 1, KSA 6, 322, 4–7.
104 Vgl. EH MA 2, KSA 6, 324, 22–25; dazu auch Schaberg, Nietzsches Werke, passim.
105 Vgl. den Artikel „Pflug“, in: Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen
Mundart, Bd. 2, Leipzig 1796, Sp. 747: „[D]ie Pflüge, ein bekanntes Werkzeug des Ackerbaues,
damit Furchen in den Erdboden zu ziehen und ihn zur Aufnahme des Samens locker und
geschickt zu machen. Es ist mit Rädern versehen und unterscheidet sich unter andern auch
dadurch von dem Haken.“
106 „Zucht“ [Artikel], in: Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mund-
art, Bd. 4, Sp. 1741.
240 Mike Rottmann

dieses sei „instrumentelles Handeln, vergleichbar dem Pflügen, Kämpfen, Heilen,


verschieden nur in den Instrumenten. An die Stelle von Pflug, Waffe, Arznei
treten treten sorgfältig ausgesuchte, rhythmisch organisierte, auf feierliche Weise
gesprochene oder gesungene Verse.“107
Nimmt man nun weiter den engeren Kontext im Anschluss an die Heft-
Doppelseite 58/59 in den Blick, so stößt man auf folgenden Doppelseite 60/61 auf
eine Sequenz, in der verdichtet genau das artikuliert wird, was in dem Gedicht-
entwurf in poetischer Sprache zum Ausdruck gebracht werden sollte:

Abb. 9: Transkription W I 6, 61, 32–39 (KGW IX/4)

Die Bearbeitungsspuren dokumentieren ein Umdenken Nietzsches im Sommer


und Herbst 1885. Auf der vorherigen Manuskriptseite (gegenüber dem Gedicht-
entwurf) beschäftigte er sich noch mit folgender Frage:

Abb. 10: Transkription W I 6, 59, 10–16 (KGW IX/4)

Nietzsche hatte die Einsicht gewonnen, dass er seine Philosophie nicht mehr
kommunizieren könne: „Ich habe fast jeden Tag 2–3 Stunden diktirt, aber meine
‚Philosophie‘, wenn ich das Recht habe, das, was mich bis in die Wurzeln meines
Wesens hinein malträtirt, so zu nennen, ist n i c h t m e h r mittheilbar, zum Min-
desten nicht durch Druck.“108 Hatte er Röder-Wiederhold zunächst noch mit dem
Begriff des „Philosophen“ beim Denken operiert und diesen auch diktiert, relati-

107 Schlaffer, Heinz, Geistersprache. Zweck und Mittel der Lyrik, München 2012, S. 16 f.

108 Brief an Franz Overbeck vom 02. 07. 1885, KSB 7, Nr. 609, S. 62, Z. 42–46.
„Das Unglück holt den Flüchtigen ein – und sei’s“ 241

viert er den Ausdruck bei der eigenen Korrekturlektüre. So zieht er Konsequenzen


aus seiner eigenen Lebenserfahrung. Nietzsches Philosophie des freien Geistes
stellt mithin nicht nur eine neue begriffliche Fülle des Wortes dar.109
Der Gedichtentwurf aus W I 6 dokumentiert vor dem Hintergrund der ange-
führten Parallelstellen Nietzsches Versuch, die seit über hundert Jahren bestehen-
de Existenz des freien Schriftstellers auf den Philosophen anzuwenden, um
diesen neuen Typus schon begrifflich von den akademischen Philosophen seiner
Zeit, den Kathederfürsten, abzugrenzen. Im späten 19. Jahrhundert hatte sich
denkgeschichtlich bereits vollzogen, was um die Wende vom 18. zum 19. Jahr-
hundert seinen Anfang nahm:

[D]ie scharfe Verurteilung der Melancholie durch die Aufklärung [wird] von den Romanti-
kern in eine Auszeichnung des Künstlers umgewertet […] und zum anderen [werden]
Merkmale der Melancholie in eine Wahrnehmungsstruktur überführt […], die nicht nur in
Literatur und Poesie sondern auch in der Philosophie neue Formen des Wissens zu generie-
ren beginnt.110

Melancholie zeitigt Einsicht, doch im Gedichtentwurf dominiert ab dem zweiten


Strophenentwurf nicht mehr der sprachlich gefilterte Ausdruck des Dichters,
sondern der persönliche Schmerz des empirischen Autors. Die Versuche für eine
erste Strophe gelingen noch, ja es gelingt Nietzsche, seine Gedanken und das
leitende Gefühl, die waltende Idee schließlich poetisch auszudrücken. Wir sehen
noch Nadel und Faden, lose Enden, allerhand Flickwerkzeug. Er experimentiert.
Seine Ideen sind noch nicht an ihren sprachlichen Ausdruck gebunden, sie
schweben noch in der Sphäre des Unausgesprochenen. Die Entscheidung für die
Form steht noch aus. Grundlage für diese Entscheidung aber ist, dass der Akt
sprachlicher Realisierung gelingt. Dies festzustellen erfordert eine Erprobung. Die
persönliche Verletzung ist jedoch zu groß und überwältigt letztlich den Dichter,
der eigentlich nicht nur von sich selbst reden möchte, sondern von dichterischer
und denkerischer Existenz im Allgemeinen. Nietzsche macht sich ein Thema zu
Eigen, dass seine unmittelbare Lebenswelt betrifft: Sein Ringen um eine angemes-
sene Darstellung seines Werks und nicht zuletzt die Hoffnung auf Anerkennung
unter den (wenigen) Lesern des Zarathustra. Zu diesem Ergebnis kommt auch

109 Vgl. hierzu Ottmann, Henning, Philosophie und Politik bei Nietzsche, 2., verbesserte und
erweiterte Auflage, Berlin / New York 1999, S. 121–123; außerdem Campioni, Giuliano, Freigeist
[Artikel], in: Ottmann, Henning (Hrsg.), Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Sonder-
ausgabe, Stuttgart / Weimar 2011, S. 235–237.
110 Breuer, Ulrich, Dolche reden. Die Wahrheit der Melancholie bei Friedrich Schlegel und Fried-
rich Nietzsche, in: Vieweg, Klaus (Hrsg.), Friedrich Schlegel und Friedrich Nietzsche. Transzenden-
talpoesie oder Dichtkunst mit Begriffen, Paderborn u. a. 2009, S. 41–56, hier S. 43.

242 Mike Rottmann

Eberhard Lämmert in seiner grundlegenden Studie zu Nietzsches Apotheose der


Einsamkeit:

Der bemerkenswerte Einklang, der in diesem Punkte zwischen der persönlichen und der
literarischen Erscheinung Nietzsches besteht, legt die Hypothese nahe, daß Nietzsche den
neuzeitlichen Phänotyp des einzelgängerischen Erkenntnissuchers und Visionärs in seinen
Möglichkeiten extrem ausschreitet und daß er damit nicht so sehr einer philosophischen, als
vielmehr einer schriftstellerischen Tradition zuzuordnen ist.111

Rekurrierten die ersten beiden Strophenversuche noch auf die allgemeine Mühsal
des freien Schriftstellers, so kommt in der dritten Versgruppe nur Nietzsches
eigener Gemütszustand zum Ausdruck. Das Besondere ist, dass Nietzsches Ein-
samkeit und der fortwährende Zwang zum kritischen Denken nicht nur im
Gedicht thematisiert werden, sondern auch mit seinem schöpferischen Denken in
Verbindung stehen. Damit lässt sich der Gedichtentwurf in die Tradition des
Dichtergedichtes einordnen, für das Heinz Schlaffer zufolge „Beschwernis und
Reflexion“ konstitutiv sind.112
Nietzsches Idee ist es, die Ideale und Bedingungen des dichterischen Lebens
als Vorbild künftiger philosophischer Existenz zu begründen. ‚Seine‘ Philosophen
der Zukunft wirken nicht auf dem Katheder, sie sind nicht Teil der staatlich
sanktionierten Ausbildungsstätten, deren Rahmenbedingungen ‚freies Denken‘
kaum oder eben nur in definierten Grenzen zulassen. Die Konzessionen, die der
‚freie Philosoph‘ zu machen hat, sind nicht zu unterschätzen. Die Stellung, die
Nietzsche dadurch zukommt, hat Lämmert beschrieben:

Nietzsche hat als erster die neuzeitliche Genieästhetik voll auf das Philosophieren ange-
wandt, denn auch als Philosoph, dessen Rede nicht der Imagination der Wahrheit, sondern
ihrer Darstellung gelten soll, behält er sich strikt diejenige Uneingegrenztheit der Bedeu-
tungsfülle vor, die zuvor nur Gott und hernach niemandem zukommt außer eben dem zu sich
selber redenden Genie. In der Praxis des menschlichen Lebens jedoch kann und darf der
Gehalt seiner Lehre nur je partikular verstanden werden, um kommunikabel zu bleiben. Der
Umgang anderer Menschen mit seiner Lehre beruht deshalb nach Nietzsches eigener Vor-
gabe, wie die zwischenmenschliche Liebe, notwendig auf Mißverständnissen. Auch Nietz-
sche ist leidend zu dieser Erkenntnis gelangt. Aber der späte Nietzsche zeigt keine Spur des
Leidens an diesem Hiatus zwischen der uneingegrenzten Bedeutungsfülle seiner Lehre und
ihrer notwendig nur bruchstückhaften Auffassung durch andere. Da derselbe Hiatus seit dem
18. Jahrhundert von Schriftstellern hundertfach melancholisch bedacht worden ist, stellt sich
die Frage, warum der Autor Nietzsche in seinen Texten von solcher Klage nichts hören läßt.113

111 Lämmert, Nietzsches Apotheose der Einsamkeit, S. 48.


112 Schlaffer, Heinz, Das Dichtergedicht im 19. Jahrhundert. Topos und Ideologie, in: Jahrbuch der
Deutschen Schillergesellschaft, Jg. 10, Marbach 1967, S. 297–335, hier S. 300.
113 Lämmert, Nietzsches Apotheose der Einsamkeit, S. 65.
„Das Unglück holt den Flüchtigen ein – und sei’s“ 243

Ein abgeschlossenes Gedicht hätte dem Leser die Existenzbedingungen des ‚frei-
en Geistes‘ womöglich erfahrbar gemacht. Eine begriffliche Darstellung der ge-
nauen Bedeutung dieser Existenzform in Abgrenzung zur philosophischen Pro-
duktionsweise in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wäre damit nicht
erreicht.
Jan Kerkmann
Die Einkreisung der schwarzen Schlange:
Zur Figur des Wahrsagers im Zarathustra

Abstract: The black snake’s encirclement: On the fortune-teller character in


Nietzsche’s Zarathustra. The essay contributes to the question of philosophico-
literary interaction in Nietzsche’s Zarathustra by defining the fortune-teller’s role
as Zarathustra’s peer and looking-glass adversary. Focussing on the chapters Der
Wahrsager, Der Nothschrei and Das Abendmahl, dialectics between both charac-
ters are revealed to demonstrate the fortune-teller’s disparate traits and mani-
festations as analogies to nihilism’s developmental stages: The fortune-teller pro-
pounds nihilism’s history and genealogy, representing its cornerstones himself,
as distant observer, embodiment of Schopenhauer’s pessimism and mouthpiece
of Nietzsche’s proper affirmative philosophy.

1 Allgemeines zur Figurenzeichnung in Nietzsches


Frühwerk und im Zarathustra
Bereits im Frühwerk Nietzsches lässt sich ein Faible für die Kreation von Figuren
feststellen. Es gelingt ihm dabei schon zu Beginn seines Denkens, über konven-
tionelle Personifizierungen hinauszugehen. Die entworfenen Gestalten sind aller-
dings der Gefahr ausgesetzt, im Statisch-Weltentzogenen eines Ideals gefangen
zu bleiben. In der Schrift Schopenhauer als Erzieher (1874) repräsentieren der
Heilige, der Künstler und der Philosoph die seltenen Ausnahmegestalten, deren
Hervorbringung laut Nietzsche das Ziel der Kultur sein sollte.1 Sie sind die
erlösenden Aufklärer der drängenden Natur und besetzen als gestaltgewordene

1 Vgl. UB III SE 5, KSA I, 380, 15–26: „Das sind jene wahrhaften M e n s c h e n , j e n e N i c h t -


m e h r - T h i e r e , d i e P h i l o s o p h e n , K ü n s t l e r u n d H e i l i g e n ; bei ihrem Erscheinen und
durch ihr Erscheinen macht die Natur, die nie springt, ihren einzigen Sprung und zwar einen
Freudensprung, denn sie fühlt sich zum ersten Male am Ziele, dort nämlich, wo sie begreift, dass
sie verlernen müsse, Ziele zu haben und dass sie das Spiel des Lebens und Werdens zu hoch
gespielt habe. Sie verklärt sich bei dieser Erkenntniss, und eine milde Abendmüdigkeit, das, was
die Menschen ‚die Schönheit‘ nennen, ruht auf ihrem Gesichte. Was sie jetzt, mit diesen verklärten
Mienen ausspricht, das ist die grosse A u f k l ä r u n g über das Dasein“.

DOI 10.1515/9783110474374-011
246 Jan Kerkmann

Vollendungen der „aeternisirenden Mächte“2 (in der Trias der Moral, der Kunst
und der Erkenntnis) die Gipfelhöhen des Ewigen. Der Heilige fühlt sich mit allem
Lebendigen aufs innigste verbunden und befreit die Natur von der Selbstsucht.
Der Künstler artikuliert und verherrlicht das, was in der naturhaften Rastlosigkeit
des Werdens nur unvollständig angelegt war. Im Philosophen erkennt die Natur
sich selbst. Er hebt ihren Schleier und führt sie aus dem Zustand blinder Unbe-
wusstheit heraus. Das Wesen dieser Figuren wirkt allerdings derart übermächtig,
dass der Vielfalt möglicher Erscheinungsformen kaum Raum gelassen wird. Diese
Form der Idealbildung konkurriert mit der Konzeption des Typus, der als ver-
dichtete, durch die Herausschälung der Hauptzüge gewonnene Gestalt eine Ein-
heit stiftende Mittelposition zwischen der Einzigartigkeit der realen Anschauung
und der Allgemeinheit des Begriffs einnimmt.
In der Historienschrift lässt sich dies anhand des Gerechten als „e h r w ü r d i g s -
t e [m] Exemplar der Gattung Mensch“3 exemplifizieren. Der Gerechte macht in
seiner unbarmherzig-altruistischen Aufdeckung von Irrtümern und Verfehlungen
auch vor der eigenen Existenz nicht Halt. Die Ausblendung jeglicher eigennütziger
Perspektiven schlägt jedoch nicht in eine eisige Mechanik um, da der jeweilige
Mensch als Entscheidungsträger kenntlich bleibt. Diese mühsam zu erkämpfende
Gerechtigkeit, die sich nicht erst am konventionellen oder kodifizierten Recht
orientiert, um dieses auf den Einzelfall anzuwenden, sondern in ihrem Richten die
Grenzsteine und Maßstäbe selbst verrückt, dient Nietzsche als Kontrastfolie für alle
unvollkommenen Nachahmungen. Der Gerechte lässt sich allerdings noch nicht
als lebhafter und schillernder Charakter ansprechen. Als normativer Idealtypus
vermag er den phantasiegetragenen und erfindungsreichen Schaffensdrang der
künstlerischen Objektivität mit der unbestechlichen Wahrheitsliebe zu versöh-
nen.4 Einen höheren Grad an Plastizität gewinnt Nietzsches Figurengestaltung,
wenn er von ihm geschätzte Denker als mustergültige Vorbilder profiliert. Diesbe-
züglich sind in der frühen Werkphase besonders Heraklit und Schopenhauer zu
erwähnen: Sie verkörpern ein überzeitliches Ethos, eine stolze Unbeugsamkeit und
vornehme Würde.5 Konträr dazu fungiert Sokrates in der Geburt der Tragödie als

2 UB II HL 10, KSA 1, 330, 18.


3 UB II HL 6, KSA 1, 286, 30.
4 Vgl. UB II HL 6, 292, 25–295,23. Vgl. hierzu auch: Geijsen, Jacobus A. L. J. J., Geschichte und
Gerechtigkeit. Grundzüge einer Philosophie der Mitte im Frühwerk Nietzsches, Berlin / New York
1997, S. 45 f. Zu berücksichtigen ist ebenfalls: Sommer, Andreas Urs, Der Geist der Historie und das

Ende des Christentums. Zur „Waffengenossenschaft“ von Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck.
Mit einem Anhang unveröffentlichter Texte aus Overbecks „Kirchenlexicon“, Berlin 1997, S. 53.
5 Vgl. zu Heraklit besonders PHG 8, KSA 1, 833–835. Vgl. zu Schopenhauer UB III SE 8, KSA 1,
414, 8–415, 19.
Die Einkreisung der schwarzen Schlange 247

Chiffre einer heiter-erkenntnisoptimistischen Kehrtwende zur Dialektik und zur


Oberfläche des begrifflich Fassbaren, die das „tragische[ ] Zeitalter der Griechen“
beendet.6
Die poetische Ausgestaltung, die das spätere Werk Also sprach Zarathustra
prägt, verleiht seinen Figuren in der Synergie und im Auseinandertreten von
Sprechen und Handeln eine facettenreiche Individualität. Hinsichtlich der Kon-
zeption sticht hervor, dass Nietzsche im Zarathustra die dichterischen Kon-
sequenzen aus seiner (Selbst-)Kritik an der „Artisten-Metaphysik“7 des Frühwerks
zieht: Die Figuren verlieren ihre statische Substanzhaftigkeit, ohne dass dadurch
das Beliebige und Ungebundene dominieren würde. Im Gegenteil: Auf diese
Weise werden dynamische Elemente integriert, die es erlauben, die Antagonisten
und Mitstreiter Zarathustras als Wankelmütige, Schauspieler und Doppeldeutige
zu inszenieren, sie als Teilhaber an einem weitgespannten Stimmungsgeflecht
entweder resignierend oder triumphierend, klagend oder aufbegehrend, verzwei-
felnd oder ehrbezeugend auftreten zu lassen.
Die Figuren im Zarathustra veranschaulichen den Übergang, den Zarathustra
verkündigt und herbeizuführen sucht. Daher gruppieren sie sich um die Motive des
Gottes-Tods, der Gefahr und Chance des Nihilismus sowie der Heraufkunft des
Übermenschen: Sie sind abtrünnige Repräsentanten der überkommenen geist-
lichen und weltlichen Macht, Anhänger einer paradigmatischen, moralischen Ein-
stellung und Zugangsweise zur Welt, personifizierte Umbrüche und Entscheidun-
gen des Zeitalters.8 Sie versinnbildlichen die inneren Konflikte, Verführungen und

6 Vgl. PHG, KSA 1, 799; sowie GT, 116, 11–15: „Unsere ganze moderne Welt ist in dem Netz der
alexandrinischen Cultur befangen und kennt als Ideal den mit höchsten Erkenntnisskräften
ausgerüsteten, im Dienste der Wissenschaft arbeitenden t h e o r e t i s c h e n M e n s c h e n , dessen
Urbild und Stammvater Sokrates ist.“
7 GT Versuch einer Selbstkritik 5, KSA 1, 17, 23 f.

8 Es folgt eine ausgewählte Aufstellung der Figuren, die im vierten Teil des Zarathustra auftreten:
Der Papst hat abgedankt, nachdem Gott an „seinem allzugrossen Mitleiden“ erstickt ist (Za IV
Ausser Dienst, KSA 4, 324, 13). Eine andere Version liefert der hässlichste, sich selbst verachtende
Mensch, der Gott tötete, weil er das grenzenlose Mitleid, welches ihm von Gott dargebracht wurde,
nicht ertragen konnte. Während die Religion ihre sinnstiftende Deutungshoheit verloren hat,
befinden sich die positiven Wissenschaften auf dem Vormarsch. Ihr Vertreter ist der ‚Gewissenhafte
des Geistes‘: Er beansprucht ein klar abgestecktes Gebiet für sich (den Sumpf), auf welches er sich
spezialisiert hat. Dort erforscht er das Gehirn der Blutegel – seine Erkenntnisse machen ihn äußerst
stolz. Sein spezialisierter Wissensdrang geht so weit, dass er den Blutegeln den eigenen Arm
anbietet. Seine Maxime lautet: „Lieber Nichts wissen, als Vieles halb wissen! […] Eine Hand breit
Grund ist mir genung: wenn er nur wirklich Grund und Boden ist!“ (Za IV Der Blutegel, KSA 4, 311,
12 u. 16 f.). Er behauptet, die geistige Akribie und Ernsthaftigkeit von Zarathustra gelernt zu haben.

Er ist der einzige unter den ‚höheren Menschen‘, der das „Lied der Schwermuth“, welches der
Zauberer in Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371–374 anstimmt, ausdrücklich ablehnt und
248 Jan Kerkmann

Irrwege Zarathustras und dienen der Schärfung seines eigenen Profils als Figur,
weil er sich von ihren Positionen abgrenzen muss, die oft erstaunliche Ähnlich-
keiten zu seiner eigenen Haltung aufweisen. Dabei gelingt es Nietzsche, seine Fi-
guren nicht in instrumentelle Rollen als Widerpart, Spielball oder Stichwortgeber
Zarathustras abgleiten zu lassen, an denen dieser seine Überlegenheit ausagiert.
Dies verdankt sich besonders dem Überraschungsmoment ihres jeweiligen Auftre-
tens: Aus dem Titel des sie einführenden Kapitels geht nicht hervor, ob sie erzürnt
oder unterwürfig auf Zarathustra reagieren werden, ob mit ehrenvoller Gunst-
bezeugung, unverhohlener Streitlust oder herausfordernder Verstellung. Nietz-
sche spielt raffiniert mit den Erwartungen des Lesers, wenn sich die Könige vor
Zarathustra verneigen, der Papst die Gottlosigkeit Zarathustras bewundert, der
friedfertige Bettler verachtungsvolle und wütende Reden schwingt und der ‚Gewis-
senhafte des Geistes‘ die Scheinheiligkeit der positiven Wissenschaften vor Augen
führt.
Die Figuren tauchen an bezeichnenden Orten auf oder erscheinen in Szenen,
die einen ersten Einblick in ihre Wesenszüge zulassen, ohne diese komplett fest-
zulegen. Topographie und Befindlichkeit durchdringen einander. Dies lässt sich
besonders im Hinblick auf den „hässlichste[n] Mensch[en]“9 veranschaulichen:

diesen der Lüge bezichtigt. Aufgrund seines Sicherheitsbedürfnisses ist der ‚Gewissenhafte des
Geistes‘ der Feind aller ‚freien Geister‘. Ausdruck dieses anderen Extrems ist der „Schatten“ (vgl.
Za IV Der Schatten, KSA 4, 338–341). Sein Merkmal ist die unablässige Freigeisterei, die schließlich
die eigene Bindungslosigkeit nicht mehr erträgt. Die beiden Könige führen einen Esel mit sich, den
sie für denjenigen reservieren, der ihnen überlegen ist (vgl. Za IV Gespräch mit den Königen 1–2,
KSA 4, 304–308). Sie sind die ersten der ‚höheren Menschen‘, denen Zarathustra begegnet,
nachdem er den „Nothschrei“ vernommen hat (vgl. Za IV, Der Nothschrei, KSA 4, 300–303). Ihr
weltliches Amt haben sie niedergelegt, weil sie ihrer eigenen Untertanen überdrüssig geworden
sind. Obwohl sie sich voller Eifer in einer bellizistischen Rhetorik ergehen, sind sie im Kern
friedliebend und höflich-distinguiert. Der „freiwillige Bettler“ wiederum, ein gütiger Berg-
Prediger – die Anspielung auf Jesus von Nazareth ist offenkundig –, verzichtete einst auf seinen
Reichtum, wurde aber auch von den Armen nicht angenommen (vgl. Za IV Der freiwillige Bettler,
KSA 4, 333–337). Zarathustra trifft ihn inmitten von Kühen an, die für den Bettler aufgrund ihrer
Genügsamkeit das Richtmaß irdischen Glückes darstellen. Der „Zauberer“ inszeniert sich als
einsamen, innerlich zerrissenen Gottsucher (vgl. Za IV Der Zauberer 1–2, KSA 4, 313–320). Er glaubt,
Zarathustra auf diese Weise zum Mitleiden mit ihm motivieren zu können. Doch nachdem Zara-
thustra ihn enttarnt hat, räumt er ein, dass es nur ein Spiel gewesen sei. Aufgrund seiner verführe-
rischen Maskenkunst beansprucht er, der Größte des Zeitalters zu sein. Doch auch diese Prätention
ist nur ein Schein; er ist in den Netzen seiner eigenen Magie gefangen. Dies sind sieben der ‚höheren
Menschen‘. Sie alle haben markante Eigenschaften und lassen sich entweder dem Feld des
Glaubens, der Wissenschaft, der Kunst oder der weltlichen Macht zuordnen. Doch wer ist der
Wahrsager?
9 Za IV Der hässlichste Mensch, KSA 4, 327, 1.
Die Einkreisung der schwarzen Schlange 249

Dieser begegnet Zarathustra in einem unwegsamen, felsigen Tal, in dem sich


sterbende Schlangen winden. Der jähe Bruch in der landschaftlichen Physiogno-
mie korrespondiert mit einem Stimmungsumschwung Zarathustras. Bevor dieser
um einen Felsen biegt, der den Blick in die lebensarme Ödnis des Tals verstellt,
frohlockt er über seine bisher angetroffenen Gesprächspartner und blickt zufrieden
auf den Tag zurück, der unter düsteren Vorzeichen – nämlich mit der Ankunft des
Wahrsagers – begann. Obgleich Zarathustra nach jeder Begegnung rasch wei-
tereilt, stellen die einzelnen Charaktere nicht nur Durchgangsstationen dar. Die
‚höheren Menschen‘ durchbrechen die Eindimensionalität der Stimmung immer
wieder, sie treiben die Dramaturgie wahlweise voran oder halten sie auf. Dabei
bilden sie keine Indikatoren, an denen sich der mutmaßliche Grad des Aufstiegs
ablesen ließe. Vielmehr nutzt Nietzsche die in ihnen gebündelten, radikalen Posi-
tionen, um Versuchungen, denen er selbst erlag, abzubilden und sich auf diese
Weise von ihnen zu distanzieren: Anhand des Zauberers problematisiert er bei-
spielsweise die Gefahr der dichterischen Maskenbildung und zeigt ihre Grenzen
auf: Die Anhäufung von wandelbaren Verkleidungen, gedacht als entlarvend-pro-
vokante Geste gegen die verbissene Ernsthaftigkeit der Mitmenschen einerseits
und als verflüssigend-experimentelle Verschiebung des Standpunktes anderer-
seits, schlägt auf den Akteur zurück, dem es schließlich verwehrt ist, einen Urheber
der Charade zu fixieren.
Als Ariadnefaden, der die ‚höheren Menschen‘ verbindet, setzt Nietzsche im
vierten Teil des Zarathustra den Nothschrei ein, der von Seiten der jeweiligen
Figuren ergeht und Zarathustra dazu drängt, sie aufzusuchen und ihnen Hilfe zu
leisten.10 Die abschließende Versammlung dieser Figuren zeigt einerseits die
Interaktion der so unterschiedlichen Charaktere und weist anderseits auf den
Reichtum und die im ‚Übermenschen‘ zur Vereinigung kommenden Höhen, Tiefen
und Winkelzüge voraus. Die Zusammenkunft ist also zugleich ein Versprechen,
insofern sie Charakteristika des ‚Übermenschen‘ antizipiert. Besonders im vierten
Teil des Zarathustra entwickeln die Figuren eine aussagekräftige und nuancenrei-
che Singularität; in den ersten drei Teilen hingegen überwiegt die Auseinander-
setzung mit abstrakten Themen. Diese werden stärker konturiert, indem ihnen
Personengruppen und soziale Klassen beigeordnet werden, deren entscheidende
Merkmale zugespitzt und manchmal pejorativ gekennzeichnet sind. Oftmals kom-
men diese Gruppen bzw. Klassen nicht selbst zu Wort, sondern stellen lediglich
Objekte für Zarathustras brüske Zurechtweisungen und Widerlegungen dar.11

10 Vgl. Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 300–303.


11 Um Nietzsches Vorgehensweise zu exemplifizieren, können in Bezug auf den ersten Teil die
Kapitel Von den Hinterweltlern, Von den Predigern des Todes und Von den Verächtern des Leibes
(Kritik an dualistischen metaphysischen Positionen und ihren einflussreichen Anhängern), sowie
250 Jan Kerkmann

Diese Verfahrensweise ist für Nietzsches Kritik und Polemik in allen Phasen seines
Denkens charakteristisch.12

2 Einleitende Bemerkungen zur Gestalt des


Wahrsagers
Anhand des Wahrsagers soll im Folgenden entgegen der konventionellen Ab-
grenzung der ersten drei Teile voneinander13 gezeigt werden, dass die gesamte
Handlung des Zarathustra eine unterschwellige Auseinandersetzung durchzieht,
die im vierten Teil schließlich aufgelöst wird. Die These, dass der letzte, lyrischere
und erst 1886 hinzugefügte Teil sich allein der unverfänglichen Darstellung der
bis dahin entwickelten Gedanken widme und nur die bestimmte Negation dessen
darstelle, was der künftige ‚höhere Mensch‘ (noch) nicht sei, soll relativiert
werden.14 Auf diese Weise lässt sich auch die Dichotomie zwischen den ersten
drei Büchern und dem abschließenden vierten auflösen. Es muss dann nicht mehr

Vom neuen Götzen (Destruktion der Staatsvergottung) und Von der Nächstenliebe (Privilegierung
einer Philosophie der Freundschaft anstelle des christlichen Moralparadigmas) angeführt wer-
den. Im Hinblick auf den zweiten Teil sind die Kapitel Von den Mitleidigen und Von den Gelehrten
erwähnenswert. Im dritten Teil lässt sich eine zunehmende Konkretion feststellen, das persönli-
che Schicksal Zarathustras, seine leibhaftigen Begegnungen, seine Vorstellungen und Hoffnun-
gen treten in den Vordergrund (z. B. in Vom Vorübergehen, Vom Geist der Schwere, Der Genesende,
Die sieben Siegel). Im vierten Teil erreicht Nietzsches Gestaltungskraft ihren Zenit. Er wahrt die
Balance zwischen den Extremen einer idiosynkratischen Individualisierung, die auf keinen
gemeinsamen Erfahrungsschatz mehr rekurrieren könnte, und Figur gewordenen Philosophe-
men, durch welche die Akteure zu bloßen Sprachrohren herabgesetzt würden.
12 Vgl. zum stilistischen Aspekt der Polemik: Schlaffer, Heinz, Das entfesselte Wort. Nietzsches
Stil und seine Folgen, München 2007; und Sloterdijk, Peter, Der Denker auf der Bühne. Nietzsches
Materialismus, Frankfurt/Main 1986, S. 46–48. Zu Nietzsches Abgrenzungen, Kontroversen und
Forderungen vgl. Simmel, Georg, Schopenhauer und Nietzsche. Ein Vortragszyklus [1907], VII.
Vortrag, Bremen 2012, S. 220–233.
13 Die Grundmotive der ersten drei Teile lassen sich wie folgt skizzieren: I. Der große Einzelne
wird mit der Menge konfrontiert; II. Der wegweisende Stifter ist mit seinen Jüngern auf Reisen;
III. Der Denker des abgründigsten Gedankens befindet sich im ringenden Selbstgespräch (vgl.
Himmelmann, Beatrix, Zarathustras Weg, in: Gerhardt, Volker (Hrsg.), Friedrich Nietzsche, Also
sprach Zarathustra, Berlin 2000 (= Höffe, Otfried (Hrsg.), Klassiker auslegen, Bd. 14), S. 17–47).
14 Vgl. dazu das drastische Urteil von Eugen Fink: „Der ‚Zarathustra‘ hat seinen Höhepunkt im
dritten Teil erreicht. Hier wäre auch das natürliche Ende des Werkes […]; der ganze vierte Teil ist
ein Absturz. Irgendwie scheint die dichterisch-denkerische Vision erschöpft. Wie ein böses,
boshaftes Satyrspiel hängt dieser vierte Teil dem Werk an, das eine neue tragische Sicht der Welt
auftat“ (Fink, Eugen, Nietzsches Philosophie, Stuttgart 1960, S. 114).
Die Einkreisung der schwarzen Schlange 251

an der Lesart festgehalten werden, dass die ersten drei Teile eine ambitionierte
Philosophie im Gewand der Dichtung vortragen – wobei sie ihre Spannung und
ihren Kulminationspunkt in der von Zarathustra lange zurückgehaltenen Äuße-
rung des Wiederkunftsgedankens finden –, während der letzte Teil lediglich ein
Ausklang sei, die Entfaltung eines unverbindlichen Zeremoniells.
Allein dem Wahrsager kommt das Privileg zu, der einzige der insgesamt acht
‚höheren Menschen‘ zu sein, der bereits im zweiten Teil eingeführt wird. Während
die Schlagworte, die seine Lehre zusammenfassen („Alles ist leer, Alles ist gleich,
Alles war“),15 mit geringen Abwandlungen in verschiedenen Kapiteln Erwähnung
finden, zeichnet ihn die Spannbreite seiner Wandlungen vor allen anderen Figu-
ren aus. Daher folgt die Struktur des Aufsatzes der Chronologie seiner Auftritte.
Anhand der Einordnung und Interpretation soll zugleich illustriert werden, dass
ihm eine steuernde Rolle innerhalb der Werkkomposition zukommt. Auch wenn
es zunächst so scheint, dass sich der Zeitpunkt seines ersten Auftritts zu dem
Moment seines erneuten Auftretens willkürlich verhält, folgen diese Auftritte
doch einer inneren Logik.
Bereits bei seinem ersten Auftritt konfrontiert der Wahrsager Zarathustra mit
einer problematischen Zeitvorstellung und einer gewichtigen Herausforderung,
mit der dieser in den folgenden Büchern ringt: Im unmittelbar sich anschließen-
den Kapitel Von der Erlösung rekapituliert Zarathustra die Schilderungen des
Wahrsagers und setzt seine eigene Idee des schaffenden Willens gegen die Vor-
stellung einer immanenten Gerechtigkeit und gegen die Schlussfolgerung von
dem Faktum des Leidens auf eine abzubüßende Daseinsschuld. Doch der Wille ist
noch von dem Widerwillen gegen das ihm Entgleitende geleitet; er hat seinen
Grimm gegen das „Es war“16 nicht abgelegt. Zarathustra wagt es noch nicht, die
einzige Möglichkeit zur Sprache zu bringen, wie der Wille in der prospektiven
Zielverfolgung das eigene Zurückwollen zu vollziehen vermag.17 Auch nachdem
Zarathustra bereit ist, nach quälenden Entbehrungen den schwersten aller Ge-

15 Za II Der Wahrsager, KSA 4, 172, 4 f.  

16 Za II, Von der Erlösung, KSA 4, 179, 26.


17 Nicht nur im Kapitel Von der Erlösung vermag es Zarathustra noch nicht, den Gedanken
auszusprechen; auch später sind es seine Tiere, die ihn in ihrem „Leier-Lied“ zum „L e h r e r d e r
e w i g e n W i e d e r k u n f t “ (Za III Der Genesende 2, KSA 4, 275, 19 u. 29 f.) ausrufen und diese als

den Gehalt seiner Lehre markieren. Dass Zarathustra den kaum zu ertragenden Gedanken niemals
selbst vorbringt, führt Werner Stegmaier darauf zurück, dass es sich bei der ‚ewigen Wiederkunft‘
um eine „Anti-Lehre“ handle, welche die Begriffe der Metaphysik gebraucht, um sie in Paradoxien
münden zu lassen (vgl. Stegmaier, Werner, Friedrich Nietzsche zur Einführung, 2., korrigierte
Auflage, Hamburg 2013 (Reihe zur Einführung, Bd. 395), S. 165 f.).  
252 Jan Kerkmann

danken auszusprechen, kann er den Wahrsager bei der nächsten Begegnung im


vierten Teil nicht überbieten – er vermag aber zumindest, ihm zu entkommen.
Zarathustra kann nur zum Fürsprecher des Lebens und des (Lebens-)Kreises
werden, wenn er diese ungetrübte Sicht auf das Leiden noch radikalisiert und
zum „ernsthafte[n] F o r t s e t z e r des Schopenhauerschen Pessimismus“18 wird.
Die Intention dieses Aufsatzes ist es, eine Lesart vorzulegen, welche die Ähnlich-
keit zwischen dem Wahrsager und Zarathustra hervorhebt: Der Wahrsager ist
Zarathustra im Zustand der Umklammerung des Nihilismus; Zarathustra ist der
überwundene Wahrsager, der an der pessimistischen Weisheit festhält, diese aber
zum Ausgangspunkt einer schillernden Neuschöpfung macht. Zarathustra prophe-
zeit ein neues Zeitalter, gerade weil er bereit ist, die Wiederholung der Angst,
des Unliebsamen, Verfehlten und Furchtbaren zu denken und zu bejahen. Ein
besonderes Augenmerk soll auf die subtil inszenierte Dialektik einer wechselsei-
tigen Befreiung gelegt werden: Nachdem Zarathustra, selbstbewusst und licht-
erfüllt, die Beschreibungen des Wahrsagers im zweiten Teil vernommen hat,
erhellt sich ihm die herannahende Dämmerung, er verfällt sprachlos in ein
unglückliches Bewusstsein. Im Zuge der zweiten Begegnung kann er die Lehre
wieder ins Äußerliche, Angreifbare setzen, gerade weil der vormals unpar-
teiische Wahrsager ostentativ für sie votiert und Zarathustra allein die Flucht in
das am meisten Verachtete bleibt. Der Wahrsager lockt ihn mit einem Ausweg,
der Zarathustra als Selbstverleugnung erscheinen muss, in Wirklichkeit aber das
einzige Mittel ist, um die Existenz „glückselige[r] Inseln“19 tatkräftig unter
Beweis zu stellen. In der dritten Begegnung vollzieht sich eine Versöhnung, in
welcher der genesende Wahrsager im Kreise einer Gemeinschaft, an deren Zu-
sammenkunft er entscheidend beteiligt ist, aus freien Stücken auf Zarathustras
Weg einschwenkt und diesem einen Vorsprung einräumt.20 Zweimal stürzt er
Zarathustra in eine Krise; er vernimmt gemeinsam mit ihm den „Nothschrei“ und
ist neben ihm der einzige, der von der Existenz des ‚höheren Menschen‘ weiß.21
Es lassen sich darüber hinaus noch einige weitere aussagekräftige Analogien
benennen: Zarathustra haust in einer hochgelegenen Höhle, während diejeni-
gen, die den Lehren des Wahrsagers verfallen sind, in einer dunklen, unbesteig-
baren Berg-Burg leben. Zarathustra sind die sich ringelnde Schlange, der empor-
fliegende Adler und der lachende Löwe zugeordnet, der Wahrsager ist dagegen

18 NL 1884, 27[78], KSA 11, 295, 11 f.


19 Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 302, 29; bzw. 303, 1.


20 Vgl. Za IV Das Abendmahl, KSA 4, 353–355.
21 Vgl. Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 302.
Die Einkreisung der schwarzen Schlange 253

mit der schwarzen, würgenden Schlange22 und dem heulenden Hund assozi-
iert.23 Diese treten zwar nicht unmittelbar in seinem Gefolge auf, aber sie ver-
ankern in der Gegnerschaft zu Zarathustra seine Auffassungen. Diese Feind-
schaft darf jedoch nicht als disjunktives Konkurrenzverhältnis aufgefasst
werden, sondern stellt eher eine ungewollte Kooperation dar.24 Der Wahrsager
erweist sich als ‚Geburtshelfer‘: Er drängt Zarathustra, der in seiner Höhe ver-
weilen wollte, zu einem neuerlichen Abstieg und initiiert somit dessen Begeg-
nung mit verschiedenen personifizierten Existenzentwürfen, Spiegelungen sei-
ner selbst, die in ihrer Selbstverachtung auf seine Sehnsucht nach Höherem
hinweisen, aber noch nicht spottend über sich hinauszugelangen vermögen.

3 Die Metaphorik im Kapitel Der Wahrsager und


ihre philosophischen Implikationen
Zum ersten Mal tritt der Wahrsager im zweiten Teil von Also sprach Zarathustra in
Erscheinung. Anders als andere Figuren begegnet er Zarathustra nicht an einem
klar umrissenen Ort oder auf einer Wanderung, er sucht oder verfolgt ihn nicht. Der
Wahrsager führt keine ihn charakterisierende Handlung aus. Weder geht seiner
Rede eine Schilderung unverwechselbarer Eigenschaften voraus noch kommt das

22 Vgl. Za III Vom Gesicht und Räthsel 2, KSA 4, 201 f. Vgl. zur Deutung der schwarzen Schlange:

Heidegger, Martin, Nietzsche I, 7. Auflage, Stuttgart 2008, S. 396: „Die schwarze Schlange ist das
Immergleiche und im Grunde Ziel-und Sinnlose des Nihilismus, ist dieser selbst.“
23 Vgl. Za III Vom Gesicht und Räthsel 2, KSA 4, 201 f.; sowie Za III Der Genesende 2, KSA 4, 274. Als

Zarathustra im Kapitel Vom Gesicht und Räthsel das Heulen eines Hundes vernimmt, erinnert er sich
an einen Traum, den er in seiner Jugend hatte. In diesem sah er einen jungen Hirten am Boden
liegen, der im Schlaf von einer würgenden, schwarzen Schlange überwältigt wurde, die sich in
seinem Hals festbiss. Im Traum versucht er, die Schlange mit Gewalt wegzuziehen, aber es gelingt
ihm nicht, sich von ihr zu befreien. Von außen ist sie nicht zu bezwingen. Der heulende Hund
begleitet die Szene, indem er auf Zarathustra zuläuft und winselnd um Hilfe fleht. Erst als Zara-
thustra dem jungen Hirten zuruft, er solle der Schlange den Kopf abbeißen, kann der Hirt sich
befreien und triumphierend lachen. Im Kapitel Der Genesende stellt sich heraus, dass der Hirte
Zarathustra selbst in jungen Jahren war. Erst als er im Stande war, die ewige Sinnlosigkeit des
Nihilismus und den Überdruss am Menschen komplett in sich aufzunehmen, konnte er ihn ver-
winden. Diese Verinnerlichung stellt auch ein Leitmotiv in der Auseinandersetzung mit dem Wahr-
sager dar. Vgl. zur Interpretation dieser Stellen: Heidegger, Nietzsche I, S. 256–264; 268–283; sowie
387–401.
24 Vgl. Heidegger, Nietzsche I, S. 399: „[E]r denkt aber diesen Gedanken so lange nicht in seinem
wesentlichen Bereich, solange ihm nicht die schwarze Schlange in den Schlund gekrochen ist und
er zugebissen hat. Der Gedanke ist nur als jener Biß.“
254 Jan Kerkmann

besonders im vierten Teil angewandte Verfahren, die Geschichte der Wandlungen


zu erzählen, d. h. Wendepunkte der Entwicklung ins Spiel zu bringen, in seinem

Fall zum Tragen; vielmehr scheinen zwei rätselhafte Gedankenstriche einander zu


antworten: Das vorhergehende Kapitel schließt damit, dass Zarathustra über die
Bedeutung des Schreis eines Gespenstes – seines Schattens – nachdenkt. Dieses
hatte wiederholt skandiert: „Es ist die höchste Zeit“.25 Zarathustra scheint auf die
sich selbst vorgelegte Frage: „W o z u ist es denn – höchste Zeit?“,26 keine passende
Antwort zu finden. Bedenkenswert ist bereits die erste Aussparung in der Mitte der
Frage. Obwohl die letzten Worte des Kapitels Von grossen Ereignissen die übliche
Schlusswendung wiederholen („Also sprach Zarathustra“),27 sollte diese formel-
hafte Routine nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine außergewöhnliche Bedeu-
tungsprivilegierung stattfindet. Die Rede des Wahrsagers beginnt unvermittelt und
ohne Angabe eines Sprechers; nur der Gedankenstrich geht ihr voran. Auf diese
Weise scheint der Wahrsager das Geschehnis, welches für die höchste Zeit reserviert
ist, freizulegen. Die Strategie der Entpersonalisierung und Delokalisierung wird
von Nietzsche forciert, indem er den Wahrsager orakelartig Folgendes sagen lässt:

„– und ich sahe eine grosse Traurigkeit über die Menschen kommen. Die Besten
wurden ihrer Werke müde.
Eine Lehre ergieng, ein Glaube lief neben ihr: ‚Alles ist leer, Alles ist gleich, Alles war!‘
Und von allen Hügeln klang es wieder: ‚Alles ist leer, Alles ist gleich, Alles war!‘
Wohl haben wir geerntet: aber warum wurden alle Früchte uns faul und braun? Was
fiel vom bösen Monde bei der letzten Nacht hernieder?
Umsonst war alle Arbeit, Gift ist unser Wein geworden, böser Blick sengte unsre Felder
und Herzen gelb.
Trocken wurden wir Alle; und fällt Feuer auf uns, so stäuben wir der Asche gleich: – ja
das Feuer selber machten wir müde.
Alle Brunnen versiegten uns, auch das Meer wich zurück. Aller Grund will reissen, aber
die Tiefe will nicht schlingen!
‚Ach, wo ist noch ein Meer, in dem man ertrinken könnte‘: so klingt unsere Klage –
hinweg über flache Sümpfe.
Wahrlich, zum Sterben wurden wir schon zu müde; nun wachen wir noch und leben
fort – in Grabkammern!‘ –“28

Potenziert wird die Unfasslichkeit der Figur, weil der Wahrsager keine eindeutige
Position bezieht: Er beschreibt die Ausbreitung einer lähmenden Müdigkeit, zeigt
den damit korrespondierenden Niedergang der Natur auf und bindet diese Phäno-
mene zurück an die Negativitätsdiagnose, welche in der Lehre: „Alles ist leer,

25 Za II Von grossen Ereignissen, KSA 4, 171, 9 f.


26 Za II Von grossen Ereignissen, KSA 4, 171, 11.


27 Za II Von grossen Ereignissen, KSA 4, 171, 12.
28 Za II Der Wahrsager, KSA 4, 172, 2–21.
Die Einkreisung der schwarzen Schlange 255

Alles ist gleich, Alles war!“,29 erklingt. Diese hallt echoartig wider. Berücksichtigt
man die in der Rede des Wahrsagers verwendete Bildersprache, so zeigt sich, dass
Nietzsche die weltumspannende Lähmung und Stagnation der Natur mit der Still-
legung und Erkrankung des Vitalen im Menschen parallelisiert. Die große Traurig-
keit, welche sich über die Erde legt, sie unfruchtbar macht und ihre Erzeugnisse
verdirbt, kann als Allusion auf den Persephone-Mythos verstanden werden: Weil
sich die Erde verschließt, blüht nichts mehr dem Himmel entgegen. Der bisherige
Kreislauf wird unterbrochen,30 die Verbindung zum Himmel reißt ab. In dem stets
aufs Neue zum Erlöschen gebrachten Feuer manifestiert sich nicht nur die Ver-
armung des Geistigen und die Abwesenheit des Wagemuts; in diesem Bild äußert
sich auch der Abbruch des heraklitischen Wechselspiels von Aufflammen und
Erlöschen, Erzeugung und Sättigung, Freigeben und An-sich-Halten, Maß und
Verschwendung. Die taktgebende Kraft ist abhandengekommen; das in seiner
Leuchtkraft gehemmte Feuer wird zum destruktiven Element und ordnet sich als
sengende Begleiterscheinung dem bösen Blick unter. Zudem korrespondiert das
Feuer des Himmels, das begeisternde, schöpferische Pathos nicht mehr mit einer
Geistesgegenwart, einer Nüchternheit der klaren Darstellung, welche es bewahren
könnte. Die Erwähnung des – nunmehr vergifteten – Weins sollte nicht allein als
Allegorie des dionysischen Rausches, der beschwingten Lebensfreude und der
Möglichkeit, das Ich auszublenden, es zu vergessen, aufgefasst werden; vielmehr
werden im Produkt des Weins die Elemente zusammengeführt. Der Wein ver-
anschaulicht einen Reifeprozess, der die ganze Natur in eine interagierende
Harmonie versetzt: Die Sonne trug dazu bei, dass die Erde die Rebe aufgehen ließ,
die sie stets in der Verwurzelung hielt. Die nie versiegenden Quellen und Brunnen
spendeten das Wasser, welches die Trauben gedeihen ließ. Die Sonne findet
jedoch in der ganzen Passage keine Erwähnung. Dies scheint allerdings nicht dem
Sachverhalt geschuldet zu sein, dass sich dem Licht der Sonne nichts mehr
darbietet, worin es seine Strahlkraft entfalten könnte. Auffallend ist nämlich, dass
bereits der „tolle Mensch“ im Abschnitt 125 der Fröhlichen Wissenschaft die Los-
kettung der Sonne von der Erde konstatiert hatte.31 Der Horizont wird nicht mehr
von der Idee des Guten erleuchtet. Eine letzte Ernte wurde noch gewährt, aber die
Verderbnis überkommt die Früchte früher als gewohnt.
Das zurückweichende Meer verwehrt Seefahrten zu unentdeckten Inseln. Der
Mensch kann ihm nacheilen, doch kurz bevor er es erreicht, wird es ihm eine

29 Za II Der Wahrsager, KSA 4, 172, 4 f.


30 Ein Vorläufer für diese Idee könnte neben Hesiod der Mythos der zwei entgegengesetzten
Weltumläufe sein, den Platon im Politikos erzählt (vgl. Platon, Politikos, 37. Auflage, übers. von
Friedrich Schleiermacher, hrsg. von Ursula Wolf, Hamburg 2013, 269c–274e, S. 363–366).
31 FW 125, KSA 3, 480, 22 u. 481, 5.
256 Jan Kerkmann

Wüste hinterlassen haben.32 Bislang gab das Meer dem befestigten Land das Maß,
die Weite und Unterscheidbarkeit. Die Mannigfaltigkeit des Gestalteten und Stoff-
lichen, die Hügelketten und die fruchtbaren Täler grenzen an die unüberschauba-
re Unendlichkeit der ewiggleichen Oberfläche des Meeres, welches sich erst in der
Nähe des Landes aufbäumt und sich schäumend ergießt. Das Meer wird in jedem
Moment ein anderes, um doch stets dasselbe zu bleiben. Wenn man die Polarität
von Unendlichkeit und Endlichkeit nicht nur auf die Zeit bezieht, sondern auch
als Gegenüberstellung von Jenseits und Diesseits versteht, so kündigt sich in dem
deprimierenden Geschehen eine wegweisende Entscheidung an, die durch den
Entzug des Meeres beschleunigt wird: Der Sinn der endlichen Erde muss ohne
den Kontrast zur Unerschöpflichkeit des Meeres gedacht werden; dies kann nur
gelingen, wenn die Erde den bislang undurchdringlichen Reichtum des sie Über-
schreitenden in sich aufnimmt. Die Ausweglosigkeit, die keine andere Wahl lässt,
als sich der zunehmenden Verwüstung zu stellen, wird von der Erdgewalt selbst
forciert, die von keinem Widerpart mehr eingeschränkt wird: Die Hügel, die
emporragenden Aufwallungen der Erde, tragen das Echo weiter und werfen es
sich gegenseitig zu. Die Höhenzüge sind es, die eine Flucht verwehren, ein
Bekenntnis fordern. Das Echo kann nicht entweichen oder abklingen, in ununter-
brochener Monotonie waltet es innerhalb der Gegend, die von den Hügeln be-
grenzt wird.
Es ist allerdings zu berücksichtigen, dass Nietzsche das Meer an anderer
Stelle als naturhaftes Spiel „in sich selber stürmender und fluthender Kräfte“33
bezeichnet, was ähnliche Assoziationen evoziert, wie sie auch im Fall des Feuers
geweckt werden. Auf das Gleichnis des Wahrsagers bezogen, wäre somit ein
Zwischenzustand, aber keineswegs ein Endpunkt erreicht: Das wogende, über-
quellende Leben, bislang dirigiert und in festen Bahnen gehalten durch die Kraft
der Sonne, entzieht sich und lässt seine bisherigen Strände zurück. Das Zurück-
weichen des Meeres muss ertragen werden, um ein neues Meer hervorzubringen,
das aus der Bezogenheit zur Erde und im Ausgang von ihr gedacht wird, nicht
etwa umgekehrt. Es könnte eine unerforschliche Tiefe besitzen, in der es sich
wieder zu ertrinken lohnt. In seiner Fülle und assimilierenden Kraft wird es von
Zarathustra mit dem Übermenschen gleichgesetzt: „[D]er ist diess Meer, in ihm
kann eure grosse Verachtung untergehn.“34

32 Vgl. zum Motiv der wachsenden Wüste: DD Unter Töchtern der Wüste, KSA 6, 381–387. Das
beinahe gleiche, an einigen Stellen allerdings modifizierte Gedicht trägt der Wanderer in Za IV
Unter Töchtern der Wüste 2, KSA 4, 380–385, vor.
33 NL 1885, 38[12], KSA 11, 610, 30 f.

34 Za I Vorrede 3, KSA 4, 15, 22 f.



Die Einkreisung der schwarzen Schlange 257

Es erscheint sinnvoll, die Ausführungen des Wahrsagers auf das Diktum:


„[B]l e i b t d e r E r d e t r e u “,35 zu beziehen. Der Wahrsager demonstriert in einer
weit ausgreifenden geographischen Schilderung, dass die Konzentration auf die
Erde und die Treue zu ihr schwer zu ertragen sind und Entbehrungen nach sich
ziehen werden. Weder ein seichter, selbstbezüglicher Hedonismus, der sich aus
der Verwässerung von autoritären Dogmen, geoffenbarten Geboten und kategori-
schen Imperativen speist, noch die verwegene Ironie des ‚Freigeistes‘ werden
dieser Aufgabe gewachsen sein.36
Da sich die Bilder, die der ‚tolle Mensch‘ und der Wahrsager wählen, frappie-
rend ähneln, eignet sich der Vergleich zwischen ihnen sehr gut, um eine genauere
Standortbestimmung vorzunehmen. Der ‚tolle Mensch‘ betont den Aspekt
menschlicher Aktivität viel stärker als der Wahrsager: Er beschuldigt die Men-
schen wütend, Gott getötet und damit die Stützpfeiler der moralischen, im Über-
sinnlichen verankerten Ordnung eingerissen zu haben: Sie tranken das Meer aus
und wischten den Horizont weg.37 Er kann sich nicht erklären, wie eine solche Tat
möglich war, da sie alle bisherigen Annahmen über die Fähigkeiten des Men-
schen übersteige. Ebenfalls nicht abzuschätzen ist für ihn die volle Tragweite der
Tat, die ihm allerdings gewaltig scheint: Der Mensch droht in ein Zeitalter völliger
Orientierungslosigkeit zu geraten; das Ereignis des Gottestods eröffnet einen
neuen Geschichtsabschnitt. In den eindringlichen Fragen des ‚tollen Menschen‘
kristallisiert sich die einzige Möglichkeit einer Zukunft heraus: Der Mensch muss
über sich hinauswachsen, darf dabei aber nicht die durch den Tod Gottes ent-
standene Leerstelle einfach neu besetzen. Die Umherstehenden reagieren auf die
zornigen Fragen des ‚tollen Menschen‘ mit einer aufgeklärten Gleichgültigkeit,
die sich aus der Überzeugung speist, der Tod Gottes sei ein Ereignis ohne ein-
schneidende Konsequenzen. Der ‚tolle Mensch‘ versucht die Ausbreitung einer
Nacht ins Bewusstsein zu rufen, die keiner der Ungläubigen wahrnimmt.
Der Wahrsager hingegen weigert sich, die Schuldfrage aufzuwerfen. Statt-
dessen macht er häufig Gebrauch von Abstrakta („Umsonst war alle Arbeit“), in
ihren Ursachen nicht ableitbaren Zäsuren („Trocken wurden wir alle“) und be-
schwört Naturvorgänge herauf, die dem geläufigen Zyklus widersprechen
(„[W]arum wurden alle Früchte uns faul und braun?“).38 In seiner Perspektive tritt
daher die Erfahrung des Gottestods viel deutlicher hervor. Der aktive und bewuss-
te Beitrag des Menschen zu dieser Entwicklung scheint ausgesprochen gering zu
sein, weswegen der Wahrsager nur den Aspekt der sehnsüchtigen Klage hervor-

35 Za I Vorrede 3, KSA 4, 15, 1 f.


36 Vgl. Za IV Der Schatten, KSA 4, 338–341.


37 Vgl. FW 125, KSA 3, 481, 3 f.

38 Vgl. Za II Der Wahrsager, KSA 4, 172, 8–13.


258 Jan Kerkmann

hebt: „‚Ach, wo ist noch ein Meer, in dem man ertrinken könnte‘: – so klingt unsre
Klage – hinweg über flache Sümpfe.“39 Das Konsternierende besteht darin, dass
nicht zu ermitteln ist, ob der Zug ins Unendliche, der Wunsch, die Grenzen des
Individuationsprinzips zu sprengen, überhaupt noch authentisch ist. Es scheint
ebenso möglich, dass es sich bei diesem Verlangen lediglich um eine unverbind-
lich-kraftlose Schwärmerei handelt, welche die eigentliche Dynamik des Strebens
ins Unendliche nur noch in die sicheren Bahnen des Flachen, Berechenbaren und
Verlässlichen lenkt, wo statt tiefer Meere bloß die täuschenden Fallen „flache[r]
Sümpfe“ warten.
Verglichen mit der Rede des ‚tollen Menschen‘ spricht der Wahrsager aus
dem Geiste eines späteren Stadiums: Das Faktum der anhaltenden Nacht, der
Übermacht des „bösen Monde[s]“40 ist nicht mehr zu leugnen. Der Mensch
scheint einem Fatum ausgeliefert zu sein – von einer unerklärlichen Notwendig-
keit gelenkt, weicht das Meer zurück. Dies korrespondiert mit der eigenartigen
Unergründlichkeit der Ursachen: Es gibt keinen Täter, kein handelndes Subjekt.41
Allerdings ist die Klage gegenüber der Indifferenz der Ungläubigen auf einer
höheren Ebene der Ehrlichkeit und ernsthaften Sorge angesiedelt. Sie legt nahe,
dass jeder überlegende, sich nicht nur an den Oberflächenphänomenen orientie-
rende Mensch in die Klage einstimmt. Die Pluralisierung der Klagenden birgt
indes die Gefahr, dass die Konturen verwischen: Niemand sucht eigenwillig einen
Ausweg, die Menschen bestehen nur noch als Masse. Daher muss die Klage in
eine Anklage verwandelt werden; auf die passive Hinnahme des Gottestods muss
eine Erklärung des Wegfalls der obersten Werte folgen.

4 Zarathustras Traum
Zarathustra ist von den Ausführungen des Wahrsagers, die er für zutreffend hält,
erschüttert und wird von Trauer erfasst. Unverkennbar hat die Erzählung von der
unbelohnten Mühsal, der Vertrocknung des Belebenden und dem Rückgang des
Meeres für ihn eine existenzielle Dimension. Zarathustra erkennt das Ringen um
Orientierung, die Ernsthaftigkeit und Not, die in den Gedankengängen des Wahr-
sagers zur Sprache kommen; es ist ihm unmöglich, sarkastisch oder verachtend
an den Klagenden und Zweifelnden vorüberzugehen. Er selbst verinnerlicht ihre
Schwermut und unterscheidet sich schließlich kaum noch von ihnen. Er sieht sein

39 Za II Der Wahrsager, KSA 4, 172, 18 f.


40 Za II Der Wahrsager, KSA 4, 172, 9 f.


41 Vgl. zum Topos der Schuld M 563, KSA 3, 328; sowie GM II 6, KSA 5, 300–302.
Die Einkreisung der schwarzen Schlange 259

Licht gefährdet, das die sich ausbreitende Dämmerung zu ersticken droht.42


Nachdem er drei Tage lang der Nahrung entsagt hat, überfällt ihn ein tiefer
Schlaf, in welchem er einen Traum hat. Da er dessen Sinn nicht zu erschließen
vermag, rekapituliert er ihn gegenüber seinen Jüngern, von denen er sich Rat
erhofft. Zarathustras Stimmung zu Beginn des geheimnisvollen Traumes gleicht
derjenigen, die ihn nach der Rede des Wahrsagers ergriff: „Allem Leben hatte ich
abgesagt“.43 Während das Motiv des Berges sonst mit den Bedeutungsbereichen
der ‚freigeistigen‘ Einsamkeit, der überlegenen Erhabenheit oder der mit schwe-
ren Strapazen einhergehenden Besteigung ungeahnter Höhen44 verknüpft ist,
steht es hier für die Herrschaft des Todes, die jeden Bezug zur fruchtbar-beseli-
genden Vitalität unterbindet. Die Berg-Burg scheint von keinerlei Fluktuation
betroffen zu sein und lässt keine Endlichkeit zu:45 Die Ewigkeit präsentiert sich
weder als nunc stans noch als Koinzidenz von Vergangenheit und Zukunft im
Augenblick, sondern als ins Unendliche erstreckte Zeit, die sich als bloßes Abbild
des stehenden Jetzt konstituiert.
Innerhalb der Burg gibt es verschiedene Tore, die Gradstufen der Zerrüttung
darstellen. Das einzige nennenswerte Wissen besteht darin, die Zusammengehö-
rigkeit der Schlüssel und Tore zu begreifen. Mit dem „rostigsten aller Schlüssel“
öffnet Zarathustra das „knarrendste aller Thore“,46 welches nur mühsam nachgibt.
Die Verlorenheit in der unheilvollen Stille ist kaum auszuhalten, doch die einzige
Möglichkeit, das Schweigen zu brechen, besteht in der Erzeugung des entsetzli-
chen Lautes, den das Aufschwingen der Torflügel hervorruft. Aus der Beklemmung
dieser Ausweglosigkeit vermögen ihn erst drei donnernde Schlägel an das Tor zu
reißen. Zarathustra, für den unerklärlich bleibt, wer sich auf den Weg begeben hat,
um Asche zu diesem Berg zu tragen,47 versucht, das Tor zu öffnen, doch kaum hat
er dessen Flügel nur ein wenig auseinandergebracht, verschafft sich ein brausen-
der Wind rigoros Zugang. Sein Sog wirbelt einen schwarzen Sarg in die Richtung
Zarathustras. Der Sarg zerbricht und gibt eine unkontrollierbare Vielfalt von
lärmenden, lachenden und flatternden Gestalten frei, die sich einer eindeutigen
Kategorisierung entziehen: Unter ihnen befinden sich Menschen (Kinder und

42 Vgl. Za II Der Wahrsager, KSA 4, 173, 3–5.: „Wahrlich, so sagte er zu seinen Jüngern, es ist um
ein Kleines, so kommt diese lange Dämmerung. Ach, wie soll ich mein Licht hinüber retten!“
43 Za II Der Wahrsager, KSA 4, 173, 22.
44 DD Von der Armut des Reichsten, KSA 6, 406, 19–24: „Fort, fort, ihr Wahrheiten, / die ihr
düster blickt! / Nicht will ich auf meinen Bergen / herbe ungeduldige Wahrheiten sehn. / Vom
Lächeln vergüldet / nahe mir heut die Wahrheit“.
45 Vgl. Za II Der Wahrsager, KSA 4, 173, 28: „Den Geruch verstaubter Ewigkeiten athmete ich“.
46 Za II Der Wahrsager, KSA 4, 174, 1 f.

47 Vgl. Za II Der Wahrsager, KSA 4, 174, 14 f.



260 Jan Kerkmann

Narren), Engel und „kindergrosse[ ] Schmetterlinge[ ]“.48 Zarathustra erfüllt ein


Grausen, das ihn zu Boden gehen lässt und in einem markerschütternden Schrei
mündet. Dieser Schrei weckt ihn zugleich wieder auf.
Nachdem Zarathustra die Erzählung seines Traums beendet hat, deutet sein
Lieblingsjünger diesen so, dass Zarathustra sich im Sinne der Selbstüberwindung
in die Gestalt seiner Feinde hineinversetzt habe. Die Herausforderung habe zum
einen darin bestanden, die eigenen Ansichten nicht nur auszuklammern, sondern
zu negieren; zum anderen darin, dass die lebensüberdrüssigen Feinde die größte
Wesensdissonanz zu Zarathustra aufzuweisen scheinen. Durch die Vertauschung
unterwirft sich Zarathustra im Traum seinen Feinden, wobei seine eigenen Po-
sitionen, Erkenntnisse und Absichten der Vergessenheit anheimfallen müssen.49
Nur auf diese Weise gelingt es ihm, sie zu verstehen, ein Wissen darüber zu
erlangen, welches das am schwersten zu öffnende Tor ist, und hellhörig zu

48 Za II Der Wahrsager, KSA 4, 174, 24.


49 Den Träumen kommt im Zarathustra eine eminente Bedeutung zu. Sie stellen einerseits
Zarathustras Ringen mit existenziellen Herausforderungen dar, andererseits demonstrieren sie
die Wendung zu den Nacht-Seiten der Existenz: Im ersten Traum vertauscht Zarathustra die
Rollen. Er sieht sich in der Lage des Trübseligen, dem die verschlossene Burg die einzige Heim-
statt zu sein scheint. Zwar antizipiert er seinen Auftritt in der Rolle des vielgesichtigen, lärmenden
und virtuos mit Masken spielenden Eindringlings, erkennt sich aber selbst nicht, weswegen er
eines Traumdeuters bedarf. Berücksichtigt man die Bedeutsamkeit autobiographischer Selbst-
deutungen im Werk Nietzsches, so erscheint es nicht abwegig, dass der in der Finsternis gefange-
ne Zarathustra eine Chiffre der frühen Phase seines Denkweges ist und diejenige Zeit widerspie-
gelt, in der sich Nietzsche als Schüler Schopenhauers begriff und dessen Philosophie als
Auslegungsinstrument verwendete. Die Geschlossenheit der Burg und Zarathustras wehrlose,
nicht aufbegehrende Hinnahme dieses Zustandes versinnbildlicht die rückhaltlose Einheit. Diese
weist zunehmend Risse auf; die Unvereinbarkeiten nehmen zu und rütteln an der Festung. Eine
solche Destabilisierung kann Zarathustra aber noch nicht als Wirkung seiner eigenen Kritik-
punkte begreifen. Während der erste Traum Zarathustra in zwei disjunktive, zerrissene Gegen-
kräfte aufspaltete, zeigt sich der Progress des zweiten Traums darin (vgl. Za III Vom Gesicht und
Räthsel 1–2, KSA 4, 197–202), dass die Diskrepanz sich nunmehr allein auf der zeitlichen Ebene
manifestiert: Der junge Zarathustra tritt dem älteren gegenüber. Er sieht sich in der Rolle des
Hirten, welcher der schwarzen Schlange ausgeliefert ist, die sich in ihm festgebissen hat. Aber-
mals tritt er selbst in Erscheinung, diesmal jedoch nicht als dunkel zwingende, feindliche Macht,
sondern als Rettung bringender Befehlender: Sein Zuruf, der Schlange den Kopf abzubeißen,
reicht über den akuten Handlungsimperativ hinaus und präsentiert sich im Rückblick als Wahr-
sagung, in welcher die Herausforderung einer lebenslangen Verpflichtung manifest wird. Erst in
diesem Traum hat Zarathustra seine Bestimmung gewonnen, weil er seine Forderung, das kon-
tingente ‚Es war‘ in ein ‚So wollte ich es‘ umzuformen – das Zufällige in das Ermöglichende
kehrend –, an sich selbst exemplifiziert. Indikator eines größeren Reflexionsvermögens ist außer-
dem, dass Zarathustra den Traum gegenüber seinen Jüngern und Tieren nicht nur rekapituliert,
sondern auch entschlüsselt. Er bedarf keiner äußeren Instanz mehr, um sich selbst zu erkennen.
Die Einkreisung der schwarzen Schlange 261

werden für ihre Bereitschaft, ihm entgegenzukommen, die Scharniere zu lockern.


Er findet Eingang in ihr Gedankengebäude und erlebt von innen, was er ansons-
ten allein von außen zu bekämpfen gezwungen wäre. Es ist davon auszugehen,
dass es viele solcher Burgen gibt, denn der Traumdeuter spricht im Plural von
„Todtenkammern“50. Keine der Burgen hat eine Verbindung zur anderen, mona-
disch abgeschlossen thront eine jede auf ihrem dunkelumrandeten Berg. Die
Unterwerfung seiner selbst durch den ‚fremden Zarathustra‘ der Traumwelt ent-
puppt sich als Möglichkeit, auch seine Feinde befreien zu können.
Auffällig ist auch, dass der traumdeutende Jünger Zarathustra als „Wahr-
sager“ bezeichnet, woraufhin er seine Deutung mit folgenden Worten abschließt:
„Wahrlich, s i e s e l b e r t r ä u m t e s t d u , deine Feinde: das war dein schwerster
Traum! / Aber wie du von ihnen aufwachtest und zu dir kamst, also sollen sie
selber von sich aufwachen – und zu dir kommen!“51 Nachdem der Jünger seine
Deutung beendet hat, sammeln sich die übrigen Jünger um Zarathustra und
versuchen, ihn davon zu überzeugen, von seiner Traurigkeit abzulassen und zu
ihnen zurückzukehren. Zarathustra vermag sie zunächst nicht zu erkennen, zu
sehr nimmt ihn sein Traum noch ein. Als er schließlich wieder zu sich kommt und
die Wirklichkeit überblickt, fordert er seine Jünger auf, ihm eine Mahlzeit zuzube-
reiten, zu der er auch den Wahrsager einlädt. Gegenüber seinen Jüngern ver-
spricht er, diesem ein Meer zu zeigen, in dem es sich zu ertrinken lohne.
Folgende Aspekte gilt es besonders zu beachten: Dass Zarathustra den Wahr-
sager einlädt, ist sehr verwunderlich. Es setzt voraus, dass Zarathustra weiß, an
welchem Ort der Wahrsager anzutreffen ist. Es geht aus dem Text jedoch nicht
hervor, ob sich der Wahrsager überhaupt in der Nähe der Höhle Zarathustras
befindet. Durch die Einladung wird der Anschein erweckt, als würde die orakel-
haft-unbestimmte Situation jetzt ins Konkrete überführt, indem Zarathustra den
Wahrsager aktiv an seine Seite rückt. Dennoch wird der Wahrsager seines ge-
heimnisvollen Status keineswegs beraubt, da der Leser nichts über eine zwischen
den beiden stattfindende Unterhaltung erfährt.
Nachdem er sein Bewusstsein wiedergewonnen hat, lauten die ersten Worte
Zarathustras: „Wohlan! Diess nun hat seine Zeit“.52 Versteht man dies als Kom-
mentar zum Inhalt des Traumes, so könnte gemeint sein, dass das Bewohnen der
Berg-Burgen, die Dominanz des Geistes der hoffnungslosen Schwere, nach wie
vor andauert. Ebenfalls wäre denkbar, dass der sich entfaltenden Resignation
eine klar umgrenzte, ihr notwendig gebührende Zeitspanne zugemessen wird,

50 Za II Der Wahrsager, KSA 4, 175, 6.


51 Za II Der Wahrsager, KSA 4, 175, 19–23.
52 Za II Der Wahrsager, KSA 4, 175, 34.
262 Jan Kerkmann

deren Ende Zarathustra bereits antizipiert. Wenn man für eine vereinfachende,
textgebundene Lesart plädiert, könnte man argumentieren, dass Zarathustra sich
erst stärken will, bevor er sich der Auseinandersetzung mit voller Hingabe wid-
men kann. In diesem Fall wird aber der immanente Kompositionszusammenhang
des Zarathustra unterschätzt: Im letzten Kapitel des vierten Teils (Das Zeichen)
setzt Zarathustra die Formel ins Präteritum: „D a s – hatte seine Zeit“,53 womit er
den Schlussstrich unter das Mitleiden mit dem ‚höheren Menschen‘ zieht.
Wenn der Traumdeuter prophezeit, dass die Feinde Zarathustras zu diesem
kommen werden, wenn sie – aufgeweckt durch seine „Nachtherrlichkeiten“54
und sein „Kindes-Lachen“55 – zu sich gekommen sind, wirkt dies wie eine Pro-
lepse des Kapitels Der Nothschrei, in dem der Wahrsager tatsächlich Zarathustra
aufsucht. Dort kann, wie weiter unten ausführlich erläutert wird, nicht die Rede
davon sein, dass der Wahrsager sich affirmativ auf die Seite Zarathustras schlüge.
Um diese herausfordernde Klippe zu umschiffen, ist es hilfreich, die Ambiguität
zu beleuchten, die im Zu-sich-Kommen liegt: Es bedeutet nicht nur die Aufhel-
lung des Bewusstseins nach einer Ohnmacht, sondern auch, etwas als Eigenes zu
begreifen, in das Zugehörige hineinzuwachsen und für es streitend Stellung zu
beziehen. Der Wahrsager muss ein einzelnes, sich seiner selbst bewusstes Indivi-
duum werden, um die Möglichkeit der Opposition zu gewährleisten, die wiede-
rum die Bedingung der Widerlegung und Versöhnung darstellt.

5 Die Rolle des Wahrsagers als (un-)freiwillige


Triebfeder im Kapitel Der Nothschrei
Der Wahrsager verdunkelt das Helle und tritt als Person in der Nähe von Schatten
auf. Zu Beginn des vierten Teils erscheint er in einem stillen Moment, in welchem
Zarathustra sinnierend vor seiner Höhle sitzt, mit einem Stock seinen Schatten im
Boden nachzeichnend. Zarathustras Honig ist aufgebraucht und es scheint, als
hätte der Wahrsager diese Situation herbeigesehnt: Zarathustra kann keinen
Gebrauch mehr von seiner ‚schenkenden Tugend‘ machen. Während Zarathustra
mit Hilfe des in der Gegend verstreuten Honigs versucht, Gleichgesinnte auf seine
Höhen zu locken, ist es allein der Wahrsager, der den steilen Weg zur Höhle

53 Za IV Das Zeichen, KSA 4, 408, 14.


54 Za II Der Wahrsager, KSA 4, 175, 14 f.

55 Za II Der Wahrsager, KSA 4, 175, 17.


Die Einkreisung der schwarzen Schlange 263

erklimmt. Dies ist ein sehr aufschlussreicher Sachverhalt: In der Folge wird
Zarathustra selbst zu den ‚höheren Menschen‘ noch herabsteigen müssen.
Darüber hinaus manifestiert sich die Ebenbürtigkeit beider darin, dass der
Wahrsager neben Zarathustra ruhend zu verweilen imstande ist, anders als der
‚Geist der Schwere‘ oder der Wanderer. Zarathustra erschreckt sich zweimal: Als
er des zweiten Schattens gewahr wird und als er dem Wahrsager direkt in die
Augen sieht. Die Gesichtslosigkeit des Wahrsagers, die in der ersten Begegnung
noch für eine auktoriale und neutrale Übersicht stand, ist nicht etwa markanten
Zügen gewichen, sondern der Düsternis „aschgraue[r] Blitze“.56 Das Gesicht ist
zum Austragungsort einer Verschmelzung des Wahrsagers mit Gefahr und Leid
geworden. Der Vorrang des Wahrsagers vor den anderen Charakteren im Zara-
thustra bekundet sich darin, dass er Zarathustras Gedanken, wie z. B. dessen
Entsetzen über sein Aussehen, nahezu intuitiv zu erfassen vermag.57 Nietzsches
Begriffswahl weist auf eine seelische Verwandtschaft zwischen den beiden hin:
Der Wahrsager kann wahrnehmen, was „sich in Zarathustra’s Seele zutrug“.58
Beide wischen sich mit der Hand über das Gesicht, als ob sie „dasselbe wegwi-
schen wollte[n]“.59 Dies ist nicht nur als empathische Geste zu verstehen: Beide
erhalten in der Konfrontation mit dem jeweils anderen ein neues Gesicht. Sie
reichen einander die Hand, „zum Zeichen, dass sie sich wiedererkennen woll-
ten.“60 Zunächst erkennen sie sich jedoch als Kontrahenten wieder: Zarathustra
hat im Wahrsager noch nicht das Überwundene seiner selbst erblickt; der Wahr-
sager hingegen sieht in Zarathustra nicht den, der seine Lehre hinter sich gelassen
hat, sondern den, der von ihr noch nicht eingeholt wurde. Obgleich er der ‚Wahr-
Sager‘ ist, bleibt ihm die Tragweite von Zarathustras Plan, das Sein-Wollen ver-
schlossen. Dies zeigt sich, nachdem Zarathustra ihn jovial ein zweites Mal einlädt,
sich aber dafür entschuldigt, dass er als „vergnügter alter Mann“61 die Überein-
stimmung mit der dunklen Endstimmung nicht bewahren könne.
Der Wahrsager hat ein untrügliches Gespür für die Gegenwart, aber die Zukunft
existiert für ihn allein als Ermöglichungsgrund des Zerfalls, als Richtschwert,
welches jede gestalterische Lust als illusorisch entlarvt, sie unvollendet lässt; als
Band, das den Menschen zu sich hin zieht und die Pluralität von Möglichkeiten
sukzessive einengt. Daher konfrontiert er Zarathustra mit der unheilvollen War-

56 Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 300, 19.


57 So errät er z. B., was sich hinter Zarathustras letzter Sünde verbirgt (vgl. Za IV Der Nothschrei,
KSA 4, 301, 24–29).
58 Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 300, 20 f.  

59 Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 300, 22.


60 Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 301, 1 f.

61 Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 301, 7.


264 Jan Kerkmann

nung, er möge sich auf einen noch so hohen Berg begeben haben, er werde der
unaustilgbaren Not dennoch nicht entrinnen.62 Dabei ruft er das Motiv der steigen-
den Welle auf. Während Schopenhauer das Wesen der Zeit wellenförmig begriff,
eine in jedem Augenblick und in jedem menschlichen Leben wiederkehrende Ver-
laufskurve von Sammeln, Steigen, Anbranden und Auslaufen, versteht der Wahr-
sager die Wellen als eine anwachsende, zerstörerische Flut, die jeden Gipfel er-
obern werde. Auf diese Rede hin schweigt Zarathustra, er weiß nichts zu
entgegnen.
Aus der Ratlosigkeit befreit ihn der Wahrsager, indem er Zarathustra auf den
aus der Tiefe erschallenden, gedehnten Schrei aufmerksam macht. Nachdem der
Klang übermächtig wird und widerhallt, besinnt sich Zarathustra. Zunächst tut er
die Bemühung, den Ursprung des Schreis zu lokalisieren, als aussichtslos ab –
der Schrei könne aus dem konturlosen, schwarzen Meer erklingen; auch die
Möglichkeit, dass es sich um einen in Bedrängnis geratenen, der Rettung bedürf-
tigen Menschen handeln könnte, will er mit dem lapidaren Hinweis beiseiteschie-
ben, er habe jegliche sorgetragende Empathie abgelegt.63 Im Anschluss daran
fragt er den Wahrsager, wie seine „letzte Sünde“ heiße.64 Die Antwort des Wahr-
sagers inszeniert Nietzsche als aufblitzende Erkenntnis des Sinnstiftenden und
als unbeeinflussbares Hervortreten unverstellter Freude. Leidenschaftlich und
mit Nachdruck entgegnet der Wahrsager, bei der Sünde handle es sich um das
„M i t l e i d e n “.65 Seine Gestik wandelt sich, er hebt beide Hände und seine Rede
nimmt einen priesterlichen Duktus an: Offenherzig gesteht er, dass er Zarathustra
zum Mitleiden verführen wolle, damit dieser in den Leidensweg eingreife.
Dramaturgisch wird das Ansinnen des Wahrsagers flankiert von dem erneut zu
vernehmenden und näher gerückten Schrei. Der Wahrsager insistiert darauf, dass
Zarathustra sich nun nicht mehr verbergen könne, er sei eindeutig der Adressat des
Schreis. Es scheint, als gewänne der Wahrsager endgültig die Oberhand. Zarathus-
tra weiß sich abermals nicht zu helfen und schweigt, diesmal nicht nur verwundert,
sondern erschüttert und mutlos. Sofort durchschaut der Wahrsager, dass Zarathus-
tras Frage, wer der Schreiende sei, allein rhetorische Bedeutung besitzt und den
Versuch darstellt, sich in Unkenntnis zu flüchten. Er spielt seinen nächsten Trumpf
aus, hat sich ihm doch längst gezeigt, dass Zarathustra um die Identität des
Notleidenden weiß. Energisch enthüllt er, dass es der ‚höhere Mensch‘ sei. Damit
treibt er den furchterfüllten Zarathustra an den Rand der Verzweiflung. Derart im
Aufwind, motiviert der Wahrsager Zarathustra zu einem Tanz, der nicht leichtfüßig,

62 Vgl. Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 301, 7–15.


63 Vgl. Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 301, 23 f.: „Aber was geht mich Menschen-Noth an!“

64 Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 301, 24.


65 Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 301, 26.
Die Einkreisung der schwarzen Schlange 265

frivol und festlich wirkt, sondern nur dem Zweck dient, nicht aus dem Stand um-
zufallen.66 Der Wahrsager meint nun, Zarathustra vollkommen durchschaut zu ha-
ben. Unter dieser Annahme deutet er die Attribute der Heimstätte Zarathustras um:
Die Höhe wird in seiner Rede zur verborgenen Höhle, zum blickgeschützten Ver-
steck des Eremiten; in den Adern und Wegen, die in den Berg gehauen sind, warte
kein Goldschatz auf den Suchenden, sondern ein undurchsichtiges Labyrinth.
Sollte er recht haben, müssten alle Stationen auf Zarathustras Reise, die Reden
auf dem Marktplatz, der Aufbruch zu ungeahnten Meeren, die Umwertung der
Selbstsucht, die Erlösung von der Ranküne des Willens, die Abschüttelung des
‚Geistes der Schwere‘, die Lebens- und Leidensbejahung und schließlich auch die
schwierigste Überwindung, die des Ekels, als verzweifelte Ausflüchte begriffen
werden. Der anfänglich verhalten agierende Wahrsager, der sein von Zweifeln
überzogenes Gesicht am liebsten verborgen hätte und sich mit seinen Ansichten
keineswegs brüstete, gewinnt durch die rhetorische Profilierung der jeglichen Sinn
verneinenden Lehre ein beeindruckendes Selbstvertrauen. Er wagt es, das unerbitt-
liche Fazit zu ziehen: Zarathustra, der beanspruchte, der wachsenden Verschat-
tung entgegenzutreten, hat sich selbst eingegraben. An diesem Ort nach dem Glück
zu suchen, stellt sich dem Wahrsager als vergebens, ja utopisch dar. Überraschen-
derweise fragt sich der Wahrsager unmittelbar darauf, wo das Glück zu suchen sei
und erwägt zwei mögliche Orte: die „glückseligen Inseln“ und zwischen den „ver-
gessenen Meeren“.67 Es zeigt sich allerdings, dass die Anführung dieser Möglich-
keiten nur dazu dient, die Fallhöhe der Enttäuschung zu maximieren: Es ist für ihn
unbestreitbar gewiss, dass die „glückseligen Inseln“ nicht mehr existieren; jegliche
Suche nach einem Gegengift zur Trostlosigkeit müsste diese noch vergrößern.
Zum ersten Mal spricht der Wahrsager seufzend seine pessimistische Welt-
formel gegenüber Zarathustra aus: „Aber Alles ist gleich, es lohnt sich Nichts, es
hilft kein Suchen, es giebt auch keine glückseligen Inseln mehr!“68 Doch diese
Worte üben eine kathartische Wirkung auf Zarathustra aus und geben ihm seine
alte Widerstandskraft zurück. Er lässt seine Apathie hinter sich und wirft dem
Wahrsager ein dreifaches „Nein!“ entgegen.69 An diesen Widerspruch schließt sich
keineswegs eine inhaltliche Argumentation an, Zarathustras Vorgehen wirkt viel-
mehr ungeplant, abrupt und situativ. Zarathustra nutzt den Kairos, um sich los-
zureißen, da er erkennt, dass der Wahrsager auf theoretischem Gebiet nicht besiegt
werden kann. Der einzige Weg, sich ihm zu widersetzen, besteht darin, die Begeg-
nung mit dem ‚höheren Menschen‘ willentlich zu suchen und das als Ziel anzustre-

66 Vgl. Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 302, 14–16.


67 Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 302, 26 f.

68 Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 302, 28 f.


69 Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 302, 32 f.



266 Jan Kerkmann

ben, was der Wahrsager als Lockmittel instrumentalisierte. Diese Aneignung wird
ersichtlich, wenn Zarathustra scheinbar beiläufig den „höheren Menschen“70 des
Wahrsagers erwähnt, der aber in seinen Verfügungsbereich falle, halte er sich doch
in den ihm zugehörenden Wäldern auf. Das Grauen und die Abneigung, die er
gegenüber dem ‚höheren Menschen‘ empfand, schlägt nun in einen ostentativ
verkündigten Willen zur Unterstützung um. Wieder ist es dem Wahrsager ein
Leichtes, die Fluchtabsicht Zarathustras zu durchschauen. Der Wahrsager kündigt
ihm allerdings an, er werde ihn in seiner Höhle erwarten – ungeachtet dessen,
welche entlegenen Wälder Zarathustra auch durchstreifen möge. Die symbolische
Tragweite dieser Aussage ist kaum zu überschätzen: Der heimische Ort, an den
Zarathustra zurückzukehren beabsichtigt, wird stets den Geist des Negativismus
enthalten; er kann nicht besiegt, sondern nur besänftigt werden – und zwar durch
den Rausch. Dieser Topos wird im Kapitel Das Abendmahl eine zentrale Rolle
spielen.
Zarathustra behandelt den Wahrsager nun mit unverhohlener Ironie, der ein
Gefühl souveräner Überlegenheit zugrunde liegt. Kühn unterstellt er dem Wahr-
sager, dieser werde am Abend als sein „Tanzbär“71 zu von ihm vorgetragenen
Liedern tanzen, nachdem er Zarathustras Honig gekostet habe. Da der Wahrsager
diese Vorhersage nicht glaubt, tituliert sich Zarathustra selbst spöttisch als „Wahr-
sager“ und schreibt damit seiner Behauptung den Charakter einer Prophezeiung
zu.72Auch wenn Zarathustra am Ende des Kapitels zu triumphieren scheint, muss
berücksichtigt werden, dass er aufbricht, um den ‚höheren Menschen‘ zu retten.
Dieser Aufbruch bezeugt die Wirkung des Mitleides, dessen Existenz er gegenüber
dem Wahrsager verleugnete. Dem Wahrsager gelang es nicht, Zarathustra zum
Mitleid zu verführen, dennoch stellt sich seinetwegen Mitleid bei Zarathustra ein.
Letztlich besitzt Zarathustra trotz seines gebieterischen Habitus die distanzaufhe-
bende, uneigennützige Achtung vor der Verletzlichkeit des Anderen in weit größe-
rem Ausmaß, als er es vorgibt. Er vollführt im Dienste des ‚höheren Menschen‘ die
präventiven und affektiven Hilfeleistungen, die Schopenhauer mit dem Mitleiden
verknüpfte.73 Es handelt sich um eine Aufhebungsfigur, durch welche das Mit-

70 Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 303, 9.


71 Za IV, Der Nothschrei, KSA 4, 303, 28 f.

72 Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 303, 31.


73 Vgl. Schopenhauer, Arthur, Sämtliche Werke, hrsg. von Julius Frauenstädt, Bd. 4: Schriften zur
Naturphilosophie und zur Ethik. I. Ueber den Willen in der Natur. II. Die beiden Grundprobleme der
Ethik, Leipzig 1874, S. 236: „Denn gränzenloses Mitleid mit allen lebenden Wesen ist der festeste
und sicherste Bürge für das sittliche Wohlverhalten und bedarf keiner Kasuistik. Wer davon erfüllt
ist, wird zuverlässig Keinen verletzen, Keinen beeinträchtigen, Keinem wehe thun, vielmehr mit
Jedem Nachsicht haben, Jedem verzeihen, Jedem helfen, so viel er vermag, und alle seine Hand-
Die Einkreisung der schwarzen Schlange 267

leiden zur Grundlage der ‚schenkenden Tugend‘ wird: Das Mitleid Zarathustras
basiert nicht auf der Durchbrechung des principii individuationis, sondern ermög-
licht und koordiniert indirekt die Zusammenführung der auserwählten Seltenen,
die als Stufen zum ‚höheren Menschen‘ fungieren. Darüber hinaus zeigt sich, dass
Zarathustra im Mitleiden seine Zugehörigkeit zu den ‚höheren Menschen‘ nicht
abstreifen kann.
Wie Zarathustra trotz seiner Flucht Erfolg haben wird, so befindet sich der
Wahrsager trotz seines Triumphes in einer Abwärtsspirale: Seine unbestechliche
Redlichkeit ist es, die ihm eine Rückkehr in einen unvollständigen Nihilismus
unmöglich macht. Auch Zarathustra müsste in diesem Stadium verharren, hätte
er nicht einen Ausweg gefunden. Der Wahrsager ist zum Siegen verdammt, aber
seine Siege vergrößern nur seine Düsternis. Er benötigt die Niederlage, die ihm
nur Zarathustra bereiten kann. Indem Zarathustra das bejaht, was der Wahrsager
verneint, kann der Wahrsager verneinen, was er zuvor bejaht hatte. Damit der
Wahrsager von Zarathustras Ansinnen überzeugt werden konnte, durfte dessen
Bejahung indes keine rein innerliche bleiben. Die Entäußerung wiederum konnte
nur durch den Wahrsager angestoßen werden. Zarathustra zahlt folglich seinen
Tribut an den Wahrsager zurück.

6 Bekehrung und Emphase: Das Abendmahl


Das Kapitel Das Abendmahl schildert die Zusammenkunft der ‚höheren Men-
schen‘.74 Offen gesteht Zarathustra seinen Gästen, dass ihre Eigenschaften nicht
genügen, sie nicht kraftvoll und unbefangen genug seien, da sie durch zahlreiche
Erinnerungen belastet würden. Der „König[ ] zur Rechten“75 hatte sich bei Zara-
thustra dafür bedankt, dass dieser die Verzweifelnden aufgenommen habe. Auch
er versteht sich als Brücke, allerdings für diejenigen, welche die große Sehnsucht,
den großen Ekel, den großen Überdruss kultivieren. Dies kann Zarathustra nicht
akzeptieren, ist es doch gerade der große Ekel, der maßgeblich zur Tat des ‚häss-
lichsten Menschen‘ beitrug, Rache am Zeugen zu nehmen und dergestalt zum
Mörder Gottes zu werden.76 Über den großen Überdruss an der Flüchtigkeit und

lungen werden das Gepräge der Gerechtigkeit und Menschenliebe tragen. Hingegen versuche man
ein Mal zu sagen: ‚Dieser Mensch ist tugendhaft, aber er kennt kein Mitleid.‘ Oder: ‚Er ist ein
ungerechter und boshafter Mensch; jedoch ist er sehr mitleidig‘; so wird der Widerspruch fühlbar.“
74 Za IV Das Abendmahl, KSA 4, 353–355.
75 Za IV Das Abendmahl, KSA 4, 354, 4.
76 Vgl. Za IV Der hässlichste Mensch, KSA 4, 328, 25–29. Vgl. dazu überdies Löwith, Karl,
Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Stuttgart 1956, S. 50 f.

268 Jan Kerkmann

Mittelmäßigkeit des Daseins siegte Zarathustra, als er einen Weg fand, im amor
fati die anfangs- und endlose Unschuld des Werdens, das „Von Ohngefähr“77 mit
dem „Schild der Notwendigkeit“78 zu vereinigen. Die große Sehnsucht indes ist
zwiespältig: Einerseits hatte Zarathustra in Vom Wege des Schaffenden die Auf-
richtung des eigenen Wollens als Ablösung der bisherigen Ideale hervorgehoben;
andererseits erfordert der Untergang der metaphysischen Weltordnung den von
Zarathustra ersehnten ‚höheren Menschen‘ im Singular. Dies zeigt sich am Ende
des Kapitels Die Begrüßung, als Zarathustra von der Sehnsucht nach einem
Zeichen, einem lachenden Löwen, übermannt wird.
Signifikant ist, dass alle in das Schweigen Zarathustras einstimmen; lediglich
eine Person sticht gestikulierend heraus und hält sich nur mit größter Mühe
zurück: der Wahrsager, der zu seiner letzten Rede ansetzt. In deren Verlauf tritt
hervor, dass er sich erneut verwandelt hat: Er übernimmt eine ermahnende Rolle,
fordert die Verköstigung und spricht den Notständen der anderen Gäste ab, dass
sie ebenso drängend seien wie seine Befürchtung, verhungern zu müssen.79 Er,
der Zarathustra am Stein dazu überreden wollte, sich dem Mitleid hinzugeben,
und ihn mit unbezwingbarer Rhetorik von der Eitelkeit allen Tuns bzw. dessen
zukünftiger Aufhebung zu überzeugen trachtete, insistiert nun darauf, sich statt
Gesprächen den sinnlichen Genüssen zuzuwenden. Diese Kehre bekundet nicht
die Verherrlichung eines unbeschwerten Hedonismus, sondern unterstreicht die
Einbindung des Leibes und die Anerkennung einer Realität der Triebe, die sowohl
‚jenseits von Gut und Böse‘ als auch von Lust und Unlust angesiedelt ist.80 Die
Tiere, welche die Unersättlichkeit des Wahrsagers vorhersehen, flüchten, da sie
sich schämen, nicht genügend Nahrung beschafft zu haben. Der Wahrsager
schwört der scharfsinnigen Weisheit ab, welche er mit dem gleichmütigen, un-
erschöpflichen, differenzlosen Fluss des Wassers gleichsetzt und macht stattdes-
sen seinen Wunsch nach Wein geltend. Zarathustra, dem bereits Genesenden,

77 Vgl. Za III Vor Sonnen-Aufgang, KSA 4, 209, 12–17: „Wahrlich, ein Segnen ist es und kein
Lästern, wenn ich lehre: ‚über allen Dingen steht der Himmel Zufall, der Himmel Unschuld, der
Himmel Ohngefähr, der Himmel Übermuth.‘ / ‚Von Ohngefähr‘ – das ist der älteste Adel der Welt,
den gab ich allen Dingen zurück, ich erlöste sie von der Knechtschaft unter dem Zwecke.“
78 Vgl. DD Ruhm und Ewigkeit 4, KSA 6, 405, 4–12: „Schild der Nothwendigkeit! / Ewiger
Bildwerke Tafel! / – aber du weisst es ja: / was Alle hassen, / was allein ich liebe, / dass du ewig
bist! / dass du n o t h w e n d i g bist! / Meine Liebe entzündet / sich ewig nur an der Nothwendig-
keit.“
79 Vgl. Za IV Das Abendmahl, KSA 4, 353, 11–13.
80 Vgl. hierzu M 38, KSA 3, 45 f.; und JGB 36, KSA 5, 54 f. Zur Rolle der Affekte und Gefühle in
   

Bezug auf den ‚Willen zur Macht‘ siehe auch: Heidegger, Nietzsche I, S. 40–51.
Die Einkreisung der schwarzen Schlange 269

gebühre es dagegen, Wasser zu trinken. Entscheidend ist, dass er sich selbst unter
die „Müde[n] und Verwelkte[n]“81 zählt.
Folgerichtig lehnt er nun Mitleid, isolierende Askese und Kontemplation als
Heilmittel ab, er sehnt sich stattdessen nach einer Genesung, die ihn notwendi-
gerweise mit der dionysischen Begeisterung, der Ekstase, der Ursprungsahnung
in Berührung bringt. „Gift ist unser Wein geworden“,82 resümiert der Wahrsager
im zweiten Teil des Zarathustra. Während des Abendmahls wird das Gift wieder
zu Wein.83 Für den Wahrsager verwandelt sich der Wein zudem zum Lebens-
elixier, zum spendenden Trank. In der Aussage Zarathustras, dass „Mitternacht
[…] auch Mittag“ sei,84 reichen höchster Schmerz und höchste Lust einander die
Hand: „zum Zeichen, dass sie sich wiedererkennen wollten.“85

7 Die endgültige Überwindung: Das Zeichen


Die kaum zu überschätzende Bedeutsamkeit des Wahrsagers lässt sich im Hinblick
auf den Schluss von Also sprach Zarathustra nochmals untermauern: Im letzten
Kapitel erhält Zarathustra das erhoffte Zeichen. Während die ‚höheren Menschen‘
noch schlafen, wird Zarathustra vor seiner Höhle von einem großen Tauben-
schwarm überwältigt und ertastet in ihrer Mitte den lachenden Löwen. Dies er-
eignet sich an ebenjenem Stein, an dem ihm tags zuvor der Wahrsager begegnete.
Als die ‚höheren Menschen‘ erwachen und auf der Suche nach Zarathustra vor die
Höhle treten, wendet sich der gegenüber Zarathustra sanftmütige, devote Löwe um
und vertreibt sie mit lautem Gebrüll. Inmitten der daraufhin herrschenden Stille
gelingt es Zarathustra nicht – ähnlich wie schon nach dem ersten Traum –, das
soeben Geschehene einzuordnen. Den großen Stein vor seiner Höhle betrachtend,
fügen sich die disparat erscheinenden Erfahrungen „zwischen Gestern und Heu-
te“86 plötzlich in einen erhellenden Zusammenhang ein. Der Stein bildet das
Erinnerungen auslösende und abrundende Dingsymbol; an seinem Ort vernahm
Zarathustra gemeinsam mit dem Wahrsager den „Nothschrei“. Somit ist der Stein
auch Ausgangspunkt der Begegnung mit den ‚höheren Menschen‘. Wie Zarathustra
nach dem ersten Traum die Notwendigkeit begriff, das Schattenreich zu erkunden,

81 Za IV Das Abendmahl, KSA 4, 353, 22.


82 Za II Der Wahrsager, KSA 4, 172, 11.
83 In diesem Kontext ist natürlich nicht zu verkennen, dass es sich um eine Parodie auf das
christliche Abendmahl handelt.
84 Za IV Das Nachtwandler-Lied 10, KSA 4, 402, 15.
85 Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 301, 1 f.

86 Za Das Zeichen, KSA 4, 407, 29.


270 Jan Kerkmann

so erschließt sich ihm nun das Geschick, welches ihm den Wahrsager zuführte. Da-
her ist es unvermeidlich, dass das Gespräch mit dem Wahrsager und dessen Über-
zeugungsversuche in seiner erinnernden Rekapitulation besonders herausragen:

Oh ihr höheren Menschen, vor e u r e r Noth war’s ja, dass gestern am Morgen jener alte
Wahrsager mir wahrsagte, –
– zu eurer Noth wollte er mich verführen und versuchen: oh Zarathustra, sprach er zu
mir, ich komme, dass ich dich zu deiner letzten Sünde verführe.87

Er hat die kleinste, am schwierigsten zu überbrückende Kluft88 hervortreten


lassen und zusammen mit ihr auch die kaum zu unterscheidende Gegenposition
überwunden: Aus dem „Alles ist gleich“ ist ein „Alles ist gleich“ geworden:89 Der
nächste Augenblick, das „hohe[ ] Joche zwischen zwei Meeren“,90 versammelt in
sich die gesamte Vergangenheit. Es steht dem Einzelnen offen, jede Tat, jeden
Gedanken im nächsten Jetztpunkt mit einer ungeahnten Intensität und Fülle zu
versehen, begleitet von der Aussicht, dass dieser Augenblick (als Ekstase aus der
linearen Zeit) ewig durchlebt werden muss. Der Lebenslauf wird nicht mehr aus
dem charakterlichen Sein abgeleitet; der Übermütige und Tanzende wird selbst
zur Bedingung seines künftigen Seins.
In dem Moment, in dem Zarathustra das Mitleid verabschiedet, verwandelt
sich sein Gesicht in Erz. An diesem werden „aschgraue Blitze“91 abperlen. Doch
die glühende Entschlossenheit konnte nur im Angesicht mächtiger Gewitter
gewonnen werden:

Wenn ich ein Wahrsager bin und voll jenes wahrsagerischen Geistes, der auf hohem
Joche zwischen zwei Meeren wandelt, –
zwischen Vergangenem und Zukünftigem als schwere Wolke wandelt, – schwülen
Niederungen feind und Allem, was müde ist und nicht sterben, noch leben kann:
zum Blitze bereit im dunklen Busen und zum erlösenden Lichtstrahle, schwanger von
Blitzen, die Ja! sagen, Ja! lachen, zu wahrsagerischen Blitzstrahlen: –
– selig aber ist der also Schwangere! Und wahrlich, lange muss als schweres Wetter am
Berge hängen, wer einst das Licht der Zukunft zünden soll! –92

87 Za Das Zeichen, KSA 4, 408, 1–5.


88 Vgl. hierzu besonders den sechsten Abschnitt des Lenzer-Heide-Fragments (verfasst am 10.
Juni 1887): „Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist,
ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: ‚die ewige
Wiederkehr‘. / Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das ‚Sinnlose‘) ewig!“
(NL 1886/87, 5[71], KSA 12, 213, 12–17).
89 Za II Der Wahrsager, KSA 4, 172, 5 (Hervorhebungen JK).
90 Za III Die sieben Siegel 1, KSA 4, 287, 5.
91 Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 300, 19.
92 Za III Die sieben Siegel 1, 287, 4–14.
Die Einkreisung der schwarzen Schlange 271

8 Wer ist Nietzsches Wahrsager?


Der Wahrsager liefert in seinen Reden eine Anamnese und Genealogie des Nihilis-
mus, dessen jeweilige Stadien in seinen divergierenden Verkörperungen Kontur
gewinnen. Die einzelnen Merkmale lassen sich deshalb nicht widerspruchsfrei
auf einen statischen, von Anfang an vorausgesetzten Charakter beziehen. Daher
erscheint es plausibel, seine Entwicklung mit Hilfe der folgenden, sukzessiven
Trias zu analogisieren: Beobachter – Inkarnation Schopenhauers – vollkommener
Nihilist. Im Rahmen der Verwandlungen verändern sich die Bedeutung und der
zeitliche Geltungsbereich des Ausspruchs „Alles ist leer, Alles ist gleich, Alles
war“.93 Zuerst beschreibt der Wahrsager nüchtern die Erwartungen, die Enttäu-
schungen und die damit einhergehenden Erfahrungen des sensiblen Menschen.
Er sympathisiert nicht mit einer Lehre, sondern vermerkt nur, dass eine heraus-
steche, die immensen Erfolg habe. Er ist der diagnostizierende Verkündiger des
Nihilismus im „psychologische[n] Zustand“.94
Im Kapitel Der Nothschrei enthüllt sich der Wahrsager als Inkarnation Scho-
penhauers. Er wirbt demonstrativ für das Mitleid und prophezeit Zarathustra,
auch er werde dem Kerngehalt der von ihm nun aktiv vertretenen Lehre eines
metaphysischen Pessimismus nicht entrinnen. Er nimmt nun eine holistisch-
überzeitliche Deutung der Wirklichkeit für sich in Anspruch. Deswegen wird er
für Zarathustra zur mächtigen Herausforderung, zur letzten Hürde, die vor der
Versammlung der ‚höheren Menschen‘ zu überwinden ist. Wenn man den Wahr-
sager als Verkörperung Schopenhauers deutet, so ist der Bezug zum „Alles ist
leer“ entscheidend: Die Vergangenheit ist unwiederbringlich, die Zukunft ein
nichtiger Traum, während sich die Gegenwart durch das fortwährende Umschla-
gen der Augenblicke konstituiert. Das „Alles ist gleich“ kann neben dem zeitli-
chen Verständnis auch als ethische Aussage über die Wesensidentität alles
Lebendigen verstanden werden, welche durch das principium individuationis ver-
hüllt ist.95 Darüber hinaus verhindert die unumstößliche Wirksamkeit des „Alles
war“ innerhalb der sinnlichen Welt das Postulat einer „Unschuld des Wer-
dens“.96

93 Za II Der Wahrsager, KSA 4, 172, 4 f.


94 Vgl. hierzu die „Kritik des Nihilism“ in NL 1887/88, 11[99], KSA 13, 46–49.
95 Vgl. Schopenhauer, Arthur, Handschriftlicher Nachlaß, Bd. 3, hrsg. von Arthur Hübscher,
Frankfurt/Main 1970, S. 22: „Ich lehre, daß alle Güte der Gesinnung hervorgeht aus der Erkennt-
niß, nämlich aus der Durchschauung des pricipium individuationis, und demnach Wiederfinden
seines Selbst in allen Wesen.“
96 GD Die vier grossen Irrthümer 7, KSA 6, 96, 8.
272 Jan Kerkmann

Im Kapitel Das Abendmahl wird gezeigt, wie der Wahrsager auf den negieren-
den Teil der Philosophie Nietzsches reduziert wird und fortan als Grundlage einer
radikalen Lebensbejahung fungiert. Er agiert nur noch insofern, als er das Neinsa-
gen negiert. Er richtet sich gegen die „Müde[n] und Verwelkte[n]“,97 also gegen all
das, was er einst selbst verkörperte. Aus dem umgreifenden Pessimismus schält
sich rettend der vollkommene Nihilist heraus. Für diesen dritten Deutungsschritt
gibt Nietzsche den entscheidenden Hinweis, wenn er in einem Nachlass-Frag-
ment festhält, dass er als „Wahrsagevogel-Geist“ derjenige sei, „der z u r ü c k -
b l i c k t , wenn er erzählt, was kommen wird; als der erste vollkommene Nihilist
Europas, der aber den Nihilismus selbst schon in sich zu Ende gelebt hat, – der
ihn hinter sich, unter sich, außer sich hat…“98

97 Za IV Das Abendmahl, KSA 4, 353, 22.


98 NL 1887/88, 11[411], KSA 13, 190, 8–11.
Natalie Schulte
Nur Narr, nur Dichter? Das Lied der
Schwermuth in Nietzsches Zarathustra

Abstract: Only a fool, only a poet? Nietzsche’s Lied der Schwermuth in Also
sprach Zarathustra. Nietzsche’s Lied der Schwermuth, included in the fourth part
of Also sprach Zarathustra, seems at first sight to pronounce a scathing judgement
about the poet, in so far he is presented as someone who is excluded from the
truth. However, recalling that the Lied der Schwermuth aims at identifying Zara-
thustra with the poet – as the figure of the sorcerer does in Also sprach
Zarathustra –, new perspectives emerge. Based on this premise, the Lied der
Schwermuth will be analysed as a model for showing how, in this poem, nuances
become visible that provide a sharper image of Nietzsche’s connection to poetry.
The form of the text is also important for the interpretation: the self-contradiction
of a poem, which denies the truth of poems in general – and thus the truth of the
Lied der Schwermuth as well –, resembles the structure of the classical liar
paradox and forces the reader to rely on his own interpretation and evaluation.

1
Ein Künstler-Philosoph1 – so ließe sich Nietzsche wohl porträtieren. Aber mit
dieser Beschreibung hätte man es sich wohl allzu leicht gemacht, denn der
einfache Bindestrich kaschiert womöglich ein Widerspruchs- und Konkurrenzver-
hältnis zwischen Kunst und Philosophie, das in der Frage nach deren jeweiliger
Beziehung zur Wahrheit gipfelt. Seit Platon steht die Kunst unter dem Verdacht,
nicht der Wahrheit zu dienen, sondern dem bloßen Schein, welcher sich als
Wahrheit ausgibt.2 Auch Nietzsche übt schwerwiegende Kritik an der Kunst: In
Menschliches, Allzumenschliches steht sie unter dem Generalverdacht, veraltete

1 Nietzsche, der in seinen Aufzeichnungen in positiver Konnotation vom Philosophen-Künstler


und Dichter-Philosophen spricht, hätte an dieser Charakterisierung möglicherweise nichts aus-
zusetzen gehabt. Vgl. NL 1886, 6[22], KSA 12, 240.
2 Auch Andreas Urs Sommer betont die Ähnlichkeit zwischen der hier formulierten Kritik am
Dichter zu derjenigen Platons: „Obwohl N. vor allem in den späten Schriften vehement gegen den
Platonismus zu Felde zieht, gegen die metaphysische ‚Hinterwelt‘ der platonischen Ideen, nimmt
er im ersten Dithyrambus die Dichterkritik, die Platon am schärfsten in der Politeia formuliert hat,
substantiell und bis in einzelne Vorstellungen hinein auf“ (NK 6/2, 650).

DOI 10.1515/9783110474374-012
274 Natalie Schulte

Glaubensvorstellungen zu konservieren, und in der Genealogie der Moral gilt der


Künstler als jemand, der nicht alleine stehen kann, der abhängig von den Dingen
bleibt, die er glorifizieren kann.3 Andererseits vermag die Kunst nach Nietzsches
Auffassung auch, Leiden und Leben zu verherrlichen, und wenn sie schon nicht,
wie in der Geburt der Tragödie noch behauptet, „das Dasein und die Welt [als]
ewig g e r e ch t f e r t i g t “4 erscheinen lassen kann, so macht sie das Leben zumin-
dest „e r t r ä g l i c h “.5
Im Zarathustra-Kapitel Das Lied der Schwermuth lässt Nietzsche die Figur des
Zauberers ein Lied singen, welches selbstreflexiv das Verhältnis des Dichters zur
Wahrheit thematisiert.6 In diesem Gedicht werden schwerwiegende Zweifel for-
muliert, ob der Dichter ein „Freier“ der Wahrheit sein könne.7 Er scheint sogar
„[v]on aller Wahrheit“ „verbannt“ zu sein.8 Wenn aber dem Dichter und seiner
Dichtung die Möglichkeit abgesprochen wird, eine philosophische Wahrheit mit-
teilen zu können, Zarathustra jedoch, wie er von sich in der Rede Von den Dichtern
behauptet, selbst ein Dichter ist und seine Reden Dichtungen sind, dann ist auch
der gesamte Wahrheitsgehalt dieser Reden in Zweifel zu ziehen oder zumindest
zu relativieren.
Um einer Antwort auf die Frage näherzukommen, wie Nietzsche das Ver-
hältnis von Dichtung und Wahrheit in seinem Werk Also sprach Zarathustra
problematisiert, soll das Lied der Schwermuth im vorliegenden Beitrag exempla-
risch analysiert werden. Nach einer kurzen Einordnung des Gedichts in den
Gesamtzusammenhang des Zarathustra interpretiere ich es in einem Close Rea-
ding, um seinen komplexen Gehalt zu erschließen.9 Abschließend stelle ich
einige Überlegungen zur Reaktion der Zuhörer des Lieds der Schwermuth und zum
Verhältnis zwischen Zarathustra und dem Zauberer an.

3 Vgl. GM III 5, KSA 5, 344–346.


4 GT 5, KSA 1, 47, 26 f.

5 FW 107, KSA 3, 464, 24 f.


6 Vgl. Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371–374.


7 Za IV, Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371, 22.
8 Za IV, Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 374, 19 u. 18.
9 Auf die Form des Gedichts gehe ich hier nicht ein. Eine Untersuchung derselben bietet z. B.
Groddeck, Wolfram, Friedrich Nietzsche „Dionysos-Dithyramben“, Bd. 2: Bedeutung und Entste-
hung von Nietzsches letztem Werk, Berlin / New York 1991, S. 4–8. Groddeck behandelt auch die
Fassungsunterschiede des Textes (vgl. Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371–374; und DD
Nur Narr! Nur Dichter!, KSA 6, 377–380).
Nur Narr, nur Dichter? 275

2
Das Lied des Zauberers steht im vierten Teil des Zarathustra, der von Nietzsche
nicht zur Veröffentlichung vorgesehen war, sondern nur einem kleinen Kreis von
Freunden zugedacht war. Dass Nietzsche das Lied der Schwermuth in einer leicht
veränderten Fassung schließlich in die Dionysos-Dithyramben integrierte, bezeugt
indes seinen Wunsch, es doch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Im vierten Teil des Zarathustra ist die Titelfigur ein alter Mann geworden, der
einsam im Gebirge lebt, jedoch sporadisch von allerlei Gestalten, wie beispiels-
weise einem Wahrsager, besucht wird. Dieser kündigt Zarathustra an, dass ihm
eine letzte Versuchung, das Mitleiden, bevorstehe und dass „d e r h ö h e r e
M e n s c h “10 komme, um seine Hilfe zu erbitten. Schon ertönt ein Hilfe-Schrei, der
Zarathustra zunächst erschreckt, aber dann dazu veranlasst, nach dem Schreien-
den zu suchen, um ihm zu helfen. Auf dieser Suche begegnet er nacheinander
zahlreichen Gestalten: den „zwei Könige[n]“,11 dem „G e w i s s e n h a f t e [n] d e s
G e i s t e s “,12 dem „Zauberer“,13 dem „letzte[n] Papst“,14 dem „hässlichste[n] Men-
schen“,15 dem „freiwillige[n] Bettler“16 und seinem eigenen „Schatten“.17 Wenn-
gleich er in keinem von ihnen den ‚höheren Menschen‘ erkennt, der ihn gerufen
hat, lädt er sie alle in seine Höhle ein. Nachdem er niemanden mehr findet und
glaubt, seine Suche nach dem ‚höheren Menschen‘ erfolglos abbrechen zu müs-
sen, kehrt er zu ihnen zurück. Da ertönt der „Nothschrei“ aus seiner eigenen
Höhle,18 sodass Zarathustra erkennt, dass alle seine Gäste zusammen die ‚höhe-
ren Menschen‘ sind. Er diskutiert mit ihnen eine Nacht lang über den Typus des
‚höheren Menschen‘, bis er schließlich für einen Moment seine Gäste verlässt, um
mit seinen Tieren, die er den Menschen vorzieht, allein zu sein. Diesen Moment
nutzt der Zauberer, um den ‚höheren Menschen‘ sein Lied der Schwermuth vor-
zusingen.
Der Zauberer hält eine kurze Rede, in der er die Gemeinsamkeit der Höhlen-
besucher herausstellt: Ihnen allen sei der „alte Gott“ gestorben, ohne dass ihnen
ein neuer gekommen wäre; sie alle litten am „g r o ß e n E k e l “, ob sie sich nun

10 Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 302, 5.


11 Za IV Gespräch mit den Königen 1, KSA 4, 304, 5 f.

12 Za IV Der Blutegel, KSA 4, 311, 8.


13 Za IV Der Zauberer 2, KSA 4, 317, 12 f.

14 Za IV Ausser Dienst, KSA 4, 322, 18.


15 Za IV Der hässlichste Mensch, KSA 4, 328, 28.
16 Za IV Der freiwillige Bettler, KSA 4, 335, 5.
17 Za IV Der Schatten, KSA 4, 338, 5.
18 Za IV Die Begrüssung, KSA 4, 347, 10.
276 Natalie Schulte

„freie[ ] Geister“, „Wahrhaftige[ ]“, „Büsser des Geistes“, „Entfesselte[ ]“ oder


„Sehnsüchtige[ ]“ nennen mögen.19 Er, der Zauberer, kenne sie alle und auch
Zarathustra kenne er, in dem eine „Heiligen-Larve“20 schlummere. Aber nun, am
Abend, falle ihn der „Geist der Schwermuth“ an.21 Unter dem Eindruck der
„Abend-Schwermuth“22 greift der Zauberer nach seiner Harfe und singt sein Lied.
In diesem erinnert sich ein lyrisches Ich an seine einstige verzweifelte Erfah-
rung, von aller Wahrheit verbannt zu sein. Die Frage, ob ein Dichter an der
Wahrheit scheitern muss, wird durch das Leitmotiv, ein „Freier der Wahrheit“
sein oder eben nicht sein zu können, in den Mittelpunkt des Lieds gerückt. Die
Sprache des Gedichts ist bildgewaltig, voller Metaphern, vieler elliptischer Satz-
konstruktionen und zahlreichen Akkumulationen von Adjektiven und Partizi-
pien. Dadurch wirkt das Gedicht teils überladen und schwer zugänglich. Während
das Grundurteil „Nur Narr! Nur Dichter!“ durch seine Plakativität hervorsticht,
bleiben insbesondere die Strophen zwei, drei, vier und sechs, in denen Tiermeta-
phern dominieren, undurchsichtig und mehrdeutig.
In der ersten Strophe wird ein direkt angesprochenes Du gefragt, ob bestimm-
te Naturvorgänge wie aufklarendes Licht oder am Abend niedergehender Tau es
an seine einstige Verzweiflung und seinen Wunsch nach himmlischem Trost
erinnern – zu einer Zeit, in der der Angesprochene unter der sengenden Sonne
litt. Die Frage, die an das lyrische Du gestellt wird, ist damit von zwei Bildern
eingerahmt, wobei das erste Bild das Szenario einer möglichen Gegenwart evo-
ziert, während das zweite Bild an die Vergangenheit erinnern soll, sodass die
beiden Bilder sich antithetisch überlagern.
Der erste Vers („Bei abgehellter Luft“)23 verweist auf den Barockdichter Paul
Fleming24 und gibt einen sprachlichen Vorgeschmack auf den weiteren Verlauf
des metaphernreichen und pathosgeladenen Gedichts.25 ‚Abhellen‘, ein zu Nietz-
sches Zeit schon ungebräuchliches Wort, bezeichnet ein Aufklaren und Aufhel-
len, das den Leser an die Zeit des Morgengrauens denken lässt.26 Der zweite Vers,

19 Za IV Das Lied der Schwermuth 2, KSA 4, 370, 14–18.


20 Za IV Das Lied der Schwermuth 2, KSA 4, 370, 24.
21 Za IV Das Lied der Schwermuth 2, KSA 4, 370, 30.
22 Za IV Das Lied der Schwermuth 2, KSA 4, 371, 4.
23 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371, 8.
24 Vgl. KSA 14, 342.
25 Indem Nietzsche den Zauberer ein Gedicht vortragen lässt, das in direktem Bezug zur Barock-
dichtung steht, wird deutlich, dass bereits eine immanente Kritik des Gedichts und eine Dis-
tanzierung von der Figur dieses Zauberers angedeutet wird, denn Nietzsche kritisiert in seinen
Werken die Barockdichtung, selbst wenn er sie augenscheinlich lobt (vgl. exemplarisch MA II
VMS 144, KSA 2, 437–439).
26 Vgl. Groddeck, Friedrich Nietzsche „Dionysos-Dithyramben“, Bd. 2, S. 9; und NK 6/2. 661.
Nur Narr, nur Dichter? 277

in dem vom schon niedergehenden Tau gesprochen wird, der also eher den
Abend andeutet, ambiguisiert das Bild, das auch im Fortgang des Gedichts stets
zwischen Abend und Morgen zu changieren scheint. Der Tau, der Tröstung
bringen soll, verweist symbolhaft auf einen biblischen Kontext. So gilt das (nach
Taw, dem letzten Buchstaben des hebräischen Alphabets, benannte) Taukreuz in
der christlichen Lehre als Bußzeichen; Franz von Assisi benutzte es als Segens-
zeichen der Demut und Erlösung. In den hebräisch-aramäischen Schriften ist der
Prophet Ezechiel erwähnt, der den Gläubigen ein Taukreuz auf die Stirn malen
sollte. Die so Gezeichneten sollten vor Gottes Strafe verschont werden.27
Der Tau wird in den folgenden Versen genauer bestimmt: Er ist unsichtbar, er
wird nicht gehört, er trägt zartes Schuhwerk wie alle „Trost-Milden“.28 Die allite-
rierenden Formeln „Tröster-Thau“, „Thau’s Tröstung“29 und „Thränen und Thau-
Geträufel“30 werden mit den „Trost-Milden“ enggeführt. Der Tau wird somit zum
beherrschenden Motiv der ersten Strophe. Inhaltlich ist es gerade der Tau, der das
Du an das Vergangene erinnert, das als der vergebliche Wunsch nach „himm-
lischen Thränen und Thau-Geträufel“ erscheint. Die Frage „Gedenkst du da,
gedenkst du, heisses Herz, / Wie einst du durstetest“31 schließt ebenfalls an die
Taumetapher an. Das durstige, heiße Herz steht in einem Gegensatzverhältnis
zum kühlenden, durstlöschenden Tau, den es begehrt. Das lyrische Du scheint mit
der trockenen Umgebung zu verschmelzen, denn nicht nur die „Gras-Pfade[ ]“32
werden als gelb beschrieben, sondern auch das Du als versengt und müde durs-
tend. So passt zwar die Bestimmung ‚müde durstend‘ zu einem Menschen, das
‚versengt‘ aber eher zu einer Pflanze. Die „Sonnen-Gluthblicke“,33 die auf den
feurigen Charakter als Ursache des Versengt-Seins schließen lassen, stellen Per-
sonifikationen dar. Es sind „[b]oshaft abendliche Sonnenblicke“, die durch
„schwarze Bäume um dich liefen, / Blendende Sonnen-Gluthblicke, schadenfro-
he“.34 Das lyrische Du scheint in die Abendsonne zu blicken, sodass es geblendet

27 Vgl. Ez. 9, 3–11. Ebenso gilt der Tau als Geschenk des Himmels: Er kündigt im Alten Testament
das heiß ersehnte „Manna“ an, welches die Israeliten auf ihrer Reise durch die Wüste vor dem Tod
bewahrt (vgl. Ex. 16, 13–14). In der Alchemie wurde der Tau als das „merkurische Wasser der
Weisheit“ verstanden, welches die Fähigkeit der Psyche umfasst, die „ausgetrocknete Persönlich-
keit zu erfrischen und wiederzubeleben“ (Tau [Artikel], in: Ronnberg, Ami / Martin, Kathleen
(Hrsg.), Das Buch der Symbole. Betrachtungen zu Archetypischen Bildern, Köln 2011, S. 74).
28 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371, 13.
29 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371, 13 u. 9.
30 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371, 16.
31 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371, 14 f.

32 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371, 18.


33 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371, 21.
34 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371, 19–21.
278 Natalie Schulte

wird und alle Gegenstände vor der Sonne schwarz erscheinen. Schwarz als Sym-
bolfarbe verweist auf den Tod, die Sonne erscheint als zerstörerisches Feuer. Sie
wird traditionell mit der Wahrheit assoziiert; bei Platon repräsentiert sie die Idee
des Guten, die alle anderen reinen Ideen erst sichtbar macht, selbst aber nie
vollkommen erkannt werden kann. Und der frühe Nietzsche beschreibt passender-
weise den Sonnengott Apollo als Gott des ‚schönen Scheins‘:

Er ist der „Scheinende“ durch und durch: in tiefster Wurzel Sonnen- und Lichtgott, der sich
im Glanze offenbart. Die „Schönheit“ ist sein Element: ewige Jugend ihm zugesellt. Aber
auch der schöne Schein der Traumwelt ist sein Reich: die höhere Wahrheit, die Vollkom-
menheit dieser Zustände im Gegensatz zu der lückenhaft verständlichen Tageswirklichkeit
erheben ihn zum wahrsagenden Gotte, aber eben so gewiß zum künstlerischen Gotte. Der
Gott des schönen Scheines muß zugleich der Gott der wahren Erkenntniß sein.35

Im Lied der Schwermuth macht die Sonne die Gegenstände allerdings gerade nicht
sichtbar, sondern sie blendet das lyrische Du und verdunkelt die Gegenstände,
sodass sie bedrohlich werden. Weder erweisen sich die Sonnenstrahlen im Sinne
Platons als Inbegriff einer Wahrheit, die anderes sichtbar macht, noch verklären
sie im Sinne von Nietzsches früher Apollo-Deutung die Dinge zu einer höheren
Wahrheit. Das Du erscheint stattdessen von einer Erkenntnis verbrannt, die es
von den einfachen Dingen trennt, die nun verdorrt, damit leblos und bedrohlich
erscheinen, während es sich nach göttlichem Trost, nach Vergebung und Erlö-
sung sehnt.
In der zweiten Strophe sprechen nun die Sonnenstrahlen direkt zum lyri-
schen Du. Zweimal stellen sie die Frage, ob das Du ein ‚Freier der Wahrheit‘ sei,
nur um diese Frage sogleich zu verneinen. In zwei Bildern beschreiben die
sprechenden Sonnenstrahlen, was das Du stattdessen sei: Im ersten Bild wird es
als Dichter enttarnt, der nichts anderes sei als ein lügendes und raubendes Tier,
das sich schließlich selbst zur Beute wird; im zweiten Bild wird der Dichter mit
dem Narren gleichgesetzt, der mit seinen verlogenen „lügnerischen Wort-Brü-
cken“ nur „[z]wischen falschen Himmeln / Und falschen Erden“36 herumschwei-
fe.
Die Sonnenstrahlen verspotten das lyrische Du mit einer rhetorischen Frage:
„Der W a h r h e i t Freier? Du? – so höhnten sie – / Nein! Nur ein Dichter!“37 „Der
W a h r h e i t Freier“ erscheint im Gedicht als vieldeutige Metapher. Diese spielt
zum einen auf die Bedeutung des Wortes ‚Philosoph‘ an. Der Philosoph wirbt als

35 DW 1, KSA 1, 554, 13–21.


36 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 372, 7 u. 9 f.

37 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371, 22 f.



Nur Narr, nur Dichter? 279

‚Liebhaber der Weisheit‘ um die Wahrheit, die zuvor schon von Zarathustra
explizit als weiblich gekennzeichnet wurde. Andererseits kann mit „[d]er W a h r -
h e i t Freier“ auch Derjenige bezeichnet werden, der frei von Wahrheit ist und der
ihrer eventuell gerade nicht mehr bedarf. Schließlich kann mit ‚Freier‘ auch
Derjenige gemeint sein, der sich frei zur Wahrheit bzw. zu seiner Wahrheit
bekennen kann. Ohne dass hier einer Interpretation der alleinige Vorzug gegeben
werden könnte, scheint doch eines klar zu sein: Der Dichter steht gemäß der
Verhöhnung der Sonnenstrahlen in einem Gegensatzverhältnis zu diesem ‚Freier
der Wahrheit‘. Es scheint allerdings, dass er gerne ein solcher ‚Freier‘ wäre,
andernfalls würde der Hohn der Sonnenstrahlen darüber, dass er dies gerade
nicht ist, ins Leere laufen. Er ist eben „[n]ur ein Dichter“,38 wobei das Adverb hier
nicht nur eine ausschließende, sondern auch eine abwertende Funktion hat.
Sodann folgt die Beschreibung des Dichters als Raubtier: „Ein Thier, ein
listiges, raubendes, schleichendes, / Das lügen muss, / Das wissentlich, willent-
lich lügen muss“.39 Der Rhythmus dieser drei Verse, der durch die gehäufte
Verwendung von Adjektiven, die ohne Konjunktion aufeinander folgen, drän-
gend und beschleunigt wirkt, veranschaulicht die Metapher des herumschweifen-
den Raubtiers. Während die Adjektive im dritten Vers der zweiten Strophe sich
noch zur Beschreibung eines Tiers eignen (listig, raubend, schleichend), können
sich die beiden folgenden Bestimmungen nur auf den Menschen beziehen, da
dieser das einzige Lebewesen ist, das zu lügen vermag. Wenn aber der Mensch
generell das „Thier“ ist, das lügen kann, so ist der Dichter, den Sonnenstrahlen
zufolge, das „Thier“, das lügen muss. Die Epipher (die Wiederholung von „lügen
muss“ am Versende) unterstreicht das behauptete zwanghafte Verhältnis des
Dichters zur Lüge. Andererseits scheint die Zuschreibung der „wissentlich[en],
willentlich[en]“ Lüge im Gegensatz zu diesem Zwangsverhältnis zu stehen, sofern
ein willentliches Tun Freiheit voraussetzt. Ganz im Sinne der schopenhauerischen
Willenstheorie scheinen die Sonnenstrahlen zu behaupten, dass der Dichter als
Mensch zwar fähig ist, zu tun, was er will, aber seine Unfreiheit darin besteht,
dass er nicht wollen kann, was er will. Sein Wille ist daher letztlich unfrei. Vor
dem Hintergrund dieser Willenstheorie bestünde die Unfreiheit des Dichters
darin, nicht die Wahrheit, sondern nur die Lüge wollen zu können.
Das Bild des Dichters als Raubtier wird auch in den folgenden Versen weiter
ausgemalt: „Nach Beute lüstern, / Bunt verlarvt, / Sich selber Larve / sich selbst
zur Beute –“.40 Der sechste Vers der zweiten Strophe geht noch ganz von der

38 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371, 23.


39 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371, 24–26.
40 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371, 27–372, 2.
280 Natalie Schulte

Beschreibung des Raubtiers aus; das Wort „lüstern“ betont die leidenschaftliche,
nahezu sexuell besetzte Seite des Beutehungers. Der siebte Vers nennt das ‚Dich-
tertier‘ dann „[b]unt verlarvt“. Die Larve erscheint hier als Verkleidung, wodurch
eine semantische Kontinuität mit den vorherigen Versen über die Lüge erzeugt
wird. Das Wort ‚bunt‘, das assoziativ auf eine Vieldeutigkeit oder Vielseitigkeit
hinweist, ist im Zarathustra häufig negativ konnotiert. In der Rede Vom Lande der
Bildung beschreibt Zarathustra die Gelehrten als bunt und lächerlich, weil sie sich
durch ihre historische Bildung selbst verloren und ihre eigenen Gesichter zu
Masken gemacht haben.41 Durch seine Verkleidung täuscht sich der Dichter ganz
ähnlich, er wird sich selbst zur „Larve“. Es scheint also, als würde er sich mit
seiner Verkleidung verwechseln – die „Larve“ ist schließlich seine naturgemäße
Beute. Deshalb wird sich der Dichter selbst zur Beute. Er jagt sich selbst.
Gleichzeitig evoziert das Bild der „Larve“ noch andere Assoziationen als
diejenige der Verkleidung und des Beutetiers. So bezeichnet die Larve in der
Zoologie die Zwischenform in der Entwicklung vom Ei zum adulten Stadium; die
Raupe ist beispielsweise die Larve des Schmetterlings, bevor er sich verpuppt.
Wenn die Sonnenstrahlen den Dichter als „Larve“ bezeichnen, so besitzt diese
Bestimmung demnach auch die positiv konnotierte Bedeutung der Transformati-
on. Schon in der Antike war der Schmetterling wegen seiner Metamorphose ein
Sinnbild der Wiedergeburt und Unsterblichkeit. Wenn die Sonnenstrahlen nun
erneut auf die rhetorische Frage („D a s – der Wahrheit Freier?“) antworten: „Nein!
Nur Narr! Nur Dichter!“,42 so könnte sich das Adverb („[n]ur“) folglich auch auf
den aktuellen, noch unerfüllten Larvenzustand beziehen, wobei ein darüber
hinausgehendes Stadium durch die im Begriff der ‚Larve‘ liegende Möglichkeit
zur Metamorphose in Aussicht gestellt wird. Das durch Sperrdruck hervorgeho-
bene Demonstrativpronomen („D a s “), welches der darauf folgende Gedanken-
strich noch verstärkt, bezieht sich auf das eben beschriebene Raubtier-Larven-
Beute-Motiv und betont den rhetorisch zugespitzten Kontrast von Dichter und
Philosoph zusätzlich.

41 „Nie sah mein Auge etwas so Buntgesprenkeltes! […] Mit fünfzig Klexen bemalt an Gesicht und
Gliedern: so sasset ihr da zu meinem Staunen ihr Gegenwärtigen! / Und mit fünfzig Spiegeln um
euch, die eurem Farbenspiele schmeichelten und nachredeten! / Wahrlich, ihr könntet gar keine
bessere Maske tragen, ihr Gegenwärtigen, als euer eignes Gesicht ist! Wer könnte euch – e r k e n -
n e n ! / Vollgeschrieben mit den Zeichen der Vergangenheit, und auch diese Zeichen überpinselt
mit neuen Zeichen: also habt ihr euch gut versteckt vor allen Zeichendeutern! / Und wenn man
auch Nierenprüfer ist: wer glaubt wohl noch, dass ihr Nieren habt! Aus Farben scheint ihr
gebacken und aus geleimten Zetteln.“ (Za II Vom Lande der Bildung, KSA 4, 153, 11–27).
42 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 372, 3 f.

Nur Narr, nur Dichter? 281

Im zweiten Bild der Strophe wird die Verbindung des Dichters mit dem
„Thier“ von der Gleichsetzung von Dichter und Narr abgelöst. Der Narr kommt als
Symbolfigur im Zarathustra zweimal vor.43 So tritt in der Vorrede ein „bunter
Gesell“44 auf, den Zarathustra als einen „Possenreisser“ identifiziert. Er ist für den
tödlichen Sturz des Seiltänzers auf dem Marktplatz verantwortlich, auf dem
Zarathustra seine erste Rede hält. Dieser „bunte[ ] Gesell“ warnt Zarathustra vor
der Volksmenge und droht, am nächsten Tag ihn in den Tod zu stürzen, sollte
Zarathustra nicht die Stadt verlassen.45 Zum zweiten Mal kommt die Symbolfigur
des Narren im dritten Teil vor: Als Zarathustra zum Gebirge zurückkehren will,
begegnet ihm „ein schäumender Narr“, den die Menge „den Affen Zarathustra’s“
nennt,46 weil er dessen Reden imitiert. Er warnt Zarathustra vor „der g r o s s e n
S t a d t “,47 in der alle Menschen kleinlich seien, an Tugenden wie an Lastern.
Zarathustra aber unterbricht seinen „Affen“, nennt ihn sein „Grunze-Schwein“
und beklagt, dass das „Grunzen“ ihm sein „Lob der Narrheit“ verderbe.48 Darauf-

43 Während der Narr im Lied der Schwermuth durch das abwertende „Nur“ (Za IV, KSA 4, 372, 4)
negativ konnotiert ist und die im Zarathustra auftauchenden Narren mindestens in der Kritik zu
stehen scheinen, fällt dem gegenüber die häufig positive Wertung des Narren in Nietzsches
Philosophie auf, gerade wenn es um den Zusammenhang zwischen Dichtung und Narrentum
geht. So heißt es in der Fröhlichen Wissenschaft: „Als ästhetisches Phänomen ist uns das Dasein
immer noch e r t r ä g l i c h , und durch die Kunst ist uns Auge und Hand und vor Allem das gute
Gewissen dazu gegeben, aus uns selber ein solches Phänomen machen zu k ö n n e n . Wir müssen
zeitweilig von uns ausruhen, dadurch, dass wir auf uns hin und hinab sehen und, aus einer
künstlerischen Ferne her, ü b e r uns lachen oder ü b e r uns weinen; wir müssen den H e l d e n und
ebenso den N a r r e n entdecken, der in unsrer Leidenschaft der Erkenntniss steckt, wir müssen
unsrer Thorheit ab und zu froh werden, um unsrer Weisheit froh bleiben zu können! Und gerade
weil wir im letzten Grunde schwere und ernsthafte Menschen und mehr Gewichte als Menschen
sind, so thut uns Nichts so gut als die S c h e l m e n k a p p e : wir brauchen sie vor uns selber – wir
brauchen alle übermüthige, schwebende, tanzende, spottende, kindische und selige Kunst, um
jener F r e i h e i t ü b e r d e n D i n g e n nicht verlustig zu gehen, welche unser Ideal von uns
fordert.“ (FW 107, KSA 3, 464, 23–465, 8). Groddeck, Friedrich Nietzsche „Dionysos-Dithyramben“,
Bd. 2, S. 3, verweist auf die lexikalische Polysemie des Narrenbegriffs: „Die ‚nachweislich älteste
bedeutung‘ ist: ‚eine verrückte, irrsinnige und überhaupt geisteskranke, an einer fixen idee
leidende person‘. Moralisch gewendet konnte ‚Narr‘ aber auch der ‚gottlose‘ bedeuten; jedoch
auch ‚spötter‘, ‚lustige person, spaszmacher‘ und ‚schalk‘ (der oft ‚sehr witzig und klug‘ ist), oder
dann wieder ‚Narr‘ als ‚gegensatz zu einer weisen, witzigen, vernünftigen person‘. Schließlich ist
für das Verständnis von ‚Narr‘ in diesem Gedicht, wo expressis verbis von der ‚Wahrheit‘ die Rede
ist, ein bekanntes Stichwort erinnernswert: ‚Kinder und Narren sagen die Wahrheit‘.“
44 Za Vorrede 6, KSA 4, 21, 13.
45 Vgl. Za Vorrede 8, KSA 4, 23, 14–30.
46 Za III Vom Vorübergehen, KSA 4, 222, 6 u. 8.
47 Za III Vom Vorübergehen, KSA 4, 222, 5.
48 Za III Vom Vorübergehen, KSA 4, 224, 26 f.  
282 Natalie Schulte

hin lässt er Stadt und Narren hinter sich, ohne jedoch darauf zu verzichten, der
Narrengestalt noch einen Ratschlag mit auf den Weg zu geben: „[W]o man nicht
mehr lieben kann, da soll man – v o r ü b e r g e h n ! –“49
Beide Narrenfiguren leben als Außenseiter in der Menge. Zwar sprechen
beide von der Menge als würden sie nicht dazugehören, dennoch sind sie ihr zu
Diensten; der „Possenreisser“ durch sein gewagtes, rücksichtsloses Schauspiel,
der „Affe[ ] Zarathustra’s“, indem er die Menge durch seine Persiflagen unterhält.
Gekennzeichnet ist der Narr üblicherweise durch seine bunte, schrille Verklei-
dung, die auch in der zweiten Strophe des Gedichts thematisiert wird: „Nur
Buntes redend, / Aus Narren-Larven bunt herausschreiend“.50 Bunt zu sein
erscheint als Gegenteil von Authentizität und korrespondiert der Verkleidung,
aus welcher der Narr herausschreit. Das Schreien bzw. die exaltierte Rede kenn-
zeichnen auch den „Affen Zarathustra’s“. Die Fähigkeit zur Besinnung scheint
dem Narren abzugehen, das Bedürfnis zu schreien entspringt dem Wunsch,
gehört zu werden, bzw. der Angst, nicht gehört zu werden. Auch die folgenden
Verse der zweiten Strophe charakterisieren den Dichter-Narren:

Herumsteigend auf lügnerischen Wort-Brücken,


Auf bunten Regenbogen,
Zwischen falschen Himmeln
Und falschen Erden,
Herumschweifend, herumschwebend, –51

In diesen Versen reiht der Zauberer verschiedene Symbole aneinander: Die Brü-
cke als Symbol der Verbindung von Gegensätzen und der Überwindung von
Abgründen wird freilich abgewertet und als „lügnerisch[ ]“ enttarnt. Der Regen-
bogen52 als Symbol des Bundes zwischen Gott und Mensch ist hier nur eine
Verbindung zwischen „falschen Himmeln […] [u]nd Erden“. Der alte Topos vom
Dichter als Mittler zwischen Gott und Mensch wird ad absurdum geführt, denn der
Dichter bewege sich grundsätzlich in den falschen Sphären, jenseits wie diesseits.
So kann er keine Verbindung zum Himmlischen, zum Göttlichen schaffen und
auch keine Verbindung zum Irdischen: Vom Menschlichen wie vom Göttlichem
ist er gleichermaßen ausgeschlossen, obwohl seine Worte das Gegenteil vorspie-

49 Za III Vom Vorübergehen, KSA 4, 225, 13–15.


50 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 372, 5 f.

51 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 372, 7–11.


52 Zum Symbolgehalt des Regenbogens heißt es in NK 6/2, 664: „Der Regenbogen ist in der Bibel
das Zeichen des Bundes, den Gott mit den Menschen geschlossen hat und insofern ein Zeichen
des Heils, siehe Genesis 9, 13–15: ‚Meinen Bogen habe ich gesetzt in die Wolken, der soll das
Zeichen seyn des Bundes zwischen mir und der Erde.‘“
Nur Narr, nur Dichter? 283

geln. Der vorletzte Vers der Strophe („Herumschweifend, herumschwebend, –“)


verbindet den Dichter-Narren mit dem Dichter-Tier, wobei dieses nicht mehr nur
als „schleichendes“,53 sondern auch als „herumschwebend[es]“, folglich als flie-
gendes Raubtier erscheint. Der letzte Vers der Strophe wiederholt das Urteil der
Sonnenstrahlen, dem zufolge das lyrische Du „[n]u r N a r r ! [n]u r D i c h t e r !“54
sei.
Die dritte Strophe beginnt abermals mit der rhetorischen Frage, ob das
lyrische Du ein ‚Freier der Wahrheit‘ sei. Es folgt allerdings keine direkte Antwort,
vielmehr wird die Vorstellung einer ‚göttlichen Wahrheit‘ mit Bildern archaisch-
urwäldlicher Grausamkeit kontrastiert. Das lyrische Du sei als Dichter kein gött-
liches Sprachrohr und werde folglich nicht wie ein Prophet verehrt. Man verewige
es nicht als Tempelstatue, als eines „Gottes Thürwart“.55 Der Dichter sei gerade in
der Gegensphäre solchen Götterkults beheimatet, nämlich in der Wildnis. Er
bejahe seine Raubtierhaftigkeit, sei gesund, schön und selig. Dass der Dichter den
Gegensatz einer solchen ‚Wahrheit‘ darstellt, die als „still, starr, glatt, kalt“
bezeichnet wird,56 ist folglich seinem Wesen geschuldet:

Nein! Feindselig solchen Wahrheits-Standbildern,


In jeder Wildniss heimischer als vor Tempeln,
Voll Katzen-Muthwillens,
Durch jedes Fenster springend
Husch! In jeden Zufall.57

Die beiden Komposita „Wahrheits-Standbilder[ ]“ und „Katzen-Muthwillen[ ]“


stehen einander antithetisch gegenüber. Der Dichter, der schon in der zweiten
Strophe als Tier bezeichnet wurde, wird hier zur Katze, zu der auch die vorherigen
Beschreibungen passen („listig[ ]“, „raubend[ ]“, „schleichend[ ]“). Die Katze gilt
im Volksglauben als ambivalentes Tier: Sie wird mit der Zauberei in Verbindung
gebracht, ihr werden neun Leben zugesprochen und sie fungiert (etwa als
‚schwarze Katze von links‘) als Bote drohenden Unglücks. Die Katze ist zwar ein
domestiziertes Tier, gilt aber gleichzeitig als nicht dressierbar, als eigenwillig und
neugierig. Das Springen durch „jedes Fenster“58 scheint eine Bewegungsrichtung
anzudeuten, die weg von der Zivilisation und hin zur Natur führt. Diese Aus-
richtung bringt auch das folgende Verspaar zum Ausdruck: „Jedem Urwald zu-

53 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371, 24.


54 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 372, 12.
55 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 372, 18.
56 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 372, 14.
57 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 372, 19–23.
58 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 372, 22.
284 Natalie Schulte

schnüffelnd, / Süchtig-sehnsüchtig zuschnüffelnd“.59 Die Katze zieht es zurück in


die Wildnis. Dort angelangt verwandelt sich die Hauskatze in eine Raubkatze,
und sie passt sich ihren Artgenossen an: „Dass du in Urwäldern / Unter bunt-
gefleckten Raubthieren / Sündlich-gesund und bunt und schön liefest“.60 Erst im
letzten Drittel der dritten Strophe wird das lyrische Du wieder direkt angespro-
chen, sodass erst hier das Dichter-Du und die Katze, die in die Wildnis zurück-
kehrt, ausdrücklich gleichgesetzt werden. Zwar verläuft die Verwandlung der
Katze bzw. des lyrischen Du zum Raubtier implizit, aber das Signalwort ‚bunt‘
weist deutlich auf die Identität von dichterischem Du und (Raub-)Katze hin.
Die Rückkehr zur Wildnis erscheint aus zivilisatorischer Sicht als Rückfall, für
die Katze selbst jedoch bedeutet sie Gesundung. Sie wird wieder ganz Tier und gibt
sich genussvoll ihren Raubtierinstinkten hin: „Mit lüsternen Lefzen, / Selig-höh-
nisch, selig-höllisch, selig-blutgierig, / Raubend, schleichend, lügend liefest“.61
Die Seligkeit, welche das lyrische Du in der Wildnis findet, ist nicht nur jeder
himmlischen entgegengesetzt, sondern explizit als „höllisch“ gekennzeichnet. Die
vitalistisch besetzte Dschungellandschaft wird so auch unter Beibehaltung des
theologischen Vokabulars von den monotheistisch gezeichneten „Wahrheits-
Standbildern“ abgegrenzt. Der letzte Vers („Raubend, schleichend, lügend“) ver-
knüpft die dritte Strophe motivisch eng mit der zweiten („listig[ ]“, „raubend[ ]“,
„schleichend[ ]“), wobei die Ersetzung von ‚listig‘ durch ‚lügend‘ sowie die Final-
stellung von ‚lügend‘ ebendiese Zuschreibung besonders betonen.
Die Rede der Sonnenstrahlen, die in der zweiten Strophe noch höhnisch
ausfällt, gewinnt in der dritten Strophe an Ambivalenz. Die Vorstellung einer
‚göttlichen Wahrheit‘, die nur „still, starr, glatt, kalt“ wirkt, erscheint vor dem
Hintergrund der „selig“-machenden, archaischen Wildnis wenig erstrebenswert.
Und wenn „der Wahrheit Freier“ letztlich nur eines „Gottes Thürwart“ wäre, so
wirkt der Entschluss des lyrischen Du, in den Dschungel zurückzukehren, wo es
sofort zu genesen und schön zu werden beginnt, sicher gerechtfertigt. Der Spott,
den das Dichter-Du mit der Zuschreibung tierischer Attribute zunächst erntet,
unterbleibt in der dritten Strophe; stattdessen mutet die Raubtier-Existenz hier
wie eine Befreiung an. Andererseits stellen die letzten Verse der Strophe diesen
Eindruck gleich wieder infrage: Die Beibehaltung des theologischen Vokabulars
bindet das lyrische Du – wenn auch ex negativo – an den monotheistischen
Kosmos, was eine vollständige Emanzipation von diesem Bereich unmöglich
macht. Möglicherweise nehmen die sprechenden Sonnenstrahlen eine Verteidi-

59 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 372, 24 f.


60 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 372, 26–28.


61 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 372, 29–31.
Nur Narr, nur Dichter? 285

gung, die das lyrische Du gegen ihre Vorwürfe vorbringen könnte, aber auch nur
vorweg, um schließlich die Haltlosigkeit dieser möglichen Verteidigung am Ende
der Strophe zu enttarnen; denn das lyrische Du bleibt ein ‚lügendes Tier‘ und
damit vielleicht ein Mensch, der sich nur vorzumachen versucht, ein Raubtier zu
sein, um in eine ursprüngliche, tierische Existenz zurückzukehren, die längst
unwiederbringlich verloren ist.
Die alternative Charakterisierung des Dichter-Du als „Adler“62 bestimmt die
vierte Strophe des Gedichts. In Analogie zum Jagdverhalten des Greifvogels wird
die scharfsinnige Beobachtungsgabe des Dichters herausgestellt, der plötzlich
aus großer (geistiger) Höhe herabschießt und seine Beute, die am Boden leben-
den „Lamms-Seelen“,63 packt und erlegt. Die Beziehung zwischen ‚Adler‘ und
‚Beute‘ wird dabei als ambivalent beschrieben: Einerseits hasse das Dichter-Du
die „Lämmer“,64 die Schwachen, Wehrlosen und Mitleidigen der Gesellschaft;
andererseits sei es „lüstern“65 nach ihnen, sie stellen seine ‚Nahrungsquelle‘,
mithin den Gegenstand seiner Dichtung dar.
Die ersten zwei Verse der vierten Strophe dienen der Abgrenzung von der
Raubkatzen-Metaphorik: „Oder, dem Adler gleich, der lange, / Lange starr in
Abgründe blickt, / In s e i n e Abgründe: – –“.66 Der Eindruck der Bewegungslosig-
keit wird durch die Wiederholung des Endwortes des ersten Verses am Anfang
des zweiten evoziert, durch das Adjektiv ‚starr‘ verstärkt und schließlich noch
durch den Nachklang, der durch die zwei Gedankenstriche erzeugt wird, gestei-
gert. Der Adler ist nicht zuletzt ein Symboltier Zarathustras und wird von diesem
als das „stolzeste Thier unter der Sonne“ bezeichnet.67 Er steht somit für Erhaben-
heit und, seinem Status als Greifvogel entsprechend, für den überlegenen (und
räuberischen) Geist. Während die Charakterisierung des Dichters als Raubkatze
womöglich der leiblich-naturhaften Seite des Menschen zugeordnet werden kann,
gilt der Vergleich mit dem Adler dem geistigen Bereich. Sinnfällig ist, dass das
Dichter-Du jeweils mit Raubtieren verglichen wird, die keine natürlichen Feinde
besitzen und an der Spitze der Nahrungspyramide stehen.
Der „[l]ange starr[e]“68 Blick des Adlers ist doppeldeutig: Auf der Bildebene
scheint der Adler auf einem Felsen zu sitzen und auf der Suche nach Beute in die
Tiefe zu spähen. Auf der Sinnebene erscheint der Blick nach unten allerdings

62 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 372, 32.


63 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 12.
64 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 9.
65 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 11.
66 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 372, 32–373, 2.
67 Za I Vorrede 10, KSA 4, 27, 16; vgl. auch Za IV Der hässlichste Mensch, KSA 4, 332, 1 f.

68 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 1.


286 Natalie Schulte

nicht als Blick in einen physischen Abgrund, sondern als Introspektion. Der
Adler-Dichter blickt in „s e i n e Abgründe“, die sich immer weiter „[h]inunter,
hinein / In immer tiefere Tiefen ringeln! –“69 Implizit präsent wird dadurch das
Bild der Schlange, dem zweiten Begleittier Zarathustras, das mit Weisheit kon-
notiert ist.70 Der Adler steht zunächst metaphorisch für den introspektiven Teil
des Dichters. Der nur scheinbar äußere Blick, der eigentlich ins eigene Innere
geht, ist auch bedeutend für die zweite Hälfte des Gedichts. Von einem Moment
auf den anderen ändert sich das Bild des beobachtenden Adlers. Es wird dyna-
misch und zeigt den Jagdflug des Raubvogels, der seinerseits graphisch durch das
Schriftbild der zweiten Strophenhälfte veranschaulicht wird, das einen aufwärts
gerichteten Pfeil zeigt:71

Dann,
Plötzlich, geraden Zugs,
Gezückten Flugs,
Auf Lämmer stossen,
Jach hinab, heisshungrig,
Nach Lämmern lüstern,
Gram allen Lamms-Seelen.72

Auf der Bildebene bewegt sich also der Adler in einem Sturzflug nach unten, um
Beute zu machen. Lämmer gehören zu den natürlichen Beutetieren beispielsweise
von Steinadlern. Dem lyrischen Du wird aber kein Jagdinstinkt unterstellt, viel-
mehr wird ihm ein doppeldeutiges Verhältnis zu den „Lämmern“ attestiert, das
zwischen Begierde und Ablehnung schwankt und spezifisch menschlich, nicht
tierisch ist. Im religiösen Kontext steht das Lamm für das Opfertier und speziell
im Christentum symbolisch für Jesus Christus, der sich für die Menschen geopfert

69 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 2–5.


70 Die immer tiefer sich ringelnden Abgründe, welche die Vorstellung der Unendlichkeit und
einer kreisförmigen Wiederholung aufrufen, assoziieren zugleich Zarathustras „abgründliche[n]
Gedanken“ (Za III Von der Seligkeit wider Willen, KSA 4, 205, 21) – den Gedanken der ‚ewigen
Wiederkunft‘.
71 Die graphische Gestaltung der Zeilen als Pfeil bzw. Dreieck wird in den Dionysos-Dithyramben
gegenüber dem Zarathustra-Gedicht noch hervorgehoben, indem der achte Vers („Plötzlich,
geraden Zugs“) zweigeteilt wird, sodass nun der achte Vers länger ist als der siebte, der neunte
länger ist als der zehnte usw. (vgl. DD Nur Narr! Nur Dichter!, KSA 6, 379, 8–17). Diese graphische
Veranschaulichung erinnert, wie bereits Groddeck erkennt, „an die manieristische Tradition“. Die
Veränderung zwischen den beiden Texten lasse eine „stilistische Absicht erkennen, die auf die
graphische Verdeutlichung des Gedichts zielt“ (Groddeck, Friedrich Nietzsche „Dionysos-Dithy-
ramben“, Bd. 2, S. 5).
72 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 6–12.
Nur Narr, nur Dichter? 287

hat (agnus dei). Nicht zuletzt ist Gott in der Bibel der Hirte, der seiner Schafherde
vorangeht.
Die Lämmer können so im Gedicht als Symbol für die Gemeinschaft der
Gläubigen verstanden werden, auf die sich das lyrische Du wie der Adler auf seine
wehrlose Beute stürzt. Andererseits wird der Abgrund, in den der Adler vor
seinem Sturzflug blickt, als der eigene beschrieben. Da der Greifvogel folglich in
‚seinen eigenen‘ Abgrund zu stoßen scheint, repräsentieren die Lämmer offenbar
auf einer weiteren Verständnisebene auch Eigenschaften des lyrischen Du, die es
an sich hasst und vernichten will. Das geschieht mit einer gewissen Lüsternheit,
die als Genuss an der eigenen Selbstzerstörung, als Masochismus verstanden
werden kann. Diese Doppelung von Raub- und Beutetier würde wiederum der
zweiten Strophe entsprechen, in der das Raubtier, das in sich die Larve sieht, sich
„selbst zur Beute“ wird.73 Berücksichtigt man gleichzeitig die Bedeutung des
Lamms als Teilhaber an der Gemeinschaft der Gläubigen, offenbart sich ebendie-
se Teilhabe als Motiv des Selbsthasses. Der Adler vertritt demnach die starke und
räuberische Seite des Dichter-Du, welche die andere, die schwache, gläubige und
mitleidende Seite zu erlegen strebt. Diese Deutung korreliert mit den vorher-
gehenden Strophen: Beschreibt ein nicht näher bestimmbarer Sprecher zunächst
die Sehnsucht eines lyrischen Du nach himmlischem Trost, treten schon bald die
„Sonnen-Gluthblicke“74 einer abstrakten Erkenntnis auf und verhöhnen das Du,
das niemals Hüter einer absoluten Wahrheit sein könne, weil es nur ein Dichter
ist. Der Dichter aber sei ein „Thier, [… d]as lügen muss“,75 und nur unter der
Voraussetzung des Selbstbetrugs gesunden und schön werden kann. Sieht der
Dichter in sich selbst hinein, erkennt er indes die nach wie vor bestehende
Zugehörigkeit zur Gemeinschaft. Die starke Seite seiner selbst macht daher Jagd
auf die schwache, um sich ein für alle Mal emanzipieren zu können.
Die letzten drei Verse der vierten Strophe charakterisieren die als Lämmerher-
de vorgestellte Gemeinschaft aus der Sicht ihres ‚Jägers‘: „Grimmig-gram Allem,
was blickt / Schafmässig, lammäugig, krauswollig, / Grau, mit Lamms-Schafs-
Wohlwollen!“76 Der adlergleiche Blick des lyrischen Du, unbeweglich in sich
selbst hinein gerichtet, ist dem naiv-dummen, gutmütigen Schafsblick gegen-
übergestellt. Je nach Perspektive können die Schafe einerseits als Gruppe bezeich-
net werden, aus welcher der Adler ausgeschlossen ist und zu der er nur in einem
Raubtier-Beute-Verhältnis stehen kann; andererseits lässt sich das Verhältnis

73 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 372, 2.


74 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371, 21.
75 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371, 24 f.

76 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 13–15.


288 Natalie Schulte

zwischen Adler und Lämmern als ein solches vorstellen, in dem die Lämmer den
vom Adler selbst verachteten Teil seines Innenlebens repräsentieren.
Die aus nur fünf Versen bestehende fünfte Strophe ist die bislang kürzeste
des Gedichts und stellt ein Resümee der vier vorangegangenen Strophen dar.
Erneut wird das lyrische Du direkt angesprochen; explizit werden die „unter
tausend Larven“ versteckten, animalischen „Sehnsüchte“ ihm zugeschrieben.77
Das lyrische Du wirkt als Dichter entlarvt; wie eine Beschimpfung nimmt sich der
die Strophe abschließende Ausruf aus: „Du Narr! Du Dichter!“78 Den resümieren-
den Charakter der Strophe zeigt das einleitende Adverb „Also“79 direkt an. Es ist
aber auch Bestandteil der obligatorischen Schlussformel jedes Zarathustra-Kapi-
tels; die Verwendung im Lied des Zauberers wirkt daher auch imitatorisch –
zumal die Formel unmittelbar vor dem Einsetzen des Liedes für den Zauberer
verwendet wird.80 Die enttarnende Bezeichnung als „[a]dlerhaft, pantherhaft“81
impliziert, dass der Dichter ein grundverschiedenes Selbstbild besitzt. Im vierten
Vers der fünften Strophe werden folglich die Sehnsüchte des Dichters mit denen
des Du gleichgesetzt. Das hervorgehobene Possessivpronomen, das sich auf die
Sehnsüchte des lyrischen Du bezieht, betont die direkte Anrede, die in der
Strophe zuvor gefehlt hat. Das Wort „Sehnsüchte“82 macht auch den Zwang
deutlich, unter dem der Dichter steht. Es zieht ihn unwiderstehlich zurück in die
‚Wildnis‘, ins ursprüngliche Leben. Das Urteil („Du Narr! Du Dichter!“)83 enthält
aber nicht die Schlussfolgerung, dass das lyrische Du bereits Raubtier sei. Was es
zum „Narren“ und „Dichter“ zu machen scheint, ist möglicherweise nichts ande-
res als seine Unfähigkeit, das eigene Wesen und die eigenen Wünsche anzuer-
kennen.
In der sechsten Strophe wird das lyrische Du wieder direkt angesprochen: Es
habe „den Menschen“ verstanden, indem es seine Doppelnatur als „Gott“ und
„Schaf“ erkannte.84 „Den Gott z e r r e i s s e n im Menschen“ kann Wunsch, Poten-
zial oder Pflicht des Du sein. Erst in der ersten Zeile der folgenden Strophe wird
dieses Zerreißen als die eigentliche „Seligkeit“ des lyrischen Du bestimmt: „D a s ,

77 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 19 u. 18.


78 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 20.
79 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 16.
80 Vgl. Za IV Das Lied der Schwermuth 2, KSA 4, 371, 5 f.: „Also sprach der alte Zauberer, sah

listig umher und griff dann zu seiner Harfe.“


81 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 17.
82 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 19.
83 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 20.
84 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 21 f.

Nur Narr, nur Dichter? 289

D a s ist deine Seligkeit!“85 Ebenso bestehe die Seligkeit des lyrischen Du darin,
das „Schaf im Menschen“86 zu zerreißen.
Die ersten zwei Verse („Der du den Menschen schautest / So Gott als
Schaf –:“)87 weisen nicht nur auf ein dualistisches Menschenbild hin, das der
Dichter erkannt hat, sondern üben auch Religionskritik: Wer den Menschen
schaut, schaut Gott und erkennt, so wird implizit angedeutet, was Gott ist,
nämlich eine Projektion des Menschen. Dass Gott im Symbol des Schafes auftritt,
impliziert einen Angriff auf die christliche Religion. Wenn der Sohn Gottes das
Lamm ist, das sich selbst opfern lässt, so ist Gott als sein Vater eben ein erwach-
senes Schaf bzw. ein Schafsbock. Der christliche Gott erscheint so dumm wie die
Gemeinschaft der Gläubigen, die der Dichter eigentlich jagen möchte. Die Er-
kenntnis, dass Gott ein Schaf im Menschen ist, führt zum Wunsch, diesen Gott als
Ausgeburt der eigenen Einfalt zu zerreißen. Und da die Projektion nirgendwo
anders existiert als in den Köpfen der Menschen, muss sie ebendort zerrissen
werden. Beim Zerreißen der Gottesvorstellung wird notwendigerweise das „Schaf-
mässig[e]“88 im Menschen, sein Wunsch nach Führung, nach Jenseits, nach
bequemer Rettung ebenfalls mitzerrissen. Das Zerreißen als Metapher führt zu-
rück zur Raubtierexistenz, die zuvor thematisiert wurde. Die schon in der vierten
Strophe zum Ausdruck gebrachte Möglichkeit, den anderen wie sich selbst die
Gottesvorstellungen auszutreiben, ist hier ebenfalls präsent. Zuletzt soll das
Zerreißen auf eine bestimmte Weise geschehen: Es soll dabei gelacht werden. Auf
dem durch Sperrdruck hervorgehobenen „[L]achen“89 liegt eine besondere Beto-
nung.90 Dabei bleibt ungeklärt, ob es sich bei diesem Lachen um ein höhnisches
Lachen angesichts einer unerträglichen Erkenntnis handelt oder um ein befreien-
des Lachen, das selbst dem schlimmsten Gedanken noch seinen Stachel zu
nehmen vermag.
Die siebte Strophe bestimmt die „Seligkeit“ des lyrischen Du als die eines
„Panthers und Adlers“, eines „Dichters und Narren“.91 Damit endet schließlich

85 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 26.


86 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 24.
87 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 21 f.

88 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 14.


89 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 25.
90 In der Geburt der Tragödie ist es der weise Silen, der – von König Midas gezwungen, dem
Menschen jene Wahrheit zu sagen, die zu hören ihm unerträglich ist – in ein gellendes Lachen
ausbricht (vgl. GT 3, KSA 1, 35, 18). Im Zarathustra ist es ein Hirte, der schließlich in Lachen
ausbricht, nachdem er der schwarzen Schlange (als Symbol der ‚ewigen Wiederkunft‘), die ihm in
den Schlund gekrochen ist, den Kopf abgebissen hat (vgl. Za III Vom Gesicht und Räthsel 2, KSA 4,
202, 18 f.).

91 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 27 f.



290 Natalie Schulte

die Rede der Sonnenstrahlen. Die beiden letzten Strophen umrahmen wie die
erste Strophe die direkte Rede der Sonnenstrahlen. Erneut wird in der achten
Strophe auf die vermeintliche Abenddämmerung angespielt, wenn der Mond als
Sichel unbemerkt während des Sonnenuntergangs aufgeht. Dieser Mond, „[a]n
Rosen-Hängematten / Hinsichelnd“,92 bis diese abwärts und zur Nacht hinsinken,
sei „dem Tage feind“.93 Diese düstere, unheimliche Abendstimmung erinnert das
lyrische Du an seine einstigen Sehnsüchte und Verzweiflungszustände.
In der letzten Strophe schließlich gibt sich das lyrische Du als lyrisches Ich zu
erkennen und vergleicht sein eigenes Absinken mit dem der „Rosen-Hängemat-
ten“:

So sank ich selber einstmals


Aus meinem Wahrheits-Wahnsinne,
Aus meinen Tages-Sehnsüchten,
Des Tages müde, krank vom Lichte,
– sank abwärts, abendwärts, schattenwärts.94

Die „Tages-Sehnsüchte[ ]“ des lyrischen Ichs erscheinen hier als pathologischer


Wunsch nach Wahrheit, der schließlich als „Wahrheits-Wahnsinne“ gedeutet
wird. Schließlich scheint sich das Ich vom Tag und von der Wahrheit abzukehren
und der Nacht, dem Mond, der Lüge zuzufallen, weil die erfahrene Wahrheit sich
als unerträglich erweist:

Von Einer Wahrheit


Verbrannt und durstig:
– gedenkst du noch, gedenkst du, heisses Herz,
Wie du da durstetest? –
Dass ich verbannt sei
Von a l l e r Wahrheit,
Nur Narr!
Nur Dichter!95

92 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 5 f. Das Bild der kommenden Nacht und des

Mondes ist ein typisches Sinnbild der romantischen Dichtung und wird von Nietzsche ironisch
durchkreuzt, indem, wie Groddeck feststellt, des „Monds Sichel“ „paronomastisch beim Wort
genommen“ werde (Groddeck, Friedrich Nietzsche „Dionysos-Dithyramben“, Bd. 2, S. 36).
93 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 374, 3.
94 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 374, 8–12.
95 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 374, 13–20.
Nur Narr, nur Dichter? 291

Die unerträgliche Wahrheit, an der sich das lyrische Ich verbrennt, ist die Er-
kenntnis, dass es von aller Wahrheit verbannt sei. Lüge und nächtlicher Traum
erscheinen damit als Notwendigkeit der Dichtexistenz.

3
Das Lied der Schwermuth erweist sich als Selbstanklage eines Dichters, der
erkennt, dass er nicht sein kann, was er immer sein wollte. Im Versuch, „der
Wahrheit Freier“96 zu werden, hat er andere wie sich selbst betrogen; so führt
seine Suche nach Wahrheit schließlich dazu, dass die Sonne, ein traditionelles
Symbol der Wahrheit, ihn verbrennt. Sie offenbart ihm sein eigentliches Wesen
und entlarvt ihn gerade als Gegenspieler jedes Wahrheitssuchenden.
Als Dichter ist er jemand, der zur Mitteilung notwendig des Wortes bedarf.
Aber vielleicht sind Wörter der Wahrheit nicht angemessen, denn die Wörter
verkürzen die Wahrheit auf das, was an ihr mitteilbar ist. Die „lügnerischen Wort-
Brücken“ und „bunten Regenbogen“ zeigen die Unmöglichkeit an, irgendetwas
unmittelbar mitteilen zu können.97 Zudem ist Dichtung per se einem statischen
Wahrheitsbegriff entgegengesetzt. Sie verändert sich als dynamisches Sprach-
spiel unausgesetzt; damit ändern sich zugleich ihre Inhalte und ‚Wahrheiten‘. Die
dichterische Verherrlichung kann schön sein, sie kann gesund sein, sie kann
verführen, aber damit ist sie über die bloße Darstellung einer Wahrheit immer
schon hinaus.
Sowenig der Dichter ein Mittler der Wahrheit sein kann, kann er der Herde als
Hirt, der Gemeinschaft als Führer vorangehen. Er ist nicht Teil einer Herde,
sondern ihr Feind. Seine Veränderlichkeit, seine Scharfsicht (auch im Hinblick
auf das Abgründige) und sein Suchen nach immer neuen Wahrheiten widerspre-
chen dem Bedürfnis der ‚Herdenmenschen‘ nach Gewissheit und Bequemlichkeit.
Letztlich vermag sich der Dichter allerdings nicht dauerhaft zu betrügen.
Selbst wenn er versucht, Gott zu verherrlichen, weiß er doch stets, woher das
Motiv der Verherrlichung stammt – nämlich aus ihm selbst. Damit wird Gott als
menschliche Projektion enttarnt. Der Widerstreit zwischen der Suche des Dichters
nach einer göttlichen Wahrheit und seiner Erkenntnis, dass es sich bei dieser
lediglich um eine Projektion handelt, erreicht schließlich seinen Höhepunkt in
dem Wunsch des Dichters, Gott zu zerreißen, seinen eigenen Glauben wie den der
anderen zu vernichten.

96 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 372, 3.


97 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 372, 7 f.

292 Natalie Schulte

An diesem Widerspruch geht der Dichter zugrunde. Er kann die Wahrheit, die
nicht mehr göttlich ist und die von ihm selbst allein gerechtfertigt werden müsste,
nicht ertragen, weil sie nicht das Kriterium zu erfüllen vermag, das er von der
Wahrheit verlangt: das Kriterium der Ewigkeit bzw. Unveränderlichkeit. Wie es
der Dichter auch dreht und wendet, er ist von der ‚ewigen Wahrheit‘ ausgeschlos-
sen, weil aus ihm immer nur eine persönliche Wahrheit sprechen kann. Die Wahr-
heitssuche scheint der Dichter angesichts ihrer Aussichtslosigkeit demnach auf-
zugeben, sie erscheint ihm selbst als Wahnsinn. Sinkt der Dichter also der Nacht
und damit seinen Träumen, seinen Visionen und Lügen zu, die nun nicht mehr
vom Drang zur Wahrheit bestimmt sind?
Am Ende heißt es wieder: „Nur Narr! / Nur Dichter!“ Die Sonnenstrahlen
hatten den Dichter so genannt, weil er nicht fähig ist, sich selbst zu erkennen.
Dass der Dichter am Ende des Gedichts die Wahrheit aufgibt, scheint mehr als
zweifelhaft zu sein, ist er doch gerade „Narr“, weil er sein will, was er nicht sein
kann.98 Würde er aber seine eigenen Schöpfungen anerkennen, so wären Schwer-
mut und Verzweiflung möglicherweise keine notwendigen Folgen mehr, und der
Dichter könnte sich selbst akzeptieren.

4
Dass das Ende des Gedichts nicht eine wirkliche Abkehr des lyrischen Ichs von
der Wahrheit und Wahrheitssuche bedeutet, scheint auch durch die Reaktion des
„Gewissenhafte[n] des Geistes“ bestätigt zu werden, der sich als einziger Zuhörer
des Zauberers dem „Netz seiner listigen und schwermüthigen Wollust“99 entzieht.
Während alle anderen von der Stimmung des Gedichts eingefangen sind und ihre
eigene Existenz möglicherweise darin gespiegelt sehen, erwidert der „Gewissen-
hafte des Geistes“:

98 Im Lied der Schwermuth wird das lyrische Du als Narr vorgestellt, der sich in einer unerträg-
lichen Situation befindet, in der er sich glauben machte möchte, was er nicht glauben kann.
Demgegenüber ist ein Narrentum denkbar, das, wie in der Fröhlichen Wissenschaft vorgestellt
(vgl. FW 106, KSA 3, 464 f.), befreiend wäre. Der erfüllte Dichter-Narr bejaht seine schöpferischen

Erfindungen, die ihn über den Ernst des Daseins und das Leiden am Dasein hinweg zu heben
vermögen. Er bejaht seine Täuschungen, Erfindungen, seine Leidenschaft und seine Leichtfertig-
keiten. Narr-Sein könnte so zur Bedingung werden, um ein Suchender von Wahrheiten zu werden,
ohne sich von diesen Wahrheiten erdrücken zu lassen. Indem das lyrische Ich sich in der fiktiven
Rede der Sonnenstrahlen aber nur als unerfüllter Narr wiederfindet, spricht er das vernichtende
Urteil über sich selbst aus und verkennt sein eigenes Potenzial, das ihn von seinem unerfüllten
Narren-Larven-Zustand zu dem befreiten Narren verwandeln könnte.
99 Za IV Von der Wissenschaft, KSA 4, 375, 3–5.
Nur Narr, nur Dichter? 293

Luft! Lasst gute Luft herein! Lass Zarathustra herein! Du machst diese Höhle schwül und
giftig, du schlimmer alter Zauberer!
Du verführst, du Falscher, Feiner, zu unbekannten Begierden und Wildnissen. Und
wehe, wenn Solche, wie du, von der W a h r h e i t Redens und Wesens machen!
Wehe allen freien Geistern, welche nicht vor s o l c h e n Zauberern auf der Hut sind!
Dahin ist es mit ihrer Freiheit: du lehrst und lockst zurück in Gefängnisse, –
– du alter schwermüthiger Teufel, aus deiner Klage klingt eine Lockpfeife, du gleichst
Solchen, welche mit ihrem Lobe der Keuschheit heimlich zu Wollüsten laden!100

Das Lied des Zauberers, so der „Gewissenhafte des Geistes“, verführe zum alten
Glauben an die ‚ewige Wahrheit‘. Zwar scheint der Dichter vom Auffinden dieser
Wahrheit ausgeschlossen zu sein, doch bleibt die Sehnsucht nach ihr seine
einzige Begierde. Wer diese Begierde aufgibt, so die Implikation der letzten
Strophe, fällt in die finstere Nacht. Tragischer und edler erscheint es dagegen,
weiterhin vergebens die Wahrheit zu suchen und ein „Narr“ zu bleiben.
Andererseits bleibt die Gegenrede des „Gewissenhafte[n] des Geistes“ unver-
ständlicher als sie auf den ersten Blick erscheinen mag, kreidet er doch dem
Zauberer an, dass dieser „zu unbekannten Begierden und Wildnissen“101 ver-
führe. Die Wildnis ist die Hauptmetapher der dritten Strophe, in der der Dichter
erkennt, dass sein Wesen einem unveränderlichen Wahrheitsbegriff entgegen-
gesetzt ist, weshalb er zurück zur Natur und zur Lebensform des Raubtiers strebt.
Das Problem des Dichters scheint nicht darin zu bestehen, dass er notwendiger-
weise lügen muss, sondern darin, dass er dies nicht anerkennen kann. Der
„Gewissenhafte des Geistes“ erkennt aber in dem Aufruf, in die Wildnis zurück-
zukehren, nicht einen Ausweg aus Melancholie und Verzweiflung; vielmehr er-
scheint ihm dieser Aufruf ebenfalls als Lockruf zurück ins Gefängnis. Dies wäre
nur dann nachvollziehbar, wenn die Wildnis selbst zu einem starren Bild, zur
letztgültigen Definition des Dichters würde, der sich eben nicht mehr unablässig
verändern kann.
Möglicherweise kann aber der „Gewissenhafte des Geistes“ auch deshalb die
Wildnis nicht als Lösung anerkennen, weil sie seinem eigenen Streben entgegen-
gesetzt ist. In seiner anschließenden Rede versucht er zu zeigen, dass er sich von
den anderen ‚höheren Menschen‘ unterscheidet. Diese suchen in Zarathustra
„m e h r U n s i c h e r h e i t , / – mehr Schauder, mehr Gefahr, mehr Erdbeben“, es
gelüstet sie „nach dem schlimmsten gefährlichsten Leben, das m i r [dem ‚Gewis-
senhaften des Geistes‘] am meisten Furcht macht, nach dem Leben wilder Thie-

100 Za IV Von der Wissenschaft, KSA 4, 375, 6–17.


101 Za IV Von der Wissenschaft, KSA 4, 375, 9 f.

294 Natalie Schulte

re“.102 Was ihnen am Lied des Zauberers gefallen habe, sei die gefährliche, weil
verführerische Botschaft, dass derjenige, der sich von der ‚göttlichen Wahrheit‘
abkehre, zur Hölle fahre. Zarathustra suche dagegen mehr Sicherheit – so wie
bisher die Menschheit immer aus Furcht vor der Unsicherheit Gewissheit gesucht
habe, weswegen der Mensch schließlich die Wissenschaft erfunden habe.
In dem Moment, als der „Gewissenhafte des Geistes“ seine letzten Worte
spricht, betritt Zarathustra wieder die Höhle. Er wirft „dem Gewissenhaften eine
Hand voll Rosen zu und lacht[ ] ob seiner ‚Wahrheiten‘“,103 denen er sofort wider-
spricht, indem er nicht die Furcht, sondern den Mut zur treibenden Kraft des
Menschen erklärt. Er spricht: „D i e s e r Muth, endlich fein geworden, geistlich,
geistig, dieser Menschen-Muth mit Adler-Flügeln und Schlangen-Klugheit: d e r ,
dünkt mich, heisst heute –“.104 Und die ‚höheren Menschen‘ antworten „wie aus
Einem Munde“: „Z a r a t h u s t r a “.105 Mit der Rede von „Adler-Flügeln und Schlan-
gen-Klugheit“ nimmt Zarathustra, auf seine Tiere anspielend, Metaphern aus dem
Lied des Zauberers auf, das er selbst nicht gehört hat.
So stellt sich die Frage nach dem Bezug zwischen dem lyrischen Ich des
Gedichts und Zarathustra. Zwar scheint der Zauberer vornehmlich von sich selbst
und seinen eigenen Erfahrungen zu sprechen, allerdings enthalten die Rede des
lyrischen Ichs und insbesondere die Rede der Sonnenstrahlen Anspielungen auf
Zarathustra.106 Nicht zuletzt hatte der Zauberer, bevor er zu seiner Harfe griff,
erklärt, er kenne Zarathustra, in dem eine „Heiligen-Larve“107 schlummere. Somit
wird Zarathustra in direkten Bezug zum folgenden Gedicht gesetzt; er erscheint
als der Dichter, der einst Gottes Wahrheit erfahren wollte108 und stattdessen
Gottes Tod erfuhr. Die Rede des Zauberers würde also Zarathustra als lügneri-
schen, verzweifelten Dichter enttarnen wollen, und doch gibt der Zauberer zu,
dass ein gewisser Geist aus ihm spreche, den auch Zarathustra kenne: der „Geist

102 Za IV Von der Wissenschaft, KSA 4, 376, 21 f. u. 25–27.


103 Za IV Von der Wissenschaft, KSA 4, 377, 11 f.


104 Za IV Von der Wissenschaft, KSA 4, 377, 21–23.


105 Za IV Von der Wissenschaft, KSA 4, 377, 24 f.  

106 Die Tiere Zarathustras kommen beide im Lied der Schwermuth vor: der Adler ausdrücklich,
die Schlange implizit. Auch kann man Zarathustra als Feind aller „Wahrheits-Standbilder[ ]“
bezeichnen (Za IV, Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 372, 19). Er wohnt in einer Höhle und zieht
die Gesellschaft der Tiere der menschlichen vor. Er ist demnach, wie der Adler, ein Außenseiter
und schaut gleich diesem in „s e i n e Abgründe“ (Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 2).
Er greift die Moral und die Glaubensvorstellungen seiner Mitmenschen an und wird ihnen damit
zum Feind.
107 Za IV Das Lied der Schwermuth 2, KSA 4, 370, 24.
108 Vgl. Za I Von den Hinterweltlern, KSA 4, 35–38.
Nur Narr, nur Dichter? 295

der Schwermut“,109 dessen eigentlicher Feind. Zarathustra, der als Befreiter und
Befreier von allen gesellschaftlichen und metaphysischen Werten auftritt, stellt
sich der Erkenntnis, dass es keine göttliche Rechtfertigung, keine ‚göttliche Wahr-
heit‘ mehr gibt. Mehr noch: Er vermag sogar den Gegensatz der ‚göttlichen Wahr-
heit‘ zu bejahen – den Gedanken der ‚ewigen Wiederkunft‘. Die Sonnenstrahlen
stellen den Dichter dagegen als Verzweifelten vor. Von der Erkenntnis, dass der
Dichter ein Lügner oder, positiv gewendet, ein Erfinder von Werten sei, führt kein
Weg zurück zu der einen, absoluten Wahrheit. Der Dichter muss verzweifeln, er
muss in die Nacht zurückfallen und sich in seinen Traum flüchten, weil er diese
Wahrheit, ein von der Wahrheit Verbannter zu sein, nicht erkennen darf.
Nun spricht Zarathustra wiederholt zur Sonne; er will gleich ihr, dem
„grosse[n] Gestirn“,110 den Menschen seine Geschenke darbringen. Der Mittag als
der Zeitpunkt, an dem der Tag am weitesten von der Nacht entfernt ist, an dem die
Sonne im Zenit steht und die Dinge den geringsten Schatten werfen, ist für
Zarathustra die Metapher für den vollkommen Augenblick, der alles rechtfertigt.
Dieser Vorstellung sind die versengenden Sonnenstrahlen im Lied des Zauberers
diametral entgegengesetzt.
Während Zarathustra im Werk selbst als bedingungslos Bejahender auftritt,
der nicht auf metaphysische und gesellschaftliche Sicherheiten angewiesen ist,
versucht der Zauberer in seinem Gedicht, Zarathustra als Scheiternden vorzustel-
len: als einen Dichter, dem die Überwindung der Wahrheit nicht gelingen kann.
Diese subtile Feindschaft wurde anhand der Einleitungsworte in der Rede des
Zauberers bereits angedeutet. Doch der Zauberer vermeidet eine direkte Aus-
einandersetzung mit Zarathustra; bereits im nächsten Kapitel inszeniert er sich
als Unterlegenen: Sein Gedicht sei gar nicht von ihm selbst gesprochen, sondern
von seinem „böse[n] Geist“,111 vor dem er seine Zuhörer gewarnt habe. Die Prä-
misse des Gedichts, der zufolge der Dichter nicht die Wahrheit sagen könne,
ähnelt somit stark dem berühmten Paradoxon vom Kreter, der behauptet, dass
alle Kreter lügen. Indem die Frage nach dem Stellenwert von Wahrheit im Medi-
um der für fragwürdig befundenen Dichtung artikuliert wird, wird sie letztlich –
wie so häufig im Zarathustra – wieder auf den Leser zurückgeworfen.

109 Za IV Das Lied der Schwermuth 2, KSA 4, 370, 30.


110 Za IV Das Zeichen, KSA 4, 405, 6.
111 Za IV Von der Wissenschaft, KSA 4, 377, 28.
Michael Buhl
Textstrategie und Performativität:
Dialogizität, Literarizität und
Polyperspektivität im Kontext von
Nietzsches Kommunikationstheorie

Abstract: Text strategy and performativity: Dialogicity, literariness and poly-


perspectivity in the context of Nietzsche’s theory of communication. The
main thesis of this paper is that Nietzsche’s writings are based on a specific
textual strategy. This will be shown by comparing published works with post-
humous fragments. Although similar and even partially identical issues are
addressed in these texts, the way they are presented formally varies significantly.
Whereas consistent argumentation can often be found in the posthumous frag-
ments, the published texts also usually contain performative aspects, due to their
composition. Thus, clear statements and positions are called into question, so
that the reader is forced to develop an individual perspective. Examples that
illustrate this are multi-perspectivism, namely the use of different competing
viewpoints, as well as the use of contradictions. These textual strategies corres-
pond to Nietzsche’s reflections on the theory of communication.

1 Nietzsches Widersprüchlichkeit
Nietzsches Schriften wird nicht selten Widersprüchlichkeit attestiert. Trotz strin-
genter Argumentation im Einzelnen lasse sich häufig kein schlüssiger Zusammen-
hang erkennen. Diese Feststellung ist auf einer gewissen Ebene sicherlich zutref-
fend. Selbst innerhalb eines Werkes, zum Teil sogar innerhalb eines einzelnen
Textabschnitts lassen sich zweifelsohne widersprüchliche Positionen aus-
machen, die auch nicht aufgelöst werden. Behauptungen werden aufgestellt und
später wieder verworfen; abweichende Positionen werden diskutiert, ohne eine
klar als zutreffend zu markieren; am Ende einer schlüssigen Darlegung folgt nicht
selten eine Frage, ein Gedankenstrich, ein offener Schluss, der das Vorige wieder
in Zweifel zieht.
Zugleich scheint es in Anbetracht der Sprachfertigkeit und des kompositori-
schen Geschicks Nietzsches unwahrscheinlich, dass er sich dieser Widersprüch-
lichkeit nicht bewusst ist. Sicherlich ist es denkbar, dass ein Autor eine Formulie-
rung wählt, weil er sich nicht anders ausdrücken konnte. Im Falle Nietzsches

DOI 10.1515/9783110474374-013
298 Michael Buhl

scheint dies allerdings kaum glaubhaft. Zumindest soll im Folgenden davon aus-
gegangen werden, dass hinter der Komposition eine klare Intention steckt und
dass Nietzsche mit Absicht genau so schreibt, wie er es tut.
Nietzsches Schreibweise lässt sich, im Anschluss an Wolfgang Iser, auf ihre
Textstrategie hin untersuchen. Den folgenden Ausführungen liegt also die An-
nahme zugrunde, dass seine Textkompositionen einen bestimmten Zweck erfül-
len und dass er geeignete Mittel wählt, um diesen Zweck zu erreichen. Besondere
Beachtung verdient hier die Funktion der ‚literarischen‘ Schreibweise, die Nietz-
sches Werke von denjenigen vieler anderer philosophischer Autoren unterschei-
det. Auffällig ist ferner, dass sich – gerade in den mittleren und späteren
Werken – argumentative Passagen mit Dialogen, Kurzdramen und Gedichten
abwechseln. Besonders dieser Wechsel soll unter dem Gesichtspunkt der Text-
strategie untersucht werden.
Die literarischen Abschnitte lassen sich von den argumentativen Abschnitten
mit Jurij Lotmans Konzept semantischer Räume unterscheiden. Die Bezeichnung
‚literarisch‘ ist insgesamt problematisch, weil sich keine klare, scharfumrissene
Definition formulieren lässt.1 Nach Lotman lassen sich jedoch solche Texte, die er
‚wissenschaftlich‘ nennt, von künstlerischen und literarischen Texten auf folgen-
de Weise unterscheiden: In wissenschaftlichen Texten wird ein semantisches Feld
durch ein anderes ersetzt, während sich künstlerische Texte durch eine Paralleli-
tät mehrerer semantischer Felder auszeichnen. Während also im wissenschaftli-
chen Text eine konkurrierende Position als falsch erkannt und durch eine andere
ersetzt wird, kann in künstlerischen Texten der Opponent niemals vollständig
‚besiegt‘ werden: Der böse Wolf kann nicht als ‚falsch‘ widerlegt werden, sondern
gehört wesentlich zum Rotkäppchen, während das heliozentrische Weltbild das
geozentrische vollständig ersetzt. „Wissenschaftliche Wahrheit existiert in jeweils
einem semantischen Feld, künstlerische gleichzeitig in mehreren“, so Lotman.2
Diese Unterscheidung in ‚wissenschaftlich‘ und ‚künstlerisch‘ ist sicherlich
nicht unproblematisch. Spätestens seit Hayden White dürfte klar sein, dass fak-
tuale und fiktionale, ‚wissenschaftliche‘ und ‚literarische‘ Textgattungen nicht

1 Meines Wissens gibt es bis heute keine gültige Definition davon, was literarisches Schreiben
konkret ausmacht. Versuche, dies anhand kompositorischer Prinzipien festzumachen, scheitern
sämtlich. In der Werbung werden beispielsweise komplexe Narrative in eigens geschaffenen
Welten präsentiert, obwohl wir Werbung nicht der Literatur zurechnen. Die Verwendung von
Reimen ist dort ebenfalls durchaus üblich, wogegen viele Erzählungen auf eine klare Formalisie-
rung verzichten. Eine Kollage von Zeitungsartikeln oder Telefonbuchseiten kann dagegen durch-
aus als Literatur gelten. Entsprechend soll der Begriff ‚literarisch‘ an dieser Stelle gezielt unterbe-
stimmt gelassen werden.
2 Lotman, Jurij, Die Struktur literarischer Texte, München 1972, S. 353.
Textstrategie und Performativität 299

trennscharf voneinander unterschieden werden können. Trotzdem möchte ich


diese Unterscheidung bewusst verwenden, weil sie zumindest eine grobe Bestim-
mung der verschiedenen Schreibweisen Nietzsches erlaubt. Die verschiedenen
Gattungen lassen sich zueinander in Beziehung setzen und so zumindest als
‚literarisch‘ und ‚weniger literarisch‘ zueinander positionieren. So ist Schillers
Wilhelm Tell in diesem Sinne literarischer als ein Telefonbucheintrag, während
ein Rezept für Schweinebraten irgendwo dazwischen liegt.3 Entsprechend lassen
sich auch bei Nietzsche verschiedene Stile miteinander vergleichen: Die Lieder
des Prinzen Vogelfrei aus der Fröhlichen Wissenschaft sind in diesem Sinne ‚litera-
rischer‘ als der Prosa-Text Nummer 146 aus Menschliches, Allzumenschliches I.4
Nach Lotman führt die Gleichzeitigkeit semantischer Felder, wie sie für künst-
lerische Texte typisch ist, zu einer Zunahme an Komplexität und zu einer erhöh-
ten Menge bedeutungsrelevanter Merkmale. Als These lässt sich formulieren,
dass Nietzsches Textstrategie auf eine Erhöhung der Komplexität und ein Er-
schweren der Disambiguierung abzielt. Die (vermeintliche oder tatsächliche)
Widersprüchlichkeit in Nietzsches Schreiben ist Teil dieser Strategie. Gezielt wird
der Grad an Ambiguität gesteigert und damit eine Pluralität semantischer Felder
evoziert. Zu fragen ist nun, wie die Verwendung dieser Techniken vor der Folie
von Nietzsches Sprach- und Kommunikationstheorie zu verstehen ist.
Im Folgenden sollen exemplarisch drei Punkte in Nietzsches Schreiben unter-
sucht werden: (1) Das Verhältnis der nachgelassenen Fragmente zu den veröffent-
lichten Schriften, (2) der gezielte Einsatz von Dialogizität und Polyperspektivität
sowie (3) das Phänomen des performativen Widerspruchs. Die Beispiele und Text-
abschnitte sind dabei so gewählt, dass darin zugleich Nietzsches Kommunikati-
ons- und Sprachtheorie untersucht werden kann. Eine Annäherung an Nietzsches
Textstrategie erfolgt somit von zwei Seiten her: einerseits über die Schreibpraxis,
also die konkrete Anwendung strategischer Maßnahmen, andererseits über die
Argumente, mit denen er ein solches Vorgehen legitimiert.

2 Nachlass und veröffentlichtes Werk


Es ist eine grundsätzliche Frage, wie mit nachgelassenen Fragmenten eines
Autors umzugehen ist. Bei Nietzsche im Besonderen finden sich im Nachlass
zahlreiche Fragestellungen, die auch im publizierten Werk zu finden sind, oft

3 Schließlich gibt es auch bei einem Kochrezept Anfangs- und Endzustand sowie eine narrative
Verknüpfung der einzelnen Handlungsschritte.
4 MA I 146, KSA 2, 142.
300 Michael Buhl

jedoch mit gänzlich anderer Gewichtung und in unterschiedlicher Formulierung.


Dies trifft vor allem auch auf seine Zeichentheorie zu. Gerade im Hinblick auf die
Problemstellung der Textstrategie handelt es sich in jedem Fall um eine relevante
Information, ob sich ein Autor für oder gegen eine Publikation entscheidet. An
dem Verhältnis von nachgelassenen zu veröffentlichten Schriften Nietzsches lässt
sich exemplarisch der Einsatz von strategischen Maßnahmen beschreiben; darü-
ber hinaus lässt sich ein erster Einblick in seine Sprach-, Kommunikations- und
Zeichentheorie geben.
Eine der bekanntesten und meistzitierten nachgelassenen Schriften Nietz-
sches ist Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873). An ihr lässt
sich einerseits Nietzsches frühe Sprachkonzeption aufzeigen, andererseits kann
sie als Beispiel für eine vergleichsweise stringente Argumentation dienen. Nietz-
sche argumentiert folgendermaßen: Der Intellekt ist ein Mittel zur Erhaltung des
Menschen und nicht, wie nach der Auffassung, gegen die sich Nietzsche (bzw. die
Sprechinstanz des Textes)5 positioniert, ein Mittel zum Auffinden der Wahrheit.
Die Wahrheit wird vielmehr durch die Gesetze der Sprache determiniert, welche,
so Nietzsche, rein auf Konvention beruhen. Die Lüge lässt sich folglich als eine
‚falsche‘ Verwendung von Begriffen definieren und entspricht also einem Bruch
mit der Konvention. Ferner widerspricht Nietzsche entschieden einer Abbildtheo-
rie von Sprache: Sie bezeichne lediglich die Relationen des Menschen zu den
Dingen, ohne über die Dinge selbst etwas auszusagen.
Sprache ist demnach also konventionell und dient lediglich der Bezeichnung
von Relationen. In dieser frühen Schrift geht Nietzsche allerdings noch von einer
Art Urerlebnis aus, einer erstmaligen Verwendung eines Begriffs in Bezug auf ein
Ding. Diese Bezeichnung führe dann jedoch zwingend zu einer Kette von auf-
einander verweisenden Metaphern, sodass letztlich kein Bezug zum Urerlebnis
mehr hergestellt werden könne. „Was ist also Wahrheit?“, fragt Nietzsche schließ-
lich und antwortet mit dem vielzitierten Passus: „Ein bewegliches Heer von
Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen […]: die Wahrheiten sind Illusio-
nen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abge-
nutzt und sinnlich kraftlos geworden sind […]“.6 Diese Argumentation ist nicht
zuletzt die Grundlage für die Abschaffung der ‚wahren Welt‘ zugunsten der
‚scheinbaren Welt‘, wie sie bis in Nietzsches Spätwerk hinein immer wieder zu

5 Strenggenommen muss selbstverständlich zwischen Autor und Sprechinstanz unterschieden


werden. Wenn ein Text jedoch nur über eine Sprechinstanz verfügt, werde ich der Einfachheit
halber von Nietzsche sprechen. In den nachgelassenen Fragmenten kann man in vielen Fällen
sicherlich von einer Deckungsgleichheit ausgehen, was meines Erachtens für das publizierte
Werk in keinem Fall gilt.
6 WL 1, KSA 1, 880, 30–881, 3.
Textstrategie und Performativität 301

finden ist.7 All dies formuliert er in einer vergleichsweise stringenten Argumenta-


tion. Im Lotman’schen Sinne handelt es sich demnach um eine ‚wissenschaftli-
che‘ Abhandlung: Das semantische Feld der ‚moralischen‘ Auffassung von Wahr-
heit wird durch eine ‚außermoralische‘ ersetzt.8
Im mittleren und späten Werk lässt sich eine Weiterentwicklung hin zu einer
Semiotik erkennen, wie vor allem Werner Stegmaier ausführt.9 Vergleichsweise
unscharfe und dunkle Begriffe wie ‚Bild‘, ‚Metapher‘ und ‚Symbol‘ werden zuneh-
mend durch eine neutralere Zeichenkonzeption ersetzt. Die Entwicklung von
Nietzsches Semiotik findet zum größten Teil in den nachgelassenen Schriften
statt. So heißt es beispielsweise in einem Fragment von 1885:

Unsere Logik, unser Zeitsinn, Raumsinn sind ungeheure Abbreviatur-Fähigkeiten, zum


Zwecke des Befehlens. Ein Begriff ist eine Erfindung, der nichts ganz entspricht; aber Vieles
ein wenig: ein solcher Satz „2 Dinge, einem dritten gleich, sind sich selber gleich“ setzt
1) Dinge 2) Gleichheiten voraus: beides giebt es nicht. Aber mit dieser erfundenen starren
Begriffs- und Zahlenwelt gewinnt der Mensch ein Mittel, sich ungeheurer Mengen von

7 Vgl. beispielsweise JGB 34, KSA 5, 53, 22–54, 11, wo die ‚Sprachkrise‘ bereits ins Positive
gewendet ist: „Es ist nicht mehr als ein moralisches Vorurtheil, dass Wahrheit mehr werth ist als
Schein; es ist sogar die schlechtest bewiesene Annahme, die es in der Welt giebt. Man gestehe sich
doch so viel ein: es bestünde gar kein Leben, wenn nicht auf dem Grunde perspektivischer
Schätzungen und Scheinbarkeiten; und wollte man, mit der tugendhaften Begeisterung und
Tölpelei mancher Philosophen, die ‚scheinbare Welt‘ ganz abschaffen, nun, gesetzt, ihr könntet
das, – so bliebe mindestens dabei auch von eurer ‚Wahrheit‘ nichts mehr übrig! Ja, was zwingt
uns überhaupt zur Annahme, dass es einen wesenhaften Gegensatz von ‚wahr‘ und ‚falsch‘ giebt?
Genügt es nicht, Stufen der Scheinbarkeit anzunehmen und gleichsam hellere und dunklere
Schatten und Gesammttöne des Scheins, – verschiedene valeurs, um die Sprache der Maler zu
reden? Warum dürfte die Welt, d i e u n s e t w a s a n g e h t –, nicht eine Fiktion sein? Und wer da
fragt: ‚aber zur Fiktion gehört ein Urheber?‘ – dürfte dem nicht rund geantwortet werden:
W a r u m ? Gehört dieses ‚Gehört‘ nicht vielleicht mit zur Fiktion? Ist es denn nicht erlaubt, gegen
Subjekt, wie gegen Prädikat und Objekt, nachgerade ein Wenig ironisch zu sein? Dürfte sich der
Philosoph nicht über die Gläubigkeit an die Grammatik erheben? Alle Achtung vor den Gou-
vernanten: aber wäre es nicht an der Zeit, dass die Philosophie dem Gouvernanten-Glauben
absagte? –“
8 Selbstverständlich ist das weder eindeutig noch trennscharf, sondern muss in Rücksicht auf
oben genannte Einschränkungen verstanden werden. Allein terminologisch bleibt ‚außermora-
lisch‘ immer auf ‚moralisch‘ bezogen, schafft also niemals ein klares Ersetzen des einen durch das
andere. Die terminologische Unschärfe ist ja ein Phänomen, das sich durch beinahe alle Schriften
Nietzsches zieht – und ein Grund mehr, weswegen ihm Widersprüchlichkeit vorgeworfen wird.
Dies alleine wäre eine Untersuchung im Hinblick der Textstrategie wert. Nichtsdestotrotz lässt
sich die hier angeführte Argumentation aus Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne
von anderen Texten Nietzsches, beispielsweise den Dionysos-Dithyramben, abgrenzen.
9 Stegmaier, Werner, Nietzsches Zeichen, in: Nietzsche-Studien, Jg. 29, Berlin / New York 2000,
S. 41–69.
302 Michael Buhl

Thatsachen wie mit Zeichen zu bemächtigen und seinem Gedächtnisse einzuschreiben.


Dieser Zeichen-Apparat ist seine Überlegenheit, gerade dadurch, daß er sich von der Einzel-
Thatsache möglichst weit entfernt. Die Reduktion der Erfahrungen auf Z e i c h e n , und die
immer größere Menge von Dingen, welche also gefaßt werden kann: ist seine h ö c h s t e
K r a f t . „Geistigkeit“ als Vermögen, über eine ungeheure Menge von Thatsachen in Zeichen
Herr zu sein.10

Hier findet sich eine positive Wendung der vormaligen Sprachkritik: Nicht nur ist
es für Nietzsche eine Tatsache, dass der Mensch immer schon in einer Zeichenwelt
lebt; genau dies ist es, was ihm einen evolutionären Vorteil schafft. Die – immer
schon interpretierte – „Begriffs- und Zahlenwelt“, in der der Mensch lebt,11
erlaube es ihm, „sich ungeheurer Mengen von Thatsachen wie mit Zeichen zu
bemächtigen“, was seine „Überlegenheit“ ausmache. Damit wird, so Stegmaier,
sowohl die alltägliche Orientierung als auch alle Wissenschaft zu einer „Zeichen-
Kunst“.12 Innerhalb der denkerischen Entwicklung Nietzsches, so Stegmaier wei-
ter, wird dabei die Relation von Zeichen zu Zeichen immer wichtiger, die Bedeu-
tung der Relation von Zeichen zu Dingen tritt immer stärker in den Hintergrund.
Zeichen sind für Nietzsche also keine Mittel der Repräsentation, sondern solche
der Kommunikation.
Neben der Frage nach der Funktion von Zeichen spielt in Nietzsches Kom-
munikationstheorie auch das Problem der Interpretation eine zentrale Rolle. Dies
lässt sich anhand einer Textstelle demonstrieren, die gleichzeitig ein erstes Bei-
spiel für Nietzsches Anwendung einer Textstrategie darstellt. Zugleich kann damit
das Verhältnis von nachgelassenem Text zu veröffentlichtem Werk zumindest
tendenziell aufgezeigt werden. In einem Fragment, das zwischen dem Herbst 1885
und dem Frühjahr 1886 entstand, findet sich folgende Ausführung zum Problem
des Verstandenwerdens:

Es ist schwer verstanden zu werden. Schon für den guten Willen zu einiger F e i n h e i t der
Interpretation soll man von Herzen dankbar sein: an guten Tagen verlangt man gar nicht
mehr. Man soll seinen Freunden einen reichlichen Spielraum zum Mißverständniß zugeste-
hen. Es dünkt mich besser mißverstanden als unverstanden zu werden: es ist etwas Beleidi-
gendes darin, verstanden zu werden.13

Dieses Fragment liegt dem Textabschnitt 27 aus Jenseits von Gut und Böse zugrun-
de:

10 NL 1885, 34[131], KSA 11, 464, 8–22.


11 In FW 301, KSA 3, 540, 28 f. ist die Rede von der „Welt, d i e d e n M e n s c h e n E t w a s

a n g e h t “.
12 Stegmaier, Nietzsches Zeichen, S. 63.
13 NL 1885/86, I[182], KSA 12, 50, 22–51, 6.
Textstrategie und Performativität 303

Es ist schwer, verstanden zu werden: besonders wenn man gangasrotogati denkt und lebt,
unter lauter Menschen, welche anders denken und leben, nämlich kurmagati oder besten
Falles „nach der Gangart des Frosches“ mandeikagati – ich thue eben Alles, um selbst
schwer verstanden zu werden? – und man soll schon für den guten Willen zu einiger
Feinheit der Interpretation von Herzen erkenntlich sein. Was aber „die guten Freunde“
anbetrifft, welche immer zu bequem sind und gerade als Freunde ein Recht auf Bequemlich-
keit zu haben glauben: so thut man gut, ihnen von vornherein einen Spielraum und
Tummelplatz des Missverständnisses zuzugestehn: – so hat man noch zu lachen; – oder sie
ganz abzuschaffen, diese guten Freunde, – und auch zu lachen!14

An diesen beiden Textstellen lassen sich einerseits die Konsequenzen aus Nietz-
sches Zeichentheorie für das Verstehen aufzeigen, also, allgemeiner gefasst, für
den Vorgang der Interpretation. Andererseits wird deutlich, was mit dem ein-
gangs genannten ,literarischen‘ Schreiben gemeint ist, da sich im veröffentlichten
Text der Grad an Literarizität nochmals deutlich erhöht, was zu einer Zunahme
bedeutungstragender Elemente und einer Erschwerung der Disambiguierung
führt.15
Im nachgelassenen Text wird zwischen dem Verstandenwerden, dem Unver-
standenbleiben und dem Missverstandenwerden unterschieden. Unverstanden zu
bleiben kommt einem völligen Scheitern der Kommunikation gleich, weshalb
Nietzsche das Missverstehen vorzieht. Erklärungsbedürftig ist jedoch zunächst
die Empfindung, es liege „etwas Beleidigendes darin, verstanden zu werden.“ Mit
Blick auf die zuvor zitierte Textstelle, die die Zeichenbeherrschung als evolutionä-
ren Vorteil darstellt, wird dies jedoch plausibel: Die „Überlegenheit“ des „Zei-
chen-Apparat[s]“ beruht gerade darauf, „daß er sich von der Einzel-Thatsache
möglichst weit entfernt.“ Auch wenn sich verschiedene „Einzel-Thatsache[n]“
ähneln, auf die immer das gleiche Zeichen angewendet wird, sind sie niemals
gleich, sondern, streng genommen, verschieden. Dies trifft nun auch auf die
individuellen Gedanken, Gefühle, Erlebnisse und Handlungen zu, die jeder ein-
zelne Mensch hat. Wenn nun jemand glaubt, jemand anderen verstanden zu
haben, macht er diesen mit sich selbst gleich. Die Zeichenvermittlung wird mit
einem eigenen Erlebnis, einer eigenen Erfahrung oder Vorstellung in Verbindung
gebracht und damit in den eigenen Erfahrungshorizont eingepasst. Hierin liegt
für Nietzsche das Beleidigende des Verstandenwerdens: Er wird auf die Position
des Interpreten reduziert, obwohl er sich für sehr viel reichhaltiger, für anders
und einzigartig hält.

14 JGB 27, KSA 5, 45, 25–46, 5.


15 Vgl. zu den beiden zitierten Textstellen auch Stegmaier, Nietzsches Zeichen, S. 42 f.

304 Michael Buhl

Der Normalfall in der Kommunikation ist es also, missverstanden zu werden,


was auch die Abänderung der Textstelle im veröffentlichten Werk erklärt. Ver-
standenwerden unterscheidet sich vom Missverstandenwerden nur dadurch, dass
es von einer als beleidigend empfundenen Einstellung auf Seiten des Interpreten
begleitet wird. An dieser Stelle wird Nietzsches radikaler Individualismus deut-
lich, mit dem die Wahl seiner Textstrategie in engem Zusammenhang steht. Es ist
nicht möglich, einen konkreten Sachverhalt, eine „Einzel-Thatsache“ zu vermit-
teln. Trotzdem gelingt es der Kommunikation, etwas im Rezipienten auszulösen.
Nietzsches Schreibweise lässt sich ausgehend von dieser Auffassung plausibili-
sieren. Die Widersprüchlichkeit der Argumentation, das permanente Aufstellen
und Zurücknehmen von Behauptungen und die Polemik erscheinen im Lichte
seiner Semiotik absolut konsequent. Ziel ist es, den Glauben des Interpreten, er
habe Nietzsches Position ‚verstanden‘, permanent zu erschüttern. Das entspricht
dem Bemühen darum, der Beleidigung zu entgehen, die im Verstandenwerden
liege. Es geht darum, „einen reichlichen Spielraum zum Mißverständnisse“ zu
schaffen und ihn dem Interpreten bewusst werden zu lassen.
Letztlich wird im veröffentlichten Textabschnitt aus Jenseits von Gut und Böse
der Grad der Ambiguität im Vergleich zum nachgelassenen Fragment, das seiner-
seits schon keineswegs eindeutig und klar ist, nochmals erhöht. Begriffe wie
„gangasrotogati“ oder „kurmagati“ werden den wenigsten Lesern bekannt sein;
entsprechend wird durch ihre Verwendung ein Verstehen erschwert. Die „Freun-
de“ werden hier, anders als im Nachlassfragment, in Anführungszeichen gesetzt,
so dass nicht klar ist, ob es sich überhaupt um wirkliche Freunde handelt. Vor
allem der Schluss, das Lachen sowohl über das Missverständnis der Freunde als
auch über das Abschaffen derselben, ist kaum zu verstehen. Der Textabschnitt
selbst führt also performativ vor, was er auch inhaltlich behandelt: „einen Spiel-
raum und Tummelplatz des Missverständnisses zuzugestehn.“ In diesem Sinne
handelt es sich um die gezielte Anwendung strategischer Maßnahmen, die den
veröffentlichten Abschnitt vom Nachlass unterscheidet, dem der performative
Aspekt abgeht. Darüber hinaus wird ein weiterer Aspekt von Nietzsches Semiotik
deutlich: Auch der Akt der Interpretation selbst fungiert als Zeichen. Die inter-
pretatorische Leistung ist ein Gradmesser für die „Feinheit der Interpretation.“
Die erhöhte Literarizität, im oben genannten Sinne einer Pluralisierung bedeu-
tungsrelevanter Merkmale, erzwingt eine gewisse interpretatorische Arbeit, die
einerseits dazu dient, die Beleidung durch das Verstandenwerden abzuwehren,
andererseits die Chance eröffnet, sich durch den Akt der Interpretation zu pro-
filieren.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Semiotik, die Nietzsches Sprach- und
Kommunikationstheorie zugrunde liegt, im Nachlass eine vergleichsweise elabo-
rierte Ausarbeitung erfährt, während sie in den veröffentlichten Schriften eher am
Textstrategie und Performativität 305

Rande Erwähnung findet.16 Die Ausarbeitung im Nachlass lässt sich tendenziell


der ‚wissenschaftlichen‘ Schreibweise zuordnen, während die veröffentlichten
Werke die Grundeinsichten anwenden und durch den Zwang zur Disambiguie-
rung performativ vorführen. Um dies zu erreichen, setzt Nietzsche verschiedene
Techniken ein, die man analog zum Begriff der Textstrategie als Texttaktiken
bezeichnen könnte. Exemplarisch sollen im Folgenden zwei davon näher unter-
sucht werden: zum einen die Polyperspektivität mit dem Sonderfall der Dialogizi-
tät, zum anderen der Einsatz performativer Widersprüche.

3 Polyperspektivität und Dialogizität


Die Verwendung von Dialogen als philosophische Textgattung ist sicherlich nicht
Nietzsches Erfindung. Dialoge stellen bei ihm eines von zahlreichen Mitteln dar,
verschiedene Perspektiven miteinander zu kontrastieren. In Textabschnitten, die
in Dialogform gehalten sind, wird die Polyperspektivität lediglich deutlicher –
was schon für sich genommen als signifikant zu werten ist. Insgesamt werden bei
Nietzsche verschiedene Positionen häufig miteinander konfrontiert, ohne dass
eine davon klar bevorzugt wird. Wenn dies auch nicht immer innerhalb eines
einzelnen Textabschnittes geschieht, so doch im größeren Werkzusammenhang.
Besonders in den mittleren und späteren Werken wird es zunehmend schwerer,
eine klare Position Nietzsches auszumachen. Drastisch zeigt sich dies in der
Götzen-Dämmerung, wo die radikale Verknappung eine zusätzliche interpretatori-
sche Hürde darstellt. Eben diese Verknappung ist es auch, die viele Textstellen
auszeichnet, die explizit als Dialog angelegt sind. Exemplarisch sollen einige
kurze Dialoge aus der Fröhlichen Wissenschaft angeführt werden.
Das Zwiegespräch, der Text Nummer vier aus dem Vorspiel „Scherz, List und
Rache.“, ist beispielhaft für die Verwendung der Dialogform in der Fröhlichen
Wissenschaft: „A. War ich krank? Bin ich genesen? / Und wer ist mein Arzt
gewesen? / Wie vergass ich alles Das! / B. Jetzt erst glaub ich dich genesen: / Denn
gesund ist, wer vergass.“17 Die beiden Sprecher, A und B, führen ein Gespräch,
das aus Rede und Gegenrede besteht. Dabei wird von A sowohl ein Konzept,
Gesundheit, als auch eine Handlung, das Vergessen, vorgeführt. Anschließend
werden von B das Konzept und die Handlung miteinander in Verbindung ge-
bracht: Das Vergessen ist aus seiner Perspektive die notwendige Voraussetzung

16 Für eine detaillierte Gegenüberstellung siehe Stegmaier, Nietzsches Zeichen, S. 52–64.


17 FW Vorspiel 4, KSA 3, 354.
306 Michael Buhl

und damit ein Indikator für die Gesundheit. Letztlich handelt es sich um eine
Explikation des vorher Gesagten, um einen Akt der Interpretation.
Während im Zwiegespräch ein Akt der Disambiguierung vorgeführt wird,
kann ein Dialog auch das genaue Gegenteil, nämlich eine Komplexitätssteigerung
bewirken. In beiden Fällen finden sich als häufigste Formen, zumindest in der
Fröhlichen Wissenschaft, der Frage-Antwort-Wechsel und die Bekräftigung einer
Behauptung durch Verdoppelung. So wird die Frage, die der Titel von FW 93
stellt: „A b e r w a r u m s c h r e i b s t d e n n d u ?“ explizit von A beantwortet: „Wa-
rum ich will? Will ich denn? Ich muss.“18 Darüber hinaus wird dort der Akt des
Schreibens reflektiert und zwischen „[d]enen, welche mit der nassen Feder in der
Hand d e n k e n “19, „[j]enen, die sich gar vor dem Tintenfasse ihren Leidenschaf-
ten überlassen“,20 und denjenigen, für die, wie für den Sprecher A, das Schreiben
einer „Nothdurft“21 gleichkommt, unterschieden. Hier ist man leicht geneigt,
Nietzsche mit A zu identifizieren. Fraglich bleibt, ob das zu Recht geschieht.
Eine Bekräftigung durch Verdoppelung und zugleich einen weiteren Aspekt
im Themenbereich der Beleidigung gibt der kurze Abschnitt FW 190: „G e g e n d i e
L o b e n d e n . – A.: ‚Man wird nur von Seinesgleichen gelobt!‘ B.: ‚Ja! Und wer dich
lobt, sagt zu dir: du bist Meinesgleichen!‘“22 Hier wird auf den ersten Blick
lediglich bestätigt, dass a = b gleichzeitig b = a bedeute (‚wird von mir gelobt‘ = ‚ist
meinesgleichen‘). Aber es wird, wie so häufig bei Nietzsche, auch auf den per-
formativen Aspekt der Rede abgezielt. Völlig unabhängig vom Inhalt des Lobes
stellt der Akt des Lobens eine Beziehung zwischen Lobendem und Gelobten her,
die beide als gleichwertig ausweist. Das kann durchaus, wie das Verstandenwer-
den, als beleidigend empfunden werden. Im Gegensatz dazu lässt einen FW 255,
„N a c h a h m e r “, zunächst ratlos zurück: „A.: ‚Wie? Du willst keine Nachahmer?‘
B.: ‚Ich will nicht, dass man mir Etwas nachmache, ich will, dass Jeder sich etwas
vormache: Das Selbe, was i c h tue.‘ A.: ‚Also –?‘“23 Auch hier ist man wieder
geneigt, einen der Sprecher, diesmal B, mit Nietzsche zu identifizieren. Der Text-
abschnitt gewinnt seinen Witz und seine Problematik durch die Gegenüberstel-
lung von ‚nachmachen‘, das im Sinne von ‚nachahmen‘ gebraucht wird, und ‚sich
etwas vormachen‘, welches im allgemeinen Sprachgebrauch im Sinne von ‚sich
belügen‘ oder ‚sich etwas einbilden‘ verwendet wird. Dies könnte aber, z. B. im
Rückgriff auf das Gedicht V a d e m e c u m – V a d e t e c u m aus „Scherz, List und

18 FW 93, KSA 3, 448, 31 f.


19 FW 93, KSA 3, 448, 22 f.


20 FW 93, KSA 3, 448, 23 f.


21 FW 93, KSA 3, 448, 26 f.


22 FW 190, KSA 3, 504, 5–7.


23 FW 255, KSA 3, 516, 23–26.
Textstrategie und Performativität 307

Rache.“,24 auch einfach als Negation des ‚Nachmachens‘ gemeint sein. Aufgelöst
wird die Bedeutung der Rede von A nicht, sondern sie endet mit dem offenen
„Also –?“ des zweiten Sprechers. Darüber hinaus entsteht durch die Aufforderung
von B eine paradoxe Situation: Wenn jemand der Aufforderung folgt und sich etwas
vormacht, macht er es zugleich auch dem Sprecher B nach. In jedem Fall ist dieser
Abschnitt ambig. Die einfache Übernahme irgendeiner Position ist nicht möglich.
Ein anderes Beispiel für Polyperspektivität sind die vier Gewissensfragen aus
den Sprüchen und Pfeilen der Götzen-Dämmerung. Während auch in den kurzen
Dialogen die Sprecher nicht genau bezeichnet sind, sondern lediglich mit A und B
verdeutlicht wird, dass es sich um verschiedene Sprecher handelt, bleibt bei den
Gewissensfragen unklar, wer Sprecher und wer Adressat ist. Letztlich könnte es
sich auch um eine Selbstbefragung nach Art des Katechismus handeln.

37.
Du läufst v o r a n ? – Thust du das als Hirt? oder als Ausnahme? Ein dritter Fall wäre der
Entlaufene… E r s t e Gewissensfrage.

38.
Bist du echt? oder nur ein Schauspieler? Ein Vertreter? oder das Vertretene selbst? – Zuletzt
bist du gar bloss ein nachgemachter Schauspieler… Z w e i t e Gewissensfrage.

40.
Bist du Einer, der zusieht? oder der Hand anlegt? – oder der wegsieht, bei Seite geht?…
D r i t t e Gewissensfrage.

41.
Willst du mitgehn? oder vorangehn? oder für dich gehn?… Man muss wissen, w a s man will
und d a s s man will. V i e r t e Gewissensfrage.25

Die Gewissensfragen eröffnen ein ganzes Panorama an möglichen Positionen, die


der Befragte einnehmen könnte: „Hirt“, „Ausnahme“, „Entlaufene[r]“; ‚Echter‘,
„Schauspieler“, „Vertreter“ oder das „Vertretene“; ‚Zusehender‘, ‚Handelnder‘
oder ‚Wegsehender‘; ‚Mitläufer‘, ‚Führer‘ oder ‚Einzelgänger‘. Zumindest in der
unmittelbaren Textumgebung finden sich keine klaren Hinweise darauf, wie die
Fragen richtig beantwortet werden können – oder ob dies überhaupt möglich ist.

24 FW Vorspiel 7, KSA 3, 354: „Es lockt dich meine Art und Sprach, / Du folgest mir, du gehst mir
nach? / Geh nur dir selber treulich nach: – / So folgst du mir – gemach! gemach!“ Dieser Abschnitt
kann insgesamt als Lektüreanleitung Nietzsches aufgefasst werden. Die Schriften sollen zum
Selberdenken ermuntern bzw. dies erzwingen, was (auch) eine direkte Konsequenz aus der
Problematik des Verstandenwerdens darstellt.
25 GD Sprüche und Pfeile 37–41, KSA 6, 65, 8–66, 2.
308 Michael Buhl

Beschränkt man sich auf das veröffentlichte Werk, müssen die Antworten aus den
Schriften Nietzsches erschlossen werden. Es wird auch hier also keine Position
Nietzsches angeboten, die man übernehmen könnte, sondern es erfolgt die im-
plizite Aufforderung zur Selbstpositionierung.
Die Gewissensfragen sind ein weiteres Beispiel für das Verhältnis zwischen
veröffentlichtem Werk und nachgelassenen Schriften. Letztere werfen zwar die
gleichen Fragen auf, geben aber zugleich viel deutlichere Antwortmöglichkeiten
vor:

Gesichtspunkte für m e i n e Werthe: ob aus der Fülle oder aus dem Verlangen… ob man
zusieht oder Hand anlegt… oder wegsieht, bei Seite geht… ob auch die aufgestaute Kraft
„spontan“ oder bloß r e a k t i v angeregt, angereizt, ob e i n f a c h aus Wenigkeit der Elemente
o d e r aus überwältigender Herrschaft über viele, so daß sie dieselben in Dienste nimmt,
wenn sie sie braucht… ob man P r o b l e m oder Lösung ist… ob v o l l k o m m e n bei der
Kleinheit der Aufgabe oder u n v o l l k o m m e n bei dem Außerordentlichen eines Ziels… ob
man ä c h t oder nur S c h a u s p i e l e r , ob man als Schauspieler ächt oder nur ein nach-
gemachter Schauspieler, ob man „Vertreter“ oder das Vertretene selbst ist – ob „Person“
oder bloß ein Rendezvous von Personen… ob k r a n k aus Krankheit oder aus ü b e r s c h ü s -
s i g e r G e s u n d h e i t … ob man vorangeht als Hirt oder als „Ausnahme“ (dritte Species: als
Entlaufener)… ob man W ü r d e nöthig hat – oder „den Hanswurst“? – ob man den Wider-
stand sucht oder ihm aus dem Wege geht? ob man unvollkommen ist als „zu früh“ oder als
„zu spät“… ob man von Natur Ja sagt oder Nein sagt oder ein Pfauenwedel von bunten
Dingen ist? ob man stolz genug ist, um sich auch seiner Eitelkeit nicht zu schämen? ob man
eines Gewissensbisses noch fähig ist (die species wird seltener: früher hatte das Gewissen zu
viel zu beißen: es scheint, jetzt hat es nicht mehr Zähne genug dazu)? ob man einer „Pflicht“
noch fähig ist? (– es giebt solche, die sich den Rest Lebenslust rauben würden, wenn sie sich
„die Pflicht“ r a u b e n ließen… sonderlich die Weiberchen, die Unterthänig-Geborenen…)26

Auffällig beim Nachlassfragment ist zunächst die Länge im Vergleich zur extrem
verknappten Form der Gewissensfragen. Wenn auch dieser Text sicherlich nicht
einfach und eindeutig ausgelegt werden kann, erleichtert die Form das Verständnis
deutlich. Darüber hinaus macht Nietzsche klar, dass es sich um „Gesichtspunkte
für [s]e i n e Werthe“ handelt, die Zuordnung der Wertigkeit wird also klar, was
ebenfalls in der veröffentlichten Version nicht der Fall ist. Schließlich scheint es
durch die Reduktion auf Zweiergruppen (Fülle vs. Verlangen; Zusehen oder Hand
anlegen vs. Wegsehen; Krankheit vs. überschüssige Gesundheit; zu früh vs. zu
spät) leichter zu sein, diejenige Variante zu finden, die Nietzsche positiv bewertet.
Fast alle Themenpunkte werden wiederholt in seinem Werk angesprochen. Die
Gewissensfragen erschweren eine Deutung gegenüber dem nachgelassenen Text

26 NL 1887, 10[145], KSA 12, 537 f.



Textstrategie und Performativität 309

deutlich, was als textstrategisch bedingte Umformulierung verstanden werden


kann.
Die exemplarisch angeführten Textstellen sind lediglich besonders markante
Beispiele für polyperspektivisches Schreiben. Die verschiedenen Positionen laden
bei der Interpretation mindestens dazu ein, sich mit verschiedenen Ansichten
auseinanderzusetzen; teilweise erzwingen sie dies sogar. Was auf der Mikroebene
sofort deutlich wird, gilt jedoch – im publizierten Werk – auch für die Makrostruk-
tur. Betrachtet man die publizierten Werke je als kompositorisches Ganzes, dann
werden auch solche Abschnitte, die stringent und in sich schlüssig scheinen,
durch ihren Kontext wieder relativiert: So ziemlich jeder thematisierte Aspekt
wird an späterer Stelle wieder aufgegriffen und in ein neues Licht gestellt. Diese
Analogie von Mikro- zu Makrostruktur lässt sich auch bei der gezielten Verwen-
dung von Widersprüchen aufzeigen.

4 Performativer Selbstwiderspruch
Der Einsatz des performativen Selbstwiderspruches innerhalb eines Textabschnit-
tes lässt sich sehr gut am Beispiel von FW 84 (Vom Ursprunge der Poesie) aus der
Fröhlichen Wissenschaft darstellen.27 In diesem Textabschnitt findet sich eine
klare, auf den ersten Blick völlig stringente Argumentation, die sich auf stichhal-
tige Annahmen zu stützen scheint. Gegen Ende hin wird diese Argumentation
jedoch vollständig unterminiert. Das Besondere ist hier, dass die Unterminierung
direkt im gleichen Textabschnitt erfolgt, was sonst oft erst im größeren Werk-
zusammenhang geschieht. Darüber hinaus werden auch hier verschiedene Per-
spektiven aufgeboten.
In einem ersten Schritt wird die Position einer Gruppe von Personen geschil-
dert, die als „Liebhaber des Phantastischen am Menschen“ bzw. als Vertreter der
„Lehre von der instinctiven Moralität“28 bezeichnet wird. Anschließend wird auf
diese Position Bezug genommen. Die Poesie sei nichts Nützliches oder Zweck-
mäßiges, behaupteten die „Liebhaber“, da vor allem die Rhythmisierung der
Verständlichkeit entgegenwirke. Ihre Existenz wird als Argument gegen eine
zweite Position in Stellung gebracht, die grundsätzlich vom Nutzen als Entste-
hungsgrund ausgeht: „Die wildschöne Unvernünftigkeit der Poesie widerlegt
euch, ihr Utilitarier! Gerade vom Nutzen einmal l o s k o m m e n wollen – das hat

27 FW 84, KSA 3, 439–442.


28 FW 84, KSA 3, 439, 25–27.
310 Michael Buhl

den Menschen erhoben, das hat ihn zur Moralität und Kunst inspiriert!“29 Das
Sprecher-Ich stellt sich nun aber auf die Seite der „Utilitarier“, obwohl deren
Position grundsätzlich auch in Zweifel gezogen wird (die Utilitarier „haben ja so
selten Recht, dass es zum Erbarmen ist!“).30
Um die utilitaristische Position zu bekräftigen, wird nun auf die Position einer
dritten Gruppe, ein nicht näher bestimmtes „man“, rekurriert („Man hatte in jenen
alten Zeiten, welche die Poesie in’s Dasein riefen […]“31). Es wird also die Nütz-
lichkeit bei der Entstehung der Poesie zugegeben. In einem nächsten Schritt wird
diese aber sogleich wieder eingeschränkt: Es handelt sich nämlich, dem Spre-
cher-Ich zufolge, um eine „a b e r g l ä u b i s c h e N ü t z l i c h k e i t .“32

Es sollte vermöge des Rhythmus den Göttern ein menschliches Anliegen tiefer eingeprägt
werden, nachdem man bemerkt hatte, dass der Mensch einen Vers besser im Gedächtniss
behält, als eine ungebundene Rede; ebenfalls meinte man durch das rhythmische Tiktak
über grössere Fernen hin sich hörbar zu machen; das rhythmisirte Gebet schien den Göttern
näher an’s Ohr zu kommen. Vor Allem aber wollte man den Nutzen von jener elementaren
Ueberwältigung haben, welche der Mensch an sich beim Hören der Musik erfährt: der
Rhythmus ist ein Zwang; er erzeugt eine unüberwindliche Lust, nachzugeben, mit ein-
zustimmen; nicht nur der Schritt der Füsse, auch die Seele selber geht dem Tacte nach, –
wahrscheinlich, so schloss man, auch die Seele der Götter! Man versuchte sie also durch den
Rhythmus zu z w i n g e n und eine Gewalt über sie auszuüben: man warf ihnen die Poesie
wie eine magische Schlinge um.33

Im Grunde wird an dieser Textstelle nicht lediglich die „a b e r g l ä u b i s c h e “


Nützlichkeit behauptet, sondern zugleich auch die tatsächliche Nützlichkeit.
Lediglich der Schluss vom Menschen auf die Götter fällt in den Bereich des Aber-
glaubens. Der Mensch könne sich rhythmisierte Reden besser merken als unge-
bundene, und sie seien über größere Entfernungen hin hörbar; also habe man
geglaubt, auf diesem Wege die Götter besser und wirksamer zu erreichen. Der
Rhythmus, als Eigenheit des Musikalischen, erzeuge eine Lust einzustimmen und
nachzugeben; daher rührte der Glaube, auf diesem Wege Zwang auf die Götter
ausüben zu können.
Als letzter und vermeintlich wichtigster Punkt in Bezug auf die Nützlichkeit
wird noch der Glaube der Pythagoreer angeführt, Poesie lasse sich als Mittel der
Erziehung einsetzen, insbesondere als Mittel zur Affektentladung. Dies sei aber
ein Wissen, das man schon lange vor den Philosophen besessen habe; exem-

29 FW 84, KSA 3, 440, 1–5.


30 FW 84, KSA 3, 440, 6 f.

31 FW 84, KSA 3, 440, 7 f.


32 FW 84, KSA 3, 440, 13.


33 FW 84, KSA 3, 440, 13–29.
Textstrategie und Performativität 311

plarisch angeführt werden Terpander, Empedokles und Damon, deren Namen


damit das bisher unbestimmt gebliebene „man“ konkretisieren. Folgerichtig wird
die Entstehung orgiastischer Kulte durch die Übertragung der Affektentladung
auf die Götter erklärt: Sie sollten ihren Rachedurst gezielt ausleben und sich
damit zugleich seiner entledigen. Der Glaube an den Zwang, den die rhythmisier-
te Rede ausübe, wird schließlich noch herangezogen, um die Bedeutung von
Orakelsprüchen und das Singen beim Verrichten von Arbeiten zu erklären. Dann
wird das Verständnis der „a b e r g l ä u b i s c h e [n] N ü t z l i c h k e i t “ abschließend
noch einmal zusammengefasst:

Im Ganzen gesehen und gefragt: gab es für die alte abergläubische Art des Menschen
überhaupt etwas N ü t z l i c h e r e s , als den Rhythmus? Mit ihm konnte man Alles: eine Arbeit
magisch fördern; einen Gott nöthigen, zu erscheinen, nahe zu sein, zuzuhören; die Zukunft
sich nach seinem Willen zurecht machen; die eigene Seele von irgend einem Uebermaasse
(der Angst, der Manie, des Mitleids, der Rachsucht) entladen, und nicht nur die eigene Seele,
sondern die des bösesten Dämons, – ohne den Vers war man Nichts, durch den Vers wurde
man beinahe ein Gott.34

Freilich bleibt hier völlig unerwähnt, was vorher eigentlich sehr stringent gezeigt
wurde: nämlich dass der Aberglaube auf völlig richtigen, in Bezug auf den
Menschen tatsächlich nützlichen Eigenschaften der Poesie beruhe.
Der abschließende Teil des Textes vollzieht den Brückenschlag zu Nietzsches
Zeit und stellt wiederum die Gültigkeit der eigenen Argumentation in Frage. Der
Aberglaube, d. h. der Glaube daran, ein Gedanke würde wahrer empfunden,

„wenn er eine metrische Form hat und mit einem göttlichen Hopsasa daher
kommt“,35 habe sich trotz systematischer Bekämpfung bis ins späte 19. Jahrhun-
dert erhalten. Als Beleg dafür wird die „sehr lustige Sache“36 angeführt, dass
auch in dieser Zeit noch Philosophen Dichtersprüche heranziehen, um ihren
Aussagen Glaubwürdigkeit zu verleihen. Der Text endet wie folgt: „[U]nd doch ist
es für eine Wahrheit gefährlicher, wenn der Dichter ihr zustimmt, als wenn er ihr
widerspricht! Denn wie Homer sagt: ‚Viel ja lügen die Sänger!‘ –“37 Der Text-
abschnitt schließt also mit einem bedeutungsschweren Gedankenstrich. Unmit-
telbar zuvor wird die „sehr lustige Sache“, die Philosophen-Gewohnheit, Dichter-
sprüche zu zitieren, mit dem Hinweis diskreditiert, dass Dichter sich recht wenig
um die Wahrheit scheren, es also einer Argumentation eher schadet als nützt,
wenn man einen Dichterspruch heranzieht. Dies geschieht dann natürlich in

34 FW 84, KSA 3, 442, 2–11.


35 FW 84, KSA 3, 442, 17 f.

36 FW 84, KSA 3, 442, 18.


37 FW 84, KSA 3, 442, 22–24.
312 Michael Buhl

Form eines – auch noch falschen! – Homer-Zitates, wodurch der Text schließlich
in einen performativen Widerspruch mündet.38
Durch dieses Beispiel wird nochmals deutlich, wie wichtig bei (Nietzsche-)
Texten die Unterscheidung ist zwischen dem, was ein Text sagt und dem, was er
zugleich tut. Bei genauerem Hinsehen ist nämlich nicht nur der Schluss von
FW 84 ein gezieltes Mittel, die Stringenz der Argumentation zu unterminieren.
Auch der Utilitarismus, auf dessen Seite das Sprecher-Ich scheinbar steht, wird
letztlich diskreditiert. Durch die Einführung verschiedener Formen des Nutzens
wird das Nützlichkeitsdenken als solches angegriffen. Es handelt sich um eine
„a b e r g l ä u b i s c h e N ü t z l i c h k e i t“, mit der in diesem Text die utilitaristische
Position verteidigt wird. Letztlich ist es nur der Glaube an eine Nützlichkeit, der
das Verhalten der Menschen früher wie heute bestimmt. Hier wird gewissermaßen
das Prinzip von FW 191 in die Tat umgesetzt: „Die perfideste Art, einer Sache zu
schaden, ist, sie absichtlich mit fehlerhaften Gründen zu vertheidigen.“39 Zu-
gleich bleibt der Angriff auf die zuerst genannte Gruppe, die „Liebhaber des
Phantastischen am Menschen“, bestehen. Durch das Zitat über die lügenden
Dichter positioniert sich das Sprecher-Ich letztlich zwischen „ernstestem Philoso-
phen“ und „Dichter“: Es wird die Praxis ernsthafter Philosophen übernommen,
die eigenen Behauptungen durch Dichtersprüche zu bekräftigen. Zugleich macht
sich der Sprecher über diese Praxis der ernsthaften Philosophen lustig. Er voll-
zieht aber darüber hinaus auch die Praxis der Dichter: nämlich zu lügen und der
Wahrheit dadurch zu schaden. Dass dies aber tatsächlich die Praxis der Dichter
ist, wird wiederum nur durch die Praxis der ernsthaften Philosophen belegt,
nämlich durch das Zitat eines Dichterspruches. Dieses Zitieren, die Praxis der
Philosophen, ist durch das Falschzitat eine Lüge, somit also zugleich Praxis der
Dichter. Die Position des Sprechers changiert also permanent zwischen Dichter
und Philosoph, ohne dass sie eindeutig bestimmt werden könnte.

5 Widersprüchlichkeit als Textstrategie und die


Relevanz der Zeichen
Friedrich Nietzsche ist nicht nur ein scharfsinniger Denker, sondern er zählt in
Bezug auf seinen Stil und das Geschick seiner Textkomposition zu den heraus-
ragenden Schriftstellern deutscher Sprache. Wie hier skizziert wurde, setzt er sein

38 Der Spruch wird von Aristoteles in der Metaphysik (983a, 3) angeführt.


39 FW 191, KSA 3, 504.
Textstrategie und Performativität 313

kompositorisches Können gezielt ein, um beim Leser bestimmte Wirkungen zu


erzielen. Auch wenn man sich primär für den philosophischen Gehalt von Nietz-
sches Schriften interessiert, darf die Art und Weise der Textkomposition nicht
außer Acht gelassen werden. Spätestens ab der Morgenröthe transportieren Nietz-
sches Werke nicht lediglich einen semantischen Gehalt in Form von Argumenten;
sie evozieren darüber hinaus durch ihre Komposition beim Rezipienten Irritatio-
nen, die diesen nötigen, die im Text vertretenen Thesen zu hinterfragen. Die
Beispiele, die an dieser Stelle ausgewählt wurden, Polyperspektivität und per-
formative Selbstwidersprüchlichkeit, sind Ausdruck einer Textstrategie, die in
unterschiedlicher Ausgestaltung sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makro-
ebene dem gesamten mittleren und späteren Werk zugrunde liegt. Deutlich wird
dies, wie gezeigt, vor allem beim Vergleich der nachgelassenen Schriften mit dem
veröffentlichten Werk. Hier lässt sich, wie an einigen Beispielen ausgeführt, eine
Umarbeitung nachweisen, die Interpretation und Disambiguierung gezielt er-
schwert.
Ebenfalls vornehmlich im Nachlass findet in den Texten der 1880er Jahre die
Ausarbeitung einer Semiotik statt, die ein Erklärungsangebot für die Umsetzung
der Textstrategie liefert. Insbesondere dem Problem des Verstandenwerdens, das
eng mit Nietzsches Individualismus zusammenhängt, kommt in diesem Zusam-
menhang eine entscheidende Rolle zu. Hier besteht trotz der wertvollen Vorarbeit
durch Werner Stegmaier, dem auch dieser Aufsatz entscheidende Impulse ver-
dankt, noch einiges an Forschungsbedarf. Mir scheint Nietzsches Zeichentheorie,
anders als dies Stegmaier darstellt, nicht völlig schlüssig zu sein, sodass zu über-
legen wäre, ob nicht von mehreren, inkongruenten Semiotiken gesprochen wer-
den müsste. Dies verlangt jedoch eine detailliertere Ausarbeitung, die hier nicht
mehr geleistet werden kann. In jedem Fall plausibilisiert Nietzsches Zeichen-
theorie die Anwendung kompositorischer Techniken, die ein einfaches Überneh-
men von ‚Nietzsches Position‘ erschweren und damit den ‚beleidigenden‘ Glau-
ben daran unmöglich machen, man hätte Nietzsche verstanden. Sie kann damit
als Erklärungsangebot und Fundament für seine Textstrategie dienen.
Die Unterscheidung in ‚literarische‘ und ‚wissenschaftliche‘ Texte, wie sie
eingangs unter Rückgriff auf Lotman vorgestellt wurde, kann zwar als grobe
Richtlinie dienen, sie wird aber der Komplexität von Nietzsches Schriften nicht
gerecht. Insbesondere wenn man noch stärker die syntagmatische Verknüpfung
der einzelnen Textabschnitte auf der Makroebene berücksichtigt, was hier aus
Platzgründen vernachlässigt wurde, wäre eine weitere Ausdifferenzierung nötig.
Dies ließe sich mit einer gezielten, auf Nietzsches Schreibweise zugeschnittenen
Ausarbeitung einer Theorie zu Textstrategie und Texttaktik verknüpfen. Nichts-
destoweniger konnte, wie ich hoffe, gezeigt werden, dass Nietzsches teilweise
argumentativ widersprüchliche Schreibweise vor der Folie seiner Semiotik völlig
314 Michael Buhl

plausibel ist. Eine Ausprägung hiervon ist die Position, die „Nietzsche als Dich-
ter“ einnimmt, um den Titel des Forums aufzugreifen, in dessen Rahmen dieser
Aufsatz entstanden ist. Spätestens ab dem mittleren Werk sind die ‚literarischen‘
Passagen sicherlich kein Selbstzweck mehr, sondern gezielter Ausdruck einer
durchgehaltenen Textstrategie. Sie führt – und hierin ist Lotman sicherlich recht
zu geben – zur Zunahme von Komplexität und einer erhöhten Menge bedeutungs-
relevanter Merkmale und macht damit nicht zuletzt den Reiz von Nietzsches
Schriften aus.
Patrick Wagner
Schein und Wahrheit:
Nietzsches Philosophie der Poesie

Abstract: Appearance and truth: Nietzsche’s philosophy of poetry. Starting


with a passage from an early letter of Nietzsche’s, this paper addresses Nietz-
sche’s interest in the relation between art, poetry and metaphysics. It will be
shown how this relation is closely connected to both Plato’s philosophy and the
idea that metaphysics is essentially a disguised form of poetry. Furthermore, it
will be demonstrated that Nietzsche’s quarrel with Plato revolves around the
issues of metaphysics, truth and poetry. Since Nietzsche understands his phi-
losophy as a kind of inverted Platonism, the essay shows the importance of Plato
for Nietzsche’s own poetological position by examining the critique of the poets
in Plato’s Politeia. Nietzsche’s inversion of the platonic hierarchy between truth
and appearance is accompanied by a reconsideration of dialectics, which Plato
saw as a method for seeking the truth.

In einer frühen Notiz aus der Zeit des Jahreswechsels 1869/70 erwähnt Nietzsche
Platons Skepsis gegenüber der Kunst. Dass ihr schöner Schein Wahrheit mehr
verberge als enthülle, sei für Platon der entscheidende Anlass gewesen, die Kunst
in Gänze zu verdammen und zu bekämpfen: „Plato’s Feindseligkeit gegen die
Kunst ist etwas sehr Bedeutendes. Seine Lehrtendenz, der Weg zum Wahren
durch das Wissen, hat keinen größeren Feind als den schönen Schein.“1 Sofern
man sich der Untersuchung des Verhältnisses von Dichtung und Wahrheit zu-
wendet, wie es von Nietzsche in theoria gedacht und zugleich poetisch realisiert
wird, scheint es ratsam, diesen Hinweis ernst zu nehmen. Die Bedeutsamkeit
jener Feindschaft ist gerade in Hinsicht seines eigenen Verständnisses von Kunst
und Wahrheit nie nebensächlich gewesen. Vielmehr, so werde ich versuchen
aufzuzeigen, gibt es hier eine wesentliche Bezugnahme, von der her sich Nietz-
sches Werturteil über die Dichtung überhaupt erst verstehen lässt. So geht dieser
Beitrag der Frage nach, inwiefern Nietzsches Philosophie der Poesie ihre Ent-
stehung dem Geist der platonischen Dichter-Feindschaft verdankt.

1 NL 1869/70, 3[47], KSA 3, 74, 1–3.

DOI 10.1515/9783110474374-014
316 Patrick Wagner

1
S T R E P S I A D E S : Ich beschwöre dich bei dem allmächtigen Zeus, wer sind die
denn, Sokrates, die da,
Die so prächtig singen, so furchtbar schön? Halbgöttinnen,
sollte man glauben!
S O K R A T E S : Bewahre, die himmlischen Wolken sind’s, der
Müßigen göttliche Mächte,
Die Gedanken, Ideen, Begriffe, die uns Dialektik verleihen,
und Logik,
Und den Zauber des Worts, und den blauen Dunst,
Übertölplung, Floskeln und Blendwerk.
S T R E P S I A D E S : Drum ist mir doch auch, da ihr Lied ich vernahm, meine
Seel’ in den Äther entflogen
Und versucht jetzt schon dialektisch den Rauch zu zerlegen
in seine Atome,
Jeden Satz zu zersetzen mit Sätzchen und fein auf die Silben
mit Silben zu stechen;
Drum verlangt es mich sehr, wenn es irgend erlaubt, sie
von Antlitz zu Antlitz zu schauen.2

Ende April, Anfang Mai des Jahres 1868 schreibt Nietzsche, seit Oktober 1867
„Soldat und zwar Artillerist“, aus Naumburg an seinen Internatsfreund Paul
Deussen nach Berlin:

Das Reich der Metaphysik, somit die Provinz der „absoluten“ Wahrheit ist unweigerlich in
eine Reihe mit Poesie und Religion gerückt worden. Wer etwas wissen will, begnügt sich
jetzt mit einer bewußten Relativität des Wissens – wie z. B. alle namhaften Naturforscher.
Metaphysik gehört also bei einigen Menschen ins Gebiet der Gemüthsbedürfnisse, ist
wesentlich Erbauung: andernseits ist sie Kunst, nämlich die der Begriffsdichtung; festzuhal-
ten aber ist, daß Metaphysik weder als Religion noch als Kunst etwas mit dem sogenannten
„An sich Wahren oder Seienden“ zu thun hat.3

Obschon diese Ausführungen auf eine Herleitung verzichten, lässt sich in ihnen
die Genese eines originären Interesses beobachten. Nietzsche formuliert, noch
mit zurückhaltender Geste, eine Herabsetzung der Metaphysik und, hiermit ein-
hergehend, die Relativierung desjenigen, was mit dem Begriff der „‚absoluten‘
Wahrheit“ sowie „dem sogenannten ‚An sich Wahren oder Seienden‘“ angespro-

2 Aristophanes, Sämtliche Komödien, Bd. 1, übertragen von Ludwig Seeger, Einleitung zur Ge-
schichte und zum Nachleben der griechischen Komödie nebst Übertragung von Fragmenten der
alten und mittleren Komödie von Otto Weinreich, Zürich 1952 (= Hoenn, Karl (Hrsg.): Bibliothek
der Alten Welt. Griechische Reihe), S. 134 f. 

3 KSB 2, Nr. 568, S. 268 f., Z. 11 f. u. 50–59.


   
Schein und Wahrheit 317

chen ist. Im Zuge dieser Behauptung verfährt er nur bedingt ikonoklastisch; es


wird lediglich bemerkt, wie es sich verhalte: „Das Reich der Metaphysik“ sei „in
eine Reihe mit Poesie und Religion gerückt worden“, heißt es vage, ohne den
Urheber solcher Reihenbildung näher zu bestimmen. Metaphysik sei demnach, so
Nietzsche, für viele seiner Zeitgenossen ‚Erbauung‘ statt strenge Theorie und
somit lediglich eine Art privater Lebensbewältigungs-Strategie angesichts der
sich ankündigenden Moderne.4
Der Dichtung wird innerhalb dieser Verschiebung eine Schlüsselfunktion
beigemessen. Denn selbst wenn Metaphysik als Wahrheitsgarantin des Absoluten
angesichts einer voranschreitenden und sich massiv ausbreitenden Relativierung
des Wissens nunmehr obsolet zu werden scheint – wovon insbesondere die
naturwissenschaftliche Methodik profitiere5 –, so lasse sich dennoch ein Aspekt
an ihr ausmachen, der über ihre Privatisierung hinaus in einen neuen Bereich
verweist. Sie müsse von nun an ebenso als Kunst jenseits des Erbaulichen
angesehen werden, da die ihr zugehörigen und exklusiven Begriffe, allen voran
jene der „‚absoluten‘ Wahrheit“ und des „An sich Wahren oder Seienden“,
nunmehr ihr wahres Wesen als Kunstprodukte im Sinne erdichteter Worte offen-

4 Adorno thematisiert in der Ästhetischen Theorie die Frage nach dem telos der Kunst, wenn er
auf die verwandte Problematik des ‚ästhetischen Wozu’ zu sprechen kommt. Ebendiese Frage
gewinnt ab jenem Moment an Dringlichkeit, ab dem sich die Kunst von ihren traditionellen
Aufgaben emanzipiert und autonom wird. Dabei problematisiert auch Adorno die Vorstellung von
Kunst als privater, erbaulicher Praxis: „Die Clichés von dem versöhnenden Abglanz, der von der
Kunst über die Realität sich verbreite, sind widerlich nicht nur, weil sie den emphatischen Begriff
von Kunst durch deren bourgeoise Zurüstung parodieren und sie unter die trostspendende Sonn-
tagsveranstaltungen einreihen. Sie rühren an die Wunde der Kunst selber. Durch ihre unvermeid-
liche Lossage von der Theologie, vom ungeschmälerten Anspruch auf die Wahrheit der Erlösung,
eine Säkularisierung, ohne welche Kunst sich nie entfaltet hätte, verdammt sie sich dazu, dem
Seienden und Bestehenden einen Zuspruch zu spenden, der, bar der Hoffnung auf ein Anderes,
den Bann dessen verstärkt, wovon die Autonomie der Kunst sich befreien möchte.“ (Adorno,
Theodor W., Gesammelte Schriften, Bd. 7, hrsg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel
Adorno u. a., 5. Auflage, Frankfurt/Main 2014, S. 10).

5 Francis Bacons empiristisches credo, dem zufolge nur derjenige, der sich der Natur unterwerfe,
sie zu beherrschen vermöge – Induktion statt Deduktion, so die Methoden-Reform –, bringt dabei
die Umwertung auf dem Feld der ‚Wahrheiten‘, um die es hier zu gehen scheint, auf den Punkt.
An einer prominenten Stelle der Dialektik der Aufklärung, unmittelbar zu Beginn des ersten
Kapitels über den Begriff der Aufklärung, verweisen in diesem Zusammenhang Adorno und Hork-
heimer in einem längeren Zitat aus dem Text In Praise of Knowledge auf Bacon. Als Aperçu sei
hiervon der letzte Satz wiederholt: „Heute beherrschen wir die Natur in unserer bloßen Meinung
und sind ihrem Zwange unterworfen; ließen wir uns jedoch von ihr in den Erfindungen leiten, so
würden wir ihr in der Praxis gebieten.“ (Adorno, Theodor W. / Horkheimer, Max, Dialektik der
Aufklärung. Philosophische Fragmente, 18. Auflage, Frankfurt/Main 2009 (= Fischer Wissenschaft,
Bd. 7404), S. 10.
318 Patrick Wagner

barten. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, enthüllt die Metaphysik infolge der
pejorativen Umwertung ihre ästhetischen Reize. Nietzsches Verständnis der Meta-
physik bleibt dergestalt nicht ausschließlich im privat-andächtigen Modus einer
„trostspendenden Sonntagsveranstaltung[ ]“6 verhaftet, wie Adorno in seiner
Ästhetischen Theorie pointieren wird. Ich möchte im Gegenteil der Hypothese
einen gewissen Kredit einräumen, dass Nietzsches Projekt den Versuch einer
Inversion darstellt, die, vermittelt durch eine ästhetische Perspektive, die Mög-
lichkeit einer Neukonfiguration der Metaphysik ins Spiel bringt. In Anverwand-
lung einer Formulierung aus Nietzsches retrospektivem Versuch einer Selbstkritik
der Geburt der Tragödie, ließe sich dieses Vorhaben wie folgt auf den Punkt
bringen: Die Metaphysik – im Original: die Wissenschaft – „u n t e r d e r O p t i k
d e s K ü n s t l e r s z u s e h e n , d i e K u n s t a b e r u n t e r d e r d e s L e b e n s “.7
Wird dieser Kredit gewährt, so eröffnet Nietzsches Briefpassage die Möglich-
keit, von zwei verschiedenen Perspektiven auf die Metaphysik zu sprechen, die
erst infolge ihrer modernen Relativierung bedeutsam werden. Im Zuge ihrer
Suspendierung wird die Metaphysik zum einen jeglicher wahrheitsgarantieren-
den und -generierenden Aufgabe entbunden und fungiert nur noch als poetisch-
religiöses Pharmakon, das, weitestgehend folgenlos, bei gegebenem Anlass vom
Einzelnen konsumiert werden kann. Komplementär zu dieser Degradierung er-
weitert sich jedoch der Spielraum. Die herabstufende Neubewertung wirkt befrei-
end, da sich in der Umdeutung des Metaphysikers ein novum philosophischen
Denkens ankündigt. Die terminologische Neujustierung, anhand der Kategorie
‚Dichtung‘ zu beschreiben, was Metaphysik ihrem Wesen nach eigentlich sei, ist
demnach nicht als ein Akt individueller Willkür einzustufen; vielmehr changiert
sie zwischen einer provokativ-ablehnenden Haltung und traditionsbewusster
Innovation. Zielen Nietzsches Worte darauf ab, einerseits die platonische Meta-
physik einer fundamentalen Kritik auszusetzen, so sind sie immer auch unter dem
Vorzeichen einer Zeit zu lesen, die sich aufgrund des allmählich einsetzenden
Siegeszugs positivistischer Wissenschaft mehr und mehr der Metaphysik entle-
digte. Damit steht Nietzsches metaphysikkritisches Vorhaben sehr wohl in einer
metaphysischen Tradition. Indem der Verlust metaphysischer Wahrheiten sowie
das Ephemere der ihr eigenen Begriffe zum diskussionswürdigen Gegenstand
erhoben wird, wird geradezu die Frage nach Wahrheit, nach Metaphysik und
damit nach der Voraussetzung von Philosophie und philosophischem Sprechen
virulent. Nietzsches aporetisches Unterfangen, metaphysisches Tun als genuin
poetisch zu begreifen, gewinnt so die Form einer philosophisch-kritischen Metho-

6 Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 10.


7 GT Versuch einer Selbstkritik 2, KSA 1, 14, 10 f.

Schein und Wahrheit 319

de. Zu fragen wird sein, inwiefern sich hierin ein aufklärerisches Vermögen
ausprägt.
Es liegt gewiss nahe, hierin den Kern eben jener Fundamentalkritik an der
Metaphysik zu sehen, die sich im Werk Nietzsches kontinuierlich ausdifferenziert.
Insbesondere die Haltung des metaphysischen Denkens als Ausdruck eines
Anspruchs absoluter Hegemonie über Werte, die das menschliche Selbst-
verständnis – die Bereiche der Moral, der Ästhetik wie auch des Psychischen mit
einbegriffen – nachhaltig prägten, wird aus ebendiesem Grund für Nietzsche zum
zentralen Gegenstand seines philosophischen Umwertungsprojekts. Dieses ver-
harrt aber nicht statisch im destruktiven Abbau metaphysischer Vorurteile, son-
dern erfährt seine Fortführung in etwas Neuem. Das für mein Anliegen Wesentliche
dabei ist, dass dieses experimentelle Philosophieren, obwohl es immer auch unter
den Schlagwörtern des Irrationalismus, Skeptizismus wie auch Relativismus sub-
sumiert wurde,8 doch mit einer erkenntniskritischen Sensibilität gegenüber der Art
und Weise einhergeht, wie ein philosophischer Diskurs sich formiert. Philosophe-
me, Lexik, Metaphern, Idiomatik und Stil werden für Nietzsche in diesem Zusam-
menhang zu jenen neuralgischen Punkten, an denen der Charakter und die jewei-
ligen Motive des zur Disposition stehenden Denkens sich diesem unausweichlich
einschreiben.
Dies ist keine Nebensächlichkeit, denn war zuvor von der Fraglichkeit der
metaphysischen Begriffe die Rede, von ihren (möglicherweise) poetischen Ur-
sprüngen, so muss berücksichtigt werden, dass diese Begriffe, zumindest im
Kontext des Platonismus, in einem die Poesie kontrastierenden Modus des Re-
dens entwickelt werden. Vor diesem Hintergrund kann auch eine Notiz Nietzsches
über den „Optimismus der Dialektik“ gelesen werden: „Glaube daß der Begriff
das Wesen des Dings trifft: platonische Idee. Daher Metaphysik der Logik: Identi-
tät von Denken und Sein. Voraussetzung der Ziele des Denkens und der Ziele des
Guten und Schönen. Heiterkeit.“9 Ergänzend seien folgende Stichwörter aus dem
unmittelbaren Umfeld des vorhergegangenen Fragments zitiert: „Ursache der
Heiterkeit – Weltcorrektur.“10 Im 14. Abschnitt der Tragödienschrift wird dies
emphatisch wiederholt sowie um den Zusatz erweitert, dass diese optimistische
Geste der Dialektik das Ende der Tragödie impliziere:

8 Vgl. beispielsweise Thurnher, Rainer, Sprache und Welt bei Friedrich Nietzsche, in: Nietzsche-
Studien, Jg. 9, Berlin / New York 1980, S. 55 u. 58; Ross, Werner, Der ängstliche Adler. Friedrich
Nietzsches Leben, München 1984, S. 534; sowie Djurić, Mihailo, Nietzsche und die Metaphysik,
Berlin 1985, S. 41.
9 NL 1870, 6[14], KSA 7, 134, 16–21.
10 NL 1870, 6[11], KSA 7, 132, 16.
320 Patrick Wagner

[D]enn wer vermöchte das o p t i m i s t i s c h e Element im Wesen der Dialektik zu verkennen,


das in jedem Schlusse sein Jubelfest feiert und allein in kühler Helle und Bewusstheit
athmen kann: das optimistische Element, das, einmal in die Tragödie eingedrungen, ihre
dionysischen Regionen allmählich überwuchern und sie nothwendig zur Selbstvernichtung
treiben muss – bis zum Todessprung in’s bürgerliche Schauspiel. Man vergegenwärtige sich
nur die Consequenzen der sokratischen Sätze: „Tugend ist Wissen; es wird nur gesündigt
aus Unwissenheit; der Tugendhafte ist der Glückliche“: in diesen drei Grundformen des
Optimismus liegt der Tod der Tragödie.11

Jene in der Dialektik zum Vorschein kommende Freude ist affektives Gegenstück
der despotischen Herrschaft der Logik; ihr Optimismus ist nach Nietzsche auto-
kratischer Natur, da sie den Helden des Schauspiels nunmehr zur dialektischen
Reaktion nötigt, auf dass seine Verwicklungen in die Bereiche der Politik, des
Wissens, des Glaubens und der Moral in logisches Wohlgefallen aufgelöst werden
können. Der dialektische Schluss wird dergestalt zum Maßstab der Tragödie, was
nach Nietzsche den Beginn ihres Niedergangs markiert. Die „antidionysische
Tendenz“12 des Sokrates, so Nietzsche, habe Platons Haltung gegenüber der
Kunst geprägt: „Hier überwächst der p h i l o s o p h i s c h e G e d a n k e die Kunst und
zwingt sie zu einem engen Sich-Anklammern an den Stamm der Dialektik.“13
Optimismus und Heiterkeit werden demnach als enthusiastische Begleitzustände
dieses methodischen Vorgehens vorgestellt, das auf die einer „Pseudo-Wirklich-
keit zu Grunde liegende Idee“14 gerichtet ist – das also der Chimäre einer meta-
physischen Wahrheit tatsächlich habhaft werden zu können meint.
Die Dialektik ist das solch einem Erkenntnisprozess angemessene Werkzeug.
Sie dient als Vermittlungsinstanz zwischen Sein und Denken bzw. zwischen Idee
(als ‚Wesen des Dings‘) und Begriff. Im Folgenden sei ihr Verhältnis zur Heiterkeit
etwas schärfer konturiert: Die in den Dialogen zutage tretende Gemütsverfassung
des platonischen Sokrates ist durch eirôneia15 gekennzeichnet. Diese Ironie steht
nicht exponiert für sich, sondern ist gewissermaßen mit der sokratischen Heb-
ammenkunst, maieutikê, sowie der argumentativen Prüfung, elenktikê, ver-
schränkt. Im Symposion lobt daher Alkibiades den Sokrates dafür, dass seine
Ironie immer auch einen Verweis auf die verborgenen „Götterbilder“16 beinhalte,

11 GT 14, KSA 1, 94, 21–32.


12 GT 14, KSA 1, 95, 31.
13 GT 14, KSA 1, 94, 11–13.
14 GT 14, KSA 1, 93, 15 f.

15 Vgl. Platon, Werke in acht Bänden, Bd. 4, griechisch und deutsch, übersetzt von Friedrich
Schleiermacher, bearbeitet von Dietrich Kurz u. a., hrsg. von Gunther Eigler, 6. Auflage, Darmstadt

2011, S. 34 f. (Politeia 337a). Vgl. ebenso Platon, Werke, Bd. 3, S. 366–369 (Symposion 216d–217a).

16 Platon, Werke, Bd. 3, S. 368 f. (Symposion 216d–217a).



Schein und Wahrheit 321

die dieser in seinem Inneren trage und auf die man in seltenen Fällen einen Blick
zu werfen vermöge: „Er hält vielmehr alle diese Dinge (körperliche Schönheit,
Reichtum und die gewöhnlich gepriesenen Vorzüge) für nichts wert und uns für
nichts und verstellt sich nur gegen die Menschen [Εἰρωνευόμενος] und treibt
Scherz [παίζων] mit ihnen sein Leben lang.“17
Das in der Verstellung zurückgehaltene Wissen, welches sich in der sokrati-
schen Unwissenheit (amathia) nach außen kehrt, initiiert den dialektischen Er-
kenntnisprozess, da die Gesprächspartner des Sokrates ihre (vermeintlich) fal-
schen Meinungen infolge seiner Zurückhaltung aussprechen müssen. So fährt
Alkibiades fort: „Ob aber jemand, wenn er ernsthaft war und sich auftat, die
Götterbilder gesehen hat, die er [Sokrates] in sich trägt, das weiß ich nicht. Ich
habe sie aber einmal gesehen“.18 Sokrates ist demnach in zweifacher Hinsicht der
‚heitere Denker‘. Er, der philosophierende Ironiker, lacht nicht nur infolge der
syllogistischen Lösung seines Fragens nach dem Wesen dieser oder jener Sache.
Dieser Heiterkeit steht noch die Komödie vor, in der Sokrates gegenüber den
‚wahren‘ Unwissenden lediglich den Unwissenden mimt.19 Er ist in diesem Sinne
der lachende Philosoph par excellence, der Anti-Tragiker, der – ganz Optimist und
von der Richtigkeit seiner Methode überzeugt – die immanente Logik samt ihren
Auflösungen in Heiterkeit erfährt.
Nietzsche karikiert gewissermaßen diese überhebliche Ironie des heiteren
Dialektikers, wenn er in der Briefpassage einem solchen vorhält, dass seine
Begriffe nur dem Schein nach absolut, de facto aber dichterische Erzeugnisse
seien. So setzt Nietzsche Dialektik und Poesie, die bezüglich ihres Anspruchs auf
Wahrheit als konkurrierende und entsprechend entgegengesetzte Modi der Rede
inszeniert werden, in ein spielerisch-antithetisches Verhältnis zueinander. Und
indem er in der zitierten Briefpassage Metaphysik als Begriffsdichtung mit Kunst
gleichstellt und diese dabei gegenüber jener akzentuiert, verwischt er nicht nur
die traditionell scharf gezogenen Grenzen zwischen Kunst und Philosophie, son-
dern verkehrt deren hierarchisches Verhältnis sogar ins Gegenteil. Aus dem
Postulat, dass der Mensch, sofern er Metaphysik betreibt, eigentlich in poetischer
und nicht in dialektisch-logischer Diktion spreche, ergeben sich daher drei mögli-
che Fragen: (1) Ist er sich dessen bewusst, oder verhält es sich nicht vielmehr so,
dass er im Glauben an die Logik und Metaphysik lebt und dergestalt vom Wahren
spricht, obwohl er nur dichtet? (2) Was geschieht mit der Metaphysik, wenn der

17 Platon, Werke, Bd. 3, S. 368 f. (Symposion 216d–217a).


18 Platon, Werke, Bd. 3, S. 368 f. (Symposion 216d–217a).


19 Zur Ironie des platonischen Sokrates vgl. Westermann, Hartmut, Ironie [Artikel], in: Horn,
Christoph / Müller, Jörn / Söder, Joachim (Hrsg.), Platon-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung,
Stuttgart / Weimar 2009, S. 297–300, hier S. 297 f.

322 Patrick Wagner

Metaphysiker sich als Dichter entdeckt? (3) Wenn die ‚Selbsterkenntnis‘ des
Metaphysikers die Begriffe des ‚wahrhaft Seienden‘ und der ‚absoluten Wahrheit‘
aufhebt, was geschieht dann mit dem, was gemeinhin mit dem Begriff ‚Wahrheit‘
bezeichnet wird?
Bevor ich im dritten Teil des Beitrags die beiden zuletzt genannten Fragen
aufgreifen werde, kann hinsichtlich der ersten Frage bereits an dieser Stelle eine
gewisse Unentschiedenheit bemerkt werden. Nietzsches Formulierung in der ein-
gangs zitierten Briefpassage deutet an, dass Metaphysik durchaus als eine ‚blinde
Wissenschaft‘ begriffen werden kann, deren Mangel in einer Unwissenheit über
ihr eigenes Wesen besteht. So aufgefasst, wäre die Geschichte der Metaphysik die
Geschichte einer Verdrängung, in welcher die dichterische Phantasie, ihres Zei-
chens Urheberin des metaphysischen Diskurses, sich selbst zu ernst nimmt und
im Zuge eines mehr oder minder unbewussten Selbsterhaltungstriebs ihr eigenes
schöpferisches Tun schlichtweg dem Vergessen preisgibt. Dennoch liegt in Nietz-
sches Formulierung, die Metaphysik sei andererseits Kunst, gleichermaßen die
Möglichkeit, dass der Metaphysiker sein eigenes Tun als ein künstlerisch-dichteri-
sches zu erfassen vermag.
Sofern man gewillt ist, diese Perspektive auf die Metaphysik ernst zu nehmen,
muss Nietzsche zugestanden werden, dass seine kritischen Betrachtungen ten-
denziell unter dem Vorzeichen der Aufklärung zu verstehen sind. Seine Themati-
sierung der Metaphysik und ihre Taxierung als Dichtung zielen ja gerade darauf
ab, das ursprünglich als angemessen beurteilte Sprechen, in dem die metaphysi-
schen Begrifflichkeiten entwickelt und geäußert werden, als eigentlich unange-
messen zu entlarven. Demnach soll gerade derjenige zur Vernunft gebracht
werden, der meint, am vernünftigsten zu sein: der Metaphysiker. Dieser denke
und spreche gewissermaßen falsch, wenn er im Modus von Dialektik und Logik
von der einen und absoluten Wahrheit spricht und davon ausgeht, dass die so
geschaffenen Begriffe tatsächlich das Wesen der Dinge erfassen. Sein Trugschluss
komme gerade darin zum Vorschein, dass er der Vermutung erliegt, hinter seinen
sprachlichen Äußerungen existierten faktische Wesenheiten.20

20 Vgl. Deleuze, Gilles, Nietzsche und die Philosophie, Hamburg 1991, S. 100. Deleuze verweist
auf ebendiese aufklärerische Absicht Nietzsches, wenn er dessen Vorhaben mit jenem Kants
vergleicht. Beide bemühen sich darum, wenn auch in gegensätzlicher Weise, die Grenzen der
Vernunft zu bestimmen. Dahingehend lässt sich auch die Kritik Nietzsches an Kant verstehen;
seinem problematischen Verhältnis zwischen kritisierender Instanz und Objekt der Kritik – sie
sind nämlich weitestgehend identisch – sei es geschuldet, dass die Kritik letztlich folgenlos
bleiben müsse. So schreibt Deleuze über Nietzsches Kant-Kritik: „Kant […] entschied, daß die
Kritik der Vernunft eine durch die Vernunft selbst zu sein habe. Gründet aber nicht darin der
Kantische Widerspruch: die Vernunft im gleichen Atemzug zum Gericht und zum Angeklagten,
Schein und Wahrheit 323

Um diesen ‚metaphysischen Irrtum‘ zu korrigieren, bedarf es allerdings eines


Denkens und einer Sprache, die gerade nicht auf metaphysischen Vorstellungen
beruhen. Dies ist die methodische Problematik, der sich Nietzsche mit seinem
Vorhaben ausgesetzt sieht. Im Versuch einer Selbstkritik reflektiert er das Problem
retrospektiv, indem er die (sprachlich) mangelhafte Umsetzung der Erstlings-
schrift beklagt, die viel zu sehr von der „Schwere und dialektische[n] Unlustigkeit
des Deutschen“21 geprägt sei:

Sie hätte s i n g e n sollen, diese „neue Seele“ – und nicht reden! Wie schade, dass ich, was ich
damals zu sagen hatte, es nicht als Dichter zu sagen wagte: ich hätte es vielleicht gekonnt!
Oder mindestens als Philologe: – bleibt doch auch heute noch für den Philologen auf diesem
Gebiete beinahe Alles zu entdecken und auszugraben! Vor allem das Problem, d a s s hier ein
Problem vorliegt, – und dass die Griechen, so lange wir keine Antwort auf die Frage „was ist
dionysisch?“ haben, nach wie vor gänzlich unerkannt und unvorstellbar sind…22

Die Überwindung der Metaphysik droht folglich insofern zu scheitern, als die
dabei angewandten Mittel selbst dem Bereich der Metaphysik entstammen. Die-
ses Unvermögen in der Wahl der richtigen Mittel bescheinigt sich Nietzsche rück-
blickend: Es hätte eher der Poesie und Kunst bedurft, um das Anliegen in die Tat
umzusetzen. Wenngleich diese Selbstbezichtigung durchaus unter Vorbehalt zu
lesen ist, muss der darin zum Ausdruck kommenden Skepsis im Prinzip bei-
gepflichtet werden. Im Medium philosophischer Begriffe vom Ende der Meta-
physik zu sprechen, es mithin logisch herzuleiten, kann den Anschein eines
performativen Widerspruchs erwecken, so als würde die Vormachtstellung der
traditionellen Philosophie auf diese Weise gerade unfreiwillig bestätigt.
Bevor ich mich dieser Problematik im Detail zuwende, soll zunächst auf-
gezeigt werden, wovon Nietzsche sich abstößt und wie dies geschieht. Den
Antipoden zu benennen, erscheint dabei einfach: Platon und insbesondere der
platonische Sokrates werden von Nietzsche als die ihm entgegengesetzten Stell-
vertreter eines Denkens präsentiert, das zentrale Bedeutung für die Etablierung
der Metaphysik besitzt. Die bloße Feststellung dieser Absage greift allerdings zu
kurz und vermag nicht, das komplexe Verhältnis hinreichend zu beleuchten.
Vielmehr gilt es zu berücksichtigen, dass das Negierte in jeder Absage auch
Anerkennung findet. Je heftiger dabei der Abgrenzungsversuch ausfällt, desto
inniger mag die tatsächliche Verbindung zum Negierten sein. Ähnliches deutet
auch Nietzsche selbst an. In einer Notiz konstatiert er: „Meine Philosophie u m -

zum Richter und zu einer Partei zu erheben – richtend und gerichtet?“ (Deleuze, Nietzsche und die
Philosophie, S. 102).
21 GT Versuch einer Selbstkritik 3, KSA 1, 14, 31 f.

22 GT Versuch einer Selbstkritik 3, KSA 1, 15, 9–17.


324 Patrick Wagner

g e d r e h t e r P l a t o n i s m u s : je weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so reiner


schöner besser ist es. Das Leben im Schein als Ziel.“23
Die Passage indiziert, dass Nietzsches Philosophie sowie die sich in ihr
realisierende Kritik der Tradition, gerade weil sie auf eine Überwindung des
Platonismus abzielt, zugleich in einer subtilen Verwandtschaft, möglicherweise
gar Abhängigkeit zu ihm steht. Dies ist die Pointe, die im metaphorischen
Gebrauch des Adjektivs ‚umgedreht‘ zum Ausdruck kommt. Dreht man eine Karte
um, bleibt die Karte dieselbe, nur die Ansicht des Betrachters wechselt. Bezieht
man die Metapher wieder auf Nietzsche und sein Verhältnis zu Platon, so erschei-
nen die Denkweisen beider identisch, nur dass Nietzsche die platonische Denk-
weise aus entgegengesetzter Perspektive anwendet, sie gewissermaßen ‚vom Kopf
auf die Füße‘ stellt. Freilich führt er diesen Ansatz in der zitierten Notiz nicht
weiter aus. Trotzdem ist es möglich, sich Nietzsches Perspektive vorzustellen: Ihr
zufolge ist der „Schein“ erstrebenswerter als das „wahrhaft Seiende“, wobei
bezeichnenderweise metaphysische Begrifflichkeiten als Paten für die Apologie
bemüht werden: „[R]einer schöner besser“ als das „wahrhaft Seiende“ sei der
„Schein“. Die Aufzählung mündet in der Formulierung des „Ziel[s]“ der Philoso-
phie: dem „Leben im Schein“. Es lässt sich nicht ohne Weiteres angeben, was
genau hiermit gemeint ist; für die platonische Philosophie ergibt sich allerdings
ex negativo, dass sie umso „reiner schöner besser“ sei, je weiter sie sich vom
Schein entferne – das Leben im „wahrhaft Seienden“ sei ihr Ziel.
Im Rekurs auf seinen platonischen Gegenpol ist nun zu zeigen, wie genau
Nietzsche Platons Denken ‚umdreht‘. Dafür soll dieses stärker in den Blickpunkt
rücken.

2
Heil, wer n i c h t bei Sokrates
sitzen mag und reden mag,
nicht die Musenkunst verdammt
und das Höchste der Tragödie
nicht verächtlich übersieht!
Eitel Narrheit ist es doch,
auf gespreizte hohle Reden

23 Vgl. NL 1770/71, 7[156], KSA 7, 199. Heidegger zitiert diesen Passus an exponierter Stelle seines
Textes Der Wille zur Macht als Kunst (vgl. Heidegger, Martin, Nietzsche I, 7. Auflage, Stuttgart
2008, S. 156).
Schein und Wahrheit 325

und abstraktes Spintisieren


einen müßigen Fleiß zu wenden!24

Will man verstehen, inwiefern Nietzsches Position zur Beziehung von Wahrheit
und Dichtung auf jener Platons aufbaut, wie also die unterschiedliche Gewich-
tung der Begriffe sich bei beiden ausnimmt, so kommt man nicht umhin, explizit
nach Platons Dichter-Verständnis zu fragen. Im Folgenden wird versucht, die
Bedeutung der poiesis für die platonische Philosophie in ihren Grundzügen dar-
zustellen. Dabei gilt es im Blick zu behalten, wie sich diese zur Wahrheit, zur
alêtheia, verhält.
Ich beginne mit dem Gerichtsprozess, der zur Verurteilung und zum Tod des
Sokrates führen wird. In der platonischen Apologie wird jenem ein zutiefst pro-
blematisches Verhältnis zur Wahrheit zur Last gelegt. Sokrates, der am Ende
juristisch unterliegen und nach dem Urteilsspruch aus dem Schierlingsbecher
trinken wird, wiederholt zu Beginn des Textes die Anklage des Meletos: „Sokrates
frevelt und treibt Torheit, indem er unterirdische und himmlische Dinge unter-
sucht und Unrecht zu Recht macht [ποιῶν] und dies auch andere lehrt.“25 Zweier-
lei fällt hier auf. Gemäß der Anklage wird Sokrates’ Wissensdrang, der nicht
vor naturwissenschaftlichen Fragestellungen kapituliert, als Blasphemie auf-
gefasst.26 Allein hierauf beschränkt sich die Anschuldigung allerdings nicht. Er
mache nämlich, wie es heißt, Unrecht zu Recht und lehre dies zugleich. Damit
wird ihm im Grunde vorgeworfen, ein Wahrheitsverdreher zu sein, der sich in der
Kunst der Überredung (πείθω) eben nicht von der von ihm vielgepriesenen
Erkenntnis (ἐπιστήμη) leiten lasse, sondern vielmehr in täuschender Absicht
seine eigene Vorstellung von Recht rhetorisch geschickt an den Mann bringe.
Sokrates lüge demnach wissentlich und erzeuge dergestalt nur den Anschein von

24 ST, KSA 1, 544, 11–19. Es handelt sich um ein Zitat aus Aristophanes’ Komödie Die Frösche
(Gesang des Chors, V. 1491–1495).
25 Platon, Werke, Bd. 2, S. 7–9 (Apologie 19 b–c).
26 Dies wurde von Aristophanes, den Sokrates auch für die ihm entgegengebrachte Antipathie
mitverantwortlich macht, mit unmissverständlichem Witz in Die Wolken angesprochen. Strepsia-
des, wortwörtlich: der Rechtsverdreher, sagt bei seiner ersten Begegnung mit Sokrates zu diesem:
„S TREPSIADES
T REPS IADES : He, Sokrates! – Sokrates’chen – Du dort! S TIMME AUS DER H ÖHE : Was rufst du mich,
du Sohn des Staubes? S TREP SIADE S : Nein, aber sag, was machst du denn da oben? S OKRAT ES
langsam und feierlich: In Lüften schweb’ und Helios überseh’ ich. S TREPSIADES
TRE PSIADES : So? Ü b e r u n s e r e
G ö t t e r s i e h s t d u w e g ? – Warum denn hoch im Korb und nicht am Boden? S OKRATES
OKRATE S : Wie
könnt’ ich wahr das Überird’sche deuten: Wenn schwebend nicht des Geistes zarter Äther mit dem
verwandten Element sich mischte? Umsonst vom Boden unten schau’ ich auf nach oben: denn die
Erde zieht zu sich unwiderstehlich des Gedankens Tau: – Ein Beispiel hast du an der Brunnen-
kresse.“ (Aristophanes, Sämtliche Komödien, Bd. 1, S. 130, Hervorhebung PW).
326 Patrick Wagner

Rechtschaffenheit. Es handelt sich dabei ironischerweise um denselben Vorwurf,


den Sokrates gegenüber dem Rhetor Gorgias sowie den sogenannten Sophisten
formuliert.27 In der Schuldzuweisung des Melotes verbirgt sich aber noch ein
weiterer Aspekt: Dem Wortlaut nach wird die Verdrehung von Recht und Unrecht
mit dem Verb ποιέω ausgedrückt, welches generell ‚etwas tun, machen, herstel-
len, in Existenz bringen‘ bedeutet, aber in einem sehr speziellen Sinn auf die
lyrische Produktion qua Dichten, Schreiben und Singen verweist: auf poiesis.
Platon war sich dieser semantischen Ambivalenz durchaus bewusst, lässt er doch
Diotima im Symposion über eben diese sprechen.
In ihrer Rede über die Liebe, die das Zentrum jenes Dialogs bildet, erklärt
Diotima dem damals noch unkundigen Sokrates, dass dem Eros eine ganz ähn-
liche Doppeldeutigkeit innewohne wie der Dichtung (ποίησις). So bezeichne man
nicht jede Art des Liebens tatsächlich mit dem Wort ‚Liebe/eros‘, obwohl doch
eine jede in letzter Konsequenz dasselbe erstrebe und daher dem eigentlichen
Verständnis nach als Liebe zu gelten habe. Zur Veranschaulichung führt Diotima
Sokrates den mehrdeutigen Begriff der Poesie vor Augen, indem sie ihm das im
Deutschen nicht nachvollziehbare, doppelsinnige Wortspiel wie folgt verständ-
lich macht:

Du weißt doch, daß Dichtung [ποίησίς] etwas gar Vielfältiges ist. Denn was nur für irgend
etwas Ursache wird, aus dem Nichtsein in das Sein zu treten, ist insgesamt Dichtung. Daher
liegt auch bei den Hervorbringungen aller Künste [τέχναις] Dichtung zugrunde, und die
Meister [δημιουργοὶ] darin sind sämtlich Dichter. – Ganz richtig. – Aber doch weißt du
schon, daß sie nicht Dichter genannt werden, sondern andere Benennungen haben, und
von der gesamten Dichtung wird nur ein Teil ausgesondert, der es mit der Tonkunst
[μουσικὴν] und den Silbenmaßen [μέτρα] zu tun hat, und dieser mit dem Namen des Ganzen
benannt. Denn dies allein wird Dichtung genannt und, die diesen Teil der Dichtung inneha-
ben, Dichter [ποιηταί].28

Zweierlei ist an diesem kurzen Passus bemerkenswert: Zunächst erscheint interes-


sant, dass Platon den Begriff des Eros mit dem der Poesie erläutert, indem er auf
die gleichartige Mehrdeutigkeit beider aufmerksam macht, obwohl diese in der
Alltagssprache kaum bis gar nicht zum Tragen kommt. Denn es ist beiden Wör-
tern gemeinsam, dass sie trotz ihrer ausgedehnten Verwendungsmöglichkeiten
doch nur in einem auffallend beschränkten Bereich Anwendung finden. Kann
Liebe Diotima zufolge als ein Streben nach dem Schönen – genauer: nach dem

27 Vgl. Platon, Werke, Bd. 2, S. 294–297 (Gorgias 454e–455d).


28 Platon, Werke, Bd. 3, S. 324 f. (Symposion 205b–c). Vgl. ferner Aristoteles, der zu Beginn der

Poetik dieselbe Frage erörtert: Aristoteles, Poetik, griechisch/deutsch, übersetzt und hrsg. von
Manfred Fuhrmann, Stuttgart 2005, S. 7 (Poetik 1447b).
Schein und Wahrheit 327

Erzeugen im Schönen – aufgefasst werden, so spricht man gewöhnlich doch nur


bei der geschlechtlichen Liebe von Eros. Die Poesie wiederum bezeichnet im
konventionellen Sprachgebrauch lediglich, wie Platon schreibt, dasjenige, was
mit der Musik und dem Silbenmaß zu tun hat, obwohl jeder Akt des Erschaffens
und Hervorbringens streng genommen poiesis ist.
Diese terminologische Heterogenität ergänzt Platon noch um eine ambivalen-
te Wertung. Indem er unter Zuhilfenahme des Poesie-Begriffs eine bestimmte
Facette des Eros-Begriffs erläutert und Diotima vom Nebeneinander lyrischer und
allgemeiner poiesis sprechen lässt,29 nimmt das poetische Tun als lyrisches
Dichten eine durchaus prominente und herausragende Position innerhalb der
Ordnung menschlichen Tuns ein: Dem Singen wie auch dem Dichten von Versen
und Tragödien wird der Sonderstatus zuteil, als eine spezifische Art des Poeti-
schen dem ganzen Bereich menschlicher poiesis semantisch vorzustehen. Poesie
könnte daher, vermittelt durch den lyrischen Ausdruck, als Inbegriff des mensch-
lichen Schöpfungsvermögens verstanden werden. Eine strikte Festlegung hierauf
wäre allerdings allzu vorschnell; denn mit der Annahme, es gäbe eine Hierarchie
menschlichen Tuns, die angeführt wird von der lyrischen Dichtung, wird zumin-
dest im Denken Platons radikal gebrochen. Dies gibt er bereits dem Ansatz nach
zu verstehen, wenn er in dem oben angeführten, der Apologie entnommenen Zitat
das Verb ‚ποιῶν‘ verwendet, um den Akt der Verkehrung von Recht in Unrecht
auszudrücken. Und selbst wenn dies dem zuvor Gesagten nicht zwangsläufig
widerspricht, wird dennoch deutlich, dass Platon den Wert der Poesie problema-
tisiert, da er diese in der Apologie in ein unstetes Verhältnis zur Wahrheit rückt.
Gerade ihre große schöpferische Kraft prädestiniert die Poesie dazu, immer auch
ein Mittel der Lüge, der Täuschung und des Unwahren zu sein. Dies soll im
Folgenden breiter ausgeführt werden.
Platons Kritik an den Dichtern bzw. der Poesie, die auf ihre Verbannung aus
dem idealen Staatsgebilde hinausläuft, entzündet sich an den Aufgaben der
Erziehung und Bildung (paideia). In seinem Dialog über den idealen Staat, der
Politeia, lässt er Sokrates über die richtig angewandte Pädagogik referieren, die
denen zugutekommen soll, welche mit dem Schutz des Staats beauftragt sind,
den Wächtern. Die Außergewöhnlichkeit der platonischen Staatstheorie besteht
darin, dass Dichtung ihr zufolge in einem engen Zusammenhang mit dem Wohl
des Staates steht, was Platon von der Verschränkung des Schicksals von Staat

29 Freilich ist diese nicht zu verwechseln mit jener ‚Schöpfung‘, auf die letztlich der Eros abzielt.
Das Erzeugen im Schönen ist nicht poiesis, die eine artifizielle, technisch-künstlerische Konnota-
tion besitzt, sondern genesis, wie Diotima ausführt: „Denn die Liebe, o Sokrates, geht gar nicht auf
das Schöne, wie du meinst. – Sondern worauf denn? – Auf die Erzeugung [γεννήσεως] und
Ausgeburt [τόκου] im Schönen.“ Platon, Werke, Bd. 3, S. 330 f. (Symposion 206e)

328 Patrick Wagner

und einzelnem Bürger herleitet. Wenn er also in einer ersten Diskussion des
Poesie-Problems im zweiten Buch der Politeia (376c–398b) Sokrates sich extensiv
den Beispielen widmen lässt, die veranschaulichen sollen, auf welche Art und
Weise Poesie einen verderblichen Einfluss auf den einzelnen Staatsbürger aus-
übt, so geht es ihm immer auch in zweiter Konsequenz um die Frage, inwiefern
dies Auswirkungen auf die Stabilität des gesamten Staats haben kann. Gegen-
stück dieses Interesses an den politischen Folgen der Kunstwirkung auf den
rezipierenden Bürger ist, dass Sokrates/Platon, indem er nachdrücklich vor der
Wirkmächtigkeit dieser sich zwischen poetischer Sprache und poetischem Gehalt
entwickelnden Dynamik warnt, sie gewissermaßen als eine force majeure an-
erkennt und ihr dahingehend tatsächlich eine besondere Rolle innerhalb des
menschlichen Tuns zuspricht – Poesie erscheint als akut staatsgefährdend, da sie
moralisch korrumpiert.
Platons Grundidee liest sich damit annähernd wie eine staatstheoretische
Anverwandlung der kriegsentscheidenden Passage der homerischen Ilias. Denn
Platon entwirft die Bedrohung, die von der Poesie und den Dichtern ausgehe, in
Anlehnung an die naiven Trojaner, die sich vom schönen Schein des hölzernen
Pferdes blenden ließen und hierfür mit dem Untergang ihrer polis bezahlten: Die
Metaphern und Verse der Dichter sind dem Unkundigen trojanische Pferde.
Gefährdet seien vor allem Kinder und Jugendliche, deren schwache Urteilskraft
sie anfällig mache für den poetischen Gehalt, der verführerisch auf sie einwirke
und entsprechend nachteilige Auswirkungen für ihre Entwicklung mit sich brin-
gen könne. Dies habe wiederum unkalkulierbare, negative Konsequenzen für den
künftigen Staat, da dieser von den aktuell Heranwachsenden zu tragen ist: „Denn
der Jüngling ist nicht imstande zu unterscheiden, was dieser verborgene Sinn
[ὑπόνοια] [der Dichtung] ist und was nicht; aber was er in diesen Jahren in seine
Vorstellung aufnimmt, das pflegt schwer auszuwaschen und umzuändern zu
sein.“30
Konkret bedeutet dies, dass nur jene Poesie anerkannt und toleriert werden
kann, die sich pädagogisch in den Dienst der Staatserhaltung und -förderung
stellen lässt. Der Zweck bestimmt dabei den Gehalt: Die Darstellung eines Gottes
dürfe sich nicht in der Nachahmung allzu menschlicher Befindlichkeiten und
Affekte ergehen, da das Bild einer lachenden, weinenden, jammernden und
eifersüchtigen Gottheit sittlich zersetzend wirke. Analog hierzu solle der antike
Heros nicht in erstarrtem Entsetzen und in Furcht vor dem Tod inszeniert werden,
da solches ebendiese Furcht in dem Maße reproduziere, wie es zu faszinieren
vermöge. Missachtet die Poesie die ihr anvertraute Vorbildfunktion, indem sie

30 Platon, Werke, Bd. 4, S. 160 f. (Politeia 378d–e).



Schein und Wahrheit 329

nicht Gutes und Wahres mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zur An-
schauung bringt, kann ihr kein Platz innerhalb der platonischen polis gewährt
werden.31
Diese Bemerkungen liefern zwar beredte Beispiele, wie Sokrates/Platon sich
die verderbliche Poesie vorstellt und wie eine ‚bereinigte‘ Dichtung möglicher-
weise ins Staatsgebilde integriert werden könnte; dennoch wird der spezifisch
poetische Wirkmechanismus, mit dem sich jene Kritik rechtfertigen ließe, an
dieser Stelle nicht erklärt. Das geschieht erst im letzten, dem zehnten Buch der
Politeia (595a–608b), das mit dem Hinweis eröffnet wird, dass die Seele des
Zuhörers nur dann vor der Dichtung geschützt sei, sofern sie wisse, wie sich die
Dinge in Wirklichkeit (ὄντα) verhalten. Dieses Wissen über die tatsächlichen
Verhältnisse wird dabei mit der medizinischen Metapher des „Pharmakon“
(φάρμακον) bezeichnet.32
Mit diesem Begriff antizipiert Platon das Ziel seiner Dichterkritik, die sowohl
den Poeten als auch den Rezipienten umfasst: Poesie ist für ihn nur zu tolerieren,
sofern sie in einem Abstimmungsverhältnis zum „wahrhaft Seienden“, zur Wahr-
heit bzw. wahren Verfassung der von ihr behandelten Gegenstände steht. Da sie
diesen Bereich allerdings nicht selbstständig zu erschließen vermag, hat sie sich,
gemäß ihrem sekundären Status, einem vorangehenden Erkenntnisprozess unter-
zuordnen, der ihr den wahren Gehalt der Dichtung vorgibt. Platons ‚Pharmazie‘33
ist dergestalt als seine eigene philosophische Methode zu begreifen – und er zeigt
im zehnten Buch der Politeia, dass die Poesie dieser konträr gegenübersteht. Als
Schlüsselwort, das den wahrheitsabgewandten Charakter der Poesie belegen soll,
dient dabei die mimesis, welche die nachahmende Darstellungsweise in den
Künsten bezeichnet.
So beginnt Sokrates/Platon die Herleitung mit einer Frage nach der Tätigkeit
des Demiurgen: des handwerklichen Meisters. Indem dieser etwas fertigt, bringt er
zwar einen einzelnen Gegenstand zur Existenz, jedoch nicht dessen begrifflich
fassbare Idee. Diese ist immer schon gegeben und damit dem handwerklichen Tun
übergeordnet, welchem sie im Sinne eines Plans die notwendige Orientierung
bietet.34 Die didaktische Pointe des Textes kündigt sich im direkten Anschluss

31 Die relevanten Textstellen finden sich in: Platon, Werke, Bd. 4, S. 162 f. (Politeia 327a–b) u.

S. 204–217 (Politeia 394c–398b).


32 Platon, Werke, Bd. 4, S. 792 f. (Politeia 595b).

33 Dieser Terminus ist dem gleichnamigen Text Jacques Derridas entlehnt (vgl. Derrida, Jacques,
Dissemination, deutsche Erstausgabe, übersetzt von Hans-Peter Gondek, hrsg. von Peter Engel-
mann, Wien 1995, S. 69–190). Derrida geht es vor allem um die im Phaidros entwickelte Schrift-
kritik und den mit der Schrift assoziierten Pharmakon-Begriff.
34 Platon, Werke, Bd. 4, S. 794 f. (Politeia 595b–c).

330 Patrick Wagner

hieran in Form einer rhetorischen Frage an: Wie müsse man jemanden bezeichnen,
der augenblicklich einen jeden – künstlichen oder natürlichen – Gegenstand
machen kann („Ος πάντα π ο ι ε ῖ “)?35 Stößt diese Vorstellung einer radikal ent-
grenzten Poesie auf Unglauben seitens Sokrates’ Gesprächspartner, der mit der
Antwort vorliebnimmt, es könne sich bei solch einem Menschen nur um einen
Sophisten („σοφιστήν“)36 handeln, so beharrt doch Sokrates, zumindest vorder-
gründig, auf der prinzipiellen Durchführbarkeit eben dieser Art des Machens. Unter
Zuhilfenahme eines Spiegels („κάτοπτρον“)37 sei es nämlich möglich, bald dieses,
bald jenes zu machen. Hier zeigt sich allem Anschein nach eine begriffliche
Unschärfe, die es zu klären gilt. Denn die erneute Verwendung des Verbs ‚ποιέω‘
macht an dieser Stelle auf die Verlegenheit aufmerksam, dass poiesis verschiedene
Herstellungsweisen miteinschließt, deren Ergebnisse, dieser Vielfältigkeit entspre-
chend, höchst unterschiedliche Seinsweisen darstellen können. Sokrates spielt mit
seiner Frage auf diese Schwierigkeit an, denn gewiss geht auch er nicht davon aus,
dass beispielsweise das Spiegelbild eines Betts denselben ontologischen Status
innehat wie ein tatsächlich verwendbares Bett, in dem man schlafen kann. Dies
wird auch von Glaukon im Dialog unverzüglich erkannt. Das Spiegelbild sei eben
nur „scheinbar [φαινόμενα], […] jedoch nicht in Wahrheit [ἀληθεία] seiend.“38
Damit ist die entscheidende Opposition ausgesprochen, derer sich Platon widmen
muss: die Verortung der Poesie im Zwiespalt zwischen Schein und Wahrheit.
Die Wahl dieser Opposition als Ausgangspunkt der Dichterkritik mündet in
einer Beurteilung der verschiedenen Weisen des Hervorbringens. Für das Bett gilt
demnach: Sein Wesen („φύσει“)39 ist einmalig, verfertigt von Gott, den Platon an
dieser Stelle „φῠτουργός“ nennt, was Schleiermacher mit „Wesenbildner“40
übersetzt, in einem weiteren Sinne aber den Erzeuger, Vater, ebenso aber Pflanzer
und Gärtner meint. An eine solche gottgegebene Vorstellung hat sich derjenige zu
halten, der tatsächlich ein Bett zu verfertigen beabsichtigt: der Demiurg oder
„Werkbildner“,41 wie es bei Schleiermacher heißt. Dieser Werkbildner befindet

35 Platon, Werke, Bd. 4, S. 794 f. (Politeia 595b–c).


36 Platon, Werke, Bd. 4, S. 796 f. (Politeia 596d).


37 Platon, Werke, Bd. 4, S. 796 f. (Politeia 596d).


38 Platon, Werke, Bd. 4, S. 796 f. (Politeia 596d). Vgl. hierzu Heidegger, der in Der Wille zur Macht

den altgriechischen Text und damit die Schleiermacher-Übersetzung ‚präzisiert‘: „Hier stehen
einander ὂν φαινόμενον und ὂν τῇ ἀληθείᾳ entgegen: das Seiende als sich Zeigendes und das
Seiende als Nichtverstelltes; keineswegs φαινόμενον als ,Schein‘ und ,Scheinbares‘ auf der einen
und ὂν τῇ ἀληθείᾳ als ,Sein‘ auf der anderen Seite; sondern jedesmal ὂν – ,Anwesendes‘, aber in
verschiedener Weise des Anwesens.“ (Heidegger, Nietzsche I, S. 180).
39 Platon, Werke, Bd. 4, S. 801 (Politeia 596e).
40 Platon, Werke, Bd. 4, S. 801 (Politeia 596e).
41 Platon, Werke, Bd. 4, S. 801 (Politeia 596e).
Schein und Wahrheit 331

sich in einem Verhältnis zum tatsächlichen Wesen des Bettes, das ihm die Form
und, durch sie vermittelt, auch den besten Herstellungsprozess vorgibt. An dritter
Stelle nennt Platon denjenigen, der am weitesten von diesem Wesen entfernt ist.
Es handelt sich dabei um den Nachbildner, den Mimetiker („μῑμητὴς“),42 als
welchen Platon den Maler ebenso wie den Tragödiendichter begreift. Im Gegen-
satz zum Demiurgen gilt für den Mimetiker, dass er in seinem Tun gerade nicht
auf das Wesen des Betts bezogen ist, sondern sich der Mannigfaltigkeit des sinn-
lich Gegebenen annimmt, die dem Kunstwerk seine Gestalt vorgibt. So fragt
Sokrates:

Auf welches von beiden geht die Malerei [sowie die Dichtung] bei jedem? Das Seiende
nachzubilden, wie es sich verhält, oder das Erscheinende, wie es erscheint, als eine
Nachbildnerei der Erscheinung [φαντάσματος] oder der Wahrheit? – Der Erscheinung
[φαντάσματος], sagte er [Glaukon]. – Gar weit also von der Wahrheit ist die Nachbildnerei;
und deshalb, wie es scheint, macht sie auch alles, weil sie von jedem nur ein Weniges trifft
und das im Schattenbild [εἴδωλον].43

Phantasmatisch ist nach Platon die Arbeit des Dichters, ihr Maßstab nicht mehr
als ein schattenhaftes Idol. Diese abschätzige Verwendung des Phantasma-Be-
griffs ist jedoch ambivalent. Zwar spricht sich darin eine dem Ansatz nach
psychopathologische Bewertung der Poesie aus, da der Begriff des Phantasmas
neben der Erscheinung auch das Gespenstische sowie das Traumgesicht bezeich-
net. Man könnte ihn auch im weitesten Sinne als eine Form unkontrollierter
Projektionsleistung der Einbildungskraft verstehen. Zugleich steht er etymolo-
gisch in einem Zusammenhang mit der Phantasie,44 worin zumindest anklingt,
dass Platons Einschätzung des von ihm verwendeten Begriffsnetzes möglicher-
weise nicht den Kern der Sache treffen könnte. Hierauf bezieht sich ein denkbarer
Einwand, ist doch die Frage durchaus berechtigt, ob der nachahmende Künstler
in seinem Schaffen ausschließlich auf jenen Gegenstand bezogen ist, den er
abzubilden beabsichtigt. Wäre dem so, hätte man es mit einem Konkurrenzver-
hältnis zu tun, in welchem der leichtgläubige Rezipient bzw. Künstler dem Phan-
tasma den Vorzug gibt gegenüber demjenigen Gegenstand, der sich im Grunde
genommen näher am wahren Wesen der Sache befindet. Allerdings ist fraglich,
ob sich das Wesen der abbildenden Kunst und der Abbildung allgemein anhand

42 Platon, Werke, Bd. 4, S. 801 (Politeia 597e).


43 Platon, Werke, Bd. 4, S. 802 f. (Politeia 598b).

44 Aristoteles verwendet ‚Phantasma‘ in De anima wertneutral im Sinne eines mentalen Vor-


stellungsbildes (vgl. Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, begründet von Ernst Grumach,
fortgeführt von Hellmut Flashar, hrsg. von Christof Rapp, Bd. 13, übersetzt von Willy Theiler,
Berlin 1959, S. 55 (De anima, 3. Buch, 428a).
332 Patrick Wagner

einer solchen Betrachtungsweise erschließen lässt. Denn streng genommen müss-


te auch eine Idee bzw. ein Wesen der Abbildung existieren, worauf der Künstler
sich, nicht unähnlich dem Demiurgen, primär bezieht, sobald er tätig ist. Der
konkrete Gehalt, sei es ein Bett oder aber eine Tragödie, müsste sich neben dem
tatsächlich gegebenen Vorbild immer auch an dieser Idee der Abbildung orientie-
ren.45
Die platonische Kritik berücksichtigt dies freilich nicht. Platon hält an seiner
Prämisse fest, der Kunst einen Mangel an Wahrheitssinn zu attestieren. Entspre-
chend stellt er das Poetische als Schein eines Scheins vor: Dichterische Nach-
ahmung vollzieht sich nicht nur ohne einen Erkenntnisprozess (epistêmê), welcher
der Kunstfertigkeit oder Technik (technê) des Demiurgen obligatorisch vorausgeht;
für Platon indiziert das mimetische Verhalten des Künstlers, dass er eben nicht
dazu in der Lage ist, ein Bett etc. herzustellen – denn könnte er dies, so würde er es
wohl auch tun und seine Zeit nicht mit mimesis vergeuden.46 Noch schwerer wiegt
allerdings, dass es ihm ebenso an Einsicht in das Wesen des Guten mangelt.
Wendet man den platonischen Poesie-Begriff auf die Sphäre der Ethik und des
Schönen an, so gilt in diesem Fall, dass Maler und Dichter beides bloß so zur
Darstellung bringen, wie es der breiten Masse erscheint, deren Anerkennung sie
begehren. Damit reproduzieren sie weitestgehend jene falschen Vorstellungen und
Meinungen vom Guten oder Schönen, die, im Sinne des kleinsten gemeinsamen
Nenners, von den Vielen – und dies heißt nach Platon: den Unverständigen –
anerkannt werden. Auch in ethischer Hinsicht vermehre der Dichter mit seinem
Werk folglich bloß den Schein von Tugend oder Schönheit, nicht sie selbst. Indem
er mimetisch tätig ist, offenbart er seinen begrifflichen Unverstand, worin sich
zeigt, dass der Dichter allzu leichtfertig ans Werk geht. Daher kann der Dichter die
Bürger einer idealen polis nach Platon nur zum schlechten, weil einsichtslosen
Handeln anleiten.47

45 Vgl. Bröcker, Walter, Platos Gespräche, 2. Auflage, Frankfurt/Main 1967, S. 316 f.


46 Vgl. Platon, Werke, Bd. 4, S. 804 f. (Politeia 599a–b).


47 Vgl. Platon, Werke, Bd. 4, S. 824–827 (Politeia 605a–c).


Schein und Wahrheit 333

3
– [S]o wüsste ich nichts, was mich über P l a t o ’ s Verborgenheit und Sphinx-Natur mehr hat
träumen lassen als jenes glücklich erhaltene petit fait: dass man unter dem Kopfkissen
seines Sterbelagers keine „Bibel“ vorfand, nichts Ägyptisches, Pythagoreisches,
Platonisches, – sondern den Aristophanes. Wie hätte auch ein Plato das Leben
ausgehalten – ein griechisches Leben, zu dem er Nein sagte, – ohne einen Aristophanes! –48

Platons Absage an Kunst und Dichtung ist radikal und scheint irreversibel, sie
kennt jedoch zwei Ausnahmen. So ist die Dichtung tolerierbar, sofern sie sich
über ihr eigenes Unvermögen belehren lässt und den Vorgaben der dialektischen
Methode bereitwillig Folge leistet. Darin gleicht sie der Rhetorik, auf deren
sophistische Wertschätzung Platon mit einer ähnlichen Argumentation reagiert.
Auch für sie gilt nach Platon: „Muß nicht, wo gut und schön geredet werden soll,
des Redenden Verstand die wahre Beschaffenheit dessen erkennen, worüber er
reden will?“49
Noch ein weiterer Aspekt in Platons Denken gesteht der Dichtung einen
gewissen Freiraum zu. Dieser Aspekt ist auch insbesondere für Nietzsches Per-
spektive auf die Poesie von Bedeutung, da sich eine vollständige Abschrift der
entsprechenden Passage aus dem Phaidros in einem frühen Notizheft findet. Sie
lautet:

Wer aber ohne diesen Wahnsinn der Musen in den Vorhallen der Dichtkunst sich einfindet,
meinend er könne durch Kunst allein genug ein Dichter werden, ein solcher ist selbst
uneingeweiht, und auch seine, des Verständigen, Dichtung wird von der des Wahnsinnigen
verdunkelt.50

Nietzsche kommentiert in seiner Schrift über Sokrates und die griechische Tragoe-
die diesen Passus51 und attestiert Platon eine gewisse Ironie, die ihn dazu verleite,
das schöpferische Vermögen der Dichtung in die Sphäre des Wahnsinns zu
entrücken und es damit jenem janusköpfigen Sprechvorgang anzunähern, der
sich im Deutschen paritätisch mit Wahn- und Wahrsagekunst (μανική-μαντική)
übersetzen lässt.52 Obwohl sie sich bis zu einem gewissen Grad apologetisch lesen

48 JGB 28, KSA 5, 47, 20–27.


49 Platon, Werke, Bd. 5, S. 120 f. (Phaidros 259e). Adorno markierte diese Passage in seiner

privaten Platon-Ausgabe und setzte den Vermerk hinzu, es handle sich dabei um den „Kern der
Theorie der Rhetorik“ (Adorno, Theodor W., Nachgelassene Schriften, Abt. 4, Bd. 2, hrsg. von
Christoph Ziermann, Berlin 2010, S. 349).
50 NL 1869, 1[64], KSA 7, 29, 23–30, 3.
51 Vgl. SGT, KSA 1, 626, 4–9.
52 Vgl. Platon, Werke, Bd. 5, S. 62–65 (Phaidros 244a–e).
334 Patrick Wagner

lässt, geht die Aussage nicht über die platonische Kritik hinaus. Dichtung könne
gewiss schön sein; ist sie es aber, so nur deshalb, weil sie vom Wahnsinn geführt
werde. Darin zeige sich ferner, dass ihr Vernunft und Verstand fehlen, und sofern
Dichtung sich vom Verstand herleite, sei sie wirkungsästhetisch geringer ein-
zuschätzen als jene, die ihre Existenz der Dynamik des Wahns verdanke.53 Sokra-
tes spricht dabei ironisch, da er der Dichtung mit der lobenden Geste zugleich ein
logisch nachvollziehbares Wahrheitsverhältnis abspricht. Überdies ist gerade der
Hinweis, dass Dichtung nur dann wirklich gut sei, sofern Wahnsinn aus ihr
spreche, ein weiteres Argument dafür, sie aus der idealen polis zu verbannen.
Pointiert man diese Aussagen, wird evident, dass Dichtung für Platon eine
ethische und sozialpolitische Gefahr darstellt. Ihre mimetische Funktionsweise
verschleiere nicht nur den Zugang zur wahren und richtigen Erkenntnis, sie
produziere auch dezidiert falsche Meinungen, die aufgrund ihres schönen
Scheins zur Nachahmung verleiten. Man vergegenwärtige sich an dieser Stelle die
zentralen Fragen dieses Beitrags: Was geschieht mit dem Metaphysiker und
seinem absoluten Wahrheitsanspruch, sobald er erkennt, dass er selbst der
‚lediglich‘ dichterische Schöpfer seiner verabsolutierten Wahrheiten ist? Ferner:
Worin liegt die Gemeinsamkeit im Denken Platons und Nietzsches? Angesichts
dieser Fragen liegt es nahe, der Spur der platonischen Verurteilung der Poesie zu
folgen. Gerade in jenem Wirkmechanismus, den Platon als Grund ihrer Verdam-
mung aus der polis anführt, entdeckt Nietzsche ein originäres und für ihn höchst
relevantes Potential. Dies wird verständlich, wenn wir uns die ursprüngliche
Hierarchie der für Platon wesentlichen philosophischen Sprechweisen54 noch-
mals vor Augen führen: Zuoberst steht die Dialektik, das sokratische Gespräch,
das exklusiv den Zugang zur Erkenntnis des Wahren gewährleistet. Ihr unterge-
ordnet sind Rhetorik und Poesie, die mittels Form und Effekt Affekte und damit
Glauben im Menschen erregen, aber methodisch nicht in der Lage sind, den
erkenntniskritischen Schritt der Dialektik eigenständig nachzuvollziehen. Nietz-
sche kehrt dieses System um. Er entwirft seine Philosophie als „u m g e d r e h t e [n]

53 Vgl. hierzu Platons Ion, in welchem Dichtung als eine Folge des göttlich generierten enthousi-
asmos begriffen wird. Demnach wird auch hier Poesie, entgegen der technê, als etwas vorgestellt,
dem Vernunft (nous) mangelt: „Nämlich dies wohnt dir nicht als Kunst [τέχνη] bei, gut über den
Homeros zu reden, wie ich eben sagte, sondern als eine göttliche Kraft [θεία δὲ δύναμις], welche
dich bewegt […]. Denn alle rechten Dichter alter Sagen sprechen nicht durch Kunst, sondern als
Begeisterte und Besessene alle diese schönen Gedichte […], sowenig die, welche vom tanzenden
Wahnsinn befallen sind, in vernünftigem Bewußtsein tanzen, so dichten auch die Liederdichter
nicht bei vernünftigem Bewußtsein […].“ (Platon, Werke, Bd. 1, S. 15. = Ion 533d–534a).
54 Ich klammere den Mythos an dieser Stelle aus. Zur Charakteristik des Mythos bei Platon, der
Kritik sowie der Erläuterung des narrativen Potentials vgl. Schäfer, Christian, Mythos/Mythenkritik
[Artikel], in: Horn / Müller / Söder (Hrsg.), Platon-Handbuch, S. 309–313.
Schein und Wahrheit 335

P l a t o n i s m u s “, was ihm nur dann gelingen kann, wenn er nicht bloß die
Axiome der platonischen Metaphysik invertiert, sondern auch die sprachliche
Ebene miteinbezieht. Er muss die Poesie gegenüber der Dialektik aufwerten, wenn
er die platonische Ideenwelt zugunsten eines am Leben orientierten Philosophie-
rens negieren will. So ist das platonische Poesie-Verständnis für Nietzsches
Denken unabdingbar, weil es der Dichtung den Bezug zum Absoluten gerade
abspricht. Für Nietzsche ‚lügt‘ die Poesie sogar offenkundig und verweist somit
auf die ‚Wahrhaftigkeit‘ ihrer Lüge. Die selbstbezügliche Struktur der poetischen
Lüge respektive der lügnerischen Poesie bedingt folglich ihre eigene Aufhebung.
Auch wenn die Poesie die Dinge in der Welt ‚nur‘ repräsentiert, thematisiert sie
durch ihre stilistischen Mittel stets die eigene Verfasstheit und bringt damit in
ästhetischer Weise zur Anschauung, dass sie lügt, dass ihr Anders-Sein zugleich
ein Anders-Scheinen ist und dass sie letztlich Sprache bleibt. Nicht das logische
Instrumentarium der Dialektik gewährt dabei Einsicht in die lügnerische ‚Wahr-
heit‘ der Poesie, sondern ein Resonanzraum, der sich zunächst der ästhetischen
Reflexion öffnet und in welchem das Motiv des Willens zur Nebensächlichkeit
wird:

Wie ist nur die Kunst als Lüge möglich! […]


Kunst behandelt also den S c h e i n a l s S c h e i n , will also gerade n i c h t täuschen, i s t
wahr.
Das reine begierdenlose Betrachten ist nur an dem Scheine möglich, der als Schein
erkannt wird, der gar nicht zum Glauben verführen will und insofern unsern Willen gar
nicht anregt. […]
So lange man Wahrheit an der Welt sucht, steht man unter der Herrschaft des Triebes:
der aber will L u s t und nicht Wahrheit, er will den Glauben an die Wahrheit, also die
Lustwirkungen dieses Glaubens.55

Nietzsche ergänzt diese Verteidigung des Scheins um die psychologische Auf-


deckung des vermeintlich wahren Motivs der platonischen Dichterkritik: In dem
Bedürfnis, Wahrheit im logos der Rede zu fassen, verberge sich ein Trieb nach der
Verewigung des eigenen Willens. Dieser Trieb würde sich beispielsweise im plato-
nischen Dialog über den idealen Staat manifestieren, der die schriftlich festgehal-
tene Idee vom Staat verewigt, indem er als Richtlinie einer realen polis erscheint.
Der Bezug zum Absoluten als Gradmesser von ‚wahr‘ und ‚falsch‘ ist Nietzsche
zufolge nur das Sublimat eines individuellen Willens, der die Autorisierung durch
vermeintlich höhere Instanzen zur Selbstbefriedigung nutzt. Dementsprechend

55 NL 1873, 29[17], KSA 7, 632, 11–633, 4.


336 Patrick Wagner

sei die von Platon für die Dialektik in Anspruch genommene ‚Wahrheit‘ nur ein
Scheinbesitz.
Für Nietzsches philosophische Validierung der Poesie bedeutet dies, dass er
nicht im Geiste Platons ihren Scheincharakter als Wahrheitsferne deutet, sondern
eine originäre Nähe der Dichtung zur Wahrheit ausmacht. Darin besteht ihm
zufolge ihr erkenntniskritisches Potential. In dem Text Ueber Wahrheit und Lüge
im aussermoralischen Sinne gibt es einen vielzitierten Satz, der, selbst wenn er
nicht direkt über Dichtung spricht, um eben diese Problematik kreist: „[D]ie
Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind,
Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr
Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht
kommen.“56 Die Fragwürdigkeit einer Aussage, die alle Wahrheit zur sprachlich-
metaphorischen Illusion erklärt, muss an dieser Stelle nicht erörtert werden.
Bereits im Vergleich der hier vollzogenen Denkbewegung mit Nietzsches Aus-
sagen über das Verhältnis von Dichtung und Wahrheit zeigt sich ein analoges
aufklärerisches Moment. Das Ziel dieser philosophischen Aufklärung bestünde
darin, die vergessene Metapher als vergessene Metapher kenntlich zu machen,
um die prinzipielle Scheinhaftigkeit allen Daseins aufzuzeigen und den ober-
flächlichen Schein als Gegenentwurf einer absoluten Wahrheit zu überwinden.
Insbesondere Dichtung und Kunst eignen sich zu diesem Zweck, da sich in ihnen
die Differenz zwischen Wort und Sache, zwischen Ding und Idee ästhetisiert. Wie
die ästhetische Reflexion die Metapher als Metapher erkennt, so verweist Poesie,
da sie ihre Autotelie im Grunde nie zu leugnen vermag, auf sich selbst als Poesie:
Sie ist zur Erscheinung gebrachte Affirmation ihres eigenen Scheinens, womit sie
sich als Exemplum der prinzipiellen Scheinhaftigkeit des Lebens erweist. Darin
ist sie nach Nietzsche gerade ‚wahrer‘ und lebensnäher als jene dialektisch her-
vorgebrachten metaphysischen ‚Wahrheiten‘ Platons, die von ihrer sprachlichen
Vermittelbarkeit ausgehen müssen, um ihren Hegemonialanspruch zu behaup-
ten.
Während die platonische Metaphysik demnach das Leben von einer abstrakten
Idee her begreift, beansprucht Nietzsches Philosophie der Poesie für sich, das
Leben gewissermaßen über sich selbst aufzuklären, indem sie es dem Menschen
ermöglicht, seine Kontingenz anzuerkennen und ihr in Form schöpferischer Akte
und ästhetischer Reflexion Sinn zu verleihen. Diese philosophische Position kann
aber nur ergriffen werden, wenn philosophisches und künstlerisches Sprechen
nicht hierarchisch geordnet werden. Nietzsches stilistischer Pluralismus ist daher
kein Manierismus, sondern seinem Wesen nach Ausdruck eines erkenntnis-

56 WL 1, KSA 1, 880, 34–801, 4.


Schein und Wahrheit 337

kritischen – und gewissermaßen auch humanistischen – Strebens, in dem alle zur


Verfügung stehenden Register gezogen werden. Noch im Mai oder Juni 1888
schreibt Nietzsche:

Die Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die
große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens. […]
Die Kunst als die E r l ö s u n g d e s E r k e n n e n d e n , – dessen, der den furchtbaren und
fragwürdigen Charakter des Daseins sieht, sehn will, des Tragisch-Erkennenden.
[…] Aber die Wahrheit gilt nicht als oberstes Werthmaaß, noch weniger als oberste
Macht. Der Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung, zum Werden und Wechseln (zur
objektiven Täuschung) gilt hier als tiefer, ursprünglicher, metaphysischer als der Wille zur
Wahrheit, zur Wirklichkeit, zum Sein: – letzteres ist selbst bloß eine Form des Willens zur
Illusion.57

Durch ihre Performativität vermittelt die Poesie nicht nur ihre ‚Wahrheit‘ vom
prinzipiellen Schein aller Dinge, sondern versöhnt im Zuge ihrer ästhetischen
Verklärung des Scheins den Menschen mit der Welt, die sich ihm im Moment
tragischer Erkenntnis als ‚bloßer Schein‘ erschließt. Nietzsches Begriff des Poeti-
schen ist insofern nicht rein ästhetisch zu verstehen, sondern in Verbindung mit
einer aufklärerischen Tendenz, durch die der Scheincharakter des Daseins in aller
Klarheit hervortritt. Ob sich damit ein humanistisches Programm andeutet, dem
zufolge etwa der Mensch nur dort ganz Mensch sei, wo er dichtet, mag offen
bleiben; doch angesichts der Nietzsche notwendig erscheinenden Spiegelung des
Platonismus lässt sich mit einem gewissen Recht die Vermutung äußern, dass für
ihn die Poesie zum Trost einer Philosophie wurde, die nicht bereit war, über den
Verlust ihrer ewigen Wahrheiten in Trauer zu erstarren.

57 NL 1888, 17[3], KSA 13, 521, 18–522, 9.


Julius Thelen
Das Dasein zwischen Komödie und Tragödie:
Zum ersten Abschnitt der Fröhlichen
Wissenschaft

Abstract: Existence between comedy and tragedy: On the first paragraph of


Die fröhliche Wissenschaft. The paper offers a close reading of the first para-
graph of Die fröhliche Wissenschaft, focussing on its intellectual content as well as
the aesthetic strategies for conveying this content. By reconstructing Nietzsche’s
different textual sources, it will be shown how the various pre-texts of philoso-
phers like Schopenhauer and Hegel, ‘evolutionary biologists’ like Spencer,
Schneider and Büchner, or poets like Horace and Aeschylus are merged together
into a polyphonic, tension-filled whole. The different semantics of evolutionary
biology, philosophy of history and drama are closely interwoven: FW 1 connects
the biological perspective of the preservation of the species with an interpretation
of human existence both as a tragedy and a comedy while the paragraph’s
narrator simulates both perspectives within different historical models. The vari-
ous ambivalences of the paragraph can be interpreted as the product of textual
strategies, which ultimately aim at repealing the logical structure of arguments.

1 Einleitung
Wolfram Groddeck hat vor knapp 20 Jahren über Nietzsches Fröhliche Wissen-
schaft1 geurteilt, es sei sein „heiterstes und zwei-deutigstes Buch, sein eigentli-
ches Poeten- und Künstlerbuch“,2 wobei er unter anderem auf die „unauslotba-
ren intertextuellen“ Bezüge hinwies, die das 1882 erstmals veröffentlichte Werk
auszeichneten. Vielleicht liegt es an diesen Aspekten, dass es lange Zeit keine
Forschung gab, die sich mit der Schrift textintensiv und kontextsensitiv befasst

1 Zum Druck und zur Entstehung der Fröhlichen Wissenschaft vgl. Kaufmann, Sebastian, „die letzte
Entscheidung über den Text zwingt zum scrupulösesten ‚Hören‘ von Wort und Satz“. Textgenese und
Druckgeschichte der Fröhlichen Wissenschaft, in: Benne, Christian / Georg, Jutta (Hrsg.), Friedrich
Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Berlin / Boston 2015 (Klassiker Auslegen, Bd. 57), S. 7–18.
2 Groddeck, Wolfram, Die „neue Ausgabe“ der „Fröhlichen Wissenschaft“. Überlegungen zu Para-
textualität und Werkkomposition in Nietzsches Schriften nach „Zarathustra“, in: Nietzsche-Studien,
Jg. 26, Berlin / Boston 1997, S. 184–198, hier S. 198.

DOI 10.1515/9783110474374-015
340 Julius Thelen

hätte. Beiträge wie die Jörg Salaquardas oder Marco Brusottis bieten Interpretatio-
nen der Fröhlichen Wissenschaft im Ganzen, ohne jedoch gleichmäßig detailliert
auf die einzelnen Textabschnitte einzugehen.3 Erst in jüngerer Zeit erscheinen
vermehrt Studien, die einzelne Bücher oder gar Abschnitte untersuchen.4 Bisher
wirkt es jedoch so, als seien die meisten Forscher in ihrer Arbeit auf halbem Wege
stehengeblieben. Zwar ist durch eine genauere Betrachtung der Einzeltexte ihre
Ambivalenz als konstitutives Moment in den Blick geraten und es wurde die Frage
nach ihren ästhetischen Strategien aufgeworfen. Vor allem die Einsicht, dass
die Sprecherinstanz der Texte nicht mit dem empirischen Autor Nietzsche
gleichgesetzt werden kann, ist entscheidend.5 Jedoch fehlt es dieser Vorgehens-
weise häufig an Konsequenz; immer noch wird, trotz besserer Einsicht, etwa
‚Nietzsches Philosophie‘ als Interpretament für schwierige Textstellen herangezo-
gen. Dies ist insofern fraglich, als die Rede von einer solchen ‚Philosophie‘ eine
Arbeit am Text voraussetzt, die derweil im Beginnen ist. Erst durch eine Text-
lektüre, die das Zusammenspiel von gehaltlicher Vielstimmigkeit, ästhetischer
Strategie und intertextueller Verweisungsvielfalt ernst nimmt, könnte so etwas
wie eine über den Einzeltext hinausreichende ‚Philosophie‘ überhaupt rekonstru-
iert werden.

3 Vgl. Salaquarda, Jörg, Die „Fröhliche Wissenschaft“ zwischen Freigeisterei und neuer „Lehre“, in:
Nietzsche-Studien, Jg. 26, Berlin / Boston 1997, S. 165–183; sowie Brusotti, Marco, Erkenntnis als
Passion. Nietzsches Denkweg zwischen „Morgenröthe“ und der „Fröhlichen Wissenschaft“, in: Nietz-
sche-Studien, Jg. 26, Berlin / Boston 1997, S. 199–225. Brusotti versteht diese Abhandlung als
Komplement zu seiner Dissertation, vgl. ders., Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophische und
ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von „Morgenröthe“ bis „Also sprach Zarathustra“,
Berlin / New York 1997.
4 Vgl. hierzu den Sammelband von Piazzesi, Chiara / Campioni, Giuliano / Wotling, Patrick
(Hrsg.), Letture della ‚Gaia scienza‘. Lectures du ‚Gai savoir‘, Pisa 2010. Siehe ebenfalls den
Einführungsband von Benne / Georg, Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, der auch
eine Auswahlbibliographie bietet (S. 180–183). Hierin für den Zusammenhang dieser Arbeit
wichtig: Zittel, Claus, „eine unaufhaltsam rollende Maschine im Kopfe“. Das unfröhliche „erste
Buch“ der „Fröhlichen Wissenschaft“, S. 52–67. Grundlegend für das Fünfte Buch der Fröhlichen
Wissenschaft, aber auch in seiner Methode der kontextuellen Interpretation ist Stegmaier, Werner,
Nietzsches Befreiung der Philosophie. Kontextuelle Interpretation des V. Buchs der „Fröhlichen
Wissenschaft“, Berlin / Boston 2012, siehe hier auch den Forschungsüberblick S. 47–49.
5 Vgl. jüngst die programmatischen Erwägungen bei Kaufmann, Sebastian, Ob „Wahrheit noch
Wahrheit bleibt, wenn man ihr den Schleier abzieht“? Das Verhältnis von Philosophie und Kunst in
der Vorrede zur „Fröhlichen Wissenschaft“, in: Grätz, Katharina / Kaufmann, Sebastian (Hrsg.),
Nietzsche zwischen Philosophie und Literatur. Von der „Fröhlichen Wissenschaft“ zu „Also sprach
Zarathustra“, Heidelberg 2016, S. 75–106, hier S. 79 f. Vgl. auch Benne, Christian, Was ist der

Zweck der Tragödie? Zum ersten Aphorismus der „Fröhlichen Wissenschaft“, in: Grätz / Kaufmann
(Hrsg.), Nietzsche zwischen Philosophie und Literatur, S. 107–117, hier S. 108–110.
Das Dasein zwischen Komödie und Tragödie 341

Genau eine solche grundlegende Lektüre möchte ich im Folgenden für den
ersten Abschnitt der Fröhlichen Wissenschaft zu leisten versuchen, dessen Bedeu-
tung nicht zuletzt aus seiner exponierenden Stellung hervorgeht. Christian Benne
ist der Erste, der diesen Text vor kurzem einer intensiveren Analyse unterzog.6 Er
betrachtete den Abschnitt jedoch nicht in seiner Gesamtheit, sondern aspekt-
orientiert im Hinblick auf das Thema der Tragödie. Einige weiterführende Hin-
weise bietet zudem der auf das Verhältnis von Tragödie und Parodie zielende, die
Ergebnisse von Benne zum Teil vorwegnehmende und komplementierende Auf-
satz von Griffin.7 Schließlich sei auch das Kapitel aus Higgins’ Monographie zur
Fröhlichen Wissenschaft angeführt, das ebenfalls einige wichtige Beobachtungen
aufweist.8 Die beiden letztgenannten Titel haben freilich den Nachteil, dass sie,
anders als – zum Teil – Benne, die fundamentale Unterscheidung zwischen dem
Autor Nietzsche und der von ihm installierten Vermittlungsinstanz(en) nicht voll-
ziehen.
Im Folgenden soll also eine minutiöse Lektüre von FW 1 geleistet werden, die
sowohl die ästhetischen Vermittlungsstrategien als auch den gedanklichen Ge-
halt des Textes detailliert betrachtet. Eine notwendige Voraussetzung hierfür
(sowie für die Beschäftigung mit den Werken Nietzsches im Ganzen) ist die
Rekonstruktion seiner Quellen bzw. Prätexte.9 Nur dadurch kann man der Dop-
pel- bzw. ‚Vielbödigkeit‘ von Nietzsches Schreiben gerecht werden. Wie zu zeigen
ist, gibt es im zu untersuchenden Text keine starren Positionen, die nicht durch
Relativierungen, Gegenpositionen oder Fortschreibungen unterlaufen würden;
eine Interpretation, die eine feine Differenzierung anstrebt, wird versuchen müs-
sen, dies auch analytisch einzuholen.

6 Vgl. Benne, Was ist der Zweck der Tragödie?


7 Griffin, Drew E., Nietzsche on Tragedy and Parody, in: Philosophy and Literature, Jg. 18, Heft 2,
Baltimore 1994, S. 339–347.
8 Higgins, Kathleen Marie, Comic Relief. Nietzsche’s Gay Science, New York / Oxford 2000, v. a.
S. 45–51.
9 Programmatisch hierzu: Sommer, Andreas Urs, Vom Nutzen und Nachteil kritischer Quellen-
forschung. Einige Überlegungen zum Fall Nietzsches, in: Nietzsche-Studien, Jg. 29, Berlin / Boston
2000, S. 302–316. Realisiert wird dieses Vorhaben unter der Leitung von Sommer im Historischen
und kritischen Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (NK). Der Band zur Fröhlichen Wissen-
schaft (NK 3/2) wird derzeit von Sebastian Kaufmann erarbeitet und erscheint voraussichtlich
2019. Der Autor hat mir freundlicherweise sein vorläufiges Manuskript zu FW 1 zur Verfügung
gestellt, dem ich einige wichtige Prätexte verdanke. Darüber hinaus bin ich ihm für die unver-
zichtbaren, meinen Blick auf Nietzsche wesentlich prägenden Diskussionen zu Dank verpflichtet.
342 Julius Thelen

2 Die Arterhaltung als menschliches Telos


Der erste Abschnitt10 der Fröhlichen Wissenschaft beginnt mit der Exponierung
einer subjektiven Sprechinstanz, die dezidiert als „Ich“ in Erscheinung tritt,
obwohl sie einen objektiven Anspruch erhebt.11 Die Subjektivität wird einerseits
relativiert, indem der Sprecher behauptet, dass es keine Rolle spiele, ob man eher
ein philanthropisches („mit gutem […] Blicke“) oder ein misanthropisches („mit
[…] bösem Blicke“) Menschenbild habe;12 andererseits, indem er eine strenge
Gesetzmäßigkeit des Observierten geltend macht: „ich finde sie [die Menschen]
immer bei Einer Aufgabe, Alle und jeden Einzelnen in Sonderheit“.13 Die These,
deren Vortrag anfänglich zwischen Subjektivität und Objektivität changiert, ver-
folgt eine anthropologische Fragestellung. Der Sprecher meint das „[T]hun“ des
Menschen auf die „Erhaltung der menschlichen Gattung“ festlegen zu können,
wobei auch die Gründe für diese Verhaltensweise nachgeliefert werden.14 Ein
konkurrierendes Erklärungsmuster, das einer philanthropischen Einstellung
(„Liebe für diese Gattung“),15 verwirft er in spöttischem Gestus; vielmehr be-
schreibt das Ich die Gattungserhaltung16 als „Instinct“, der „älter, stärker, un-
erbittlicher, unüberwindlicher ist“, ja „d a s W e s e n unserer Art und Heerde“
sei.17 Es handelt sich mithin um ein – angesichts der anthropologischen Tradition
seit der Antike – provozierendes Theorem, das hier vorgestellt wird. Die Wesens-
bestimmung des Menschen leistet der Sprecher nicht etwa über die Vernunft-

10 Zur Diskussion der Form der Fröhlichen Wissenschaft vgl. Zittel, „eine unaufhaltsam rollende
Maschine im Kopfe“, S. 52–54, der mit guten Gründen den in der Forschung lange konventionali-
siert gebrauchten Aphorismus-Begriff verwirft. Zum Begriff des Aphorismus bei Nietzsche vgl.
Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 9–11. Siehe hier vor allem auch die Hinweise
zur Forschungsliteratur, S. 9.
11 FW 1, KSA 3, 369, 3. Benne, Was ist der Zweck der Tragödie?, S. 109 führt aus: „Es sprechen die
titelgebenden Lehrer selber. Da es mehrere sind, müssten sich auch mehrere Stimmen unterschei-
den lassen.“ In Bezug auf den vorliegenden Abschnitt ist es, wie kenntlich werden wird, jedoch
nicht möglich, die verschiedenen Stimmen klar voneinander zu unterscheiden. Higgins, Comic
Relief, S. 54 zielt mit ihrer Beobachtung, der Sprecher Nietzsche nehme hier einen ‚gottgleichen‘
Standpunkt ein, um „humanity at a distance“ zu beobachten, über den Textbefund hinaus.
12 FW 1, KSA 3, 369, 4. Zu dieser Eingangssequenz und ihrem Zusammenhang im Ersten Buch
der Fröhlichen Wissenschaft vgl. Zittel, „eine unaufhaltsam rollende Maschine im Kopfe“, S. 56.
13 FW 1, KSA 3, 369, 5 f.

14 FW 1, KSA 3, 369, 6 f.

15 FW 1, KSA 3, 369, 8.
16 Vgl. kontrastiv hierzu Benne, Was ist der Zweck der Tragödie?, S. 110, der – trotz seines
Polyphonie-Theorems – Nietzsche als „Kritiker der Metaphysik“ heranzieht, um zu belegen, dass
es sich bei der vertretenen These nicht um die wahre Auffassung Nietzsches handeln könne.
17 FW 1, KSA 3, 369, 9–11.
Das Dasein zwischen Komödie und Tragödie 343

fähigkeit, sondern über ein Vermögen, das ihn gemeinhin nicht von Tieren
unterscheidet. Über seinen „Instinct“ zur Arterhaltung kann der Mensch keines-
wegs rational verfügen.
Versucht man diese pointierten Ausführungen vor dem Hintergrund der
zeitgenössischen Diskussionen, vor allem aber im Hinblick auf die Lektüren
Nietzsches zu verorten, mag man zunächst an Schopenhauer denken. In Die Welt
als Wille und Vorstellung findet sich die These, dass es die „Gattung allein“ sei, an
deren „Erhaltung“ „der Natur gelegen ist“.18 Vor allem die „große Macht des
Befruchtungstriebes“ wird als ein Mittel beschrieben, mit der die als Agens ver-
standene Natur das Fortleben des menschlichen Geschlechts bewirke. Von dieser
Intention weiß der (im Gegensatz zum reflektierenden Philosophen Schopenhau-
er) im konkreten Lebensvollzug aufgehende Mensch freilich nichts. Für diesen ist
vielmehr die „Selbsterhaltung“19 das „erste Streben“ und wenn dafür gesorgt ist,
„strebt er“ als natürliches Wesen „nur nach Fortpflanzung des Geschlechts“; ja
der „Geschlechtstrieb“ wird ihm zum „letzte[n] Zweck“ des Lebens. Diese Diffe-
renzierung zwischen der Perspektive des Individuums und der Intention der
Natur, die in ein und derselben Handlung des Individuums unterschiedliche
Zwecke verfolgen, findet sich in den Ausführungen des Sprechers bei Nietzsche
nicht. Sie wird sogar auf eigentümliche Weise verwischt. Wenn es heißt, dass das
sprechende Ich die Menschen immer bei einer Aufgabe finde, entsteht der Ein-
druck, dass sie die Erhaltung ihrer Gattung durchaus intentional verfolgen –
wenngleich dies dem Begriff des ‚Instinkts‘ entgegensteht. Auch wird im Laufe
des Abschnitts deutlich, dass der Sprecher bei Nietzsche keineswegs auf den
„Geschlechtstrieb“ als „Instinct“ abhebt; anders als bei Schopenhauer, wo die
sexuelle Dimension zentral ist, bleibt sie in FW 1 gänzlich ausgespart.
Mit diesem Verweis auf Nietzsches frühen ‚Lehrer‘ ist die Frage nach seinen
Quellen jedoch noch keineswegs zureichend beantwortet. Man wird darüber
hinaus im Kontext der darwinistischen Literatur des angelsächsischen Raumes
und ihrer deutschen Vermittler fündig, die Nietzsche spätestens seit seiner Arbeit
an der Morgenröthe intensiv rezipierte und annotierte, wie verschiedene Exem-
plare aus seiner Bibliothek belegen.20 Besonders frappierend sind Übereinstim-

18 Schopenhauer, Arthur, Sämmtliche Werke, hrsg. von Julius Frauenstädt, Bd. 2: Die Welt als
Wille und Vorstellung. Erster Band, Leipzig 1873 (NPB, 539), S. 325. Die von Nietzsche in seinen
Bücherexemplaren vorgenommenen Unterstreichungen werden in der Folge als Kursivierungen
wiedergegeben. Im Fall der hier zitierten Stelle finden sich zusätzlich auch Markierungen am
rechten Seitenrand.
19 Schopenhauer, Sämmtliche Werke, Bd. 2, S. 389.
20 Zum Verhältnis Nietzsches zu Darwin bzw. zu Nietzsche als „entschiedene[m] Darwinist“ vgl.
die Arbeit Werner Stegmaiers, Darwin, Darwinismus, Nietzsche. Zum Problem der Evolution, in:
344 Julius Thelen

mungen mit Georg Heinrich Schneider, der in seinem Ernst Haeckel gewidmeten
Buch Der thierische Wille konstatiert: „Der Zweck alles menschlichen Lebens ist
die Arterhaltung“21. Bedeutsam sind seine Ausführungen, weil er, ebenso wie
Schopenhauer, zwischen den Intentionen der Einzelnen und einer übergeord-
neten Perspektive differenziert. Im Zuge seiner Ausführungen kommt Schneider
auf eine für das Verständnis des Abschnitts wichtige Verwendung des ‚Zweck-
Begriffs‘ zu sprechen, der ja, gemäß der Überschrift von FW 1, im Zentrum der
Überlegungen steht:

Das ganze menschliche Tun und Treiben, das, wenn es nicht krankhaft ausartet, immer
zweckmäßig ist, beruht vielmehr auf Befriedigung tief in der Natur wurzelnder und ererbter

Nietzsche-Studien, Jg. 16, Berlin / Boston 1987, S. 264–287, hier S. 269, die vor allem das
Darwin(ismus)-Bild der modernen Forschung heranzieht. Zur zeitgenössischen Kontextualisie-
rung von Nietzsches Darwin(ismus)-Rezeption vgl. etwa Sommer, Andreas Urs, Nietzsche und
Darwin, in: Neymeyr, Barbara / Sommer, Andreas Urs (Hrsg.), Nietzsche als Philosoph der Moder-
ne, Heidelberg 2012, S. 223–240, hier S. 223. Vgl. ebenfalls den Aufsatz Maria Cristina Fornaris, Die
Spur Spencers in Nietzsches „moralischem Bergwerke“, in: Nietzsche-Studien, Jg. 34, Berlin / New
York 2005, S. 310–328 (hier mit Bezug auf das Verhältnis zu Spencer in der Morgenröthe und der
Fröhlichen Wissenschaft). Ihre zugespitzte These lautet so: „Das, was d[en] Neuanfang [in der
Morgenröthe und der Fröhlichen Wissenschaft] zumindest teilweise rechtfertigt, der Grund für
diesen Wandel, liegt, wie ich zu zeigen versuche, in Nietzsches Auseinandersetzung mit der
Evolutionstheorie Spencers und, wenngleich in geringerem Maße, dem Utilitarismus John Stuart
Mills, mit dem sich Nietzsche Ende 1879 / Anfang 1880 bewusst auseinandersetzt.“ (S. 310) Sie
bietet zudem eine wichtige Zusammenstellung der expliziten Bezugnahmen Nietzsches auf Spen-
cer (vgl. S. 311, Fußnote 6). In Bezug auf Nietzsches Gesamtwerk vgl. dies., Die Entwicklung der
Herdenmoral. Nietzsche liest Spencer und Mill, Wiesbaden 2009. Wichtige Hinweise zu den Quellen
Nietzsches findet man für den hier relevanten Zeitraum auch bei Jochen Schmidt und Sebastian
Kaufmann in NK 3/1. Benne, Was ist der Zweck der Tragödie?, S. 110 tangiert in quellenkundlicher
Hinsicht die wichtigsten Eckpfeiler: „Indes sollten uns die ersten Abschnitte des Aphorismus auch
inhaltlich misstrauisch machen. Sie sind in sich selbst nicht sonderlich originell, sondern eine
Komposition verschiedener Versatzstücke des Darwinismus, der schopenhauerischen Philoso-
phie,[ ] sowie eines christlich inspirierten Humanismus oder Idealismus, der sich die Förderung
einer abstrakten ‚Menschheit‘ […] auf die Fahnen geschrieben hat“. Für ein adäquates Verständnis
von FW 1 spielt allerdings die Differenzierung der Quellen eine wichtige Rolle, da nur vor ihrem
Hintergrund die verdichteten Thesen des Abschnitts adäquat rekonstruiert werden können.
Insofern ist auch die These von Higgins, Comic Relief, S. 45, der zufolge mit der Perspektive der
Arterhaltung „a Schopenhauerian view“ vertreten werde, ergänzungsbedürftig.
21 Schneider, Georg Heinrich, Der thierische Wille. Systematische Darstellung und Erklärung der
thierischen Triebe und deren Entstehung, Entwickelung und Verbreitung im Thierreiche als Grund-
lage zu einer vergleichenden Willenslehre, Leipzig [1880] (NPB, 533), S. 61. Schneiders Buch Der
menschliche Wille kommt als Quelle eher nicht infrage, da Nietzsche dieses erst am 5. Juli 1882
erwarb. Freilich ist allein dadurch noch nicht auszuschließen, dass Nietzsche es eventuell schon
vorher kannte.
Das Dasein zwischen Komödie und Tragödie 345

Triebe […] als auf zweckmäßigen Vorstellungen von der Sicherung der eigenen Existenz und
der Erhaltung der Art. An den eigentlichen, d. h. finalen Zweck alles Daseins, an die

Arterhaltung wird in den meisten Fällen gar nicht gedacht.22

Nach Schneider ist all jenes zweckmäßig, was der Erhaltung der Art dient,23 wobei
der gesunde Mensch ‚instinktiv‘ zweckgemäß handelt, wenn er seinen Trieben
folgt. Insofern sind seiner Überzeugung nach „äußerlich zweckbewusste Hand-
lungen und instinctive Triebäußerungen oft gar nicht verschieden voneinan-
der“.24 Wie bei Schopenhauer muss der Mensch auch bei Schneider die Erhaltung
der Art nicht unbedingt intentional verfolgen, da die Natur so eingerichtet ist,
dass der Mensch sich seinen Trieben überlassen kann. Als Quelle für den Text
Nietzsches ist Schneider dennoch virulenter als Schopenhauer, da jener die
Arterhaltung nicht auf die sexuellen Triebe des Menschen reduziert.
Was zu Beginn von FW 1 noch als eine anthropologische Fragestellung einge-
führt wurde, transponiert der Sprecher im weiteren Verlauf in eine moralphiloso-
phische. Das Text-Ich übt Kritik an einer durchschnittlichen Betrachtungsweise
(„man“), die aus fehlender Distanz zu ihrem Gegenstand („mit der üblichen Kurz-
sichtigkeit“) und zudem noch voreilig („schnell“) die einzelnen Menschen unter
utilitaristische („nützliche und schädliche“) oder allgemein-moralische („gute
und böse“) Kategorien subsumiert.25 In einer reflektierten, holistischen Betrach-
tung („einem längeren Nachdenken über das Ganze“)26 werde „man“ gegenüber
dieser Methode jedoch skeptisch und verwerfe sie. Der Sprecher wechselt hier von
einem bewusst subjektiven Darstellungsmodus, der dennoch Allgemeingültigkeit
beansprucht, hin zu einem Sprechen in der dritten Person, dem er allerdings seine
eigene Ansicht unterschiebt. Er konstatiert in bemerkenswert plötzlichem Über-
gang von einem hypothetischen („vielleicht“) zu einem apodiktischen („denn er
unterhält bei sich“) Aussagemodus: „Auch der schädlichste Mensch ist vielleicht
immer noch der allernützlichste, in Hinsicht auf die Erhaltung der Art; denn er
unterhält bei sich oder, durch seine Wirkung, bei Anderen Triebe, ohne welche
die Menschheit längst erschlafft oder verfault wäre.“27 Die Arterhaltung wird
demnach als ‚Spannungsfeld‘ imaginiert, in dem auch die vermeintlich schlech-
ten Handlungen eines Menschen einen ‚positiven‘ Effekt bei ihm selbst und
anderen Individuen zeitigen. Dieser Nutzen oder Vorteil besteht vor allem darin,

22 Schneider, Der thierische Wille, S. 70, mit Anstreichung Nietzsches am Rand (vgl. NPB, 533).
23 Vgl. Schneider, Der thierische Wille, S. 24.
24 Schneider, Der thierische Wille, S. 21.
25 FW 1, KSA 3, 369, 11–13.
26 FW 1, KSA 3, 369, 15.
27 FW 1, KSA 3, 369, 17–21.
346 Julius Thelen

eine Verkümmerung der Triebe, die aus Sicht des Sprechers als Degeneration zu
verstehen ist, zu verhindern. Gemeinhin als „böse“ gebrandmarkte Emotionen
wie „Hass“ und „Schadenfreude“ oder Charaktereigenschaften wie „Raub- und
Herrschsucht“ will das sprechende Ich als integralen Teil dessen verstanden
wissen, was es die „erstaunliche[ ] Oekonomie der Arterhaltung“ nennt.28
Dass es sich hierbei um eine zumindest aparte Verwendung des ‚Ökonomie‘-
Begriffs handelt, betont auch das Text-Ich, wenn es kritisch von einer „im Ganzen
höchst thörichten Oekonomie“ spricht.29 Verwenden seine Zeitgenossen bisher
nach Ansicht des Sprechers wenig sinnvolle moralische Kategorien in ihrer Be-
wertung der Menschen, so stellt er dieser Praxis ein ‚neues‘ Theorem der Arterhal-
tung gegenüber, von dem er sich jedoch ebenfalls – keineswegs widerspruchsfrei
− in einer kritisch-moralischen Bemerkung distanziert. Die Argumentation er-
weckt dergestalt den Eindruck einer gewissen Unzuverlässigkeit, der sich im
Folgenden erhärtet.30 Wird der epistemologische Status der These, dass der
schädlichste Mensch der Nützlichste sei, durch das Adverb „vielleicht“31 einer-
seits zum Gedankenexperiment relativiert, so steht dem andererseits (gleichsam
als Verstärkung des noch im selben Satz abrupt erfolgenden Wechsels in den
apodiktischen Modus) das gesperrt gedruckte „b e w i e s e n e r M a a s s e n “ ent-
gegen, mit dem anschließend ein Verweis auf die bisherige Erhaltung des
menschlichen „Geschlecht[s]“ erfolgt.32 Hierbei muss in Betracht gezogen wer-
den, dass es sich um keine Begründung der These von der Nützlichkeit des Bösen
handelt,33 die doch gerade den virulenten Kern der Erwägungen darstellt. Die als
‚töricht‘ beschriebene Ökonomie der Arterhaltung beweist das Text-Ich mit dem
Hinweis auf den offensichtlichen Fortbestand der menschlichen Gattung keines-
wegs.
Dennoch kann wieder mit Blick auf die Quellensituation der „Problemhori-
zont“34 umrissen werden, vor dessen Hintergrund die Rede von der Nützlichkeit

28 FW 1, KSA 3, 369, 21–23.


29 FW 1, KSA 3, 369, 24 f.

30 Higgins, Comic Relief, S. 45 f. stellt ebenfalls fest: „section 1 conveys an impression of instabi-

lity“. Allerdings verfolgt sie dieses Phänomen nicht weiter, da sie – so steht zu vermuten –
methodische Schwierigkeiten hat, den realen Nietzsche und das sprechende Ich auseinander zu
halten („[w]e are not really sure who our narrator is“, S. 49).
31 FW 1, KSA 3, 369, 17.
32 FW 1, KSA 3, 369, 25–370, 1. Stegmaier, Darwin, Darwinismus, Nietzsche, S. 271 führt diese
Stelle als Beleg dafür an, dass Nietzsche die Evolutionstheorie als bewiesen verstanden habe,
ohne die Vermittlung durch das nicht mit Nietzsche zu identifizierende ‚Ich‘ zu bedenken.
33 Vgl. Benne, Was ist der Zweck der Tragödie?, S. 110.
34 Vgl. zu diesem Begriff im Kontext der Quellenforschung zu Nietzsche: Sommer, Vom Nutzen
und Nachteil kritischer Quellenforschung, S. 306.
Das Dasein zwischen Komödie und Tragödie 347

des Bösen Kontur gewinnt. Es wurde schon angedeutet, dass der Begriff des
‚Nützlichen‘ hier auf utilitaristische Denkschemata verweist. In der Tat wird man
mit Blick auf Nietzsches Lektüren in der Entstehungszeit der Fröhlichen Wissen-
schaft, unter besonderer Berücksichtigung seiner persönlichen Bibliothek, im
Umkreis des Utilitarismus erneut fündig. Besonders kommt in diesem Zusammen-
hang Herbert Spencer in Frage, der zwar selbst kein Vertreter des Utilitarismus
war, sich aber an charakteristischen Exponenten wie John Stuart Mill abarbeitete.
Intensiv rezipierte Nietzsche Spencers Thatsachen der Ethik35 − was sich nicht
zuletzt in nachgelassenen Notaten niederschlägt, die den Autor bisweilen mit
durchaus kritischen Bemerkungen bedenken.36 Die „Erfahrungen vom Nützli-
chen“, so führt Spencer in einem Brief an Mill aus, den er in den Thatsachen
zitiert, hätten sich „in allen vergangenen Generationen des Menschengeschlechts
organisirt und festgesetzt und entsprechende Abänderungen im Nervensystem
hervorgebracht“,

welche durch fortwährende Übertragung und Anhäufung in uns endlich zu einem gewissen
Vermögen der moralischen Anschauung geworden sind – zu gewissen Emotionen, welche
mit gutem und bösem Handeln in Wechselbeziehung stehen und keine irgendwie aufzeigba-
re Grundlage in den individuellen Beziehungen zum Nützlichen haben.37

Das Nützliche, wie Spencer es versteht, ist keineswegs eine innerhalb der Indivi-
dualentwicklung immer wieder neu zu machende Erfahrung. Vielmehr seien es
die vergangenen Erfahrungen des Menschen, die unser psychophysisches System
und, damit einhergehend, auch unser moralisches Empfinden verändert haben.
Das evolutionsbiologisch vermittelte Nützliche ist bei Spencer mit demjenigen
gleichzusetzen, was zur Arterhaltung beiträgt, wie an anderer Stelle deutlich
wird. Seine Ausführungen erhalten jedoch eine ethische Dimension, wenn er
konstatiert, dass der „gute[ ] oder böse[ ] Charakter“ des Handelns „in letzter Linie
doch nur durch seine Wirkungen bestimmt“ wird, „jenachdem es seinem Wesen
nach das Leben des Einzelnen fördert oder nicht.“38 Spencer gehört also zu den
zeitgenössischen Vertretern einer moralischen ‚Nützlichkeitslehre‘, die das spre-
chende Ich in FW 1 kritisiert, da für diese nur das gute Handeln, also der gute

35 Vgl. Spencer, Herbert, Die Thatsachen der Ethik, autorisirte deutsche Ausgabe, nach der
zweiten englischen Auflage übersetzt von Prof. Dr. B. Vetter, Stuttgart 1879 (NPB, 565).
36 Vgl. NL 1881, 11[43], KSA 9, 457 f.

37 Spencer, Die Thatsachen der Ethik, S. 136. Teile dieses Zitats sind auch am Seitenrand mit
Markierungen versehen (vgl. NPB, 565).
38 Spencer, Die Thatsachen der Ethik, S. 58. Die Unterstreichung ist von Nietzsches Hand (vgl.
NPB, 565).
348 Julius Thelen

Mensch, lebensfördernd wirkt, der schlechte hingegen gerade nicht.39 Verlangt


man noch ein weiteres (freilich nicht zwingendes) Indiz dafür, dass hier eine
kritische Positionierung gegenüber Spencer erfolgt, hilft ein Blick in Nietzsches
Exemplar der Thatsachen, wo neben der zitierten Stelle ein deutlich lesbares
„Hornvieh!“ annotiert ist.
Der Sprecher in FW 1 führt seine moralphilosophisch-relativistische These
jedoch noch weiter aus, wobei er sich ein weiteres Mal in seiner Subjektivität
exponiert: „Ich weiss nicht mehr, ob du, mein lieber Mitmensch und Nächster,
überhaupt zu Ungunsten der Art, also ‚unvernünftig‘ und ‚schlecht‘ leben
k a n n s t “.40 Mit der subjektiven Form konvergiert diesmal – anders als noch im
Einstieg − die Artikulation einer epistemischen Unsicherheit; es ist mithin nicht
so, dass die Schlussfolgerung des Ichs, der zufolge eine gattungsschädigende
Lebensform unmöglich sei, entschieden vertreten würde. Auch wirkt die Anspra-
che des impliziten Lesers als „lieber Mitmensch und Nächster“ geradezu iro-
nisch,41 handelt es sich bei der vertretenen These doch um einen radikalen
ethischen Relativismus, der, zumindest in gattungsspezifischer Perspektive, jede
Handlung erlaubt erscheinen lässt und das ‚Böse‘ geradezu als Stimulans des
Lebens verharmlost. Ob der Mitmensch vor dem Hintergrund einer solchen Moral
noch ein „lieber […] Nächster“ ist, darf wohl bezweifelt werden.
Es ist jedoch davon auszugehen, dass Nietzsche in der Abfassung des Ab-
schnitts gezielt das Moment der epistemischen Unsicherheit forciert hat, was
wiederum an der Ernsthaftigkeit des beschriebenen Theorems zweifeln lässt. Wo
in der Druckfassung die Wendung „Ich weiss nicht mehr“42 zu finden ist, sind in
der Reinschrift noch kohärenzstiftende Elemente auszumachen: „Bei einem sol-
chen Blick auf das ungeheure Ganze und dessen Vortheile mußt du einsehen
[…]“.43 Sowohl der „Blick“ als auch das „Ganze“ verweisen auf Lexeme, die im
Text schon verwendet wurden und auch das argumentativ zwingende „mußt“
erzeugt den Anschein einer logischen Schlussfolgerung. Darüber hinaus wird der
grundsätzliche moralphilosophische Relativismus der Reinschrift in der Druck-
fassung auf die Perspektive der Gattungserhaltung eingeschränkt, was die Reich-

39 Vgl. auch die Stelle aus dem Nachlass, wo Nietzsche schreibt: „Es ist nicht wahr, daß gut und
schlecht die Ansammlung von Erfahrung über zweckmäßig und unzweckmäßig ist. A l l e b ö s e n
Triebe sind i n e b e n s o h o h e m G r a d e z w e c k m ä ß i g und a r t e r h a l t e n d als die guten! NB
gegen Spencer“ (NL 1880, 6[456], KSA 9, 316, 3–6).
40 FW 1, KSA 3, 370, 1–4.
41 Vgl. auch Benne, Was ist der Zweck der Tragödie?, S. 110.
42 FW 1, KSA 3, 370, 1.
43 KSA 14, 238.
Das Dasein zwischen Komödie und Tragödie 349

weite des Theorems deutlich begrenzt.44 Nietzsche schien den Eindruck vermei-
den zu wollen, dass der ‚liebe Mitmensch‘ grundsätzlich nicht schlecht handeln
könne; vielmehr empfiehlt das Text-Ich dem angesprochenen Du einen Relativis-
mus nur in beschränktem Ausmaß – wenn man das unter dem Vorzeichen der
Unsicherheit Geäußerte überhaupt als seriöse Empfehlung verstehen darf. Denn
auch die folgende ‚Erklärung‘, wieso der Mensch nicht zum Nachteil der Gattung
handeln könne, wird mit einem relativierenden „vielleicht“ versehen.45 Damit
aber markiert das Ich die Behauptung, dass diejenigen Dinge, die der Gattung
hätten schaden können, „seit vielen Jahrtausenden schon ausgestorben“ seien,46
als Gedankenexperiment. Diese historisch-evolutionsbiologische Spekulation
weitet der Sprecher schließlich noch in die Gegenwart und Zukunft aus, wobei
das relativierende Adverb wegfällt: „[S]elbst bei Gott“ sei ein artschädigendes
Verhalten nicht mehr möglich.47 Ob man die in einem solchen Kontext vorgetra-
gene Aussage als ernsthaftes philosophisches Theorem lesen darf, zumal in der
Fröhlichen Wissenschaft, in der an anderer Stelle vom ‚Tod Gottes‘ die Rede ist,48
muss wiederum bezweifelt werden.
Ähnlich steht es mit der imperativischen Aufforderung, die über eine Apo-
strophe des Text-Du49 erfolgt: „Hänge deinen besten oder deinen schlechtesten
Begierden nach und vor Allem: geh’ zu Grunde! – in Beidem bist du wahrschein-
lich immer noch irgendwie der Förderer und Wohltäter der Menschheit“.50 War

44 Benne, Was ist der Zweck der Tragödie?, S. 109 spricht von einer allgemeinen Tendenz der
„Verknappung“ in den Texten Nietzsches: „Nietzsche, der z. B. durch die Form der Titel die
Verwandtschaft seiner sog. Aphorismen mit der Epigrammatik anzeigt, weist darauf hin, dass
auch diese längeren Texte so gelesen werden müssen als seien sie ihrerseits wieder radikal
verkürzte Darstellungen, die es für kompetente Leser aufzufächern gilt.“ Ich belege diese Tendenz
vor allem durch Nietzsches Umgang mit den Quellen (vgl. Sommer, Quellenforschung, S. 313)
sowie durch die Textgenese.
45 FW 1, KSA 3, 370, 4.
46 FW 1, KSA 3, 370, 5.
47 FW 1, KSA 3, 370, 6.
48 Vgl. FW 108, KSA 3, 468, 5 sowie FW 125, KSA 3, 481, 15. Auch Higgins, Comic Relief, S. 46 sieht
dieses Problem. Zudem meint sie einen Bezug zu „medieval logical conundrums“ ausfindig
gemacht zu haben und konstatiert: „Nietzsche suggests here that the very notion of human
behavior that could harm the species may be a logical impossibility – or, in other words, that this
is a senseless way to put the problem.“ (S. 186) Ihre Unentschiedenheit zwischen der Einsicht in
die auf das Werk bezogene Widersprüchlichkeit der These und dem Festhalten an Nietzsche als
Sprecher wird an derselben Stelle kenntlich.
49 Genau genommen wird hier nicht der Leser direkt adressiert (wie dies etwa Higgins, Comic
Relief, S. 46 feststellt), vielmehr schafft sich das sprechende Ich einen fiktiven Dialogpartner, der
nicht mit dem empirischen Leser gleichgesetzt werden darf.
50 FW 1, KSA 3, 370, 7–10.
350 Julius Thelen

zuvor der Aufforderungscharakter des Gesagten noch impliziter Natur, tritt er nun
offen zutage – und wird doch wieder konterkariert. Der Sprecher empfiehlt
seinem „Mitmensch[en]“51 eine Handlung, von deren Richtigkeit er keineswegs
absolut überzeugt ist, die er vielmehr nur für „wahrscheinlich“ hält. Auch tritt der
spekulative Charakter der These hervor, wenn man bedenkt, dass nicht konkret
formuliert wird, wie man mit ‚schlechten‘ Handlungen zur Förderung der Gattung
beiträgt; vielmehr erfolgt dies nach Überzeugung des sprechenden Ichs nur
„irgendwie“. Zuletzt darf auch an dieser Stelle die ironische Dimension nicht
verkannt werden, wenn der Sprecher mit geradezu aufklärerisch-universalisti-
schem Pathos das Wohl der Menschheit beschwört − freilich nicht, wie im
18. Jahrhundert, über die Gewissheit eines langsamen, aber stetigen Triumphzugs
der Vernunft, sondern, indem der Mensch aufgefordert wird zu tun, was er will,
seinen „Begierden“52 nachzugehen und schließlich zu sterben – so ist wohl das
‚zu Grunde gehen‘ zu verstehen.53
Allerdings ist diese Formulierung keineswegs willkürlich gewählt, sondern
führt ebenfalls wieder in das zeitgenössische Diskussionsgeflecht hinein. Dass
sich der Sprecher von FW 1 immer noch in sozialdarwinistischen Argumentations-
mustern bewegt, ist mit Blick auf einen Passus aus Ludwig Büchners im 19. Jahr-
hundert äußerst populärer Abhandlung Kraft und Stoff ersichtlich. Die aus der
Popularisierung darwinscher Gedanken gespeiste Argumentation richtet sich
dem Anspruch nach gegen jede Form der Teleologie:

Auch astronomische Gründe lassen wohl keinen Zweifel darüber, daß unser gesammtes
Planeten-System, sowie es zeitlich entstanden ist, auch innerhalb einer bestimmten, wenn
auch noch so entfernten Zeit, wieder zu Grunde gehen muss und wird […]. Alles Große, was
die Menschen je auf Erden geleistet haben, muß damit nothwendig wieder in den Schooß
ewiger Vergessenheit versinken. In welchem Lichte erscheinen nun einer solchen Thatsache
gegenüber alle jene hochtrabenden philosophischen Reden-Arten von allgemeinen Welt-
Zwecken, welche sich in der Schöpfung des Menschen verwirklichen sollen, von der
Menschwerdung Gottes in der Geschichte, von der Geschichte der Erde und der Menschheit
als Selbst-Enthüllung des Absoluten […] u. s. w.!54

Bei Büchner ist das ‚Zugrunde-gehen‘ nicht – wie in FW 1 – etwas, das aktiv
verfolgt werden könnte oder sollte, sondern die Konsequenz einer, wie es wenig

51 FW 1, KSA 3, 370, 2.
52 FW 1, KSA 3, 370, 7.
53 Vgl. Higgins, Comic Relief, S. 46, jedoch ohne die Ernsthaftigkeit der These in Frage zu stellen.
54 Büchner, Ludwig, Kraft und Stoff. Natur-philosophische Untersuchungen auf thatsächlicher
Grundlage. In allgemein-verständlicher Darstellung, 14., sehr vermehrte und mit Hülfe der neuesten
Forschung ergänzte Auflage, Leipzig 1876, S. 152 f. Vgl. hierzu NK 3/1, 109 f.
   
Das Dasein zwischen Komödie und Tragödie 351

später heißt, „nur von eiserner Nothwendigkeit oder unerbittlicher Gesetzmäßig-


keit geleiteten […] Natur“.55
Bezogen auf den Titel des Abschnitts „D i e L e h r e r v o m Z w e c k e d e s
D a s e i n s “ ist in diesem Zusammenhang noch anzuführen, dass Büchner nur
noch eine „scheinbare Zweckmäßigkeit[ ]“56 im Sinne Kants als Tätigkeit des
„Verstand[es]“ und diesen als ihre „einzige Ursache“ gelten lässt. Zweckmäßig-
keit ist seiner Definition gemäß bloß „die nothwendige Folge des Begegnens
natürlicher Stoffe und Kräfte und ihrer Fortbildung im Laufe der Alles ausglei-
chenden Zeit.“ Allerdings hält Büchner diesen formalen Begriff der Zweckmäßig-
keit keineswegs konsequent durch, vermittle die „Geschichte unsrer Erde“57 doch
die Lehre „eines allmäligen Fortschreitens vom Unvollkommenen zum Voll-
kommneren, vom Niederen zum Höheren“. In einer späteren Auflage seines
Buches kann er deswegen von einer „steigende[n] Entwicklung zu immer mehr
lebensfähigen, d. h. mehr zweckmäßigen Formen der Bildung“58 ausgehen. Zwar

taucht der Mensch als ein den Kategorien der Moral unterworfener Akteur bei
Büchner nicht mehr auf – wie dies noch bei Spencer der Fall ist.59 Durch die These
der Vervollkommnung wird indes nur eine andere Form teleologischer Vorstel-
lung bemüht. Von einer solchen Idee ist der Sprecher in FW 1 freilich weit
entfernt; aber auch er vertritt die These einer notwendigen Erhaltung der Art, weil
der Instinkt des Menschen so wirkt, dass die Gattung überhaupt nicht untergehen
kann.60

55 Büchner, Kraft und Stoff, S. 153.


56 Büchner, Kraft und Stoff, S. 132.
57 Büchner, Kraft und Stoff, S. 154.
58 Büchner, Ludwig, Kraft und Stoff oder Grundzüge der natürlichen Weltordnung: nebst einer
darauf gebauten Moral oder Sittenlehre. In allgemein verständlicher Darstellung, 16. vermehrte und
verbesserte Auflage, Leipzig 1888, S. 216. Diese Auflage kommt als Quelle natürlich nicht in Frage;
allerdings erhellt sie die Lesart der diskutierten Passage Büchners.
59 Zu Nietzsches Auseinandersetzung mit Spencer in seinen Notizheften zur Zeit der Entstehung
der Morgenröthe und Fröhlichen Wissenschaft und zur Kritik an Spencers These, „dass es eine
Richtung gebe, auf die hin sich die Menschheit zu entwickeln habe“, vgl. Fornari, Die Spur
Spencers in Nietzsches „moralischem Bergwerke“, S. 316 f., hier S. 316.

60 Dass auch dies eine teleologische Vorstellung ist, macht Stegmaier, Darwin, Darwinismus,
Nietzsche, S. 281 mit Bezug auf Darwin kenntlich: „So wenig wie die Arten stetig fortschreiten,
streben sie, nach Darwin, sich selbst zu erhalten. Selbsterhaltung stünde auch zu einem nicht
teleologischen Fortschritt in Widerspruch.“ Stegmaier ist der Auffassung, dass Nietzsche, wenn-
gleich unwissentlich, mit Darwin diesbezüglich einer Meinung war. Vgl. auch NL 1880, 6[145],
KSA 9, 234, 3–5: „Es giebt auch keinen Trieb als Gattung fortexistiren zu wollen. Das ist alles
Mythologie (noch bei Spencer und Littré).“ Vgl. Fornari, Die Spur Spencers in Nietzsches „mora-
lischem Bergwerke“, S. 318 hierzu: „Die Welt der Triebe kennt folglich kein vorherbestimmtes Ziel.
352 Julius Thelen

Die Diskussion um die Zweckmäßigkeit ist jedoch nicht nur mit Blick auf den
Titel des Abschnitts entscheidend; sie gehört in den Zusammenhang der Frage
danach, wieso das sprechende Ich die Formel vom ‚Zugrundegehen‘ verwendet.
Denn auch der andere schon zitierte Vertreter des Darwinismus, Georg Heinrich
Schneider, bemüht dieselben Worte im gleichen Zusammenhang an prominenter
Stelle. In Der thierische Wille findet man die typographisch hervorgehobene
These:

Es liegt in der Natur des Zweckmäßigen sich zu erhalten, während das


U n z w e c k m ä ß i g e z u G r u n d e g e h t , diese Wahrheit ist bereits fast 500 Jahre vor Christi
Geburt von dem klassischen Philosophen Empedokles klar erkannt worden, obgleich sie erst
heute im „Darwinismus“ eine Form erhalten hat, welche ihr die Herrschaft über die Zu-
kunftsphilosophie sichert.61

Auch dieser Gedankengang setzt in logischer Hinsicht eine Entwicklung hin zu


immer zweckmäßigeren Lebensformen voraus. Denn woher sollten, über eine
längere Zeit betrachtet, die unzweckmäßigen Formen stammen, wenn nur das
Zweckmäßige erhalten bleibt?
Aus den Prätexten Büchners und Schneiders sowie ihrer Verwendung der
Formel vom ‚Zugrundegehen‘ lässt sich eine hintergründige Botschaft an den
impliziten Leser des Abschnitts ableiten, die sich erst über die zeitgenössische
Diskussionslage erschließt. Die Aufforderung an das Text-Du, „vor Allem“62 zu-
grunde zu gehen, lässt sich als Affront deuten, da gemäß der darwinistischen
Theorie nur die unzweckmäßigen Lebensformen untergehen müssen. Vor diesem
Hintergrund gewinnt die Apostrophe eine gesellschaftskritische Kontur, die sich
mit der als ironisch verstandenen Anrede „mein lieber Mitmensch und Nächs-
ter“63 in Einklang bringen lässt.

3 Das Dasein als Komödie und seine tragische


Fehlinterpretation
Nachdem der Sprecher die nach ihren Trieben handelnden Zeitgenossen als
Menschheitsförderer apostrophiert hat, verfolgt er einen Gedanken, der sich nicht

Im Gegenteil, das Ziel des Individuums ändert und erneuert sich mit seinen Trieben und Stimmun-
gen.“
61 Schneider, Der thierische Wille, S. 31.
62 FW 1, KSA 3, 370, 8.
63 FW 1, KSA 3, 370, 2.
Das Dasein zwischen Komödie und Tragödie 353

mehr recht in die vorige Perspektive der anthropologisch-moralischen Erörterung


fügen will. Zunächst führt er die Konsequenzen weiter aus, die sich aus solchen
zukünftigen ‚heroischen‘ Taten seiner Leser ergeben könnten: „Daraufhin“, so die
Ansprache an das Du, dürfe dieses sich seine „Lobredner halten – und ebenso
deine Spötter! Aber du wirst nie den finden, der dich, den Einzelnen, auch in
deinem Besten ganz zu verspotten verstünde, der deine grenzenlose Fliegen- und
Frosch-Armseligkeit dir so genügend, wie es sich mit der Wahrheit vertrüge, zu
Gemüthe führen könnte!“64 Was schon in der Doppelbödigkeit des ‚Zugrunde-
gehens‘ angelegt ist, tritt nun auch offen zutage: Die heroischen Taten, die eines
Lobredners bedürften, werden nur angedeutet und durch das Postulat, sich ver-
spotten zu lassen, ironisch überblendet. Dabei löst das Text-Ich diesen vorgeblich
nicht einzulösenden Anspruch performativ schon partiell ein. Dies wird vor allem
vor dem Hintergrund der herangezogenen Prätexte ersichtlich, denn die Idee
eines heroisch handelnden Individuums passt nicht in die Perspektive der Evolu-
tionsbiologie, in der der Einzelne der Naturnotwendigkeit ausgeliefert wird –
oder, wie der Sprecher es formuliert, der ‚verschwenderischen Ökonomie der
Arterhaltung‘.65 Zwar mag der Einzelne handeln, wie er will; dies hat –
wahrscheinlich – keine Konsequenzen für die Arterhaltung. Aber daraus, dies
macht die Ironisierung deutlich, entsteht keineswegs die Möglichkeit heldenhaf-
ten Handelns. Der einzelne Mensch ist in der Perspektive der Evolutionsbiologie
nicht mehr wert als jedes andere Lebewesen. In diesem Sinne ist die Rede von der
„grenzenlose[n] Fliegen- und Frosch-Armseligkeit“ zu verstehen,66 die das Text-
Ich dem angesprochenen Du spottend zuschreibt. Schien die Argumentation
zunächst in die Richtung zu gehen, dass das Faktum, dem zufolge der Einzelne
seinen Bedürfnissen entsprechend handeln kann, eine positive Konsequenz aus
der Erkenntnis des Sprechers sei, so wird nun – zumindest implizit – die negative
Folge dessen hervorgehoben. In der hyperbolischen Rhetorik, es könne nieman-
dem gelingen, den Einzelnen bzw. das Du so zu verspotten, wie es seine Lächer-
lichkeit geböte, tritt diese Dimension jedoch deutlich zutage.

64 FW 1, KSA 3, 370, 10–15.


65 Benne, Was ist der Zweck der Tragödie, S. 110 fragt deswegen: „Mit welchem Recht darf sich
denn eine Stimme, die sich über die ‚grenzenlose Fliegen- und Frosch-Armseligkeit‘ […] des
Einzelnen ergötzt, überhaupt als ‚Ich‘ deklarieren?“, und spricht von einem „schlichten performa-
tiven Selbstwiderspruch“. So weit würde ich nicht gehen, denn nur, weil das Individuum im
Hinblick auf die Arterhaltung keinen entscheidenden Beitrag zu leisten vermag, heißt dies nicht,
dass die Möglichkeit der reflexiven Bezugnahme auf sich selbst, die im ‚Ich‘ zum Ausdruck
kommt, ebenfalls geleugnet würde.
66 FW 1, KSA 3, 370, 13 f.

354 Julius Thelen

Der Gedanke wird allerdings noch weiter ausgeführt. Nicht nur könne man
keinen adäquaten Spötter finden; auch habe es bisher niemanden gegeben, selbst
unter den „Besten“ und „Begabtesten“, der hinreichenden „Wahrheitssinn“ oder
gar annähernd genug „Genie“ gehabt hätte, um „[u]eber sich selber [zu] lachen,
wie man lachen müsste, um a u s d e r g a n z e n W a h r h e i t h e r a u s zu lachen“.67
Das Text-Ich empfiehlt über das Bisherige hinausgehend, sich selbst zu ver-
lachen, wenn man die „W a h r h e i t“ erkannt habe. Mit dieser Wahrheit, die hier
noch nicht näher beschrieben wird, kann letztlich nur die Erkenntnis der Irrele-
vanz des Einzelnen aus der evolutionsbiologisch-schopenhauerisch gefärbten
Perspektive der Arterhaltung gemeint sein. In der Verbindung von Lachen und
Wahrheit hat Nietzsche höchstwahrscheinlich an die Satiren des Horaz gedacht,
in denen es heißt: „quanquam ridentem dicere verum / Quid vetat?“68 Bei Horaz
wird diese Haltung als die des Possenreißers angeführt, aber auch für den Lehrer
geltend gemacht, der seinen Kindern Süßigkeiten gibt, damit sie besser lernen,
frei nach der prominent gewordenen Formel aus der Ars poetica: ‚prodesse et
delectare‘. Der Sprecher in den Satiren wendet sich hingegen in ironischer Manier
von einer solchen Vermittlungsweise ab und will die Wahrheit ernsthaft sagen.
Nietzsches Text-Ich gibt wiederum indirekt eine Antwort auf die wörtlich genom-
mene Frage des Horaz, was daran hindere, die Wahrheit lachend auszusprechen.
Diese Antwort lautet: die Unfähigkeit des Menschen. Zugleich führt die Horaz-
Allusion erneut eine Ironisierung herbei, da das Ich eine Haltung vom Menschen
fordert, die bei dem römischen Satiriker für die clowneske Gestalt des Possenrei-
ßers reklamiert wird.
Vom Gelobt- zum Verspottet-Werden, über das Sich-selbst-Verspotten hin
zum Aus-der-Wahrheit-Lachen – so führt der Sprecher die moralphilosophisch-
darwinistische Perspektive immer weiter auf ein Territorium, auf dem auch die
starke Wirkung der darwinistisch-schopenhauerischen Prätexte schwindet. Einer
Vergangenheit und Gegenwart, die noch keinen adäquaten Zugang zum Lachen
gefunden hat, wird nun die Möglichkeit („vielleicht“)69 seiner zukünftigen Reali-
sierung entgegengestellt. Das Text-Ich formuliert jedoch eine Bedingung für diese
Verwirklichung:

Dann, wenn der Satz „die Art ist Alles, Einer ist immer Keiner“ – sich der Menschheit
einverleibt hat und Jedem jederzeit der Zugang zu dieser letzten Befreiung und Unverant-

67 FW 1, KSA 3, 370, 15–18.


68 Horatius Flaccus, Quintus, Sämmtliche Werke, Teil 2: Satiren und Episteln, für den Schul-
gebrauch erklärt von Dr. G. T. A. Krüger, Leipzig 1853 (NPB, 309 f.), S. 8, V. 24 f. Nietzsche hat sein
   

Exemplar mit zahlreichen Markierungen versehen.


69 FW 1, KSA 3, 370, 19.
Das Dasein zwischen Komödie und Tragödie 355

wortlichkeit offen steht. Vielleicht wird sich dann das Lachen mit der Weisheit verbündet
haben, vielleicht giebt es dann nur noch „fröhliche Wissenschaft“.70

Es geht also darum, die Perspektive des Darwinismus so ernst zu nehmen, dass
sie auch für den lebensweltlichen Zusammenhang des Menschen wirksam wird.
Was zuvor in besonderem Maße über die Prätexte erschlossen wurde, formuliert
das sprechende Ich nun ausdrücklich: Der Einzelne kann deswegen tun und
lassen, was er will, weil es für die Arterhaltung keinen Unterschied macht. Das
Individuum spielt aus der distanzierten Perspektive des Ichs keine Rolle – wenn-
gleich die dreifache Verwendung des modalen Satzadverbs ‚vielleicht‘ weiterhin
jeden Anspruch auf die Artikulation fixer philosophischer Theoreme aufzugeben
scheint. Diese Einsicht in die Bedeutungslosigkeit des Einzelnen ist freilich ein
Affront gegen das abendländische bzw. neuzeitliche Denken. Das Ich will sie
jedoch als Möglichkeit zur ‚Befreiung‘ und zur ‚Unverantwortlichkeit‘ verstanden
wissen, macht also weiterhin die schon verfolgte moralrelativistische Perspektive
in ihren ‚positiven‘ Konsequenzen für das Individuum stark. In der Einsicht des
Einzelnen in seine eigene Irrelevanz liegt demnach zugleich dessen größte Chan-
ce. Allerdings erfolgt in diesem Zusammenhang nicht mehr der Appell an das
Text-Du, seinen Begierden nachzugehen, sondern die Artikulation einer Hoff-
nung, die eine zukünftige Verbindung von „Weisheit“ und „Lachen“, eine Zeit der
„fröhlichen Wissenschaft“ betrifft.71 Diese Pointe eines neu artikulierten Wissen-
schaftskonzepts ist alles andere als zwingend für den Gang der Argumentation,
war zuvor doch keineswegs von einer Kritik der Wissenschaften, sondern nur von
der Revision falscher moralischer Vorurteile angesichts darwinistischer Erkennt-
nisse die Rede.
Die skizzierte Verbindung heterogener Gedanken wird auch mit Blick auf die
Quellenlage ersichtlich. So findet sich die Vorstellung, der Einzelne sei im Ver-
hältnis zur Art irrelevant, etwa bei Schopenhauer, der pointierend konstatiert,
dass zwar „jedes, auch das unbedeutendeste Individuum, jedes Ich, von Innen
gesehen, Alles in Allem“ sei, „von Außen gesehen hingegen […] nichts, oder doch
so viel wie nichts.“72 Für das Text-Ich fällt mit der Erkenntnis einer übergeord-
neten Gattungsperspektive jedoch nicht eine Einsicht in die Sinnlosigkeit des
menschlichen Lebens überhaupt zusammen; vielmehr will es diese Erkenntnis als
Befreiung verstanden wissen.73 Neben Schopenhauer wäre freilich auch der

70 FW 1, KSA 3, 370, 19–25.


71 FW 1, KSA 3, 370, 23–25.
72 Schopenhauer, Sämmtliche Werke, Bd. 3: Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band,
S. 690.
73 Vgl. hierzu auch Benne, Was ist der Zweck der Tragödie?, S. 115.
356 Julius Thelen

schon zitierte Schneider anzuführen, der das Primat der Arterhaltung ausbuchs-
tabiert, ohne dabei die Konsequenzen so radikal zu formulieren wie Schopenhau-
er: „Was die Natur in den lebenden Dingen geschaffen hat, bezweckt die Erhal-
tung der Species oder hat sie ehemals bezweckt; nichts ist davon immer
überflüssig gewesen.“74 Dieser These gemäß versteht Schneider die Funktionali-
sierung des Einzelnen aus der Gattungsperspektive vor allem positiv; er ist gerade
nicht überflüssig. Eine zum Text-Ich des ersten Abschnitts konträre Position
vertritt, wie schon an anderen Stellen, wiederum Spencer, dessen Ausführungen
gewissermaßen als Kontrastfolie gedient haben mögen:

Es wurde der Beweis geliefert, dass, wenn man von den niedrigsten bis zu den höchsten
Lebensformen emporsteigt, der Zweck der Arterhaltung erreicht wird unter fortwährender
Abnahme der Aufopferung von Leben sowohl junger als ausgewachsener Individuen, sowie
auch der Aufopferung älteren Lebens für das Leben der Nachkommen.75

Durch Spencers Differenzierung zwischen niedrigeren und höheren Lebensfor-


men gewinnt der Mensch ‚an sich‘ schon eine höhere Stellung gegenüber der
nivellierenden Ansicht des Text-Ichs. Vor allem aber verfolgt er eine entwick-
lungsteleologische Perspektive, deren Narrativ gerade von der steigenden Bedeu-
tung des Individuums gegenüber der Art getragen wird. Je weiter die Höherent-
wicklung voranschreitet, desto weniger Individuen müssen geopfert werden. So
gewendet ist ‚einer‘ – auf der Zielstufe der „höchsten Lebensformen“ – gerade
nicht ‚keiner‘.
Wie sich zeigt, stellen die von Schopenhauer oder den Darwinisten angestell-
ten Erwägungen zum Verhältnis von Einzelnem und Gattung von sich aus keinen
Zusammenhang mit der Forderung einer künftigen ‚fröhlichen Wissenschaft‘ her.
Sofern das Konzept einer ‚fröhlichen Wissenschaft‘, das ja als Werktitel zugleich
eine programmatische Dimension aufweist, überhaupt auf eine bestehende Tradi-
tion anspielt, führt der Weg über die Formel „gaya scienza“, der sich Nietzsche
auf dem Titelblatt der neuen Ausgabe von 1887 bedient76 – und deren Vermitt-
lung wahrscheinlich über einen Südfrankreich-Reiseführer von Theodor Gsell
Fels erfolgte.77 Wie intensiv er sich mit der ab dem 14. Jahrhundert durch diese
Formel bezeichneten Literatur der okzitanischen Trobadors des 11. und 12. Jahr-

74 Schneider, Der thierische Wille, S. 28.


75 Spencer, Die Thatsachen der Ethik, S. 263. Die Unterstreichungen stammen von Nietzsches
Hand. Zudem sind neben dem Zitat drei Ausrufezeichen sowie ein unleserliches Wort notiert (vgl.
auch NPB, 565). Zu „Nietzsches Kritik“ an Spencers „Zweckdenken“ vgl. Fornari, Die Spur
Spencers in Nietzsches „moralischem Bergwerke“, S. 311.
76 Vgl. FW Titel, KSA 3, 343.
77 Vgl. NK 6/1, 155.
Das Dasein zwischen Komödie und Tragödie 357

hunderts beschäftigt hat, lässt sich nur spekulativ beantworten.78 Als wahr-
scheinlich gilt auch eine Rezeption über Herder, bei dem ein fiktiver Autor den
Dichtern der ‚gaya scienzia‘ eine Reflexion auf „die Sitten der Fuͤ rsten, der
Damen, der Geistlichkeit, der Paͤ bste selbst“ zuschreibt:

alles beruͤ hrte diese Dichtkunst, oft mit einer kuͤ hnen Freiheit. […] Ihre Kunst hatte den
Namen der f r ö h l i c h e n W i s s e n s c h a f t (gay saber, gaya ciencia), so wie auch ihr ent-
schiedner Zweck f r oͤ h l i c h a n g e n e h m e U n t e r h a l t u n g war.79

Zudem wird diese Dichtung bei Herder als „erste[r] Stral der neueren poetischen
Morgenroͤ the in Europa“80 bezeichnet. Ohne das Konzept einer ‚fröhlichen Wis-
senschaft‘ in Nietzsches Werk im Ganzen diskutieren zu wollen,81 ist es für das
Verständnis von FW 1 entscheidend, dass auch ein fiktiver Verfasser bei Herder
die (nachträglich) zur ‚fröhlichen Wissenschaft‘ stilisierte Trobadorlyrik als Be-
ginn von etwas Neuem bezeichnet – zudem noch mit dem Bild der ‚Morgenröte‘,
das ja auch als Titel für das 1881 erschienene Werk Nietzsches gedient hatte.
Überdies ist es insofern bedeutsam, dass es sich bei der vermeintlichen ‚fröhli-
chen Wissenschaft‘ der Trobadors um Dichtung handelte, als dies mit einer
anderen Thematik konvergiert, die für den weiteren Verlauf des Abschnitts ent-
scheidend ist: der des Theaters.
Die Zeit der ‚fröhlichen Wissenschaft‘ ist aber für das Text-Ich noch nicht
gekommen. „Einstweilen ist es noch ganz anders, einstweilen ist die Komödie des
Daseins sich selber noch nicht ‚bewusst geworden‘, einstweilen ist es immer noch
die Zeit der Tragödie, die Zeit der Moralen und Religionen“.82 Die potenzielle
Zukunft der ‚Epoche‘ einer ‚fröhlichen Wissenschaft‘ wird parallelisiert mit der
Vorstellung einer Komödie des Daseins, das sich seines Komödiencharakters

78 Diese sachliche Differenzierung verdanke ich den Forschungen von Sebastian Kaufmann, der
diese Zusammenhänge in seinem Kommentar zur Fröhlichen Wissenschaft (= NK 3/2, in Vorb.)
umfassend darstellen wird. Zu diesem historischen Kontext vgl. auch: Mancini, Mario, Die
fröhliche Wissenschaft der Trobadors, übersetzt von Leonie Schröder, Würzburg 2009.
79 Herder, Johann Gottfried, Briefe zu Befoͤ rderung der Humanitaͤ t, Siebente Sammlung, Riga
1796, S. 77 f. Vgl. auch Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 36 f. Higgins diskutiert
   

diesen Kontext nicht, vgl. Comic Relief, S. 47.


80 Herder, Briefe zu Befoͤ rderung der Humanitaͤ t, S. 84.
81 Einen Überblick über das Problemfeld gibt Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie,
S. 25–49, zusammenfassend S. 46 f. Er vertritt dabei folgende Arbeitshypothese: ‚Fröhliche Wis-

senschaft‘ „könnte […] eine Formel eben für seine irritierende und faszinierende Kunst philoso-
phischer Schriftstellerei sein, die, als Kunst, nicht definiert werden kann, sondern sich zeigen soll.
Unsere weitere Vermutung ist, dass ‚die fröhliche Wissenschaft‘ als Stimmung des Philosophie-
rens im Werk, das Nietzsche so überschrieben hat, auf ihren Höhepunkt kommt“ (ebd., S. 28).
82 FW 1, KSA 3, 370, 25–28.
358 Julius Thelen

bewusst geworden ist. Wie aber ist die Bezeichnung des Daseins als Komödie in
diesem Zusammenhang motiviert? Hier ließe sich an die für den Abschnitt kon-
stitutive Thematik des Spottens und Lachens denken, die als adäquate Reaktion
auf die Erkenntnis der Unwichtigkeit des Einzelnen angesichts der Arterhaltung
beschrieben wurde. Die ‚Tragödie‘ wird hingegen als Gegenbegriff zur Komödie
eingeführt. An einen traditionellen Begriff der Tragödie lässt sich insofern an-
schließen, als das Text-Ich das Moment des Bewusstwerdens, der Anagnorisis,83
ex negativo nennt. Das Tragische der gegenwärtigen Zeit besteht ihm zufolge
nämlich darin, dass die Menschen die Komödie des Daseins gerade nicht als
solche erkennen. Dies jedoch enthüllt sich erst dem Ich; insofern ist der Begriff
der Tragödie zugleich an seinen Erkenntnisstand gebunden. Wurde zu Beginn des
Abschnitts eine Haltung kritisiert, die den Einzelnen unter moralische Kategorien
subsumiert, weil sie die wahren Gesetze der Arterhaltung verkennt, so konvergiert
dies mit der Ansicht des Sprechers, dass Moralen und Religionen integraler
Bestandteil der Tragödie des Daseins sind. Mit ihnen interpretiere der Mensch
seine wahren Existenzbedingungen falsch.
Als Kontrastfolie für diese Konzeption der Tragödie mögen die Ausführungen
Schopenhauers in Die Welt als Wille und Vorstellung gedient haben, die für Nietz-
sches romantisch-pessimistisches Frühwerk, die Geburt der Tragödie und die vier
Unzeitgemäßen Betrachtungen, prägend waren. Schopenhauer bezeichnet die
„Darstellung der schrecklichen Seite des Lebens“ als Zweck des „Trauerspiel[s]“.84
Im „Jammer der Menschheit“ oder der „höhnende[n] Herrschaft des Zufalls“ liege
„ein bedeutsamer Wink über die Beschaffenheit der Welt und des Daseyns. Es ist
der Widerstreit des Willens mit sich selbst, welcher hier, auf der höchsten Stufe
seiner Objektität, am vollständigsten entfaltet, furchtbar hervortritt.“ In der Tragö-
die trete das Leid, das durch das Wirken des blinden Willens für das Leben im
Ganzen konstitutiv sei, intensiviert hervor, was schließlich „die vollkommene
Erkenntniß des Wesens der Welt, als Q u i e t i v des Willens wirkend, die Resignati-
on herbeiführt, das Aufgeben, nicht bloß des Lebens, sondern des ganzen Willens
zum Leben selbst.“85 Für den Sprecher in Nietzsches Text ist das Leben, recht
erkannt, gerade nicht tragisch, sondern komisch; insofern vertritt er eine konträre
Position zu Schopenhauer. Bei beiden ist allerdings die Einsicht in die Unwichtig-
keit des Individuums zentral. Insofern stellt sich wieder die Frage nach der Glaub-
würdigkeit des Ichs, wenn es am Anfang des Abschnitts behauptet, für das von ihm

83 Vgl. Aristoteles, Werke [I]. Schriften zur Rhetorik und Poetik, Bd. 3, übersetzt von Leonhard
Spengel / Chr. Walz, Stuttgart 1840 (Griechische Prosaiker in neuen Übersetzungen, Bd. 201) (NPB,
115), S. 464–466 (1452a–1452b).
84 Schopenhauer, Sämmtliche Werke, Bd. 2, S. 298.
85 Schopenhauer, Sämmtliche Werke, Bd. 2, S. 299.
Das Dasein zwischen Komödie und Tragödie 359

Erkannte spiele es keine Rolle, ob man „mit gutem oder bösem Blicke auf die
Menschen sehe[ ]“,86 ist es doch ein bezeichnender Unterschied, die Komödie oder
die Tragödie als Metapher für das eigentliche, wahre Dasein zu verwenden.
Das Text-Ich kommt anschließend auf die Frage zu sprechen, was „das immer
neue Erscheinen jener Stifter der Moralen und Religionen, jener Urheber des
Kampfes um sittliche Schätzungen, jener Lehrer der Gewissensbisse und der
Religionskriege“ zu bedeuten habe.87 Der Fokus der Fragestellung verschiebt sich
mithin erneut. Es geht nun erst einmal nicht mehr um die Moralen und Religionen
selbst sowie ihre Wirkung auf die Menschen, sondern um diejenigen, die für die
Schaffung dieser Moralen verantwortlich sind. Zudem wird an dieser Stelle erst-
mals die Personengruppe erwähnt, die der Titel des ersten Abschnitts in den
Vordergrund rückt: die ‚Lehrer‘. Dass der Sprecher eine kritische Haltung ihnen
gegenüber einnimmt, ist ersichtlich, wenn man beachtet, womit er sie assoziiert:
sie zeichnen verantwortlich sowohl für die psychische (‚Gewissensbisse‘) als auch
die physische Deformation (‚Religionskriege‘) des Menschen. Als ein solcher ‚Leh-
rer‘ vom Zweck des Daseins konnte in der bisherigen Quellen-Untersuchung etwa
Spencer ausgemacht werden, dessen Ausführungen immer wieder konträr zu
denen des Text-Ichs verliefen, auch was den Begriff des Zwecks betrifft. Aber auch
Schneider und Büchner führten immer wieder neue Zweckbegriffe ein, wenngleich
sie sich gegen die damit verbundenen teleologischen Vorstellungen richteten.
Das Text-Ich lässt jedoch die Metapher der Tragödie nicht etwa fallen, son-
dern führt sie in diesem Zusammenhang weiter, wenn es fragt, was „diese Helden
auf dieser Bühne“ zu bedeuten hätten.88 Dabei knüpft es in struktureller Hinsicht
an die barocke Metapher des theatrum mundi an. Indem der Sprecher sich der
Theatermetaphorik bedient, kann er die ‚Lehrer‘ und ‚Stifter‘ als (tragische)
Helden beschreiben und vice versa. Gemäß dieser Bildlichkeit dient für ihn „alles
Uebrige, zeitweilig allein Sichtbare und Allzunahe“ konsequent und alleinig der
„Vorbereitung dieser Helden“.89 Alle anderen Menschen und Dinge verweist er in
den Rang der im Hintergrund der Inszenierung wirkenden „Maschinerie“, der als
Staffage abgewerteten „Coulisse“ oder der Nebenrolle, wie die „Vertrauten und
Kammerdiener[ ]“.90 Auch die „Poeten“ gelten für das Text-Ich keineswegs als
Helden, sondern als „Kammerdiener“ der „Moral“.91 Jedoch muss dieses vorder-
gründige Verhältnis eines Narrativs großer, geschichtstreibender ‚Heroen‘, die

86 FW 1, KSA 3, 369, 4.
87 FW 1, KSA 3, 370, 28–31.
88 FW 1, KSA 3, 370, 31 f.

89 FW 1, KSA 3, 370, 34 f.  

90 FW 1, KSA 3, 371, 1 f.

91 FW 1, KSA 3, 371, 3.
360 Julius Thelen

alle anderen dominieren, genauer betrachtet werden. Zum einen gilt es, die
grundlegende These der Unwichtigkeit des Einzelnen angesichts der Arterhaltung
miteinzubeziehen, die jede heldenhafte Handlung konsequenterweise unmöglich
macht. Zum anderen ist das Bild, welches der Sprecher entwirft, in seiner Logik
ernst zu nehmen, da die großen Helden der Staatsaktion keineswegs ohne die
Kulisse, die Maschinerie, geschweige denn die Nebenrollen agieren können. In
der Metaphorik verbirgt sich bei genauer Betrachtung schon eine kritische Volte.
Vollends wird diese ironische Dimension wieder über die konstitutiven Prä-
texte ersichtlich. Die herabsetzende Bezeichnung der Poesie als Kammerdienerin
der Philosophie, die eine Analogie- bzw. Kontrastbildung zum mittelalterlichen
Verständnis der Philosophie als ancilla theologiae92 darstellt, verweist auf eine
Passage aus Hegels Phänomenologie des Geistes, die das dialektische Moment im
Verhältnis von Held und Kammerdiener exponiert:

Es gibt keinen Helden für den Kammerdiener; nicht aber weil jener nicht ein Held, sondern
weil dieser – der Kammerdiener ist, mit welchem jener nicht als Held, sondern als essender,
trinkender, sich kleidender, überhaupt in der Einzelnheit des Bedürfnisses und der Vor-
stellung zu thun hat. So gibt es für das Beurtheilen keine Handlung, in welcher es nicht die
Seite der Einzelnheit der Individualität, der allgemeinen Seite der Handlung entgegenset-
zen, und gegen den Handelnden den Kammerdiener der Moralität machen könnte.93

92 Diese prominent gewordene Formel geht wohl zurück auf Petrus Damiani, wobei sich der
Wortlaut hier nicht genau nachweisen lässt. Vgl. aber ders., Opera Omnia, collecta primum ac
argumentis et notationibus illustrata studio ac labore domni Constantini Cajetani, tomus secundus,
Paris 1853, Sp. 603, wo es heißt: „Quae tamen artis humanae peritia, si quando tractandis sacris
eloquiis adhibetur, non debet jus magisterii sibimet arroganter arripere; sed velut ancilla dominae
quodam famulatus obsequio subservire“. Vgl. zu dieser Tradition Kluxen, Wolfgang, Ancilla
theologiae, in: Ritter, Joachim (Hrsg), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel 1971,
S. 294 f. Den Hinweis auf den Topos verdanke ich Sebastian Kaufmann (NK 3/2 zu FW 1, in Vorb.).

93 Hegel, Ge[org] Wilh[elm] Fr[iedrich], System der Wissenschaft, Teil 1: Die Phänomenologie des
Geistes, Bamberg / Würzburg 1807, S. 616. Diesen Stellen-Hinweis verdanke ich ebenfalls den
Forschungen Sebastian Kaufmanns (NK 3/2 zu FW 1, in Vorb.). Vgl. die Hinweise auf das
französische Sprichwort: „il n’y a pas de héros pour le valet de chambre“, sowie die Aufnahme
dieses Gedankens in Goethes Wahlverwandtschaften (2. Teil, 5. Kapitel, aus Ottiliens Tagebuch):
„Es giebt, sagt man, für den Kammerdiener keinen Helden. Das kommt aber blos daher, weil der
Held nur vom Helden anerkannt werden kann. Der Kammerdiener wird aber wahrscheinlich
seines Gleichen zu schätzen wissen“ (Goethe, Johann Wolfgang, Sämmtliche Werke in vierzig
Bänden, vollständige, neugeordnete Ausgabe, Bd. 15, Stuttgart / Augsburg 1856 (NPB, 250),
S. 198) bei Hegel, Phänomenologie des Geistes, nach dem Texte der Originalausgabe, hrsg. von
Johannes Hoffmeister, Berlin 1964, S. 468. Im März 1807 erhielt Goethe die Phänomenologie von
Hegel als Geschenk, vgl. den Hinweis in ders., Werke, Bd. 6: Romane und Novellen I, textkritisch
durchgesehen von Erich Trunz, kommentiert von Erich Trunz / Benno von Wiese, München 2000,
S. 729 f. Wichtig für die Überlieferung dieser Sentenz ist Montaigne, der sich in den Essais, 3. Buch,

2. Hauptstück, wiederum auf Nicolas de Catinat beruft: „Es ist schon mancher vor der Welt ein
Das Dasein zwischen Komödie und Tragödie 361

Für den Kammerdiener ist der Held somit gar kein Held, gerade er nimmt ihn in
der Verrichtung alltäglicher Aufgaben und der Befriedigung niederer, wenig
heldenhafter Bedürfnisse wahr. Diese Konstellation von Kammerdiener und Held
muss jedoch auf das Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Dichtern und den
Helden der Moral im vorliegenden Abschnitt bezogen werden. Nur so lässt sich
die ganze Hintergründigkeit der Anspielung ermitteln. Sobald FW 1 von der
Thematik der Moralität zu der des Lachens ‚hinübergleitet‘, scheint es, als hätte
ein ‚Dichter‘ die Rolle des Sprechers übernommen. Der Wechsel hin zur theatralen
Metaphorik der Tragödie und Komödie, des Helden und der Nebenrolle legt die
Annahme eines dichterischen Text-Ichs zumindest nahe. Wenn dieses Ich den

Wunder gewesen, an dem seine Frau und Bedienten nicht einmal etwas besonders bemerket
haben. Noch wenige (a) sind von ihrem Gesinde bewundert worden.“ (a) zeigt dabei eine Fußnote
an, in der zu lesen ist: „Man muß ein großer Held seyn, sagte der Marschall von Catinat, wenn
man es in den Augen seines Kammerdieners seyn will.“ [Montaigne, Michel de], Michaels Herrn
von Montagne [sic] Versuche, nebst des Verfassers Leben, nach der neuesten Ausgabe des Herrn
Peter Coste ins Deutsche übersetzt. Zweeter Theil [sic], Leipzig 1754, (NPB, 394), S. 780 f. Im  

französischen Original: „Tel a esté miraculeux au monde, auquel sa femme et son valet n’ont rien
veu seulement de remarquable; peu d’hommes ont esté admirez par leurs domestique [1]“. Unter
[1] dann: „‚Il faut être bien héros, disait le maréchal de Catinat, pour l’être aux yeux de son valet
de chambre.‘ C.“ Montaigne, Michel de, Essais, Avec des notes de tous les commentateurs, Édition
revue sur les textes originaux, Paris 1864, (NPB, 393), S. 418. Die Sentenz findet sich dann wieder
bei David Hume: „‚Die groͤ ßesten Feinde der Ehre der Helden, saget ein gewisser Schrifsteller, sind
ihre Kammerdiener.‘ Es ist gewiß, Bewunderung und Bekanntschaft koͤ nnen, in Ansehung aller
sterblichen Geschoͤ pfe, unmoͤ glich zusammen bestehen. Antigonus, der von seinen Schmeichlern
als eine Gottheit, und ein Sohn dieses herrlichen Planeten, der die Welt erleuchtet, begruͤ ßet
wurde, sagte: hieruͤ ber kannst du den Mann fragen, der meinen Nachtstuhl ausraͤ umet. Schlaf und
Liebe uͤ berzeugte den Alexander, daß er kein Gott war: aber ich glaube, diejenigen, die ihn taͤ glich
bedieneten, koͤ nnten noch viele andere uͤ berzeugendere Beweise seiner Menschheit, in den
unzaͤ hligen Schwachheiten gegeben haben, denen er unterworfen war.“ [Hume, David], Herrn
David Hume, Esqu. Moralische und politische Versuche, als dessen vermischter Schriften vierter
und letzter Theil, Nach der neusten und verbesserten Ausgabe uͤ ebersetzet, Hamburg / Leipzig
1756, S. 203 f. Schließlich ist noch ein Passus aus der Nouvelle Héloise, 4. Teil, 10. Brief zu nennen:

„On a dit qu’il n’y avoit point de héros pour son valet de chambre; cela peut être; mais l’homme
juste a l’estime de son valet; ce qui montre affés que l’héroïsme n’a qu’une vaine apparence, &
qu’il n’y a rien de solide que la vertu.“ [Rousseau, Jean-Jaques], Lettres de deux amans, Habitans
d’une petite Ville au pied des Alpes, recueillies et publiées par J. J. Rousseau, Quatrieme Partie,
Amsterdam 1761, S. 93. Die Hinweise zu Montaigne, Hume, Rousseau und Hegel sind zu finden im
Kommentar von Marie Rischmüller zu einer Stelle in den Bemerkungen in den ‚Beobachtungen über
das Gefühl des Schönen und Erhabenen‘, wo es heißt: „Daß große Leute nur in der Ferne
schimmern ǀ daß ein Fürst vor seinem Kammerdiener viel verliert ǀ kommt daher weil kein Mensch
groß ist ǀ“, vgl. Kant, Immanuel, Bemerkungen in den ‚Beobachtungen über das Gefühl des Schönen
und Erhabenen‘, neu herausgegeben und kommentiert von Marie Rischmüller, Hamburg 1991,
S. 28, der Kommentar dazu S. 173.
362 Julius Thelen

Poeten also eine rezessive Rolle zuschreibt, liegt darin schon eine ironische Volte,
denn es selbst erhebt ja den Zwecklehrer mittels seiner dichterischen Konstrukti-
on überhaupt erst zum Helden. Der Interpret des Textes erkennt eine solche Finte
aber erst recht vor dem Hintergrund des Hegel-Bezugs, da dort die Dialektik des
Verhältnisses zwischen Held und Kammerdiener entfaltet wird. Für den Dichter
als „Kammerdiener“ im Sinne Hegels ist der Morallehrer als Held auf der Bühne
der Daseins-Tragödie gerade kein Held. Der Prätext lenkt die Interpretation des
Abschnitts somit auf eine Fährte, die einer vordergründigen Lektüre entgeht.
Durch die Rekonstruktion der Hegel-Allusion vorbereitet, ergibt sich bei
genauer Lektüre jedoch noch ein weiterer Befund, der das Heldische der Moral-
lehrer mit weiteren Fragezeichen versieht. Denn die an diese Erörterungen an-
schließende Aussage, es verstehe „sich von selber, dass auch diese Tragöden im
Interesse der A r t arbeiten, wenn sie auch glauben mögen, im Interesse Gottes
und als Sendlinge Gottes zu arbeiten“,94 unterminiert ebenfalls das Heroische des
Helden, indem sie seine religiösen Überzeugungen und Motive in den Bereich des
oberflächlichen Scheins verweist. Auch die vermeintlichen Heroen sind dem
Primat der Arterhaltung unterstellt, als dessen Quelle sich zu Beginn des Ab-
schnitts ein Instinkt beschreiben ließ. So wird Hegels Held-Kammerdiener-Dia-
lektik variiert, indem die Helden selbst durch das Text-Ich gewissermaßen zu
‚Kammerdienern‘ der Arterhaltung degradiert werden. Darauf verweist überdies
ihre Bezeichnung als „Tragöden“ an dieser Stelle. Der Tragöde ist nämlich seiner-
seits gar kein tragischer Held, sondern lediglich ein Helden-Darsteller, ein Schau-
spieler.95 Die Kategorie des Einzelnen, zumal des Heroischen, ist – dies bestätigt
sich erneut − in evolutionsbiologischer Perspektive hinfällig.
Die spezifische Aufgabe der ‚Helden‘ im Prozess der Arterhaltung wird nun
darin gesehen, das „Leben der Gattung“ zu fördern, „i n d e m s i e d e n G l a u b e n
a n d a s L e b e n f ö r d e r n “.96 Wieso aber sollte diese dezidierte Affirmation des
Lebens gerade eine besondere Bedeutung für die Arterhaltung haben, wenn doch
die Grundthese von einer Gleichgültigkeit individueller Handlungen ausgeht, da
man zum Schaden der Art gar nicht handeln könne? Das als Dichter identifizierte
Ich schlüpft (selbst wie ein Schauspieler) in die Rolle der (Helden spielenden)
Morallehrer, um ihre Position zu karikieren: Der Ausruf, dass es „werth“ sei „zu
leben“, eine Überzeugung, die es ihnen allen unterstellt, wird durch die um-
gangssprachliche Wendung, es habe „Etwas auf sich mit diesem Leben“ und der

94 FW 1, KSA 3, 371, 4–6.


95 Hinweis von Sebastian Kaufmann. Vgl. auch die entsprechende Verwendung des Begriffs in
NL 1881, 15[17], KSA 9, 642, 18.
96 FW 1, KSA 3, 371, 7 f.

Das Dasein zwischen Komödie und Tragödie 363

ironischen Variation ihrer Präposition durch „hinter“ und „unter“ persifliert.97


Der Sprecher tangiert jedoch implizit die Frage, wie aus einem „Trieb der Arter-
haltung“ die Lehrer der Moral hervorgehen können, da dieser, obwohl in jedem
Menschen „gleichmässig“ waltend, „von Zeit zu Zeit als Vernunft und Leiden-
schaft des Geistes hervor[breche]“.98 Diese Erklärung ist allerdings nur eine
scheinbare, denn wie es dazu gekommen ist, dass der Trieb der Arterhaltung als
Vernunft auftritt und wieso er dies tut, bleibt gänzlich opak. In einem Spannungs-
verhältnis steht dies einerseits auch zur Privilegierung gerade der ‚schlechten‘
Handlungen in ihren angeblich der Degeneration entgegenwirkenden Kon-
sequenzen. Andererseits erhalten die Tragöden so nachträglich eine gewisserma-
ßen naturgesetzliche Apologie, die der vom Sprecher geäußerten Kritik an den
Zweck-Lehrern vor der Kontrastfolie einer erhofften Zeit der Komödie entgegen-
steht. Wenn es der Trieb zur Arterhaltung ist, der durch die Tragöden ‚hindurch‘
handelt, kann man ihnen wohl kaum einen Vorwurf machen.
Das Text-Ich verfolgt diesen Gedanken jedoch weiter und beschreibt den
Trieb der Arterhaltung als Paradox. Der Arterhaltungstrieb versuche intentional
mittels kausaler Begründungsmuster („ein glänzendes Gefolge von Gründen“) die
eigene Irrationalität („Grundlosigkeit“), welche ihm als „Trieb“ zukomme, zu
verdecken.99 Auch hier nutzt der Sprecher zur Illustration dieser Position die
rhetorische Technik der direkten Rede, allerdings ohne dies durch Anführungs-
zeichen eigens zu markieren: „Das Leben s o l l geliebt werden, d e n n ! Der Mensch
s o l l sich und seinen Nächsten fördern, d e n n !“100 Solche moralischen Imperati-
ve, die typisch optimistisch-philanthropische Maximen formulieren, werden vom
Text-Ich ohne Differenzierung verworfen: „Und wie alle diese Soll’s und Denn’s
heissen und in Zukunft noch heissen mögen!“101 Der Sprecher identifiziert ein
überhistorisches Argumentationsmuster, dessen sich die Lehrer der Moral bedie-
nen, verweist es jedoch in den Bereich des Scheins, indem er ihm die vermeintlich
wahre Erkenntnis des Arterhaltungstriebs entgegenstellt. Dabei kommt auch der
Titel des Abschnitts zu einem gewissen Recht, denn das nach strenger Allgemein-
heit („immer“), Notwendigkeit und „ohne allen Zweck“ Sich-Ereignende soll als
„auf einen Zweck hin gethan erscheine[n]“; es soll dem Menschen „als Vernunft
und letztes Gebot“ verständlich sein.102

97 FW 1, KSA 3, 371, 8–10.


98 FW 1, KSA 3, 371, 12 f.

99 FW 1, KSA 3, 371, 14–16.


100 FW 1, KSA 3, 371, 16–18.
101 FW 1, KSA 3, 371, 18 f.

102 FW 1, KSA 3, 371, 20–22.


364 Julius Thelen

An dieser Stelle wird ein Paradox formuliert, das die Ernsthaftigkeit der
Argumentation wiederum in Zweifel ziehen lässt. Das Ich bedient sich der Katego-
rien der Allgemeinheit und Notwendigkeit, um das Wirken eines zwecklosen
Triebs zu beweisen, der kausale Begründungsmuster in Frage stellt. Die genann-
ten Kategorien setzen jedoch gerade ein Kausalitätsgesetz voraus, unabhängig
davon, ob es im aristotelischen Sinne der Natur selbst zukommt oder nach
Ansicht Kants durch den menschlichen Verstand der Natur ‚vorgeschrieben‘ wird.
Das von Nietzsche instanziierte Text-Ich kritisiert zwar kausale Begründungs-
muster, verdeckt aber, dass es sich solcher Muster selber bedient. Darüber hinaus
mag der Sprecher zwar als Kritiker des Zweckbegriffs auftreten; indem er die
Arterhaltung indes nicht bloß als kontingentes Ergebnis, sondern als Ziel eines
menschlichen Triebes beschreibt, führt er unter der Hand ebenfalls einen Zweck-
begriff ein. Gerade über die Rekonstruktion von Nietzsches Bezugnahme auf die
Prätexte Schneiders und Büchners konnte diese implizite Vorstellung rekonstru-
iert werden. Zwar tritt auch das in FW 1 sprechende Ich mit den beiden genannten
Autoren etwa gegen den Zweckbegriff Spencers an, das heißt aber nicht, dass
Zielsetzungen insgesamt obsolet würden. Dies trifft auch schon auf Schopenhau-
er zu, der den „Zweck unsers Daseyns“103 in der „Erkenntniß“ sieht, „daß wir
besser nicht dawären“.
Der „Lehrer vom Zwecke des Daseins“ ist gerade jemand, der einen mora-
lischen Begriff des Zwecks verfolgt, weswegen das Text-Ich ihn alternativ auch
den „ethische[n] Lehrer“ nennt.104 Damit ist keine spezifische philosophische oder
moralische Richtung gemeint, deren Protagonisten der Sprecher kritisiert; viel-
mehr können Vertreter verschiedener Philosophien, Religionen oder Moralen
impliziert sein. Die entscheidende Bedingung ist, dass die avisierten „Lehrer“
„ein zweites und anderes Dasein“ erfinden, welches das „alte gemeine Dasein aus
seinen alten gemeinen Angeln“ hebt.105 Es geht um eine Fiktion, die das wahre,
einzig der Arterhaltung dienende Dasein überformt. Hierbei kann es sich bei-
spielsweise um das christliche Jenseits oder die ‚noumenale Welt‘ in der Ethik
Kants handeln,106 an einer präziseren Differenzierung in der Sache ist dem
Sprecher keineswegs gelegen. In Betracht zu ziehen wäre freilich auch, dass
selbst Schopenhauer mit seinem resemantisierten Zweckbegriff und seiner Lehre
von der Willensverneinung in letzter Konsequenz dieser Kritik verfällt. Selbst
Schopenhauers Philosophie, die das durch asketisches Absterben zu erreichende

103 Schopenhauer, Sämmtliche Werke, Bd. 3, S. 695. Die Unterstreichung stammt von Nietzsches
Hand.
104 FW 1, KSA 3, 371, 23 f.

105 FW 1, KSA 3, 371, 24–26.


106 Für diesen Hinweis sei Sebastian Kaufmann (NK 3/2 zu FW 1, in Vorb.) gedankt.
Das Dasein zwischen Komödie und Tragödie 365

Nichts als erstrebenswerten Zustand darstellt, steht nach der Argumentation in


FW 1 damit paradoxerweise im Dienst des Lebens: als ein Mittel zum Zweck der
Arterhaltung.
Schließlich geht es auch dem Text-Ich selbst um die Konstitution einer neuen
Ethik, wenngleich sie mit dem Postulat der „Unverantwortlichkeit“ von den
bestehenden Morallehren abgesetzt wird.107 Der Sprecher wünscht sich für die
Zukunft eine Überwindung des tragischen Zustands, der im Verkennen der
eigentlichen Natur des Daseins besteht, und erhofft sich stattdessen eine Zeit, in
der die Erkenntnis der Wahrheit gerade keine Überformung durch fiktive Welten,
sondern humorvolle Akzeptanz der realen Welt mit sich bringt. Wenn man den
Text also präzise liest, fällt auf, dass das Ich zwar vorgibt, alle Morallehrer
abzulehnen; genau betrachtet führt es in seiner Gegenbewegung gegen deren
Ethiken aber selbst eine neue Ethik ein und wird somit ebenfalls zu einem
‚Lehrer‘. Damit aber entzieht das Text-Ich sich selbst den Boden seiner Argumen-
tation bzw. weist implizit auf deren Brüche hin. Mit dieser Strategie leistet der
Text eine Kritik kritischer Maßstäbe, die man – begrifflich avanciert – ‚Metakritik‘
nennen könnte. Doch auch die theatrale Thematik lässt der Sprecher keineswegs
fallen. Der Lehrer des Zwecks, der zugleich als ethischer Lehrer auftritt, ist wei-
terhin als Tragödienschauspieler zu verstehen. Die Tragödie besteht, so ließe sich
rekonstruieren, gerade wieder darin, dass er „durchaus nicht“ will, „dass wir über
das Dasein l a c h e n “,108 auch nicht über ihn, den Helden(-Darsteller), oder über
uns selbst. Die vom Sprecher mit Bezug auf die Zukunft artikulierte Hoffnung
einer Verbindung von Wahrheit und Lachen, die er als adäquate Haltung einem
Dasein gegenüber artikuliert, das eigentlich Komödie ist, verneint der ‚Zweck-
Lehrer‘. Der früher im Abschnitt zitierten ‚Wahrheit‘, einer sei keiner, halte der
Tragöde entgegen, dass „Einer immer Einer“ sei, gar etwas „Erstes und Letztes
und Ungeheures“109 – womit dem Einzelnen ‚göttliche‘ Attribute zugeschrieben
werden. Indem der Sprecher keine ‚authentischen‘ philosophischen Positionen zu
Wort kommen lässt, sondern sie indirekt wiedergibt, erhält er die Möglichkeit, sie
zu karikieren; an dieser Stelle etwa durch den hyperbolisch paraphrasierten
Gedanken der unantastbaren Würde jedes einzelnen Menschen.

107 FW 1, KSA 3, 370, 22.


108 FW 1, KSA 3, 371, 26 f.

109 FW 1, KSA 3, 371, 28 f.



366 Julius Thelen

4 Geschichtsphilosophische Verschiebungen. Die


Veränderung der Art durch die tragische
Weltsicht
Die Leugnung der „Art“, die vordergründig von den Zweck-Lehrern propagiert
wird, bezeichnet das Text-Ich als „thöricht und schwärmerisch“, als eine Position,
die das Wesen der „Natur verkennt“.110 In diesem Sinne hätten „alle Ethiken“
dazu geführt, dass „an jeder von ihnen die Menschheit zu Grunde gegangen sein
würde, falls sie sich der Menschheit bemächtigt hätte“.111 Die Fiktion eines
anderen, besseren Daseins hinter dem realen Dasein ist demzufolge nicht nur
falsch, sondern auch gefährlich für die Erhaltung der Art – obwohl wenige Zeilen
weiter oben das Gegenteil behauptet wurde, dass nämlich auch und gerade jene
Fiktion der Arterhaltung diene.112 Indem der Sprecher nun darlegt, dass die
konsequente Verkennung der Natur auf Dauer sehr wohl zu einer Gefährdung der
Arterhaltung führen könnte, widerspricht er überdies der vorher artikulierten
Überzeugung, dass man in Bezug auf sie gar nicht ‚schlecht‘ handeln könne. Dies
lässt sich auch nicht durch den schon beschriebenen Gedanken relativieren, dass
das der Art Schädigende zwar vielleicht einmal existiert habe, in der Gegenwart
aber gar nicht mehr möglich sei. Im Gegenteil: Dasjenige, was der Art wirklich
gefährlich werden könnte, stuft das Text-Ich als dominierende Moral ein.
Der Sprecher gesteht dem Erscheinen dieser Morallehrer, „‚der Held[en]‘“ –
im Text in Anführungszeichen, da es sich tatsächlich nur um Helden-Darsteller
handle –, sogar eine gewisse positive Konsequenz zu („immerhin!“), die jedoch
als „das schauerliche Gegenstück des Lachens“ gleich wieder relativiert wird.113
Hierbei spielt das sprechende Ich mit den konventionellen Vorstellungen vom
Tragischen, wenn das Schauerliche nun nicht mehr, wie bei Schopenhauer, das
zur Evidenz gelangende Elend der Welt ist, das eine pessimistische Einstellung
des Menschen nach sich zieht. Vielmehr beschreibt das Text-Ich dasjenige als
schauerliche Erfahrung, was beim Menschen zu einer optimistischen Haltung
dem Leben gegenüber führt: den metaphysischen Gedanken seiner eigenen Wür-
de („ja, ich bin werth zu leben!“).114 Indem das Text-Ich den Optimismus des
Menschen als etwas Tragisches interpretiert, destruiert es den überlieferten Asso-
ziationshorizont der Tragödie mittels einer ironischen Umkodierung. Tragisch sei

110 FW 1, KSA 3, 371, 29–32.


111 FW 1, KSA 3, 371, 34–372, 2.
112 Vgl. FW 1, KSA 3, 371, 3–8.
113 FW 1, KSA 3, 372, 2–4.
114 FW 1, KSA 3, 372, 5.
Das Dasein zwischen Komödie und Tragödie 367

diese Haltung, weil sie – dies wurde als strukturelles Moment herausgearbeitet –
die wahre Natur des Daseins verkennt, der zufolge der Einzelne im Verhältnis zur
Art bedeutungslos sei. Die Entwicklung, in der „das Leben und ich und du und
wir Alle einander […] uns wieder einmal für einige Zeit i n t e r e s s a n t “ wurden,115
erscheint nun aber (im Gegensatz zum vorher Gesagten) als Gefahr, weil sie der
Arterhaltung entgegenwirken könne.
Allerdings gehen die Ausführungen zum Tragischen noch weiter und ziehen
das rekonstruierte Modell des geschichtlichen Verhältnisses von Komödie und
Tragödie in Zweifel. Nach der bisherigen Rekonstruktion schien es so, als sei das
Dasein aus Sicht des Sprechers zwar eigentlich komisch, was aber nur erkenne,
wer die Wahrheit über das Wesen der Arterhaltung und die Nichtigkeit des
Individuums begriffen hat. Der Sprecher ließ indes den Eindruck entstehen, dass
die Komik des Daseins bislang – abgesehen von ihm selbst – gerade noch nicht
verstanden worden sei, dass in der Vergangenheit und Gegenwart mittels der
Fiktion eines zweckhaften, moralischen Daseins vielmehr die Tragödie dominiert
habe. Deswegen artikulierte er die Hoffnung auf eine zukünftige Verbindung von
Lachen und Wahrheit, eine Zeit der ‚fröhlichen Wissenschaft‘, die zugleich eine
Epoche der Komödie sei. Die ‚Lehrer vom Zweck des Daseins‘ wurden dann jedoch
so dargestellt, dass sie immer schon – wenngleich nur aufgrund eines arterhal-
tenden Triebes – gegen die Erkenntnis der Lächerlichkeit des Einzelnen ange-
sichts der Arterhaltung ankämpften. Gerade diese Erkenntnis, die doch eigentlich
zum Lachen führen könnte, muss von ihnen als etwas Schlechtes wahrgenommen
worden sein, da sie ihr die Fiktion eines wie auch immer gearteten anderen,
vermeintlich besseren Daseins überstülpten. Wenn es nun heißt, dass es „nicht zu
leugnen“ sei, „dass a u f d i e D a u e r über jeden Einzelnen dieser grossen Zweck-
lehrer bisher das Lachen und die Vernunft und die Natur Herr geworden“ sei,116
erscheint das ganze Modell fraglich. Nicht nur führt der Sprecher auf einmal ein
zyklisches Modell ein, in dem sich Perioden der Tragödie mit eher kurzen Phasen
der Komödie abwechseln. Auch der Zwecklehrer kann nicht mehr bloßer Tragö-
dienschauspieler sein, sondern ist als Figur einer Daseinskomödie zu verstehen,
die er zwar tragisch zu überformen versucht, die schließlich aber immer wieder
durch ein zyklisches Gesetz der Geschichte in eine komödienhafte Dimension
überführt wird. In der wirklichen Tragödie ist das Lachen über den Helden(-Dar-
steller) nicht vorgesehen.
Die Komödie gerät so zur „ewige[n]“ Bestimmung des „Daseins“ und die
Tragödie, ganz entgegen der vorigen Ausführungen, denen gemäß alles immer

115 FW 1, KSA 3, 372, 6 f.


116 FW 1, KSA 3, 372, 7–10.


368 Julius Thelen

nur auf das Erscheinen der großen tragischen Helden bzw. Tragöden zulaufe, zu
einem „kurze[n]“ Intermezzo.117 In diesem Zusammenhang nennt der Sprecher
erstmals einen realen Tragödiendichter, den er als Beweis für den Umschlag von
kurzer Tragödie zu ewiger Komödie zitiert: „die ‚Wellen unzähligen Gelächters‘ –
mit Aeschylus zu reden – müssen zuletzt auch über den grössten dieser Tragöden
noch hinwegschlagen.“118 Bei der Imagination eines Gelächters, das in „Wellen“
daherkommt und nicht mehr quantifizierbar ist, handelt es sich um eine Metapher
für die geschichtliche Naturgesetzlichkeit des Wechsels von der Tragödie hin zur
Komödie, die seine gleichsam mechanische Gewalt, seine Unaufhaltsamkeit zu
verbildlichen sucht. In der Tat liegt eine Aischylos-Paraphrase119 vor, die jedoch
durch eine markante Verschiebung gekennzeichnet ist. In Der gefesselte Prome-
theus heißt es:

P r o m e t h e u s . O heil’ger Luftkreis und ihr Winde schnellbeschwingt!


O Stromesquellen und des Meers, des lachenden,
Unübersehlich Wallen! Erd’! Allmutter du,
Und dich, der Sonn’ allsehend Auge, ruf’ ich an:
Schaut, was ich Gott von Göttern jetzo dulden muss!120

Das ‚Lachen‘ erscheint hier, in der Übersetzung partizipial konstruiert, als kühne
Metapher für das apostrophierte und anthropomorphisierte Meer, dem das
Menschliche über das Moment des visuell nicht mehr Fassbaren zugleich wieder
entzogen wird. In der Beschreibung des Text-Ichs geht es allerdings nicht mehr
um eine Naturbeschreibung, die es metaphorisch intensiviert und überformt,
sondern die ‚Wellen‘ selbst werden zur Metapher.121 Das als Naturgewalt erschei-
nende Lachen schließt in seiner Bildlichkeit an die Thematik von Trieb und Natur
an, die für FW 1 konstitutiv ist. Die Metapher des Aischylos wird so nicht nur in
einen völlig neuen Kontext gestellt – der Sprecher invertiert das Bild auch in
seinen Bestandteilen, was eine gänzlich andere Denotation mit sich bringt. Mehr
noch: Das Text-Ich stellt Aischylos vordergründig als Tragödiendichter dar, der
verstanden hat, dass die Komödie des Daseins unhintergehbar ist. Tatsächlich ist

117 FW 1, KSA 3, 372, 10 f. 

118 FW 1, KSA 3, 372, 12–14.


119 Vgl. zum Aischylos-Zitat insgesamt den Aufsatz von Benne, Was ist der Zweck der Tragödie?,
hier vor allem auch die Diskussion der wichtigen Parallelstelle in GT 9, KSA 1, 70, 25–71, 1 sowie
Griffin, Nietzsche on Tragedy and Parody.
120 Aischylos, Die Tragödien des Aeschylos, verdeutscht von Johannes Minckwitz, Stuttgart 1853
(NPB, 106), S. 168, V. 88–92.
121 Vgl. auch Benne, Was ist der Zweck der Tragödie?, S. 113, der zudem das Lachen als „spiegel-
bildliches Gegenstück zur dionysischen Flut in der Tragödienschrift“ interpretiert.
Das Dasein zwischen Komödie und Tragödie 369

es genau umgekehrt: Denn die Monodie des Prometheus ist der Suche nach dem
‚Zweck‘ seines Leidens gewidmet; wenn Nietzsches Sprecher es aber so darstellt,
als würde dieser ausgelacht, dann ist damit gerade die Lächerlichkeit seiner
Handlung, stellvertretend für alle Lehrer vom Zweck des Daseins, angezeigt. Die
Komödie des Daseins holt das Individuum ein. Insofern lässt sich über den Prä-
text gerade eine hintergründigere Lesart ausmachen, die den Text des Aischylos
selbst parodiert.122
Das Text-Ich verhindert mit seinen Ausführungen jedoch weiterhin jede ein-
fache Festlegung. So spricht es zwar einerseits von einer ‚ewigen Komödie des
Daseins‘ und deren immer wieder erfolgenden Sieg über den einzelnen Tragöden;
dann ist andererseits wieder nur von einem „corrigirenden Lachen“ der Komödie
die Rede, einer korrektiven Funktion, die gleichwohl nicht verhindern konnte,
dass „durch diess immer neue Erscheinen jener Lehrer vom Zweck des Daseins
die menschliche Natur verändert worden“ sei.123 Sind diese unterschiedlichen
Gewichtungen von Komödie und Tragödie schon keineswegs mehr in Einklang zu
bringen, so kommt es mit der These von der Veränderung der menschlichen Natur
zu einem eklatanten Widerspruch. Denn es war ja gerade die Erkenntnis der
menschlichen Natur, die zeitweise als kritischer Maßstab in der Bewertung der
ethischen Lehrer diente; deren Lehren werden jetzt aber ebenfalls (wieder) als
Teil der Natur angesehen.124 Wieso beruft sich der Sprecher dann allerdings
immer wieder auf eine gewissermaßen überzeitliche Natur des Menschen, die zur
Erkenntnis der Lächerlichkeit des Einzelnen führt, wenn diese Natur überhaupt
keine überzeitliche Entität, sondern wandelbar ist? Wurde oben schon fest-
gestellt, dass die geschichtsphilosophischen Implikationen der Ausführungen
des Text-Ichs sich immer wieder verschieben, so erfährt dies hier noch einmal

122 Vgl. schon Griffin, Nietzsche on Tragedy and Parody, S. 341, der konstatiert: „If tragedy (like
moralities and religions) justifies suffering, then we must refuse to take it seriously; if Aeschylus
justifies Prometheus, then the sea needs to laugh at Prometheus. Nietzsche is parodying Aeschy-
lus.“
123 FW 1, KSA 3, 372, 14–16.
124 Vgl. auch Benne, Was ist der Zweck der Tragödie?, S. 115 f. Er wertet dies als „einen gewalt-

samen Kunstgriff“, der von einer Stimme des Textes vollzogen worden sei. Auch erkennt er die
Entlarvungsstrategie, die hinter solchen widersprüchlichen Semantisierungen steckt (vgl. ebd.,
S. 116). In seiner kursorischen Lektüre von FW 1 versucht Zittel, „eine unaufhaltsam rollende
Maschine im Kopfe“, S. 57 eine integrierende Position zu entwickeln: „Doch selbst wenn dies [die
Erkenntnis der „Lächerlichkeit des Daseins“] künftig einmal geschehen sollte, ist dies keine
positive Aussicht, da der Mensch ohne den Glauben an den Ernst nicht mehr leben könne, das
Bedürfnis nach Zwecken sei ihm zur zweiten Natur geworden, ohne die er nicht zu existieren
vermag“. Dass es sich um „keine positive Aussicht“ handle, geht aus dem Text meiner Auffassung
nach nicht hervor.
370 Julius Thelen

seine Bestätigung.125 Nach der Revision des Phasenmodells, dem zufolge Ver-
gangenheit und Gegenwart Zeiten der Tragödie waren und sind, in Zukunft jedoch
die Komödie kommen werde, hin zu einem zyklischen Modell, in dem Phasen der
Komödie und Tragödie sich abwechseln, wobei auch die Gewichtung dieser
Phasen schwankt, findet nun wiederum eine Revision des zyklischen Modells
statt. Das zyklische ‚Hin‘ und ‚Her‘ habe eine Veränderung hervorgetrieben, als
deren Resultat das Tragische zum integralen Moment menschlicher Existenz
geworden sei – das Komische bildet so nicht mehr allein die Essenz der humanen
Natur. Diese habe „jetzt ein Bedürfniss mehr, eben das Bedürfniss nach dem
immer neuen Erscheinen solcher Lehrer und Lehren vom ‚Zweck‘.“126 So ließe
sich die Argumentation des Text-Ichs nachvollziehen. Jedoch ist die Behauptung,
das Tragische sei Teil der menschlichen Natur geworden, keineswegs neu. Das
sprechende Ich verschweigt, dass es eine solche Konzeption schon zuvor – gar als
etwas Selbstverständliches – vertreten hat.127 So entsteht der Eindruck, dass die
Ausführungen des Ichs eine zirkuläre Struktur aufweisen. Rekonstruiert wurde
aber ebenfalls, dass es diese These revidiert, wenn es im Laufe des Abschnitts
behauptet, das Tragische widerspreche dem „Gang der Natur“128 und sei für die
Art tendenziell gefährlich.
An diesem Punkt der Argumentation bringt das Text-Ich den Gedanken zu-
nächst nicht in einen Zusammenhang mit dem der Arterhaltung. Schädigt diese
vorgeblich neue Eigenschaft der menschlichen Natur vielleicht die Erhaltung der
Gattung? Oder ist durch die korrektive Funktion der Komödie ein Gleichgewicht
geschaffen worden, dass die Erhaltung der Art weiterhin verbürgt? Und wenn ja,
auf welche Weise? Es stellt sich mithin die Frage, welche der beiden schon
vertretenen Positionen das Text-Ich wieder aufgreift: Das Tragische als etwas
immer schon zur Natur des Menschen Gehöriges, der Art Dienendes – oder als
etwas, das die Erhaltung der Art gefährdet. Die Argumentation des Sprechers füllt
diese Lücken erst einmal nicht und wirft stattdessen für die Interpretation erneut
die Frage nach der philosophischen Seriosität von FW 1 im Ganzen auf. Größt-
mögliche Stringenz und Nachvollziehbarkeit kann zumindest nicht intendiert
sein, wenn unpräzise Zeitangaben wie „allmählich“ verwendet werden, um den
Prozess einer Transformation des Menschen zum „phantastischen Thiere“ zu
beschreiben.129 Der homo sapiens müsse – anders als jedes andere Tier – „von Zeit

125 Die Analyse von Higgins, Comic Relief, S. 48 bedürfte einer Differenzierung: „Nietzsche’s
summation is as inconclusive as the rest of the section.“
126 FW 1, KSA 3, 372, 17–19.
127 Vgl. FW 1, KSA 3, 371, 3–8.
128 FW 1, KSA 3, 371, 31 f.

129 FW 1, KSA 3, 372, 19 f.



Das Dasein zwischen Komödie und Tragödie 371

zu Zeit glauben, zu wissen, w a r u m er existirt, seine Gattung kann nicht gedeihen


ohne ein periodisches Zutrauen zu dem Leben“.130 Die zeitlichen Angaben tragen
an dieser Stelle ebenfalls mehr zur Verdunklung des Sinns bei als zu seiner
Erhellung. Es ist ja nicht so, dass die menschliche Natur dergestalt verändert
worden wäre, dass der Mensch in jedem Moment seines Lebens ein gesichertes
Wissen vom Sinn seines Seins, vom Zweckgrund seiner Existenz haben müsste;
vielmehr bedürfe er nur ‚ab und zu‘ des Glaubens an ein solches Wissen, also
nicht einmal dieses Wissens selbst. Insofern wird das zyklische Modell durchaus
weitergeführt, jedoch bleibt völlig unklar, wie man sich diesen zyklischen Wech-
sel sowohl prozessual als auch konkret historisch vorstellen soll. Muss jeder
einzelne Mensch in gewissen Phasen seines Lebens davon überzeugt sein, den
Grund seines Daseins zu kennen? Oder bedürfen nur bestimmte Perioden der
Menschheitsgeschichte im Ganzen einer solchen Überzeugung? Ob es sich um ein
onto- oder ein phylogenetisches Phasenmodell des menschlichen Verhältnisses
zur eigenen Existenz handelt, erhellt aus dem Text nicht. Deutlich wird aber, dass
der Sprecher tatsächlich wieder davon ausgeht, dass das Tragische zur Erhaltung
der Art beiträgt; die zuvor vertretene Option, das Tragische könne der Art scha-
den, verwirft er. Dies geschieht freilich, ohne diesen Positionswechsel reflexiv
einzuholen, wodurch der Interpret des Textes einen Widerspruch innerhalb der
Argumentation konstatieren muss.
Jedenfalls ist es jetzt nicht mehr der ethische Lehrer allein, sondern das
„menschliche Geschlecht“ insgesamt, das in bestimmten Phasen („immer wieder
[…] von Zeit zu Zeit“) ein Lachverbot in Form moralischer Imperative erteilt
(„Etwas, über das absolut nicht mehr gelacht werden darf“).131 Doch nicht nur
wechselt zum Ende des Abschnitts noch einmal der Fokus vom Lehrer zum
Menschengeschlecht; der Sprecher führt auch die neue Figur des „vorsichtigste[n]
Menschenfreund[s]“ ein,132 die freilich an den Gegensatz von Misanthropie und
Philantropie im ersten Satz von FW 1 erinnern lässt – und diesen Gegensatz in
sich vereinigt, insofern in seiner Freundschaft zum Menschen zugleich größt-

130 FW 1, KSA 3, 372, 22–24. In der Reinschrift (vgl. KSA 14, 238) stand noch ein erklärender Satz
mehr: Zwischen „existirt“ und „seine“ war eingefügt: „er muss ein Interesse der Erkenntniß dabei
haben lieber zu sein als nicht zu sein“. Auch diese Tilgung in der Druckversion zeigt die Tendenz
der Verkürzung und Verdichtung in der Entstehung des Textes an. Mit der Verdichtung geht
zugleich eine Schwächung der Kohärenz einher, da in der Reinschrift noch an die Frage an-
geknüpft wurde, welche Konsequenzen aus der Feststellung, dass ‚Einer immer Keiner‘ sei, folgen
könnte. Ein Leben in der Verantwortungslosigkeit wird durch die Veränderung der menschlichen
Natur infolge der nach dem Sinn fragenden Zweck-Lehrer unmöglich gemacht.
131 FW 1, KSA 3, 372, 25–27.
132 FW 1, KSA 3, 372, 27 f.

372 Julius Thelen

mögliche Vorsicht ihm gegenüber enthalten ist. Dieser „vorsichtigste Menschen-


freund“ scheint aber bloß ein alter ego des dichterischen Ichs zu sein, da er sich
derselben Wortwahl wie dieses in der Formulierung des revidierten geschicht-
lichen Modells bedient. In Wiedergabe direkter Rede des ‚misstrauischen Philan-
tropen‘ heißt es: „nicht nur das Lachen und die fröhliche Weisheit, sondern auch
das Tragische mit all seiner erhabenen Unvernunft gehört unter die Mittel und
Nothwendigkeiten der Arterhaltung!“133 Der Sprecher suggeriert zwar, mit dem
Figuren-‚Zitat‘ seine eigenen Gedanken nicht bloß noch einmal reduktiv zusam-
menzufassen, sondern noch um eine wichtige Pointe zu ergänzen. Doch dass das
Tragische (und folglich die Lehre vom Zweck des Daseins) ebenfalls konstitutiv
für die Arterhaltung ist, stellt keineswegs eine neue Einsicht dar, sondern wurde
vom Sprecher schon in den vorigen Sätzen entwickelt und rekurriert zirkulär auf
eine frühere Stelle der Argumentation, die hier noch einmal zitiert sei. Nach den
Ausführungen über die poetischen Kammerdiener der moralischen Zweck-Lehrer
merkt das Text-Ich an: „Es versteht sich von selber, dass auch diese Tragöden
immer im Interesse der A r t arbeiten“134. Was also gegen Ende des Abschnitts FW
1 als neue Einsicht ausgegeben wird, ist tatsächlich gar keine ‚Hinzufügung‘,
vielmehr eine bloße Repetition der Ausgangsvoraussetzung, die das unzuver-
lässige Sprecher-Ich dem angesprochenen Leser(kreis) als Konklusion unter-
zujubeln sucht. Der Gang der Argumentation verläuft somit in einer zirkulären
Struktur, die auf Konzeptionen rekurriert, welche zu einem frühen Punkt des
Abschnitts vorausgesetzt oder dezidiert vertreten wurden. Das Text-Ich versucht
dieses Faktum aber zu verschleiern, indem es Momente der Entwicklung inner-
halb der menschlichen Art konstatiert – mit Blick auf die vagen Zeitangaben, die
das Ich zur Beschreibung dieser Entwicklung nutzt, setzt es jedoch immer wieder
Signale, die den aufmerksamen Leser auf solche Verschleierungsversuche hin-
weisen.

5 Der Schluss. Eine Deutungsperspektive:


Aufhebung des logischen Verfahrens
In FW 1 entstehen diverse argumentative Brüche und Widersprüche dadurch,
dass das sprechende Ich im Verlauf des Abschnitts ganz unterschiedliche Positio-
nen vertritt und sich bei genauer Lektüre als unzuverlässige Instanz erweist. Die

133 FW 1, KSA 3, 372, 28–31.


134 FW 1, KSA 3, 371, 3–5.
Das Dasein zwischen Komödie und Tragödie 373

Ironisierungen und epistemischen Unsicherheiten, die sich beim close reading


enthüllen, lassen zwar an den jeweils vertretenen Positionen zweifeln; dies heißt
aber nicht, dass dadurch ihre Prozessualität im Hinblick auf eine am Ende ver-
tretene integrative Position markiert würde. Fakt ist, dass auch das zyklische
Geschichtsmodell eines Kreislaufs von wechselnden tragischen und komischen
Phasen des Daseins keine endgütige Lösung darstellt, sondern in seiner irritieren-
den Widersprüchlichkeit gegenüber den vorigen Positionen stehen sowie in sich
selbst vage bleibt.
Das tatsächliche Ende des Abschnitts muss jedoch mit besonderer Aufmerk-
samkeit vergegenwärtigt werden. Nachdem das Text-Ich die Worte des Menschen-
freundes wiedergegeben hat, heißt es: „Und folglich! Folglich! Folglich! Oh ver-
steht ihr mich, meine Brüder? Versteht ihr dieses neue Gesetz der Ebbe und
Fluth? Auch wir haben unsere Zeit!“135 Diese suggestive Apostrophe des implizi-
ten Leser-Kreises lässt sich nur vor dem Hintergrund der Änderungen verstehen,
die Nietzsche von der Reinschrift hin zum Druck vorgenommen hat. Zuvor hieß es
anstelle der Passage von „dieses“ bis „Fluth?“136 und ohne den oben zitierten
letzten Satz des Abschnitts:

daß jetzt zwei sich widersprechende Bedingungen in der menschlichen Natur sind, welche
einen Rhythmus in ihrer Folge bilden wollen? Versteht ihr, warum wir Alle unsere Ebbe und
Fluth haben müssen? Was wir nicht gleichzeitig haben können? Was wir nicht gleichzeitig
haben dürfen? – Wohlan denn! Seien wir die Erfinder dieses neuen Rhythmus! Jeder für sich
und seine Musik!137

In der früheren Fassung sollte also darauf hingewiesen werden, dass sich die
beiden behaupteten Wesenszüge der menschlichen Natur nicht ineinander fügen,
sondern widersprüchlich sind – was auch in der herausgearbeiteten Kontradikti-
on der beiden geschichtsphilosophischen Modelle ersichtlich ist. Der Mensch
kann entweder die eigentliche Wahrheit erkennen und lachen, dabei jedoch die
geringe Bedeutsamkeit seiner selbst akzeptieren − oder seine ursprüngliche Natur
verkennen, sich ein Lachverbot auferlegen (lassen), dafür aber einen tieferen Sinn
seiner persönlichen Existenz annehmen. Beides zusammen ist schon aus logi-
schen Gründen nicht möglich. Der Widerspruch geht noch weiter: Denn das
Modell einer ursprünglichen Erkenntnis der menschlichen Natur wird vom zwei-
ten Modell schon deswegen torpediert, weil dieses den Naturbegriff des ersten
auflöst. Indem die Natur des Menschen verändert wurde, lässt sie sich nicht mehr

135 FW 1, KSA 3, 372, 31–33.


136 FW 1, KSA 3, 372, 32 f.

137 KSA 14, 238.


374 Julius Thelen

als überzeitliches Modell in kritischer Absicht heranziehen. Gerade dies wurde


aber in Teilen des Textes getan, indem der Sprecher sich auf die Wahrheit des
Daseins als Komödie berief, die gar nicht mehr bestand, wenn man das Modell
vom Ende des Abschnitts geltend macht, dem gemäß das Tragische (doch wieder)
als Teil der menschlichen Natur zu verstehen ist. Solche logischen Widersprü-
che138 bilden das Komplement zu den Ironisierungsstrategien, die lange Passagen
des ersten Abschnitts prägen. In der Reinschrift wird ausgehend von den beiden
widersprüchlichen Modellen ein neuer ‚Rhythmus‘ herbeibeschworen; wie man
sich diesen vorzustellen habe, spart das Text-Ich allerdings aus – vermutlich
deswegen, weil aus dem beschriebenen logischen Widerspruch kein neues Mo-
dell mehr entstehen kann. So wundert es nicht, dass der Sprecher die Metapher
einer individuell zu erfindenden Musik verwendet, um den artikulierten An-
spruch der überindividuellen Nachvollziehbarkeit zu entheben. Entstehungs-
geschichtlich liegt in der Bearbeitung der Reinschrift hin zur Druckfassung wieder
die Tendenz einer ‚Verdichtung‘ vor, die die Musikmetaphorik und die Ausformu-
lierung des „neue[n] Gesetzes“139 ausspart – wenngleich unter dieser Formel wohl

138 Benne, Was ist der Zweck der Tragödie?, S. 113 f. rekurriert in seiner weit ausgreifenden

Deutung trotz Polyphonie-These auf Nietzsches Intention: „Nietzsche macht deutlich, dass die
Tragödie, die in die Epoche der Moralen und Religionen der ethischen Lehrer gehört, nicht einfach
durch die Komödie ersetzt werden kann, sobald man sich dieser dienenden Rolle bewusst
geworden ist. Auch die Komödie muss oder wird sich ändern. Die Fröhliche Wissenschaft plädiert
nicht nur für eine neue Form der Erkenntnis, sondern auch für eine neue, dieser Erkenntnis
adäquaten Kunst. Die Voraussetzung dafür ist aber das Schauspiel, das ein Bewusstwerden der
Tragödie liefert.“ – Es wäre ein lohnenswertes Unterfangen, für die von mir herausgearbeiteten
‚potenzierten‘ Widersprüche den Begriff des „gleitenden Paradoxons“ zu erproben, den Gerhard
Neumann für die Prosa Franz Kafkas geltend gemacht hat (vgl. ders., Umkehrung und Ablenkung.
Franz Kafkas ‚Gleitendes Paradox‘, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und
Geistesgeschichte, Jg. 49, Stuttgart / Weimar 1975, S. 702–744). Ich würde Stegmaiers (Nietzsches
Befreiung der Philosophie, S. 71) Auffassung widersprechen, der – vor allem gegen die Systemati-
sierungsversuche ‚der Philosophie Nietzsches‘ – argumentiert, dass „[l]ogische Widersprüche […]
nur auf Grund bereits allgemeingültig definierter Begriffe entstehen, die Nietzsche schon voraus-
setzt.“ Auch seine Schlussfolgerung, Nietzsches Texte so zu interpretieren, „dass keine Ambiva-
lenzen und Widersprüche in ihnen auftauchen“, halte ich für problematisch. Die von mir fest-
gestellten Widersprüche meinen gegenläufige Semantisierungen desselben Phänomens, die in
einem Textzusammenhang und zumindest scheinbar von einer Stimme stammend hervor-
gebracht werden. Allerdings geht es hierbei nicht um den Nachweis von Fehlern innerhalb von
‚Nietzsches Philosophie‘; vielmehr wird die Frage danach gestellt, ob eine Strategie hinter den
Ambivalenzen kenntlich gemacht werden kann. Ein „stimmiger Sinn“ (ebd., S. 86), wie Stegmaier
ihn im Zuge seiner philosophischen Interpretation fordert, konnte in der vorliegenden Analyse
nicht rekonstruiert werden, weil dies einen forcierten, reduktiven Interpretationsakt zur Grund-
lage hätte.
139 FW 1, KSA 3, 372, 32 f.

Das Dasein zwischen Komödie und Tragödie 375

die wie auch immer funktionierende Abfolge der beiden widersprüchlichen Mo-
delle zu verstehen ist.
Zugleich schlägt das Text-Ich in der Druckfassung eine neue Volte, die der
Argumentation vollends ihren Boden entzieht. Der Sprecher treibt das Verfahren
der logischen Argumentation karikativ auf die Spitze, indem der logische Kon-
junktor „Folglich!“ dreimal wiederholt wird, ohne die tatsächliche Konsequenz
eines Gedankenganges zu beschreiben.140 Wenn man nun die potenzierten logi-
schen Widersprüche, die Aspekte einer Metakritik, die verschiedenen Ironisie-
rungs- und Verschleierungsstrategien sowie die epistemischen Unsicherheiten
bedenkt, die in dieser Volte kulminieren, legt das den Schluss nahe, dass der erste
Abschnitt insgesamt auf eine Aufhebung des logischen Verfahrens hinausläuft.
Freilich erkennt dies nur der akribische Leser, der den Text Satz für Satz, Wort für
Wort aufschlüsselt. Der abschließende Ausruf, dass „[a]uch wir […] unsere Zeit“
hätten,141 ist wiederum in seiner kryptischen Kürze bestenfalls ambig zu ver-
stehen: Er mag sich auf das widersprüchliche Ineinander der beiden Modelle und
den neuen ‚Rhythmus‘ beziehen, den das ‚Wir‘ in Zukunft erfinden möchte – ganz
so, wie es die Reinschrift umschrieben hatte. Dies wäre aber eine vordergründige
Lesart. Wenn man die Karikierung des logischen Verfahrens ernst nimmt, könnte
es sich auch um einen Aufruf an diejenigen Leser handeln, die gerade diese
Metakritik erkannt haben. Vielleicht wäre mit „unsere[r] Zeit“ dann eine Epoche
der ‚fröhlichen Wissenschaft‘ gemeint;142 einer Disziplin, für die die Logik zum

140 FW 1, KSA 3, 372, 31. Andeutungen zu dieser These finden sich bei Higgins, Comic Relief,
S. 50 f. Benne, Was ist der Zweck der Tragödie? versucht dies als Hinweis auf die Narrativierung

von ‚Nietzsches Philosophie‘ seit dem ‚tollen Menschen‘ zu beschreiben (vgl. ebd., S. 113). Zittel,
„eine unaufhaltsam rollende Maschine im Kopfe“, S. 58 hingegen setzt das an dieser Stelle ver-
wendete Lexem „Folglich“ in Bezug zum ganzen Ersten Buch der Fröhlichen Wissenschaft, mithin
zu demjenigen, das auf den ersten Abschnitt ‚folgt‘. Demgegenüber ziehe ich eine Interpretation
der Stelle aus dem Zusammenhang des ersten Abschnitts vor. Zu dieser methodischen Entschei-
dung vgl. den in dieser Hinsicht immer noch treffenden Aufsatz von Szondi, Peter, Über philologi-
sche Erkenntnis, in: ders., Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis,
Frankfurt/Main 1970, S. 9–34, hier S. 20–22.
141 FW 1, KSA 3, 372, 33.
142 Benne, Was ist der Zweck der Tragödie?, S. 116 kommt zu folgender Deutung: „Das ‚Gesetz
der Ebbe und Fluth‘ […] zu verstehen heißt, den Sinn der ‚erhabenen Unvernunft‘ […] dergestalt
anzunehmen, dass er zwar als gesetzmäßig gilt, nicht aber zur Grundlage einer ethischen Gesetz-
gebung für den Einzelnen, d. h. als abstrakte Grundlage der Normativität taugt. Jeder Einzelne

oder jede Gruppe trägt zur eigenen Zeit bei anstatt ihr nur ausgeliefert zu sein: ‚Auch wir haben
unsere Zeit!‘“. Higgins, Comic Relief, S. 49 stellt sich die Frage nach dem „us“, das hier angespro-
chen werde und kommt zu folgendem, sehr generell gehaltenen Fazit: „[H]e is implicating his
reader in the situation described, and raising questions about the reader’s precise location in the
whole saga of human experience.“
376 Julius Thelen

Ausgangspunkt einer spielerischen, alle fixen Positionen unterlaufenden Denk-


bewegung wird. Jedoch bleibt dieser letzte Schluss spekulativ, denn auch er
verabsolutiert einen Befund, dem, vom Ende des Abschnitts her gesehen, das
Text-Ich schon eine andere Position – die Integration des Tragischen − entgegen-
gesetzt hat.143
Mit diesen Ausführungen ist ein Anfang getan für eine textintensive Analyse
des Verhältnisses von Komödie und Tragödie in der Fröhlichen Wissenschaft. Dass
dieses Thema Nietzsches Schrift keineswegs zufällig eröffnet, wird schon mit
Blick auf den letzten Abschnitt der ersten Ausgabe von 1882 ersichtlich,144 der die
Tragödie im Titel führt. Aber nicht nur hier scheint Nietzsche Wert auf die
thematische Rahmenstruktur gelegt zu haben. Auch in der Ausgabe von 1887
umschließt sie den Text durch die Vorrede145 und den Abschnitt Nr. 382, wenn
eine „unfreiwillige Parodie“ mit dem Beginn der „Tragödie“ überblendet wird.146

143 Dies muss auch Zittel, „eine unaufhaltsam rollende Maschine im Kopfe“, S. 60 f. gegenüber

eingewendet werden, der abwägt zwischen „eine[r] Möglichkeit […], die Beliebigkeit der Stand-
punkte mit Feyerabend als fröhliches ‚anything goes‘ zu feiern und die fröhliche Wissenschaft
wider den Methodenzwang als Kunst zu propagieren“, und einer anderen, die darin besteht,
„einen Metastandpunkt anzuvisieren, von dem aus alle Perspektiven wieder überschaut werden
können.“ Zittel strebt unter Interpretation eines Nachlassfragments (NL 1881, 11[10], KSA 9, 443 f.),

das er als „Lobrede auf das neutrale, sachliche Sehen“ und als „andere Möglichkeit, Nietzsches
Perspektivismus zu verstehen“, einschätzt, eine dritte Position an, ein „Wissenschaftlichkeit
beanspruchende[s] Verfahren“, das „in vergleichender Betrachtung die unterschiedlichen Antrie-
be und Mechanismen der Überzeugungsbildung“ erkennen, „schmerzhaft offen[legen]“, „nüch-
tern beschr[eiben]“ und „funktional analysier[en]“ soll. „Genau dies“ werde „im ersten Buch der
FW praktiziert.“ Dagegen ist zu betonen: Eine solche Annahme geht von deutlich rekonstruier-
baren Standpunkten zwischen verschiedenen Abschnitten aus, die dann in ein Verhältnis gesetzt
werden können; diese Prämisse ist bezogen auf viele Texte Nietzsches jedoch keineswegs gewähr-
leistet. Anhand des ersten Abschnitts wurde die immense Vielstimmigkeit schon innerhalb eines
einzigen Textes erwiesen. Für sehr viele Texte der Fröhlichen Wissenschaft gilt Ähnliches. In der
Tendenz zuzustimmen ist dem Fazit von Higgins, Comic Relief, S. 50, das sie ausgehend von der
Analyse von FW 1 für das Erste Buch im Ganzen geltend macht: „The book is a defense of
perspectivism. Not only does it suggest considerations that might persuade us of the merit of
perspectivism, but as the narrator’s viewpoint keeps shifting, it also demonstrates perspectival
thinking. […] Each section is its own vantage point, allowing one a new venue for assessing what
has gone before, but each as provisional as the last.“
144 Vgl. FW 342, KSA 3, 571.
145 Vgl. FW Vorrede 1, KSA 3, 346, 28–31.
146 FW 382, KSA 3, 637, 12 u. 15.
Christina Kast
„Nur Narr! Nur Dichter!“ Nietzsches Versuch
einer Neubegründung der Philosophie in der
Dichtung
Abstract: “O n l y a fool! O n l y a poet!” Nietzsche’s attempt to base philoso-
phy on poetry. It is the basic assumption in this paper that the most relentless
critic of Western rationality constitutes at the same time its most radical expo-
nent. Starting from the premise that an understanding of the illusory nature of
reality could only be achieved by Nietzsche’s passion for reason, this paper raises
the question what kind of significance poetry has for Nietzsche. Since his intel-
lectual integrity causes the dissolution of truth, Nietzsche’s only remaining option
is to interpret the world as an aesthetic phenomenon. Following this interpretati-
on, all human interaction with reality is necessarily construction. Through show-
ing how appearance becomes the new truth in Nietzsche’s thinking, this paper
outlines the important role poetry plays in this conception. As the conscious
creation of a beautiful illusion, poetry can be understood as the highest expressi-
on of intellectual integrity and therefore the highest form of affirming life in its
aesthetic composition. It becomes the place where a new poetical philosophy can
be realized, as the Dionysos-Dithyramben testify.

1 Die Philosophie als Dichtung


Ewig kehrt die Wahrheitsfrage in Friedrich Nietzsches Schriften wieder; in keinem
seiner Werke schweigt er von ihr. Das Problem der Wahrheit durchzieht sein
Denken wie eine nicht abebben wollende Krisis. Wenngleich Nietzsche sich von der
Möglichkeit von Wahrheit bereits in seinen ersten Schriften verabschiedet, bleibt
seine Fixierung auf sie ungebrochen: Er wird mit ihr nicht fertig. Zu tiefgreifend
erscheint ihm die Tragweite des Ereignisses, welches er in seiner Rede vom Tode
Gottes versinnbildlicht. Mit dem Ende der Wahrheit versiegt die bisherige Quelle
der Begründung von Mensch und Welt, welche aus ihr Wert, Rechtfertigung und
Sinn bezogen haben. Die abendländische Philosophiegeschichte vermag Nietzsche
vor diesem Hintergrund nur noch als Geschichte eines Irrtums zu begreifen; eines
Irrtums, dessen Aufdeckung in der Gegenwart im Nihilismus kumuliert.1

1 Vgl. GD Wie die „wahre Welt” endlich zur Fabel wurde, KSA 6, 80.

DOI 10.1515/9783110474374-016
378 Christina Kast

Die folgende Untersuchung versucht den Nachweis zu führen, dass Nietz-


sches Auseinandersetzung mit der Wahrheit in dem Versuch einer Neubegrün-
dung der Philosophie in der Dichtung mündet und sein letztes Werk, die Diony-
sos-Dithyramben, als Verwirklichung einer solchen erneuerten Vorstellung von
Philosophie gelesen werden muss. Drei argumentative Schritte sind für die Prü-
fung dieser These notwendig: Zunächst wird Nietzsches Kritik an der abendlän-
dischen Vorstellung von Wahrheit beleuchtet, um den Kern seiner Destruktion
der traditionellen Philosophie zu erfassen. Dabei soll deutlich werden, dass sein
Unmut über die Unbegründetheit und Unbegründbarkeit einer Vorstellung von
Wahrheit als Seiendem den Ausgangspunkt einer Überwindung der Wahrheit im
Namen der Wahrhaftigkeit darstellt. In dem Befund, der Schein sei die einzige
Wahrheit, vollzieht er – so wird zu zeigen sein – eine Umwertung der Wahrheit.
Diesen Überlegungen folgt eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob und inwie-
fern bei Nietzsche von dieser Warte aus eine Aufwertung der Dichtung zur
eigentlich wahren Form der Philosophie erfolgt. Abschließend wird, ausgehend
von den Ergebnissen der ersten beiden Teile, eine Analyse des ersten ‚Dionysos-
Dithyrambus‘ Nur Narr! Nur Dichter! vorgelegt. Hierbei wird zu prüfen sein, ob
Nietzsche sein Denken in den Dionysos-Dithyramben vollendet, da er hier erstmals
seiner eigenen Vorstellung von dem gerecht wird, was Philosophie sein müsse.

1.1 Wahrheit und Lüge

„Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine
Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: ‚Ich suche Gott! Ich
suche Gott!‘ – Da dort gerade Viele von Denen zusammen standen, welche nicht an
Gott glaubten, so erregte er ein grosses Gelächter.“2 Die Botschaft vom Tod Gottes
lässt Nietzsche in seiner Fröhlichen Wissenschaft durch einen tollen Menschen
überbringen; aus diesem spricht die Wahrheit über die Wahrheit in Gestalt des
Wahnsinns. Sein Wort, welches er an die ihn umstehenden Marktbesucher richtet,
bleibt unverstanden; nichts Neues scheint er ihnen zu berichten: Längst glaubt die
Menschenmenge nicht mehr an Gott, um dessen Ableben scheinen sie zu wissen.
Und doch ist ihre Welt in Ordnung, die des tollen Menschen aus den Fugen. Was
also gilt es zu begreifen, um sein Wort zu verstehen?
Das abendländische Gottesverständnis ist unlösbar verknüpft mit der Vor-
stellung der Existenz von Wahrheit und ihrer Erkennbarkeit durch den Menschen.
Den Ursprung eines solchen Welt- und Selbstverhältnisses knüpft Nietzsche in

2 Vgl. FW 125, KSA 3, 480–482.


„N u r Narr! N u r Dichter!“ 379

seiner Geburt der Tragödie an die Person des Sokrates, welchen er davon aus-
gehend als „Wendepunkt und Wirbel der sogenannten Weltgeschichte“3 bezeich-
net, sieht er in ihm doch in noch nie dagewesener Form die Leidenschaft der
Erkenntnis verbunden mit dem unbedingten Glaube an die Möglichkeit von
Erkenntnis mittels der menschlichen Vernunft.4 Sokrates fand kein Genügen an
der Suche nach Wahrheit allein, an der selbstbezüglichen Lust des Enthüllens
und Entkleidens der Dinge; in ihm wird der Anspruch Wirklichkeit, durch die
Vernunft die Tiefen des Seins vermessen zu können. Die Grundprämisse, welche
Nietzsche hier herauszulesen glaubt, ist die Überzeugung, dass das Wahre das
Gute, da das dem Menschen Zuträgliche und Nützliche, ist. Dies liegt darin
begründet, dass der Erkenntnisdrang durch die Hoffnung getragen wird, das
Wirre, Blinde und Zufällige des Daseins bändigen zu können, mit der Vernunft
aufzuklären und zu ordnen, um schließlich in der Beseitigung alles Unvernünfti-
gen das Glück des Menschen zu ermöglichen. Das Unglück und Leiden wird damit
in seinem Ursprung auf die Unwissenheit und Unvernunft zurückgeführt, wäh-
rend die Vernunft es vermag, Glückseligkeit zu verschaffen, indem sie das Schein-
bare der Wirklichkeit durchbricht und hinter dem Dickicht einer sich wandelnden
und unbeständigen Welt das eine Wahre erfasst.5 Noch in der Götzen-Dämmerung
schreibt Nietzsche Sokrates die Gleichung „Vernunft = Tugend = Glück“6 zu.
Ein anderer Wert der Wahrheit bzw. des Glaubens an die Wahrheit offenbart
sich Nietzsche „im Bild des s t e r b e n d e n S o k r a t e s “7 als eines „durch Wissen
und Gründe der Todesfurcht enthobenen Menschen“. Als ein solcher erinnere er
nach Nietzsche an die daraus erwachsende Bestimmung der Wissenschaft, „näm-
lich das Dasein als begreiflich und damit als gerechtfertigt erscheinen zu ma-
chen“. Folgt man Nietzsche, besteht das Wesen des Sokratismus in dem Willen
zur Begründung des Lebens, aus der erst die Möglichkeit seiner Bejahung ent-
steht. Die Vernunft vermag dem Leben erst Sinn und Ordnung zu verleihen,
indem sie es auf einen unvergänglichen Ursprung und überpersönliche Struktu-
ren zurückführt; so allein wird das Leben trotz aller Vergänglichkeit und Flüchtig-
keit erträglich und lebenswert. Deutlich tritt hervor, was hier als das dem Men-
schen Schädliche empfunden wird, dem der Wille zur Wahrheit Abhilfe schaffen
soll: das Leben selbst. In seinem Kern lebensverneinend, da sich gegen das Leben
in seiner unsteten Beschaffenheit wendend, verführt jedoch gerade der Wille zur
Wahrheit zum Leben – das Nein zum Leben befördert somit erst das Ja zu ihm. In

3 GT 15, KSA 1, 100, 8.


4 Vgl. GT 15, KSA 1, 99.
5 Vgl. GT 15, KSA 1, 99.
6 GD Das Problem des Sokrates 4, KSA 6, 69, 20.
7 GT 15, KSA 1, 99, 22.
380 Christina Kast

der Fröhlichen Wissenschaft schreibt Nietzsche dazu: „Ich bewundere die Tapfer-
keit und Weisheit des Sokrates in Allem, was er that, sagte – und nicht sagte.“
Sokrates litt am Leben, so Nietzsche; „er hatte eben nur eine gute Miene zum
Leben gemacht und zeitlebens sein letztes Urtheil, sein innerstes Gefühl ver-
steckt! Sokrates, Sokrates hat a m L e b e n g e l i t t e n !“8
Der Mensch, so lässt sich folgern, ist das Tier, das Wahrheit will, da der
Glaube an diese ein ihm grundlegendes Bedürfnis bedient: Er, so Nietzsche in
seiner Abhandlung Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, braucht
den Glauben an die Wahrhaftigkeit seiner geistigen Wirklichkeit, um „mit einiger
Ruhe, Sicherheit und Consequenz“9 zu leben. Die Annahme, dass es Wahrheit
gebe, macht erst einen Sinn – ein Wozu – der eigenen Existenz denkbar; der
Mensch „m u s s von Zeit zu Zeit glauben, zu wissen, w a r u m er existirt, seine
Gattung kann nicht Gedeihen ohne ein periodisches Zutrauen zu dem Leben!
Ohne Glauben an die V e r n u n f t i m Le b e n !“10 Der Sinn aber kann hier nicht im
Leben selbst liegen, welches in seiner Grundbeschaffenheit Vergänglichkeit und
Leiden ist. So bleiben nur die Hinwendung zur Vernunft und die Suche nach
Wahrheit, um eine untrügliche Quelle des Wertes des Daseins aufzutun.
Fällt mit der Gottesidee der Glaube an die Wahrheit, so ist einem solchen – im
Wesentlichen auf Wahrheit gründenden – Selbst- und Weltverständnis die Grund-
lage entzogen. Zurück bleibt das, was man zu fliehen versuchte: Schein, Wandel
und Vergänglichkeit. Da die Quelle, aus der das Leben und Leiden ihren Wert
bezogen haben, versiegt ist, erfährt das menschliche Dasein eine totale Entwer-
tung; es hat seine Begründung verloren. Diese erweist sich rückblickend als
Chimäre und Illusion, denn was der Mensch als Wahrheit zu erkennen glaubte,
war nur das, was er selbst erschaffen hat. Der Mensch muss seine geistige Wirk-
lichkeit als das begreifen lernen, was sie im Grunde ist: seine Schöpfung und
damit kein Ausdruck einer höheren Vernunft. Er selbst war es, welcher den Wert
in die Dinge gelegt hat – er ist der Schöpfer seiner Welt. Nietzsche konstatiert:
„Was nur W e r t h hat in der jetzigen Welt, das hat ihn nicht an sich, seiner Natur
nach, – die Natur ist immer werthlos: – sondern dem hat man einen Werth einmal
gegeben, geschenkt, und wi r waren diese Gebenden und Schenkenden! Wir erst
haben die Welt, d i e d e n M e n s c h e n E t w a s a n g e h t , geschaffen!“11 Aus dem
Erkennenden ist ein Schaffender geworden.
Als ein solcher hat er seine Wahrheiten jedoch nicht nach Maßgabe der
Vernunft geschaffen, sondern willkürlich und zufällig: Wahrheitsbildung ist, so

8 FW 340, KSA 3, 569, 30–570, 1.


9 WL, KSA 1, 883, 32.
10 FW 1, KSA 3, 372, 21–25.
11 FW 302, KSA 3, 540, 24–29.
„N u r Narr! N u r Dichter!“ 381

Nietzsche, nichts anderes als Metaphernbildung:12 die Übersetzung der eigenen


Wahrnehmung der Welt in Bilder, welche ihrerseits erst in der Sprache zur Welt
kommen können. Doch auch diese ist kein Faktum, kein Gegebenes. Als elemen-
tarster Baustein der menschlichen Wirklichkeit ist Sprache auch Produkt des
Menschen, welchen Nietzsche als „Sprachbildner“13 bezeichnet. Aus den Tönen
und Lauten formieren sich Begriffe, mittels derer der Mensch sich seine Wirklich-
keit webt. Das Erkennen war stets nur ein „tastendes Spiel auf dem Rücken der
Dinge“14– was der Mensch über eben diese auszusagen vermag, ist allein die
eigene Vorstellung, welche er sich von ihnen gemacht hat.
Diesen grundlegend ästhetischen Trieb zur Metaphernbildung bezeichnet
Nietzsche als „Fundamentaltrieb des Menschen“,15 welcher davon ausgehend als
genuin ästhetisches Wesen zu denken ist und dessen Wirklichkeit nach dieser
Maßgabe nur als Kunst, als Scheingebilde, verstanden werden kann. Die soziale,
politische und kulturelle Lebenswelt des Menschen kann folglich nur noch als ein
willkürlich zusammengeworfenes und -gewachsenes Sammelsurium betrachtet
werden, als beliebige Zusammenstellung von Sprachen, Moralen, Gesetzen und Zi-
vilisationen, über deren Wahrheitsgehalt niemand etwas zu sagen vermag. Nichts
ist wahr in der Welt des Menschen; sein Dasein ist tief eingetaucht „in Illusionen
und Traumbilder“16. Doch damit ist wiederum alles wahr, aber auch alles Lüge.
Aus den bisherigen Überlegungen geht hervor, worin für Nietzsche die größte
Dissonanz und radikalste Spannung der menschlichen Existenz zu suchen ist: Er
ist das Tier, welches Wahrheit will und doch immer nur Schein erschafft; ein Tier,
das – in Ermangelung der Möglichkeit von Wahrheit – lügen muss. Toll über diese
Einsicht kann jedoch nur der Mensch der Erkenntnisleidenschaft, der wahrhaft
Wahrheitsliebende – und damit der wahrhaft philosophische Mensch – werden.
Diesem wird nicht nur das Dasein zur Absurdität, sondern auch alle bisherige
Philosophie, denn, ihrem Wesen nach Liebe zur Wahrheit, galt ihr größter Ernst
dem Nichts. Eine Gegenwelt zur eigentlichen Wirklichkeit – zum Leben – suchend,
entwarf der Philosoph die „wahre Welt“.17 Sie ist sein Phantasma: „Die ‚scheinba-
re Welt‘ ist die einzige: die ‚wahre Welt‘ ist nur h i n z u g e l o g e n …“, so Nietzsches
Schluss in der Götzen-Dämmerung. Der Versuch, sich aus der eigentlichen Wirk-
lichkeit heraus zu denken, das Scheinhafte und Unbeständige hinter sich zu
lassen, um Wahrheit zu finden, habe die Philosophen immer mehr von der ein-

12 Vgl. WL, KSA 1, 878 f.


13 WL, KSA 1, 879, 7.


14 WL, KSA 1, 876, 32.
15 WL, KSA 1, 880, 1 f.

16 WL, KSA 1, 876, 32.


17 GD Die „Vernunft“ in der Philosophie 2, KSA 6, 75, 24.
382 Christina Kast

zigen Wirklichkeit, der Wirklichkeit des Scheins, weggetrieben. Das Illusorische


aller Philosophie wird nach Nietzsches Auffassung potenziert durch die Tatsache,
dass das Nachdenken über die an sich bereits illusorische Vorstellung von Wahr-
heit mittels der grundlegend artifiziellen Sprache erfolgt, ja im Wesentlichen von
den Voraussetzungen der Sprache und der daraus geformten Begrifflichkeiten
und Abstraktionen lebt. Die Rede von der Substanz, dem Subjekt oder dem freien
Willen basiert auf Wortschöpfungen, die nach Nietzsche rein fiktional sind: Erfin-
dungen, die man für Tatsachen nimmt, da man an die „‚Vernunft‘ in der Spra-
che“18 glaubt und von der Existenz der Begriffe auf die Existenz der Sache selbst
schließt. Man denke dabei an Nietzsches Ausspruch: „Ich fürchte, wir werden Gott
nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben…“19 Der Glaube an die Sprache
erscheint ihm als Quell von allerlei Aberglauben in der Philosophie – so der
„Subjekt- und Ich-Aberglaube“20 –, der sich in vermeintlich objektiver Sprache
verkleidet als Wahrheit darstellt und den Denkenden in der Täuschung befangen
hält. Hinzu kommt, dass die Richtigkeit des Gedachten seit Sokrates am Maßstab
der Logik und der Kausalitäten gemessen wird – Prinzipien, die ihrerseits nicht
überzeitlich sind, sondern als menschliche Schöpfungen und in diesem Sinne als
im Wesentlichen unlogische, da zufällige Erzeugnisse zu verstehen sind.21 Auch
hier ist der Glaube an die Logik und ihren Wert – soll sie doch das Wahre vom
Falschen scheiden – ausschlaggebend für das Festhalten an der Vorstellung,
mittels der Vernunft durch den Schein hindurch das Wahre finden zu können.
Man kann sagen, dass von dieser Warte aus die abendländische Philosophie
ein sinnloses, sich seiner selbst nicht bewusstes, sich selbst nicht erkennendes
Spiel war. Mag der Mensch an sich „k ü n s t l e r i s c h s c h a f f e n d e s S u b j e k t“22
sein, welches nicht Wahrheit, sondern immer nur Lüge reden kann, so war der
Philosoph der größte aller Lügner, unbewusst ein Jahrtausende überdauerndes
Scheingebilde und Luftschloss errichtend, in allem bar jeder Selbsterkenntnis,
tief versunken in das Anschauen des eigenen „ungeheure[n] Gebälk[s] und Bret-
terwerk[s] der Begriffe“,23 den eigenen Gespenstern und Chimären verfallen.

18 GD Die „Vernunft“ in der Philosophie 6, KSA 6, 78, 11.


19 GD Die „Vernunft“ in der Philosophie 6, KSA 6, 78, 12 f. Nietzsche bezeichnet in der Fröhlichen

Wissenschaft die Grammatik ferner als „Volks-Metaphysik“, in deren „Schlingen“ die „Erkennt-
nisstheoretiker[…] hängen geblieben“ seien (FW 354, KSA 3, 593, 16 f.).

20 JGB Vorrede, KSA 5, 11, 22.


21 Vgl. stellvertretend für zahlreiche Äußerungen Nietzsches in seinem Werk GD Die vier grossen
Irrthümer, KSA 6, 88–97.
22 WL, KSA 1, 883, 31.
23 WL, KSA 1, 888, 25 f.

„N u r Narr! N u r Dichter!“ 383

1.2 Die Umwertung der Wahrheit

Der Wert der Wahrheit ist verloren, der Schein wertlos. Aus diesem Dilemma
heraus führt nur die radikale Infragestellung des Wertes der Wahrheit: „Gesetzt,
wir wollen Wahrheit: w a r u m n i c h t l i e b e r Unwahrheit?“.24 Nietzsche hebt in
seiner Frage zu einer fundamentalen Umwälzung der Werte an, zur Neugewich-
tung des Verhältnisses von Wahrheit und Lüge. Begleitet wird dies von den
Zweifeln darüber, was in uns eigentlich zur Wahrheit wolle und was dieser Wille
überhaupt wert sei.25 In seiner Auseinandersetzung mit dem asketischen Ideal in
Zur Genealogie der Moral spricht Nietzsche diesbezüglich von einer „Lücke in
jeder Philosophie“,26 die erst in ihm zum Bewusstsein kommt. Dem Willen zur
Wahrheit stellt er in diesem Zusammenhang den „W i l l e [n] z u r T ä u s c h u n g “
entgegen.27 Diese Überlegungen sind kein Novum der späten Philosophie Nietz-
sches, sie sind von Anbeginn seines Schaffens präsent: Bezeichnet er seine Geburt
der Tragödie als „erste Umwerthung aller Werthe“28, so gilt dies in besonderem
Maße dem Problem von Sein und Schein, Wahrheit und Lüge.
Die Umwertung selbst ist durch zwei Motive getragen, den Willen zur Wahr-
heit sowie den Willen zur Täuschung. Nietzsches Neugewichtung des Verhält-
nisses von Wahrheit und Lüge ist zunächst die Konsequenz seines eigenen
Willens zur Wahrheit, seiner für sich beanspruchten Redlichkeit, die er im Nach-
lass als „letzte Tugend“29 bezeichnet. Die Einsicht in die Grenzen menschlichen
Erkennens, welches sich nur in Scheinhaftem bewegt und nur eben solches her-
vorbringt, bezeichnet Nietzsche als „t r a g i s c h e E r k e n n t n i s“;30 diese muss als
Einsicht des Erkennenden in das Scheitern allen Glaubens an die Wahrheit ver-
standen werden, da sich der Wahrheitswille nicht mehr vor dem Faktum des
illusorischen Charakters aller Wirklichkeit versperren kann. Schreibt Nietzsche:
„Schein ist für mich das Wirkende und Lebende selber“,31 so gilt diese Aussage
werkübergreifend, wenn auch in verschiedenen Gestaltungen auftretend – sei es
als ästhetische Metaphysik, Perspektivismus oder ‚Wille zur Macht‘. Ist der Schein
aber die einzige sich offenbarende Realität des Lebens, so ist er die Wahrheit,
während das, was ursprünglich für Wahrheit gehalten wurde, sich als Lüge

24 JGB 1, KSA 5, 15, 17 f.


25 Vgl. JGB 1, KSA 5, 15, 15 f.


26 GM III 24, KSA 5, 401, 16.


27 GM III 25, KSA 5, 402, 30.
28 GD Was ich den Alten verdanke 4, KSA 6, 160, 26.
29 NL 1885/86, I[145], KSA 12, 44, 3.
30 Vgl. GT 15, KSA 1, 101, 30.
31 FW 54, KSA 3, 417, 11 f.

384 Christina Kast

erweist. Dem eigenen Willen zur Wahrheit folgend, muss der Redliche sich dieser
Einsicht beugen und die neue Wahrheit, den Schein, anerkennen. Folgt man
diesem Gedankengang, so wird deutlich, worin die Notwendigkeit der Umwer-
tung der Wahrheit, die Nietzsche intendiert, liegt: nämlich in dem – im Grunde
sokratisch-abendländischen – Schluss, dass das Wahre das Gute und dem Men-
schen Zuträgliche ist. Daher muss der Schein fortan notwendig als das Gute, da
Wahre, begriffen werden, sodass der wahrhaft Redliche und Wahrheitsliebende
nicht umhin kann, sich auf den Schein auszurichten, in ihm die Wahrheit zu
lieben und nach ihm zu streben. Sein Wille zur Wahrheit, so lässt sich schließen,
verlangt von ihm den Willen zur Täuschung, genauer: Sein Wille zur Wahrheit ist
Wille zur Täuschung. Das Bewusstsein des eigenen Wahrheitswillens hat Nietz-
sche ausdrücklich im fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft unter dem Titel
Inwiefern auch wir noch fromm sind zur Sprache gebracht: Der Unwillen, sich
täuschen zu lassen oder gar sich selbst zu täuschen, ruht, so Nietzsche, auf „jene
[m] Christen-Glaube[n], der auch der Glaube Plato’s war, dass Gott die Wahrheit
ist, dass die Wahrheit göttlich ist…“32 Nietzsches Umwertung der Wahrheit, so ist
zu folgern, bleibt Ausdruck eines unbedingten Willens zur Wahrheit, mag sich die
Gestalt der Wahrheit auch wandeln: vom Sein zum Schein. Konsequenterweise
spricht der alte Papst auch dem gottlosen Zarathustra eben diese Frömmigkeit zu:
„[O]h Zarathustra, du bist frömmer als du glaubst, mit einem solchem Unglauben!
Irgend ein Gott in dir bekehrte dich zu deiner Gottlosigkeit.“33
Bleibt die Wahrhaftigkeit der Maßstab des Denkens, so mündet Nietzsches
Umwertung der Wahrheit in den Zwiespalt, dass der Schein als das Wahre das
an und für sich Gute sein müsste, d. h. sich jeder inhaltlichen Unterscheidung

entziehen würde: Ein Schein wäre so gut wie der andere, sei er christlicher,
platonischer oder ästhetischer Natur. Selbst der illusorische Glaube an die Wahr-
heit wäre nicht minder wahr als die Offenbarung des Scheins als Wirklichkeit – ist
er doch auch nur Schein. Eine qualitative Unterscheidung würde nach einem
anderen Maßstab jenseits der Verabsolutierung des Scheins verlangen; einem
Maßstab, der zu beurteilen ermöglicht, welcher Schein der richtige ist. Hier tritt
nun das zweite Motiv der Umwertung der Wahrheit hervor, durch welches Nietz-
sche sich dem angedeuteten Widerspruch zu entziehen versucht: sein Wille zu
einer „grundsätzliche[n] Gegenlehre und Gegenwerthung des Lebens“34 ange-
sichts der abendländisch-christlichen Haltung zum Dasein, welche für ihn das
absolute Nein zum Leben darstellt. Der rechte Schein müsste demnach auf der

32 FW 344, KSA 3, 577, 13–15.


33 Za IV Ausser Dienst, KSA 4, 325, 5–7.
34 GT Versuch einer Selbstkritik 5, KSA 1, 19, 13 f. 
„N u r Narr! N u r Dichter!“ 385

Grundlage der Lebensförderlichkeit bemessen werden. Doch auch hier werden in


Nietzsches Schriften der Lust der Erkenntnis sowie dem asketischen Ideal durch-
aus Macht über das Leben zugeschrieben – insbesondere im asketischen Ideal
sieht sich der Wille zum Leben selbst gerettet, mag er auch ein Wille zum Nichts
sein.35 So bleibt zu schließen, dass im Grunde von der Lebensförderlichkeit
desjenigen zu sprechen ist, der diesen Schein nicht mehr aufrecht zu halten
vermag, dem Gott tot ist und dem Gott tot bleibt. Die Rede ist vom tragisch
Erkennenden, welcher ein an der Auflösung der alten Wahrheit Leidender ist; ihm
ist der Baum der Erkenntnis kein Baum des Lebens mehr. Leben muss für ihn
fortan Wille zur Täuschung, zur Illusion, zum Schein bedeuten; es ist eine
existentielle Notwendigkeit, welche ihn zum Schein hintreibt, ihn diesen als das
Gute, da Belebende, erfahren lässt. Stellvertretend für seine zahlreichen Äuße-
rungen zur Heilung des Erkennenden durch den Schein, insbesondere durch die
Kunst, sei eine Stelle aus der Fröhlichen Wissenschaft angeführt:

Hätten wir nicht die Künste gut geheissen und diese Art von Cultus des Unwahren erfunden:
so wäre die Einsicht in die allgemeine Unwahrheit und Verlogenheit, die uns jetzt durch die
Wissenschaft gegeben wird – die Einsicht in den Wahn und Irrthum als in eine Bedingung
des erkennenden und empfindenden Daseins –, gar nicht auszuhalten. Die R e d l i c h k e i t
würde den Ekel und den Selbstmord im Gefolge haben. Nun aber hat unsere Redlichkeit eine
Gegenmacht, die uns solchen Konsequenzen ausweichen hilft: die Kunst, als den g u t e n
Willen zum Scheine.36

Der Wille zur Täuschung erscheint aus dieser Perspektive nicht mehr als Wille zur
Wahrheit, sondern als Gegengewicht zur Redlichkeit. Der Schein ist hier nicht das
Gute, weil er das Wahre ist, sondern weil er das Wahre verdeckt und so dem
tragisch Erkennenden das Ja zum Leben wieder möglich macht. In diesem Sinne
schreibt Nietzsche – bezugnehmend auf sich selbst – in einem Nachlassfragment:
„Nur weiß er – er hat es erlebt, er hat vielleicht nichts Anderes erlebt! – daß die
Kunst m e h r w e r t h ist als die Wahrheit.“37 Dass die existentielle Not des Wahr-
heitsliebenden die Grundlage der Umwertung der Wahrheit darstellt, wird beson-
ders deutlich in einem Nachlassnotat aus dem Jahre 1887 mit dem Titel „T a -
g e b u c h d e s N i h i l i s t e n …“:38

35 Vgl. GM III 28, KSA 5, 411 f.


36 FW 107, KSA 3, 464, 10–19.


37 NL 1888, 17[3], KSA 13, 522, 23–25.
38 NL 1887/88, 11[327], KSA 13, 139, 7. Vgl. ferner Nietzsches Ausführungen zum Nihilismus in
NL 1887/88, 11[99], KSA 13, 46–48.
386 Christina Kast

K a t a s t r o p h e : ob nicht die Lüge etwas Göttliches ist..


ob nicht der Werth aller Dinge darin beruht, daß sie falsch sind?..
ob nicht die Verzweiflung bloß die Folge eines Glaubens an die G o t t h e i t d e r
W a h r h e i t ist
ob nicht gerade d a s L ü g e n und F a l s c h m a c h e n (Umfälschen) das Sinn-Ein-
legen ein Werth, ein Sinn, ein Zweck ist
ob man nicht an Gott glauben sollte, nicht weil er wahr ist (s o n d e r n w e i l e r
f a l s c h –?39

Das Ja zur Lüge und Täuschung, zur Scheinhaftigkeit des Daseins, wird zum
Ausdruck der Lebensbejahung, im Sinne des Willens zur Täuschung, doch auch
gemäß dem Willen zur Wahrheit. Im Gott Dionysos, welcher als Chiffre des
Lebens die Vergöttlichung des Scheines symbolisiert, kommen schließlich Nietz-
sches treibende Motive einer Umwertung der Wahrheit zusammen.

1.3 Dionysos

Dionysos ist das – oftmals unsichtbare – Band, welches Nietzsches Werk zu einer
Einheit schnürt:40 Dezidiert erwähnt im Früh- und Spätwerk, ist Dionysos auch da
präsent, wo Nietzsche nicht ausdrücklich auf ihn Bezug nimmt. Der Grund seiner
außerordentlichen Relevanz für den Zugang zu Nietzsches Werk liegt darin be-
gründet, dass Nietzsche in Dionysos den Kern des Lebens, die Grundstruktur alles
Lebendigen, verkörpert sieht. Ungeachtet der Tatsache, dass seine Welt- und
Lebensentwürfe changieren, bleibt die Welt, die Nietzsche vorstellt, wesenhaft

39 NL 1887/88, 11[327], KSA 13, 139, 26–140, 7.


40 Da in diesem Rahmen kein erschöpfender Nachweis für diese These erfolgen kann, sei
zunächst auf Nietzsches Selbstwahrnehmung in der Götzen-Dämmerung verwiesen: „Und damit
berühre ich wieder die Stelle, von der ich einstmals ausgieng – die ‚Geburt der Tragödie‘ war
meine erste Umwerthung aller Werthe: damit stelle ich mich wieder auf den Boden zurück, aus
dem mein Wollen, mein K ö n n e n wächst – ich, der letzte Jünger des Philosophen Dionysos, –
ich, der Lehrer der ewigen Wiederkunft…“ (GD Was ich den Alten verdanke 5, KSA 6, 160, 24–30).
Zur Präsenz des Dionysischen im Werk Nietzsches siehe u. a. Schäfer, Rainer, Die Wandlungen des

Dionysischen bei Nietzsche, in: Nietzsche-Studien, Jg. 40, Berlin / New York 2011, S. 178–202, hier
S. 179 f.: „Das Dionysische und das Tragische sind im Werk Nietzsches auch dort anwesend, wo

sie nicht explizit oder wörtlich genannt werden.“ Diesem Urteil schließt sich auch Wolfram
Groddeck an. Er verweist darauf, dass „das ‚Verbergen‘ des ‚Dionysos‘ in Nietzsches Werk einer
bewußten schriftstellerischen Überlegung entspricht“; dazu verweist er auf den Zarathustra-
Nachlass, „wo mehrmals ‚Dionysos‘ genannt wird“ (Groddeck, Wolfram, Friedrich Nietzsche
„Dionysos-Dithyramben“, Bd. 2: Bedeutung und Entstehung von Nietzsches letztem Werk, Berlin /
New York 1991, S. XVII).
„N u r Narr! N u r Dichter!“ 387

dionysisch.41 Was unter dem ‚Dionysischen‘ zu verstehen sei, bringt Nietzsche


explizit im Nachlass zu Papier. Seine „d i o n y s i s c h e Welt“ sei eine Welt

des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens, diese Geheimniß-Welt der


doppelten Wollüste, dieß mein Jenseits von Gut und Böse, ohne Ziel, wenn nicht im Glück
des Kreises ein Ziel liegt, ohne Willen, wenn nicht ein Ring zu sich selber guten Willen hat
[…].42

Bezieht Nietzsche sich im Fortgang dieser Passage auch auf den ‚Willen zur
Macht‘ als Ausdruck einer so gedachten dionysischen Welt, klingt hier dennoch
deutlich seine Konzeption eines Ur-Künstlers – in Gestalt des Dionysos – aus dem
Frühwerk an. Beiden gemeinsam ist die Vorstellung, die Welt müsse als ewig sich
selbst neu gestaltendes und zerstörendes Kunstwerk verstanden werden, denn in
der Vorstellung permanenten Werdens sind die Überwindung und Vernichtung
des Bisherigen und die Neuschöpfung von Zukünftigem notwendig mitzudenken.
Das Leben selbst ist eine ästhetische Kraft: Stets von neuem bricht eine Erschei-
nung aus dem unermüdlichen Strom des Lebens hervor, um im nächsten Augen-
blick wieder von diesem verschlungen zu werden. Einem Glockenschlage gleich
pendelt das Leben ewig zwischen Schöpfung und Vernichtung, kennt weder ein
finales Ziel noch einen abschließenden Zweck. Es bleibt ein Kreisen, das niemals
zum Abschluss kommen wird, noch kommen will, da es ewig mehr werden will.
Mündet die Umwertung der Wahrheit in die Liebe zum Schein, so muss
gefolgert werden, dass der Wille zur Täuschung und zum Schein fortan gleichbe-
deutend mit dem Bekenntnis zu Dionysos ist. Der Wahrheitsliebende, welcher
den Schein als wahrhaftiger als die Wahrheit erkannt hat, muss in seiner Liebe
zum Schein die Liebe zu Dionysos entdecken, denn Dionysos ist als Verkörperung
des Lebens die Wahrheit. Zugleich kommt in ihm Nietzsches Wille zum Ausdruck,
das Leben zu bejahen – der christlich-abendländischen Welt- und Lebensvernei-
nung ein neues bejahendes Ideal entgegenzusetzen; eine Intention, die Nietzsche
am Ende des Ecce homo zur Formel „D i o n y s o s g e g e n d e n G e k r e u z i g t e n “43
verdichtet.
Wer den Schein, und damit Dionysos liebt, wird es ihm gleichtun und in der
bedingungslosen Annahme des Lebens danach streben, das „ewige J a zu allen

41 Darauf verweist auch Schäfer, Die Wandlungen des Dionysischen bei Nietzsche, S. 179–202.
Eine entgegengesetzte Position vertritt Günter Figal, der argumentiert, „Dionysos“ sei in Nietz-
sches Spätwerk das „Gegenwort“ zum „Willen zur Macht“ (Figal, Günter, Nietzsches Dionysos, in:
Nietzsche-Studien, Jg. 37, Berlin / New York 2008, S. 51–61).
42 NL 1885, 38[12], KSA 11, 611, 10–14.
43 EH Warum ich ein Schicksal bin 8, KSA 6, 374, 31 f.

388 Christina Kast

Dingen s e l b s t z u s e i n “44. Doch muss der Mensch zum Lebendigen selbst, zum
Wandel werden, um dionysisch zu sein. Das ewige Ja- und Amen-Sagen zum
Leben ist nicht zu trennen von der imitatio des Dionysos, d. h. von einer Lebens-

praxis, die davon zeugt, dass man Teil der dionysischen Werde- und Schaffens-
lust ist, den Willen zur Vernichtung eingerechnet: „Für eine d i o n y s i s c h e Auf-
gabe gehört die Härte des Hammers, die L u s t s e l b s t a m V e r n i c h t e n in
entscheidender Weise zu den Vorbedingungen.“45 Oder anders formuliert: Die
dionysische Natur weiß das „Neinthun nicht vom Jasagen zu trennen“.46 Der
Wille zum Schein muss damit im Fortzeugen des Scheines als des Wahren
deutlich werden, und zwar in seiner umfassendsten schöpferischen und zerstöre-
rischen Konsequenz.

2 Die Dichtung als Philosophie


Eine Philosophie im Zeichen des Willens zur Wahrheit hat sich für Nietzsche als
größte aller Lügen offenbart. Ihre Lüge gründet in ihrem Anspruch auf Wahrheit,
ihre Sinnlosigkeit in ihrem Glauben, sinnhaft zu sein, ihr Unwert im Glauben,
ewige Werte erkannt zu haben. Die Destruktion der falschen Form von Philoso-
phie mündet, wie im Weiteren genauer auszuführen ist, in eine neue Vorstellung
davon, was Philosophie sein müsse, um ihrem Anspruch, Liebe zur Wahrheit zu
sein, gerecht zu werden.

2.1 Die Dichtung

Ansgar Maria Hoff kommt in seiner Dissertationsschrift über das Poetische der
Philosophie zu dem Befund, dass Nietzsche die Verlogenheit aus der Philosophie
zu bannen versucht, „indem er sie poetisiert“.47 Nur in der Kunst sei nach dem
Tode Gottes noch ein redlicher Diskurs möglich. Diesem Urteil lässt sich ange-
sichts der Tatsache folgen, dass Nietzsche die Kunst ausdrücklich als Sprachrohr
einer Philosophie, die sich als Liebe zum Schein versteht, in das Zentrum seines
Denkens rückt. Es sei die Kunst, so Nietzsche in der dritten Abhandlung von Zur
Genealogie der Moral, „in der gerade die L ü g e sich heiligt, der W i l l e z u r

44 EH Za 6, KSA 6, 345, 11 f.

45 EH Za 8, KSA 6, 349, 20–23.


46 EH Warum ich ein Schicksal bin 2, KSA 6, 366, 31 f.

47 Hoff, Ansgar Maria, Das Poetische der Philosophie. Friedrich Schlegel, Friedrich Nietzsche,
Martin Heidegger, Jacques Derrida, Bonn 2002, S. 91.
„N u r Narr! N u r Dichter!“ 389

T ä u s c h u n g das gute Gewissen zur Seite hat.“48 Diese Einsicht entspreche der
Empfindung Platos, „dieses grössten Kunstfeindes, den Europa bisher hervor-
gebracht hat“.49 Die Kunst ist der eigentliche Antagonist einer vom Willen zur
Wahrheit – dem asketischen Ideal – bestimmten Philosophie. Sie trägt zudem ein
Maximum an Bejahung des Lebens in sich, insofern sie die Scheinhaftigkeit des
Lebens bewusst nachahmt und erstrebt. „Denn ‚der Schein‘ bedeutet hier die
Realität n o c h e i n m a l , nur in einer Auswahl, Verstärkung, Correktur…“50
Innerhalb der Kunst hat die Dichtung jedoch eine gesonderte Rolle inne: Sie
ist als die gleichzeitig wahrhaftigste und bejahendste Kunstform anzusehen,
insofern sie in jedem Moment sich seiner selbst bewusster Schein ist.51 Sie täuscht
sich nicht über das eigene Wesen: Sie ist reine Schöpfung und bekennt dies offen.
Dichtung will keine Wahrheit jenseits des Scheins in sich tragen; der Schein selbst
ist ihr einziges Begehren. In ihr will der Schein sich selbst. Sie will nicht erken-
nen, sondern schaffen bzw. den Schein nachschaffen. Dieses sich seiner selbst
bewusste Schöpfertum äußert sich ferner im Verhältnis zur Sprache – der Dichter
ist aus vollem Willen heraus Sprachbildner, er weiß um die ästhetische Natur
seiner Worte. Er spielt mit ihnen ebenso wie mit dem entworfenen Schein. Sein
Spiel ist dabei im Gegensatz zur traditionellen Philosophie sinnhaft, da es sich
seiner Sinnlosigkeit bewusst ist und diese auch anstrebt. Hinzu kommt, dass die
Nähe, welche Nietzsche bereits in seiner ersten Schrift zwischen Lyrik und Musik
ausmacht, die Dichtung unter den Künsten hervorhebt, da sie gleich der Musik im
Unsprachlichen wurzelt: Die Quelle ihrer Erscheinung ist das mit Worten nicht
fassbare Lebendige – das, was Nietzsche als dionysisches Ur-Eines oder ‚Willen
zur Macht‘ bestimmt. Im dichterischen Wortspiel vollzieht sich somit die dem
Lebendigen getreueste sprachliche Manifestation.
Ist Dichtung bewusstes Schaffen, so wird sie ferner Nietzsches Vorstellung
gerecht, die Philosophie sei der „tyrannische Trieb selbst, der geistige Wille zur
Macht, zur ‚Schaffung der Welt‘, zur causa prima.“52 Gleich der traditionellen
Philosophie schafft sie die Welt nach ihrem Bilde, jedoch in vollem Bewusstsein
des eigenen Schöpfertums, ja mit dem Willen zum eigenen Schöpfertum – zum
eigenen Schein. Sie will sich als Ursprung, als prima causa, und ist eben darin der
sich seiner selbst bewusste geistige ‚Wille zur Macht‘. Darin verwirklicht die
Dichtung das dionysische Ideal der Liebe zum Schein; in ihrem radikalen Willen
zur Täuschung und Lüge ist sie die vollkommene Erscheinung einer Philosophie

48 GM III 25, KSA 5, 402, 29–31.


49 GM III 25, KSA 5, 402, 33 f.

50 GD Die „Vernunft“ in der Philosophie 6, KSA 6, 79, 6–8.


51 Vgl. dazu auch Hoff, Das Poetische der Philosophie, S. 90 ff.

52 JGB 9, KSA 5, 22, 25–28.


390 Christina Kast

im Zeichen des Dionysos, welche nach der Umwertung der Wahrheit die einzig
mögliche Form der Philosophie ist: Die Dichtung, so lässt sich schließen, ist die
wahrhaftigste Ausprägung der Philosophie; sie allein ist Philosophie. Zu eben
diesem Urteil kommt Gerhard Kaiser, wenn auch im Rahmen einer differenten
Herleitung. In Nietzsches Denken, so Kaiser, werde „die Dichtung zur Spitze der
Philosophie oder – gleichermaßen: die Philosophie tritt in Dichtung über“.53 Es
genüge daher nicht, so Kaiser, Nietzsches Dichtung lediglich im Licht seiner
Philosophie zu lesen, vielmehr sei sie in ihrem eigenständigen philosophischen
Wert zu beleuchten. Der Bezugspunkt von Kaisers Ausführungen sind die Diony-
sos-Dithyramben, in denen er die konkrete Erscheinung von Nietzsches Neu-
bestimmung der Philosophie zu erkennen glaubt. Hierin grenzt er sich von der
Deutung Eugen Finks ab, welcher die Dichtung als Vorform der Philosophie
bestimmt.54 So kann an dieser Stelle vorweggenommen werden, dass Nietzsches
Dichtung, speziell seine Dionysos-Dithyramben, nicht allein als spielerische Poeti-
sierung seiner Philosophie zu verstehen ist, sondern in ihrem Kern als Philoso-
phie selbst.

2.2 Der Dichter

Ist die Dichtung die eigentliche Philosophie, so sind die Dichter die eigentlichen
Philosophen. Dieser Gedanke ist auch bei Thomas Böning zu finden. Er schreibt:

So ist für Nietzsche der eigentliche Dichter der eigentliche Philosoph, insofern der eigentli-
che „Poet“ jener ist, dessen poesis die Wahrheit schafft, ein neues Weltbild und damit
Weltverständnis setzt: Dichten und Denken, Kunst und Philosophie werden bei Nietzsche
eines, weil in seinen an Kants Lehre von der transzendentalen Einbildungskraft geschulten
Augen der Erkenntnisapparat als Vorstellungsapparat ein Kunstapparat ist.55

Verfehlt wäre es jedoch, jeden Dichter als Philosophen zu bezeichnen. Um ein


solch Schaffender zu werden, muss er der Mensch der tragischen Erkenntnis sein,
dessen Redlichkeit ihn an die Abgründe menschlicher Wirklichkeit und mensch-
licher Vernunft getragen hat. Die daraus entspringende Daseinsnot ist eine exis-
tentiell erfahrene, keine rein theoretisch erfasste – verwundet von der Einsicht in

53 Kaiser, Gerhard, Wie die Dichter lügen. Dichten und Leben in Nietzsches ersten beiden Dionysos-
Dithyramben, in: Nietzsche-Studien, Jg. 15, Berlin / New York 1986, S. 184–224, hier S. 221.
54 Kaiser, Wie die Dichter lügen, S. 221.
55 Böning, Thomas, „Das Buch eines Musikers ist eben nicht das Buch eines Augenmenschen“.
Metaphysik und Sprache beim frühen Nietzsche, in: Nietzsche-Studien, Jg. 15, Berlin / New York
1986, S. 72–106, hier S. 83.
„N u r Narr! N u r Dichter!“ 391

die Vergeblichkeit der eigenen Erkenntnislust und des eigenen Wahrheitswillens,


ist er die höchste Erscheinung des wahrheitsliebenden Tieres, welches erkennen
muss, dass es zur Lüge verdammt ist. Dieser Quell des Leidens an sich selbst
versiegt dem tragischen Philosophen nicht, da die Einsicht in die Unmöglichkeit
von Wahrheit nicht von der Lust an ihr befreit, den Trieb zu ihr nicht mindert.
Mag auch der Glaube an die Möglichkeit von Erkenntnis der Wahrheit verloren
sein, der Wille zur Wahrheit lässt ihn nicht los. Er wird zum Wanderer ohne Ziel
und Heimat, dem Wandernden aus Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft gleichend,
welcher klagt:

Dieser Hang und Drang zum Wahren, Wirklichen, Un-Scheinbaren, Gewissen! Wie bin ich
ihm böse! Warum folgt m i r gerade dieser düstere und leidenschaftliche Treiber! Ich möchte
ausruhen, aber er lässt es nicht zu. Wie Vieles verführt mich nicht, zu verweilen! Es giebt
überall Gärten Armidens für mich: und daher immer neue Losreissungen und neue Bitter-
nisse des Herzens! Ich muss den Fuss weiter heben, diesen müden, verwundeten Fuss: und
weil ich muss, so habe ich oft für das Schönste, das mich nicht halten konnte, einen
grimmigen Rückblick, – w e i l es mich nicht halten konnte!56

Allein der Mensch der tragischen Erkenntnis weiß um die Notwendigkeit des
Willens zur Wahrheit und des Willens zur Täuschung. Seine Redlichkeit braucht
eine „Gegenmacht“: „die Kunst, als den g u t e n Willen zum Scheine“.57 Ein Frag-
ment aus dem Frühjahr 1888 nimmt auf die Bedeutung der Kunst für den Erken-
nenden wie folgt Bezug: „Die Kunst als die E r l ö s u n g d e s E r k e n n e n d e n , –
dessen der den furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins sieht, sehn
will, des Tragisch-Erkennenden.“58 Die Wahrheit, welche unter den Blicken des
Erkennenden zum Vorschein kommt, braucht den Schleier des schönen Scheins,
um ertragen zu werden.
Diesen Gedanken bringt Nietzsche sinngemäß bereits in der Tragödienschrift
in seiner Rede vom „m u s i k t r e i b e n d e n S o k r a t e s “59 zur Sprache: ein Typus,
dessen radikale Rationalität in die Liebe zum Schein umschlägt, in den Willen,
Musik zu treiben; dem die Kunst vor dem Hintergrund der Einsicht in die Endlich-
keit der Vernunft zur Notwendigkeit wird. Der musiktreibende Sokrates ist ein
vom Glauben an die Ergründbarkeit der Dinge Abgekommener, der nichtsdesto-
trotz weiterhin getrieben wird von der Lust am Erkennen und Enthüllen der
Dinge. Sicherlich, so lässt sich einwenden, steht beim frühen Nietzsche noch die
Weltflucht im Vordergrund; auch die Musik ist ihm Mittel der Abkehr vom

56 FW 309, KSA 3, 545, 27–546, 6.


57 FW 107, KSA 3, 464, 18 f.

58 NL 1888, 17[3], KSA 13, 521, 24–26.


59 GT 15, KSA 1, 102, 12.
392 Christina Kast

Dasein.60 Der Wille, in der Kunst das Dasein zu vergöttlichen, ist ein Erzeugnis
seiner späten Philosophie. Doch schmälert dies die Bedeutsamkeit des Bildes des
„m u s i k t r e i b e n d e n S o k r a t e s “ nicht, da in ihm deutlich wird, dass allein der
sokratische Mensch – der Mensch des unbedingten Willens zur Wahrheit – Künst-
ler und damit Dichter im Sinne Nietzsches werden kann. Er ist in seiner Lust am
Enthüllen der Vernichtende par excellence, der sich selbst zur permanenten
Erzeugung eines Scheins reizt und damit in letzter Konsequenz in einen Kreislauf
des Ewig-Sich-Selber-Schaffens und des Ewig-Sich-Selber-Vernichtens eintritt:
Die Vernichtung des Scheins verlangt nach der Schöpfung eines neuen; der neue
Schein harrt wiederum seiner Zerstörung durch die Vernunft. In eben diesem
Sinne ist Nietzsches Ausruf in der Fröhlichen Wissenschaft zu verstehen, wo es
heißt: „Was wäre das für ein Narr, der da meinte, es genüge, auf diesen Ursprung
und diese Nebelhülle des Wahnes hinzuweisen, um die als wesenhaft geltende
Welt, die sogenannte ‚W i r k l i c h k e i t‘, z u v e r n i c h t e n ! Nur als Schaffende
können wir vernichten!“61 In diesem Zyklus wird der musiktreibende Sokrates
selbst zum Glockenschlag des Lebens, zum ewigen Kreis, dessen Triebkraft im
Lebendigen selbst zu suchen ist: im dionysischen ‚Willen zur Macht‘, welcher in
ihm zu Bewusstsein kommt und sich durch ihn bzw. durch sein Schaffen selbst
verherrlicht. Ruft man sich ins Gedächtnis, dass Dionysos als Symbol des ‚Willens
zur Macht‘ gedacht werden kann, so eröffnet sich ein Verständnis des ‚Dionysos
philosophos‘, welches nicht von Nietzsches Vorstellung des musiktreibenden
Sokrates zu trennen ist. In ihm und durch ihn philosophiert das Leben. In diesem
Sinne entspricht er Nietzsches Forderung nach neuen Philosophen: „Ihr ‚Erken-
nen‘ ist S c h a f f e n , ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit
ist – W i l l e z u r M a c h t .“62
Welche Sprache spricht nun ein dionysisch bejahender Geist, wie Nietzsche
ihn auch in Zarathustra verkörpert sieht? Er spricht „die Sprache des D i t h y r a m -
b u s “.63 Der Begriff des Dithyrambus umfasst in seiner Bedeutung sowohl den
Gott Dionysos selbst als auch das Preislied zu seinen Ehren.64 Seine Relevanz
liegt somit zunächst in der Tatsache begründet, dass er in seiner Form bereits auf
den Lobpreis des Dionysos abzielt und damit Dienst an der Wahrheit und am
Leben ist. Weiteren Aufschluss geben folgende Worte aus Ecce homo: „Man höre“,

60 Diesen Vorwurf macht sich Nietzsche später selbst in seiner 1886 verfassten Selbstkritik, die er
in die Zweitausgabe der Geburt der Tragödie als Vorrede integriert (vgl. GT Versuch einer Selbst-
kritik 7, KSA 1, 22, 1–13).
61 FW 58, KSA 3, 422, 20–24.
62 JGB 211, KSA 5, 145, 14–16.
63 EH Za 7, KSA 6, 345, 18.
64 Zum Begriff des ‚Dithyrambus‘ vgl. NK 6/2, 644–648.
„N u r Narr! N u r Dichter!“ 393

so Nietzsche, „wie Zarathustra v o r S o n n e n a u f g a n g (III, 18) mit sich redet: ein


solches smaragdenes Glück, eine solche göttliche Zärtlichkeit hatte noch keine
Zunge vor mir. Auch die tiefste Schwermuth eines solchen Dionysos wird noch
Dithyrambus“.65 Nach einer Rezitation des Nachtliedes fährt Nietzsche fort: „Der-
gleichen ist nie gedichtet, nie gefühlt, nie g e l i t t e n worden: so leidet ein Gott, ein
Dionysos.“66 Der Dithyrambus, so wie Nietzsche ihn deutet, richtet sich folglich
nicht nur an Dionysos, sondern setzt diesen selbst als den Dichtenden voraus,
d. h. als einen Menschen, der zu Dionysos selbst geworden ist. Der eigentliche

Wert des Dithyrambus liegt damit nicht allein in der Gedichtform oder in einem
dichterischen Können begründet. Entscheidend ist der durch die Dichtung hin-
durch Sprechende, da nur ein Dionysos einen wahrhaftigen Dithyrambus singen
kann und somit nur er sich selbst besingen kann, worauf Nietzsche mittels des
tautologischen Titels „Dionysos-Dithyramben“ aufmerksam macht.
Wurde bislang die Dichtung als die von Nietzsche im Zuge seiner Umwertung
der Wahrheit eingeforderte wahre Philosophie dargestellt, so muss dem nun hin-
zugefügt werden, dass er diese Forderung in seinen Dionysos-Dithyramben selbst
einlöst. Damit wären diese nicht nur, wie Michael Skowron anmerkt, Nietzsches
„letztes philosophisches Werk“,67 sondern sogar das Werk, in dem allein Nietz-
sche seinem Selbstverständnis als Philosoph wahrhaft nachkommt – denn erst
als Dichter ist er, der Umwerter der Wahrheit, Philosoph. Von diesem Standpunkt
aus müssten die Dionysos-Dithyramben nicht nur als das eigentlich philoso-
phische Werk Nietzsches gedeutet werden, sondern als sein Hauptwerk. So
überrascht es, dass die Dionysos-Dithyramben bislang in der überbordenden
Nietzsche-Forschung, Wolfram Groddecks Standardwerk ausgenommen,68 auf
vergleichsweise geringes Interesse gestoßen sind.69

65 EH Za 7, KSA 6, 345, 19–24.


66 EH Za 8, KSA 6, 348, 2 f.

67 Skowron, Michael, Dionysische Perspektiven. Eine philosophische Interpretation der Dionysos-


Dithyramben, in: Nietzsche-Studien, Jg. 36, Berlin / New York 2007, S. 296–315, hier S. 302.
Skowrons Begründung der philosophischen Lesart ist nicht erschöpfend, da er als Nachweis
einzig Nietzsches Gedanken anführt, Dionysos sei ein Philosoph.
68 Groddeck, Friedrich Nietzsche „Dionysos-Dithyramben“, 2 Bde.
69 Vgl. dazu auch Skowron, Dionysische Perspektiven, S. 296. Zu dieser Einschätzung gelangt
ferner Reto Winteler: „Nietzsches Dionysos-Dithyramben werden in der Forschung oft leichtfertig
übergangen oder aber in einer ganz unangemessenen Abstraktheit interpretiert“ (Winteler, Reto,
Friedrich Nietzsche, der erste tragische Philosoph. Eine Entdeckung, Basel 2014, S. 251).
394 Christina Kast

3 Die Dionysos-Dithyramben
Abschließend soll vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen eine Deutung
des ersten Gedichtes der Dionysos-Dithyramben vorgelegt werden. Das theoretisch
Erörterte soll damit am Gegenstand der Untersuchung selbst verifiziert werden.
Dies wird grundsätzlich zur Erhellung der Frage beitragen, was mit einer Philoso-
phie des Willens zum Schein gemeint ist bzw. wie Nietzsche sie konkret ausfüllt und
umsetzt. Das erste Gedicht, Nur Narr! Nur Dichter!, ist dabei von besonderer Rele-
vanz, insofern es die Dissonanz von Wahrheit und Lüge in den Mittelpunkt stellt.
Das Gedicht ist ein Zwiegespräch zwischen dem lyrischen Ich und den es
heimsuchenden „Sonnen-Gluthblicke[n]“.70 Es nimmt seinen Ausgang in der
Erinnerung des lyrischen Ichs an einen Moment der Wahrheitssehnsucht und des
Verlangens nach Trost. An sein Herz richtet es folgende Worte: „[G]edenkst du da,
gedenkst du, heisses Herz, / wie einst du durstetest, / nach himmlischen Thränen
und Thaugeträufel / versengt und müde durstetest“.71 Sein Nachsinnen wird
durch „boshaft abendliche Sonnenblicke“ unterbrochen,72 die das Ich schmerz-
haft treffen: Das gleißende Licht läuft um das Ich herum, es scheint es zu
umkreisen und zu umzingeln. Sein Schauen ist Erkennen; die Worte, welche es an
das Ich richtet, haben das Ziel, das eben Erkannte laut werden zu lassen, dem Ich
die Wahrheit zu sagen – die Wahrheit über es selbst: „Der W a h r h e i t Freier – du?
so höhnten sie / nein! nur ein Dichter!“.73 Das Ich wird aus seinem Sehnen nach
Wahrheit herausgerissen, düpiert durch die Zuschreibung des größten Übels: ein
Dichter und damit Lügner zu sein, „ein Thier, ein listiges, raubendes, schleichen-
des, / das lügen muss, / das wissentlich, willentlich lügen muss“.74 Seine Redlich-
keit wird Lügen gestraft – die „Sonnen-Gluthblicke“ entlarven spottend seinen
Willen zur Wahrheit als Illusion und wirken damit redlicher als das Ich. Der Akt
der Desillusionierung, der Entkleidung des Ichs von seinem Wahrheitspathos, ist
getragen von der Lust an der Vernichtung:

nach Beute lüstern,


bunt verlarvt,
sich selbst zur Larve,
sich selbst zur Beute
d a s – der Wahrheit Freier?…75

70 DD Nur Narr! Nur Dichter!, KSA 6, 377, 15.


71 DD Nur Narr! Nur Dichter!, KSA 6, 377, 8–11.
72 DD Nur Narr! Nur Dichter!, KSA 6, 377, 13.
73 DD Nur Narr! Nur Dichter!, KSA 6, 377, 16 f.

74 DD Nur Narr! Nur Dichter!, KSA 6, 377, 18–20.


75 DD Nur Narr! Nur Dichter!, KSA 6, 377, 21–378, 3.
„N u r Narr! N u r Dichter!“ 395

Das Ich muss erfahren, dass ihm die Lüge nicht versehentlich unterläuft, sondern
sie überdies eine Notwendigkeit ist, um die es weiß und die es will. Die Wahrheit
ist, dass es lügt und dass es die Lüge will. Es ist sich ihrer bewusst und bejaht sie.
Die Lüge ist dabei selbstbezüglich zu verstehen, der Dichter ist „sich selbst zur
Larve“ geworden – sein Tun ist auf Selbsttäuschung gerichtet; eine Selbsttäu-
schung, in der er sich selbst wiederum zur Beute wird. Von dieser Warte aus
stellen die „Sonnenblicke“ die sprachliche Redlichkeit des Ichs sowie dessen
Vorstellungen und Gedanken infrage. Das Ich rede, so die „Sonnenblicke“, nur
Buntes, „herumsteigend auf lügnerischen Wortbrücken“.76 Seine Sprache ist
offenkundig artifiziell. Sie ist Kunst, mittels derer das Ich sich die illusorischen
Welten erschafft, in denen es sich „auf Lügen-Regenbogen“ bewegt: „zwischen
falschen Himmeln / herumschweifend, herumschleichend“.77
Das Zwiegespräch zwischen lyrischem Ich und den ihm nachstellenden „Son-
nenblicken“ kann als Selbstreflexion und damit als Selbstgespräch gedeutet
werden, in dem ein inneres Erleben geschildert wird. Vorgeführt wird ein Akt der
Selbstentlarvung, in dem der Wahrheitsliebende sich selbst aus Redlichkeit an
die Grenzen der eigenen Vernunft bringt. Er belächelt und verlacht sich ob der
Absurdität und unverhohlenen Falschheit seines Selbstbildes, ein Wahrheits-
liebender zu sein. Der Dichter hat mit der Wahrheit nichts zu schaffen; ihm ist
Wahrheit unmöglich, da die menschliche Wirklichkeit Schein ist und auch nur
Schein hervorbringt. Nur ein „Narr“ könnte mit diesem Wissen Wahrheit wollen,
weshalb das lyrische Ich mit dem selbstreferentiellen Ausruf schließt: „n u r Narr!
n u r Dichter!“.78 An dieser Stelle sei eine entsprechende Äußerung Nietzsches aus
der Fröhlichen Wissenschaft zitiert, die theoretisch thematisiert, was hier in dich-
terischer Praxis vollzogen wird:

Wir müssen zeitweilig von uns ausruhen, dadurch, dass wir auf uns hin und hinab sehen
und, aus einer künstlerischen Ferne her, ü b e r uns lachen oder ü b e r uns weinen; wir
müssen den H e l d e n und ebenso den N a r r e n entdecken, der in unsrer Leidenschaft der
Erkenntniss steckt, wir müssen unsrer Thorheit ab und zu froh werden, um unsrer Weisheit
froh bleiben zu können!79

Hier wird die radikal dissonante Existenz des tragischen Philosophen erläutert,
die der ‚Dionysos-Dithyrambus‘ Nur Narr! Nur Dichter! unmittelbar durch die
lyrische Rede veranschaulicht. Die Entwertung, welche der Wahrheitsliebende
sich in den eigenen Worten zufügt, ist offenkundig; ebenso wie die Verachtung ob

76 DD Nur Narr! Nur Dichter!, KSA 6, 378, 7.


77 DD Nur Narr! Nur Dichter!, KSA 6, 378, 8–10.
78 DD Nur Narr! Nur Dichter!, KSA 6, 378, 11.
79 FW 107, KSA 3, 464, 27–465, 1.
396 Christina Kast

der Lüge, in die er sich hüllt. Dasselbe gilt für die Lust an der Zerstörung der
eigenen Vorstellungen, an der Verneinung seiner selbst. Der Wille zur Wahrheit,
der in der Selbstentlarvung wirkt, ist unverkennbar ein gegen sich selbst gerichte-
ter ‚Wille zur Macht‘. Nietzsche führt ein kämpferisches Spiel des Wahrheits-
liebenden mit sich selbst vor, ein Spiel, das jedoch tiefster Ernst ist, insofern es
ihn in seinem existentiellen Grund erschüttert. Es handelt sich um einen Aus-
schnitt des ewigen Kreislaufs von (Selbst-)Schöpfung und (Selbst-)Vernichtung.
Der Tonfall der sprechenden „Sonnen-Gluthblicke“ verändert sich in der
Folge: Wirkte die Enthüllung des Wahrheitsliebenden als Dichter bislang wie eine
Entwertung des Ichs – da die Lüge anfangs im Kontrast zum Ideal der Wahrheit
wahrgenommen wird – erscheint die Rede nun als Lobpreis auf das lebensbeja-
hende Wesen des Dichters. Dieser sei

dem Adler gleich, der lange,


lange starr in Abgründe blickt,
in s e i n e Abgründe…
[…]
nach Lämmern lüstern,
gram allen Lamms-Seelen,
grimmig gram Allem, was blickt
tugendhaft, schafmässig, krauswollig,
dumm, mit Lammsmilch-Wohlwollen…80

Dieses vitalistische Dichterbild entspricht einer Definition des Lebens aus der
Fröhlichen Wissenschaft, die wie folgt lautet: „[F]ortwährend Etwas von sich
abstossen, das sterben will; Leben – das heisst: grausam und unerbittlich gegen
Alles sein, was schwach und alt an uns, und nicht nur an uns, wird.“81 Doch nicht
allein in der Vernichtung vollzieht sich das dionysische Leben, auch die Ver-
stellung, die Täuschung, der Betrug sind ihm eigentümlich. So läuft der Dichter

in Urwäldern
unter buntzottigen Raubthieren
sündlich gesund und schön und bunt […]
mit lüsternen Lefzen,
selig-höhnisch, selig-höllisch, selig-blutgierig,
raubend, schleichend, l ü g e n d […].82

80 DD Nur Narr! Nur Dichter!, KSA 6, 379, 1–3 u. 13–17.


81 FW 26, KSA 3, 400, 2–5.
82 DD Nur Narr! Nur Dichter!, KSA 6, 378, 24–29.
„N u r Narr! N u r Dichter!“ 397

Die Charakterisierung als Raubtier rückt den Dichter in die Nähe der „blonden
Bestie“, wie sie in der Genealogie der Moral beschrieben wird.83 Im Gegensatz
zum ‚Herrenmenschentum‘ ist die Raubtiernatur des Dichters aber gänzlich ins
Geistige verlagert. Außerdem ist sie als Prinzip ins Bewusstsein getreten, da sie
hier gezielt reflektiert wird. Die Rede der „Sonnenblicke“ schließt mit folgenden
Worten:

Der du den Menschen schautest


so G o t t als S c h a f –,
den Gott z e r r e i s s e n im Menschen
wie das Schaf im Menschen
und zerreissend l a c h e n –

das, das ist deine Seligkeit,


eines Panthers und Adlers Seligkeit,
eines Dichters und Narren Seligkeit!…84

In diesen Zeilen tritt die dionysische Natur des Dichters in ihrer radikalsten
Ausprägung zu Tage. Seine Destruktivität, so wird deutlich, darf nicht als Aus-
druck einer verneinenden Natur verstanden werden, sie ist seine „Seligkeit“.
Gerade in seinem vernichtenden Wesen manifestiert sich die Überfülle an Kraft –
er verneint, da er Inbegriff der Bejahung ist. Der tiefste Schmerz ist aus der
höchsten Seligkeit nicht zu tilgen. Und eben dieser erfasst das Ich, welches „des
Tages müde, krank vom Lichte“ aus seinem „Wahrheits-Wahnsinne […] abwärts,
abendwärts, schattenwärts“ sinkt. Sein Sehnen, so erinnert sich das Ich, galt nur
noch einem Ziel: „d a s s i c h v e r b a n n t s e i / v o n a l l e r W a h r h e i t ! “85 Seine
Wahrhaftigkeit hat die Illusion von Wahrheit zerstört. Das Ich vermag sich nur
noch von der Wahrheit fortzuwünschen.
Wo also bleibt die Musik des Sokrates, der trotz aller Verführung zu Lüge und
Leben im Gedicht vernichtet zurückbleibt? Sie ist nicht inhaltlich im Gedicht zu
finden, sondern muss in der Existenz des Gedichtes selbst gesucht werden. Das
Gedicht ist die Musik und insofern hervorgebrochenes Erzeugnis der inneren
Widersprüche des Dichtenden selbst; das existentielle Durchleben des eigenen
Wahrheitswillens führt zum Umschlagen der radikalen Rationalität und

83 GM I 11, KSA 5, 277, 3 f. Vgl. auch Groddeck, Friedrich Nietzsche „Dionysos-Dithyramben“, Bd. 1,

S. 23. Groddeck erwähnt zu Recht die Analogie zur berüchtigten „blonden Bestie“, lässt jedoch die
dionysische Natur, die aus dem ursprünglichen Herrenmenschen herausgelesen werden kann,
außer Acht.
84 DD Nur Narr! Nur Dichter!, KSA 6, 379, 23–30.
85 DD Nur Narr! Nur Dichter!, KSA 6, 380, 11–20.
398 Christina Kast

Erkenntnislust in den Willen zur Täuschung, zum schönen Schein. Dieser ist jedoch
kein von dem tragischen Erleben des lyrischen Ichs losgelöster Versuch, sich vor
dem eigenen Schmerz in künstlerische Gegenwelten hinweg zu dichten. Vielmehr
erfolgt im Rahmen des Gedichtes die Vergrößerung und Verherrlichung des eige-
nen Leidens, der Wunde, die der nicht abebben wollende Wahrheitswille dem
notwendig lügenden Tier schlägt und ewig schlagen muss. Die Wahrheitsfrage
kehrt für den Dichtenden ewig wieder. Dieses Verhängnis wird jedoch explizit
bejaht, indem es zum Gegenstand des Gedichtes wird und damit noch einmal als
Kunstwerk gewollt ist. Die Existenz des Gedichts bezeugt die Fülle und Lebenskraft
des Dichtenden, welcher seine Bürde bewusst und willentlich in das vollkommens-
te Ja kleidet – sein Leben und Leiden so will, wie sie sind und dies in der Ver-
ewigung der eigenen Tragik in der Dichtung bezeugt. Es dürfte unter Berücksichti-
gung der bisherigen Überlegungen unbestreitbar sein, dass dieses Ich Nietzsche
selbst ist. Damit erreicht er das, was er im Nachlass als tragisch-dionysischen
Zustand expliziert:

Ebenso gilt die Lust als ursprünglicher als der Schmerz: der Schmerz erst als bedingt, als
eine Folgeerscheinung des Willens zur Lust (des Willens zum Werden, Wachsen, Gestalten,
das heißt z u m S c h a f f e n : im Schaffen ist aber das Zerstören eingerechnet) Es wird ein
höchster Zustand von Bejahung des Daseins concipirt, aus dem auch der höchste Schmerz
nicht abgerechnet werden kann: der tragisch-dionysische Zustand […].86

4 Schlussbetrachtung
Am Maßstab der Redlichkeit gemessen, welche die Dichtung in den Rang der
eigentlichen Philosophie erhebt, lässt sich sagen, dass Nietzsche im ‚Dithyram-
bus‘ Philosophie treibt, insofern er von der Wahrheit spricht und ‚wahr spricht‘.
Gemeint sind damit zum einen die dionysische Wirklichkeit sowie ihre wesentli-
chen Ausprägungen, der Schein und die Vernichtung des Scheins. Zum anderen
ist die Rede von dieser Wahrheit eingebettet in die einzig mögliche wahre Rede,
nämlich in die lyrische Form. Seinen Willen zur Täuschung bzw. zum Schein
bekundet Nietzsche nicht allein durch die inhaltliche Verherrlichung des Dionysi-
schen, sondern im Akt des Dichtens selbst, dem das innere Durchleben der
existentiellen Widersprüchlichkeit des lyrischen Ichs vorangeht und durch den er
den Schein als das Wahre fortzeugt. Ausgehend von dieser Perspektive könnte
unter Berücksichtigung der vorhergehenden Analyse befunden werden, dass

86 NL 1888, 17[3], KSA 13, 522, 9–16.


„N u r Narr! N u r Dichter!“ 399

durch den ‚Dithyrambus‘ die Wahrheit selbst, d. h. das Prinzip des Lebens, der

dionysische ‚Wille zur Macht‘, spricht. In Nietzsches letzter Dichtung wäre damit
der ‚Wille zur Macht‘ zu sich selbst gekommen; Dionysos als Chiffre des Lebens
hätte in Nietzsche ein Sprachrohr gefunden.
Dieser Gedanke ist nicht neu, allerdings blieb bislang die Tatsache unbe-
achtet, dass Nietzsches Rede von der dionysischen Wirklichkeit selbst in Form
von Dichtung auftritt und darin bewusst jeden Anspruch auf Allgemeingültigkeit
aufgibt. Als Dichter weiß Nietzsche um die Fiktionalität des erzeugten Scheins, so
dass er im Grunde in seinem Gedicht nicht von der dionysischen Wirklichkeit an
sich sprechen kann – noch sprechen will – sondern die dionysische Wirklichkeit
bewusst als seine Schöpfung präsentiert. Darin folgt er den eigenen Prämissen,
da der Wahrheitswert seiner Dichtung erst darin garantiert ist, dass in ihr einzig
seine Wahrheit laut wird. Erst in dieser Konsequenz kann die radikale Verkehrung
abendländischer Epistemologien vollzogen werden. Nietzsche muss den letzten
Grund, den ‚Willen zur Macht‘, auf sich selbst zurückführen, um redlich zu
bleiben und wird so selbst zum Ursprung des ‚Willens zur Macht‘. Er wird zur
prima causa seiner Wirklichkeit – nicht der dionysische ‚Wille zur Macht‘ ist die
Wahrheit, sondern Nietzsche selbst.
Folgt man diesem Gedanken, so ergibt sich, dass die Liebe zum Schein im
Grunde als Liebe zum eigenen Sein gedacht werden muss. Besingt Nietzsche die
dionysische Wirklichkeit des tragischen Menschen, so ist sein Hymnus im Grunde
ein Lobpreis auf sich selbst: Er will sich in der Dichtung bejahen und besingen.
Die abstrakte Rede von der Liebe zum Leben und zur Wahrheit wandelt sich somit
zur Liebe zu der Wahrheit des eigenen Lebens. Diese Liebe wird durch die Ver-
ewigung des Eigenen in der Dichtung vollzogen. So bleibt die Schlussfolgerung,
dass Nietzsches Dichtung wahr ist, weil sie einzig von ihm selbst spricht; sie ist
bejahend, weil sie einzig seine eigene Existenz bejaht. Er will nur sich in seiner
Dichtung, er ist sich selbst die eigene Welt und Wahrheit, spricht von niemand
und zu niemand anderem als sich selbst. Im ‚Dionysos-Dithyrambus‘ Nur Narr!
Nur Dichter! spricht Nietzsche von seinem existentiellen Leiden an der Wahrheits-
frage und bejaht darin die eigene, unauflösbare Zerrissenheit zwischen dem
Willen zur Wahrheit und dem Bewusstsein der Lüge. Er bejaht sich als den
„m u s i k t r e i b e n d e n S o k r a t e s “. Was bleibt, ist die Verklärung der eigenen
Wirklichkeit. Dieser Bruch in Nietzsches Denken darf nicht als unabsichtliche
Widersprüchlichkeit ad acta gelegt werden. Sein Widerspruch ist notwendig: In
ihm drückt sich Nietzsches tiefes Bewusstsein der Unbegründetheit allen – auch
seines – Denkens aus. Ihm, dem Wahrheitsliebenden, bleibt damit nur eines zu
tun: das eigene Denken selbst in völligen Schein, in Dichtung, aufzulösen, um es
so zu vollenden und dadurch wahrhaft Philosoph zu sein.
Robert Krause
Dandysme: Zu einem Motiv aus Nietzsches
Baudelaire-Exzerpten

Abstract: Dandysme: On a motif from Nietzsche’s Baudelaire excerpts. Nietz-


sche was neither a practitioner nor a theorist of dandyism. Nonetheless, he
mentions the historico-culturally important figure of the dandy repeatedly in his
posthumous fragments. Nietzsche’s remarks about dandyism are always con-
nected to quotes from Baudelaire’s texts, and he does not only translate and
paraphrase them, but also combines them with themes of his own. The paper
analyses this process of appropriation and aims at shedding light on dandyism as
a part of Nietzsche’s Baudelaire reception, which has attracted little attention so
far. As a first step, it will be demonstrated where and how Baudelaire himself
describes dandyism. Secondly, Nietzsche’s reception of Baudelaire will be sum-
marized and Nietzsche’s thoughts on dandyism will be compared to Baudelaire’s.
Finally, Baudelaire’s and Nietzsche’s ideas on dandyism will be put into the
context of their critique of labour and utilitarian thinking. Thus, it will be shown
what concerns Nietzsche and Baudelaire about dandyism, and how it functions
both as an aesthetic object of fascination and as an alternative model to the
modern society based on the division of labour.

1 Ein Dandy zeigt sich


Nietzsche war weder Theoretiker noch Praktiker des Dandytums.1 In seinen auto-
risierten Schriften spielt der Dandy keine Rolle, in den nachgelassenen Notaten
wird diese kultur- und literaturgeschichtlich prominente Figur lediglich dreimal
und das Dandytum zweimal erwähnt.2 Schon dass Nietzsche dabei den Ausdruck
„dandysme“ verwendet, zeigt einen französischen Einfluss, der bei genauerem
Hinsehen präzise bestimmbar ist. So handelt es sich bei den Bemerkungen zum

1 Vgl. Janz, Curt Paul Friedrich, Nietzsche. Biographie in 3 Bänden, München / Wien 1978/79.
2 Vgl. NL 1887, 11[191], KSA 13, 80; NL 1887, 11[198], KSA 13, 82; NL 1887, 11[203], KSA 13, 83;
NL 1887, 11[234], KSA 13, 91 f. – Mit Blick auf diese Nennungen im Nachlass ist Hiltrud Gnügs

Befund, Nietzsches Philosophie weise zwar „viele Übereinstimmungen mit der dandystischen
Ästhetik auf“, doch den „Begriff des Dandysmus“ verwende er nicht explizit, zu korrigieren
(Gnüg, Hiltrud, Kult der Kälte. Der klassische Dandy im Spiegel der Weltliteratur, Stuttgart 1988,
S. 74).

DOI 10.1515/9783110474374-017
402 Robert Krause

Dandytum stets um Zitate Charles Baudelaires (1821–1867), die Nietzsche im fran-


zösischen Original exzerpiert, teilweise übersetzt oder paraphrasiert und mit Moti-
ven des eigenen Denkens verbindet. Diesen literarischen und philosophischen
Aneigungsprozess analysiert der vorliegende Beitrag mit dem Ziel, das Dandytum,
das in den bisherigen Studien zu Nietzsches Baudelaire-Lektüre kaum beachtet
wurde, als ein wesentliches Motiv dieses Rezeptionsverhältnisses auszuweisen.3
Zuerst ist in gebotener Kürze vorzustellen, wo und wie Baudelaire selbst den
Dandy und das Dandytum beschreibt (1). Sodann wird Nietzsches von der For-
schung bereits gut dokumentierte Baudelaire-Rezeption zusammengefasst, wobei
der Fokus auf den thematisch einschlägigen Texten liegt (2). Drittens werden
Baudelaires Bemerkungen zum Dandy und Dandytum textnah mit Nietzsches
Übertragungen verglichen (3). Um diese Bemerkungen zu kontextualisieren, bie-
tet sich schließlich ein Blick auf die Arbeits- und Nützlichkeitskritik Baudelaires
und Nietzsches an (4). So soll deutlich werden, welches Interesse beide Autoren
der Dandy-Figur und dem Dandytum entgegenbringen.
Ein Dandy muss partout originell sein, sich von anderen abheben. Sei es
durch seinen sorgfältig inszenierten Auftritt, seine ausgefallene Garderobe, sei-
nen lässigen Habitus oder sein demonstratives Nichtstun: In jedem Fall will der
Dandy sein soziales Umfeld in Erstaunen versetzen, ohne sich selbst jemals
erstaunt zu zeigen. Auf diese Weise beschrieben und zeitweilig selbst praktiziert
hat das Dandytum Charles Baudelaire, der in den 1840er Jahren in den Pariser
Künstler- und Bohème-Kreisen als Dandy auftrat4 und dessen 1863 erschienener
kunsttheoretischer Essay Le Peintre de la vie moderne ein gleichnamiges Kapitel
zum Dandy enthält.5 Ursprünglich geplant war sogar eine eigene Studie: Le Dan-

3 Einen konzisen Überblick gibt der Artikel in Pichois, Claude / Avice, Jean-Paul (Hrsg.), Diction-
naire Baudelaire, Tusson 2002, S. 334–338. Auf weitere Studien wird noch an passender Stelle
eingegangen.
4 Vgl. Champfleury, Jules, Souvenirs et Portraits de Jeunesse, Paris 1872, S. 134 f.; Asselineau,

Charles, Baudelaire et Asselineau, Paris 1953, S. 69 f.: „Ajoutez à ce costume des bottes vernies,

des gants clairs et un chapeau de dandy, et vous aurez au complet le Baudelaire d’alors, tel qu’on
le rencontrait aux alentours de son île Saint-Louis, promenant dans ces quartiers déserts et
pauvres un luxe de toilette inusité“; außerdem die Beschreibungen von Nadar und Théophile
Gautier, in: Bandy, William T. / Pichois, Claude (Hrsg.), Baudelaire im Urteil seiner Zeitgenossen,
aus dem Frz. u. mit einer Bibliographie v. Felix Philipp Ingold / Robert Kopp, Frankfurt/Main
1969, S. 11 f. (Nadar) und S. 14–16, insbes. S. 15 (Gautier); Pichois, Claude / Ziegler, Jean, Baude-

laire, aus dem Frz. v. Tamina Groepper, Göttingen 1994, insbes. S. 129–141 („Literarische Anfän-
ge“, 1842–1844) und S. 145–217 (IV. Teil: Vom Dandyismus zum Sozialismus).
5 Vgl. Baudelaire, Charles, Œuvres complètes, Texte établi, présenté et annoté par Claude Pichois,
Paris 1976, Bd. 2, S. 683–724, hier S. 709–712 (Kap. IX). – Baudelaires Werke werden im Folgen-
den im französischen Original nach der Pléiade-Ausgabe zitiert und mit der Sigle OC abgekürzt.
Sofern es für das Verständnis sinnvoll ist, wird außerdem die deutsche Ausgabe der Sämtlichen
Dandysme: Zu einem Motiv aus Nietzsches Baudelaire-Exzerpten 403

dysme littéraire ou la grandeur sans convictions, so der Titel des Projekts, von dem
Baudelaire seinem Verleger Auguste Poulet-Malassis am 4. Februar 1860 brieflich
berichtet und das er an anderer Stelle seiner Korrespondenz Le Dandysme dans
les lettres und Les Dandies nennt.6 Behandeln wollte er darin schreibende Dandys
wie François-René de Chateaubriand, Barbey d’Aurevilly, Astolphe de Custine,
Paul de Molènes, Giuseppe Ferrari und Joseph de Maistre.7 Doch über das
erwähnte Essay-Kapitel hinaus hinterließ Baudelaire lediglich einige unsystema-
tische Aufzeichnungen zum Dandy. Diese Aphorismen sind Teil seines autobio-
graphischen Werks Mon cœur mis à nu, das ebenfalls fragmentarisch blieb und
erst postum veröffentlicht wurde.8
Bereits der genannte Titel ist in Zusammenhang mit der Dandy-Thematik
bemerkenswert. Denn das eigene Herz zu entblößen, korrespondiert einerseits
mit dem Bedürfnis des Dandys, sich selbst zu präsentieren und kollidiert doch
andererseits mit dessen Willen, sich stets ungerührt zu zeigen. Insofern erscheint
der Titel Mon cœur mis à nu für das Porträt eines Dandys passend und unpassend
zugleich. Zum ersten Mal erwähnt wird das gleichnamige Buchprojekt in einem
Brief Baudelaires an seine Mutter, 1. April 1861: „un grand livre auquel je rêve
depuis deux ans: Mon cœur mis à nu, et où j’entasserai toutes mes colères. Ah! si
jamais celui-là voit le jour, les Confessions de J[ean]-J[acques] paraîtront pâles. Tu
vois que je rêve encore“.9 Ein großes Buch zu schreiben, in dem seine ganze Wut
enthalten sei und das Rousseaus berühmte Bekenntnisse blaß erscheinen ließe,
war demnach Baudelaires Traum. Im Anschluss an den Prozess um Les Fleurs du
Mal (1857), Baudelaires Verurteilung und die Zensur von sechs Gedichten arbeite-
te er bis 1861 an der ergänzten zweiten Auflage seiner Lyriksammlung. Vor diesem
biographischen und werkgeschichtlichen Hintergrund sind nun Baudelaires wie-
derholte Verweise auf die Confessions (1782/88) zu lesen, mit denen Rousseau,
der sich durch seine Feinde verleumdet fühlte, ein exaktes und wahrhaftiges

Werke und Briefe (= SW) hinzugezogen, die Claude Pichois und Friedhelm Kemp herausgegeben
und übersetzt haben: Baudelaire, Charles, Sämtliche Werke und Briefe in 8 Bänden, München
1975–92.
6 Vgl. Baudelaire, Charles, Correspondances, 2 Bde., Texte établi, présenté et annoté par Claude
Pichois avec la collaboration de Jean Ziegler, Paris 1973, Bd. 1 (janvier 1832 – février 1860),
S. 663 f., hier S. 664; außerdem Baudelaire, Correspondances, Bd. 2 (mars 1860 – mars 1866),

S. 128, S. 335 und S. 591.


7 Vgl. Erbe, Günter, Dandys. Virtuosen der Lebenskunst, Köln / Weimar / Wien 2002, S. 187–189.
8 Vgl. Baudelaire, OC, Bd. 1, S. 676–708. – Zur Entstehungsgeschichte der autobiographischen
Schriften und zum Textzusammenhang von Mon cœurs mis à nu, Fusées und Hygiène vgl. den
Kommentar in Baudelaire, OC, Bd. 1, S. 1467–1471.
9 Baudelaire, Correspondances, Bd. 2, S. 141.
404 Robert Krause

Selbstporträt intendierte.10 Baudelaire hingegen, der seine Verurteilung als bizar-


res Missverständnis wahrnahm,11 schwebte ein anderes Bekenntnis vor,12 nämlich
ein Buch des Grolls und der Rache, wie er am 5. Juni 1863 gegenüber seiner Mutter
präzisiert:

Eh bien ! oui, ce livre tant revé sera un livre de rancunes. À coup sûr ma mère et même mon
beau-père seront respectés. Mais tout en racontant mon éducation, la manière dont se sont
façonnés mes idées et mes sentiments, je veux faire sentir sans cesse que je me sens somme
étranger au monde et à ses cultes. Je tournerai contre la France entière mon réel talent
d’impertinence. J’ai un besoin de vengeance comme un homme fatigué a besoin d’un bain.13

Indem Baudelaire von der eigenen Erziehung und davon erzählt, wie sich seine
Gedanken und Emotionen formten, will er sein Gefühl, der Welt und ihren
Bräuchen fremd zu sein, nachvollziehbar machen. Zudem kündigt Baudelaire an,
sein wahres Talent, nämlich dasjenige zur Impertinenz, gegen ganz Frankreich zu
wenden; habe er doch Rache so nötig wie ein müder Mann ein erquickendes Bad.
Dieses Bedürfnis dokumentieren eindrücklich die beiden Manuskripte, Mon cœur
mis à nu und Fusées, die nach dem Tod Baudelaires und seines Verlegers Poulet-
Malassis von Eugène Crépet erworben und im Jahr 1887 unter dem Titel Œuvres
posthumes veröffentlicht werden.14

10 Vgl. Rousseau, Jean-Jacques, Les Confessions, Texte établie par Bernard Gagnebin et Marcel
Raymond, Paris [1959] 1973, S. 31: „Voici le seul portrait d’homme, peint exactement d’après
nature et dans toute sa vérité, qui existe et qui probablement existera jamais. […] un ouvrage
unique et utile, lequel peut servir de première pièce de comparaison pour l’étude des hommes, qui
certainement est encore à commencer, et de ne pas ôter à l’honneur de ma mémoire le seul
monument sûr de mon caractère qui n’ait pas été défiguré par mes ennemis. […] si tant est que le
mal qui s’adresse à un homme qui n’en a jamais fait ou voulu faire, puisse porter le nom de
vengeance.“
11 So der Wortlaut in den Entwürfen eines erklärenden Vorworts für die zweite und dritte Auflage
der Fleurs du Mal (1861 u. 1868); vgl. Baudelaire, OC, Bd. 1, S. 184 („un malentendu fort
bizarre“). – Vgl. dazu meinen Aufsatz: Baudelaires Devianz. „Die Blumen des Bösen“ vor Gericht
und in Benjamins Deutungsperspektive, in: Taškenov, Sergej (Hrsg.), Produktivität der Abweichung.
Projektion, Konstruktion, Vermessung, München 2016, S. 137–153.
12 Vgl. den Brief vom 3. Juni 1863 an die Mutter (Correspondances, Bd. 2, S. 302), in dem
Baudelaire schreibt, Mon cœur mis à nu „sera autre chose que les fameuses Confessions de Jean-
Jacques“.
13 Baudelaire, Correspondances, Bd. 2, S. 433 f.

14 Baudelaire, Charles, Œuvres posthumes et correspondances inédites, Précédées d’une étude


biographique par Eugène Crépet, Paris 1887. Vgl. Baudelaire, OC, Bd. 1, S. 1471.
Dandysme: Zu einem Motiv aus Nietzsches Baudelaire-Exzerpten 405

2 Zwischen Dekadenz und Dandytum


In der 1887 publizierten Ausgabe von Baudelaires Œuvres posthumes liest Nietz-
sche nur wenig später. Er war schon im Winter 1883/84, bei der Lektüre von Paul
Bourgets erschienenen Essais de psychologie contemporaine (1883),15 auf Baude-
laire aufmerksam geworden und hatte im Frühjahr 1885 bereits dessen Fleurs du
Mal gelesen. Sieben Gedichte weisen erkennbare Lesespuren auf, im Vorwort
Théophile Gautiers finden sich sogar zahlreiche An- und Unterstreichungen und
einige knappe, nur ein Wort umfassende Randbemerkungen Nietzsches.16 Die
genannten Textzeugnisse vermitteln den Eindruck, Nietzsche habe sich weniger
mit Baudelaires Lyrik als mit Gautiers Einleitungsessay beschäftigt.17 Dies wurde
in der Forschung schon verschiedentlich registriert;18 verständlich wird der Ein-
druck angesichts der Vermittlerrolle Bourgets, der sich in den erwähnten Essais
auf Gautiers Vorwort zu Baudelaire beruft,19 was seinen Leser Nietzsche über-
haupt erst zur betreffenden Ausgabe der Fleurs du Mal führt.20
Im Winter 1887/88 stößt Nietzsche sodann in Baudelaires Œuvres posthumes
auf einen erstmals abgedruckten Brief seines eigenen ehemaligen Weggefährten

15 Nietzsche las die 1883 erschienene Ausgabe von Bourget, Paul, Essais de psychologie contem-
poraine, Paris 1883. Im Folgenden wird auf diese zurückgegriffen. – Inwiefern Bourgets Essais für
Nietzsches frühe Baudelaire-Rezeption maßgeblich sind, erläutern Pestalozzi, Karl, Nietzsches
Baudelaire-Rezeption, in: Nietzsche-Studien, Jg. 7, Berlin 1978, S. 158–178, hier S. 160; Le Rider,
Jacques, Nietzsche et Baudelaire, in: Littérature, Nr. 86 (1992), S. 85–101, hier S. 85 f., und

Michaud, Stéphane, Nietzsche und Baudelaire, in: Kortländer, Bernd / Siepe, Hans T. (Hrsg.),
Baudelaire und Deutschland, Deutschland und Baudelaire, Tübingen 2006, S. 81–103, hier S. 85.
16 Bei den sieben Gedichten, die Nietzsche in einer Neuauflage der 1868 erschienenen, dritten
Fassung der Fleurs du Mal las, handelt es sich um L’Homme et la mer, La Beauté, Le Masque,
Hymne à la beauté, De profundis clamavi, L’Amour du mensonge und Le Voyage. – Vgl. dazu
Pestalozzi, Nietzsches Baudelaire-Rezeption, S. 166–170; Pfotenhauer, Helmut, Die Kunst als Phy-
siologie. Nietzsches ästhetische Theorie und literarische Produktion, Stuttgart 1985, S. 206–213. –
Ich danke der Forschungsstelle „Nietzsche-Kommentar“ der Heidelberger Akademie der Wissen-
schaften, namentlich Sebastian Kaufmann, für die Einsicht in Nietzsches Handexemplar: Œuvres
complètes de Charles Baudelaire. Les Fleurs du Mal, Précédés d’une notice par Théophile Gautier,
nouvelle édition, Paris 1882.
17 Gautiers Essay, im Februar 1868 und damit nur wenige Monate nach dem Tode Baudelaires
verfasst, ist stattliche 75 Seiten lang (ebd., S. 1–75).
18 Vgl. Pestalozzi, Nietzsches Baudelaire-Rezeption, S. 167 f.; Pfotenhauer, Helmut, Nietzsche als

Leser Baudelaires, in: Gebhard, Walter (Hrsg.), Friedrich Nietzsche. Perspektivität und Tiefe.
Bayreuther Nietzsche-Kolloquium 1980, Frankfurt/Main / Bern 1982, S. 123–145, hier S. 130; Mi-
chaud, Nietzsche und Baudelaire, S. 96.
19 Vgl. Bourget, Essais de psychologie contemporaine, S. 19–26 (III: Théorie de la décadence).
Dazu Pfotenhauer, Nietzsche als Leser Baudelaires, S. 96.
20 Vgl. ebd., S. 130.
406 Robert Krause

Richard Wagner. Darin bedankt sich letzterer bei Baudelaire für dessen Essay
Richard Wagner et Tannhäuser à Paris, der im April 1861 in der Revue européenne
erschien. Diesen Brief und den genannten Essay nimmt Nietzsche als Bestätigung
seiner seit langem gehegten Vermutung, „am besten vorbereitet für Wagner“ sei
„jener bizarre Dreiviertels-Narr B a u d e l a i r e “ gewesen.21 Zufällig gefunden hat
Nietzsche den erwähnten Beleg für die reale Verbindung Wagners und Baude-
laires nach eigener Auskunft „mitten unter unschätzbaren Psychologicis der
décadence (‚mon cœur mis à nu‘ von der Art, wie man sie im Falle Schopenhauers
und Byrons verbrannt hat)“.22 Die hier verwendete Kategorie der „décadence“ ist
für Nietzsches eigenes Denken und für seine Wagner-Kritik zentral.23 Wenn er nun
auch Baudelaires Tagebücher als Dokument der Dekadenz-Psychologie begreift,
dürfte wiederum der Leseeindruck aus den Essais de psychologie contemporaine
nachwirken, in denen Bourget den „style de décadence“ anhand von Baudelaires
Œuvre und mit Gautier als Gewährsmann charakterisierte.24
Seit Mitte Februar 1888 fertigt Nietzsche Aufzeichnungen von und zu Baude-
laires autobiographischen Fragmenten an, wie der Nachlass aus dieser Zeit
zeigt.25 Daraus geht hervor, dass Nietzsches Baudelaire-Lektüre zu einem kom-
plexen Prozess der Übertragung und kreativen Aneignung führte: „Gemäß seiner
üblichen Arbeitsweise verdichtet Nietzsche das Denken der anderen, kürzt, löst
Zusammenhänge auf und verschiebt die Schwerpunkte. Er entnimmt dem Buche
vieles“, so die konzise Beschreibung Stéphane Michauds.26 Dass zu dem, was
Nietzsche bei Baudelaire vorfand, auch die Figur des Dandys gehört, haben schon
Michaud selbst und Jacques Le Rider bemerkt, ohne dieses Motiv in ihren Über-
blickdarstellungen jedoch weiterzuverfolgen.27 Fabrice Zimmer und Günter Erbe
haben sich des Dandy-Themas sodann essayistisch angenommen, es aber keines-

21 So schreibt Nietzsche am 26. Februar 1888 an Heinrich Köselitz (KSB 8, Nr. 1000, S. 263, Z. 20–
23).
22 Ebd., Z. 32–35.
23 Vgl. etwa Nietzsches Selbstcharakterisierung in Ecce homo: „Brauche ich […] zu sagen, dass
ich in Fragen der décadence e r f a h r e n bin? Ich habe sie vorwärts und rückwärts buchstabirt“
(EH Warum ich so weise bin 1, KSA 6, 265, 31–33). Außerdem: WA 5, KSA 6, 21–23, und WA 7,
KSA 6, 27–29, vgl. dazu Pfotenhauer, Nietzsche als Leser Baudelaires, S. 129; außerdem Michaud,
Nietzsche und Baudelaire, S. 96, der auch auf Baudelaires eigenen, jedoch anders gefassten
Décadence-Begriff hinweist (vgl. L’Œuvre et la vie d’Eugène Delacroix, in: OC, Bd. 2, S. 751).
24 Bourget, Essais de psychologie contemporaine, S. 20.
25 Vgl. NL 1887, 11[160]–11[225], KSA 13, 75–87; und NL 1887, 11[231]–11[234], KSA 13, 90–92.
26 Michaud, Nietzsche und Baudelaire, S. 96.
27 Vgl. Michaud, Nietzsche und Baudelaire, S. 97; Le Rider, Nietzsche et Baudelaire, S. 89 und
S. 95.
Dandysme: Zu einem Motiv aus Nietzsches Baudelaire-Exzerpten 407

wegs erschöpfend behandelt.28 Die relevanten Bemerkungen Baudelaires und


Nietzsches werden im Folgenden erstmals einer Parallellektüre unterzogen.

3 Parallellektüre. Nietzsches und Baudelaires


Notizen zum Dandy und Dandytum
Die erste Aussage, die sich in Nietzsches nachgelassenen Notaten zum Dandy
findet, kontrastiert diesen mit der Frau, wie sie wesensmäßig sei. Es ist eine kurze,
auf Französisch abgefasste Bemerkung, die folgendermaßen lautet: „La femme
est naturelle, c’est-à-dire abominable. Aussi est-elle toujours vulgaire, c’est-à-dire
le contraire du dandy.“29 Hier handelt sich es um ein wörtliches Zitat, demzufolge
die Frau naturhaft und deshalb verabscheuenswürdig sei. Außerdem sei sie
vulgär und somit das genaue Gegenteil des Dandys. Nietzsche übernimmt diese
misogyne Bemerkung unverändert von Baudelaire, dessen krude Gegenüberstel-
lung der Frau und des Dandys auf schematische und essentialistische Weise das
Natürliche zugunsten des Künstlichen und Exquisiten abwertet.30
Auch Nietzsches nächste Aufzeichnung zum Dandy setzt auf Französisch ein:

Ce qu’il y a de v i l dans une fonction quelconque. Un dandy ne fait rien. Vous figurez-vous
un dandy parlant au peuple, excepté pour le bafouer? Es giebt nur 3 respektable Wesen:
Priester, Krieger, Poet. Savoir, tuer et créer. Die anderen Menschen sind taillables ou corvé-
ables, faits pour l’écurie, c’est-à-dire pour exercer ce qu’on appelle des professions.31

Der Anfang ist wiederum wörtlich von Baudelaire übernommen, der schon in Mon
cœur mis à nu konstatiert hatte, ein Dandy tue nichts und spreche allenfalls mit
dem gemeinen Volk, um dieses zu beleidigen:

Ce qu’il y a de vil dans une fonction quelconque. Un dandy ne fait rien. Vous figurez-vous
un dandy parlant au peuple, excepté pour le bafouer? […] Il n’existe que trois êtres
respectables: le prêtre, le guerrier, le poète. Savoir, tuer et créer. Les autres hommes sont

28 Vgl. Zimmer, Fabrice, Nietzsche. Prophète du dandysme?, in: magazine littéraire, Janvier 2000,
S. 63–65; Erbe, Günter, Motive des Dandysmus in der Philosophie Nietzsches, in: e-journal Phi-
losophie der Psychologie, Januar 2006, S. 1–4, http://www.jp.philo.at/texte/ErbeG1.pdf [Stand:
06.07.2017].
29 Vgl. NL 1887, 11[191], KSA 13, 80: „La femme est naturelle, c’est-à-dire abominable. Aussi est-
elle toujours vulgaire, c’est-à-dire le contraire du dandy.“
30 Baudelaire, OC, Bd. 1, S. 677: „La femme est le contraire du Dandy […] La femme est naturelle,
c’est-à-dire abominable. Aussi est-elle toujours vulgaire, c’est-à-dire le contraire du dandy.“
31 NL 1887, 11[198], KSA 13, 82.
408 Robert Krause

taillables et corvéables, faits pour l’écurie, c’est-à-dire pour exercer ce qu’on appelle des
professions.32

Der Textvergleich zeigt, dass Nietzsches Übertragung einzelne Teile auslässt und
andere originalgetreu ins Deutsche übersetzt, dann mitten im Satz die Sprache
abermals wechselt und mit einem französischen Baudelaire-Zitat schließt. Gründe
für diesen mehrfachen und abrupten Sprachwechsel sind nicht zu erkennen.
Womöglich wollte Nietzsche durch die deutsche Übersetzung die Konstellation
‚Priester, Krieger und Dichter‘ akzentuieren. Dass ihm die genannten drei jedoch
als gleichermaßen respektable Existenzensweisen erscheinen, ist zu bezweifeln.
Denn anders als Baudelaire, der dem Katholizismus zeitlebens verbunden blieb,
an der Gestalt des Priesters die Askese schätzte33 und sich als Dichter geradezu
obsessiv mit dem Konzept der Erbsünde beschäftigte, sind christliche Priester für
Nietzsche ein Feindbild, gegen das er vor allem in der Genealogie der Moral
polemisiert.34 Dem Typus des Kriegers hingegen gehört Nietzsches Wertschät-
zung,35 und der Dichter, der dem Narren nahesteht, figuriert in Nietzsches erstem
Dionysos-Dithyrambus gar als Rollen-Ich.36 Diese Nähe von Dichtung und Narren-
tum verkörpert paradigmatisch der „bizarre Dreiviertels-Narr B a u d e l a i r e “,37
dessen Begriffstrias „savoir, tuer, créer“ als Bezeichnungen der priesterlichen,
soldatischen und dichterischen Betätigungen Nietzsche auf Französisch über-
nimmt. Er zitiert auch die folgende Behauptung Baudelaires, die anderen Men-
schen seien für alles zu gebrauchen und zu nichts gut, sie übten nur das aus, was
man Professionen nenne. Mithin kritisiert Nietzsche, direkt an Baudelaire an-
schließend, die Beliebigkeit des modernen Massenmenschen und das Konzept
des Berufs, der an die Stelle der wirklichen Berufung getreten ist.

32 Baudelaire, OC, Bd. 1, S. 684.


33 Vgl. die erläuternde Variante in Baudelaires Mon cœur mis à nu, OC, Bd, 1, S. 693. Die drei
genannten Gestalten, der Priester, der Soldat und der Dichter, seien durch „ein Ausmaß der
Selbstbeherrschung“ verbunden und stellten insofern, „nur jeweils anders akzentuiert, eigentlich
dasselbe dar“, argumentiert Dieter Mettler in seiner Deutung von Baudelaires Heroismus: Mettler,
Dieter, Baudelaire. „Ein Ich, das unersättlich nach dem Nicht-Ich verlangt“, Würzburg 2000, S. 294.
34 Vgl. u. a. GM I 7, KSA 5, 266, 17–19: „Man wird bereits errathen haben, wie leicht sich die

priesterliche Werthungs-Weise von der ritterlich-aristokratischen abzweigen und dann zu deren


Gegensatze fortentwickeln kann“.
35 „Der freie Mensch ist K r i e g e r “, behauptet Nietzsche in: GD Streifzüge eines Unzeitgemässen
38, KSA 6, 140, 1 f. Vgl. zur Figur des Kriegers Born, Marcus Andreas, Nietzsche. Die Weisheit des

Kriegers, in: Ders. (Hrsg.), Existenz und Wissenschaft. Festschrift für Claudius Strube, Würzburg
2008, S. 119–132.
36 Vgl. das Eröffnungsgedicht Nur Narr! Nur Dichter!, in: DD, KSA 6, 377–380.
37 Vgl. Nietzsches Brief an Heinrich Köselitz vom 26. 02. 1888, in: KSB 8, Nr. 1000, S. 263, Z. 23.
Dandysme: Zu einem Motiv aus Nietzsches Baudelaire-Exzerpten 409

Baudelaires Sozialkritik steigert sich bis zur „apokalyptischen Träumerei“ in


Fusées (XXII), „eine von furchtbarer Bitterkeit erfüllte Kritik der Gesellschaft des
zweiten Kaiserreichs“, in der „hin und wieder Nietzsches Vorstellung vom ‚letzten
Menschen‘ an[klingt]“, wie bereits Walter Benjamin bemerkt hat.38 Er bezieht sich
auf die folgende autobiographische Notiz Baudelaires, die aufgrund ihrer Drastik
und Bedeutung nahezu vollständig zitiert wird. Baudelaire prognostiziert dort:

Le monde va finir. La seule raison, pour laquelle il pourrait durer, c’est qu’il existe. Que cette
raison est faible, comparée à toutes celles qui annoncent le contraire, particulièrement à
celle-ci: Qu’est-ce que le monde a désormais à faire sous le ciel? – Car, en supposant qu’il
continuât à exister matériellement, serait-ce une existence digne de ce nom et du dictionnai-
re historique? Je ne dis pas que le monde sera réduit aux expédients et au désordre bouffon
des républiques du Sud-Amérique, que peut-être même nous retournerons à l’état sauvage,
et que nous irons, à travers les ruines herbues de notre civilisation, chercher notre pâture,
un fusil à la main. Non; – car ce sort et ces aventures supposeraient encore une certaine
énergie vitale, écho des premiers âges. Nouvel exemple et nouvelles victimes des inexo-
rables lois morales, nous périrons par où nous avons cru vivre. La mécanique nous aura
tellement américanisés, le progrès aura si bien atrophié en nous toute la partie spirituelle,
que rien, parmi les rêveries sanguinaires, sacrilèges ou anti-naturelles des utopistes, ne
pourra être comparé à ses résultats positifs. Je demande à tout homme qui pense de me
montrer ce qui subsiste de la vie. De la religion, je crois inutile d’en parler et d’en chercher
les restes, puisque se donner la peine de nier Dieu est le seul scandale en pareilles matières.
La propriété avait disparu virtuellement avec la suppression du droit d’aînesse; mais le
temps viendra où l’humanité, comme un ogre vengeur, arrachera leur dernier morceau à
ceux qui croiront avoir hérité légitimement des révolutions. Encore, là ne serait pas le mal
suprême. L’imagination humaine peut concevoir, sans trop de peine, des républiques ou
autres États communautaires, dignes de quelque gloire, s’ils sont dirigés par des hommes
sacrés, par de certains aristocrates. Mais ce n’est pas particulièrement par des institutions
politiques que se manifestera la ruine universelle, ou le progrès universel; car peu m’im-
porte le nom. Ce sera par l’avilissement des cœurs. Ai-je besoin de dire que le peu qui restera
de politique se débattra péniblement dans les étreintes de l’animalité générale, et que les
gouvernants seront forcés, pour se maintenir et pour créer un fantôme d’ordre, de recourir à
des moyens qui feraient frissonner notre humanité actuelle, pourtant si endurcie? – Alors, le
fils fuira la famille, non pas à dix-huit ans, mais à douze, émancipé par sa précocité
gloutonne; il la fuira, non pas pour chercher des aventures héroïques, non pas pour délivrer
une beauté prisonnière dans une tour, non pas pour immortaliser un galetas par de sublimes
pensées, mais pour fonder un commerce, pour s’enrichir, et pour faire concurrence à son
infâme papa, – fondateur et actionnaire d’un journal qui répandra les lumières et qui ferait
considérer le Siècle d’alors comme un suppôt de la superstition. – Alors, les errantes, les
déclassées, celles qui ont eu quelques amants, et qu’on appelle parfois des Anges, en raison
et en remerciement de l’étourderie qui brille, lumière de hasard, dans leur existence logique

38 Benjamin, Walter, Aufzeichnungen und Materialien zu Baudelaire [J 47 a,3], in: Ders., Das
Passagen-Werk, 2 Bde., hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/Main 1982, Bd. 1, S. 396 f., hier  

S. 396.
410 Robert Krause

comme le mal, – alors celles-là, dis-je, ne seront plus qu’impitoyable sagesse, sagesse qui
condamnera tout, fors l’argent, tout, même les erreurs des sens! – Alors, ce qui ressemblera à
la vertu, – que dis-je, – tout ce qui ne sera pas l’ardeur vers Plutus sera réputé un immense
ridicule. La justice, si, à cette époque fortunée, il peut encore exister une justice, fera
interdire les citoyens qui ne sauront pas faire fortune. – Ton épouse, ô Bourgeois! ta chaste
moitié dont la légitimité fait pour toi la poésie, introduisant désormais dans la légalité une
infamie irréprochable, gardienne vigilante et amoureuse de ton coffre-fort, ne sera plus que
l’idéal parfait de la femme entretenue. Ta fille, avec une nubilité enfantine, rêvera, dans son
berceau, qu’elle se vend un million, et toi-même, ô Bourgeois, – moins poète encore que tu
n’es aujourd'hui, – tu n’y trouveras rien à redire; tu ne regretteras rien. Car il y a des choses
dans l’homme, qui se fortifient et prospèrent à mesure que d’autres se délicatisent et
s’amoindrissent; et, grâce au progrès de ces temps, il ne te restera de tes entrailles que des
viscères! – Ces temps sont peut-être bien proches; qui sait même s’ils ne sont pas venus, et si
l’épaississement de notre nature n’est pas le seul obstacle qui nous empêche d’apprécier le
milieu dans lequel nous respirons!39

Die Welt werde zugrunde gehen, denn was habe sie von nun an noch unter dem
Himmel verloren, fragt Baudelaire rhetorisch. Selbst wenn sie materiell weiter-
existierte, verdiene die Welt ihren Namen doch nicht mehr. Diagnostiziert wird
ein Verfall, jedoch keine neue Barbarei, keine Rückkehr in einen vorzivilisatori-
schen Naturzustand, das wäre laut Baudelaire zu vitalistisch. Stattdessen sieht er
einen moralischen Verfall am Werk, eine Amerikanisierung der Gesellschaft auf-
grund der Mechanisierung und des internalisierten Fortschrittsglaubens.40 Die
Religion sei nicht mehr der Rede wert, das Eigentum virtuell bereits aufgehoben.
Die vermeintlich legitimen Erben der Revolution würden sich noch wundern.
Zwar seien staatliche Gebilde auch zukünftig vorstellbar, konkret genannt werden
Republiken, gelenkt von wenigen Aristokraten. Doch manifestiere sich der uni-
verselle Ruin oder der universelle Fortschritt – die gewählte Bezeichnung tue
nichts zur Sache – nicht in den politischen Institutionen, sondern in der Ernied-
rigung der Herzen, so Baudelaire, dessen fortschrittskritische Zukunftsvisionen
hier nicht en détail nachvollzogen werden brauchen.41 Denn eine partielle Über-
setzung und kommentierende Zusammenfassung seiner Notiz findet sich bei
Nietzsche, der in den nachgelassenen Notaten „[d]ie Weiter-Entwicklung der
Menschheit nach Baudelaires Vorstellung“ folgendermaßen wiedergibt:

39 Baudelaire, OC, Bd. 1, S. 665 f.


40 Le Rider, Nietzsche et Baudelaire, S. 91, sieht in dieser Demystifizierung das postmoderne


Bewusstsein präfiguriert.
41 Zu Baudelaires Fortschrittskritik vgl. Eigeldinger, Marc, Baudelaire et la problématique du
progrès, in: Drost, Wolfgang (Hrsg.), Fortschrittsglaube und Dekadenzbewußstein im Europa des
19. Jahrhunderts. Literatur – Kunst – Kulturgeschichte, Heidelberg 1986, S. 119–126, insbes.
S. 123 f.; außerdem das Kapitel in Mettler, Baudelaire, S. 303–321.

Dandysme: Zu einem Motiv aus Nietzsches Baudelaire-Exzerpten 411

Nicht daß wir dem wilden Zustande uns wieder näherten, etwa nach Art des désordre
bouffon südamerikanischer Republiken, wo man, das Gewehr in der Hand, seine Nahrung
sucht, zwischen den Trümmern unserer Civilisation. Das würde noch eine gewisse vitale
Energie voraussetzen. Die Mechanik wird uns derart amerikanisirt, der Fortschritt wird die
spiritualistische Partie dermaaßen in uns atrophiirt haben, daß Alles Verrückte, was ge-
träumt worden ist von Socialisten, hinter der positiven Wirklichkeit zurück bleibt. Keine
Religion, kein Eigenthum; selbst keine Revolution mehr. Nicht in politischen Institutionen
wird sich der allgemeine Ruin zeigen (ou le progrès universel: es liegt wenig am Namen)
Habe ich nöthig zu sagen, daß das Wenige von Politik, das übrig bleibt, se débattra
péniblement dans les étreintes de l’animalité générale, und daß die politischen Gouvernants
gezwungen sein werden, um sich aufrecht zu erhalten und ein Phantom von Ordnung zu
schaffen, zu Mitteln ihre Zuflucht zu nehmen qui feraient frissonner notre humanité actuel-
le, p o u r t a n t s i e n d u r c i e ! (Haarsträubend!) Dann wird der Sohn die Familie fliehen, mit
12 Jahren, émancipé par sa précocité gloutonne, um sich zu bereichern, um seinem infamen
Vater Concurrenz zu machen, fondateur et actionnaire d’un journal, das Licht verbreitet
usw. – Dann werden selbst die Prostituirten eine unbarmherzige Weisheit sein, qui condam-
ne tout, fors l’argent, tout, m ê m e l e s e r r e u r s d e s s e n s ! Dann wird alles, das uns
Tugend heißt, als etwas ungeheuer Lächerliches angesehen werden – Alles was nicht ardeur
vers Plutus ist. Die Gerechtigkeit wird Bürger verbieten, welche nicht ihr Glück zu machen
wissen usw. – avilissement –42

Nietzsche eignet sich hier Baudelaires Dystopie an, er übersetzt und paraphra-
siert, zitiert einzelne Sätze und lässt andere aus. An einer Stelle wirkt es so, als
äußere sich Nietzsche zumindest in Klammern zu Baudelaires Ausführungen:
„Haarsträubend!“ wäre dann als aggressive Interjektion zu lesen, als Ausruf, mit
dem Nietzsche Baudelaires Urteil, die gegenwärtige Menschheit sei hartgesotten,
kommentiert.43 Allerdings könnte es sich bei diesem Ausdruck auch einfach um
eine Übersetzung für „faire frissonner“ handeln. Davon abgesehen schreibt sich
Nietzsche auf kaum mehr unterscheidbare Weise in den Prätext ein. An dessen
Ende steht wiederum ein Bild des Dandytums, und zwar als epochales Schwel-
lenphänomen44 und als die einzige Haltung, die angesichts des pessimistischen
Zukunftsszenarios noch adäquat erscheint:

Quant à moi, qui sens quelquefois en moi le ridicule d’un prophète, je sais que je n’y
trouverai jamais la charité d’un médecin. Perdu dans ce vilain monde, coudoyé par les

42 NL 1887, 11[234], KSA 13, 91 f.


43 In diesem Sinne deutet Pestalozzi, Nietzsches Baudelaire-Rezeption, S. 173 den kurzen Aus-
ruf.
44 Das Dandytum trete insbesondere in Übergangszeiten auf, dann, wenn die Aristokratie noch
nachwirke und die Demokratie noch nicht allmächtig sei, so Baudelaire in Le Peintre de la vie
moderne (OC, Bd. 2, S. 711): „Le dandysme apparaît surtout aux époques transitoires où la
démocratie n’est pas encore toute puissante, où l’aristocratie n’est que partiellement chancelante
et avilie.“
412 Robert Krause

foules, je suis comme un homme lassé dont l’œil ne voit en arrière, dans les années
profondes, que désabusement et amertume, et, devant lui, qu’un orage où rien de neuf n’est
contenu, ni enseignement, ni douleur. Le soir où cet homme a volé à la destinée quelques
heures de plaisir, bercé dans sa digestion, oublieux – autant que possible – du passé,
content du présent et résigné à l’avenir, enivré de son sang-froid et de son dandysme, fier de
n’être pas aussi bas que ceux qui passent, il se dit, en contemplant la fumée de son cigare:
„Que m’importe où vont ces consciences?“ Je crois que j’ai dérivé dans ce que les gens du
métier appellent un hors-d’œuvre. Cependant, je laisserai ces pages, – parce que je veux
dater ma colère.45

Baudelaire, der nach eigener Aussage gelegentlich das Lächerliche des Propheten
in sich fühlt,46 weist explizit die Rolle des Arztes von sich und nimmt stattdessen
diejenige des unbeteiligten Dandys ein, der das Vergangene vergisst, mit dem
Gegenwärtigen zufrieden ist und angesichts der Zukunft resigniert. Berauscht von
der eigenen Kaltblütigkeit und kontemplativ-rauchend, ist der Dandy stolz da-
rauf, nichts mit dem gemeinen Volk und dessen Gewissen zu schaffen zu haben.
Wenn Baudelaire schließlich schreibt, er sei wohl zum „hors-d’œuvre“ gelangt,
dürfte er damit meinen, dass sein Text außerhalb des Werkes steht und überhaupt
aus dem Rahmen fällt. Diese Seiten wolle er der Nachwelt nur hinterlassen, um
seine Wut zu dokumentieren.
Mit Ausnahme der letzten zwei Sätze Baudelaires gibt Nietzsche den Absatz
vollständig wieder, wobei er einzelne Passagen wörtlich ins Deutsche übersetzt
und andere einfach auf Französisch übernimmt:

Was mich betrifft, der ich bisweilen das Lächerliche eines Propheten in mir fühle, ich weiß,
daß ich niemals la charité d’un médecin darin finden werde. Verloren in dieser erbärmlichen
Welt, coudoyé par les foules, bin ich wie ein müder Mensch, der rückwärts blickend nichts
sieht, als désabusement et amertume in langen tiefen Jahren und vor sich einen Sturm, in
dem es Nichts Neues giebt, weder Lehre, noch Schmerz. Le soir, où cet homme a volé à la
destinée quelques heures de plaisir – den Abend, an dem dieser Mensch eine Stunde
Vergnügen dem Schicksale abgestohlen hat –, bercé dans sa digestion, oublieux autant que
possible du passé, content du présent et résigné à l’avenir, enivré de son sang-froid et de son
dandysme, fier de n’être pas aussi bas, que ceux qui passent, il se dit, en contemplant la
fumée de son cigare: „Que m’importe, où vont ces consciences?“47

45 Baudelaire, OC, Bd. 1, S. 667.


46 Zur Rolle der Prophetie bei Baudelaire vgl. Benjamin, Aufzeichnungen und Materialien zu
Baudelaire [J 50, 2], in: Ders., Das Passagen-Werk, Bd. 1, S. 401: „Den Weltlauf zu unterbrechen –
das war der tiefste Wille in Baudelaire. Der Wille Josuas. [Nicht so sehr der prophetische: denn er
dachte an Umkehr nicht]. Aus diesem Willen entsprang seine Gewalttätigkeit, seine Ungeduld und
sein Zorn; aus ihm entsprangen auch die immer neuen Versuche, der Welt ins Herz zu stoßen […]“.
47 NL 1887, 11[234], KSA 13, 92.
Dandysme: Zu einem Motiv aus Nietzsches Baudelaire-Exzerpten 413

Nietzsches Übertragung ist ein zweisprachiger Text, der in jedem Satz abbricht,
plötzlich in die andere Sprache, ins Französische oder ins Deutsche, wechselt und
damit noch unzusammenhängender erscheint als Baudelaires ohnehin schon
assoziative Notiz. Diese geht sprachlich und stilistisch in Nietzsches Text ein, der
insofern heterogen und polyphon zu nennen ist.
Ging es in den eben behandelten Visionen um den ‚letzten Menschen‘, so
beschäftigt sich eine weitere, von Nietzsche zitierte Notiz Baudelaires mit dem
Dandy als dem ‚höheren Menschen‘: „Dandysme. Was der höhere Mensch ist? Das
ist kein Spezialist. C’est l’homme de loisir et d’éducation générale. Être riche et
aimer le travail.“48 So heißt es bei Nietzsche, der hier abermals aus Mon cœur mis
à nu zitiert und übersetzt. Dabei überträgt er die von Baudelaire gestellte Leitfrage
nach dem Wesen des höheren Menschen ebenso ins Deutsche wie die Definition
ex negativo, übernimmt jedoch auf Französisch die positive Bestimmung, es
handele sich bei dem ‚höheren Menschen‘ um den allseitig gebildeten Mann der
Muße, der zudem reich sei und die Arbeit liebe.49
Freilich hat diese Konzeption eine längere, über Baudelaire hinausreichende
Vorgeschichte; immerhin kritisierte schon Schillers sechster Brief über die Ästhe-
tische Erziehung des Menschen die soziale Ausdifferenzierung und Arbeitsteilung
in der sich formierenden Moderne.50 Doch hebt Baudelaire die moderne Kunst-
ästhetik nochmals auf eine neue Stufe, wenn er im eingangs erwähnten Essay Le
Peintre de la vie moderne den befreundeten Maler und Zeichner Constantin Guys
weniger als „Künstler, das heißt Spezialist“, sondern als Flaneur und als „Mann
von Welt“ charakterisiert.51 Anstelle des einseitigen modernen Spezialistentums

48 NL 1887, 11[203], KSA 13, 83. – Vgl. auch Nietzsches Äußerungen zur Arbeitsteilung: „– Alles,
was ein Mensch im Dienste des Staates t h u t , geht wider seine Natur… / – insgleichen alles, was
er in Hinsicht auf den zukünftigen Dienst im Staate l e r n t , geht wider seine Natur / Das wird
erreicht durch die A r b e i t s t h e i l u n g : so daß Niemand die ganze Verantwortlichkeit mehr hat“
(NL 1887, 11[252], KSA 13, 97, 8–13).
49 Vgl. Baudelaire, OC, Bd 1, S. 689: „Dandysme. – Qu’est-ce que l’homme supérieur? Ce n’est
pas le spécialiste. C’est l’homme de Loisir et d’Éducation générale. Être riche et aimer le travail.“
Vgl. auch die Übersetzung von Friedhelm Kemp, SW, Bd. 6, S. 236: „Dandyismus. Was ist der
höhere Mensch? Nicht der Spezialist. Sondern der Mann der Muße und der allseitigen Bildung.
Reich sein und die Arbeit lieben.“ – Auf diese Äußerung geht bereits Erbe, Motive des Dandyismus
in der Philosophie Nietzsches, S. 3 f., kurz ein. Er vertritt die These, dass Nietzsche den Dandy, „zu

den willensstarken Menschen zählen würde, die den ‚höheren Typus‘ verkörpern“ (S. 1).
50 Vgl. Schiller, Friedrich, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen,
in: Ders., Sämtliche Werke in 5 Bänden, auf der Grundlage der Textedition von Herbert G. Göpfert,
hrsg. von Peter-André Alt, Albert Meier und Wolfgang Riedel, München 2004, Bd. 5, S. 570–669,
hier S. 581–588, insbes. S. 584 f.

51 Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens, in: SW, Bd. 5, S. 220.
414 Robert Krause

affirmiert Baudelaire das Heroische und den antiken Stoizismus,52 die der Dandy
verkörpert, der trotz eigenen Leidens ungerührt bleibt und lächelt „wie ein
Lakedämonier unter dem Biß des Fuchses“.53
Es ist unwahrscheinlich, dass Nietzsche den erwähnten Essay Baudelaires
kannte; zumindest finden sich keinerlei Belege dafür in Nietzsches nachgelasse-
nen Notaten. Doch zeigt bereits die zuvor zitierte Notiz zum ‚höheren Menschen‘
beachtliche Übereinstimmungen zwischen beiden Autoren. Denn Nietzsche über-
nimmt nicht nur Baudelaires Leitfrage, sondern auch dessen keineswegs selbst-
verständliche Prämisse, die Institution des Dandytums sei der adäquate Ober-
begriff bzw. das geeignete Stichwort für den ‚höheren Menschen‘. Schon die
Satzstellung legt also den Schluss nahe, beim ‚höheren Menschen‘ handele es
sich um den Dandy. Dieser wird anschließend auf eine Weise charakterisiert, die
eher an das humanistische Lebens- und Bildungsideal als an die moderne Frei-
zeitgesellschaft erinnert. Das bestätigt der Kommentar von Claude Pichois aus der
Pléiade-Werkausgabe Baudelaires: „Ce qui est définir le dandy comme se définis-
sait le type de l’homme idéal du XVIIe siècle: L’honnête homme. […] (Baudelaire
pense à l’otium des Latins et non pas à la ridicule civilisation plébéienne des
loisirs).“54 Baudelaire denke an das römische Otium, das in der Neuzeit als Muße
fortbesteht und in der Moderne mit dem Müßiggang verschwimmt. Reich zu sein,
bleibt indessen von Vorteil. „Die finanziellen Beschränkungen, der Zwang einen
Beruf auszuüben und Geld verdienen zu müssen, berauben den Dandy seines
eigentlichen Ziels: nichts anderes darzustellen als sich selbst“, erläutert Günter
Erbe.55 Dass Baudelaire mit dieser Muße-Tradition vertraut, aber selbst leider
nicht reich genug war, um sich dauerhaft ein flamboyantes Dandy-Leben leisten
zu können,56 zeigen seine persönlichen Bekenntnisse in Mon cœur mis à nu.

52 Auf diese Verbindung von Dandytum und Stoizismus bei Baudelaire weist bereits Hiltrud
Gnüg, Kult der Kälte, S. 38, hin.
53 Vgl. Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens, in: SW, Bd. 5, S. 243; Peintre de la vie
moderne, in: OC, Bd. 2, S. 710: „Un dandy peut être un homme blasé, peut être un homme
souffrant; mais, dans ce dernier cas, il sourira comme le Lacédémonien sous la morsure du
renard.“
54 Baudelaire, OC, Bd. 1, S. 1500.
55 Erbe, Dandys. Virtuosen der Lebenskunst, S. 20. „Eine Prüfung des Finanzhaushalts“, so Erbe
(ebd., S. 19), „ist für eine Soziologie des Dandys unentbehrlich“.
56 Vgl. die Aufstellung von Baudelaires Vermögensverhältnissen in Pichois / Ziegler, Baudelaire,
S. 485–489.
Dandysme: Zu einem Motiv aus Nietzsches Baudelaire-Exzerpten 415

4 Kontexte: Zur Arbeits- und Nützlichkeitskritik


bei Nietzsche und Baudelaire
C’est par le loisir que j’ai, en partie, grandi. À mon grand détriment; car le loisir, sans
fortune, augmente les dettes, les avanies résultant des dettes. Mais, à mon grand profit,
relativement à la sensibilité, à la méditation et à la faculté du dandysme et du dilettantisme.
Les autres hommes de lettres sont, pour la plupart, de vils piocheurs très ignorants.57

Was ihn ‚groß‘ gemacht habe, so Baudelaire, sei zum Teil die Muße gewesen. Das
habe allerdings Vor- und Nachteile besessen. Nachteilig sei, dass die Muße ohne
Vermögen die Schulden vermehre und die Schande, die aus weiteren Schulden
resultiere – eine Logik, die Baudelaire, der aufgrund seiner Verschwendung des
väterlichen Erbes unter Vormundschaft stand, seine Mutter oft brieflich um Geld
bitten und sich von Bekannten zum Essen einladen lassen musste, persönlich
vertraut war.58 Der große Vorteil der Muße bestehe hingegen in der Sensibilisie-
rung, dem Meditativen und der Begabung zum Dandytum und zum Dilettantis-
mus. Die anderen Schriftsteller seien doch in der Mehrzahl sehr ignorant.59
Die Ignoranz in Fragen der Kunst wie auch das weitverbreitete Nützlichkeits-
denken in der Gesellschaft lehnt Baudelaire dezidiert ab: „Être un homme utile
m’a paru toujours quelque chose de bien hideux.“60 Ein nützlicher Mensch zu
sein, sei ihm stets als etwas sehr Häßliches bzw. Abscheuliches erschienen, so
Baudelaire. Auch Nietzsche beanstandet in den nachgelassenen Notaten von
Sommer bis Herbst 1884 den Primat des Nützlichen und moniert, „das utile zu
predigen“, sei „höchster Gesichtspunkt“ des Engländers und Ausdruck seiner
„viehische[n] Gemeinheit“.61 In Jenseits von Gut und Böse (§ 174), fragt Nietzsche
sodann rhetorisch: „Ihr Utilitarier, auch ihr liebt alles utile nur als ein F u h r w e r k
eurer Neigungen, – auch ihr findet eigentlich den Lärm seiner Räder unaussteh-
lich?“62 Nietzsche und Baudelaire, so ist mit Michaud zu konstatieren, „teilen

57 Baudelaire, OC, Bd. 1, S. 697.


58 Vgl. Pichois / Ziegler, Baudelaire, S. 140 f.

59 Vgl. auch die Übersetzung von Kemp (SW, Bd. 6, S. 246): „Was mich groß gemacht hat, war
zum Teil der Müßiggang. Zu meinem großen Nachteil; denn ohne Vermögen vermehrt der
Müßiggang die Schulden und die Schmählichkeiten, die das Schuldenmachen mit sich bringt. Zu
meinem großen Vorteil jedoch, was die Reizbarkeit der Empfindung, die Meditation und die
Begabung zum Dandy und Dilettanten betrifft.“
60 Baudelaire, OC, Bd. 1, S. 679.
61 NL 1884, 26[380], KSA 11, 251, 11–13.
62 JGB 174, KSA 5, 103, 1–4.
416 Robert Krause

dieselbe Verachtung für die Menschen, die zu einer Funktion, einem Beruf gebo-
ren sind, die ‚Utilitarier‘“.63
Ebenso teilen Baudelaire und Nietzsche jedoch die Auffassung, Arbeit sei
eine notwendige Tätigkeit: „Man muß arbeiten, wenn nicht aus Geschmack, so
mindestens aus Verzweiflung, da, Alles wohl erwogen, arbeiten weniger lang-
weilig ist als sich amüsiren“, heißt es in Nietzsches nachgelassenen Notaten.64
Wiederum handelt es sich um die wörtliche Übersetzung eines Aphorismus aus
Baudelaires Mon cœur mis à nu: „Il faut travailler, sinon par goût, au moins par
désespoir, puisque, tout bien vérifié, travailler est moins ennuyeux que s’amu-
ser.“65 Die Arbeitslust wird hier als mögliche Triebkraft zwar erwähnt, Baudelaire
akzentuiert jedoch ein anderes Movens, nämlich die Verzweiflung, welche offen-
kundig mit der Langeweile zusammenhängt, ja angesichts dieser erst aufzukom-
men oder überhand zu nehmen scheint. Um der Langeweile und damit der
Verzweiflung zu entgehen, helfen Vergnügungen kaum weiter, da diesen nach-
zugehen selbst wieder langweilig sei. Das unterscheidet sie nicht qualitativ, aber
immerhin graduell von der Arbeitstätigkeit, die zwar ebenfalls langweilig, jedoch
weniger langweilig sei als sich zu vergnügen. Diesen intrikaten Zusammenhang
zwischen Langeweile, Vergnügung und Verzweiflung, den Baudelaire hier nur
andeutet, hat wenige Jahre zuvor Sören Kierkegaard eingehender behandelt. Sein
1843 unter dem Pseudonym Viktor Eremita herausgegebenes Erstlingswerk Ent-
weder/Oder, das dialektisch aufgebaut ist, zwei unterschiedliche Perspektiven
kontrastiert und miteinander kommunizieren lässt, erörtert das Problem der
Langeweile. Während die Figur des Ästhetikers eine Theorie entwickelt, die
Langeweile durch Unterhaltung zu überwinden, bemüht sich der Ethiker um den
Nachweis, dass eine ästhetische Existenzweise im Grunde eine verzweifelte sei.66
Arbeiten, um der grassierenden Langeweile und der drohenden Verzweiflung
zu entgehen – das ist ein wiederkehrendes Motiv bei Baudelaire. Bereits als 18-

63 Michaud, Nietzsche und Baudelaire, S. 97.


64 NL 1887, 11[194], KSA 13, 81.
65 Baudelaire, OC, Bd. 1, S. 682. Vgl. auch Kemps Übersetzung (SW, Bd. 6, S. 229): „Man muß
arbeiten, wenn nicht aus Lust an der Arbeit, dann aus Verzweiflung, denn, wenn man es recht
bedenkt, ist die Arbeit doch schließlich weniger langweilig als das Vergnügen.“
66 Vgl. Kierkegaard, Sören, Entweder/Oder, Teil I und Teil II, hrsg. v. Hermann Diem / Walter
Rest unter Mitwirkung v. Niels Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaard-Gesellschaft, aus d.
Dänischen v. Heinrich Fautec, München 2000, insbes. S. 329–349 (Kap.: „Die Wechselwirtschaft.
Versuch einer sozialen Klugheitslehre“). – Zur Denk- und Darstellungsform Kierkegaards vgl.
Schwab, Philipp, Der Rückstoß der Methode. Kierkegaard und die indirekte Mitteilung, Berlin /
New York 2012; zur Langeweile und ihrer Darstellung in Entweder/Oder siehe Hüsch, Sebastian,
Langeweile bei Heidegger und Kierkegaard. Zum Verhältnis philosophischer und literarischer Dar-
stellung, Tübingen 2014, S. 110 f.

Dandysme: Zu einem Motiv aus Nietzsches Baudelaire-Exzerpten 417

Jähriger, der nach dem Abitur ein „vie libre“ in Paris führt, schreibt er seinem
älteren Bruder Alphonse: „Je m’ennuie tellement que je vais me mettre à travail-
ler; je veux un plaisir quelconque, et j’espère en trouver là.“67 Er langweile sich so
sehr, dass er anfangen werde zu arbeiten, bekennt Baudelaire, der sich am
2. November desselben Jahres an der école de droit eingeschrieben hat;68 er wolle
irgendein Vergnügen und hoffe, es dort zu finden.69 Um die genannten Begriffe
‚Vergnügen‘ und ‚Arbeit‘ kreist auch eine Bemerkung aus den autobiographi-
schen Schriften, die unter dem Titel Hygiène in der von Crépet besorgten 1887
erschienenen Ausgabe enthalten sind. Dort sinniert Baudelaire über die Idee und
die Sensation der Zeit, die uns zermalme: „À chaque minute nous sommes écrasés
par l’idée et la sensation du temps. Et il n’y a que deux moyens pour échapper à
ce cauchemar, – pour l’oublier: le Plaisir et le Travail. Le Plaisir nous use. Le
Travail nous fortifie. Choisissions. Plus nous nous servons d’un de ces moyens,
plus l’autre nous inspire de répugnance.“70 Um diesem Albtraum zu entgehen
und die Zeit zu vergessen, gebe es nur zwei Mittel: das Vergnügen und die Arbeit.
Ersteres erschöpfe und letztere kräftige uns. Es sei an uns, zwischen beiden zu
wählen, und je mehr wir uns des einen Mittels bedienten, desto mehr reize das
andere uns zum Widerstand.
Baudelaire beschreibt eine charakteristische Spannung, das Hin- und Herge-
rissen-Sein zwischen Vergnügungen und Arbeit. Doch lässt er keinen Zweifel an
der pharmazeutischen Wirkung der Arbeit, die besonders deutlich in folgender
Passage zum Ausdruck kommt: „Hygiène. – En renvoyant ce qu’on a à faire, on
court le danger de ne jamais pouvoir le faire. En ne se convertissant pas tout de
suite, on risque d’être damné. Pour guérir de tout, de la misère, de la maladie et
de la mélancolie, il ne manque absolument que le Goût du Travail.“71 Indem man
das aufschiebe, was man zu tun habe, laufe man Gefahr, diese Arbeit niemals
erledigen zu können. Bekehre man sich nicht sofort, riskiere man die Verdamm-
nis. Allein die Lust an der Arbeit heile alles, Elend, Krankheit und Melancholie.72

67 Charles Baudelaire an Alphonse Baudelaire, Brief vom 20. November 1839, in: Baudelaire,
Correspondances, Bd. 1, S. 79 f., hier S. 79.

68 Vgl. den Kommentar ebd., S. 727.


69 Vgl. auch Kemps Übersetzung (SW, Bd. 1, S. 32): „Ich langweile mich so sehr, daß ich mich an
die Arbeit machen will; ich brauche irgendein Vergnügen und hoffe, es dort zu finden.“
70 Baudelaire, OC, Bd. 1, S. 669.
71 Baudelaire, OC, Bd. 1, S. 669.
72 Vgl. auch die Übersetzung Kemps (SW, Bd. 6, S. 215): „Indem man die notwendige Arbeit
verschiebt, läuft man Gefahr, sie niemals erledigen zu können. Indem man sich nicht sofort
bekehrt, setzt man sich der Verdammnis aus. Um von allem geheilt zu werden, von Elend,
Krankheit und Trübnis, fehlt einzig die Lust an der Arbeit.“
418 Robert Krause

Diese geradezu sündentheologische Argumentation wird verständlich, wenn


man näher auf die erwähnte Melancholie eingeht, die zu Baudelaires Schlüssel-
begriffen gehört. In der Widmung an Gautier, die seinen 1857 erschienenen Fleurs
du Mal vorangestellt ist, bezeichnet er seine Lyrik selbst als „misérable diction-
naire de mélancolie et de crime“.73 In den Gedichten wählt Baudelaire oft
„spleen“ und „ennui“ als Synoyme für die Melancholie.74 Bereits das berühmte
Eröffnungsgedicht Au lecteur, in dem mannigfache Laster, Vergehen und Sünden
aufgezählt werden, kulminiert in der Behauptung der Schlussstrophe, der Ennui
sei das Schlimmste von allen.75 Dass hier eine „eindeutige Benennung des Bösen
schlechthin, des summum malum“ vorliegt, hat Maria Moog-Grünewald eindrück-
lich gezeigt. Sie konstatiert: Baudelaires „Ennui ist Sünde im christlich-theologi-
schen Verständnis, ist Hauptsünde, ist eines der sieben Peccata capitalia, das den
lateinischen Namen Pigritia bzw. Acedia trägt“.76
Aus diesem Melancholie-Diskurs erklärt sich die sündentheologische Auf-
ladung der Arbeit, die Baudelaire als Allheilmittel preist; zumal ein wesentliches
Symptom der Melancholie bekanntlich die Antriebslosigkeit bzw. Passivität ist.77
Bemerkenswert ist jedoch, dass sich die zitierte Äußerung wörtlich bei Nietzsche
wiederfindet. In seinen nachgelassenen Notaten steht kommentarlos Baudelaires
Schlussfolgerung: „Pour guérir de tout, de la misère, de la maladie et de la
mélancolie, il ne manque absolument que le g o û t d u t r a v a i l .“78 Mit diesem Lob
der Arbeit, gar mit Baudelaires sündentheologisch aufgeladener Arbeitsethik,
konnte Nietzsche als scharfer Kritiker des Christentums und Genealoge der Moral
kaum d’accord gehen. Wie sich stattdessen Arbeit und Langeweile nach Meinung
Nietzsches zueinander verhalten, zeigt besonders prägnant der gleichnamige
Aphorismus Nr. 42 aus der Fröhlichen Wissenschaft, der aufgrund der psycho-
logischen Raffinesse hier nahezu vollständig zitiert wird:

73 Baudelaire, OC, Bd. 1, S. 187.


74 Vgl. den Artikel zur Melancholie in Pichois / Avice, Dictionnaire Baudelaire, S. 298–300,
insbes. S. 298.
75 Vgl. Str. 9 u. 10 in Baudelaire, OC, Bd. 1, S. 6: „Il en est un plus méchant, plus immonde! /
Quoiqu’il ne pousse ni grands gestes ni grands cris, / Il ferait volontiers de la terre un débris / Et
dans un bâillement avalerait le monde; / C’est l’Ennui! – l’œil chargé d’un pleur involontaire, / Il
rêve d’échafauds en fumant son houka. / Tu le connais, lecteur, ce monstre délicat / – Hypocrite
lecteur, – mon semblable, mon frère.“
76 Moog-Grünewald, Maria, Ennui – Curiosité – Nouveau. Zu einer „Archäologie“ der Moderne mit
Rücksicht auf Baudelaire, in: Assel, Heinrich / Askani, Hans-Christoph (Hrsg.), Sprachgewinn.
Festschrift für Günter Bader, Berlin / Münster u. a. 2008, S. 124–139, hier S. 126.

77 Vgl. den Melancholie-Artikel in Pichois / Avice, Dictionnaire Baudelaire, S. 299.


78 NL 1887, 11[224], KSA 13, 86.
Dandysme: Zu einem Motiv aus Nietzsches Baudelaire-Exzerpten 419

fast alle[n] Menschen […] ist Arbeit ein Mittel, und nicht selber das Ziel; […] Nun giebt es
seltenere Menschen, welche lieber zu Grunde gehen wollen, als ohne L u s t an der Arbeit
arbeiten: jene Wählerischen, schwer zu Befriedigenden, denen mit einem reichlichen Ge-
winn nicht gedient wird, wenn die Arbeit nicht selber der Gewinn aller Gewinne ist. Zu dieser
seltenen Gattung von Menschen gehören die Künstler und Contemplativen aller Art, aber
auch schon jene Müssiggänger, die ihr Leben auf der Jagd, auf Reisen oder in Liebeshändeln
und Abenteuern zubringen. Alle diese wollen Arbeit und Noth, sofern sie mit Lust verbunden
ist, und die schwerste, härteste Arbeit, wenn es sein muss. Sonst aber sind sie von einer
entschlossenen Trägheit, sei es selbst, dass Verarmung, Unehre, Gefahr der Gesundheit und
des Lebens an diese Trägheit geknüpft sein sollte. Sie fürchten die Langeweile nicht so sehr,
als die Arbeit ohne Lust: ja, sie haben viel Langeweile nöthig, wenn ihnen i h r e Arbeit
gelingen soll. Für den Denker und für alle erfindsamen Geister ist Langeweile jene unange-
nehme „Windstille“ der Seele, welche der glücklichen Fahrt und den lustigen Winden voran-
geht; er muss sie ertragen, muss ihre Wirkung bei sich a b w a r t e n : […] Langeweile auf jede
Weise von sich scheuchen ist gemein: wie arbeiten ohne Lust gemein ist.79

Anders als bei Baudelaire, der die Arbeitslust lediglich en passant erwähnt, steht
diese im Zentrum von Nietzsches Aphorismus. Dort geht es um ein Verhältnis zur
Arbeit, die nicht nur als Mittel zu einem anderen Zwecke dient – zu denken ist
wohl v. a. an das Bestreiten des Lebensunterhalts –, sondern die vielmehr Selbst-
zweck ist. Eine solch unvermittelte und leidenschaftliche Beziehung zur eigenen
Tätigkeit hätten die Wenigsten, wohl aber hätten sie Künstler, Kontemplative und
Müßiggänger, die zur härtesten Arbeit bereit und nur dann träge seien, wenn
basale Erwerbsarbeit gefordert sei. Im letzteren Falle nähmen die genannten
Lebenskünstler lieber materielle Not, soziale Ächtung und Langeweile auf sich, ja
als Denker und Empfindsame bräuchten sie die Langeweile sogar für das Gelin-
gen ihrer selbst gewählten Arbeit. Langeweile zu ertragen und ihre stimulierende
Wirkung abzuwarten, erscheint als Signum der Aufgeschlossenheit, sie selbst als
eine charakteristische Stimmung, die neuen Eindrücken und Entdeckungen not-
wendigerweise vorausgeht. Aktivität und Passivität, Tätigkeit und Untätigkeit
gehen offenkundig ineinander über.
Ob dies nur für die von Nietzsche erwähnten „Müssiggänger“ und „Contem-
plativen“ oder auch für den hier nicht eigens genannten Dandy und sein Otium
gilt, bliebe zu prüfen.80 Immerhin hatte Nietzsche, im Anschluss an Baudelaire,
das Dandytum als kontemplative Haltung begriffen81 und den Dandy als Mann

79 FW 42, KSA 3, 408, 28–409, 22.


80 Erbe, Motive des Dandytums in der Philosophie Nietzsches, S. 4, vertritt die Ansicht, Nietzsche
hätte an dieser Stelle „auch den Dandy nennen können, dessen Arbeit darin besteht, sich selbst
zum Kunstwerk zu machen“.
81 Vgl. die zuvor erläuterte Übertragung Baudelaires (OC, Bd. 1, S. 667) von Nietzsche, NL 1887,
11[234], KSA 13, 91 f.

420 Robert Krause

der Muße definiert, der nichts tut und doch die Arbeit liebt, die er als reicher
Mann nicht nötig hat.82 Damit und vor dem Hintergrund von Nietzsches zitierter
Aufwertung der Langeweile stellt sich die Frage nach dem komplexen Verhältnis
zwischen Arbeit, Muße, Kontemplation, Müßiggang und Langeweile neu. Diese
Frage beschäftigt zurzeit die interdisziplinäre Muße-Forschung;83 ihr weiter nach-
zugehen, wäre sicherlich auch und gerade mit Blick auf die hier behandelte Figur
des Dandys sehr lohnenswert.

82 Vgl. NL 1887, 11[203], KSA 13, 83, unter Rekurs auf Baudelaire, OC, Bd. 1, S. 689.
83 Hinzuweisen ist v. a. auf den Freiburger Sonderforschungsbereich Muße, vgl. https://www.
sfb1015.uni-freiburg.de/forschungsprofil [Stand: 06.07.2017]. – Aus diesem SFB hat Günter Figal
einen an Aristoteles, Augustinus und an Nietzsches Modernitätsdiagnose orientierten Vorschlag
zum Verständnis von Muße unterbreitet: http://mussemagazin.de/?p=530 [Stand: 06.07.2017]. –
Auf die produktionsästhetischen Aspekte von ‚Muße‘ und ‚Müßiggang‘ bei Nietzsche geht Martin
Jörg Schäfer ein: Ders., „Müssiggang eines Gottes“. Schreibarbeit nach Nietzsche, in: Karschnia,
Alexander / Kohns, Oliver / Kreuzer, Stefanie / Spies, Christian (Hrsg.), Zum Zeitvertreib.
Strategien – Institutionen – Lektüren – Bilder, Bielefeld 2005, S. 175–186.
Sarah Scheibenberger
„Ich trinke die Flammen in mich zurück,
die aus mir brechen“: Nietzsche,
Carlo Michelstaedter und Rhetorik als
(auto-)poietisches Verfahren

Abstract: „Ich trinke die Flammen in mich zurück, die aus mir brechen“:
Nietzsche, Carlo Michelstaedter and rhetoric as an (auto-)poietic technique.
The metaphor of the flame, which pointedly describes the ‘stellar friendship’
between Friedrich Nietzsche and Carlo Michelstaedter (1887–1910), exemplifies
an aporetic principle of language: Enlightenment turns into glare, individual
expressions turn into conventional phrases. Both poetic philosophers address this
challenge by methods of presentation which aim at coping with the irreducible
rhetoricity and deceptiveness of language. Their self-reflective strategies of pre-
sentation try to evoke the power of language to intensify sensations. For Nietz-
sche, the creation of individuals requires rhetorical skills; for Michelstaedter, self-
confidence (“persuasione”) as self-creation can only be achieved by means of
“rettorica”. The metaphor of the flame illustrates this retroactive, (self-)destructi-
ve capacity of poetic language to self-constitution.

1 Zu einer medialen Rhetorik des Subjekts.


Problemstellung
Es mag weithergeholt erscheinen, ins Zentrum einer Betrachtung von Nietzsches Beziehung
zur Literatur seine Theorie der Rhetorik zu stellen. Warum sollte man, was allem Anschein
nach als ein exzentrischer und geringfügiger Teil von Nietzsches Unternehmen gelten muß,
als Zugang zur komplexen Frage nach seiner Anschauung von Literatur und nach den
spezifisch literarischen Aspekten seines eigenen philosophischen Diskurses wählen?1

1 de Man, Paul, Rhetorik der Tropen (Nietzsche) [1979], in: ders., Allegorien des Lesens, aus dem
Amerikanischen von Werner Hamacher / Peter Krumme, mit einer Einleitung von Werner Hama-
cher, Frankfurt/Main 1988, S. 146–163, hier S. 146.

DOI 10.1515/9783110474374-018
422 Sarah Scheibenberger

Diese Diagnose, die Paul de Man in seinem bekannten Aufsatzband Allegories of


Reading von 1979 der Nietzsche-Forschung noch völlig zu Recht stellte (die
Rhetorik liege in einer „vernachlässigte[n] und dunkle[n] Nische des Nietzsche-
Kanons“2), ist mittlerweile sicherlich überholt. Zwar erschien Nietzsches Vor-
lesung über die antike Rhetorik von 1872–733 erst 1995 vollständig ediert in der
KGW,4 nachdem bekannterweise Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy
Anfang der siebziger Jahre mit der französischen Übersetzung der Crusius-Fas-
sung5 von Nietzsches Rhetorik-Vorlesungen im Zuge des linguistic turn eine
Rhetorik-Theorie Nietzsches und damit eine vermeintlich einheitliche Theorie der
Dekonstruktion ante litteram entdeckt zu haben glaubten.6 Doch sind mittlerweile
zahlreiche Publikationen zum Thema erschienen: Eine Reihe von Studien hat
Einflüsse und Quellen von Nietzsches Basler Vorlesungen aufgespürt,7 verschie-
dene philosophische Strömungen haben Nietzsches Rhetorik-Verständnis für sich
fruchtbar zu machen versucht. Weitgehende Uneinigkeit herrscht in der For-
schung jedoch weiterhin hinsichtlich der Frage, wie die Rolle der Rhetorik in
Nietzsches Gesamtwerk zu bewerten sei. Denn schon der Versuch, zu rekonstruie-
ren und eindeutig zu bestimmen, was Nietzsche mit ‚Rhetorik‘ eigentlich meint,
sieht sich der Schwierigkeit gegenüber, dass Nietzsches Rhetorik-Begriff selbst
eine metaphorische Dimension zu besitzen scheint: Mal versteht Nietzsche ‚Rhe-
torik‘ als Redekunst, als Lehre der Beredsamkeit und Tropen- und Figurenlehre,
mal als Kunst der Überzeugung. Auch verwendet er den Begriff als Bezeichnung
für einen habitualisierten Sprachgebrauch, für das simulakrale, trugbildhafte
Wesen der Sprache schlechthin oder als Ausdruck eines ursprünglichen Meta-
pherntriebes. Bei aller Kritik, die an den frühen poststrukturalistisch-dekonstruk-

2 de Man, Rhetorik der Tropen, S. 146.


3 In der nach wie vor nicht eindeutig geklärten Datierungsfrage folge ich Behler, Ernst, Nietzsches
Studium der Rhetorik nach der KGW, in: Nietzsche-Studien, Jg. 27, Berlin / New York 1998, S. 1–12,
hier S. 4 f.

4 〈Darstellung der antiken Rhetorik〉, in: KGW II/4, 413–502.


5 Vor der ‚Wiederentdeckung‘ von Nietzsches Schriften zur Rhetorik durch die Poststrukturalis-
ten waren nur die Paragraphen 1–7 der Darstellung der antiken Rhetorik im Rahmen der von Otto
Crusius besorgten Großoktavausgabe 1912 veröffentlicht und 1922 im 5. Band der Musarion-
Ausgabe wiederabgedruckt worden.
6 Lacoue-Labarthe, Philippe / Nancy, Jean-Luc, Friedrich Nietzsche. Rhétorique et langage. Textes
traduits, présentés et annotés, in: Poétique, Jg. 5, Paris 1971, S. 99–142; und ebd.: Lacoue-Labarthe,
Le détour (Nietzsche et la rhétorique), S. 53–76.
7 Beispielhaft verwiesen sei an dieser Stelle auf die Aufsätze zum Thema in: Kopperschmidt,
Josef / Schanze, Helmut (Hrsg.), Nietzsche oder „Die Sprache ist Rhetorik“, München 1994, dort
besonders auf den quellenkritischen Beitrag von Most, Glenn / Fries, Thomas, 〈"〉: Die Quellen von
Nietzsches Rhetorik-Vorlesung, S. 17–38.
„Ich trinke die Flammen in mich zurück, die aus mir brechen“ 423

tivistischen Lesarten geübt wurde, stimmen die meisten Arbeiten zu Nietzsches


Rhetorik-Verständnis mit diesen weitgehend in der Prämisse überein, dass Nietz-
sches Interesse für die Rhetorik mit einer radikalen „Infragestellung des Sub-
jekts“8 einhergehe. Den Tod des (Autor-)Subjekts, seine Auflösung in einen Kom-
plex anonymer Triebe und widerstreitender Diskurse, habe Nietzsche dadurch
besiegelt, dass er den Subjektbegriff selbst als bloße Metapher interpretiert und
angewandt habe. So sei jedem begrifflichen Bestimmungsversuch einer stabilen
außersprachlichen Sprecherinstanz prinzipiell der Boden entzogen worden.
Eine solche Infragestellung des Subjekts durch Nietzsche wurde in der For-
schung aus so unterschiedlichen Perspektiven konstatiert, dass im Folgenden
eine präzise Beschränkung der Fragestellung notwendig ist. Diese geht zunächst
von der Beobachtung aus, dass Nietzsche – trotz seiner Auffassung einer unhin-
tergehbaren Trugbildhaftigkeit jeder Rede – an der Möglichkeit eines weltbilden-
den sprachlichen Selbstausdrucks festzuhalten scheint. Außerdem wird voraus-
gesetzt, dass die Entwicklung der Sprache als eines auf Konvention und usus
basierenden Zeichenspiels für Nietzsche zwar der Verhüllung existentieller Nöte
und der Intensivierung eines uniformen Bewusstseins zu dienen, zugleich aber
individuelle Sprachprägungen hervorzubringen vermag. Dieser Selbstausdruck,
eine eigene Stimme und Färbung des Textes, meint im Folgenden kein dem Text
vorgängiges, idealistisches Subjekt, sondern eine sich erst in einer medialen
Praxis9 herstellende rhetorische Subjektivität.10
Mit dem „freigewordenen Intellekt“11, der erstarrter abstrakter Begriffskon-
strukte als eines formbaren Materials und Darstellungsmediums bedarf, dem in

8 Most / Fries, Die Quellen von Nietzsches Rhetorik-Vorlesung, S. 37.


9 Diese Ambivalenz des Medialen verstehe ich im Folgenden mit Dieter Mersch als „Zweideutig-
keit, die der Zweideutigkeit allen menschlichen Tuns im Sinne der Poiesis innewohnt, [und die]
stets medienphilosophisch zwiespältig diskutiert worden ist: Wahrnehmung, Handlung, Darstel-
lung, Erkenntnis sind nur vermöge medialer Anordnungen möglich, aber diese medialen An-
ordnungen partizipieren im selben Maße, heideggerisch gesprochen, an der Gleichzeitigkeit von
Gewinn und Verlust. Anders ausgedrückt: Es gibt keinen Gewinn ohne Verlust, keine Fortschritte
ohne Rückschritte, keine Entdeckung ohne Verbergung, und das Mediale selbst ist der Ort dieser
Ambiguität. Ebenso kann diese Ambiguität aber auch zum Ort einer Reflexivität werden“ (Mersch,
Dieter, Mediale Dinge und ihre ästhetische Reflexion, in: Elia-Borer, Nadja u. a. (Hrsg.), Heteroto-

pien. Perspektiven der intermedialen Ästhetik, Bielefeld 2013, S. 53–80, hier S. 18).
10 Daniela Langer ist einer ähnlichen Frage, der Frage nach dem Zusammenhang zwischen
Sprach- und Subjektbegriff und spezifischen autobiographischen Schreibweisen in Nietzsches
Ecce Homo und bei Barthes, aus poststrukturalistischer Perspektive nachgegangen (vgl. Langer,
Daniela, Wie man wird, was man schreibt. Sprache, Subjekt und Autobiographie bei Nietzsche und
Barthes, München 2005, v. a. S. 39–90 und S. 311–322).
11 WL 2, KSA 1, 888, 27–28.
424 Sarah Scheibenberger

„unerhörten Begriffsfügungen“12 und durch kühne Übertragungsleistungen zu-


mindest die Qualität einer prägnanten Entsprechung, ein unverwechselbares
„ä s t h e t i s c h e s Verhalten“,13 abgerungen werden kann, hat Nietzsche in Ueber
Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873) das Problem des Selbst-
ausdrucks mittels einer bestimmten rhetorischen Sprachverwendung in eine ge-
nealogische Metapher gefasst, die zugleich im Textgeschehen, in der charakteris-
tischen performativen Zusammenstellung von heterogenem Quellenmaterial,
gespiegelt wird. Im Folgenden sollen die philosophischen Implikationen von
Nietzsches frühem Entwurf eines solchen rhetorischen Vermögens beleuchtet
werden. Dessen vielgestaltige sprachlich-schriftliche Formen sind durchgängig
reflexiv, d. h. sie besitzen eine Autoreflexivität, die eine poiesis zu leisten in der

Lage ist (oder mit Agamben: eine „pro-duzione nella presenza“14, „Pro-duktion in
die Anwesenheit“), nämlich die Hervorbringung einer sich in ihrer Potenz auf-
haltenden Subjektivität. Diese ist als funktionsbildende Relation („ä s t h e t i -
s c h e s Verhalten“15) zu verstehen. In diesem Sinne sei der Versuch unternom-
men, ausgehend von einer punktuellen Lektüre einiger bemerkenswerter
Textstellen aus der etwa zeitgleich zur Frühschrift Ueber Wahrheit und Lüge
entstandenen Darstellung der antiken Rhetorik, das Rhetorische bei Nietzsche als
ein autopoietisches Verfahren zu lesen, als Technik der Selbsterzeugung und als
Einübung von Subjektivität, die mit Strategien der Umwertung, der Überredung
und Überschreibung operiert.
Dieses Problem wird Nietzsche auch später noch umtreiben. Zwar übt er
immer wieder Kritik am ‚Schön-Schreiben‘, das in Ästhetizismus umkippe, oder
an Belesenheit als an einem Zustand der Entkräftung, doch wechselt sich seine
Skepsis ab mit der Anerkennung und dem Einsatz rhetorisch gesteigerter Aus-
drucksmöglichkeiten der Schrift. Etwa wenn er in Ecce Homo die Frage, warum er
so gute Bücher schreibe, damit beantwortet, dass er „einen inneren Zustand
wirklich mittheilt“,16 der hier entsprechend nicht als psychologische Bewusst-
seinsform, sondern als Potenz autopoietischer17 Dispositive gedeutet werden soll:

12 WL 2, KSA 1, 889, 3.
13 WL 2, KSA 1, 884, 12.
14 Agamben, Giorgio, L’uomo senza contenuto [1970], Macerata 2005, S. 104. Geht es um be-
stimmte einzelne Begriffe, wird Agamben im Folgenden auf Italienisch zitiert und meine eigene
Übersetzung dahinter in Klammern angeführt. Bei längeren Zitaten in den Fußnoten wird nur
meine eigene Übersetzung angegeben.
15 WL 1, KSA 1, 884, 12.
16 EH Warum ich so gute Bücher schreibe 4, KSA 6, 304, 12–13.
17 „Autopoiesis“ wird im Folgenden nicht im systemtheoretischen Sinne (nach Niklas Luhmann
oder Francisco Varela) als autogeneratives System verstanden, in dem die Informationen der
„Ich trinke die Flammen in mich zurück, die aus mir brechen“ 425

Zwischen rhetorischer Kunstfertigkeit, gutem Prosa-Stil, den Möglichkeiten einer


wirklichen Mitteilung eines inneren Zustandes sowie seiner sich freilich für Nietz-
sche erst in einer postumen Lektüre, in einem noch ausstehenden kairós, ganz
entfaltenden Überzeugungskraft besteht offenbar ein Verhältnis gegenseitiger
Bedingtheit, in dem jener innere Zustand, in beständiger Inversion von Ursache
und Wirkung, erst im Prozess seiner eigenen Darstellung erscheint und eingeübt
wird. Die zitierte rhetorische Frage, die sich Nietzsche in Ecce Homo stellt und
selbst beantwortet, ließe sich insofern auch umdrehen: Jener innere Zustand wird
„wirklich“ mitgeteilt, weil er so gute Bücher schreibt. Oder wie es Nietzsche selbst
an anderer Stelle im Aphorismus „G u t s c h r e i b e n l e r n e n “ in Menschliches,
Allzumenschliches, allerdings eindeutig ‚schreibskeptisch‘, in Worte fasst: „Besser
schreiben aber heisst […] immer Mittheilenswertheres erfinden und es wirklich
mittheilen können“.18 Es soll und kann im Folgenden aber nicht darum gehen,
eine alle Werkphasen Nietzsches berücksichtigende kohärente Theorie einer sich
rhetorisch mitteilenden Subjektivität zu rekonstruieren. Ich konzentriere mich
vielmehr auf die Frage, inwieweit Nietzsche das Rhetorische als ein (auto-)poieti-
sches Vermögen in Ansätzen schon in seiner Rhetorik-Vorlesung reflektiert.
In Carlo Michelstaedters eigensinnigem Entwurf einer sich u. a. von Nietzsche

herleitenden persuasiven Schreibpraxis wird, wie abschließend gezeigt werden


soll, diese in Nietzsches Rhetorik-Begriff angelegte ästhetische Dimension, die
sich auch schon bei Aristoteles findet, existentialphilosophisch gewendet. Im Bild
der Flamme findet bei Nietzsche wie bei Michelstaedter die Potenz zur Selbst-
erfindung im Medium selbstreferentieller Rhetorik einen hoch aporetischen Aus-
druck.

2 Nietzsches Rhetorik: Materialität, Möglichkeit,


Selbstreferenz
Nietzsches Darstellung der antiken Rhetorik erscheint auf einen ersten Blick zu
großen Stücken als Kompilation einschlägiger Rhetorik-Definitionen und zeitge-
nössischer Forschungsstimmen. Interessant ist der Vorlesungstext aber gerade
aufgrund der eigenwilligen Kombination und Verdichtung oder teilweisen Ver-
kürzung von altphilologischen, sprachphilosophischen und epistemologischen

Selbsterschaffung bereits vor-implementiert sind, sondern eher als creatio ex nihilo (vgl. dazu
Agamben, L’uomo senza contenuto, S. 89 f.).

18 MA II WS 87, KSA 2, 592, 24–26.


426 Sarah Scheibenberger

Fragestellungen, die ganz verschiedene Perspektiven auf den Begriff der Rhetorik
bieten. Als Technik der Persuasion etwa sei die Rhetorik als jene Kraft zu ver-
stehen, die auf expansive Wirkung und auf Installierung einer wahrheitsähn-
lichen dóxa statt auf Mitteilung einer epistéme aus ist.19 Mit der an anderer Stelle
wiederum metaphorisch vorgetragenen These von der grundsätzlichen Rhetorizi-
tät der Sprache, d. h. der Einebnung eines klaren Unterschieds von Sprachlehre

und Sprachkunst, wird scheinbar jeder Anspruch, der Sprache sprachlich Herr zu
werden, untergraben.20 Doch gibt es, wie Nietzsche bekanntlich Gustav Gerbers
Die Sprache als Kunst21 entnimmt, „keine unrhetorische ‚Natürlichkeit‘ der Spra-
che“22, sondern immer nur tropische und figurative Ausdrucksformen,23 denen –
so eines von Nietzsches Erklärungsmodellen – unbewusst ablaufende sinnesphy-
siologische Operationen zugrunde liegen, die auf eine Erhaltung der, um Scho-
penhauer zu paraphrasieren, ‚Ökonomie des Organismus‘ abzielen, dann scheint
sich die eingangs aufgeworfene Frage nach den Möglichkeiten eines sich mittels
des Rhetorischen realisierenden Selbstausdrucks auf einen ersten Blick zu erübri-
gen. Nietzsche betont denn auch immer wieder, dass der die Sprachgenese be-
wirkende Selbsterhaltungstrieb keiner des starken Einzelnen, sondern eher ein
Trieb der bedürftigen Masse ist, unsere Sprache also eine Art konformen Sprach-
körper darstellt und insofern für eine adäquate Konstitution von Subjektivität
ungeeignet zu sein scheint.
An exponierter Stelle, nämlich zu Beginn des § 3 über das „Verhältniß des
Rhetorischen zur Sprache“,24 geht Nietzsche kurz auf einen für meine Frage nach
dem Verhältnis zwischen rhetorischer Verfahrensweise, Selbstgestaltung und
Selbststeigerung folgenreichen Paradigmenwechsel ein, der sich als Übergang
vom gesprochenen zum geschriebenen Wort vollzogen habe.25 Als Lesende wollen
wir, so Nietzsche, „eine ganz andre Darstellungsform“26, gewissermaßen eine

19 Vgl. KGW II/4, 417–418.


20 Vgl. KGW II/4, 425 ff.

21 Gerber, Gustav, Die Sprache als Kunst, Bd. 1, Bromberg 1871.


22 KGW II/4, 425.
23 KGW II/4, 426: „Alle Wörter aber sind an sich u. von Anfang 〈an〉, in Bezug auf ihre Bedeutung
Tropen.“
24 KGW II/4, 425.
25 Der Verweis auf die klassische These von Jacques Derrida (in La pharmacie de Platon [1968],
in: ders., La Dissémination, Paris 1972, v. a. S. 170–172), die auf meine folgende Argumentation
allerdings nicht weiter anwendbar ist, ist an dieser Stelle unvermeidlich. Aus medientheoretischer
Perspektive interessant ist hier auch die an Friedrich Kittlers Reflexionen anschließende Studie
von Fietz, Rudolf, Medienphilosophie. Musik, Sprache und Schrift bei Friedrich Nietzsche, Würzburg
1992, v. a. S. 284 ff.

26 KGW II/4, 425.


„Ich trinke die Flammen in mich zurück, die aus mir brechen“ 427

Rhetorik des geschriebenen Wortes, die sich nicht wie in der griechischen Antike
unmittelbar in der „lauten Rede“,27 sondern in der „Vermittlung des Buches“28
vollziehe. Was Nietzsche auf einen ersten Blick als Niedergangsgeschichte von der
lebendigen, musikähnlichen Lautsprache der Griechen hin zu unserer Bevor-
zugung einer toten Schriftsprache zu begreifen scheint, erweist sich allerdings als
sehr viel komplexer, hält man eine Stelle aus dem ersten Paragraphen des Vor-
lesungsskriptes daneben, in dem Nietzsche scheinbar beiläufig einen – erst auf
einen zweiten Blick – bemerkenswerten „rein philosophisch[en]“29 Rhetorik-Be-
griff von Aristoteles rekonstruiert. Die ‚moderne‘ Rhetorik des geschriebenen
Wortes nämlich leitet Nietzsche indirekt von Aristoteles her, wenn er betont, schon
Aristoteles habe „den Vortrag […] nur als Accidenz betrachtet wissen“30 wollen, ja
in erster Linie „an das Rhetorische in Büchern“31 gedacht – ähnlich wie er in der
Poetik „die Wirkung des Drama’s von der Aufführung unabhängig denkt“32. Aristo-
teles habe, schreibt er von der Rhetorik, daher eine „Leserede“33 im Sinn, ihm gehe
es um das Schauen, d. i. das Lesen, nicht um das „λέγειν“34, das Reden, das
Vortragen und Zuhören. Was Aristoteles im dritten Buch der Rhetorik als Merkmal
einer guten Rede anführt: ein plastisches Vor-Augen-Führen (prò ommáton
poieīn),35 nimmt Nietzsche hier gewissermaßen wörtlich. Die Evidenz – im Wort-
sinne: das Ersichtliche, Augenscheinliche, und mithin Überzeugende – der Spra-
che tritt offenbar am wirkungsvollsten „in Büchern“36 zu Tage.
Ein effektiver Einsatz rhetorischer Hilfsmittel hätte sich nach Nietzsche heute
offenbar daran auszurichten, dass diese angesichts veränderter Rezeptionswei-
sen, nämlich eines aufsteigenden Primats des Auges gegenüber dem Ohr, ihre
persuasive Kraft in der Lektüre mehr als im Vortrag entfalten können. Die Sub-
jektivität der Stimme, der Rhythmus des gesprochenen Wortes oder die Körper-
lichkeit des sich in der unwiderruflichen Lautrede verausgabenden Redners
spielen in einer Rhetorik des geschriebenen Wortes naturgemäß eine geringe
Rolle, verlangen „eine ganz andre Darstellungsform“. Die Materialität des Textes,
Typographie oder Interpunktion übernehmen nun eine analoge Funktion, sub-

27 KGW II/4, 425.


28 KGW II/4, 425. Zur Buchmetaphorik vgl. Anm. 58.
29 KGW II/4, 419.
30 KGW II/4, 419.
31 KGW II/4, 419.
32 KGW II/4, 419.
33 KGW II/4, 423.
34 KGW II/4, 420.
35 Aristoteles, Rhet. 1410b33–36, 1411b22–29.
36 KGW II/4, 419.
428 Sarah Scheibenberger

stituieren gewissermaßen den Körper des Redners.37 Während der Redner seine
Kräfte in einem dem Zufall unterworfenen Moment verschwendet (der „Vortrag
[…] nur als Accidenz“), versucht der Schreiber den Spielraum des Zufälligen auf
ein Minimum zu reduzieren und zugleich in beharrlicher Auseinandersetzung mit
dem Sprachsystem die diesem innewohnenden Aporien beizubehalten – statt sie
wie der Redner im Vortrag etwa durch Gestik und Mimik aufzulösen.
Dass Nietzsche den theoretischen Charakter des Aristotelischen Rhetorik-
Begriffs so hervorhebt, ist zunächst nicht weiter verwunderlich, zitiert er doch
gleich zu Beginn des Abschnittes über Aristoteles dessen bekannte Definition aus
dem ersten Buch der Rhetorik, nach welcher die Aufgabe der Rhetorik in einem
theorésai (Rhet. I 2, 1) bestehe, darin, bei jeder Sache „‚alles mögliche Wahr-
scheinliche und Überzeugende‘“38 zu betrachten und zu erkennen. Damit referiert
Nietzsche Bekanntes. Während die Rhetorik-Handbücher, derer er sich für die
Ausarbeitung seiner Vorlesungen großzügig bediente, den Zusammenhang zwi-
schen dem Vermögen (dýnamis) der Erkenntnis des Glaublichen und der Kunst
(téchne, ars) des Vortrags in Aristoteles’ Rhetorik-Begriff differenziert herausgear-
beitet hatten,39 erscheint in Nietzsches gedrängter Darstellung der Übergang von
der Rhetorik als einer Potenz hin zur Rhetorik als einem kunstmäßigen Ausfüh-
rungsakt jedoch als problematisch: „Also weder ὲπιστήμη noch τέχνη, sondern
δύναμις die aber zu einer τέχνη erhoben werden könne.“40
Dieser pointierten Definition nach ist die Rhetorik als eine – gegenüber dem
Vortrag und damit auch gegenüber einem konkreten Wirklichkeitsbezug – sich
selbstentfaltende Potenz zu verstehen; wovon deren mögliche ‚Erhebung‘ zu einer
téchne, ihre Aktualisierung, abhängt, führt Nietzsche nicht weiter aus. „Es genügt
τὸ ὲνδεχ.[όμενον] πιθανόν zu erkennen, zu schauen“,41 wie er resümiert. Wenn
Nietzsche betont, Aristoteles habe hier „an das Rhetorische in Büchern“ gedacht,
und auch später wiederholt von einer „Vermittlung des Buches“ – und nicht etwa
von einer Vermittlung der Schrift oder des Geschriebenen (als Gegensatz oder, im

37 In MA II WS 110, KSA 2, 600, 1–7, wird Nietzsche später erneut über „S c h r e i b s t i l und
S p r e c h s t i l “ reflektieren: „Die Kunst, zu schreiben, verlangt vor Allem E r s a t z m i t t e l für die
Ausdrucksarten, welche nur der Redende hat: also für Gebärden, Accente, Töne, Blicke. Desshalb
ist der Schreibstil ein ganz anderer, als der Sprechstil, und etwas viel Schwierigeres: – er will mit
Wenigerem sich ebenso verständlich machen wie jener.“
38 KGW II/4, 419.
39 Für die bibliographischen Angaben der von Nietzsche konsultierten einschlägigen Werke von
u. a. Richard Volkmann, Anton Westermann oder Leonhard Spengel, sei verwiesen auf Most /

Fries, Die Quellen von Nietzsches Rhetorik-Vorlesung, S. 22 f.  

40 KGW II/4, 419.


41 KGW II/4, 420.
„Ich trinke die Flammen in mich zurück, die aus mir brechen“ 429

Sinne Derridas, als Supplement42 des „Gesprochenen“43) – schreibt, unterstreicht


er die Materialität und Plastizität44 der Rhetorik als einer dýnamis, die hier offen-
bar alles andere als eine rein abstrakte Fähigkeit der Auffindung von Argumenten
(inventio) meint. Das Buch, das vermittelnd wirken und Wirkung erzeugen „kön-
ne“, ist hier vielmehr als eine Art generatives Depot zu verstehen – nicht nur einer
aufgespeicherten Überzeugungskraft, die sich in einer bestimmten Lektüre entfa-
chen, entladen und auf den Leser überspringen kann, sondern primär der auf-
bewahrten Erfahrung eines ästhetischen Schreibens-(Sich-selbst-)Lesens.
Das „Rhetorische in Büchern“ ist aber dýnamis nicht nur, weil es wie Dynamit
plötzlich eine bestimmte Überzeugungskraft freisetzen kann, sondern auch inso-
fern, als diese Möglichkeit der Freisetzung konstitutiv auch die Möglichkeit ihrer
nicht absehbaren, unendlich aufgeschobenen oder vielleicht nie eintretenden
Aktualisierung einschließt.45 Diese, mit Agamben, unwägbare „potenza di non“46
(„Potenz nicht zu“) kann, wenn sie als Unzugänglichkeit und Kommunikations-
verweigerung inszeniert wird, eine gewisse Aura des Gefährlichen und Exklusi-
ven hervorrufen, das sich aufspart für den rechten Augenblick und den rechten
Leser. Doch erschöpft sich „das Rhetorische in Büchern“, anders als im Vortrag,
nie in diesem. Prozesse des Umschreibens, Wiederlesens und Nachdenkens er-
möglichen, noch einmal mit Agamben gesprochen, „un conservarsi […] della
potenza“47 („eine Selbstbewahrung der Potenz“) und eröffnen einen Handlungs-
raum des Verstehen-Könnens und des Affiziert-werden-Könnens – ein Raum, in
dem sich, wie sich später zeigen wird, für Carlo Michelstaedter die persönliche
„persuasione“ realisieren kann und durch den die „rettorica“ ihre einzige Legiti-
mierung erfährt.
Dieser Übergang vom Rhetorischen als Potenz hin zu seiner Aktualisierung ist
aber hier, dies sei wiederholt, nicht wirkungsästhetisch allein als Übergreifen-
Können auf einen bestimmten Leser zu verstehen. Wie Aristoteles in Nietzsches
Interpretation mit der Bestimmung des Rhetorischen als dýnamis auch „nicht das

42 Vgl. dazu Derrida, La pharmacie de Platon, S. 195.


43 KGW II/4, 425.
44 Nietzsches eigener invasiver Umgang mit Büchern, in denen Eselsohren, Karikaturen, Kom-
mentare, Bekundungen von Beifall und Missfallen, Anstreichungen oder andere Spuren von
seiner persönlichen Lektüreerfahrung plastisch zeugen, ist hinlänglich bekannt und in Campioni,
Giuliano u. a. (Hrsg.), Nietzsches persönliche Bibliothek, Berlin / New York 2003, bestens dokumen-

tiert.
45 Zum Verhältnis zwischen dýnamis und adynamía vgl. Agamben, Giorgio, Homo sacer, Turin
1995, S. 51–52; sowie ders., Bartleby o della contingenza, in: Deleuze, Gilles / Agamben, Giorgio,
Bartleby. La formula della creazione, Macerata 1993, S. 64–79, v. a. S. 79.
46 Agamben, Homo sacer, S. 52.
47 Agamben, Homo sacer, S. 53.
430 Sarah Scheibenberger

πείθειν sondern das, was man für eine Sache vorbringen könne“48 im Blick hat, d. h.  

nicht die auf ein konkretes Gegenüber gerichtete Überredung, sondern ein formales
Einüben, ein Ausbilden des Schreiben-Könnens, von Fähigkeiten der Sprachbeherr-
schung und sprachlichen Gestaltungskraft. Die Grenzen zwischen der rhetorisch
aufgefächerten Darstellung von ‚Sachen‘ und ihrer vermeintlich vorgängigen Er-
kenntnis aber scheinen hier zu verwischen, es geht vielmehr um ein immer deutli-
cheres Erkennen möglicher Fiktionen (im Wortsinne von Gestaltungen) von Sachen
in der Sprache. Oder noch einmal anders formuliert: Es geht um die Ausbildung
eines rhetorisch gesteigerten Möglichkeitssinnes, der zu einer Technik der Welt-
konstitution und einer – sich etwa im Sich-selbst-Lesen realisierenden – retro-
aktiven Selbsterweiterung und Selbsterkennntis ‚erhoben werden kann‘.
Die Überzeugungskraft des „Rhetorische[n] in Büchern“ wäre demnach eine
sich weitgehend intentionslos einstellende Wirkung jener Autopoiesis, jener rhe-
torischen Subjektivität, welche der persuasiven Kraft vorhergeht, oder genauer:
mit der sie zusammenfällt. Mit anderen Worten: Wie der „freigewordne Intellekt“,
von dem in Ueber Wahrheit und Lüge die Rede ist, nur in und von einem Medium
realisiert werden kann, ist die sich in einer konkreten Schreibpraxis konstituieren-
de rhetorische Subjektivität von der Technik ihrer Herstellung – der Kulturtechnik
des Buch-Schreibens – ebensowenig zu trennen wie von überlieferten und ein-
zuübenden Formen des Wissens, wie z. B. von der Rhetorik im Sinne einer
tradierten und erlernbaren Figuren- und Tropenlehre.49 Als dýnamis, als ein Ver-
fügen über unerschöpfbare plastische Möglichkeiten der Sprache, beruht „das
Rhetorische in Büchern“ also schon immer auf einem Wissen um Eigengesetzlich-
keit und Wirkungsweisen der Sprache, auf téchnai. Verliert es sich nicht im bloß
virtuosen Sprachgebrauch, in einem selbstzweckhaften Exzess der Technik, und
vermag es, „zu einer τέχνη erhoben“, eine dynamische Bedeutungsfülle und
Vielgestaltigkeit zu generieren und in einer beweglichen intertextuellen Verfasst-
heit eine rhetorische „freie plastische Kraft“50 zu entfalten: Dann kann, indem
textübergreifend operierende rhetorische Tropen und Figuren fortwährend neue,
gewissermaßen räumlich-plastisch wirkende Konstellationen eingehen und sich
so wechselweise intensivieren und fortgesetzt Übertragungsleistungen vorführen,
der Form nach – Rhetorik als „rein formale Kunst“51 –, wie es in der Rhetorik-

48 KGW II/4, 419.


49 Vgl. dazu Agamben, L’uomo senza contenuto, S. 90: „Jedes Mal, wenn etwas hervor-gebracht
wird, d. h. aus der Verbergung und aus dem Nicht-Sein ins Licht der Gegenwart gebracht wird,

haben wir es mit ποίησις, Hervor-bringung, Poesie zu tun“ (meine Übersetzung). Diesen Eintritt in
die Präsenz leistet die Technik (vgl. ebd.).
50 KGW II/4, 432. Vgl. dazu auch Anm. 97.
51 KGW II/4, 419.
„Ich trinke die Flammen in mich zurück, die aus mir brechen“ 431

Vorlesung heißt, „eine subjektive Erregung u. Annahme auf andere übertragen“52


werden. Ein wirkliches Übergreifen-Können der Leserede verstehe ich mit Nietz-
sche insofern nicht primär als intentionalen Akt, als praxis und bloßen Ausdruck
eines – physiologischen – Lebenstriebes, und das Rhetorische nicht als Instrukti-
on, sondern als eine den Leser erfassende Ansteckung durch das evidente Vorbild
einer beispielhaften Autopoiesis. Wirkungsvoll wäre eine solche Leserede also in
erster Linie durch den Eindruck eines eigentlichen sprachlichen Selbstausdrucks.
Michelstaedter wird einer solchen rhetorischen Verfahrensweise den ethischen
Auftrag der Anstiftung zu exemplarischer Nachfolge übertragen. Doch dazu spä-
ter ausführlicher.
Um diesen Gedanken weiterzuführen: Der rhetorisch-schriftliche Selbstaus-
druck liegt offenbar in der Möglichkeit der Schrift begründet, ihre Materialität zu
exponieren und zugleich zu verhüllen. Denn das Erwecken eines vertraut wirken-
den ‚inneren‘ Bildes im Leser, das jenem eingangs mit Ecce Homo zitierten
„inneren Zustand“ irgendwie entspräche, würde einer Schreibtechnik bedürfen,
die sich selbst als Technik auch vergessen zu machen vermöchte.53 Eine Notiz
Nietzsches aus jenem Quartheft, in das er seine von Fragmenten über Lesen und
Schreiben flankierte Rhetorik-Vorlesung einträgt,54 scheint eben darauf hin-
zudeuten: „Eine gute Schrift wird, wo sie wi r k t , vergessen machen, dass sie
litterarisch ist; sie wirkt als Wort und Handlung eines Freundes“.55
Die „gute Schrift“, die ihre „litterarische“, d. h. hier: ihre litterale Verfasst-

heit,56 ihren Schriftcharakter zurückzudrängen vermöchte zugunsten einer ver-


meintlich unmittelbaren Wirkung, würde aber selbst, mit Derrida, auf einer
metaphorischen Vermittlung („sie wirkt als Wort und Handlung eines Freundes“),
auf der Vortäuschung einer Innerlichkeit erzeugenden Ansprache beruhen.57
Nietzsches auffallend häufige Rede von Buch und Büchern in seinen Rhetorik-
Vorlesungen – und später v. a. auch in Menschliches, Allzumenschliches – lässt
weiter den Verdacht aufkommen, man habe es hier mit dem Buch selbst als mit

52 KGW II/4, 426.


53 Nach dem Quintilianschen Prinzip des ars est celare artem; vgl. dazu eingehend D’Angelo,
Paolo, Ars est celare artem. Da Aristotele a Duchamp, Macerata 2005, v. a. das Kapitel „Pars est
eloquentiae eloquentiam abscondere“, S. 25–36.
54 Vgl. Most / Fries, Die Quellen von Nietzsches Rhetorik-Vorlesung, S. 20.
55 NL 1874, KSA 7, 37 [4], 830, 5–7.
56 Vgl. dazu Kittler, Friedrich, Mousa oder Litteratura, in: Kittler, Friedrich / Ofak, Ana (Hrsg.),
Medien vor den Medien, München 2007, S. 17–29.
57 Vgl. Derrida, Jacques, Das Ende des Buches und der Anfang der Schrift [1967], in: ders., Die
différance. Ausgewählte Texte, mit einer Einleitung hrsg. von Peter Engelmann, Stuttgart 2004,
S. 31–67, hier S. 45 f.

432 Sarah Scheibenberger

einer Art Ur-Metapher zu tun,58 die die Funktionen des Rhetorischen übernimmt.
Das „Rhetorische in Büchern“ wäre damit also erstens wörtlich zu verstehen als
Vorrangigkeit der Materialität: Das Buch verstanden nicht mehr als bloßes Objekt,
als geistiges Behältnis von Wissen und von Gedanken anderer, sondern als in
seiner Materialität für sich sprechende Entität, als eigene Lebensform, die fortwäh-
rend neue Bedeutungen generieren kann. Im übertragenen Sinne steht es zwei-
tens für eine Subjektivität, die erst durch ihre Materialität (selbst-)schöpferisch
wird, oder, noch einmal in der Metapher des Lesen-Schreibens formuliert, die erst
indem sie zu schreiben vermag „immer Mittheilenswertheres [zu] erfinden“59 ver-
steht und ‚sich‘ damit wirklich mitzuteilen, sich-lesend-schreibend selbst zu
erkennen oder zu (er-)finden (im Doppelsinne von inventio) lernt.60
Die Metapher der Flamme kann als exemplarischer Ausdruck gelten für eine
solche sich im unaufhörlichen Schreiben-Lesen vollziehende Fiktion einer stetig
anwachsenden rhetorischen Subjektivität, wie sie jener bekannte Vers aus Zara-
thustras „Nachtlied“ prägnant zu beschreiben scheint: „ich lebe in meinem
eignen Lichte, ich trinke die Flammen in mich zurück, die aus mir brechen“.61
Autoreferentiell ist diese rhetorische Subjektivität nicht in dem Sinne, dass sie sich
ständig explizit selbst zum Thema hätte, sondern insofern sie eine den eigenen
Bedürfnissen vemeintlich entsprechende Wirklichkeit herstellt, in der alles im
„Glanz der metaphorischen Anschauungen“62 und „mit dem Prachtgewande der
Rhetorik umhüllt“63 erscheint und auch das lesende Gegenüber zum Gegenstand
von Übertragungen, von weiterer Metaphernproduktion wird („eine subjektive
Erregung u. Annahme auf andere übertragen“64). Wie die Flamme besteht die
ambivalente Lebendigkeit dieses rhetorischen Subjekts in einem Flackern zwi-
schen Aufflammen (Selbstidealisierung) und Erlöschen (Diffusion in einzelne

58 Vgl. dazu Blumenberg, Hans, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/Main 1989, v. a. S. 9–16.
59 MA II WS 87, KSA 2, 592, 25.
60 Das Schreiben-Können ermöglicht ein Aus-sich-heraus-Können, ein Sichtbar-Machen, dessen
fiktionalen Charakter Nietzsche betont, z. B. in einer Notiz aus dem Entstehungszeitraum der
Rhetorik-Vorlesungen: „Man denke, 〈was für〉 ein complicirtes Wesen der Mensch ist: wie unend-
lich schwer für ihn, sich wirklich auszudrücken: Die meisten Menschen bleiben eben in sich
kleben und können nicht heraus, das ist aber Sklaverei. Sprechen- und Schreibenlernen heisst
freiwerden: zugegeben dass nicht immer das Beste dabei herauskommt; aber es ist gut, dass es
sichtbar wird, dass es Wort und Farbe findet. Barbar ist einer, der sich nicht ausdrücken kann, der
sklavenhaft plappert. – ‚Schöner Stil‘ freilich ist nichts als ein neuer Käfig, ein vergoldetes
Barbarenthum“ (37[8], KGW III/4, 458).
61 Za II, KSA 4, 136, 16–17.
62 WL 2, KSA 1, 889, 20.
63 SGT, KSA 1, 534, 30 f.

64 KGW II/4, 426.


„Ich trinke die Flammen in mich zurück, die aus mir brechen“ 433

Masken des Selbst), womit es sich performativ die Trugbildhaftigkeit der Sprache
aneignet und zwischen Wahrheit (einer Selbstfindung) und Schein (einer Selbst-
erfindung) oszilliert.65 Doch über einen einfachen Dualismus zwischen Wahrheit
und Schein hinausgehend, sucht das auf diesen Seiten skizzierte rhetorisch-
ästhetische Subjekt der Sprache in beständiger Einübung und rhetorischer Steige-
rung (auto-)poietische, Wahrnehmen und Empfinden intensivierende Qualitäten
und eine selbst- und wirklichkeitskonstitutive Kraft abzugewinnen.66
Michelstaedters tragische Konzeption der persuasione beruht auch darauf,
dass er einerseits dualistische Konstruktionen wie die zwischen Rhetorik und
Philosophie beizubehalten sucht, andererseits eine Vielzahl rhetorisch-literari-
scher Register zieht und so in den Dissonanzen zwischen Performanz der rettorica
und Idee der persuasione den Zustand des Überzeugt-Seins allenfalls als intensive
präsente Absenz erzeugen kann.

3 Michelstaedters Überzeugung und Rhetorik als


Techniken des Selbst
Carlo Michelstaedter67 hat Nietzsches Rhetorik-Vorlesungen nicht kennen kön-
nen. 1887 in Görz – damals Österreich-Ungarn, seit 1918 Italien zugehörig – in

65 Vgl. dazu Blumenberg, Hans, Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik, in:
ders., Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981, S. 104–136, S. 105:
„Der Mensch als das reiche Wesen verfügt über seinen Besitz an Wahrheit mit den Wirkungs-
mitteln des rhetorischen ornatus. Der Mensch als das arme Wesen bedarf der Rhetorik als der
Kunst des Scheins, die ihn mit seinem Mangel an Wahrheit fertigwerden läßt.“
66 Zu einer anthropologischen Bestimmung der Rhetorik und zum Zusammenhang zwischen
rhetorischer Subjektivität und dem Gedanken des Übermenschen vgl. Robling, Franz-Hubert,
Plastische Kraft. Versuch über rhetorische Subjektivität bei Nietzsche, in: Nietzsche-Studien, Jg. 25,
Berlin / New York 1996, S. 87–98, v. a. S. 98.
67 Hierzulande ist Michelstaedter weitgehend unbekannt. Der erste und noch immer lesenswerte
deutschsprachige Aufsatz über ihn von Ranke, Joachim, Das Denken Carlo Michelstaedters. Ein
Beitrag zur italienischen Existenzphilosophie, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Jg. 15,
Meisenheim/Glan 1961, S. 101–123, gehört neben Sabine Mainbergers Nachwort zur deutschen
Übersetzung von Überzeugung und Rhetorik (Frankfurt/Main 1999, S. 154–174) bislang zu den
wenigen deutschen Beiträgen zu Michelstaedter. Auch einige wenige englischsprachige Studien
sind mittlerweile erschienen. Die italienische Michelstaedter-Forschung ist bei weitem am stärks-
ten vertreten. Im Folgenden eine Auswahl einschlägiger und im Hinblick auf das hier behandelte
Thema besonders relevanter Titel: Der Philosoph Massimo Cacciari hat früh schon auf die
‚Aktualität‘ Michelstaedters hingewiesen, etwa in: ders., Interpretazione di Michelstaedter, in:
Rivista di estetica, Jg. XXVI, Nr. 22, Turin 1986, S. 21–36. Giuseppe D’Acunto macht in „L’‚ultimo
434 Sarah Scheibenberger

eine assimilierte jüdische, zweisprachige Familie hineingeboren, studierte Mi-


chelstaedter in Florenz, einem damaligen Brennpunkt des intellektuellen Regno
d’Italia, klassische Philologie und Philosophie am „Istituto di Studi Superiori“,
wo einige der renommiertesten Wissenschaftler Italiens unterrichteten. Von 1908
bis 1910 arbeitete er an seiner Dissertation La Persuasione e la Rettorica,68 am Tag
nach der Fertigstellung seiner Arbeit nahm er sich 23-jährig das Leben, was seine
unmittelbar darauf einsetzende Rezeption beschleunigte. La Persuasione e la
Rettorica erschien erstmals 1913 postum in Genua.69
Michelstaedters Denken ist unwegsam, auch wegen der Dunkelheit seiner
Darstellungsweise, die in einem paradoxen Verhältnis zu seiner Konzeption von
„persuasione“ und „rettorica“ zu stehen scheint, die sich aus dem intensiven
Studium von Aristoteles und Platon, aber auch von lateinischen Autoren, v. a.
von Cicero, herleitet und durch die immer wieder eine Auseinandersetzung auch
mit Schopenhauer und insbesondere mit Nietzsche hindurchscheint, die Michel-
staedter im Original hat lesen können. Außerdem lagen mehrere Werke Nietz-
sches schon vor 1900 in italienischer Übersetzung oder in Teilübersetzungen
vor.70 Die italienische Nietzsche-Rezeption setzte früh ein; von einem der Phi-
losophie-Professoren Michelstaedters, Felice Tocco, stammt eine der ersten Mo-

presente‘ della parola in Michelstaedter“, einem Kapitel seiner ästhetischen Studie La parola
nuova. Momenti di riflessione filosofica sulla parola nel Novecento, Soveria Mannelli 2006, S. 7–28,
v. a. den sprachphilosophischen Aspekt von Michelstaedters Denken stark. Eine der ersten Mono-
graphien, die verschiedene Dimensionen der Philosophie Michelstaedters tiefgehend behandelt,
ist La Rocca, Claudio, Nichilismo e retorica. Il pensiero di Carlo Michelstaedter, Pisa 1984. Detail-
lierte Überblicksdarstellungen zu Werk und Leben sind: Arbo, Alessandro, Carlo Michelstaedter,
Pordenone 1996; und Taviani, Giovanna, Michelstaedter, Palermo 2002.
68 Die erste kritische Ausgabe erscheint 1982: Michelstaedter, Carlo, La persuasione e la rettorica,
hrsg. von Sergio Campailla, Mailand 1982. Michelstaedter wird bezeichnenderweise von Adelphi
verlegt, also von jenem Verlag, den Giorgio Colli und Mazzino Montinari für ihre kritische Nietz-
sche-Edition hatten gewinnen können. Zitiert wird die hervorragende Übersetzung von Sabine
Mainberger und Federico Gerratana: Michelstaedter, Carlo, Überzeugung und Rhetorik, Frankfurt/
Main 1999. Zitate aus anderen Texten Michelstaedters, die bis auf Überzeugung und Rhetorik und
die Gedichte leider bislang nicht auf Deutsch vorliegen, werden von mir selbst übersetzt.
69 Michelstaedter, Carlo, La persuasione e la rettorica, hrsg. von Vladimiro Arangio Ruiz, Genua
1913.
70 Vgl. dazu ausführlich Fazio, Domenico M., Die Geschichte der italienischen Nietzsche-Über-
setzungen (1898–2002), in: Knoche, Michael u. a. (Hrsg.), Zur unterirdischen Wirkung von Dynamit.

Vom Umgang Nietzsches mit Büchern zum Umgang mit Nietzsches Büchern, Wiesbaden 2006,
S. 113–126; und ders., Nietzsche in Italien. Ein historischer Abriß der Nietzsche-Rezeption in Italien
anhand der Übersetzungen seiner Schriften (1872–1940), in: Nietzsche-Studien, Jg. 22, Berlin / New
York 1993, S. 304–319.
„Ich trinke die Flammen in mich zurück, die aus mir brechen“ 435

nographien über Nietzsche, die diesen besonders als „poeta“ wertschätzt.71 Nicht
vergessen werden darf, dass Nietzsche selbst schon etwa ab Beginn seiner Basler
Jahre mit einer Reihe von Deutschen rege Korrespondenz unterhielt, die sich
zeitweise (wie seine Freunde Erwin Rohde und Carl von Gersdorff) oder für
längere Zeit (wie Malwida von Meysenbug, die Nietzsche auch ins Italienische
übersetzte) in Florenz niedergelassen hatten und dort vielfältige Beziehungen
pflegten, so dass Nietzsche schon 1872 eine italienische Übersetzung der Geburt
der Tragödie in Florenz vorzubereiten versuchte,72 wo auch die erste Rezension
seiner Tragödienschrift erschienen war.73 Florenz war zu Beginn des 20. Jahr-
hunderts eines der intellektuellen Zentren Italiens, Bezugspunkt für das damalige
Mitteleuropa und geprägt von einer lebendigen Kultur, die insbesondere in den
Caféhäusern und in Zeitschriften wie „Leonardo“ und „La Voce“ von Giuseppe
Prezzolini und Giovanni Papini, der früh schon Nietzsche rezipierte und zudem
einen der ersten Nachrufe auf Michelstaedter verfasste, stattfand.
Im Folgenden sollen unter der leitenden Fragestellung, ob und inwiefern eine
Verwandtschaft auszumachen ist zwischen Michelstaedters Rhetorik-Begriff und
dem oben ansatzweise von Nietzsche her entwickelten Verständnis der Rhetorik
als eines Mediums, in dem sich eine Autopoiesis vollziehen kann, die Haupt-
gedanken von Michelstaedters Dissertationsschrift knapp skizziert werden. Mi-
chelstaedter entwickelt, wie Nietzsche, als studierter Altphilologe seinen Rhe-
torik-Begriff zunächst in Auseinandersetzung mit den klassischen Autoren,
besonders mit Cicero und Aristoteles, erweitert ihn aber dahingehend, dass er
nicht einen bestimmten Sprachgebrauch, sondern das Wesen der Sprache selbst
umfasst – nicht unähnlich der von Nietzsche im § 3 der Darstellung der antiken
Rhetorik radikalisierten Gerberschen These von der allgemeinen Rhetorizität der

71 Tocco, Felice, Federico Nietzsche, Rom 1897. Frühe Auseinandersetzungen mit Nietzsche, die
Michelstaedter hat wahrnehmen können, sind besonders: Zoccoli, Ettore G., Federico Nietzsche.
La filosofia religiosa, la morale, l’estetica, Modena 1898; Papini, Giovanni, Federico Nietzsche, in:
ders., Il crepuscolo dei filosofi, Mailand 1906, S. 185–212; Rensi, Giuseppe, L’„immoralismo“ di
Federico Nietzsche, in: Rivista ligure di scienze, lettere ed arti, 28. Jg., Nr. 5, Genua 1906, S. 287–322;
oder die Übersetzungen von Pavolini, Paolo Emilio, Dalle poesie di Federico Nietzsche, in: Rivista
di Letteratura Tedesca, 3. Jg., Nr. 3, Florenz 1909, S. 117–121.
72 Am 5. Oktober 1872 schreibt Nietzsche an Gustav Krug (KSB 4, Nr. 259, S. 60, Z. 39–49):
„Inzwischen wird bei Genf mit rührender Wuth meine ‚Tragödiengeburt‘ ins Französische über-
setzt. […] Auch die i t a l i ä n i s c h e Übersetzung wird in Florenz vorbereitet. / An den Überset-
zungen hoffe ich die geehrten S p r a c h e n selbst zu lernen. Denn mit meinem Italiänisch steht es
böse. / Mit meinem letzten italiänischen Seufzer schliesse ich // Addio amico! // Federigo.“ Dem
Nachbericht zufolge ist allerdings „eine italienische Übersetzung von GT […] nicht ermittelt“ (KGB
II 7/2, 88).
73 „Die Geburt der Tragödie“ [Rezension], in: Rivista europea, April 1872, S. 402.
436 Sarah Scheibenberger

Sprache. Auch treffen sich beide Rhetorik-Begriffe in der Auffassung, die Sprache
als Rhetorik täusche eine natürliche Adäquation zwischen Wirklichkeit und
sprachlichem Medium vor – eine Illusion, der nach beider Einschätzung v. a. die
Wissenschaft aufsitzt – und sei damit der exemplarische Ausdruck für ein lebens-
erhaltendes Prinzip.74 Michelstaedters Bewertung dieser Leistung der „camicia
rettorica“,75 des alles „umhüllenden und verhüllenden Mantel[s] der Rhetorik“76,
fällt jedoch negativ aus, denn das Leben, das die Rhetorik zu erhalten sucht, ist
für ihn ein bloßes Überleben in vorgeschriebenen Formen.
Wie anhand einer punktuellen Lektüre der Darstellung der antiken Rhetorik
gezeigt wurde, interessiert sich Nietzsche – bei aller Kritik, die er am Schein-
Charakter der Rhetorik stets auch übt – anscheinend dennoch mit Aristoteles für
das Rhetorische als dýnamis, als gegenüber konkreten Zwecken (dem Überreden
anderer) weitgehend unabhängige ‚Potenz zu und nicht zu‘, die – verkörpert im
Buch – eine Art Möglichkeitsraum, ein ‚Bereits-Noch nicht‘ eines freien Selbst-
ausdrucks darzustellen vermag. Michelstaedter beurteilt die Rhetorik dagegen
grundsätzlich negativ. Doch scheint sich Michelstaedter an der Rhetorik v. a. als
an einer nur zweckmäßigen Überredungstechnik zu stören.77 Als Überzeugungs-
Mittel nämlich ist sie ihm zufolge gewaltsamer Ausdruck und Funktion einer
differierenden (im Sinne von: immer weiter von uns weg führenden) Sorge, die
sich überhaupt erst im Sprachverlauf, im Diskurs herstellt und damit die Möglich-
keit einer selbstgenügsamen Präsenz, eines intentionslosen Überzeugt-Seins un-
endlich aufschiebt und verhindert. Paradoxerweise benennt Michelstaedter die-
sen idealen außersprachlichen Zustand eines Bei-sich-Seins mit dem Begriff der
persuasione, der dem Wortsinne nach aber nichts anderes als ‚Über-reden‘, oder

74 Michelstaedters Überzeugung und Rhetorik weist so zahlreiche Konsonanzen mit Nietzsches


Ueber Wahrheit und Lüge auf, dass die Vermutung naheliegt, Michelstaedter habe Nietzsches
Frühschrift gekannt. Ein genauer Nachweis von Konkordanzen steht allerdings noch aus.
75 Michelstaedter, Überzeugung und Rhetorik, S. 125.
76 Nietzsches Brief an Paul Deussen aus dem Februar 1870, KSB 3, Nr. 61, S. 100, Z. 43 f.

77 Michelstaedter mag hier u. a. auch an die ironisch gefärbte Schrift L’Arte di Persuadere

(Florenz 1907) des einflussreichen Florentiner Schriftstellers und Verlegers Giuseppe Prezzolini
gedacht haben, in der praktische Anleitungen – etwa Ausführungen zu grammatischen Rafines-
sen oder zum Einsatz von Figuren und Tropen – zur stärkenden (Selbst-)Überzeugung und sozial
verträglichen Lüge gegeben werden, derer eine Gesellschaft nach Prezzolini geradzu lebensnot-
wendig bedürfe, da sie keine nackten Wahrheiten vertrage. Michelstaedters Rhetorik-Begriff
richtet sich gegen einen solchen Einsatz von Sprache, sein Begriff von persuasione meint gerade
das Gegenteil von Prezzolinis Überzeugungskunst. Sein ambivalentes Verhältnis gegenüber der
Rhetorik mag auch vom Einfluss des in Fragen der Moral rigorosen Vaters herrühren, dessen
kleine Schrift über die Lüge sich in Michelstaedters Bibliothek erhalten hat: Michelstaedter,
Alberto, La menzogna. Una conferenza, Udine 1895.
„Ich trinke die Flammen in mich zurück, die aus mir brechen“ 437

genauer: einen ‚durch (Zu-)Reden‘ erzeugten Zustand meint. Schon der Bezeich-
nung dieses außersprachlichen Zustandes ist also die Aporie eingeschrieben,
dass die persuasione offenbar nur durch die Rhetorik zu haben ist, wobei die
rettorica bei Michelstaedter zugleich exemplum und Chiffre ist für alles Systemati-
sche und Zweckmäßige, für Konvention und Gleichförmigkeit. Gleich zu Beginn
seiner Dissertationsschrift reflektiert Michelstaedter diese Aporie, deren Stigma
letztlich tragischerweise auch sein eigener Text trägt:

Ich weiß es: Ich spreche, weil ich spreche, aber ich werde niemanden überzeugen; und das ist
Unredlichkeit – aber die Rhetorik ἀναγκάζει με ταῦτα δρᾶν βίᾳ78 – oder mit anderen Worten:
„Wenn einer in eine bittere Frucht gebissen hat, muß er sie auch wieder ausspucken.“79

Obwohl ihm ausnahmslos alle Rhetorik als Illusion eines individuellen Aus-
drucks gilt, versucht Michelstaedter – darin Hofmannsthals Lord Chandos ähn-
lich – „con le parole guerra alle parole“,80 mit den Worten Krieg gegen die Worte
zu führen, wohl wissend: „ich werde niemanden überzeugen“, d. h. niemandem  

die Aufgabe der Selbstüberzeugung und damit Selbsterzeugung und Selbst-


erkenntnis abnehmen können, die für Michelstaedter jenseits der Rhetorik der
Sprache läge. In dem Moment, in dem Michelstaedters Text von dem unsagbaren
Zustand der persuasione spricht, wird dieser unvermeidlich selbst Rhetorik und
Lüge, worin die auch auf Nietzsches Ueber Wahrheit und Lüge zurückweisende
Antinomie seiner Konzeption gründet.
Die persuasione wäre allenfalls als das schlechthin Andere der „rettorica“ im
Medium der Rhetorik sichtbar zu machen. Es bedürfte folglich einer vergegen-
wärtigenden Schreib- und Lesepraxis, die, der Dichtung ähnlich, scheinbar unver-
mittelt „die Nähe der fernsten Dinge“81 herzustellen wüsste und „die fernen Dinge
wie die nahen sieht“.82 Michelstaedter scheint einer solchen ästhetischen Vergegen-
wärtigung nahezukommen durch eine polyphonische und konstellativ verfahrende
Schreibpraxis der Verknüpfung von Fragmentiertem, Einzelnem und Allgemei-
nem, die – in diesem Punkt an Nietzsches Vision des großen Mittags erinnernd83 –

78 Aus Sophokles, Elektra, 620: „zwingt mich mit Gewalt, das zu tun“ (zitiert nach Gerratana /
Mainberger 1999, S. 144).
79 Michelstaedter, Überzeugung und Rhetorik, S. 9.
80 Diese programmatische Formel stellt Michelstaedter den Appendici critiche, dem kritischen
Anhang seiner Dissertationsschrift, voraus: Vgl. Michelstaedter, Carlo, La persuasione e la rettori-
ca. Appendici critiche, hrsg. von Sergio Campailla, Mailand 1995, S. 143.
81 Michelstaedter, Überzeugung und Rhetorik, S. 54.
82 Michelstaedter, Überzeugung und Rhetorik, S. 118 (meine Hervorhebung).
83 Vgl. dazu Agambens Nietzsche-Interpretation in L’uomo senza contenuto, S. 137–138. Bezeich-
nenderweise stellt sich Nietzsches ‚großer Mittag‘ im Zarathustra, darin Michelstaedters Ideal der
persuasione vergleichbar, plötzlich und in der Vermittlung durch „Flammen-Zungen“ her: „Oh
438 Sarah Scheibenberger

einen quasi außergeschichtlichen, einzigen konzentrierten Augenblick zu simulie-


ren sucht, der zum Vor-bild einer neuen Lebenshaltung („nuova vita“)84 wird. Zum
Vorbild, insofern Michelstaedter – auch mithilfe von seine Texte flankierenden
Zeichnungen und Karikaturen – auf das Sichtbarmachen des Unsagbaren im Text
aus ist, womit wir uns gewissermaßen zurückverwiesen sehen auf Nietzsches
Auslegung des Rhetorik-Begriffs von Aristoteles, der die Bedeutung des Lesens,
Schauens und Erkennens im Gegensatz zum Reden und Hören betont.85 Zum Vor-
bild wird eine solche Schreibweise aber auch insofern, als sie paradigmatisch86
eine starke dynamische Lebensform verbildlichen und erfahrbar machen soll, die
sich der Festlegung auf eine starre gesellschaftliche Person (im Sinne von persona,
Maske) und der eigenen Funktionalisierung in einer ‚Gesellschaft der Gemeinen‘
(„koinonía kakȏn“87) entzieht, indem sie alle Gemeinplätze („tópoi koinoí“88) und
„termini technici“89 ablegt, derer nur die Schwachen bedürfen.90 Es gilt, in einer

gesegnete Stunde des Blitzes! Oh Geheimniss vor Mittag! – Laufende Feuer will ich einst noch aus
ihnen machen und Verkünder mit Flammen-Zungen: – / – verkünden sollen sie einst noch mit
Flammen-Zungen: Er kommt, er ist nahe, d e r g r o s s e M i t t a g !“ (Za III Von der verkleinernden
Tugend 3, KSA 4, 217, 9–13).
84 Dantes Lebens- und Stilideal der „vita nuova“ greifen viele Autoren der Spätmoderne als
utopischen Ausdruck wieder auf, etwa Ernst Bloch, Rudolf Borchardt und Walter Benjamin.
85 Vgl. dazu Blanchot, Maurice, Nietzsche und die fragmentarische Schrift [1969], in: Hamacher,
Werner (Hrsg.), Nietzsche aus Frankreich. Essays von Georges Bataille, Maurice Blanchot, Jacques
Derrida, Michel Foucault, Pierre Klossowski, Philippe Lacoue-Labarthe, Jean-Luc Nancy und Ber-
nard Pautrat, Hamburg 2007, S. 71–98, hier S. 91: „und was ist Schreiben anderes, als Sehen
lassen, erscheinen machen, an die Oberfläche bringen“.
86 Schon Ranke, Das Denken Carlo Michelstaedters, S. 113–114, bemerkt in diesem Sinne: „es gilt,
[…] ‚fac[endo] di se stesso fiamma‘ – selbst zur leuchtenden und erleuchtenden Fackel zu werden,
im ‚essere persuaso…persuadere [gli altri]‘ […] und so kraft der durch die eigene äußerste Ent-
schlossenheit des Nicht-forderns bewirkten Erschütterung und Katharsis der anderen die einzige
existenzielle Kommunikation zu begründen, die bei Michelstaedter überhaupt eine Rolle spielt.“
87 Vgl. u. a. Michelstaedter, Überzeugung und Rhetorik, S. 93 u. S. 130.

88 Michelstaedter, Überzeugung und Rhetorik, S. 125.


89 Michelstaedter, Überzeugung und Rhetorik, S. 124.
90 In der Metapher der Maschine, deren begrenzte Tastatur nur vorgeschriebene Ausdrucks-
formen zulässt, fallen bei Michelstaedter Sprach-, Schreib- und Lebenskonvention, die sich
wechselseitig bedingen, sinnfällig zusammen (vgl. Michelstaedter, Überzeugung und Rhetorik,
S. 125). Eine Selbstermächtigung qua Erfindung einer eigenen Sprache scheint sich folglich am
angemessensten in einem unverwechselbaren Medium ausdrücken zu können: nämlich in der
eigenen Handschrift; vgl. dazu Anm. 105 zum Sich-lesend-Schreiben. Zu Michelstaedters Beden-
ken gegen die Ablösung aller Handarbeit durch Maschinen vgl. Michelstaedter, Überzeugung und
Rhetorik, S. 111 f. Zur Materialität und Körperlichkeit des Schreibakts sowie zur poetologischen

Selbstreflexion des Schreibens bei Nietzsche vgl. einschlägig Stingelin, Martin, „UNSER SCHREIB-
ZEUG ARBEITET MIT AN UNSEREN GEDANKEN“. Die poetologische Reflexion der Schreibwerk-
„Ich trinke die Flammen in mich zurück, die aus mir brechen“ 439

neuen Sprache „sich selbst hervor[zu]bringen, um den individuellen Wert zu haben,


der […] in sich überzeugt ist“:91

das Leben besteht eben darin, alles selbst hervorzubringen, darin, sich an keinen Weg
anzupassen; die Sprache ist nicht da, sondern du mußt sie schaffen, du mußt das Mittel
schaffen, du mußt alles schaffen: um dein Leben als deines zu haben.92

Die Erfindung einer eigenen Sprache, die einer solchen Selbstaneignung gleich-
kommen soll, verläuft durch die ästhetische Vergegenwärtigung, das Sichtbar-
Machen der „Möglichkeit der Beziehungsfülle“ von Worten, die „im Reden dunkel
und unscharf bleiben“ – in der Schrift aber offenbar „deutlich“ und zu „lebendi-
gen Körpern“ werden können,93 die nicht über sich hinaus verweisen, sondern in
denen „das Innere mitgeteilt“94 wird und zu plastischem Ausdruck kommt. In
diesem Zustand der persuasione sind für Michelstaedter aber „Potentialität und
Aktualität dasselbe“:95 Eine „Möglichkeit der Bedeutungsfülle“ – die dýnamis –
der Sprache, die sich in einer nur die (Selbst-)Überredung und (Selbst-)Täuschung
zum Zwecke der Selbsterhaltung verfolgenden Rhetorik nicht realisieren kann,
soll sich auf dem Umweg über ein Schreib- und Leseverfahren – zumindest als
Desiderat – plötzlich einstellen können,96 das durch Analogie („die fernen Dinge
wie die nahen sehen“) statt diskursiv, selbstreferentiell statt mimetisch operiert
und Intensität statt Dauer, eine Zweckmäßigkeit ohne Zweck statt Intentionalität
erzeugt. Michelstaedter scheint, darin Nietzsche nicht unähnlich, an eine ideale
Ununterscheidbarkeit zwischen Inhalt und Form, Leben und Kunst zu denken,
die gleichermaßen in einem Prozess der Ästhetisierung, der Wiedergewinnung

zeuge bei Georg Christoph Lichtenberg und Friedrich Nietzsche, in: Zanetti, Sandro (Hrsg.), Schrei-
ben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, Berlin 2012, S. 283–304.
91 Michelstaedter, Überzeugung und Rhetorik, S. 40.
92 Michelstaedter, Überzeugung und Rhetorik, S. 66 f. 

93 Michelstaedter, Überzeugung und Rhetorik, S. 120 (meine Hervorhebung). Diese „Beziehungs-


fülle“ erzielt Michelstaedter u. a. auch dadurch, dass er alle erdenklichen Sprachregister zieht: Er

schreibt auf Latein, auf Altgriechisch oder auf Deutsch, in verschiedenen italienischen Dialekten,
er integriert Graphiken und Formeln, collagiert Zitate, schreibt aphoristisch, anekdotisch, in
Dialogform oder expressionistisch etc.
94 Michelstaedter, Überzeugung und Rhetorik, S. 119.
95 Michelstaedter, Überzeugung und Rhetorik, S. 17.
96 Michelstaedters Formel für den negativen Weg, auf dem sich die per-suasione einstellen kann,
ist „ti energeías es argían“ (Michelstaedter, Überzeugung und Rhetorik, S. 55; „durch Tätigkeit zur
Ruhe“).
440 Sarah Scheibenberger

von „Beziehungsfülle“ begriffen sind, in dem sich auch konventionelle Katego-


rien und Verhältnisse wie das zwischen Autor und Werk verflüssigen.97
Für die Darstellung eines solchen konzentrierten Zustandes wählt Michel-
staedter – in La Persuasione e la Rettorica, aber auch in seinen Gedichten – mit
Vorliebe selbstbezügliche, auch von Nietzsche vielfach variierte, Metaphern der
Einsamkeit wie das Meer oder die Wüste, die aus sich heraus bedeutsam und
schöpferisch sind.98 Besonders aber die Metapher der Flamme zieht sich wie ein
Leitmotiv durch Text- und Bildzeugnisse Michelstaedters. Im Lichtkegel der floren-
tinischen Öllampe, die Michelstaedter wiederholt zeichnet und in deren Schein er
abends schreibt, scheint ihm auch das zu beschreibende Papier aus sich heraus zu
leuchten, der Text sich selbst hervorzubringen.99 Die Flamme wird ihm zur auto-

97 Die Sprache, so Michelstaedter, ist „mit Blut [zu] tränken“ (Michelstaedter, Überzeugung und
Rhetorik, S. 122), das Wort „plasmare“ („gestalten“; von ‚plasma‘: ‚Blut‘) durchzieht wie ein Leit-
motiv auch seine Gedichte. Nietzsches Verständnis einer Rhetorik als „freie[r] p l a s t i s c h e [r]
Kraft“ (KGW II/4, 432) ist auch in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung von zentraler Bedeu-
tung, wo sie „jene Kraft“ bezeichnet, „aus sich heraus eigenartig zu wachsen“, alles „gleichsam
zu Blut um[zu]schaffen“ (UB II HL 1, KSA 1, 251, 5 f. u. 24).

98 Vgl. dazu Cacciari, Interpretazione di Michelstaedter, v. a. S. 28 f.


99 In Michelstaedters überlieferter persönlicher Bibliothek findet sich – von der Forschung,


soweit ich das überblicke, bislang unbeachtet – eine aus verschiedenen Gründen besonders
interessante Tuschezeichnung der „lampada fiorentina“. An den Rand einer Radierung Max
Klingers (Malerische Widmung, aus: Rettungen Ovidischer Opfer, Op. II/1, 1879), wiegergegeben in
der von Michelstaedter besessenen Künstlerbiographie von Max Schmid (3. Auflage, Bielefeld /
Leipzig 1906), zeichnet er eine kleine, übermäßig brennende und eine aufsteigende Rauchsäule
erzeugende Öllampe. Auf Klingers Radierung ist ein etwa gleich großer zweiarmiger Kerzenstän-
der abgebildet, die noch brennende Kerze ist nahezu heruntergebrannt und scheint ein letztes Mal
aufzuleuchten. Neben dem Kerzenständer liegen leere Bögen Papier, Feder, Kohle und Tuschnapf
bereit. Zwischen Klingers Kerze und Michelstaedters Lampe sind zwei gefaltete Hände, vermutlich
die des Malers selbst, zu sehen, die auf eine Ovid-Büste hin gerichtet sind, also interessanterweise
um Eingebung gerade vonseiten der Dichtkunst bitten. Die Gefährdetheit und Ambivalenz einer
glückenden Inspiration, die für Michelstaedter einen gesteigerten Selbstausdruck ermöglicht, im
gleichen Moment aber auch aufzuzehren droht, wird von ihm vielerorts reflektiert, besonders im
Bild der im Erlöschen begriffenen, ein letztes Mal hell aufleuchtenden Lampe. Ein weiteres
Kuriosum stellt Michelstaedters Überzeichnung oder Überschreibung eines zweiten Blattes Klin-
gers (Menzeladresse, 1881) dar, das mehrere Wassergottheiten zeigt, denen zwei große Götterhän-
de einen Felsblock auf die Schultern legen, auf dem in großen Lettern „Menzel“, der Name des
Malers Adolf Menzel, zu lesen ist. Michelstaedter zeichnet ein stilisiertes „Michlstaedter“ [sic]
darüber, darunter setzt er ein emblemartiges „M.“, das den Betrachter fast unweigerlich an das
Nietzsche-„N“ erinnern muss, das Van de Velde über dem Kamin im Salon des Nietzsche-Archivs
anbringt – welches wiederum die nicht weit entfernt stehende Nietzsche-Büste von Max Klinger
im Blick hat. Es ist gut möglich, dass Michelstaedter auch Reproduktionen des 1903 eingeweihten
Nietzsche-Salons kannte. Diese intermedialen Verweisspiele zeugen von einer hohen ästheti-
schen Sensibilität Michelstaedters und von einer beständigen Auseinandersetzung mit Vorbil-
„Ich trinke die Flammen in mich zurück, die aus mir brechen“ 441

poietischen Metapher eines sich selbst ansteckenden und intensivierenden Sich-


Lesens und -Schreibens, eines alles erfassenden „fiammeggiamento“,100 das auch
auf den Leser übergreifen können soll – freilich nur auf wenige auserwählte Leser,
die sich durch das in der Lektüre einsehbare Beispiel der Form nach (d. i. nicht-
epigonal) einen eigenen „erleuchteten Weg“101 zu erschließen wissen.

4 Schluss
Michelstaedters ambivalentes poetologisches und (auto-)poietisches Prinzip des
fare di se stesso fiamma, der Selbst-Entflammung, findet sich, wie deutlich werden
sollte, auch bei Nietzsche, etwa in dem Selbstvergleich mit einer Flamme, die
tragischerweise daran wächst, dass sie sich selbst verzehrt, oder mit anderen
Worten, die den Gedanken eines vermeintlich vorsprachlichen Individuellen des
Subjekts zugunsten einer in rhetorischer Steigerung erfundenen ‚mitteilenswerte-
ren‘ Subjektivität zurückdrängt. Pointiert heißt es in diesem Sinne in den bekann-
ten Versen des Gedichts Ecce homo aus dem Zyklus „Scherz, List und Rache“:
„Ungesättigt gleich der Flamme / Glühe und verzehr’ ich mich“.102 Die Flamme
lässt sich bei beiden Dichter-Philosophen auch als Verbildlichung eines unter-
schiedslosen Erfassens und Transfigurierens von Inhalt und Form, Philosophie
und Literatur, Leben und Kunst verstehen – „Licht wird Alles, was ich fasse“103 –,
das im Bemühen um Deutlichkeit aber auch in Blendung, bei rhetorischer Über-
frachtung in Unverständlichkeit oder konventionelle Phrase umzuschlagen droht.
Diesem der Sprache tief eingeprägten aporetischen Prinzip, das im Bild der Flam-
me anschaulich wird, begegnen Nietzsche wie Michelstaedter – auf verschiedene,

dern, mit denen er durch originelle Aneignung einzelner Formelemente und durch Überschrei-
bungen zu kommunizieren sucht. Die beiden besprochenen Blätter mit Michelstaedters Zeichnun-
gen sind einzusehen auf: http://www.michelstaedter.beniculturali.it/index.php?it/158/bibliote-
ca-michelstaedter-178–253 (letzter Aufruf am 05.07.2017), unter den Signaturen Bibl. Mich. 196 c
Inv. 299237 und Bibl. Mich. 196 d Inv. 299237.
100 Michelstaedter, Überzeugung und Rhetorik, S. 93.
101 Michelstaedter, Carlo, La via della salute e la voce della ΦΙΛΟΨΥΙΑ, in: ders., La melodia del
giovane divino. Pensieri – Racconti – Critiche, Mailand 2010, S. 108–111, hier S. 109: „jeder muss
sich den Weg aufs Neue selbst erschließen, dann wird er sich auf demselben erleuchteten Weg
wiederfinden, den die wenigen Auserwählten durchlaufen haben“ (meine Übersetzung). Sokra-
tes, v. a. aber Christus gelten Michelstaedter als exempla, die zu echter Selbstermächtigung (zur
persuasione), nicht zu bloßer Imitation, auffordern können sollen.
102 FW Vorspiel 62, KSA 3, 367, 16 f.

103 FW Vorspiel 62, KSA 3, 367, 18.


442 Sarah Scheibenberger

aber vergleichbare Weise – mit einer um Redlichkeit104 bemühten Darstellungs-


praxis, welche der Trugbildhaftigkeit der Sprache mit autoreflexiven Inszenie-
rungsstrategien und einer Bespielung der rhetorischen Klaviatur beizukommen
und ihr (auto-)poietische, Wahrnehmen und Empfinden intensivierende, d. h.  

ästhetische Qualitäten abzutrotzen sucht. In der schreibend-lesenden Selbstaus-


legung105 und in einer Praxis des Schreibens, die eine aus Dualismen bestehende
Wirklichkeit, die sich, gerade in der Dichtung, fortgesetzt invertieren und ver-
stärken, erst herstellt, scheint eine Einübung und Intensivierung einer Überlegen-
heit bzw. persuasione der rhetorisch erzeugten Subjektivität möglich. Der Funke
einer solchen Rede, in der die Mittel der Weltkonstitution und die Technik der
Selbsterzeugung aufgespeichert sind, kann für Nietzsche und Michelstaedter of-
fenbar am wirksamsten in einem späteren, bei beiden: postumen, lesenden Nach-
vollzug überspringen und sich fortsetzen, d. h. überzeugen.

104 Nach Nancy, Jean-Luc: „Redlichkeit ist und tut […] was ‚von selbst‘ überzeugt“, vgl. ders.,
„Unsre Redlichkeit!“ (Über Wahrheit im moralischen Sinn bei Nietzsche) [1980], in: Hamacher
(Hrsg.), Nietzsche aus Frankreich, S. 225–249, hier S. 236.
105 Michelstaedter, Carlo, Sfugge la vita. Taccuini e appunti, hrsg. von Angela Michelis, Turin
2004, S. 56 f.: „Wenn du aber den Stift zur Hand genommen hast, musst du zwangsweise dich

ausdrücken, […] und wenn du dich deutlicher ausdrücken möchtest, musst du deinen eigenen
Gedanken studieren und nach dem Ausdruck suchen“ (meine Übersetzung).
„Ich trinke die Flammen in mich zurück, die aus mir brechen“ 443

Abb. 1: Reproduktion einer Radierung Max Klingers mit Tuschezeichnung der „lampada
fiorentina“ von Carlo Michelstaedter, vgl. dazu Anm. 99 (Ministero dei beni e delle attività
culturali e del turismo – Biblioteca Statale Isontina di Gorizia – autorizzazione alla riproduzione
n. prot. 1735 dd. 27.07.2015).
Ann-Christin Bolay
„eine durch und durch poetische,
künstlerische Natur“: Zu Ernst Bertrams und
Theobald Zieglers Rezeption des Dichters
Nietzsche

Abstract: “eine durch und durch poetische, künstlerische Natur”: On Ernst


Bertram’s and Theobald Ziegler’s reception of Nietzsche as a poet. The paper
compares two monographs on Nietzsche, written by Theobald Ziegler (Nietzsche,
1900) and Ernst Bertram (Nietzsche. Versuch einer Mythologie, 1918), published by
Georg Bondi in Berlin. Both authors aim at portraying Nietzsche not only as a
philosopher, but also as a poet. Ziegler’s monograph on Nietzsche tries to define
his being a poet mainly as an aesthetic way out of an existential crisis, explaining
Nietzsche’s popularity by his poetic approach to philosophical questions. Bert-
ram’s work, however, transcends the boundaries of a scientifically oriented bio-
graphy. He does so primarily by imitating Nietzsche’s narrative techniques. In this
way, Bertram transfers Nietzsche’s role both as a poet and as a scientist to
himself.

1
Im Abstand von knapp zwei Jahrzehnten publizierte der Verlag Georg Bondi in
Berlin zwei Biographien über Nietzsche: Eine 1900 erschienene Studie des Phi-
losophen und Pädagogen Theobald Ziegler, der an der Kaiser-Wilhelms-Univer-
sität in Straßburg ordentlicher Professor war, trug den schlichten Titel Friedrich
Nietzsche.1 Sie bildete den ersten Band der Reihe Vorkämpfer des Jahrhunderts2
und ging auf Vorlesungen zurück, die Ziegler 1897/98 gehalten hatte.3 Die zweite

1 Ziegler, Theobald, Friedrich Nietzsche, Berlin 1900 (= Vorkämpfer des Jahrhunderts. Eine Samm-
lung von Biographien, Bd. 1).
2 Es erschienen zeitgleich zwei weitere Bände: Louis, Rudolf, Franz Liszt, Berlin 1900 (= Vor-
kämpfer des Jahrhunderts. Eine Sammlung von Biographien, Bd. 2) und Roloff, Gustav, Napoleon,
Berlin 1900 (= Vorkämpfer des Jahrhunderts. Eine Sammlung von Biographien, Bd. 3).
3 Vgl. Ziegler, Friedrich Nietzsche, S. VII. Sie sei als „Ergänzung“ eines früheren Werkes zu
betrachten, dem 1899 bei Bondi erschienenen Band Die geistigen und socialen Strömungen des

DOI 10.1515/9783110474374-019
446 Ann-Christin Bolay

Studie, Ernst Bertrams Monographie Nietzsche. Versuch einer Mythologie, wurde


im Jahr 1918 publiziert.4
Der Literaturwissenschaftler Bertram ist vor allem als Sympathisant des
Kreises um den Dichter Stefan George bekannt, zu dem er über Saladin Schmitt
und Friedrich Gundolf, besonders intensiv jedoch über Ernst Glöckner in Ver-
bindung stand.5 Als ‚Haus-Verlag‘ des Kreises hatte Bondi sowohl die Werkaus-
gabe Georges im Programm als auch die Reihe Werke der Wissenschaft aus dem
Kreise der Blätter für die Kunst, zu der Bertrams Nietzsche zählte.6 Die Ausrichtung
auf George ist Bertrams Buch insofern erkennbar eingeschrieben als es das Signet
des George-Periodikums Blätter für die Kunst trägt. Im Umfeld Georges bildete
Bertrams Schrift einen Höhepunkt der Nietzsche-Verehrung.7 Nietzsche wurde im
George-Kreis u. a. deshalb geschätzt, weil er fachwissenschaftliche Grenzen eben-

so überschritt wie die strikte Trennung von Wissenschaft und Dichtung. Diese
Grenzüberschreitung ist auch für den Kreis selbst in höchstem Maße charakteris-
tisch.8 Die wissenschaftlichen Werke, die mit dem Signet der Blätter für die Kunst
erschienen, standen per se unter dem Verdacht, Wissenschaft in einem dichteri-
schen Umfeld zu betreiben und gegen die wissenschaftlichen Standards der Zeit

neunzehnten Jahrhunderts, Berlin 1899 (= Das neunzehnte Jahrhundert in Deutschlands Entwick-


lung, Bd. 1).
4 Bertram, Ernst, Nietzsche. Versuch einer Mythologie, Berlin 1918 (= Werke der Wissenschaft aus
dem Kreise der Blätter für die Kunst).
5 Mit Ernst Glöckner verband Bertram eine intensive Freundschafts- und Liebesbeziehung. Zu
Glöckner vgl. Braungart, Wolfgang, Glöckner, Ernst [Artikel], in: Aurnhammer, Achim u. a. (Hrsg.),

Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch, 2. Auflage, Berlin / Boston 2016, Bd. 3, S. 1379–1382.
Vgl. außerdem Glöckner, Ernst, Begegnung mit Stefan George. Auszüge aus Briefen und Tagebü-
chern 1913–1934, hrsg. v. Friedrich Adam, Heidelberg 1972.
6 Vgl. Kolk, Rainer, Wissenschaft [Artikel], in: Aurnhammer u. a. (Hrsg.), Stefan George und sein

Kreis, Bd. 2, S. 585–606, bes. S. 594–599.


7 Bekannt ist auch Stefan Georges 1900 entstandenes Zeitgedicht NIETZSCHE (in: George, Stefan,
Sämtliche Werke in 18 Bänden, Bd. VI/VII: Der Siebente Ring, Stuttgart 1986, S. 12 f.). Vgl. zum

Verhältnis des George-Kreises zu Nietzsche: Weber, Frank, Die Bedeutung Nietzsches für Stefan
George und seinen Kreis, Frankfurt/Main u. a. 1989 (= Europäische Hochschulschriften, Reihe I:

Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 1140), S. 109–178; Zöfel, Gerhard, Die Wirkung des Dichters.
Mythologie und Hermeneutik in der Literaturwissenschaft um Stefan George, Frankfurt/Main u. a.  

1987 (= Europäische Hochschulschriften, Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 986), S. 190–
195.
8 Vgl. zum Verhältnis des George-Kreises zur Wissenschaft die beiden Sammelbände: Böschen-
stein, Bernhard u. a. (Hrsg.), Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf

der Wissenschaft, Berlin / New York 2005; und Schlieben, Barbara u. a. (Hrsg.), Geschichtsbilder im

George-Kreis. Wege zur Wissenschaft, Göttingen 2004.


„eine durch und durch poetische, künstlerische Natur“ 447

gerichtet zu sein.9 Nicht zuletzt stand Nietzsches Geburt der Tragödie (1872) dem
Kreis Pate für die Abwendung von einer tatsachengläubigen, vom Positivismus
geprägten Wissenschaft.10 Obwohl sich Bertram in dieser Tradition positionierte,
diente seine Monographie aber auch wissenschaftlichen Zwecken: 1919 wurde sie
als Habilitationsschrift an der Universität Bonn angenommen.11
Die Biographen Ziegler und Bertram verfolgen das Ziel, Nietzsche nicht nur
als Philosophen, sondern auch als Dichter zu porträtieren. Im Gegensatz zu
Ziegler geht Bertram dabei allerdings über eine reine Darstellung von Leben und
Werk hinaus, indem er Nietzsche erzählerisch imitiert und die Grenzen der his-
torischen Biographie transgrediert. So überträgt Bertram die Doppelrolle Nietz-
sches als Wissenschaftler und Dichter auch auf sich selbst.
Im Zentrum meiner Ausführungen stehen die inhaltlichen Aspekte und narra-
tiven Verfahren von Bertrams Monographie, die auf den Dichter Nietzsche Bezug
nehmen. Aufschlussreich sind hierfür auch der Entstehungskontext und die
Genese des Textes. Zieglers Monographie, über deren Entstehungskontext kaum
etwas bekannt ist und zu der keine Forschung vorliegt, wird punktuell verglei-
chend herangezogen.12
Eine auffällige Parallele der Reihe Vorkämpfer des Jahrhunderts zu den Werken
der Wissenschaft aus dem Kreise der Blätter für die Kunst konstatiert bereits Franzis-
ka Mayer. Die Bücher seien historischen Persönlichkeiten gewidmet, deren Bedeu-
tung für die Zukunft nutzbar gemacht werden sollte.13 Bei Zieglers Monographie
verdeutlicht dies der Reihentitel: Im Kontext der Publikationsreihe wird Nietzsche
zu einem Vorkämpfer stilisiert.14 Ziegler begründet diese Zuschreibung damit, dass

9 Exemplarisch macht Ernst Osterkamp diesen Vorwurf an Friedrich Gundolf deutlich: Oster-
kamp, Ernst, Friedrich Gundolf zwischen Kunst und Wissenschaft. Zur Problematik eines Germa-
nisten aus dem George-Kreis, in: König, Christoph / Lämmert, Eberhard (Hrsg.), Literaturwissen-
schaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925, Frankfurt/Main 1993, S. 177–198.
10 Vgl. dazu Kolk, Wissenschaft [Artikel], S. 588.
11 Vgl. zur Vita Bertrams: Böschenstein, Bernhard, Bertram, Ernst [Artikel], in: Aurnhammer u. a.

(Hrsg.), Stefan George und sein Kreis, Bd. 3, S. 1278–1281.


12 Verwiesen sei auf einen Nachruf von Binder, Hermann, Theobald Ziegler als Erzieher, in: Der
Schwäbische Bund. Eine Monatsschrift aus Oberdeutschland, Jg. 2/1, Stuttgart 1919, S. 230–236;
sowie auf die Rezensionen von Grimm, Eduard, Aus der neueren Literatur über Nietzsche, in:
Protestantische Monatshefte. Neue Folge der Protestantischen Kirchenzeitung, Jg. 5/1, Leipzig /
Berlin 1901, S. 324–330; und Menzer, Paul, Rez. Theobald Ziegler, Friedrich Nietzsche, in: Deutsche
Litteraturzeitung, Jg. 10/52, Berlin 1899, Sp. 1948 f.

13 Mayer, Franziska, „Ausreichende Geldmittel und eine fundamentale Bildung.“ Georg Bondis
verlegerisches Profil, in: George-Jahrbuch, Jg. 9, Berlin / Boston 2012, S. 113–136, hier S. 135.
14 Im Zentrum von Zieglers wissenschaftlicher Tätigkeit, so fasst es ein Nachruf zusammen, habe
der „ganze Mensch“ in seiner „Totalität, Harmonie und Universalität“ gestanden; Ziegler habe
448 Ann-Christin Bolay

Nietzsche den Individualismus theoretisch neu begründet habe und sein Name mit
dieser Bewegung „als der eines Vorkämpfers in der Geschichte des Geisteslebens“
verbunden bleibe.15 Nach Mayer handelt es sich bei Bertrams Nietzsche ebenso wie
bei anderen Werken der Wissenschaft des George-Kreises um die Darstellung einer
„zentralen Figur der (Kultur-)Geschichte, deren Funktionalisierung die Rolle
Georges selbst“ widerspiegelt.16 Bertrams Rezeption des Dichters Nietzsche wurde
in der Forschung registriert, aber kaum detailliert aufgezeigt. Heinz Raschel ver-
weist darauf, dass für Bertram die Perspektive Georges auf Nietzsche bestimmend
ist, d. h. nicht seine Philosophie im Vordergrund steht, sondern „die sog. Jünger-

schaft Nietzsches und der Entwurf einer neuen Welt“.17 Caitríona Ní Dhúill betont
den Aspekt der imitatio: Auffällig sei Bertrams „Nachahmung des Nietzsche’schen
Prosastils“. Das „biographische Objekt dient dem Biographen als Quelle. Seine
Texte liefern das Material und die Begriffe für die Darstellung“.18 Bernhard Bös-
chenstein hebt ebenfalls hervor, dass Bertram Nietzsche stärker als Dichter denn
als Philosophen rezipierte. Nach Böschenstein tritt Bertram selbst als Dichter auf,
der „eigene Lieblingsthemen als Kristallisationspunkte“ einsetzt.19 Mehrere Kapi-
tel des Buches, so Böschenstein, seien „poetische Ausarbeitungen, Ausschmü-
ckungen, Ausweitungen des Dichters Bertram“. Die Methode Bertrams bestehe in
einem „poetischen, von subjektiven Kombinationen und Assoziationen geleiteten
Verfahren, das die Grenze zwischen Wissenschaft und Dichtung willentlich über-
schreitet“.20 Mit dieser Methode verfahre Bertram „entschieden subjektiv“: Er
dichte „über Nietzsche hinaus“21 und verhandle Themen, die allein auf seine
„dichterische Phantasie“ zurückzuführen seien.22 Böschenstein zeigt auch, dass es
ebendieses poetische Verfahren war, das Thomas Mann an dem Buch so faszinier-

den Menschen zu einem sittlichen wie glücklichen Menschen erziehen wollen. Vgl. Buchenau,
Artur, Theobald Ziegler, in: Kant-Studien, Jg. 23/1–3, Berlin 1919, S. 503–506, hier S. 506.
15 Ziegler, Friedrich Nietzsche, S. 201.
16 Mayer, Georg Bondis verlegerisches Profil, S. 135.
17 Diese kämen besonders in der Geburt der Tragödie und im Zarathustra zum Ausdruck. Vgl.
Raschel, Heinz, Das Nietzsche-Bild im George-Kreis. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen
Mythologeme, Berlin 1984 (= Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 12), S. 157.
18 Ní Dhúill, Caitríona, Der Kanon des Heroischen: Ernst Bertrams Nietzsche. Versuch einer
Mythologie, in: Hernecker, Wilhelm (Hrsg.), Die Biographie. Beiträge zu ihrer Geschichte, Berlin /
New York 2009, S. 123–151, hier S. 131.
19 Böschenstein, Bernhard, Ernst Bertram, in: ders. u. a. (Hrsg.), Wissenschaftler im George-Kreis,

Berlin / New York 2005, S. 187–197, hier S. 187.


20 Böschenstein, Ernst Bertram, S. 187 f.

21 Böschenstein, Ernst Bertram, S. 192.


22 Böschenstein, Ernst Bertram, S. 191. Böschenstein hebt hier vor allem die Kapitel Nachsom-
mer, Lorrain und Portofino hervor.
„eine durch und durch poetische, künstlerische Natur“ 449

te. Thomas Mann las Bertrams Nietzsche als Roman, in dem er eine „reiche stoff-
liche, thematische Ausbeute“23 für seinen Doktor Faustus (1947) fand. Anna Maria
Arrighetti deutet Bertrams Prinzip der Iteration als musikalisches Verfahren, das
sowohl Themen als auch Motive und Zitate immer wieder aufgreift und dadurch ein
komplexes Netz von aufeinander bezogenen Verweisen etabliert.24 Zugleich ahme
Bertram dadurch Nietzsches eigene Leitmotivtechnik nach.25

2
Die wichtigsten Korrespondenzen, die über die Genese von Bertrams Monographie
und damit auch über sein Verständnis von Nietzsche Auskunft geben, hat Raschel
im Anhang seiner Studie publiziert.26 Sie zeigen, wie stark das Buch inhaltlich von
George beeinflusst war. Der Anstoß zum Verfassen des Buches ging allerdings von
Ernst Glöckner aus, der Bertram die Arbeit angesichts von dessen Kriegsuntaug-
lichkeit als „Kriegs- und Liebesdienst“27 nahelegte. Glöckner riet Bertram Weih-
nachten 1914, sein Leben einem „großen Ziel“28 zu widmen, und schlug ihm daher
eine Arbeit über Nietzsche vor, in der er sich selbst verwirklichen sollte: „In
Nietzsche findest Du Dich wie in keinem: schreibe Dich nieder und Du wirst das
beste Werk über Nietzsche schreiben.“29 In diesem Aufruf, die eigene Person zum
impliziten Gegenstand eines werkbiographischen Textes über Nietzsche zu ma-
chen, artikulierte sich auch das Problem von Bertrams mangelnder philosophi-
scher Kompetenz: Er solle nicht einwenden, dass ihm der „philosophische Teil
nicht läge“, denn, so Glöckner, in Nietzsche nähme dieser Teil „den Raum nicht
[so] ein“, sei „nicht so bestimmend für ihn wie […] bei einem Kleineren“.30 Raschel

23 Böschenstein, Bernhard, Ernst Bertrams ‚Nietzsche‘ – eine Quelle für Thomas Manns ‚Doktor
Faustus‘, in: Euphorion, Jg. 72, Heidelberg 1978, S. 68–83, hier S. 82. Vgl. Mann, Thomas, Doktor
Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde, Stock-
holm 1947.
24 Arrighetti, Anna Maria, Mensch und Werk in kritischen Publikationen des George-Kreises. Zu
Friedrich Gundolfs ‚Goethe‘ und zu Ernst Bertrams ‚Nietzsche. Versuch einer Mythologie‘, Heidelberg
2008 (= Frankfurter Beiträge zur Germanistik, Bd. 48), hier S. 175.
25 Arrighetti, Mensch und Werk in kritischen Publikationen des George-Kreises, S. 176.
26 Raschel, Das Nietzsche-Bild, S. 171–213. Zum Teil sind die Briefe gekürzt.
27 Brief von Glöckner an Bertram, 22. 03. 1915, in: Raschel, Das Nietzsche-Bild, S. 184.
28 Brief von Glöckner an Bertram, Weihnachten 1914, in: Raschel, Das Nietzsche-Bild, S. 182.
29 Brief von Glöckner an Bertram, 05. 04. 1915, in: Raschel, Das Nietzsche-Bild, S. 184 f., hier

S. 184.
30 Brief von Glöckner an Bertram, 05. 04. 1915, in: Raschel, Das Nietzsche-Bild, S. 184 f., hier

S. 184.
450 Ann-Christin Bolay

deutet diese Worte so, dass Bertram nicht primär den Philosophen Nietzsche,
sondern vielmehr den Dichter und Verkünder einer neuen Welt im Sinne Georges
porträtieren sollte. Glöckners Vorschlag lag die Vorstellung zugrunde, dass nur
ein bedeutender Mensch es wert ist, in einer „großen Arbeit“31 werkbiographisch
gewürdigt zu werden. Außerdem betonte Glöckner, wie wichtig Georges Zustim-
mung sei. Er riet zur Kontaktaufnahme über den Mittelsmann Friedrich Gundolf:
„Sprich mit Gundolf, ob ein derartiges Thema zulässig ist.“32 Obwohl Bertram der
Idee, ein solches Buch unter der Aufsicht Georges zu verfassen, skeptisch gegen-
überstand, reichte er bereits ein Jahr später (Weihnachten 1915) einen ersten
Inhaltsplan bei Glöckner ein.33
Die Entwürfe des Textes im Frühjahr 1917 blieben von George selbst noch
weitgehend unkommentiert.34 Das „Haarsieb der Kreiszensur“35 war aber nötig,
damit der Band in die Reihe der Blätter für die Kunst aufgenommen werden
konnte, wozu vor allem Glöckner drängte: „Bondi ist der gegebene Ort für das
Buch.“36 Bertram scheint die Mühen nur Glöckner zuliebe auf sich genommen zu
haben: „[E]inzig der Gedanke, Dir eine große Freude zu machen, hat mich immer
und immer wieder aus der Müdigkeit und Skepsis herausgerissen.“37 Friedrich
Gundolf prüfte die weitgehend fertiggestellte Verschriftlichung ab Januar 1918
und schlug trotz enthusiastischen Lobs viele Änderungen vor.38 So bemängelte
Gundolf etwa, dass Bertram zu viele zweitrangige Autoren zitiere: „[M]ir scheint,
daß Ihr Buch, mit seiner Höhe des Geists und Tons, oft zu viel Kondeszendens im
Zitieren ephemerer Autoren zeigt, die unter dem Niveau des Gegenstandes sind
und als Zeugen nicht genug Wucht haben.“39 Bertram befolgte die Anweisungen

31 Brief von Glöckner an Bertram, 05. 04. 1915, in: Raschel, Das Nietzsche-Bild, S. 184 f., hier

S. 185. Glöckner deutet an, dass eine Schrift Bertrams über Thomas Mann diesem Anspruch nicht
genügen könne: „Der Gegenstand ist nicht groß genug.“
32 Brief von Glöckner an Bertram, 02. 01. 1915, in: Raschel, Das Nietzsche-Bild, S. 183.
33 Der Plan, der sich in Bertrams Nachlass im Deutschen Literaturarchiv in Marbach befindet, ist
abgedruckt bei Raschel, Das Nietzsche-Bild, S. 157 f.

34 Raschel, Das Nietzsche-Bild, S. 157.


35 Brief von Bertram an Glöckner, 02. 04. 1918, in: Raschel, Das Nietzsche-Bild, S. 205–207, hier
S. 205.
36 Brief von Glöckner an Bertram, 06. 02. 1918, in: Raschel, Das Nietzsche-Bild, S. 188 f., hier

S. 189.
37 Brief von Bertram an Glöckner, 09. 01. 1918, in: Raschel, Das Nietzsche-Bild, S. 197 f., hier

S. 198 (Kursivierung im Original).


38 Vgl. den Überblick bei Raschel, Das Nietzsche-Bild, S. 161–163.
39 Brief von Gundolf an Bertram, 29. 03. 1918, in: Raschel, Das Nietzsche-Bild, S. 177 f., hier S. 178.

Gundolf fährt fort: „z. B. in der Einleitung, Fontane und Meyer über den Vorzug der Dichtung vor
der Historie – es passt, bei aller relativen Hochschätzung dieser beiden Jahrzehnte=männer, ihr
Wort nicht in Nietzsche-probleme, zumal hier Aristoteles grosser Name die kräftigere Formel
„eine durch und durch poetische, künstlerische Natur“ 451

Gundolfs und löschte die meisten monierten Stellen und Namen, abgesehen von
verschiedenen Nennungen Conrad Ferdinand Meyers40 und von einem Verweis
auf Thomas Mann im Kapitel Venedig.41 Sein Kommentar dazu deutet auf die
Grenzen seiner Kompromissbereitschaft hin: „[I]ch sehe keinen Grund zu der mir
unangemessenen Hochnäsigkeit, den Namen z. B. C. F. Meyers als zu ‚ephemer‘
zu streichen; ich liebe und achte diese Namen.“42 Zwischen Februar und März
1918 las Bertram George in München einige Auszüge aus dem Nietzsche vor.
George äußerte sich weitgehend positiv, besonders über die Kapitel Prophetie43
und Sokrates44 und bezeichnete das Buch insgesamt als „auf die Art das schönste
gegenwärtig mögliche Bild Nietzsches“.45 Aus den Briefen von Bertram an Glöck-
ner geht jedoch auch hervor, dass George eine Reihe von Umarbeitungen wünsch-

erinnert: daß die Dichtung philosophischer sei als die Geschichte. In ‚Venedig‘ passt Thomas
Mann nicht recht (mit seiner obendrein unerquicklichsten, unechtesten Sache): zumal Byron
vergessen ist, mit Wagner der grösste Romantikergast Venedigs. Es ist für Ihr Buch ein Lob, daß
solche Erwähnungen darin dissonieren, auch wenn man höher von jenen Namen denkt als ich es
tue […] schon in einem Jahrzehnt werden Sie den Missklang selber ganz deutlich empfinden […]
abgesehen davon, daß Zitate nur dort steigern wo sie sich aufdrängen […] Mann, Fontane, Meyer
haben was Zufälliges […] Byron, Wagner, Nietzsche gehören in eine Schicksalsebene, wo jene gar
nichts zu suchen haben […] und nur aus gleicher Ebene klingen die Sätze ein.“
40 Bertram, Nietzsche, S. 42, 220, 238, 254, 266 u. 313.
41 Bertram, Nietzsche, S. 266. Thomas Mann zeigte sich erfreut und geehrt über seine Nennung.
Er schrieb in einem Dankesbrief an Bertram: „Die Stelle, dieses in so hoher Sphäre sich abspielen-
den Buches, an der wirklich mein Name aufklingt und dasteht, ist mir jedesmal wieder, wenn ich
dort anlange, und schon von Weitem, ein Schrecken. Lesen Sie das Personenverzeichnis herunter
oder auch nur das unter dem Buchstaben M, und gestehen Sie, daß mir, um ein Lieblingswort des
Textes zu brauchen, ‚hybride‘ Anwandlungen kommen könnten. Und doch, es durfte und musste
wohl sein, ich war hier wirklich einmal hoffähig“. Zit. n. einem Brief von Thomas Mann an
Bertram, München, 21. 09. 1918, in: Mann, Thomas, Thomas Mann an Ernst Bertram. Briefe aus den
Jahren 1910–1955, hrsg., kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Inge Jens, Pfullingen
1960, S. 74–78, hier S. 75. Allerdings betonte Bertram gegenüber Glöckner, dass die Stelle über
Thomas Mann gar nicht positiv gemeint sei. Vgl. den Brief von Bertram an Glöckner vom 06. 01.
1918, in: Raschel, Das Nietzsche-Bild, S. 207.
42 Brief von Bertram an Glöckner, 02. 04. 1918, in: Raschel, Das Nietzsche-Bild, S. 205–207, hier
S. 205.
43 Vgl. den Brief von Bertram an Glöckner vom 14. 02. 1918, in: Raschel, Das Nietzsche-Bild,
S. 200: „Gestern Abend, mit Mühe, George die ‚Prophetie‘ vorgelesen, er hatte sichtlich einen
Eindruck, erklärte es für das ‚Positivste‘, was er bis jetzt von dem Buche kenne.“
44 Vgl. den Brief von Bertram an Glöckner vom 26. 02. 1918, in: Raschel, Das Nietzsche-Bild,
S. 201: „Gestern Abend George ‚Sokrates‘ gelesen; es schien ihm den bisher stärksten Eindruck zu
machen, er nannte es wie Du das eigentlich zentrale Kapitel.“
45 Brief von Bertram an Glöckner, 15. 03. 1918, in: Raschel, Das Nietzsche-Bild, S. 203 f., hier

S. 203 (Kursivierung im Original).


452 Ann-Christin Bolay

te, u. a. das Löschen eines Zitates von Richard Dehmel.46 Bei Bertram löste die

Mitsprache Georges Unbehagen aus. So schrieb er im Januar 1918 resignativ an


Glöckner: „Es ist zuviel George in das Buch geraten, fürchte ich u. trotzdem
konnte ich es nicht verhindern, obwohl ich es von Anfang an sah.“47
Nicht unwesentlich hat auch Bertrams gutes Verhältnis zu Thomas Mann zum
Gelingen der Monographie und zu ihrem Druck beigetragen. Thomas Mann setzte
sich – völlig unabhängig vom George-Kreis – bei Bondi für Bertram ein und trieb
so die Drucklegung voran, die sich kriegsbedingt hinauszögerte.48 Thomas Mann
zeigte sich angetan von Bertrams „Verschmelzung der kritischen und der dichte-
rischen Sphäre“, die er als einen Prozess charakterisierte, der die „Grenzen von
Wissenschaft und Kunst“ verwische. Als Vorbild für diese Art des Schreibens
identifizierte er u. a. Nietzsches Erkenntnislyrik und bezeichnete den daraus ent-

stehenden „Buchtypus“ als „intellektualen Roman“.49


Nicht nur die Einschätzung von Thomas Mann, auch die Genese des Textes
verdeutlicht, dass Bertram Nietzsche vor allem als lyrischen Dichter schätzte. Wie
die Korrespondenz mit Glöckner zeigt, fühlte er sich zudem als Literaturwissen-
schaftler in der Beurteilung literarischer Aspekte kompetenter als in der Analyse
philosophischer Fragestellungen. Ergänzend kam hinzu, dass Bertram selbst
auch Lyrik verfasste. Einige seiner Gedichte nahm George in die 9. Folge (1910)50
und 10. Folge (1914)51 der Blätter für die Kunst auf. Bertram publizierte 1913 einen

46 Vgl. den Brief von Bertram an Glöckner vom 02. 04. 1918, in: Raschel, Das Nietzsche-Bild,
S. 205–207, hier S. 205.
47 Brief von Bertram an Glöckner, 06. 01. 1918, in: Raschel, Das Nietzsche-Bild, S. 197.
48 Vgl. hierzu die Briefe von Bertram an Glöckner vom 27. 03. 1918, 01. 04. 1918, 02. 04. 1918 und
den Brief von Georg Bondi an Thomas Mann vom 03. 04. 1918, in: Raschel, Das Nietzsche-Bild,
S. 204, 205–207 und 209.
49 Mann, Thomas, [Briefe aus Deutschland] [Erster Brief] [November 1922], in: ders., Gesammelte
Werke in dreizehn Bänden, hrsg. von Hans Bürgin / Peter de Mendelssohn, Bd. XIII: Nachträge,
Frankfurt/Main 1974, S. 260–272, hier S. 265. Das Zitat findet sich auch bei Böschenstein, Ernst
Bertrams ‚Nietzsche‘, S. 68.
50 [Bertram, Ernst], Orpheus, in: Blätter für die Kunst, Jg. 9, Berlin 1910, S. 149–151. Allerdings
handelte es sich um eine anonyme Veröffentlichung unter der Sammelbezeichnung „Jüngere
Dichter“ (siehe Inhaltsverzeichnis), zu denen auch Stefan George selbst zählte. Vgl. Kluncker,
Karlhans, Blätter für die Kunst. Zeitschrift der Dichterschule Stefan Georges, Frankfurt/Main 1974
(= Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 24), S. 226.
51 [Bertram, Ernst], Sibylle, in: Blätter für die Kunst, Jg. 10, Berlin 1914, S. 146. Diese Ausgabe der
Blätter für die Kunst bringt alle Gedichte und Versdramen anonym. In den „Nachrichten“ am Ende
des Bandes heißt es dazu: „Wie in den vorigen folgen einige so sind in dieser lezten alle verfasser-
namen als nicht unbedingt zur sache gehörig unterblieben.“ (ebd., S. 156). Die Anonymität lässt
den Einzelnen in der Gruppe verschwinden und gliedert dadurch auch Bertram in den Kreis ein.
„eine durch und durch poetische, künstlerische Natur“ 453

eigenen Gedichtband, der mehrfach neu aufgelegt wurde.52 Es folgten eine Reihe
weiterer Bände, die ihre Nähe zu George nicht leugneten.53

3
„Nietzsche ist Dichter“, schreibt Ziegler in seiner Einleitung, „nicht nur weil und
wo er Verse macht und Dramen entwirft, sondern mitten in seiner Prosa und
mitten in seinem Philosophieren“. Nietzsche sei der „Dichter unter den Philoso-
phen“, eine „durch und durch poetische, künstlerische Natur“; seine Schriften
und Gedanken hätten „den Glanz und den Schimmer, das Ansehen und den Reiz
von Kunstwerken“.54 Ziegler begründet damit die große Popularität Nietzsches
unter den Zeitgenossen: Seine Attraktivität bestehe gerade in seinem dichteri-
schen Zugang zum philosophischen Denken. Ziegler widmet dem Thema Nietz-
sche als Dichter ein ganzes Unterkapitel, das in den allgemeinen Teil zum Zara-
thustra eingegliedert ist.55 Dort leitet er Nietzsches Dichtergenese aus einem
Mangel ab: Sein Gesundheitszustand habe ihn daran gehindert, ein „Gelehrter“
zu werden – in der Argumentation Zieglers war ‚gelehrt-sein‘ aber nötig, um
Wissenschaft zu betreiben. In der Konsequenz schreibt Ziegler Nietzsche eine
Trotzreaktion zu: „nun gut, was er nicht kann, das will er auch nicht, und was er
nicht weiß, das erdichtet er; so macht er sich aus dem Mangel und der Schwäche
eine Tugend und einen Ruhm zurecht.“56 In dem Vermögen, „Eigenes“ zu schaf-
fen, anstatt nur Wissen zu erwerben, sieht Ziegler zugleich einen Ausdruck von
Nietzsches „ganz souveräne[r] Individualität“.57 Nietzsche habe das „Recht des
Lyrikers“ ausgeübt, „ganz persönlich und subjektiv sich und nur sich zu geben
und seine Innerlichkeit zur Darstellung zu bringen“.58 Ziegler exemplifiziert die
These seiner Einleitung zunächst an Epigrammen und Gedichten, sodann am

52 Bertram, Ernst, Gedichte, Leipzig 1913.


53 Vgl. nur eine Auswahl der weiteren Gedichtbände von Ernst Bertram: Straßburg. Ein Gedicht-
kreis, Leipzig 1920; Von deutschem Schicksal: Gedichte, Leipzig 1933; Griechenland. Ein Gedicht-
zyklus, Leipzig 1934 (mit Widmung: „Dem Andenken Stefan Georges“); schließlich posthum:
Zwischenland. Ausgewählte Gedichte 1911–1955, ausgewählt von Reinhard Kiefer, mit einem Nach-
wort von Ralph-Rainer Wuthenow, Aachen 1988. Das Inhaltsverzeichnis bietet eine Übersicht der
verschiedenen Gedichtbände Bertrams.
54 Ziegler, Friedrich Nietzsche, S. 3.
55 Ziegler, Friedrich Nietzsche, S. 114–128.
56 Ziegler, Friedrich Nietzsche, S. 114 f.

57 Ziegler, Friedrich Nietzsche, S. 115.


58 Ziegler, Friedrich Nietzsche, S. 115.
454 Ann-Christin Bolay

Zarathustra, denn: „Dreifach hat sich Nietzsche als Dichter versucht, in Epigram-
men, in lyrischen Gedichten und in Prosa.“59
Um Nietzsches dichterisches Vermögen herauszustellen, zitiert Ziegler einige
Beispiele, etwa das Gedicht An den Mistral. Zum einen schreibt er Nietzsche in
diesem Zusammenhang zwar eine „Kühnheit der Ideenassociationen und der
Wortkompositionen“ zu, einen „Wohllaut und eine Musik der Sprache, wie bei
den allergrößten Lyrikern“.60 Zum anderen spart er aber auch nicht mit Kritik: Die
zweite Hälfte von An den Mistral beinhalte „Geschmacklosigkeiten“, an denen
sich etwas für Nietzsche „Typisches“ zeige: „Fülle wird zur Überfülle“.61 Dieser
ambivalenten Beurteilung der Gedichte steht Zieglers Wertschätzung der lyri-
schen Prosa gegenüber, vor allem des Zarathustra: „Und so denken wir, auch
wenn wir ihn Dichter nennen, vielmehr an seine Prosa, als an seine [lyrischen]
Werke.“62 Hier komme Nietzsche wiederum seine Herkunft aus der Philologie
zugute, in der er einen „Sinn für den Stil“ entwickelt habe: „darum schrieb er
auch gut und hatte er Stil“.63 Dass der Zarathustra ein „Dichterwerk“ ist, hat nach
Ziegler bereits seine (vermeintliche) Genese als dreifaches Zehntagewerk gezeigt,
das ihn in die Nachfolge von Giovanni Boccaccios Il Decamerone aus dem
14. Jahrhundert stelle.64 Nicht nur die aus der Genese hergeleitete intertextuelle
Referenz auf ein zentrales Werk der Literaturgeschichte, auch die prospektive
Mitbegründung einer modernen literarischen Strömung dient Ziegler argumenta-
tiv als Strategie, Nietzsches dichterisches Können darzulegen: „ein Neues bahnt
sich an, der Symbolismus“.65 Dadurch verleiht Ziegler Nietzsche einen eigenen
Platz in der europäischen Literaturgeschichte. In einem 1914 publizierten Aufsatz
kommt dies nochmals zum Ausdruck: Ziegler stellt dort Nietzsche und Hölderlin
einander als Dichter gegenüber, und zwar am Beispiel ihrer jeweiligen dramati-
schen Bearbeitungen des Empedokles.66 Er kommt hier allerdings zu dem Ergeb-
nis, dass beide keine Dramatiker gewesen seien: „Dazu waren sie beide zu sub-

59 Ziegler, Friedrich Nietzsche, S. 115.


60 Ziegler, Friedrich Nietzsche, S. 116 f.

61 Ziegler, Friedrich Nietzsche, S. 119.


62 Ziegler, Friedrich Nietzsche, S. 120. Höher als die Lyrik Nietzsches schätzt Ziegler die lyrische
Prosa, insbesondere die des Zarathustra, als einen eigenen Stil des Dichters. Den Zarathustra liest
er als eigentliches „Dichterwerk“ Nietzsches (ebd., S. 121), in dem Dichter und Philosoph „eins“
würden (ebd., S. 128).
63 Ziegler, Friedrich Nietzsche, S. 128.
64 Ziegler, Friedrich Nietzsche, S. 121.
65 Ziegler, Friedrich Nietzsche, S. 122.
66 Ziegler, Theobald, Nietzsche und Hölderlin, in: ders., Menschen und Probleme. Reden, Vorträge
und Aufsätze, Berlin 1914 (= Menschen und Probleme, Bd. 1), S. 383–399.
„eine durch und durch poetische, künstlerische Natur“ 455

jektiv und zu lyrisch, zu weltfremd und zu monologisch.“67 Zudem gibt er am


Ende des Vergleichs eindeutig Hölderlin den Vorzug, der „als Dichter freilich der
unendlich viel feinere und größere“ gewesen sei.68 In einem abschließenden
Resümee widerspricht er seinen vorherigen Ausführungen heftig: „Aber was tut
das Nietzsche? er war ja Philosoph und kein Dichter.“69 Da er zuvor einige
Anstrengungen unternommen hatte, Nietzsche als Dichter zu charakterisieren,
überrascht diese abschließende Kehrtwende.
Auch Bertram liest Nietzsche als Dichter. Das machen nicht nur Bezeichnun-
gen wie „Sprachbildner“ oder „Dichter“ deutlich.70 Im Kapitel Scherz, List und
Rache diskutiert er Nietzsches Lyrik und übernimmt zugleich einen schon bei
Nietzsche als Zitat gekennzeichneten Titel, der auf ein Singspiel Goethes zurück-
geht. Bertram beginnt die Darstellung jedoch mit allgemeinen Bemerkungen zur
deutschen Literaturgeschichte: „Als die beiden stärksten und ältesten Überliefe-
rungskräfte, die im deutschen Schrifttum seit seinen althochdeutschen Anfängen
kontinuierlich wirksam sind, erscheinen uns die mystische und die didaktische
Tradition.“71 Auf die beiden Strömungen, die sich in die religiöse und geistliche
Literatur zum einen und in den volkstümlichen Reim zum anderen auseinander-
entwickelten, ließen sich, so Bertram, genealogisch „all unsre Dichtung und all
unsre gehobene Prosa“ zurückführen. Nietzsche, so fasst Bertram zusammen,
verkörpere beide „Ahnentypen“.72 Diese Herleitung von Nietzsches Lyrik und
Prosa aus der deutschen Literaturgeschichte gipfelt in einem Vergleich mit Goe-
the, als dessen Nachfolger Bertram Nietzsche versteht. Ausschließlich der Bezug
auf Goethe als Referenzfigur könne Nietzsche, so Bertram, dem Leser verständlich
machen. Vergleichende und gleichsetzende Wendungen wie „gleich Goethe“,
„genau wie bei Goethe“ oder „Nietzsches Werk genau wie das Goethes“73 ver-
deutlichen, dass Bertram intensiv bemüht ist, Parallelen zwischen beiden herzu-
stellen. Die Literaturgeschichte, so lässt sich aus den einleitenden Worten Bert-
rams schlussfolgern, bündelt sich bei Nietzsche, dessen direkter Vorgänger
Goethe sei:

Bis ins einzelne ist Nietzsches Knittel- und Spottvers eine mehr oder weniger bewußte
Weiterbildung der goetheschen altdeutschen Reimtechnik, eine Weiterbildung ins Grellere,
nervös Geistreichere, Heinesche, ja ins bewußt Parodische, Verzerrte, Grimassierende

67 Ziegler, Nietzsche und Hölderlin, S. 398.


68 Ziegler, Nietzsche und Hölderlin, S. 398.
69 Ziegler, Nietzsche und Hölderlin, S. 398.
70 Bertram, Nietzsche, S. 215 und 221.
71 Bertram, Nietzsche, S. 215.
72 Bertram, Nietzsche, S. 215.
73 Bertram, Nietzsche, S. 215.
456 Ann-Christin Bolay

hinüber – auf kleinstem Raum vielleicht das deutlichste Teilbeispiel der stilauflösenden
Tendenzen in Nietzsches Stilbildung.74

Nietzsches Verse werden als Steigerung und Weiterführung von Goethe verstan-
den. In der Überformung des Vorbildes bilde sich Nietzsches eigener Stil. Er wird
auf diese Weise zu einem Epigonen Goethes, der sich aber in „bewußte[r] Abhän-
gigkeit“75 mit dem Vorgänger auseinandersetzt. Diese Abhängigkeit deutet Bert-
ram als kreatives Epigonentum, was er anhand des Versvorspiels zur Fröhlichen
Wissenschaft illustriert.76 Dort qualifiziert er Nietzsches „Scherz, List und Rache.“
als „positive Goethe-Parodie“.77 Weniger eine ausführliche Analyse der Dichtung
als vielmehr die intertextuellen Bezugnahmen auf Goethe stehen bei seinen
folgenden Ausführungen im Mittelpunkt. Extensiv zitiert Bertram daher die Lyrik
beider, um Parallelen aufzuzeigen. Dabei verfährt er in zwei Richtungen: Er
demonstriert, welche sprachlichen Mittel Nietzsche von Goethe übernimmt (etwa
die Interjektion „Ja!“ in Ecce Homo) und er legt dar, was an Goethe „vornietz-
schisch“ sei, projiziert also aus der Retrospektive Vorzeichen in Goethes Lyrik
hinein (an einem Beispiel aus den Zahmen Xenien von 1797). Auch Goethes West-
östlicher Divan (1819) wird als stilbildendes Vorbild erläutert: „Zu solcher Lyrik
des Wissenden, solcher Spruchweisheit des Trunkenen hat Nietzsche gleichfalls,
aus innerster Wahlverwandtschaft heraus, seine Spruchdichtung hinaufgestei-
gert, auch hier der goetheschen Form und Technik weiterbildend dankbar.“78
Allerdings sind die „Elemente der Weiterbildung“, die Fortführung von Tech-
nik, Stil und Stoff Goethes, ebenso „Elemente der Zersetzung“.79 Goethe wird von
Bertram zu einem überwundenen und überformten Vorbild stilisiert, das Nietz-
sche „ins Farbigere, doppelsinnig Geistreiche, Überspitzte und zuweilen bis zum

74 Bertram, Nietzsche, S. 216


75 Bertram, Nietzsche, S. 216.
76 Epigonalität wird hier im Anschluss an Matthias Kamann als innovativer und produktiver
Umgang mit dem Vorbild verstanden. Vgl. eine Auswahl zentraler Forschungsarbeiten: Kamann,
Matthias, Epigonalität als ästhetisches Vermögen. Untersuchungen zu Texten Grabbes und Immer-
manns, Platens und Raabes, zur Literaturkritik des 19. Jahrhunderts und zum Werk Adalbert Stifters,
Stuttgart 1994; Hasubeck, Peter (Hrsg.), Epigonentum und Originalität. Immermann und seine
Zeit – Immermann und die Folgen, Frankfurt/Main u. a. 1997; Fauser, Markus, Intertextualität als

Poetik des Epigonalen: Immermann-Studien, München 1999; Meyer-Sickendiek, Burkhard, Die


Ästhetik der Epigonalität. Theorie und Praxis wiederholenden Schreibens im 19. Jahrhundert.
Immermann – Keller – Stifter – Nietzsche, Tübingen / Basel 2001.
77 Bertram, Nietzsche, S. 216.
78 Bertram, Nietzsche, S. 218.
79 Bertram, Nietzsche, S. 218.
„eine durch und durch poetische, künstlerische Natur“ 457

Unwirksamen Wirkungssüchtige“ (über)steigere.80 Dieses Kippmoment macht für


Bertram die Dichtung Nietzsches gegenüber derjenigen Goethes aus. Die Orientie-
rung an diesem als Vorbild gehe immer mit einer Abgrenzung einher: In der
daraus folgenden Überwindung des Vorbilds werde zugleich die Problematik
Nietzsches als Dichter erkennbar. Bertram fasst diese Übersteigerung als Ver-
zerrung auf: „das Geistige wird geistreich, das Leuchtende grell, das Doppeldeu-
tige antithetisch; Lachen wird Gelächter“. Dieser „Auflösungsprozess“81 vollziehe
sich in Form der Parodie. Im Folgenden listet Bertram die Stilmittel Nietzsches
auf, mit denen er diese Überwindung vorantreibe: die Travestie, das Spiel mit
Klang, die Verwendung fremdsprachlicher Begriffe, die Verwendung des
Alexandriners – aus Bertrams Perspektive durchweg Beispiele für eine „farbig
schillernde Zersetzung“.82
Bertram führt die Deutung der Gedichte weiter, indem er sie psycho-bio-
graphisch zum Abbild von Nietzsches Seele erklärt: Als Analytiker seiner selbst
habe Nietzsche „gleichsam vorwissend“83 auf die ihm innewohnende Spannung
zwischen Wort und Musik verwiesen: „Die Form von Nietzsches Sinnspruch […]
ist nur ein Abbild dieses beständigen Suchens nach dem Andern, das Nietzsches
Seelengeschick ist, des Suchens der Worte nach Melodie, der Melodie nach
Worten.“84 Die Dichtung Nietzsches, insbesondere auch der Zarathustra, ver-
suche diese Spannung aufzuheben. Zugleich sei die Dichtung das Moment, so
Bertram, in dem sich Nietzsche partiell von der deutschen Tradition löse und
griechische Elemente in seine Lyrik einfließen lasse, was in den Dionysos-Dithy-
ramben gipfele. Bertrams Deutung der Synthese von deutscher Tradition und
„griechischerer Luft“ steigert sich sukzessive zu einer metaphorischen Schil-
derung, die das „fatalistische Element“ der zwischen 1882 und 1888 entstandenen
Reden, Gleichnisse und Bilder beschwört: „[E]s sind Schaumwellen eines Stroms,
der immer unverkennbarer einem fernher dunkel brausenden Katarakt entgegen-
schießt“.85

80 Bertram, Nietzsche, S. 219


81 Bertram, Nietzsche, S. 219.
82 Bertram, Nietzsche, S. 219.
83 Bertram, Nietzsche, S. 222.
84 Bertram, Nietzsche, S. 222.
85 Bertram, Nietzsche, S. 223.
458 Ann-Christin Bolay

4
Nicht nur dieses eine Kapitel nimmt Stellung zur Dichtung Nietzsches. Bertrams
Darstellung ist insgesamt durchzogen von intertextuellen Verweisen auf Nietz-
sches dichterische Werke, die auch eine leitmotivische Verbindung zwischen
einzelnen Kapiteln stiften. Zudem wird auf eine Reihe weiterer Dichter referiert.
Vielen einzelnen Kapiteln sind Motti vorangestellt: Meistens wird Goethe zitiert,
aber auch Novalis, Hölderlin, Stifter, Hebbel, C. F. Meyer oder Jean Paul. Sie
dienen jeweils als bürgende Autoritäten für Bertrams Ausführungen. So soll etwa
ein Zitat Fontanes in der Einleitung die eigene Abwendung von der wissenschaft-
lichen Historie legitimieren: „Das Poetische hat immer recht; es wächst weit über
das Historische hinaus.“86 Bertram zitiert auch Stefan George, etwa den ersten
Jahrhundertspruch aus dem Gedichtband Der Siebente Ring (1907). Der Spruch
überhöht und stilisiert Nietzsches Rolle als „Gott“, aber auch Bertrams Betei-
ligung als „Künder“: „Zehntausend sterben ohne Klang: der Gründer / Nur gibt
den Namen .. Für zehntausend Münder / Hält einer nur das Maß. In jeder Ewe / Ist
nur ein Gott und einer nur sein Künder.“87
Schon der erste Satz des Buches („Alles Gewesene ist nur ein Gleichnis.“) ist
ein abgewandeltes Zitat aus dem Chorus Mysticus des Faust II (1832), das nicht nur
auf Goethe verweist,88 sondern auch auf Nietzsches parodistisches Gedicht An
Goethe aus den Liedern des Prinzen Vogelfrei.89 Mit dieser doppelten Bezugnahme
stellt sich Bertram selbst in eine Reihe mit Goethe und Nietzsche. Er betont durch
die kleine semantische Änderung – von „Alles Vergängliche“ bei Goethe über
„Das Unvergängliche“ bei Nietzsche zu „Alles Gewesene“ – die historische Aus-
richtung seiner Argumentation. Alle historischen Ereignisse sind, so suggeriert
der Satz, nur ein bildhafter Ausdruck für hinter ihnen liegende Phänomene. Wie
das einführende Motto auf die Zukunft ausgerichtet ist („Wir dienen dem Kom-

86 Das Zitat stammt aus Fontanes Roman Frau Jenny Treibel oder „Wo sich Herz zum Herzen
findet“ aus dem Jahr 1892. Es wird dort der Figur Professor Willibald Schmidt in den Mund gelegt.
Vgl. Fontane, Theodor, Romane und Erzählungen, 8 Bde., hrsg. von Peter Goldammer u. a., Bd. 6:

Unwiederbringlich, Frau Jenny Treibel, 4. Auflage, Berlin / Weimar 1993, S. 320.


87 Bertram, Nietzsche, S. 9. Zugleich liest er sich aber auch wie ein Zugeständnis an den Zensor;
Bertram sah sich sicherlich in der Pflicht, Stefan Georges Lyrik nicht auszusparen.
88 Die Strophe lautet vollständig: „Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis; / Das Unzuläng-
liche / Hier wird’s Ereignis; / Das Unbeschreibliche / Hier ist es getan; / Das Ewig-Weibliche /
Zieht uns hinan.“ (Goethe, Johann Wolfgang, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche,
40 Bde., 2 Abtn., Abt. 1, Band 7/1: Faust, Texte, hrsg. von Albrecht Schöne, Frankfurt/Main 1994
[= Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 114], S. 464).
89 Die erste Strophe des Gedichts lautet: „Das Unvergängliche / Ist nur dein Gleichniss! / Gott der
Verfängliche / Ist Dichter-Erschleichniss…“ (FW Anhang, KSA 3, 639, 4–7).
„eine durch und durch poetische, künstlerische Natur“ 459

menden.“),90 so hat auch das Gleichnis einen auf die Zukunft ausgerichteten
didaktischen Anspruch.91
Bertram nutzt den Einstiegssatz für zweierlei: Zum einen referiert er auf eine
kanonische Dichtung (Faust II) und damit zugleich auf seine wichtigste Autorität
(Goethe), zum zweiten ist damit die Grundlage geschaffen, um seine Kritik his-
torischer Forschung auszubreiten. Er wendet sich gegen Leopold von Rankes
berühmtes methodisches Objektivitätspostulat in der Geschichtswissenschaft
(darzustellen, „wie es eigentlich gewesen“ sei) und gegen dessen Absage, die
Vergangenheit zu beurteilen und nachfolgende Generationen zu belehren.92 Bert-
ram diskreditiert dies als „naiven historischen Realismus“; Geschichte habe mit
der historischen Wirklichkeit nichts zu tun, sondern sei stattdessen eine „Wirk-
lichkeit neuen und sozusagen höheren Grades“.93 Als eine Art poetischer Wirk-
lichkeit grenzt Bertram sie von den Geschehnissen ab, die sich tatsächlich zu-
getragen haben, und stilisiert zugleich die eigene Tätigkeit zur dichterischen.
Deutlich wird dies auch in seinen Überlegungen zur Darstellung einzelner
herausragender Menschen: „Wir vergegenwärtigen uns ein vergangenes Leben
nicht, wir entgegenwärtigen es, indem wir es historisch betrachten. Wir retten es
nicht in unsre Zeit hinüber, wir machen es zeitlos.“94 In Abwandlung des Ein-
stiegssatzes beendet Bertram den ersten Absatz mit dem Diktum: „Was als Ge-
schichte übrigbleibt von allem Geschehen, ist immer zuletzt […] die Legende“.95
Die Frage nach der Wahrheit des Erzählten wird damit aufgehoben. Die Legende
sei keine „unzuverlässigere Biographie“, sie gehöre „von vornherein einer ganz
anderen Sphäre an als alles wissenschaftlich Biographische oder als irgendein
nur anekdotisch Interessantes“.96 Mit der Bezeichnung ‚Legende‘ verweist Bert-
ram auf eine ursprünglich aus dem christlichen Kontext stammende literarische
Form, in der eine Figur „als exemplarische Projektionsfläche bestimmter Ideen

90 Bertram, Nietzsche, S. 1.


91 Vgl. hierzu auch Zymner, Rüdiger, Gleichnis [Artikel], in: Lamping, Dieter (Hrsg.), Handbuch
der literarischen Gattungen, Stuttgart 2009, S. 334–339.
92 Ranke, Leopold von, Vorrede zu den ‚Geschichten der romanischen und germanischen Völker
von 1494 bis 1535‘, in: Hardtwig, Wolfgang (Hrsg.), Über das Studium der Geschichte, München
1990, S. 44–46.
93 Bertram, Nietzsche, S. 1.
94 Bertram, Nietzsche, S. 1.
95 Bertram, Nietzsche, S. 1. Dieser Gedanke wird bei Bertram mehrfach wiederholt; etwas später
in der Einleitung heißt es etwa: „Alles Geschehene will zum Bild, alles Lebendige zur Legende,
alle Wirklichkeit zum Mythos. Und so ist alles ein Mythos, was wir vom Wesen der Menschen
aussagen können, deren Gedächtnis auf die Lebenden gekommen ist.“ (Ebd., S. 6).
96 Bertram, Nietzsche, S. 2.
460 Ann-Christin Bolay

fungiert“.97 Die Lösung der Form von einer göttlichen Sphäre brachte eine
zwischen den Bereichen historischer Wahrheit und literarischer Fiktion angesie-
delte Erzählform hervor.98 Indem Bertram den Begriff der Legende bereits im Titel
des Einleitungskapitels einführt, deutet er das gattungstransgredierende Verfah-
ren seiner Darstellung an: Sie geht über den faktualen Ansatz eines wissenschaft-
lichen Werkes hinaus und reicht in den Bereich fiktionaler Erzählliteratur. Auch
der Untertitel (Versuch einer Mythologie) weist auf diese Überschreitung faktualen
Erzählens hin.
Diese Abwendung von der wissenschaftlichen Biographie bringen auch Meta-
phern zum Ausdruck, mit denen Bertram auf eine plastische Vermittlung seiner
Gedanken abzielt: Die Legende eines Menschen, fährt er fort, stelle ein „in jedem
neuen Heute neu wirksames und lebendiges Bild“ dar. Dieses wiederum sei ein
„eigenlebendiger Organismus“ mit „selbständige[r] Existenz“.99 Wie sich die
Legende als Bild entwickelt und fortschreibt, versucht er wiederum durch kos-
mische Metaphern zu verdeutlichen:

Wandelbar, wandelwillig ist es und wandelt sich auch stets, zeigt immer wenigere, immer
größere Linien; wird zugleich typischer und einmaliger, zugleich parabolisch und unver-
gleichbar. Es steigt langsam am Sternenhimmel der menschlichen Entwicklung hinan […]
und es kreist, ist seine innere Umlaufskraft so stark, daß sie unter Menschen ewig heißt,
allmählich so hoch gegen den Pol, daß es, gleich einem Gestirn des Nordens, niemals wieder
unter die Horizontgrenze unseres Gedächtnisses hinuntergeht.100

Das „Bild“, zugleich als „Organismus“ verstanden, geht in einer astronomischen


Metaphorik auf. Einer Apotheose gemäß wird das „Bild“ der historischen Person
ins All entrückt und mit einem Stern gleichgesetzt („gleich einem Gestirn des
Nordens“). Der als Klimax arrangierte Katasterismos deutet nicht nur eine Bedeu-
tungssteigerung und den Eingang in die Unsterblichkeit („ewig“) an, sondern
verweist zugleich auf eine harmonische Verbindung eigentlich widersprüchlicher
Eigenschaften („zugleich typischer und einmaliger, zugleich parabolisch und

97 Denissenko, Irina, Legende 1. [Artikel], in: Burdorf, Dieter u. a. (Hrsg.), Metzler Lexikon Litera-

tur. Begriffe und Definitionen, 3. völlig neu bearbeitete Auflage, Stuttgart / Weimar 2007, S. 424 f.,

hier S. 425. Die Legende entwickelte sich ursprünglich aus der Heiligenverehrung und bezeichne-
te die Lesung von Viten oder Passionsgeschichten. Später wurde der Begriff auch auf die Bücher
selbst und ihre Inhalte übertragen und schließlich auf Volksdichtungen erweitert, denen Szenen
aus Heiligenleben zugrunde lagen. Vgl. Böhne, Winfried, Legende [Artikel], in: Höfer, Josef /
Rahner, Karl (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, 14 Bde., Bd. 6, 2., völlig neu bearbeitete
Auflage, Freiburg/Breisgau 1961, Sp. 876–878.
98 Burdorf, Dieter, Legende 2. [Artikel], in: Burdorf u. a. (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur, S. 425.

99 Bertram, Nietzsche, S. 2.


100 Bertram, Nietzsche, S. 2.
„eine durch und durch poetische, künstlerische Natur“ 461

unvergleichbar“).101 Deutlich wird an der Metaphorik seiner Sprache, dass Bert-


ram mehr als Erzähler denn als distanzierter Analytiker auftritt, von dem eine
stringente Erläuterung seiner Thesen zu erwarten wäre. Auch das Bild des Berges,
das – wie Arrighetti gezeigt hat – als Kompositionsprinzip des ganzen Buches
fungiert,102 knüpft an die Natur-Metaphorik an: „So erwandert man das Bild eines
geliebten Berges auf manchen Vorhöhen, die von seinem Massiv ausstrahlen, und
die Aussichten ergänzen einander doch zu dem Bild des Bergs, das sich nie aus
einer vereinzelten Schau ergibt.“103 Ergänzend fügt Bertram hinzu: „Das Bild
Nietzsches, wie es sich aus diesen Kapiteln zusammenschließt, ist das Bild des
Augenblicks, in dem sein Mythos uns eben zu stehen scheint. Mit dem Vorrücken
seiner Bahn wird er in andere Häuser des Himmels eintreten.“104 Die kosmische
Metapher der Sternenbahn sowie das Bild der Bergwanderung, mit denen Bertram
seine Kapitelauswahl begründet, appellieren an die Einbildungskraft des Lesers,
anstatt sachlich zu argumentieren.
Dieses Prinzip der metaphorischen Annäherung setzt Bertram bei seiner
Charakterisierung Nietzsches im Kapitel Ahnentafel fort:

Und es gehört wohl mit zu der rätselhaften, sehr seltnen und immer verhängnisvollen
Doppelbrechung von Nietzsches Natur, die hermaphroditisch Erkenntnisdrang und dämo-
nische Blindheit vereinigt, daß er, der Genuesergeist und Sucher fernster Meere, unentdeck-
tester Küsten des Wissens und der Seele, dennoch zu gleicher Zeit und schon von früh auf
um jene Ahnenbedingtheit, jene Einordnung seiner selbst, ja um seine tragische Grenze zu
wissen scheint.105

Bertram möchte mithilfe einer Reihe von rhetorischen Mitteln plausibilisieren,


dass Nietzsche trotz seines weitreichenden philosophischen Denkens nie seine
Herkunft vergaß. Das eröffnende „Und“ verleiht seiner Sprache den Duktus einer
Rede, die durch die als Klimax arrangierten Reihungen einen persuasiven Ton
erhält („rätselhaften, sehr seltnen und immer verhängnisvollen“; „um jene Ah-
nenbedingtheit, jene Einordnung […], ja um seine tragische Grenze zu wissen
scheint“). Die Interjektion „ja“ wiederum deutet auf die emotionale Anteilnahme
des Redners und seine affirmative Haltung gegenüber dem Gegenstand. In der
Alliteration „Nietzsches Natur“ führt Bertram Charakter und Abstammung als
untrennbare Einheit zusammen. Die Bezeichnung „hermaphroditisch“ stilisiert
diese ‚doppelte Natur‘ zur Symbiose zweier entgegengesetzter Prinzipien und ruft

101 Bertram, Nietzsche, S. 2.


102 Arrighetti, Mensch und Werk in kritischen Publikationen des George-Kreises, S. 172.
103 Bertram, Nietzsche, S. 10.
104 Bertram, Nietzsche, S. 10.
105 Bertram, Nietzsche, S. 11.
462 Ann-Christin Bolay

zugleich die griechische Mythologie, namentlich den Mythos des Hermaphro-


ditos,106 als bürgende Referenz auf. Der Relativsatz mit Antonomasien aus dem
nautischen Bildbereich („Genuesergeist“, „Sucher fernster Meere“), mit Super-
lativ („fernster Meere“) und Hyperlativ („unentdecktester Küsten“), stellt Nietz-
sche als Abenteurer und Entdecker ‚neuer Welten‘ dar. So referiert Bertram
zugleich auf Nietzsches eigene lyrische Produktion: Die geistige Verwandtschafts-
beziehung zu Kolumbus hatte dieser schon selbst konstruiert und vielfach dichte-
risch verarbeitet, etwa in dem frühen Rollengedicht Colombo, dem Gedicht Nach
neuen Meeren oder im Abschlusstext der Morgenröthe.107 Bertram greift diese
Selbststilisierung affirmativ und bestärkend auf.

5
Die beiden im Georg Bondi Verlag erschienenen Biographien von 1900 und 1918
stellen Nietzsche als Dichter dar. Bertram und Ziegler sind bemüht, Nietzsche
einen angemessenen Platz in der Literaturgeschichte zu verleihen, indem sie ihn
in Bezug zu vorbildhaften Dichterfiguren (Boccaccio, Goethe, Hölderlin) setzen.
Während Ziegler Nietzsches Dichtertum als Ausweg aus einer Lebenskrise ver-
steht, zugleich aber auch seine Popularität aus diesem dichterischen Zugang zu
philosophischen Fragestellungen herleitet, betont Bertram die Epigonalität Nietz-
sches, die sich in einem kreativen Abarbeiten am Vorbild Goethe zeigt. Allerdings
entbehren weder die Ausführungen Zieglers noch diejenigen Bertrams einer
deutlichen Kritik an Nietzsche. Die Überformung und Übersteigerung der Lyrik
Goethes deutet nach Bertram zugleich das fatale Ende des Dichterphilosophen
an. Darüber hinaus bezeugen schon die Genese von Bertrams Text im Einfluss-
bereich des George-Kreises und seine eigene wissenschaftliche Disziplin, dass
auch ein dichterisches Interesse an Nietzsche vorlag. Der regulierende Blick des
Dichters George und die Zuordnung der Monographie zu einer Publikationsreihe,
die bewusst zwischen Wissenschaft und Kunst changierte, regten eine neue Form
der Darstellung an: Bertram geht über eine literaturwissenschaftliche Werkana-
lyse hinaus, indem seine Nietzsche-Biographie selbst den Charakter eines dichte-
rischen Werkes annimmt. Er nutzt die Subjektivität des Autors als Erzähler,

106 Vgl. etwa Delcourt, Marie / Hoheisel, Karl, Hermaphrodit [Artikel], in: Dassmann, Ernst u. a.

(Hrsg.), Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 14, Stuttgart 1988, Sp. 649–682.
107 NL 1858, 4[67], KGW I/1, 273 f.; FW Anhang, KSA 3, 649; M 575, KSA 3, 331. Vgl. zu Nietzsches

Stilisierung als ‚zweiter Kolumbus‘ etwa Large, Duncan, Nietzsche and the Figure of Columbus, in:
Nietzsche-Studien, Jg. 24, Berlin / New York 1995, S. 162–183; Witzler, Ralf, Europa im Denken
Nietzsches, Würzburg 2001 (= Epistemata, Reihe Philosophie, Bd. 307), S. 181–185.
„eine durch und durch poetische, künstlerische Natur“ 463

bedient sich großzügig einer Metaphorik, die auch Nietzsches Dichtung zitiert,
verweist durch intertextuelle Bezugnahmen auf etliche prominente Figuren der
Literaturgeschichte und operiert mit den Begriffen ‚Legende‘ und ‚Mythologie‘ zur
Charakterisierung des eigenen Darstellungsverfahrens. Damit transgrediert Bert-
ram die Gattung der wissenschaftlichen Biographie und imitiert Nietzsches Grenz-
überschreitung zwischen Wissenschaft und Dichtung.
Katharina Grätz
Nietzsches Rezeption als Dichter in der
literarischen Moderne

Abstract: Nietzsche’s reception as a poet in literary modernism. Analysing


aesthetic judgements and attempts at classifying Nietzsche’s position within the
history of literature from 1890 to 1930, this paper makes clear how perception and
evaluation of Nietzsche’s work have changed radically: while nowadays Nietz-
sche is mostly seen as both a critical prose writer and philosophical aphorist, he
was primarily understood as a poet in his early reception around 1900. As the
author of Zarathustra and Dionysos-Dithyramben, Nietzsche soon became known
within artistic and intellectual circles. Starting from there, he was widely recogni-
zed as one of the most seminal pioneers of modernist literature.

1 Einleitung
„Ich kann mir selbst große Künstler vorstellen, die Nietzsche nicht kennen“,
erklärte der junge Arthur Schnitzler am 21. Juni 1895 in einem theaterkritischen
Brief und gab an, zwar von Nietzsche beeindruckt, nicht aber ästhetisch von ihm
beeinflusst zu sein: „Mir ist, was Nietzsche geschaffen, ein Kunstwerk für sich. Ich
verehre ihn hoch […] ich habe einen Genuß mehr seit Nietzsche – aber ich habe
keinen Genuß anders als ich ihn gehabt habe.“1 In zweifacher Hinsicht ist das
Zitat aufschlussreich für die Frage nach der Bedeutung des Dichters Nietzsches
für die literarische Moderne. Einmal weil es einen Beleg dafür liefert, wie selbst-
verständlich Nietzsche von modernen Künstlern als Künstler wahrgenommen
wurde. Zum andern weil noch in der Leugnung seines Einflusses sein immenser
Einfluss deutlich wird. Denn wenn Schnitzler sich bemüßigt fühlt, eigens zu
erklären, dass großes Künstlertum auch ohne Kenntnis Nietzsches möglich sei,
zeugt das gerade von seiner dominanten Rolle für die moderne Kunst.
Dass sich die Entwicklung der deutschsprachigen Literatur seit den 1890er
Jahren im Kraftfeld der Beschäftigung mit Nietzsche vollzog, mit seiner Person
und seinem philosophischen und dichterischen Werk, gehört zu den literatur-
geschichtlich weithin anerkannten Befunden; die Rede vom ‚Musageten der lite-

1 Arthur Schnitzler an N. N. am 21. Juni 1895, in: Schnitzler, Arthur, Briefe 1875–1912, hrsg. von
Therese Nickl und Heinrich Schnitzler, Frankfurt/Main 1981, S. 262.

DOI 10.1515/9783110474374-020
466 Katharina Grätz

rarischen Moderne‘2 ist keine Übertreibung. „Wer die literarische Richtung der
nächsten Jahrzehnte verstehen will, der muß diese merkwürdigste Persönlichkeit
im Geistesleben des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts näher betrachten“,3
forderte Alfred Biese bereits 1911. Alle künstlerischen Strömungen der literari-
schen Moderne verdanken Nietzsche wesentliche Impulse – vom Naturalismus
über den Symbolismus bis zum Expressionismus und Dadaismus. In den Mani-
festen und Bekenntnissen der Moderne taucht Nietzsche immer wieder als Ge-
währsmann auf. Etwa wenn Stefan George sich 1896 zum Ästhetizismus bekennt,
zur „kunst frei von jedem dienst“, und sich dabei auf den „Zarathustraweisen“ als
„unsterblichen Meister“ bezieht und auf seine „kunst aus der anschauungsfreude
aus rausch und klang und sonne“.4 Oder wenn sich Kurt Hiller 1911 im Namen der
expressionistischen Jüngst-Berliner auf „unser[en] gewaltige[n] und demütig ge-
liebte[n] Meister“ beruft, „als dessen Jünger wir uns mit jeder Zeile, die wir
schreiben, ja mit jedem Atemzug fühlen“.5 Oder wenn Hugo Ball seinen Zuhörern
im ersten dadaistischen Manifest von 1916 ankündigt: „Ich lese Verse, die nichts
weniger vorhaben als: auf die konventionelle Sprache zu verzichten, ad acta zu
legen. Dada Johann Fuchsgang Goethe. Dada Stendhal. Dada Dalai Lama,
Buddha, Bibel und Nietzsche.“6
Nietzsches Wirkung auf die literarische Moderne wurde bereits intensiv er-
forscht. Die einschlägigen Quellen sind in Sammlungen zugänglich gemacht,7 es
gibt übergreifende Darstellungen zu seinem Einfluss auf die moderne Literatur

2 Die Formulierung geht auf Theo Meyer zurück, der Nietzsche 1993 zum „Musaget der deutschen
Literatur“ erklärte und erläuterte: „Der Einfluß Nietzsches auf Kunst und Literatur seit der Jahr-
hundertwende ist unübersehbar. […] Ob es sich um die Hymniker der Jahrhundertwende, um
George und seinen Kreis, um Rilke und Hofmannsthal, um Thomas und Heinrich Mann, um Benn
oder Musil handelt – Nietzsche ist entweder ihr geistiger Präzeptor oder doch ein wichtiger
Anreger ihres Denkens und Schaffens“ (Meyer, Theo, Nietzsche und die Kunst, Tübingen / Basel
1993, S. 157). Thorsten Valk nahm die Formulierung im Titel des einleitenden Beitrags zu einem
von ihm herausgegebenen Sammelband erneut auf: Friedrich Nietzsche. Musaget der Moderne, in:
Valk, Thorsten (Hrsg.), Friedrich Nietzsche und die Literatur der klassischen Moderne, Berlin / New
York 2009, S. 1–20.
3 Biese, Alfred, Deutsche Literaturgeschichte, Bd. 3: Von Hebbel bis zur Gegenwart, München 1911,
S. 481.
4 George, Stefan, Vorrede, in: Blätter für die Kunst, 3. Folge, Heft 1, Berlin 1896, S. 2.
5 Hiller, Kurt, Die Jüngst-Berliner, in: Heidelberger Zeitung, Jg. 53, Nr. 169, 22. Juli 1911.
6 Ball, Hugo, Das erste dadaistische Manifest, vorgetragen beim ersten öffentlichen Dada-Abend
am 14. 7. 1916 im Zunfthaus an der Waag in Zürich, in: Ders., Der Künstler und die Zeitkrankheit.
Ausgewählte Schriften, hrsg. von Hans-Burkhard Schlichting, Frankfurt/Main 1984, S. 39 f. 

7 Als Standardwerke sind hier zu nennen: Krummel, Richard Frank, Nietzsche und der deutsche
Geist, 4 Bde., Berlin / New York 1974–2006; sowie Hillebrand, Bruno (Hrsg.), Nietzsche und die
deutsche Literatur, 2 Bde., München 1978.
Nietzsches Rezeption als Dichter in der literarischen Moderne 467

und eine große Zahl von Aufsätzen und Einzelstudien, die spezifische Aspekte
seiner Rezeption und Wirkung untersuchen. „So wenig erschöpfend sich die
Schriftsteller im 20. Jahrhundert und bis heute auf Nietzsche beziehen, so un-
ermüdlich verfolgen Literaturwissenschaft und Nietzsche-Philologie deren Spu-
ren“, resümierte unlängst Walter Erhart in einem Beitrag, der kritisch zur Nietz-
sche-Rezeptionsforschung Stellung nimmt und ihr vorwirft, dass sie zwar ein
immer detaillierteres und facettenreicheres Bild von Nietzsches Wirkung hervor-
bringe, keineswegs aber ein klareres und übersichtlicheres.8 Dies ist sicher nicht
ganz unberechtigt, hängt aber wesentlich mit dem Gegenstand selbst zusammen,
der seiner systematischen Behandlung in mehrfacher Hinsicht Widerstände ent-
gegensetzt.
Zunächst wegen des schon angesprochenen Facettenreichtums: Indem viel-
fältige Aspekte von Nietzsches Werk aufgenommen, unterschiedlich verarbeitet
und gedeutet werden, kommt es auch zu entsprechend vielfältigen Reaktionen,
die sich kaum systematisieren lassen. Zudem verlaufen die Rezeptions- und Ver-
arbeitungsvorgänge ganz verschieden. Theo Meyer hat in seiner 1993 erschiene-
nen Studie Nietzsche und die Kunst gefordert, es müsse in der Rezeptionsfor-
schung differenziert werden zwischen direkter und indirekter Wirkung,
„zwischen dem offenen Einfluß (der sich in Thesen, Motiven und Sprache nieder-
schlägt) und dem verdeckten Einfluß (der in dem ganzen geistigen Klima eines
Autors seinen Widerhall findet)“.9 Ohne Zweifel ist diese Unterscheidung sinn-
voll, als problematisch erweist sich jedoch ihre praktische Umsetzung. Denn
sobald man sich dem zuwendet, was Meyer als „verdeckten Einfluß“ und „geisti-
ge[s] Klima“ bezeichnet, bewegt man sich in einem Bereich, in dem sich Aussagen
schwer belegen lassen. Damit haben Untersuchungen zur Nietzsche-Rezeption
insgesamt zu kämpfen und auch die Erforschung seiner künstlerisch-literarischen
Nachwirkung ist mit dieser Schwierigkeit konfrontiert. Zwar lässt sich leicht
belegen, dass zahlreiche moderne Lyriker unter dem Eindruck Nietzsches standen
und es finden sich dafür immer wieder auch konkret nachweisbare Spuren in den
Werken (Zitate, Motive, mitunter fällt der Name Nietzsche oder Zarathustra). Aber
das sind doch nur äußere Indizien, die kaum etwas über die Art und Intensität der
künstlerischen Anverwandlung verraten.10

8 Erhart, Walter, „Niemals sage, das hätten wir“. Neue Studien zur literarischen Nietzsche-Rezepti-
on im 20. Jahrhundert, in: Nietzsche-Studien, Jg. 33, Berlin / New York 2004, S. 453–468, hier
S. 454.
9 Meyer, Nietzsche und die Kunst, S. 157.
10 Ähnlich gibt auch Dirk Niefanger im Kontext seiner Überlegungen zu Nietzsches Einfluss auf
die Wiener Moderne zu bedenken: „Eine stilistische Wirkung ist schwer nachweisbar, zumal
bestimmte Merkmale – Pathos, Schlagworte, Redundanzen, Analogieschlüsse – nicht unbedingt
468 Katharina Grätz

Ich schlage im Folgenden einen anderen Weg ein, um der Bedeutung Nietz-
sches für die literarische Moderne auf die Spur zu kommen. Statt seine künst-
lerische Nachwirkung in literarischen Texten anderer Autoren zu untersuchen,
konzentriere ich mich auf zeitgenössische Dokumente, die Auskunft geben über
seine Einschätzung als Dichter. Im Zentrum meiner Überlegungen stehen litera-
turgeschichtliche Einordnungsversuche aus dem letzten Jahrzehnt des 19. und
dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts sowie ästhetische und poetologische
Reflexionen über die Bedeutung von Nietzsches Lyrik aus dem gleichen Zeitraum.
Beabsichtigt ist eine Positionsbestimmung des Dichters Nietzsche aus dem Hori-
zont der Moderne heraus. Leitend ist für mich zunächst die Frage nach der
Aufmerksamkeit, die Nietzsche als Dichter erfährt. Welche Teile des recht vielfäl-
tigen und heterogenen Schaffens treten unter künstlerischem Aspekt überhaupt
in den Blick? Wie intensiv wird Nietzsche als Dichter und Lyriker rezipiert?
Sodann interessiert mich, wie die ästhetische Qualität seiner Texte beurteilt wird,
in welche Traditionen man sie stellt und welche Bedeutung für die Entwicklung
der modernen Literatur man ihnen zuerkennt.

2 Nietzsches Rezeption als Dichter und Lyriker in


der Moderne
Beschäftigt man sich mit Nietzsches Rezeption als Dichter und Lyriker, dann wird
schnell deutlich, dass diese Seite seines Schaffens, der in der heutigen Auseinan-
dersetzung eher marginale Bedeutung zukommt, in der Geschichte der Nietzsche-
Rezeption einen wesentlich höheren Stellenwert besaß, ja, dass sie mitunter
geradezu in den Vordergrund trat. Das gilt schon gleich für die nach seinem
Zusammenbruch in den 1890er Jahren verstärkt einsetzende Rezeption wie über-
haupt für das erste Drittel des 20. Jahrhunderts – und somit für die Phase, die
Walter Fähnders literaturgeschichtlich als Zeit der „Avantgarde und Moderne“11
bestimmte. Das allein ist bereits ein wichtiger Befund; denn die Feststellung, dass
ein für die Nietzsche-Rezeption maßgeblicher Teil seines Werks heute nahezu
vollständig in den Hintergrund getreten ist, zeugt von einem einschneidenden
Wandel des Nietzsche-Bildes und einer Verschiebung der Wertungsparameter. In

ausschließlich bei Nietzsche zu finden waren. Vielleicht könnte man hier versuchsweise von einer
Affinität der Stile von Literatur und Nietzsche-Philosophie sprechen“ (Niefanger, Dirk, Nietzsche-
Lektüren in der Wiener Moderne, in: Valk (Hrsg.), Friedrich Nietzsche und die Literatur der
klassischen Moderne, S. 41–54, hier S. 53).
11 Fähnders, Walter, Avantgarde und Moderne 1890–1933, Stuttgart / Weimar 1998.
Nietzsches Rezeption als Dichter in der literarischen Moderne 469

den avantgardistischen Künstlerkreisen wurde Nietzsche nicht als Philosoph,


sondern als Künstler rezipiert: Er ist „ein Genie, nicht als Denker, sondern als
Dichter, nicht durch das Was, sondern durch das Wie seiner Verkündigung“,
schrieb Heinrich Hart 1892.12 Und der Schweizer Kritiker Josef Victor Widmann
urteilte über Jenseits von Gut und Böse: „Viele dieser Aphorismen haben mehr
einen dichterischen als einen philosophischen Wert, was so weit wahr ist, daß
man an ihnen, d. h. an ihrer lebhaften und schönen Form, noch Wohlgefallen

empfindet, wenn man ihren Inhalt auch als grundfalsch erkennt.“13


Junge Schriftsteller und Intellektuelle stilisierten Nietzsche zur Gründungs-
instanz der modernen deutschsprachigen Literatur. So erinnert sich Kasimir Ed-
schmid, um 1910 hätten die Münchner Studenten dem Professor applaudiert,
„wenn er Nietzsche als den Vater der modernen Literatur pries“.14 Nietzsche
wurde gewürdigt als „ein wahrhaft begnadeter Dichter“,15 der „den lyrischen
Ausdruck, zumal in der rhythmischen Prosa des Zarathustra, bildköstlich be-
fruchtet“16 habe. Zahlreiche Quellen belegen die breite und intensive Rezeption,
die Nietzsche als Dichter und als Erzeuger „wertvollste[r] Schöpfungen der mo-
dernen Lyrik“17 erfuhr, welche ihm, wie Theo Meyer resümiert, den Rang eines
geradezu „kultisch verehrten Hymnikers“18 der Moderne verschafften. Briefe und
Tagebuchaufzeichnungen überliefern begeisterte Leseerlebnisse – mitunter wur-
den die Lektüreerfahrungen selbst wieder Gegenstand literarischer Darstellung.19
Man hat Nietzsches Lyrik immer wieder vorgetragen, bei privaten Treffen, in den

12 Zit. nach Hillebrand, Nietzsche und die deutsche Literatur, Bd. 1, S. 81.
13 Zit. nach Hillebrand, Nietzsche und die deutsche Literatur, Bd. 1, S. 60.
14 Edschmid, Kasimir, Lebendiger Expressionismus. Auseinandersetzungen, Gestalten, Erinnerun-
gen, Wien u. a. 1961, S. 56.

15 So Joseph Diner, und er fügte an: „[J]edes seiner Werke ist lebendige Sprache, nicht todt und
schweigsam wie andere Bücher, nein, voller Modulation, voll musikalischen Wohllautes“ (Diner,
Joseph, Friedrich Nietzsche. Ein Dichterphilosoph, in: Freie Bühne für modernes Leben, Jg. 1, Heft
13, Berlin 1890, S. 368–371, hier S. 369).
16 Bierbaum, Otto Julius, Vom modern Lyrischen, in: Die Zeit, Jg. 7, Nr. 81, Wien, den 18. April
1896, S. 40 f., hier S. 41.

17 Biese, Deutsche Literaturgeschichte, Bd. 3, S. 489.


18 Meyer, Nietzsche und die Kunst, S. 155.
19 Hierfür zwei Beispiele: Michael Georg Conrad erzählt, dass ihm ein Freund nachts Nietzsches
sogenanntes ‚Mitternachtslied‘ („Oh Mensch! Gieb Acht!“) vortrug – wie sich hinterher heraus-
stellte just zu dem Zeitpunkt, zu dem Nietzsche am 25. 08. 1900 gestorben war (Conrad, Michael
Georg, Von Emile Zola bis Gerhart Hauptmann. Erinnerungen zur Geschichte der Moderne, Leipzig
1902, S. 87 f.), und Friedrich [Frederic] Mellinger verarbeitet das Hörerlebnis des gleichen Gedichts

in dem Prosatext Fieber (in: Der Sturm, Jg. 1, Heft 36, Berlin, den 3. November 1910, S. 287).
470 Katharina Grätz

literarischen Salons20 wie auch bei den halböffentlichen Veranstaltungen avant-


gardistischer Künstlerkreise.21 Insbesondere bei Nietzsches öffentlicher Würdi-
gung spielten Rezitationen seiner Gedichte eine zentrale Rolle. Sie markierten
feierliche Höhepunkte des Nietzsche-Gedenkens und bildeten – in Anknüpfung
an die panegyrische Tradition der Gattung – einen festen Bestandteil der Nietz-
sche-Verehrung.22 Durch das Radio kam es in der Weimarer Republik gar zu einer
öffentlichen und massenmedialen Vermittlung von Nietzsches Lyrik.23 1924 über-
trug der Rundfunk aus Anlass von Nietzsches 80. Geburtstag eine Festveranstal-
tung, in deren Mittelpunkt die Dionysos-Dithyramben standen. Dass die moderne
funktechnische Verbreitung freilich nicht durchweg auf Anklang stieß, belegt der
an das Nietzsche-Archiv gerichtete Brief eines dem Medium Radio skeptisch
gegenüberstehenden Nietzsche-Verehrers:

In Leipzig war eine eigenartige Nietzsche-Feier, dergestalt, dass am 80. Geburtstag des
grossen Gelehrten der Leipziger Messe-Sender durch den Rundfunk die sämtlichen 7 einzeln
erschienenen Nietzsche-Lieder hat singen lassen. Sie sind also auf diese Weise von vielen
Tausend Menschen gehört worden. Dazwischen sprach der frühere Regisseur des Leipziger
Stadttheaters […] Gedichte Nietzsches aus dem Zarathustra und anderen Werken, also an
sich eine sehr stimmungsvolle Feier, wenn sie nur nicht durch den Rundfunk gewesen wäre,
denn künstlerischen Ansprüchen kann der doch nun einmal nicht genügen.24

20 Fritz Koegel (1860–1904) vertonte Gedichte Nietzsches und trug sie in Gesellschaft vor. So
1895 im Salon von Luise Begas-Parmentier; dazu notierte Harry Graf Kessler am 12. 12. 1895 in sein
Tagebuch: „Wildenbruch kannte die Gedichte noch nicht, sprach namentlich über den Albatros
seine Bewunderung aus“ (Kessler, Harry Graf, Das Tagebuch, hrsg. von Roland S. Kamzelak,
Bd. 2: 1892–1897, hrsg. von Günter Riederer, Stuttgart 2004, S. 416). Hierzu auch Cancik, Hubert /
Cancik-Lindemaier, Hildegard / Lüttke, Cornelius, Formen der Nietzsche-Rezeption in Berlin 1865
bis 1945, in: Reschke, Renate / Brusotti, Marco (Hrsg.), „Einige werden posthum geboren“. Friedrich
Nietzsches Wirkungen, Berlin / Boston 2012, S. 443–474, hier S. 446.
21 Fünf Jahre nach Nietzsches Tod veranstaltete der Verein für Kunst 1905 unter der Leitung
Herwarth Waldens Gedenkabende in Berlin, Jena und Weimar (hierzu Hodonyi, Robert, Herwarth
Waldens „Sturm“ und die Architektur. Eine Analyse zur Konvergenz der Künste in der Berliner
Moderne, Bielefeld 2010, S. 65–77).
22 Rezitationen flankierten nicht nur Nietzsche-Feiern, sondern häufig auch Vortragsabende. Ein
Beleg dafür ist das Vorwort Rudolf Steiners zu einem dreifach gehaltenen Nietzsche-Vortrag, in
dem er als jeweilige Rezitatoren nennt: Max Laurenze, Gustav Manz und schließlich den Schrift-
steller Kurt Holm, der ihm mit seinen „Recitationen aus Zarathustra und Nietzsches Gedichten zur
Seite“ gestanden sei (zit. nach Krummel, Nietzsche und der deutsche Geist, Bd. 1, S. 654).
23 Hierzu Pestlin, Jörn, Massenmedien als Teil von Rezeptions- und Wirkungsgeschichte. Nietz-
sche-Lyrik im Weimarer Rundfunk, in: Nietzscheforschung, Jg. 3, Berlin 1996, S. 147–174.
24 Brief vom Musikverlag Kistner & Siegel (Leipzig) an das Nietzsche-Archiv vom 22. 10. 1924,
GSA, ZA B, 14 (zit. nach Pestlin, Massenmedien als Teil von Rezeptions- und Wirkungsgeschichte,
S. 163).
Nietzsches Rezeption als Dichter in der literarischen Moderne 471

Gedichte spielten auch deshalb eine wichtige Rolle für den Nietzsche-Kult, weil
man sie als unmittelbaren Zugang zum Gefühlsleben des Autors verstand. Be-
stärkt durch die von Hegels Ästhetik untermauerte Auffassung von Lyrik als einer
subjektiven Gattung, die unmittelbaren Einblick in die Befindlichkeit des empiri-
schen Autors gewährt, las man Nietzsches Gedichte vielfach als autobiographi-
sche Dokumente, in denen seine psychische Verfassung und existenzielle Ein-
samkeit Ausdruck fanden. Zu beobachten ist das etwa, wenn sich Klabund über
Nietzsches Einsamkeit äußert und dabei Gedichtzitate als authentische Selbst-
äußerungen Nietzsches einflicht: „Er wurde einsam. Immer einsamer. Und alle
seine Lieder sang er schließlich nur noch sich selber zu ‚damit er seine letzte
Einsamkeit ertrüge‘. ‚Hoch wuchs ich über Mensch und Tier; / Und sprech ich –
niemand spricht zu mir.‘“ Das erste Zitat stammt aus den Zarathustra-Fragmenten
(„daß er seine letzte Einsamkeit ertrüge“),25 das zweite Zitat bietet zwei Verse
eines Gedicht-Fragments, das sich unter den Vorstufen zum Zarathustra findet;
insgesamt sind sechs Verse überliefert: „P i n i e u n d B l i t z / Hoch wuchs ich über
Mensch und Thier; / Und sprech ich – niemand spricht mit mir. / ** / Zu einsam
wuchs ich und zu hoch: / Ich warte: worauf wart’ ich doch? / ** / Zu nah ist mir
der Wolken Sitz, – / Ich warte auf den ersten Blitz. / **“26
Nietzsches Lyrik stand nicht nur im Zentrum des biographischen Interesses,
sondern entfaltete produktive künstlerische Wirkung und strahlte auf die avant-
gardistischen Bewegungen und künstlerischen Strömungen der Moderne aus.
Freilich lässt sich dabei die Wirkung des lyrischen Werks nicht isoliert betrachten,
hat doch Nietzsche selbst die Grenze zwischen Lyrik und Prosa verwischt. Ins-
besondere der Zarathustra durchkreuzt durch seinen lyrischen Stil jede eindeuti-
ge Zuordnung. Schon in der frühen Rezeption fassten ihn manche als lyrische
Dichtung auf, andere schlugen ihn der Prosa zu, so etwa Stefan George, der daran
ein dezidiertes Qualitätsurteil knüpfte: Für ihn ist Nietzsche „in seiner Prosa
besonders Zarathustra einer unserer größten Dichter“, wenn er aber Verse macht,
„nur ein sehr mäßiger“.27 Häufiger indes wurden der Zarathustra, die Lieder des
Zarathustra bzw. die Dionysos-Dithyramben in einem Atemzug als herausragende
dichterische Produkte Nietzsches angeführt; ihnen verdankt er seinen Einfluss
auf die moderne Kunst und Literatur.
Die Wirkung zeigt sich auf unterschiedlichen Ebenen, sie entfaltet sich in
unterschiedlichen Bereichen und künstlerischen Ausdrucksmedien: Der Zara-

25 „Dies sind die Lieder Zarathustras, welche er sich selber zusang, daß er seine letzte Einsamkeit
ertrüge“ (NL 1884, 29[8], KSA 11, 339, 8–10).
26 NL 1882, 3[2], KSA 10, 107, 11–17.
27 Zit. nach Oelmann, Ute, Notizen Stefan Georges zu Literatur und Kunst [1892], in: George-
Jahrbuch, Jg. 1, Tübingen 1996/97, S. 153–170, hier S. 154 f.

472 Katharina Grätz

thustra regte bekanntlich Richard Strauß zu einer sinfonischen Komposition an,


in der Malerei griff etwa der Jugendstilkünstler Melchior Lechter (der später zahl-
reiche Bücher Stefan Georges graphisch gestaltete) Motive aus dem Werk Nietz-
sches bei der Gestaltung von Wohnräumen und Glasfenstern auf28 und 1928
unternahm der von Karl Vogt geleitete Sprech- und Bewegungschor der Berliner
Volksbühne eine Aufführung des ‚Mitternachtslieds‘ aus dem Zarathustra, die
den Text durch die künstlerische Transformation in Sprechtöne und Bewegungen
auf die Bühne brachte.29 Die Beispiele deuten an, dass Nietzsche nicht bloß
intensiv, sondern auch sehr vielfältig auf die moderne Kunst wirkte. Am stärksten
war zweifellos sein Einfluss auf die Literatur der Moderne.
Die künstlerisch-literarischen Verdienste Nietzsches sah man überwiegend in
der Entwicklung von Stil und Sprache. Man pries ihn als „größte[n] Virtuose[n]
der deutschen Sprache“,30 „bilderreichste[n] Sprachkünstler unserer Zeit“31 und
lobte ihn für die Erweiterung des poetischen sprachlichen Ausdrucks: „Wir dür-
fen uns nicht beklagen, wenn wir sehen, was Nietzsche für die Geschmeidigkeit,
Dehmel für die Klangtiefe, Liliencron für die Mehrung des Wortreichtums der
deutschen Sprache in unsern Tagen geleistet hat.“32 Hierbei berief man sich
vornehmlich auf die Dionysos-Dithyramben und den Zarathustra, dessen exzep-
tioneller künstlerisch-poetischer Rang immer wieder hervorgehoben wurde. Sta-
nislaw Przybyszewski würdigte den Zarathustra als „königliche[s], in seiner un-
endlichen poetischen Schönheit majestätische[s] Werk“;33 Philipp Witkop lobte
an der Zarathustra-Dichtung „das endlose, sich übersteigernde, überstürzende

28 Lechter hatte sein Wohnatelier mit Zitaten und symbolischen Hinweisen auf Nietzsches Werk
ausgestaltet (dazu Immer, Nikolas, Mit singender statt redender Seele. Zur Nietzsche-Rezeption bei
Stefan George und seinem Kreis, in: Valk (Hrsg.), Friedrich Nietzsche und die Literatur der klassi-
schen Moderne, S. 55–86, hier S. 72 f.).

29 Erläuternd heißt es hierzu in einem Artikel des Herausgebers der Zeitschrift Sturm: „Die
Komposition der Sprechtöne ist das Kunstwerk, der Komponist der Regisseur. Alles, was gesehen
wird, muß auch künstlerisch optisch gestaltet werden. […] Daher muß jeder sichtbar auftretende
Sprechchor auch Bewegungschor sein, also bewegungsmäßig gestaltet werden“ (Walden, Her-
warth, Aus der Zeit für die Zeiten, in: Der Sturm, Jg. 18, Heft 12, Berlin, März 1928, S. 180–184, hier
S. 184 (Abschnitt „Sprechchor“), Illustration S. 183).
30 Berg, Leo, Friedrich Nietzsche. Studie, in: Deutschland, Jg. 1, Heft 9 u. 10, Berlin 1889/90,
S. 148 f. u. S. 168–170, hier S. 168.

31 Corwegh, Robert, Rudolph Saudek, in: Xenien, Jg. 5, 2. Semester, Juliheft, Leipzig 1912, S. 515–
521, hier S. 517.
32 Kuehl, Gustav, Detlev Freiherr von Liliencron, in: Pan, Jg. 5, Heft 2, Berlin 1899/1900, S. 95–
103, hier S. 98.
33 Przybyszewski, Stanislaw, Über Bord, Berlin 1897, S. 23.
Nietzsches Rezeption als Dichter in der literarischen Moderne 473

Nebeneinander ihrer Bilder“ und resümierte: „Nie sah die deutsche Dichtung eine
gleiche Bildertrunkenheit, Bildnotwendigkeit.“34

3 Zur Verbreitung von Nietzsches Lyrik –


Nietzsche in der Zeitschrift Pan
Vorweg will ich bemerken, daß die Lektüre der beiden Bücher von Nietzsche, die ich besitze:
„Also sprach Zarathustra“ und „Gedichte und Sprüche“ den tiefsten Eindruck auf mich
gemacht hat […].

Das ist nicht etwa die Aussage eines Künstlers oder Intellektuellen, sondern die
eines Arbeiters aus einer Weberei. Festgehalten ist sie in der von Adolf Levenstein
1914 herausgegebenen Textsammlung Friedrich Nietzsche im Urteil der Arbeiter-
klasse.35 Auch wenn sich die Repräsentativität des Nietzsche-Gedichte lesenden
Arbeiters bezweifeln lässt, deutet das Zitat an, dass Nietzsches Lyrik am Beginn
des 20. Jahrhunderts, anders als heute, relativ große Verbreitung fand und gut
zugänglich war.36
Eine Reihe von Gedichten hatte Nietzsche ja bereits zu Lebzeiten veröffent-
licht, sie waren – abgesehen von den Idyllen aus Messina, die separat publiziert
wurden37 – entsprechend in den Einzelausgaben seiner Werke enthalten. Darüber
hinaus enthielten die einzelnen Werkausgaben jeweils umfangreiche Zusammen-
stellungen von Gedichten aus dem Nachlass. Hinzu kamen bald auch separate
Gedichtausgaben, die eine Auswahl der Jugendgedichte und der unveröffent-
lichten Gedichte Nietzsches präsentierten. Die früheste und bekannteste ist die
von seiner Schwester besorgte Sammlung Gedichte und Sprüche, die erstmals 1898
erschien und mehrere Auflagen erlebte. Hervorzuheben ist auch der separate,
1927 erschienene Gedichtband der Musarionausgabe,38 der einige Abschnitte aus

34 Witkop, Philipp, Die deutschen Lyriker von Luther bis Nietzsche, Bd. 2: Von Novalis bis Nietz-
sche, 2., veränderte Auflage, Leipzig / Berlin 1921, S. 298.
35 Levenstein, Adolf (Hrsg.), Friedrich Nietzsche im Urteil der Arbeiterklasse, Leipzig 1914, S. 30 f.

36 Auf das Fehlen einer umfassenden und heutigen editorischen Standards genügenden Aus-
gabe wies nachdrücklich Wolfram Groddeck hin („Gedichte und Sprüche“. Überlegungen zur
Problematik einer vollständigen, textkritischen Ausgabe von Nietzsches Gedichten, in: Martens,
Gunter / Woesler, Winfried (Hrsg.), Edition als Wissenschaft. Festschrift für Hans Zeller, Tübingen
1991, S. 169–180, hier S. 169 f.).

37 Vgl. hierzu Sebastian Kaufmanns Beitrag zu den Idyllen aus Messina im vorliegenden Band.
38 Nietzsche, Gesammelte Werke. Musarionausgabe, Bd. 20: Dichtungen 1859–1888, hrsg. von
Richard Oehler, Max Oehler und Friedrich Würzbach, München 1927.
474 Katharina Grätz

dem Zarathustra in Versform abdruckte – womit der Rezeption des Zarathustra


als Dichtung Vorschub geleistet und sein lyrischer Charakter durch die editori-
sche Textpräsentation verstärkt wurde. Außerdem druckten zeitgenössische Zeit-
schriften, insbesondere Kunst- und Literaturzeitschriften, immer wieder einzelne
Gedichte ab.
Grundsätzlich war Nietzsche in den Zeitschriften der Moderne in vielfältiger
Weise präsent. Sie veröffentlichten Abhandlungen und Aufsätze über ihn als
Philosophen, aber auch und vor allem solche, die ihn als Künstler und Dichter
vorstellten. Die Zeitschriften boten Auszüge aus seinen Werken, den Briefen, den
philosophischen Texten, dem Zarathustra (aus dem immer wieder einzelne Kapi-
tel oder „Lieder“ ausgegliedert wurden), und sie publizierten Gedichte. Insgesamt
sind die Zeitschriften um 1900 Ort einer vielfältigen Auseinandersetzung mit
Nietzsche und seinen Schriften. Neben der Nietzsche-Verehrung finden sich in
ihnen durchaus auch kritische und ironische Töne.
Ganz im Zeichen der Nietzsche-Verehrung stand die von 1895 bis 1900 in
Berlin erschienene Zeitschrift Pan, das wichtigste Medium des Jugendstils, zu
deren führenden Autoren Richard Dehmel und Arno Holz gehörten. Pan zeugt von
einem umfassenden Interesse an Nietzsche als Person, Philosoph und vor allem
als Dichter, was sich niederschlägt in Abbildungen Nietzsches (Grafiken und
Büsten), in Abhandlungen über ihn und Auszügen aus seinen Texten. Kenn-
zeichnend ist das Bestreben, Einblick auch in weniger bekannte Seiten von Nietz-
sches Schaffen zu vermitteln. So veröffentlicht Pan unter dem Titel Der Riese eine
opulent illustrierte Prosaskizze aus dem Nachlass;39 die Zeitschrift druckt unter
Beigabe eines Faksimiles Jugendgedichte des 17-Jährigen („selbstverständlich nur
mit all der Zurückhaltung die wir dem Namen Nietzsche schuldig sind“),40 und
sie macht der Öffentlichkeit Nietzsches 1862 entstandenes Gedicht Die junge
Fischerin sowie die zugehörige Komposition für Singstimme und Klavier41 zu-
gänglich.

39 Pan, Jg. 1, Heft 2, Berlin 1895/96, S. 94a.


40 Pan, Jg. 3, Heft 2, Berlin 1897/98, S. 102a–104.
41 Pan, Jg. 2, Heft 2, Berlin 1896/97, S. 120a–120d. Zu Gedicht und Komposition auch Schlechta,
Karl, Nietzsche und die Musik, in: Broekman, Jan M. / Knopf, Jan (Hrsg.), Konkrete Reflexion.
Festschrift für Hermann Wein zum 60. Geburtstag, Den Haag 1975, S. 42–52, hier S. 48.
Nietzsches Rezeption als Dichter in der literarischen Moderne 475

Abb. 1: Zarathustra-Fragment, Pan 1895


476 Katharina Grätz

Pan weist Nietzsche einen exzeptionellen Status zu: Er ist der einzige bereits
verstummte Autor, der unter den aktuellen Stimmen der zeitgenössischen Litera-
tur derart starke Präsenz erhält. Als Vertreter einer früheren Generation erhält er
die Rolle einer Schlüsselfigur für die angestrebte Erneuerung von Kunst und
Literatur. Symptomatisch dafür ist die folgende Passage aus der Jahrhundert-
wende-Ausgabe von Pan. Sie ist dem Abdruck einer Rede vorangesetzt, mit der
Richard Dehmel seine Rezitationsabende eröffnete:

Wie unsern Lesern schon aus der Tagespresse bekannt sein dürfte, hat Richard Dehmel in
den Monaten Januar und Februar eine Reihe Vortragsabende veranstaltet, um den kunst-
liebenden Kreisen Berlins einen Ueberblick über den gegenwärtigen Stand der deutschen
Verskunst und rhythmischen Prosa durch eine Auswahl möglichst kennzeichnender Erzeug-
nisse zu geben, und zwar auf dem Wege der Subscription, damit die landläufigen Uebel-
stände lyrischer Rezitationen – zu zahlreiche Hörerschaft und stimmungswidrige Größe des
Vortragsraumes – vermieden würden. Die 6 Abende […] brachten Dichtungen folgender
Künstler zur Anhörung: N i e t z s c h e und L i l i e n c r o n – H o l z und G e o r g e – S c h l a f ,
P r z y b y s z e w s k i und S c h e e r b a r t – P e t e r A l t e n b e r g und H o f m a n n s t h a l – D a u -
t h e n d y und M o m b e r t – D e h m e l . Die ersten 5 Abende wurden eingeleitet durch Vor-
träge des Kunstschriftstellers A r t h u r M o e l l e r - B r u c k , die dem stilistischen wie ideellen
Charakter der rezitierten Persönlichkeiten beleuchten und ihre Stellung zu einander wie zur
Gesamtheit der modernen Kultur aufzeigen sollten.42

Die Veranstaltungsreihe zeugt von einer bemerkenswerten Selbstinszenierung


Dehmels, der eine literarische Traditionslinie konstruiert, die schließlich in der
eigenen lyrischen Produktion kulminiert (zumindest wird dies durch die Abfolge
der Abende suggeriert). Aufschlussreich ist die Rolle, die Nietzsche in dieser
literaturgeschichtlichen Reihenbildung erhält: Dehmel stellt ihn gemeinsam mit
Detlev von Liliencron (beide Jahrgang 1844) an den Anfang der Reihe, womit er
ihm die Rolle des Initiators und Begründers einer modernen literarischen Ent-
wicklungslinie zuweist, als deren Endpunkt er sich selbst begreift.43 Dieses Denk-
und Argumentationsmuster ist charakteristisch für die Rolle, die Nietzsche in den
Künstlerkreisen der Moderne zugesprochen wurde.

42 Pan, Jg. 5, Heft 1, Berlin 1899/1900, S. 25.


43 Bereits vier Jahre zuvor rechnete Dehmel Nietzsche unter „[u]nsre mächtigsten Neuen“ in der
Kunst. Dabei konstruierte er allerdings keine Entwicklungsreihe, sondern stellte ihn in einen
internationalen Kontext, der, wie er selbst sagte, „Künstler jeder Gattung und Rasse“ einschloss:
„Wagner wie Zola, Nietzsche wie Flaubert, Hauptmann wie Huysmans, Böcklin wie Menzel,
Klinger wie Liebermann, Hildebrandt wie Meunier u. s. w. u. s. w.“ (Dehmel, Richard, o. T., in:
Pan, Jg. 1, Heft 2, Berlin 1895/96, S. 110–117, hier S. 115).
Nietzsches Rezeption als Dichter in der literarischen Moderne 477

4 Nietzsche als Dichter in der


Literaturgeschichtsschreibung der Moderne
Er wurde […] der größte Lyriker seiner Zeit, schwungvoller als Gottfried Keller, hinreißender
als Conrad Ferdinand Meyer, tiefer und origineller als Theodor Storm, aber die Zeit […]
merkte nichts davon.44

So urteilte Werner Ross, der Nietzsche damit nicht nur zum größten, sondern
auch zu dem am stärksten verkannten deutschsprachigen Lyriker seiner Zeit
erklärte. Zwar hat Nietzsches Lyrik im Lauf der Zeit sehr unterschiedliche Wertun-
gen erfahren, die ‚Unzeitgemäßheit‘ seines Stils aber wurde immer wieder kon-
statiert, und die zeitversetzte Rezeption ist ein Faktum. Nietzsches Gedichte ent-
standen zur Zeit des poetischen Realismus, ihre Wirkung aber entfalteten sie erst
im Rahmen der literarischen Moderne. Die stilistische ‚Unzeitgemäßheit‘ und die
zeitverschobene Rezeption werfen die Frage nach der literaturgeschichtlichen
Einordnung seiner Lyrik auf.
Die zeitgenössische Literaturgeschichtsschreibung verfuhr sehr unterschied-
lich mit Nietzsche. Das Spektrum reicht vom völligen Ignorieren über die An-
erkennung einer philosophisch-geistesgeschichtlichen Bedeutung oder die Zu-
weisung einer dichterischen Randstellung bis hin zu seiner Würdigung als
entscheidender Impulsgeber der modernen Literatur. Das 1906 erschienene Hand-
buch zur Geschichte der deutschen Literatur des völkisch orientierten Schriftstel-
lers und Literaturhistorikers Adolf Bartels nennt Nietzsche zwar unter der Rubrik
„Die jüngere Dekadence und der Symbolismus“ als „führende[n] Geist“ gleich an
erster Stelle, seine Gedichte aber werden mit keinem Wort erwähnt.45 Hingegen
erfährt er in der 1900 erschienen Literaturgeschichte Die deutsche Litteratur des
Neunzehnten Jahrhunderts des Berliner Philologen Richard M. Meyer, der Nietz-
sche 1888 über Paul Deussen finanzielle Unterstützung hatte zukommen lassen
und 1913 eine Nietzsche-Biographie veröffentlichte, ausführliche Würdigung, und
zwar als „Denker“ und als „Dichter“. Während Meyer die Prosa des Zarathustra
überschwänglich lobt und zum Vorklang einer „neuen Lyrik“ erklärt, fällt die
Beurteilung der Gedichte allerdings deutlich kühler aus: „Die eigentlichen Ge-
dichte wollen daneben mit wenigen Ausnahmen – den Hymnen Zarathustras –
nicht allzuviel besagen. Als Zeugnisse sind sie wertvoll; selten als Kunstwerke.
Sie sind Kinder der leichteren Stunden“.46 Das entspricht einer verbreiteten Ein-

44 Ross, Werner, Der ängstliche Adler. Friedrich Nietzsches Leben, Stuttgart 1980, S. 675.
45 Bartels, Adolf, Handbuch zur Geschichte der deutschen Literatur, Leipzig 1906, S. 739 f.

46 Meyer, Richard M., Die deutsche Litteratur des Neunzehnten Jahrhunderts, Berlin 1900, S. 732.
478 Katharina Grätz

schätzung; ähnlich urteilt auch der Freiburger Professor für neuere deutsche
Literatur Philipp Witkop in seiner Lyrikgeschichte von 1921, dass „die eigentli-
chen Gedichte Nietzsches“ gemessen an der im Umkreis des Zarathustra ent-
standenen hymnischen und dithyrambischen Lyrik deutlich abfielen.47
Nach der Jahrhundertwende rückte Nietzsche als Dichter immer stärker ins
Bewusstsein und es war nun kaum mehr möglich, ihn in Darstellungen der
jüngeren Literaturgeschichte vollständig zu übergehen. Symptomatisch hierfür
sind die Erweiterungen, die der Dresdner Literaturhistoriker Adolf Stern an seiner
Überblicksdarstellung Die deutsche National-Litteratur vom Tode Goethes bis zur
Gegenwart vornahm. Während Nietzsches Name in der dritten Auflage von 1894
noch fehlt, erwähnt ihn die 4. Auflage von 1901 – und zwar kurz, lobend und
explizit als „lyrische[n] Dichter“, der, wie Stern formuliert, „in der Getragenheit
und Feierlichkeit uralter Hymnentöne die Sehnsucht und den Trotz seiner ringen-
den Seele ausatmete“.48 Wenn Stern von „uralten Hymnentönen“ spricht, stellt er
Nietzsches Lyrik in die antike Tradition der dithyrambischen Gesänge auf Diony-
sos und der hymnischen Dichtung Pindars. Damit ist deutlich, dass auch er Nietz-
sches Lyrik weitgehend mit den Dionysos-Dithyramben identifiziert.
Die jüngere Generation der Schriftsteller und Literaturhistoriker macht die
verzögerte Rezeption von Nietzsches Lyrik zum Argument, um ihm die Rolle einer
zukunftsweisenden Brücken- und Leitfigur zuzuweisen. So stilisiert Cäsar Flai-
schlen, Redakteur des Pan und selbst Lyriker, Nietzsche 1896 zum umfassenden
geistigen und künstlerischen Neuerer. Er erklärt ihn zum „Befreier“, zu einem
Retter, der, lange verborgen und unerkannt, der Gegenwart den Weg aus einer
wirren und künstlerisch unfruchtbaren Zeit weise und ein großes, erst ansatz-
weise erschlossenes Potential für die Zukunft bereit halte. Die zeitversetzte Rezep-
tion wird dabei als ein Indiz für die unverstandene Größe Nietzsches gedeutet:

Man hatte draussen bei andern nach dem Befreier gesucht, der da stark und überlegen
genug wäre, voranzugehen und in dessen Zeichen man siegen könne, und plötzlich erkann-
te man, dass man ihn gar nicht zu suchen brauchte, dass er längst da war, nur in ganz
anderem Gewände. Eine neuentdeckte Welt that ihre Thore auf, und wenn man ihre
erhabene, fremde Grossartigkeit vorderhand auch nur mit dem Instinkt verstand – und
wenn man sie auch auf langhinaus noch kaum anders verstehen wird und wenn es vielleicht

47 „Nach den Jugendgedichten, deren Unselbständigkeit nur vom Gelöbnis ‚Dem unbekannten
Gotte‘ flammend durchbrochen wird, beginnt erst mit dem Jahre 1871 die persönliche Form sich
durchzuringen, eine Form, die von Anfang an dem Zarathustra zustrebt“ (Witkop, Die deutschen
Lyriker von Luther bis Nietzsche, Bd. 2, S. 300).
48 Stern, Adolf, Die Deutsche National-Litteratur vom Tode Goethes bis zur Gegenwart [1886], 4.,
neu bearbeitete und vermehrte Auflage, Marburg 1901, S. 695.
Nietzsches Rezeption als Dichter in der literarischen Moderne 479

auch noch Jahrzehnte dauern wird, ehe man ihre Abgründe und ihre Gipfel erstiegen haben
wird, – so fühlte man überall doch den Herrn und Sieger, der in seiner gewaltigen Per-
sönlichkeit einen Weg gefunden hatte aus dem wogenden Chaos der nach Klärung ringen-
den Zeitideen hinaus …49

In ähnlichem Sinn äußert sich Klabund, der die Orientierungsfunktion Nietzsches


freilich konsequent auf die Literatur bezieht. Klabund stilisiert ihn zur entschei-
denden literarischen Leitfigur, zum „Lehrmeister der jungen und jüngsten Dich-
tung“, der der deutschen Literatur nach der ‚Ausartung‘ des Naturalismus aus der
Krise geholfen habe. Nietzsche, so formuliert Klabund pathetisch, habe „das
deutsche Wort in barbarischer Epoche bewahrt und in heiligen Hainen Anbetung
und Weihrauch der tönenden Gottheit dargebracht“.50 Auch Samuel Lublinski
präsentiert Nietzsche in seiner Bilanz der Moderne als entscheidenden Impuls-
geber für die moderne Literatur, verortet ihn dabei allerdings konkreter im Kon-
text der Neuromantik: Es sei noch gar nicht abzuschätzen, „wie viel nicht zum
wenigsten gerade die Lyrik ihm zu verdanken“51 habe. Lublinski hebt Nietzsches
Dithyrambenstil hervor, „die modernen freien Rhythmen, die sich vom älteren
Dithyrambus eben dadurch unterschieden, daß die einzelnen Zeilen und Worte
viel energischer und auch farbiger stilisiert“52 würden.
Abschließend sei noch die Einschätzung Ernst Stadlers vorgestellt, des be-
kannten expressionistischen Lyrikers, der von 1910 bis 1914 als Professor für
deutsche Philologie in Brüssel lehrte. Er betont die bahnbrechende sprachinno-
vatorische Bedeutung Nietzsches für die Entwicklung der modernen Lyrik:

Nietzsche hat zunächst sprachlich gewirkt. Die inspiratorische Gewalt des im Zarathustra
geschaffenen lyrischen Prosastils, die neue Leidenschaftlichkeit, die ungestüme Bewegung,
die ungeheure Bildhaftigkeit, der sich nichts in der ältern deutschen Dichtung vergleicht
und die Nietzsche selbst einmal „die Rückkehr der Sprache zur Natur der Bildlichkeit“
genannt hat – alles das hat im stärksten Maße auf die lyrische Sprache der nachfolgenden
Zeit gewirkt. Der neue lyrische Stil ist nicht zu denken ohne diesen Einfluß, der die sprach-
lichen Mittel von Grund aus umgeschaffen und eine so vollkommene sprachliche Erneue-
rung in wenig Jahren herbeigeführt hat, daß etwa ein großer schöpferischer Dichter wie

49 Flaischlen, Cäsar, Zur modernen Dichtung. Ein Rückblick, in: Pan, Jg. 1, Heft 4, Berlin 1895/96,
S. 235–242, hier S. 240.
50 Klabund [d. i. Henschke, Alfred], Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde. Von den ältesten
Zeiten bis zur Gegenwart, Leipzig 1920, S. 83 f.

51 Lublinski, Samuel, Die Bilanz der Moderne, 2. Aufl., Berlin 1904, S. 161 f.

52 Lublinski, Die Bilanz der Moderne, S. 162.


480 Katharina Grätz

Dehmel die Notwendigkeit der Umarbeitung seiner Jugendgedichte geradezu mit dem „über-
raschenden Aufstieg“ begründet, „den die deutsche Wortkunst“ seitdem genommen habe.53

5 Schluss
Festhalten kann man nach diesen Einblicken in die modernen Kunstzeitschriften
und die zeitgenössische Literaturgeschichtsschreibung, dass die im weiteren Ver-
lauf des 20. Jahrhunderts einsetzende und bis in die jüngste Vergangenheit
reichende Marginalisierung von Nietzsches lyrischem Werk54 das Resultat eines
Umwertungsprozesses und eines Wandels des Nietzsche-Bildes ist. Während
Nietzsche bis heute vor allem als philosophischer Aphoristiker im Zentrum der
Aufmerksamkeit steht, wurde er in der frühen Rezeption primär als Dichter wahr-
genommen: „Er war mehr Prophet und Dichter als Philosoph“,55 heißt es pro-
grammatisch in Alfred Bieses Deutscher Literaturgeschichte von 1911. Als Dichter
und insbesondere als Autor des Zarathustra und der Dionysos-Dithyramben wurde
Nietzsche eine exzeptionelle Rolle zugesprochen, er wurde aufgefasst als ent-
scheidender Inspirator, ja mehr noch, als Begründer der literarischen Moderne. In
einer symbolischen Konfiguration setzt Theodor Däublers Hymne an Friedrich
Nietzsche (1910) die Ablösung des alten Orpheus durch den neuen, einsam
leidenden Sänger der Moderne in Szene:

Am Strande aber steht bereits ein anderer Sänger


Der zusieht, wie sich rings die Wellen überhetzen.
Zuerst hält Orpheus ihn für seinen Doppelgänger,
Denn oft schon sah er sich zugleich an vielen Plätzen.
Doch kann er sich gar bald vom andern unterscheiden,
Denn während jener heiter und alleine schreitet,
Wird er, der Dichter tiefer, unverwundner Leiden,
Von Tauben und von Rehen, wo er geht, begleitet.56

53 Stadler, Ernst, Geschichte der deutschen Lyrik der neuesten Zeit [Vorlesung an der Universität
Straßburg, Sommersemester 1914], in: Ders., Dichtungen, Schriften, Briefe. Kritische Ausgabe, hrsg.
von Klaus Hurlebusch und Karl Ludwig Schneider, München 1983, S. 453–470, hier S. 453.
54 Zu der gleichwohl (wenn auch spärlicher) vorhandenen literaturwissenschaftlichen Aus-
einandersetzung mit der Lyrik Nietzsches seit der Mitte des 20. Jahrhunderts vgl. die Ausführun-
gen im ersten Beitrag von Sebastian Kaufmann im vorliegenden Band.
55 Biese, Deutsche Literaturgeschichte, Bd. 3, S. 490.
56 Vgl. Däubler, Theodor, Das Nordlicht (Florentiner Ausgabe), Teil 3: Pan. Orphisches Intermez-
zo, München / Leipzig 1910, S. 106–113, Zitat S. 106.
Namenregister
Abel, Günter 184, 194 Bertram, Ernst 23, 214, 445–453, 455–463
Adam, Friedrich 446 Beutler, Ernst 174
Adelung, Johann Christoph 99, 235, 239 Bierbaum, Otto Julius 469
Adorno, Gretel 317 Biese, Alfred 2, 466, 469, 480
Adorno, Theodor W. 317 f., 333  Binder, Hermann 447
Agamben, Giorgio 157, 424 f., 429 f., 437
    Bircher, Martin 167
Aischylos 368 f.   Biser, Eugen 210
Albrecht, Andrea 208 Blanchot, Maurice 438
Alt, Peter-André 413 Bloch, Ernst 438
Altenberg, Peter 476 Blumenberg, Hans 432 f.  

Anz, Heinrich 208 Boccaccio, Giovanni 153, 454, 462


Apoll 44, 67, 190, 278 Böcklin, Arnold 476
Arbo, Alessandro 434 Bodmer, Johann Jacob 171
Archilochos 7, 19–21, 67, 110, 161 Boeckh, August 211
Aristophanes 316, 325, 333 Böhne, Winfried 460
Aristoteles 50 f., 231, 312, 326, 331, 358,
  Bolay, Ann-Christin 3, 214
420, 425, 427–429, 434–436, 438, Bondi, Georg 445–448, 450, 452, 462
450 Böning, Thomas 390
Arndt, Ernst Moritz 55 Borchardt, Rudolf 438
Arnim, Achim von 20, 35 Born, Marcus Andreas 92, 212, 239, 408
Arrighetti, Anna Maria 449, 461 Böschenstein, Bernhard 446–449, 452
Askani, Hans-Christoph 418 Bourget, Paul 405 f.

Assel, Heinrich 418 Brahms, Otto 10


Augustinus 34, 420 Brandt, Reinhard 57
Aurnhammer, Achim 446 f.   Bratuschek, Ernst 211
Braungart, Wolfgang 446
Babich, Babette 154 Brentano, Clemens 20, 27, 35, 38
Bacon, Francis 317 Breuer, Dieter 9
Ball, Hugo 466 Breuer, Ulrich 241
Bandy, William T. 402 Brinckmann, Karl Gustav 55
Barner, Wilfried 182 Bröcker, Walter 332
Bartels, Adolf 477 Brockes, Bathold Heinrich 84
Bartz, Christina 225 Broekman, Jan M. 474
Bataille, Georges 438 Brusotti, Marco 93, 131, 184, 340, 470
Baudelaire, Charles 117, 401–420 Buchmann, Kläre 8 f., 29

Begas-Parmentier, Luise 470 Buchner, Hartmut 23


Behler, Ernst 422 Büchner, Georg 52
Bellini, Vincenzo 108 Büchner, Ludwig 339, 350–352, 359, 364
Benjamin, Walter 156, 404, 409, 412, 438 Buddha 134, 466
Benn, Gottfried 50, 466 Bürgin, Hans 452
Benne, Christian 3, 158 f., 184, 339–342, 344,
  Buschendorf, Bernhard 47 f., 53, 55, 57, 61 f.,
   

346, 348 f., 353, 355, 368 f., 374 f.


      64
Berg, Leo 472 Buschendorf, Christa 49
Bertino, Andrea Christian 209 Byron, George Gordon Noel 127, 406, 451

DOI 10.1515/9783110474374-021
482 Namenregister

Cacciari, Massimo 433, 440 202, 204 f., 216, 274–276, 281, 286, 290,

Campioni, Giuliano 153 f., 241, 340, 429   301, 377 f., 386–388, 390, 392–395, 397,

Cancik, Hubert 470 399, 408, 457, 465, 470–472, 478, 480
Cancik-Lindemaier, Hildegard 470 Diotima 162, 326 f.  

Catinat, Nicolas de 360 f.   Djurić, Mihailo 319


Champfleury, Jules 402 Don Juan 130
Chartier, Alain 65 Drost, Wolfgang 410 Annette
Chateaubriand, François-René de 403 Droste-Hülshoff, Anette von 52
Christ, Wilhelm von 99 f.   Druskowitz, Helene 232
Christen, Felix 165 Dürer, Albrecht 56
Cicero, Marcus Tullius 51, 434 f.   Dutt, Carsten 224
Coleridge, Samuel Taylor 127
Colli, Giorgio 12, 29, 68, 98, 210, 434 Edschmid, Kasimir 469
Conrad, Michael Georg 469 Eichendorff, Joseph von 22, 27, 34 f., 40, 44,  

Corwegh, Robert 472 116, 208


Crépet, Eugène 404, 417 Eichler, Jürgen 128
Crescenzi, Luca 110 Eigeldinger, Marc 410
Crusius, Otto 422 Eigler, Gunther 320
Custine, Astolphe de 403 Elia-Borer, Nadja 423
Empedokles 3, 311, 352, 454
D’Acunto, Giuseppe 433 Engelmann, Peter 329, 431
D’Angelo, Paolo 431 Epikur 106
D’Aurevilly, Barbey 403 Erbe, Günter 403, 406 f., 413 f., 419
   

Damiani, Petrus 360 Eremita, Viktor 416


Damon 311 Erhart, Walter 467
Danneberg, Lutz 217, 222 f.  

Dante Alighieri 438 Fähnder, Walter 468


Darwin, Charles 343 f., 346, 351   Fautec, Heinrich 416
Dassmann, Ernst 462 Fazio, Domenico M. 434
Däubler, Theodor 480 Feger, Hans 219
Dauthendy, Max 476 Ferrari, Giuseppe 403
Dehmel, Richard 452, 472, 474, 476, 480 Ficino, Marsilio 51 f.  

Delcourt, Marie 462 Fietz, Rudolf 426


Deleuze, Gilles 322 f., 429   Figal, Günter 387, 420
de Man, Paul 421 f.   Fink, Eugen 250, 390
Demmerling, Christoph 209, 214, 218, 220 f.   Fink, Gerhard 39
Denissenko, Irina 460 Flaischlen, Cäsar 478 f.  

Derrida, Jacques 231, 329, 388, 426, 429, Flashar, Hellmut 50, 331
431, 438 Flaubert, Gustave 476
Dersch, Otto 186 f.   Fontane, Theodor 89, 450 f., 458  

Descher, Stefan 208 Fornari, Maria Christina 344, 351, 356


Deussen, Paul 316, 436, 477 Forrer, Thomas 165, 171
Diem, Hermann 416 Förster-Nietzsche, Elisabeth 8 f., 28 f., 31, 47,    

Dilthey, Wilhelm 214 49, 96, 213


Diner, Joseph 1, 10 f., 469   Foucault, Michel 438
Dionysos 3, 7 f., 11 f., 14, 16, 18, 20, 23, 26,
    Frank, Horst Joachim 42 f., 55, 69, 114–116, 174

48, 86, 95, 118, 167, 172, 174, 176, 193, Frank, Manfred 88, 125–127
Namenregister 483
(((Leerzeichen zwischen S.
[= Zweitname] und 232
einfügen)))
Frank, Peter 224 Groepper, Tamina 402
Frauenstädt, Julius 266, 343 Grumach, Ernst 50, 331
Freud, Anna 175 Grundlehner, Philip 26, 41, 48, 57, 81 f., 89,  

Freud, Sigmund 175 165, 180 f.


Fricke, Harald 223 Grüters, Hans 70


Friedrich, Hugo 223 Gundolf, Friedrich 446 f., 449–451

Fries, Thomas 422 f., 428, 431


  Günzel, Stephan 84
Frings, Manfred S. 232
  Guoth, Johann Jakob 55
Fuhrmann, Manfred 326 Guys, Constantin 413

Gabriel, Gottfried 217 f., 220 f., 223


    Haeckel, Ernst 344
Gasser, Peter 151 Haller, Albrecht von 8, 84
Gast, Peter (Heinrich Köselitz) 28, 49 Hamacher, Werner 421, 438, 442
Gautier, Théophile 402, 405 f., 418   Hamann, Johann Georg 52
Geijsen, Jacobus A. L. J. J. 246 Hart, Heinrich 469
George, Stefan 18, 446–453, 458, 461 f., 466,   Hartmann, Nicolai 234
471 f., 476
  Hauptmann, Gerhart 469, 476
Gerber, Gustav 426, 435 Hausmann, Manfred 176
Gerhardt, Volker 181, 184, 250 Hebbel, Friedrich 2, 458, 466
Gerratana, Federico 434, 437 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 19, 109, 132,
Gersdorff, Carl von 54, 435 231, 339, 360–362, 471
Gessner, Salmon 100, 167, 169, 171 Heidegger, Martin 10, 211, 231 f., 253, 268,

Gilman, Sander L. 165 f.   324, 330, 388, 416


Glöckner, Ernst Hermann 446, 449–452 Heine, Heinrich 7, 21, 27, 35, 52, 111, 127,
Gloy, Karen 198 167, 170, 174, 177, 208
Gnüg, Hiltrud 401, 414 Heit, Helmut 184, 200
Goethe, Johann Wolfgang von 11, 13 f., 22, 27,   Helios 190, 325
32, 34, 37, 54, 70, 72, 86, 97, 100, 102, Heraklit 190, 246
105, 110, 114, 153–155, 163 f., 173 f., 181,
    Herder, Johann Gottfried 357
194, 198 f., 202, 208, 217, 225, 360, 449,
  Hermerén, Göran 208
455–459, 462, 466, 478 Hernecker, Wilhelm 448
Goldammer, Peter 458 Hesse, Hermann 55
Gondek, Hans-Peter 329 Higgins, Kathleen Marie 341 f., 344, 346,

Göpfert, Herbert G. 413 349 f., 357, 370, 375 f.


   

Gorgias 326 Hildebrandt, Kurt 29, 476


Gottsched, Johann Christoph 168–170, 172 Hillebrand, Bruno 466, 469
Gow, Andrew S. F. 167–169 Hiller, Kurt 466
Grätz, Katharina 3, 28, 48 f., 89, 340   Hodonyi, Robert 470
Gray, Thomas 69 Hoenn, Karl 316
Griffin, Drew E. 341, 368 f.   Höfer, Josef 460
Grillparzer, Franz 207, 224 Hoff, Ansgar Maria 388 f.  

Grimm, Eduard 447 Hoffmann, E. T. A. 59


Grimm, Jacob und Wilhelm 74 Hoffmann, Thomas Sören 225
Grimm, Reinhold 167, 169 f., 172, 176   Hoffmeister, Johannes 360
Groddeck, Wolfram 3, 8, 12, 16, 29, 82, 200, Hofmannsthal, Hugo von 437, 466, 476
203 f., 274, 276, 281, 286, 290, 339,
  Hoheisel, Karl 462
386, 393, 397, 473 Hölderlin, Friedrich 33, 375, 454 f., 458, 462

484 Namenregister

Holm, Kurt 470 Knopf, Jan 474


Hölty, Ludwig Christoph Heinrich 50, 70 Koegel, Fritz 470
Homer 27, 32, 72, 96, 311 f., 334
  Kohns, Oliver 420
Horaz / Quintus Horatius Flaccus 354 Kolk, Rainer 446 f. 

Horkheimer, Max 317 Kolumbus, Christoph 15, 37, 123 f., 126, 129,

Hübscher, Arthur 271 131, 143, 462


Hufnagel, Henning 121 f., 129
  König, Christoph 447
Hühn, Peter 86 Kopernikus, Nikolaus 125
Hume, David 361 Kopperschmidt, Josef 422
Hurlebusch, Klaus 480 Kortländer, Bernd 170, 405
Huysmans, Joris-Karl 476 Köselitz, Heinrich (alias Peter Gast) 54, 96 f.,

99, 106, 108, 114, 116, 406, 408


Immer, Nikolas 472 Kranz, Margarita 235
Iser, Wolfgang 298 Krause, Marcus 225
Kray, Ralph 8 f., 29

Janz, Curt Paul 98, 227, 401 Kreuzer, Stefanie 420


Jaspers, Karl 93 Kroh, Paul 136
Jens, Inge 451 Krug, Gustav 435
Jesus Christus 126, 248, 286, 352, 441 Krüger, G. T. A. 354
(((Leerzeichen zwischen S. [= Zweitname]
Jung, Susanne 213 Krumme, Peter 421
und 470 einfügen))) Krummel, Richard Frank 466, 470
Kafka, Franz 233, 374 Kruse, Bernhard-Arnold 57, 61
Kaiser, Gerhard 390 Kuehl, Gustav 472
Kamzelak, Roland S. 470
  Kurz, Dietrich 320
Kandinsky, Wassily 124
Kant, Immanuel 100, 104, 147 f., 211, 220,
  La Rocca, Claudio 434
322, 351, 361, 364, 371, 390, 448 Lacoue-Labarthe, Philippe 422, 438
Karschnia, Alexander 420 Lamer, Hans 136
Kasper, Walter 173 Lämmert, Eberhard 233, 242, 447
(((Halbgeviertstrich
Kaufmann, Sebastian 3, 14, 28,/ 30,
Bis-60, 122, Lamping, Dieter 459
167, 172, 220, 339–341, 344, 357, 360, Landerer, Christoph 57
Strich verwenden)))
362, 364, 405, 473, 480 Langer, Daniela 423
Keller, Gottfried 456, 477 Large, Duncan 462
Kemp, Friedhelm 403, 413, 415-417 Laurenze, Max 470
Kessler, Harry Graf 470 Le Rider, Jacques 405 f., 410  

Kestner, Christian August 173 f.   Lechter, Melchior 472


Kiesow, Karl-Friedrich 188 Leisegang, Hans 212–217
Kittler, Friedrich 426, 431 Lenau, Nikolaus 22, 27, 55, 60, 69, 84
Klabund (Alfred Henschke) 471, 479 Leopardi, Giacomo 13, 52, 153 f.  

Klein, Johannes 25, 27, 83, 86 Levenstein, Adolf 473


Kleist, Heinrich von 48, 76 Lichtenberg, Georg Christoph 225, 439
Klibansky, Raymond 49–51, 57, 59, 65 Liddell, Henry George 167
Klinger, Max 440, 443, 476 Liebermann, Max 476
Klossowski, Pierre 438 Liliencron, Detlev von 472, 476
Kluncker, Karlhans 452 Lorrain, Claude 106 f., 448

Kluxen, Wolfgang 360 Lotman, Jurij 298 f., 301, 313 f.


   

Knoche, Michael 159, 434 Louis, Rudolf 445


Namenregister 485

Löwith, Karl 129, 219, 267 Montinari, Mazzino 29 f., 68, 98, 131, 163,

Lublinski, Samuel 479 210, 239, 434


Luhmann, Niklas 424 Moog-Grünewald, Maria 418
Lukács, Georg 126 Mörike, Eduard 116, 176, 208
Luther, Martin 157, 235, 473, 478 Moritz, Karl Philipp 57
Lütkehaus, Ludger 52, 138, 145 Most, Glenn 422 f., 428, 431

Müller, Armin Thomas 6, 22, 81, 123


Mainberger, Sabine 433 f., 437   Müller, Jörn 321, 334
Maistre, Joseph de 403 Müller, Renate G. 32, 167 f., 177  

Majetschak, Stefan 225 Müller-Lauter, Wolfgang 194


Mancini, Mario 357 Muschg, Walter 8
Mann, Heinrich 466 Musil, Robert 466
Mann, Thomas 4, 10, 448–452, 466
Manz, Gustav 470 Nancy, Jean-Luc 422, 438, 442
Martens, Gunter 3, 8, 29, 82, 473 Nebrig, Alexander 20, 159
Martin, Kathleen 277 Neuffer, Christian Ludwig 55
Martus, Steffen 208 Neymeyr, Barbara 138, 344
Mayer, Franziska 447 f.   Ní Dhúill, Caitríona 448
Mayer, Mathias 8 f., 12, 28, 31, 44, 50, 219 f.
    Niefanger, Dirk 467 f.  

Meier, Albert 413 Nietzsche, Franziska 37


Meletos 325 Novalis (Georg Philipp Friedrich von
Mellinger, Friedrich (Frederic) 469 Hardenberg) 59, 88, 124, 458, 473
Mendelssohn, Peter de 452
Mendelssohn Bartholdy, Felix 27 Oehler, David Ernst 32, 37
Menzel, Adolph von 440, 476 Oehler, Max 473
Menzer, Paul 447 Oehler, Richard 473
Mersch, Dieter 423 Oelmann, Ute 471
Meunier, Constantin 476 Oppeln-Bronikowski, Friedrich von 11
Meyer, Conrad Ferdinand 84, 450 f., 458, 477   Orpheus 39 f., 452, 480

Meyer, Richard M. 477 Ossian 72


Meyer, Theo 9, 21, 23, 25, 27–29, 32, 48, 50, Osterkamp, Ernst 447
98, 114 f., 181 f., 204, 466 f., 469
      Ottmann, Henning 7, 31, 34, 48, 83, 109,
Meyer-Sickendiek, Burkhard 456 241
Meysenbug, Malwida von 80, 435 Overbeck, Franz 54, 99, 107, 240, 246
Michaud, Stéphane 405 f., 415 f.
   

Michel, Christoph 70 Panofsky, Erwin 49–51, 57, 59, 65


Michelis, Angela 442 Papini, Giovanni 435
Michelstaedter, Carlo 421, 425, 429, 431, Parmenides 232
433-441 Patoussis, Stavros 201
Midas 289 Pautrat, Bernard 438
Mill, John Stuart 344, 347 Pestalozzi, Karl 27 f., 60, 153–155, 405, 411

Milton, John 51, 57, 59 Pestlin, Jörn 470


Minckwitz, Johannes 368 Petrarca, Francesco 153
Moeller van den Bruck, Arthur 476 Pfotenhauer, Helmut 405 f.  

Molènes, Paul de 403 Pichler, Axel 184, 190, 197, 202, 204, 224,
Mombert, Alfred 476 239
Montaigne, Michel de 360 f.   Pichois, Claude 402 f., 414 f., 418
   

(((Halbgeviertstrich /
Bis-Strich verwenden)))
486 Namenregister

Pinder, Wilhelm 28, 38, 45 Salaquarda, Jörg 340


Platon 51, 117, 162 f., 255, 273, 278, 315,
  Salomé, Lou von 97 f., 112, 118

320 f., 323–336, 426, 429, 434


  Sappho 175 f.

Plutarch 51 Schaberg, Wiliam H. 239


Podach, Erich 98 Schäfer, Christian 334
Pörnbacher, Karl 224 Schäfer, Martin Jörg 420
Pornschlegel, Clemens 170, 209 Schäfer, Rainer 386 f.  

Poussin, Nicolas 105 f.   Schäfer, Thomas 209


Prezzolini, Giuseppe 435 f.   Schaffer, Ekkehart 210
Prometheus 27, 57, 368 f.   Schanze, Helmut 422
Przybyszewski, Stanislaw 472, 476 Scheerbart, Paul 476
Poulet-Malassis, Auguste 403 f.   Schickele, René 8
Pütz, Peter 4, 21, 37 Schildknecht, Christiane 218 f., 221–223 

Schiller, Friedrich 27, 33, 60, 97, 100–104,


Rahner, Karl 460 111, 115, 168 f., 195, 217, 225, 299, 413

Raimund, Ferdinand (Ferdinand Jakob Schirnding, Albert von 9


Raimann) 55 Schlaffer, Heinz 240, 242, 250
Ranke, Joachim 433, 438 Schlechta, Karl 29, 474
Ranke, Leopold von 459 Schleiermacher, Friedrich 163, 255, 320, 330
Rapp, Christof 331 Schlichting, Hans-Burkhard 466
Raschel, Heinz 448–452 Schlieben, Barbara 446
Raymond, Marcel 404 Schmeitzner, Ernst 3, 7, 22, 96 f., 109, 111 

Rée, Paul 26, 79–81, 94, 97 f.   Schmid, Max 440


Reich-Ranicki, Marcel 3 Schmidt, Hermann Josef 25, 27 f., 30, 32,  

Rensi, Giuseppe 435 34 f., 37 f., 41, 43


   

Reschke, Renate 170, 184 f., 189, 470   Schmidt, Jochen 33, 51 f., 72, 344  

Rest, Walter 416 Schmidt, Willibald 458


Riedel, Manfred 9, 18, 47, 105, 122, 132, Schneider, Georg Heinrich 339, 344 f., 352,  

144 f., 212


  356, 359, 364
Riedel, Wolfgang 413 Schneider, Karl Ludwig 480
Ries, Wiebrecht 188 Schnell, Ralf 220
Rimbaud, Arthur 113 Schnitzler, Arthur 465
Rischmüller, Marie 361 Schober, Angelika 209
Ritschl, Friedrich 159 Schöne, Albrecht 458
Ritter, Joachim 235, 360 Schönert, Jörg 86
Robling, Franz-Hubert 433 Schopenhauer, Arthur 10, 19, 26, 52, 59,
Rodenberg, Julius 82 61–63, 104, 245 f., 250, 252, 260, 264,

Röder-Wiederhold, Louise 227, 229, 240 266, 271, 339, 343–345, 355 f., 358, 364,  

Rohde, Erwin 16 f., 49, 53–56, 61, 154, 435


  366, 406, 426, 434
Röllin, Beat 225, 227, 239 Schröder, Leonie 357
Roloff, Gustav 445 Schubert, Franz 18
Ronnberg, Ami 277 Schulte, Günter 181 f.  

Rorty, Richard 209, 214 Schultze, Gustav Adolf 54


Ross, Werner 319, 477 Schumann, Robert 18, 27
Rottmann, Mike 186 Schuster, Marc-Oliver 57
Rousseau, Jean-Jacques 60, 80, 361, Schwab, Philipp 416
403 f.   Seeger, Ludwig 316
Namenregister 487

Seneca, Lucius Annaeus 51 Thouard, Denis 210


Senger, Hans Gerhard 210 Thulstrup, Niels 416
Senger, Hugo von 16 Thüring, Hubert 157, 233
Seume, Johann Gottfried 55 Thurnher, Rainer 319
Siepe, Hans T. 405 Tieck, Ludwig 52, 88
Simmel, Georg 250 Tiedemann, Rolf 317, 409
Skowron, Michael 393 Tietz, Udo 184 f., 201

Sloterdijk, Peter 250 Tocco, Felice 434 f.


Smitmans-Vajda, Barbara 66 Trakl, Georg 55


Sokrates 3, 162 f., 172, 246 f., 316, 320 f.,
      Treccani, Irene 200
323–331, 333 f., 379 f., 382, 391 f., 397,
      Treu, Max 175
399, 441, 451 Trunz, Erich 32, 54, 360
Sommer, Andreas Urs 138, 246, 273, 341, Twain, Mark (Samuel Langhorne
344, 346, 349 Clemens) 79 f. 

Sophokles 437
Sophron 109 Ulrichs, Lars-Thade 219
Spencer, Edmund 235
Spencer, Hanna 170 Valk, Thorsten 466, 468, 472
Spencer, Herbert 339, 344, 347 f., 351, 356,
  Varela, Francisco 424
359, 364 Vendrell Ferran, Ingrid 218, 221
Spengel, Leonhard 358, 428 Vergil / Publius Vergilius Maro 39, 100, 111
Spies, Christian 420 Völker, Ludwig 49–52, 55, 60 f., 66, 69 f.
   

Stadler, Ernst 479 f.


  Volkmann, Richard 428
Stäudlin, Gotthold Friedrich 55 Vollhardt, Friedrich 217
Stefl, Max 94 Volz, Pia Daniela 48, 54, 61, 72 f., 76

Stegmaier, Werner 147, 181, 201, 209, 251, Voß, Johann Heinrich 70, 102, 116
301–303, 305, 313, 340, 342 f., 346, 351,

357, 374 Wagner, Richard 26, 57, 72, 102–104, 107,


Stein, Ludwig 213 110, 127, 217, 406, 451, 476
Stein, Malte 86 Walden, Herwarth 470
Steiner, Rudolf 470 Walz, Christian 358
Steiner, Uwe 156 Walzel, Oskar 213
Stifter, Adalbert 94, 250, 359, 456, 458 Weber, Frank 446
Stingelin, Martin 170, 209, 225, 438 Weber, Jürgen 159
Stöcker, Julius 8 Weinreich, Otto 316
Stockinger, Claudia 208 Wenner, Milan 6, 15, 37, 66, 80
Storm, Theodor 208, 477 Westermann, Anton 428
Strauß, Richard 472 Westermann, Hartmut 321
Strepsiades 316, 325 Wettstein, Jacobus 157
Sulzer, Johann Georg 169 f., 172
  White, Hayden 298
Szondi, Peter 212, 375 Widmann, Josef Victor 469
Wiese, Benno von 169, 360
Taškenov, Sergej 404 Winteler, Reto 393
Taviani, Giovanni 434 Witkop, Philipp 213, 472 f., 478

Teichert, Dieter 222 Witzler, Ralf 462


Theiler, Willy 331 Woesler, Winfried 3, 8, 29, 82, 473
Theokrit 99 f., 109, 111, 114, 166–171, 174
  Wohlfart, Günter 225
488 Namenregister

Wolf, Ursula 163, 255 Ziemann, Rüdiger 7, 12, 27, 31, 34, 38, 42,
Wotling, Patrick 153, 340 44, 46, 48, 82 f., 109, 181, 194

Wundt, Max 213 Ziermann, Christoph 333


Würzbach, Friedrich 473 Zimmer, Fabrice 406 f.  

Wuthenow, Ralph-Rainer 8, 12, 453 Zittel, Claus 3, 92, 181, 185 f., 190, 201 f., 212,
   

340, 342, 369, 375 f.  

Ziegler, Jean 402 f., 414 f.


    Zoccoli, Ettore G. 435
Ziegler, Theobald 2–3, 445, 447 f., 453–455,
  Zöfel, Gerhard 446
462 Zymner, Rüdiger 459
2f.,

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