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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 1
§ 2. Das Zeitbewußtsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96
§ 2 . Fremderfahrung .. .. . . . . . 143 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
A nhang
Sachregister . . . . . . . . . . .. . . . . .. . . .. . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . 239
Einleitung
beiten in den Manuskripten wie unter der Hand oder wie >>in Trance<< für den
Druck fertiggestellt worden. In solchen Veröffentlichungen >>FestgehalteneS<< hat
Husserl in den Manuskripten immer wieder neu durchdacht und oft, seinem
fortschreitenden Denken entsprechend, in neue Zusammenhänge gestellt. Die
vorliegende Darstellung orientiert sich in wichtigen Hinsichten auch an sol
chen, teils noch unveröffentlichten (Forschungs-)Manuskripten (siehe die No
tiz zu Husserls Nachlaß im Anhang). Allerdings muß ausdrücklich darauf
hingewiesen werden, daß Sachgebiete, deren Textunterlage praktisch ausschließ
lich in noch unveröffentlichten Manuskripten liegt, in unserer einführenden
Arbeit nicht berücksichtigt wurden. So kommen hier insbesondere etwa Hus
serls Arbeiten zur Ethik, zur Praxis und zur intentionalen Anthropologie, aber
auch die spätere Behandlung der universalen Zeitproblematik sowie, bei der
Darstellung der Analysen einzelner Erlebnisklassen, der Bereich der Gemüts
und Willenserlebnisse nicht zur Geltung.
steht sodann eine Reihe von Fragen, die sich auf die Herausarbeitung der Idee
einer reinen Logik sowie auf den Umriss ihrer Aufgaben bezieht. Husserls be
rühmt gewordene Widerlegung des logischen >>Psychologismus<<, deren es zur Ge
winnung der Idee einer reinen Logik bedurfte, ist von ihrem positiven Gegen
stück nicht zu trennen. Dieses besteht in einer neuartigen, eidetisch-deskriptiven
»Psychologie<< der Denk- und Erkenntniserlebnisse, die Husserl in den sechs
»Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis<< im Zweiten
Band der Logischen Untersuchungen (1901) einführte. Die »Reinigung<< der Ge
genstände und Gesetze der formalen Logik von psychologischen Bestimmun
gen in den Prolegomena ( 1900) ist nicht Husserls Endziel, sondern Vorarbeit,
um den Zusammenhang von reiner Logik und konkreten Denkakten, idealen
Erkenntnisbedingungen und zeitlich individuierten Erkenntniserlebnissen ver
stehen zu können. In dieser Perspektive erscheinen die Prolegomena denn auch
als Fortführung der zuvor in der Philosophie der A rithmetik angeschnittenen
Fragestellung.
Zum Abschluß des 1. Kapitels wird Husserls von früh an lebendiges Interesse
an einer spezifisch phänomenologischen, d. h. auf die »leistenden Tätigkeiten<<
zurückgehenden Erkenntnistheorie erörtert (§ 3). Die anfängliche Aufgabe ei
ner subjektiven Ergänzung der objektiven Logik führte Husserl zur Erforschung
des allgemeinen Korrelationsapriori von Erkenntnis, Erkenntnissinn und Er
kenntnisobjekt und zur Konzeption einer absoluten Wissenschaft, die als uni
versal gefaßte Konstitutionsanalyse die Ursprünge der Objektivität in der
transzendentalen Subjektivität aufzuklären bestimmt ist.
Das Kapitel 2 ist der methodischen Grundlegung der Phänomenologie als Wis
senschaft vom reinen bzw. transzendentalen Bewußtsein, in dem die Konstitu
tion der Gegenständlichkeiteil sich vollzieht, gewidmet. In ihm werden die
inneren Zusammenhänge von Reflexion, Reduktion und Eidetik dargelegt, und
zwar so, wie sie sich für Husserl im Rückgang »ZU den Sachen selbst<< allmäh
lich herauskristallisierten.
Die fundamentale Leistung der phänomenologischen Reduktion, die Husserl
etwa um 1905 deutlich zu erfassen begann, besteht darin, daß es mit ihr ge
lingt, eine methodisch reine Fassung des in der Reflexion zum Gegenstand der
Forschung gemachten Bewußtseins selbst sicherzustellen. Die Motivation zum
Vollzug der phänomenologischen Reduktion steht in einem engen Bezug mit
Husserls Beweggründen, daß er überhaupt philosophierte, bzw. mit seiner Idee
der Philosophie, die vor allem in der Auseinandersetzung mit dem philosophi
schen Skeptizismus Gestalt annahm. Husserl hatte in seinem Schaffen »verschie
dene gleichmögliche Wege<< eingeschlagen, um mittels der phänomenologischen
Reduktion von der natürlichen zur philosophischen Einstellung zu leiten. Im
wesentlichen lassen sich drei Wegtypen unterscheiden. Sie werden hier in eini-
4 Einleitung
gen Strichen im Horizont von Husserls Bezugnahmen auf Descartes, Karrt und
den englischen Empirismus von Locke, Berkeley, Hume gekennzeichnet. Hus
serls Idee der Philosophie ist bestimmt vom Gedanken der Erneuerung der bei
Sokrates-Platon urgestifteten Idee der Philosophie als absoluter Erkenntnis in
ihrer Verbindung mit der Selbsterkenntnis. Als solche Idee ist Philosophie in
Husserls Augen nur in einem unendlichen historischen Prozess, nicht als Werk
eines Mannes und »Systems<<, zu verwirklichen.
Eine nähere Bestimmung der Art der Wissenschaftlichkeit, die Husserl mit
seiner reinen oder transzendentalen Phänomenologie anstrebte, ergibt sich aus
der anschließenden Erörterung der Methode der Eidetik bzw., wie Husserl sich
auch ausdrückte, der eidetischen Reduktion. Die Darstellung macht auf die Zu
sammenhänge zwischen Husserls Lehre von der Eidetik oder Wesenswissen
schaft des Bewußtseins, seiner Auffassung des Sinnes des Apriori und der
Vorbildlichkeit der Denkungsart der Mathematik aufmerksam, um auf diesem
Hintergrund die »neue«, deskriptive Eidetik vom transzendental reinen Bewußt
sein zu erläutern, die Husserl in Parallele und Kontrast zu den >>alten<< eideti
schen Disziplinen der Geometrie und Arithmetik konzipierte. Skizziert wird
dann auch Husserls Verständnis des Verhältnisses von Tatsachenwissenschaften
(Erfahrungswissenschaften) und Wesenswissenschaften sowie sein Gedanke der
A nwendung apriorischer Erkenntnis auf das Faktische als Rationalisierung der
Erfahrungswissenschaften.
In den folgenden Kapiteln 3-6 kommen Husserls Analysen der Bewußt
seinstätigkeit, die den eigentlichen, methodisch im Sinne von Kapitel 2 klarge
stellten Forschungsgegenstand der Phänomenologie bildet, nach allgemeinen
Strukturen und Funktionen sowie nach spezifischen Grundformen und Mo
dalitäten zur Sprache.
Im Kapitel 3 werden die ganz allgemein das Bewußtsein überhaupt auszeich
nenden Strukturen und Funktionen der Intentionalität und der immanenten
Zeitlichkeit dargelegt. Husserl hat in den Logischen Untersuchungen die Verschie
denheit der intentionalen Gegenstandsbezüge, die den >>psychischen Phänome
nen« eignen, primär in den Wesensstrukturen des intentionalen Aktes (der Noesis),
und nicht in denen ihrer Gegenstände begründet (§ 1). Den Schritt zur Einbe
ziehung des intentionalen Korrelates, der noematischen Gegebenheits- und Funk
tionsformen, in das Feld phänomenologisch-reiner Gegebenheiten, hat Husserl
ab 1906 vollzogen. Er wurde für die Weiterentwicklung seiner Intentionalana
lytik zur Verwirklichung des Programms der Konstitutionsanalyse entscheidend,
wie unter Beiziehung der Ausführungen in den Ideen ( 1 9 13) gezeigt wird. Spe
zifischere Fragen bezüglich der Theorie der Beziehung des noematischen Sin
nes auf den wirklichen Gegenstand werden in den Kapiteln 4 bzw. 6 weiter
verfolgt (s. dort).
Einleitung 5
Das Anfangs- und Kernstück der Philosophie der A rithmetik (Kap. I-IV) über
nimmt ohne entscheidende Veränderungen den Text von Husserls Hallenser
Habilitationsschrift aus 1887: Über den Begriff der Zahl. Psychologische A naly·
sen (Hu XII, S. 289-338). Husserls Analysen zu Begriff und Ursprung der
(Kardinal-) Zahlen orientieren sich durchgängig an einem unkritischen Vorbe
griff, der die Zahl als eine komplexe > Gegenständlichkeit < faßt, als eine »Viel
heit von Einheiten« bzw. als »Mehrheit, Inbegriff, Aggregat, Sammlung, Menge<<
(S. 297). Husserls primäres Interesse richtet sich auf die genauere Bestimmung
der besonderen Art von »Vielheit<< bzw. »Inbegriff<<, die dem Begriff der Zahl
zugrunde liegt . Was ein > Zahl-Inbegriff< ist, läßt sich gemäß Husserls einleuch
tender Argumentation nur dadurch aufklären, daß man einerseits die darin be
faßten »Einheiten<< und andererseits die sie umfassende »Verbindung<< genauer
1 Daß Husserl auch später noch an den wesentlichen Einsichten der Ph. d. Arith. zum Zahlbe
griff festhielt, zeigt der Vergleich mit den Ideen!(§§ 119-122, 158), der FTL (§ 27) und EU(§ 96).
§ 1 . Psychologischer Ursprung arithmetischer Begriffe 13
beschreibt. Husserl vertritt zudem die Ansicht, daß diesen beiden Aufgaben
ausschließlich durch eine »Reflexion<< auf den »Akt<< nachzukommen ist, der
jede dieser »Einheiten<< aussondert >>und zugleich mit den anderen einigend zu
sammenhält.« (S. 337) Sachlich begründet er diese Behauptung im wesentlichen
dadurch, daß die Bildung des formalen Zahlbegriffs sich auf das allen inhalt
lich bestimmten, konkreten Inbegriffen Gemeinsame, nämlich den in ihrer Bil
dung implizierten Akt des Kolligierens stützen müsse. Der Begriff der Zahl läßt
sich somit nur in der Reflexion auf seinen >>Ursprung<< in psychischen Tätig
keiten aufklären. Frege folgerte daraus, daß Busserls Theorie »Psychologie und
Logik« zu einer modischen »Lauge<< vermische, in der »alles [zur] Vorstellung
wird<<.2 Die sachliche Berechtigung dieses Urteils wurde bisher kaum in Frage
gestellt; im Gegenteil, die Ansicht, Frege hätte damit Husserl von der Mischung
von Logik und Psychologie (dem »Psychologismus<<) geheilt und auf den Weg
einer klaren Scheidung von »Begriff,,, »Bedeutung<< und »Gegenstand<< geführt,
ist geradezu zum Gemeinplatz geworden.3 Wir können in dieser Frage erst
dann Stellung beziehen, wenn wir Busserls Ausführungen über den psycholo
gischen Ursprung des Begriffs der Zahl besser verstehen gelernt haben.
Der »Inbegriff,, oder die bestimmte Vielheit, welche die anschauliche Grund
lage zur Gewinnung des Begriffs der Zahl bilden, sind das Ergebnis eines Zu
sammenschauens von ursprünglicheren Einheiten. Es handelt sich dabei um
einen Prozess der Inklusion und Exklusion bzw. der > selektiven Aufmerksam
keit <, der bestimmt, welche vorgegebenen Einheiten zu einem Inbegriff ver
bunden werden. Es ist deutlich, daß die inhaltliche Bestimmung der zu einem
Inbegriff verbundenen Einheiten für die Bestimmung des Zahlbegriffs völlig
irrelevant ist: »Jedes Vorstellungsobjekt, ob physisch oder psychisch, abstrakt
oder konkret, ob durch Empfindung gegeben oder durch Phantasie etc., kann
zusammen mit einem jeden und beliebig vielen anderen zu einem Inbegriff ver
einigt werden, z.B. . . . ein Gefühl, ein Engel, der Mond und Italien<<. (S. 298)
Handelt es sich nicht mehr um einen konkreten (wie im Falle der Menge im
Busserlsehen Beispiel), sondern um einen abstrakten bzw. formalen Inbegriff,
wie denjenigen der Zahl, so kann bezüglich der in ihm verbundenen > Einhei
ten < im eigentlichen Sinn gar nicht mehr von > Objekten < gesprochen werden.
Es handelt sich dabei um »irgendwelche Inhalte<<, deren inhaltliche Bestimmt
heit irrelevant bzw. frei variabel ist, diese Inhalte werden »gedacht . . . als irgend
2 G. Frege, »Rezension von: E. G. Husserl, Philosophie der Arithmetik. 1«: Zeitschrift für Phi·
losophie und philosophische Kritik. N. F. 103 (1894), 5. 316, bzw. Kleine Schriften, hrsg. von I. Ange
lelli, Darmstadt, 1967, 5. 181.
3 Vgl. dagegen: D. Willard, »Concerning Husserl's V iew of Number�: The Southwestern Journal
of Philosophy, Vol. V, No. 3 (1974), 5. 97 f.: "frege, far from directing a >crushing attackupon Philo
sophie der Arithmetik, did not even understand the view of number which the book expresses.«
14 1 . Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie
etwas, als irgend eins« (S. 335). Husserl kennzeichnet diese >>Begriffe Etwas und
Eins . . . als Formbegriffe oder Kategorien<< (S. 84). Dasselbe gilt a fortiori für
die aus ihnen gebildeten abstrakten Inbegriffe »Vielheit und Anzahl<< (ebenda).
Die > Anzahl , wird dabei genauer als eine > Vielheit < gefaßt, für welche das >>Wie
viel<< der durch sie umfaßten >>Etwas<< >>scharf bestimmt<< ist (S. 8 3). Eine An
zahl (z. B. > drei <) ist nichts anderes als die durch kollektive Verbindung von
Einsen gebildete bestimmte Vielheit: >>Irgend etwas und irgend etwas und ir
gend etwas . . . oder: irgend eines und irgend eines und irgend eines . . . oder kür
zer: eins und eins und eins . . . << (S. 3 3 5). Der Zahlbegriff ist somit der Begriff
einer abstrakten, j edoch bezüglich der sie aufbauenden Einheiten »scharf be
stimmten<< Vielheit.
Husserl geht es j edoch in erster Linie >>nicht um eine Definition des Begriffs
Vielheit [bzw. Anzahl], sondern um eine psychologische Charakteristik der Phä
nomene, auf welchen die Abstraktion dieses Begriffs beruht<<. (S. 30 1)4 Diese
>>psychologische Charakteristik<< macht es sich zur Aufgabe, die Bildung des Zahl
begriffs in entsprechenden psychologischen Tätigkeiten zu verfolgen. Die For
mulierung dieser Frage nach dem psychologischen >>Ursprung<< des Zahlbegriffs
ist deutlich geprägt von der Psychologie Brentanos und insbesondere etwa von
den Untersuchungen von Carl Stumpf (Über den psychologischen Ursprung der
Raumvorstellung, 1 873), bei dem sich Husserl mit der hier besprochenen Schrift
Über den Begriffder Zahl. Psychologische A nalysen habilitiert hat. Ihre sachliche
Berechtigung schöpfen diese >>psychologischen Analysen<< zum >>Begriff der Zahl<<
aus der Beobachtung, daß der Akt des Kolligierens die einzige Invariante in der
Entstehung von allen konkreten Inbegriffen darstellt. Es liegt somit nahe, sich
an dieser psychischen Invariante zu orientieren, wenn es um die Charakterisie
rung der Bestimmung der Begriffe »Vielheit<< und >>Anzahl<< geht. Es handelt
sich bei dieser Aufklärung des Sinnes der >>Formbegriffe oder Kategorien<< »Viel
heit und Anzahl<< (S. 84) durch die Beschreibung ihrer Bildung in einem >>psy
chischen Akt zweiter Ordnung<< bzw. >>höherer Ordnung« (S. 74, 92) um eine
erste, jedoch noch mangelhafte Durchführung einer phänomenologischen Kon
stitutionsanalyse.5 Es ist kein Zufall, daß diese Konstitutionsanalyse erstmals
an einem Gegenstand durchgeführt wurde, für den es im Bereich sinnlicher Er-
4 Die Hervorhebungen innerhalb der Zitate stammen in der Regel von den Verf. Wo dies nicht
der Fall ist, wird darauf jedoch nicht eigens hingewiesen.
1 Vgl. R. Sokolowski, The Formation of Husserl's Concept of Constitution, The Hague, 1964, S.
15ff. Vgl. auch J. Ph. Miller, Number in Presence and Absence. A Study of Husserl's Philosophy of
Mathematics, The Hague/Boston/London, 1982, S. 38 ff. Miller relativiert in seiner sorgfältigen und
überzeugenden Argumentation die Behauptung von de Boer, es könne sich in der Ph. d. Arith.
keinesfalls schon um einen phänomenologisch verstandenen Begriff des Ursprungs und der Kon
stitution handeln (vgl. Th. de Boer, The Development of Husserl's Thought, The Hague/Boston/Lon
don, 1978, S. 72, 119 ff. ).
§ 1 . Psychologischer Ursprung arithmetischer Begriffe 15
fahrung von empirischem Sein kein Äquivalent gibt. Inbegriffe von der Art
der Vielheit bzw. der Zahl gibt es nur vermöge der kolligierenden Tätigkeit,
die abstrakte Gegenstände von der Art des >>Etwas-überhaupt« aufeinander be
zieht und synthetisch vereinheitlicht. In die Terminologie der Logischen Unter
suchungen übersetzt heißt dies nichts anderes, als daß kategoriale Gegenstände
nicht in sinnlicher Anschauung, sondern nur in einem Akte kategorialer Tä
tigkeit gegeben sind bzw. sich konstituieren (vgl. unten S. 169-171).6
Ein problematischer Teil in Husserls Ausführungen zum psychologischen
Ursprung des Zahlbegriffs bleibt jedoch die der Reflexion zugeschriebene
Funktion. Husserl behauptet, der Begriff der Zahl als bestimmte Vielheit er
gebe sich aus der Reflexion auf den Akt des Kolligierens. Der Begriff der Zahl
leite sich nämlich vom Begriff der kollektiven Verbindung her; die kollek
tive Verbindung der Elemente sei ein unterscheidendes Merkmal von allen
konkreten Inbegriffen; dieses Merkmal könne durch abstraktive Aufmerksam
keit jedem konkreten Inbegriff entnommen werden; diese abstraktive Aufmerk
samkeit sei notwendig mit Reflexion verbunden, denn die kollektive Verbin
dung entstehe im psychischen Akt des Kolligierens. Eine erste Schwierigkeit
ergibt sich bereits aus der Bestimmung der Tätigkeit der kollektiven Eini
gung, auf die zur Gewinnung der Begriffe kollektive Verbindung und Vielheit
zu reflektieren sei (S. 330, 333 ff.). Der Akt des Kolligierens besteht darin, in
zeitlicher Sukzession und logisch bestimmter Ordnung diskrete Inhalte für
sich zu bemerken und zugleich in einer sie umfassenden Einheit zusammen
zufassen (S. 337). Genauer besehen richtet sich der Akt des Kolligierens auf
bewußtseinsmäßig gegebene Inhalte, er ist also ein >>psychischer Akt zweiter Ord
nung<< bzw. >>höherer Ordnung<<, welcher sich kollektiv einigend auf die psy
chischen Akte bezieht, in denen die entsprechenden diskreten Inhalte für sich
bemerkt werden (S. 74, 92). In die Sprache der Logischen Untersuchungen über
setzt ist der kolligierende Akt also ein fundierter Akt kategorialer Formung
frei variabler, letztlich aber doch sinnlich gegebener Stoffe. In der Philosophie
der A rithmetik wird diese kategorial formende Leistung j edoch noch sehr un
deutlich als >>Akt des zusammenfassenden Interesses und Bemerkens<< bestimmt
(S. 337; vgl. auch S. 335), als Akt selektiver Aufmerksamkeit. Was nun die
Reflexion auf diesen Akt des Kolligierens selbst betrifft, so soll sie imstande
sein, nicht etwa bloß die wesensmäßigen Merkmale des psychologischen Voll-
6 Nach Husserls eigenem Eingeständnis gelingt jedoch auch den Log. Unters. noch keine voll
befriedigende Analyse der kategorialen Anschauung. Husserl verwarf später insbesondere die Auf
fassung, daß der repräsentierende Inhalt der kategorialen Anschauung als ein »psychisches Band«
verstanden werden müsse. Es fällt nicht schwer, in dieser Lehre von einem psychischen Band, das
der kategorialen Apperzeption zugrunde liegt, ein Erbstück der Ph. d. Arith. und deren Lehre von
der Bildung des kategorialen Begriffs der Zahl zu erkennen.
16 1 . Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie
den Akt. Es scheint plausibler, diese Begriffsbildung im Hinblick auf eine indi
viduelle, inhaltlich bestimmte Vielheit zu fundieren, d. h. im direkten Hin
blicken auf die (»sinnlich vermischte<<) kategoriale Gegenständlichkeit, und sich
dafür nicht auf die Reflexion auf den sie konstituierenden kategorialen Akt zu
berufen. Wir werden noch sehen, daß dies in der Tat die Ansicht ist, die Bus
serl in den Logischen Untersuchungen vertritt.
Vorerst wollen wir aber noch erörtern, welche Rolle die Reflexion in der Bil
dung des Allgemeinbegriffs Etwas spielt, jenes Begriffs also, der zusammen mit
dem Begriff der kollektiven Verbindung den Begriff der Zahl ausmachen soll.
Der >>Formbegriff,, (S. 84) des Etwas bezieht sich auf die inhaltsentleerten »Ein
heiten<<, welche als »Fundamente<< der kollektiven Verbindung fungieren. »Ir
gend etwaS<< (S. 335) kann mit »irgend eins<< (S. 335) zum Ganzen einer formalen
Vielheit kolligiert werden, und wenn das »Wieviel<< dieser mannigfaltigen »ir
gend eins<< bestimmt ist, so ist diese formale Vielheit eine Anzahl (S. 83). Der
Begriff dieses »irgend eins<< bzw. >>Etwas<< (S. 3 3 5) soll nun nach Husserl seine
Entstehung ebenso der Reflexion verdanken wie der Begriff der kollektiven Ei
nigung. Busserls Argument lautet, daß >>Etwas<< einen beliebigen Inhalt einer
Vorstellung-überhaupt bezeichne und somit nur in der Reflexion auf dieses Vor
stellen zu erfassen sei: >>Etwas ist ein Name, welcher auf jeden denkbaren In
halt paßt . . . . Worin alle Gegenstände . . . übereinkommen, ist nur dies, daß sie
Vorstellungsinhalte sind . . . Offenbar verdankt der Begriff des Etwas seine Ent
stehung der Reflexion auf den psychischen Akt des Vorstellens, als dessen In
halt eben jedes bestimmte Objekt gegeben ist . . . . Natürlich kann der Begriff
Etwas nie gedacht werden, ohne daß irgendein Inhalt gegenwärtig ist, an dem
jene Reflexion vollzogen wird<< (S. 3 3 5 f.). Einleuchtend in dieser Argumenta
tion ist jedenfalls, daß, wenn das Etwas als beliebiger Vorstellungsinhalt bezeich
net wird, der Blick auf den korrelativen beliebigen bzw. invarianten Vorstel
lungsakt der (erkenntnistheoretischen) Klärung des Begriffs Etwas evtl. förder
lich sein kann. Wiederum muß man sich aber fragen, ob es zur Bildung des
Formbegriffs Etwas notwendig >>der Reflexion auf den psychischen Akt des Vor
stellens<< bedarf oder ob als Abstraktionsfundament zur Bildung dieses All
gemeinbegriffs nicht vielmehr der in dieser Vorstellung intentional bewußte
Vorstellungsgegenstand dienen soll. Husserl scheint im obigen Zitat selbst schon
in diese Richtung zu gehen, wenn er sagt, daß die Reflexion an irgendeinem
gegenwärtigen Inhalt zu vollziehen sei und daß dieser Inhalt das bestimmte Ob
jekt einer Vorstellung sei. Nicht deutlich wird jedoch, ob dieses Vorstellungs
objekt ein schlichter (>>jedes bestimmte Objekt<<, S. 336) oder ein kategorialer
Gegenstand (>>Gedankending<<, S. 335) ist. Und es bleibt vollkommen dunkel,
wie aus der > Reflexion < auf irgendein (inhaltlich) bestimmtes Objekt einer kon
kreten intentionalen Vorstellung der Formbegriff des Etwas entstehen kann.
18 1 . Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie
7 E. Husserl, »[Rezension von] Schröder, Ernst, Vorlesungen über die A lgebra der Logik . « : Göt·
..
tingsche gelehrte A nzeigen, 2, Nr. 7 ( 1 891), S. 243 -278. Neu veröffentlicht in Hu XXII. (Wir ver
weisen auf die auch in der Hussediana-Ausgabe angeführte ursprüngliche Paginierung.)
Wir können hier nicht auf die zentralen Anliegen der Schröder-Rezension eingehen, nämlich auf
den Zusammenhang von Umfangs- und Inhaltslogik sowie insbesondere die prinzipielle Abhebung
einer Logik des deduktiven Denkens und fortschreitenden Erkennens vom Folgerungskalkül und
dessen automatisch-technischem Hantieren mit Zeichen: »Weit entfernt eine Theorie der reinen
Folgerungen zu sein, ist er [sc. : der Kalkül] vielmehr eine Kunst, solche Folgerungen entbehrlich
zu machen. Er ist nichts anderes als eine Zeichentechnik ... Unabweisbar sind freilich hier, wie
20 1 . Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie
im selben Jahr wie die Philosophie der A rithmetik erschien (d.h. drei Jahre vor
Freges Rezension der Philosophie der A rithmetik), macht Husserl Sehröder den
Vorwurf, Bedeutung und Vorstellung sowie Bedeutung und Gegenstand nicht
mit genügender Deutlichkeit voneinander abzuheben (S. 250). Husserl insistiert
demgegenüber darauf, daß das Schwanken der subjektiven Vorstellung eines Ge
genstandes nicht eo ipso eine schwankende Bedeutung genannt werden könne
und daß Namen ohne entsprechenden, wirklichen Gegenstand doch nicht be
deutungslos sind.
Frege ging in seiner Kritik der Philosophie der A rithmetik aber noch viel wei
ter und behauptete: bei Husserl >>wird alles Vorstellung<< (S. 3 1 6) und das heißt
für ihn, alles wird zeitlich individuierter, intramentaler Bewußtseinsinhalt ei
ner empirischen Person. Leider ist auch in der späteren Literatur zur Philoso
phie der A rithmetik die Meinung sehr verbreitet, eben diese von Frege gerügte
Identifizierung arithmetischer Gegenstände, Begriffe und Relationen mit reel
len Bewußtseinsinhalten mache den dieses Werk kennzeichnenden >>Psycholo
gismus« aus. Freges Kritik geht jedoch zu weit, und die sich darauf stützenden
Busserl-Interpreten gehen meist ganz fehl. Zwar wird die Beziehung zwischen
der objektiv-logischen kollektiven Verbindung und dem Akt des Kolligierens
bei Husserl nicht deutlich genug herausgearbeitet, jedoch wird die kollektive
Verbindung nicht als psychischer Akt bezeichnet. Nur einem oberflächlichen
Leser kann entgehen, daß in Husserls Bezeichnung der kollektiven Verbindung
als >>psychische Verbindung« der Terminus >>psychisch« nicht im Gegensatz zu
»objektiv«, »logisch« oder >>ideal« gebraucht wird, sondern im Gegensatz zu >>phy
sisch«. Eine >>psychische« Relation ist in dieser sich an Brentano anlehnenden
Terminologie im Gegensatz zu der >>physischen« Relation eine Verbindung, die
nicht in der inhaltlichen Bestimmung der verbundenen Glieder fundiert ist
(S. 329 ff.). Was nun die Begriffe Etwas und kollektive Verbindung angeht, so be
hauptet Husserl zwar, daß es zu ihrer Bildung der Reflexion auf psychische Tä
tigkeiten bedarf. Aber dadurch wird der >>Formbegriff oder Kategorie« (S. 84)
der kollektiven Verbindung doch nicht eo ipso schon mit dem ihm als Abstrak
tionsfundament dienenden >>psychischen Akt zweiter Ordnung« identifiziert.
Gleichermaßen bedeutet auch Husserls schwankende Bestimmung des Abstrak
tionsfundamentes für den Begriff Etwas doch keineswegs, daß er den Gegenstand
bei allen calculatorischen Disciplinen, die schwierigen Fragen nach Wesen und logischer Berechti
gung der rechnenden Methode, zumal von der Beantwortung derselben allererst der Erkenntnis
wert der Resultate dieser Disciplinen abhängig ist . . . Aber die Logik dieses algebraischen [Logik-]
Calculs fällt nicht in den Gesichtskreis der ihn für deduktive Logik haltenden Forscher, zumal
ja die Geistesoperationen, auf denen er beruht, selbst nicht in jenes Gebiet reiner Folgerungen gehö
ren, welches er ausschließlich beherrscht. Der Logikcalcul ist also ein Calcul der reinen Folgerun
gen, nicht aber ihre Logik.<< (A.a.O. , S. 247).
§ 1 . Psychologischer Ursprung arithmetischer Begriffe 21
8 Vgl. Freges Brief an Husserl vom 24. V. 1 8 9 1 : G. Frege, Wissenschaftlicher Briefwechsel, hrsg.
von G. Gabriel, Hamburg, 1976, S. 96. Zur Geschichte der Interaktion von Husserls und Freges
Denken vgl. insbes. J. N. Mohanty, >>Husserl and Frege. A New Look at their Relationship«:
Research in Phenomenology, Vol. IV ( 1974), S. 5 1 - 62 und auch in: Readings on Edmund Husserl's
Logical Investigations, ed. by J. N. Mohanty, The Hague, 1976, S. 22 -32.
9 Vgl. ]. P. Miller, a.a.O. , S. 1 9 f.
22 1 . Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie
menologie als subjektiv gerichtete Begründung der Arithmetik und Logik. Hus
serl ließ sich nämlich durch Frege nicht etwa von seinem Projekt einer subjek
tiven Fundierung der Geltung von arithmetischen Operationen, logischen
(Denk-) Gesetzen sowie von allen Aussagen schlechthin abbringen, doch er be
griff die Notwendigkeit, deren methodologischen Status zu verdeutlichen. Die
psychologischen Ursprungsanalysen der Philosophie der A rithmetik verwandeln
sich dann in eine phänomenologische Analyse des intentionalen Bewußtseins,
in dessen Leistungen die ideale Geltung mathematischer und logischer Opera
tionen erkenntnistheoretisch fundiert bzw. konstituiert wird. Die Durchfüh
rung dieser subjektiv gerichteten bzw. erkenntnistheoretischen Begründung der
arithmetisch idealen Gegenstände bleibt in der Philosophie der A rithmetik inso
fern noch psychologistisch, als sie sich auf empirisch-psychologisch und nicht
eidetisch-phänomenologisch bestimmte Erkenntisakte stützt.
10 Husserl verweist selber auf die Verwandtschaft dieser Analysen mit denjenigen der Gestalt
Psychologie. Husserl erwähnt insbes. Chr. Ehrenfels' Theorie der »Gestaltqualitäten« und die ge
meinsame Abhängigkeit von E. Mach (Anm., S. 2 1 0 f.).
11
»Indem wir nun von froh auf die durchlaufende Einzelauffassung bei den verschiedenartig
sten Mengen übten, mußten sich notwendig diese Kennzeichen [sc. : figuralen Momente) . . . mit
dem Mengenbegriff assoziieren und so jeweilig die Brocken herstellen für die unmittelbare Aner
kenntnis einer zunächst einheitlichen sinnlichen Anschauung der hier betrachteten Art als einer
Menge.<< (S. 203)
12
••Und so ist denn die ... Zahlensymbolik (im besonderen unser gemeinübliches dekadisches
System) nicht eine bloße Methode, gegebene Begriffe zu signieren, als vielmehr neue Begriffe zu
konstruieren und mit der Konstruktion zugleich zu bezeichnen.<< (S. 234)
24 1 . Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie
3 2 + 1; 4
= = 3 + 1; ; 10
0 0 0 9 + 1 << (S. 226) Dieses Verfahren erlaubt
= .
zwar die Bildung einer unendlichen Zahlenreihe, für die höheren Zahlen ist
jedoch die Bestimmung ihrer systematischen Stelle in der Zahlenreihe (und so
mit jedes Rechnen) höchst umständlich: >>Der Begriff 50 ist uns gegeben durch
die Bildung 49 + 1. Was ist aber 49? 48 + 1. Was 48 ? 47 + 1 usw. Jede Antwort
bedeutet eine Zurückschiebung der Frage um einen neuen Schritt, und erst wenn
wir in das Gebiet der eigentlichen Zahlbegriffe [ 1 1 2] gekommen sind, kön
0 0 . ,
nen wir befriedigt stehen bleiben.<< (S. 229) Diese Schwierigkeit ist dadurch zu
überwinden, daß wir aufgrund der eigentlichen Zahlbegriffe ein System von
Zahlsymbolen und uneigentlichen Zahlbegriffen konstruieren, >>das jeder be
stimmten Zahl ein bequemes, leicht unterscheidbares Zeichen verleiht und zu
gleich ihre systematische Stelle in der Zahlenreihe scharf ausprägt<< (S. 228). Ein
mögliches Konstruktionsprinzip besteht darin, die (intuitiv zu bildenden) Zahlen
1 bis 9 als Elementarzahlen zu bezeichnen und die weiteren Zahlen durch Wie
derholung der Elementarzahlenreihe zu bilden. Ein dem Elementarzahlzeichen
vorangestelltes Zahlzeichen bezeichnet die Stufe der Wiederholung: 1. Wieder
holung >>1 << : 1 1 , 1 2, 1 3,
= 18, 19; 2. Wiederholung >>2<< : 20, 21, 22, 23,
0 0 0 =
der Zahlsymbole beruht somit auf der Reihe der anschaulich gegebenen Zahl
begriffe; daß nur die ersten zehn Glieder dieser Reihe als Elementarzahlen fun
gieren, hat nach Husserl allein faktische Gründe (zehn Finger; vgl. S. 246).
Der erste Band der Logischen Untersuchungen, der 1900 unter dem Titel >>Prole
gomena zur reinen Logik<< erschien, ist dasjenige von Husserls Werken, wel
ches bei seinen Zeitgenossen die größte Beachtung gefunden hat. Allein schon
der Umstand, daß ein beinahe unbekannter Privatdozent sich nicht scheute,
maßgebende und anerkannte Philosophen, Logiker und Psychologen seiner
Zeit13 widersinniger Denkweisen zu bezichtigen, mag die Aufmerksamkeit auf
dieses Werk gerichtet haben. Als sich dann bei näherer Kenntnisnahme erwies,
daß die Prolegomena keine polemische Streitschrift waren, sondern eine sorg
fältige und ernsthafte Untersuchung zu einer zentralen Fragestellung der zeit
genössischen Philosophie, da war eine breite und tiefe Wirkung des Werkes
gesichert. Es war Husserl gelungen, den Bann zu brechen, welchen die rasche
Entwicklung einer wissenschaftlichen Psychologie auf seine Zeitgenossen aus
übte. Mit der reinen Logik gewann die Philosophie nicht allein wieder ein eige
nes, von Psychologie und Naturwissenschaft unabhängiges Forschungsgebiet,
sondern auch ein Gebiet >>höchster Dignität<<. Erst die Befreiung der Philoso
phie von naturwissenschaftlichen Denkweisen eröffnete den Blick auf die Trag
weite philosophischer Wissenschaftstheorie, auf die reine Logik als mathesis
universalis. Viele Leser der Prolegomena haben den paradoxen Charakter dieser
Errungenschaft übersehen: Die Befreiung der formal-logischen Gegenstände und
Gesetze von psychologischen Bestimmungen war nicht Busserls Endziel14, son
dern bloße Vorarbeit, um den Zusammenhang von reiner Logik und konkre
ten (psychischen bzw. phänomenologischen) Denkerlebnissen, idealen Erkennt
nisbedingungen und zeitlich individuierten Denkakten verstehen zu können.
Die Prolegomena sind somit durchaus als Fortführung der schon in der Philoso
phie der A rithmetik angeschnittenen Fragestellung zu begreifen.
Die Prolegomena untersuchen zwei Grundformen logischer Wissenschaft: nor
mative Logik und reine Logik. Beiden gemeinsam ist jedoch das Interesse an
der >>Begründung<< möglicher wissenschaftlicher Erkenntnis. Logik ist >>Wissen
schaftslehre<<, d. h. Lehre von den Bedingungen wahrer Aussagen und ihrer Ein
ordnung in den systematischen Zusammenhang einer kohärenten wissenschaft
lichen Theorie. Bezieht sich die Logik naturgemäß auf mögliche Denkakte, so
ist eine genaue, gegenseitige Abgrenzung von logischen und psychologischen
Gesetzmäßigkeiten nicht bloß Aufgabe einer methodologischen Vorarbeit, son
dern die zentrale Aufgabe. Die Abweisung des logischen >>Psychologismus<<,
d. h. die Befreiung der >>reinen<< Logik von ihrer Einordnung in die (empirisch
genetische) Psychologie, ist nicht zu sondern von ihrem positiven Gegenstück,
der Ausbildung einer neuartigen, eidetisch-deskriptiven > Psychologie <. Die anti
psychologistische, reine Logik der Prolegomena verweist mit sachlicher Not
wendigkeit auf die »Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Er
kenntis<< im 2. Band der Logischen Untersuchungen.
1 4 Dies ist ein wesentlicher, oftmals übersehener Unterschied zwischen der Kritik, die Husserl
und G. Frege (vgl. insbes. Die Grundlagen der A rithmetik, Breslau, 1 8 84) am logischen Psycholo
gismus geübt haben.
26 1 . Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie
Es ist deutlich, daß das wesentliche Interesse der Prolegomena und damit auch
die treibende Kraft in der polemischen Auseinandersetzung mit dem logischen
Psychologismus durch die Idee einer reinen Logik bestimmt ist. Husserls Ziel
ist (seit der Konzeption des allerdings nie erschienenen 2. Bandes der Philoso·
phie der A rithmetik) die Ausbildung >>einer allgemeinen Theorie der formalen
deduktiven Systeme<<15, einer formalen mathesis universalis. Man darf jedoch
nicht übersehen, daß dadurch die >>Berechtigung<< einer praktisch-normativen
Logik, der >>Logik als Methodologie, als Kunstlehre des wissenschaftlichen Er
kennens . . . natürlich unangetastet bleibt.<< 16 Und auch wenn nicht zu leugnen
ist, daß die Behandlung dieser logischen Kunstlehre den Prolegomena primär
dazu dient, die reine Logik als deren theoretisches Fundament einzuführen
(Kap. li und III), so darf man doch die Behauptung wagen, Husserls Idee der
reinen Logik bleibe wesentlich mit praktischen Motiven verbunden. Nicht nur
weil eine normative Kunstlehre der theoretischen Fundierung bedarf, sondern
auch weil eine Theorie, die von den Bedingungen der Rationalität überhaupt
handelt, der Förderung eines vernunftgemäßen, konkreten Lebens dienen muß.
Die Kunstlehre des wissenschaftlichen Erkennens besteht aus Vorschriften dar
über, wie und unter welchen Bedingungen wissenschaftliche Erkenntnis erreicht
werden kann. Diese Vorschriften zerfallen in normative Sätze und praktische
Anleitungen zu deren konkreter Verwirklichung. Die normativen Sätze betref
fen richtiges Denken, Urteilen und Schließen sowie die systematische Einord
nung der Sätze in den Zusammenhang einer Theorie; die praktischen Anlei
tungen betreffen insbesondere die psychologischen Bedingungen der Verwirk
lichung der normativen Vorschriften. Ein normativer Satz ist z. B. die Vorschrift:
>>Ein Urteil soll nur bei voller Einsicht in den beurteilten Sachverhalt gefällt
werden!<< Und die praktische Anleitung zur Verwirklichung dieser Vorschrift
verlangt vom urteilenden Subjekt Konzentration, Aufmerksamkeit usw. Es ist
deutlich, daß letztere Vorschriften auf erstere verweisen, aber auch, daß erstere
nicht auf sich selbst beruhen. Normative Sätze bedürfen einer Begründung, und
ein wesentliches Moment dieser Begründung ist die Thematisierung einer Grund
norm, der die Sätze einer bestimmten normativen Wissenschaft verpflich
tet sind. 17 Die Grundnorm der normativen Logik, die angibt, warum ein-
1 5 Proleg. , 1. Auf!. ( =A), S. V. I 2. Auf!. ( =B), S. V. (Wir zitieren im folgenden die Log. Unters.
stets nach der ursprünglichen, im Niemeyer:Verlag erschienenen 1. und 2. Auflage. In der Hussediana
Ausgabe sind die ursprünglichen Seitenzahlen am Rande angegeben.)
16 Vgl. "Selbstanzeige« der Proleg. (Hu XVIII, S. 261 f.).
17 Dies gilt nicht nur für die normative Logik, sondern für jede normative Wissenschaft und
sichtig geurteilt werden »soll<<, leitet sich her vom Ziel wissenschaftlicher Er
kenntnis. Die Grundnorm bezeichnet den angestrebten Grundwert, das ein
heitliche Grundziel einer bestimmten normativen Wissenschaft. Jeder normative
Satz der normativen Logik normiert also einen konkreten Sachverhalt und un
tersteht gleichzeitig der Grundnorm. Diese Beziehung der »Abmessung<< nor
mativer Sätze >>an der Grundnorm<< und konkreter Sachverhalte an verschiedenen
normativen Sätzen impliziert eine theoretische >>Beziehung zwischen Bedingung
und Bedingtem<<. >>So schließt z. B. jeder normative Satz der Form > Ein A soll
B sein < den theoretischen Satz ein > Nur ein A, welches B ist, hat die Beschaf
fenheit [ Wert] C<< (§ 16, A/B: S. 48). Eine normative Logik bedarf somit
=
ethischen Problematik spielt die hier skizzierte Scheidung von praktischen und normativen Vor
schriften sowie die Systematik der logischen Fundierungszusammenhänge von Werten im Rahmen
einer »Axiologie« eine wesentliche Rolle. Vgl. dazu A. Roth, Edmund Husserls ethische Untersu
chungen, Phaenomenologica 7, Den Haag 1960. Vgl. auch M. Scheler, Der Formalismus in der Ethik
und die materiale Wertethik, 5. Auf!., Bern und München 1966, insbes. S. 99 f.
28 1 . Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie
Die Behandlung der Frage nach dem theoretischen Fundament der logischen
Kunstlehre bietet eine gute Gelegenheit, sich mit den wesentlichen Posten von
Husserls anti-psychologistischem Gefechtsdispositiv in einem ersten Überblick
vertraut zu machen. Logik, so zeigt sich da, ist nicht notwendig praktisch
normative Logik, sondern es gibt auch eine sie fundierende reine Logik. Doch
zum theoretischen Fundament der praktischen Logik gehört neben der reinen
Logik auch die Psychologie, und es ergibt sich somit die Aufgabe, die gegensei
tige Beziehung dieser beiden Wissenschaften und ihr Verhältnis zur praktischen
Logik zu klären. Dies tut Husserl in der Form, daß er dem psychologistischen
Anspruch, die Möglichkeit des Denkens (und somit einer normativen Logik)
durch psychologische Erklärungen vollumfassend fundieren zu können, entge
gentritt. Psychologie ist eine Wissenschaft, die ein begrenztes Gebiet von Tat
sachen erforscht, während die praktische Logik universale Wissenschaftslehre
ist, d. h. jede mögliche Form wissenschaftlicher Erkenntnis betrifft. Ist es nun,
so lautet ein von Husserl auch später immer wieder eingesetztes Argument, nicht
widersprii c hlich, die universalen Bedingungen möglicher Wissenschaft über
haupt in einer partikulären Wissenschaft, d. h. in einem Einzelfall empirischer
Wissenschaft zu suchen? Und dieser logische Widerspruch (part-whole fallacy)
beruht, so zeigt sich bei aufmerksamer Analyse, auf einer Verkennung des ra
dikalen Unterschiedes zwischen einzelwissenschaftlichen und universalwissen
schaftlichen Gesetzen. Einzelwissenschaftliche Gesetze wie diejenigen der
Psychologie haben Anwendung auf ein beschränktes Gebiet von Tatsachen, das
jenige Gebiet, aus dem sie durch induktive Verallgemeinerung gewonnen sind.
Universale Gesetze betreffen dagegen die Möglichkeit jeder, ob empirischen oder
apriorischen Erkenntnis, sie betreffen ideal-objektive Bedingungen vernünfti
gen Denkens überhaupt. Und insofern sind sie auch nicht von gesetzlich erfaß
ten Kausalbeziehungen zwischen (psychischen, physiologischen oder chemi
schen) Tatsachen herzuleiten. Das »wesentliche theoretische Fundament<<, wel
ches >>Von entscheidender Bedeutung<< ist >>für die Ermöglichung<< der jedes rich
tige Denken normierenden Kunstlehre, ist nicht die Psychologie, sondern die
>>reine Logik« (§§ 16, 20).
giseben Gesetze nicht wesentlich auf das Denken, und ist Denken nicht eine
Tatsache, die >>psychische Wesen<<, >>Urteilende Wesen und nicht Steine<< (§ 40,
A/B: S. 14 2) betrifft? Haben also die logischen Gesetze nicht doch eine not
wendige Beziehung auf psychologische Tatsachen, auch wenn sie nicht aus der
Erfahrung, sondern aus rein-logischen Begriffen >>entspringen<< (§ 24)? Husserl
beantwortet diese Frage, die im Streit um den Psychologismus eine zentrale (und
von anderen >>Anti-Psychologisten<< wie etwa Frege verkannte) Rolle spielt, vor
erst nur indirekt. Er vergleicht die (psychologische) Denkleistung mit dem Funk
tionieren einer >>Rechenmaschine<< (§ 22). Es ist zwar richtig, daß die mechanische
Erzeugung der Resultate >> naturgesetzlich so geregelt wird, wie es die arithmeti
schen Sätze . . . fordern. Aber niemand wird, um den Gang der Maschine physi
kalisch zu erklären, statt der mechanischen die arithmetischen Gesetze her
anziehen.<< (A/B: S. 68) Könnte es sich mit der menschlichen >>Denkmaschine<<
nicht ähnlich verhalten? Nämlich so, daß jede Denkoperation eine psychologi
sche Leistung ist, deren Richtigkeit durch logische Gesetze geregelt, aber nicht
verursacht ist?
Bevor wir dieser Frage nach einem berechtigten Sinn des Zusammenhangs
von Logik und Psychologie weiter nachgehen, wollen wir unsere Einsicht in
die Konsequenzen der unberechtigten Identifizierung von Logik und Psycho
logie vertiefen. Eine gute Gelegenheit dazu bietet uns das Studium von Hus
serls Auseinandersetzung mit B. Erdmanns >>Logik, I, Logische Elementarlehre<<
( 1892) in § 30 des VII. Kapitels der Prolegomena. B. Erdmann interessierte Hus
serl deswegen ganz besonders, weil er als einziger unter den von Husserl kriti
sierten, zeitgenössischen Psychologisten (u.a. Sigwart, Wundt, Th. Lipps) sich
>>in lehrreicher Folgerichtigkeit<< und >>entschieden<< zur extremen Konsequenz
des >>Relativismus<< bekennt (A/B: S. 137). Der von Erdmann vertretene logi
sche Relativismus ist ein >>spezifischer<<, d. h. er bezieht die Gültigkeit der Er
kenntnis und der logischen Gesetze auf die Existenz einer besonderen Spezies
von Lebewesen, nämlich des Menschen; Husserl spricht deswegen auch meist
von einem >>Anthropologismus<< (§ 34). Der Anthropologismus behauptet eine
radikale Abhängigkeit der logischen Gesetze von der Beschaffenheit der mensch
lichen Natur. Diese Behauptung impliziert eine weitere, nämlich, daß die An
nahme eines andersartigen Denkens, für das > unsere < Denkgesetze nicht gelten
würden, nicht etwa widersinnig ist, sondern der Ausdruck einer realen Mög
lichkeit. Die zentrale Motivation der von Erdmann vertretenen Spielart des An
thropologismus ist die Betonung der Beschränktheit des Menschen und seiner
Denkleistungen. Die logischen Gesetze gelten ihm als menschliche >>Denkge
setze<< und der logische Absolutismus, der >>da meint, an diesem Punkte die Gren
zen unseres Denkens überspringen . . . zu können« und der eine universal
objektive Geltung dieser Gesetze fordert, ist ihm ein Ausdruck menschlicher
32 1. Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie
»Vermessenheit<< (S. 378 f. bzw. in Busserls Zitat A/B: S. 1 37). Die absolute Not
wendigkeit der logischen Gesetze ist nach Erdmann ein bloßer Schein, der sich
aus der Tatsache ergibt, daß man im menschlichen Denken nicht außerhalb
der Gesetze dieses Denkens zu treten vermag, faktisch dem Zwang dieser Ge
setze unterworfen bleibt und sie deswegen nicht leugnen kann (A/B: S. 1 3 7
und 141). Als faktische Gesetze des menschlichen Denkens können die logi
schen Gesetze auch keine >>Ewigkeit<< bzw. ideale Identität beanspruchen; soll
te sich das menschliche Denken >>seiner Beschaffenheit nach<< ändern, so würden
sich auch die logischen Denkgesetze ändern (A/B: S. 146; vgl. auch A/B: S.
139 und 137).
Der Haupteinwand gegen den Anthropologismus ist in Busserls Augen, daß
aus seinen Voraussetzungen ein radikaler Skeptizismus folgt: die anthropologi
sche Aufklärung der logischen Gesetze verstößt >>gegen die evidenten Bedin
gungen einer Theorie überhaupt<< (§ 32, A/B: S. 1 1 0). Und eine Theorie, die
die notwendigen Bedingungen einer Theorie überhaupt negiert, verstrickt sich
notwendig in >>einen evidenten Widerspruch zwischen dem Sinn ihrer These
und dem, was von keiner These als solcher sinngemäß abtrennbar ist. (§ 36,
A/B: S. 1 1 6) Husserl weist dies in einer Reihe von Argumenten nach (§ 36),
von denen wir nur das erste erwähnen wollen: >>Der spezifische Relativist stellt
die Behauptung auf: Wahr ist für jede Spezies urteilender Wesen, was nach ih
rer Konstitution, nach ihren Denkgesetzen als wahr zu gelten habe. Diese Leh
re ist widersinnig. Denn es liegt in ihrem Sinne, daß derselbe Urteilsinhalt (Satz)
für den einen, nämlich für ein Subjekt der Spezies homo, wahr, für einen ande
ren, nämlich für ein Subjekt einer anders konstituierten Spezies, falsch sein kann.
Aber derselbe Urteilsinhalt kann nicht beides, wahr und falsch sein. Dies liegt
in dem bloßen Sinn der Worte wahr und falsch . . . Was wahr ist, ist absolut,
ist > an sich < wahr<< (A/B: S. 1 1 7). Achten wir darauf, daß der Skeptizismus das
leugnet, was »in dem bloßen Sinne der Worte wahr und falsch liegt<<, so ergibt
sich sein Widerspruch unmittelbar aus der Negation der >>Grundsätze<< der rei
nen Logik, die nichts weiter ausdrücken, >>als gewisse Wahrheiten, die im bloßen
Sinn . . . gewisser Begriffe, wie Wahrheit, Falschheit, Urteil (Satz) u. dgl. grün
den.<< (§ 40, A/B: S. 139; vgl. auch § 37, A/B: S. 122) Der Anthropologist wird
demgegenüber aber darauf hinweisen, daß der Nachweis des Widersinnes sei
ner Position nur unter der Voraussetzung der absoluten Geltung der logischen
Gesetze zu erbringen sei und daß er ja gerade dies bestreite. Solange >>der logi
sche Absolutist<< seine Position nicht positiv begründet und eine nicht
psychologistische Theorie vom Zusammenhang von reiner Logik und Psycho
logie schuldig bleibt, wird sich der Psychologist weder vor >>empirischen<< noch
>>skeptischen<< Konsequenzen fürchten. Kehren wir deshalb noch einmal zu Bus
serls Auseinandersetzung mit Erdmann zurück und achten wir dabei besonders
§ 2. Reine Logik und Psychologie 33
auf die in der kritischen Diskussion implizierten Elemente einer positiven Be
gründung der Logik als Idealwissenschaft!
Die von den logischen Absolutisten so nachdrücklich betonte Notwendig
keit der logischen Gesetze ist in Erdmanns Augen nichts anderes als die fakti
sche Unmöglichkeit des Denkens, die für sein Wesen konstitutiven Gesetze zu
leugnen. Husserls erster kritischer Hinweis bezieht sich darauf, daß >>Unmög
lichkeit<< hier nichts anderes bedeutet als »Unvollziehbarkeit solcher Leugnung<<
(A/B: S. 1 4 1), d. h. reale Unmöglichkeit einer ein Denkgesetz negierenden Be
hauptung. Entscheidend ist hier aber nach Husserl die ideale Unmöglichkeit
( Widersinn im strengen Sinn), die nicht einen jeweiligen Akt der Leugnung
=
betrifft, sondern dessen idealen Inhalt, nämlich das Denkgesetz. Pointiert for
muliert kann Husserl also Erdmann entgegnen, daß die Negation eines logi
schen Gesetzes zwar psychologisch vollziehbar, aber logisch widersinnig sei:
Die »ideale Unmöglichkeit des negativen Satzes streitet gar nicht mit der rea
len Möglichkeit des negierenden UrteilsakteS<<. (A/B: S. 1 4 1 ) Das den ganzen
Psychologismus-Streit beherrschende Begriffspaar »real - ideal<< erhält in die
ser Diskussion dadurch einen neuen Gehalt, daß es auf die Scheidung zwischen
Urteilsakt und Urteilsinhalt angewandt wird. Die Verkennung der Scheidung
von realer und idealer Unmöglichkeit der Negation der logischen Gesetze ist
nur ein Sonderfall der allgemeineren, für den Psychologismus insgesamt cha
rakteristischen Verkennung der Scheidung von psychologischem Urteilsakt und
ideal-logischem Urteilsinhalt. 19 Wenn Erdmann des weiteren eine mögliche
Veränderung der logischen Gesetze annimmt, so leistet auch dieser Behauptung
die zweideutige Bezeichnung der logischen Gesetze als »Denkgesetze<< einen we
sentlichen Vorschub: Eine Ä nderung der Beschaffenheit des menschlichen Den
kens sei nicht prinzipiell auszuschließen und wenn sie einträte, so bliebe die
(»hypothetische<< (A/B: S. 147)) Geltung unserer Denkgesetze davon nicht un
berührt. Husserl dagegen behauptet eine »ewige<< bzw. ideal-»überzeitliche<<20
und »absolute<< (A/B: S. 147 u.ö.) Geltung der logischen Gesetze (wie z. B. des
Satzes vom Widerspruch). Denn von »hypothetischer<< und »veränderlicher<< Gel
tung könne nur bei Realgesetzen die Rede sein. Die logischen Gesetze aber sei
en keine Realgesetze, sondern als »triviale Allgemeinheiten<< bloß "formale<<
Erkenntnisbedingungen, die, weit entfernt »das Wesen unseres menschlichen
Denkens<< auszudrücken, uns bloß »den formalen Widersinn vom Leibe hal
ten<< (A/B: S. 139 ff.).
Das Problem des Psychologismus ist für Husserl im wesentlichen ein wissen
schaftstheoretisches Problem, es betrifft die gesetzmäßigen Bedingungen mög-
19 §§ 44 -48; vgl. auch schon § 36, AlB: 5. 1 19; § 39, AlB: 5. 132; § 4 0, AlB: 5. 150 f.
20 § 39, AlB: 5. 128; § 40, AlB: 5. 142; § 36, AlB: 5. 1 19.
34 1. Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie
11 Vgl. § 40, AlB: S. 139 f. ; § 37, AlB: S. 122; § 42, A/B: S. 1 62; § 48, AlB: S. 179.
22 Vgl. § 37, AlB: S. 122; § 40, AlB: S. 143; § 24, AlB: S. 75.
23 In einer nachträglichen Selbstinterpretation ( 1903 ) weist Husserl nachdrücklich auf den Ein·
fluß hin, den Latzes Interpretation der Platonischen Ideenlehre auf seinen Begriff des idealen Seins
der logischen Gegenstände ausgeübt hat. Erst Latzes Logik hätte ihm die Augen für Bolzanos Lehre
von den »Sätzen an sich« geöffnet. Wären diese ihm früher »als mythische zwischen Sein und Nicht·
sein schwebende Entitäten erschienen«, so hätte Latze ihn gelehrt, deren »ideales Sein oder Gelten<<
zu verstehen. (Vgl. [Husserls Rezension von] Melchior Palagyi, »Der Streit der Psychologisten und
Formalisten in der modernen Logik«: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane,
Bd. 3 1 ( 1903 ) , S. 290 bzw. Hu XXII, S. 156 f.). Die frühen Kritiker der Proleg. , die Husserls Kon·
zeption der reinen Logik als »Platonismus<< bezeichneten, waren also auf dem guten Weg. Nur über·
sahen sie wohl meist (wie auch manche späteren Leser), daß es sich dabei nicht um einen onto
logischen, sondern einen logisch inspirierten Platonismus handelt. Das ideale Sein der logischen
Bedeutungen und Gesetze ist der Lehre der Proleg. zufolge im eigentlichen Sinne nicht > gegenständ
liches < Sein, sondern absolutes Sein logischer Geltung. Zu »idealen Gegenständen<< werden diese
logischen Allgemeinheiten (Spezies) erst durch ihre thematische Erforschung in einer rein-logischen
Apophantik (vgl. unten S. 42 ff.).
§ 2. Reine Logik und Psychologie 35
Bevor wir dazu übergehen, Husserls Skizze einer Architektonik der rein logi
schen Wissenschaften näher zu betrachten, verbleibt uns aber noch die Aufga
be, Husserl über seine positiven Vorstellungen bezüglich des Verhältnisses von
reiner Logik und konkreten Denkakten zu befragen. Der Psychologismus ist
erst dann radikal überwunden, wenn die Widerlegung der Vermischung von
Realem und Idealem durch eine positive Darstellung ihres korrekt gefaßten Zu
sammenhangs ergänzt wird. »Es muß zu klarem Verständnis kommen, was denn
das Ideale in sich und in seinem Verhältnis zum Realen ist, wie das Ideale auf
Reales bezogen, wie es ihm einwohnen und so zur Erkenntnis kommen kann.«
(§ 5 1 , A/B: S. 1 88) Es muß gezeigt werden, wie die rein-logischen Gesetze kon
krete Erkenntnisakte regeln, ohne dabei ihre Idealität einzubüssen. Und umge
kehrt gilt es zu begreifen, wie die psychologischen Akte beschaffen sind, in denen
das ideale Sein dieser Gesetze erfaßt wird. Beide Aufgaben sind engstens mit
einander verbunden, sie überschneiden sich in der Frage, >>in welchem Sinne
die [ideale, rein-logische] Wahrheit in der Erkenntnis liegt<< (§ 40, A/B: S. 1 50).
Die Beantwortung dieser Frage ist eigentlich die Aufgabe des 2. Teils der Logi
schen Untersuchungen (insbes. der I. und VI. Untersuchung). Gelingt es uns aber,
bereits in den Prolegomena und trotz deren primär polemischer Absicht eine
Vorwegnahme dieser Antwort nachzuweisen, so ist gleichzeitig die von vielen
Lesern angezweifelte systematische Kontinuität der beiden Teile der Logischen
Untersuchungen bewiesen.
Die erste Frage betrifft die A nwendung rein-logischer Gesetze auf die psy
chologischen Tatsachen individueller Denk-, Sprech- und Erkenntnisakte. Die
l Logische Untersuchung faßt einen Grundgedanken der Prolegomena treffend
zusammen, wenn sie ausführt, daß die »rein-logischen Einheiten . . . einen ideal
geschlossenen Inbegriff von generellen Gegenständen bilden, denen das Gedacht
und Ausgedrücktwerden zufällig ist.<< (§ 35, A/B: S. 1 05) Ihrem Eigensinn nach
sind die logischen Gesetze rein begrifflicher Art und somit ohne jeden Bezug
auf psychologische Tatsachen. Ist im Rahmen der reinen Logik von einer »Ver
einzelung<< rein-logischer Allgemeinheiten die Rede, so sind damit Stufen der
Allgemeinheit idealen Seins-an-sich gemeint. Die »Einzelheiten<< sind nicht psy
chologische Tatsachen, sondern »niederste spezifische Differenzen<< eines All
gemeinbegriffs bzw. »ideale Einheiten<< (§ 48, A/B: S. 178 und § 46, A/B: S.
1 73). So ist z.B. die Zahl Drei die »Vereinzelung<< des allgemeinen Zahlbegriffs
und so ist auch die (Idee) • prädikative Satzbedeutung< die »Vereinzelung<< der
Idee > Satzbedeutung überhaupt <.
Einen ausdrücklichen Bezug auf psychische Tatsachen wie Denkakte erwer
ben die rein-logischen Wahrheiten erst durch eine sekundäre »Umformung<<,
36 1 . Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie
nämlich dadurch, daß sie beispielsweise >>bei der Normierung des Denkens eine
Rolle zu spielen berufen sind<< (§ 40, A/B: S. 140). Rein logische Gesetze kön
nen äquivalent als normative Gesetze formuliert werden, ohne ihre ideale Gel
tung einzubüßen und ohne damit in ein Verhältnis logischer Abhängigkeit von
der psychischen Natur des Denkens zu geraten (§ 4 1 , A/B: S. 1 5 8 f.). Sie gehö
ren in diesem Fall aber nicht einer praktischen Kunstlehre des Denkens an (vgl.
oben S. 2 6 ff.), sie sind >>rein logische Normen<< und nicht >>technische Regeln
einer spezifisch humanen Denkkunst.<< (A/B: S. 1 59) Ein Beispiel einer solchen
Regel, die ausschließlich in einem rein logischen Gesetz gründet, ist die Vor
schrift: >>Wer immer urteilt, daß jedes A auch B sei, und daß ein gewisses S A
sei, der muß (soll) urteilen, daß dieses S auch B sei<< (A/B: S. 1 55). Eine sol
che äquivalente U mformulierung rein logischer Gesetze, welche sich ausdrück
lich auf das Denken, Erkennen und Urteilen bezieht, ist aber auch außerhalb
jeder normativen Umformung denkbar. So sind alle logischen Sätze bzw.
Gesetze formulierbar als Sätze bzw. Gesetze über Bedingungen möglicher Evi
denz: Der Satz >A ist wahr < z. B. ist äquivalent mit dem Satz > es ist möglich,
daß irgend jemand mit Evidenz urteilt, es sei A< (§ 50, A/B: S. 1 84; vgl. auch
§ 39, A/B: S. 129). Aber wie ist in all diesen Umformungen die Behauptung
ihres rein logischen Gehaltes mit der Bezugnahme auf ein beliebiges Urteils
subjekt zu vereinbaren? Sind Urteilssubjekt und sein jeweiliger, individueller
Urteilsakt keine psychologischen Tatsachen? Die Antwort lautet: Ja, sie sind
psychologische Fakten, fungieren in den angeführten Beispielen jedoch nicht
als solche. Mit anderen Worten: die angeführten Sätze enthalten keine Aussa
gen über die psychologische Natur dieses Urteilssubjektes und seiner Akte. Und
genauer: die angeführten Sätze betreffen im Falle der Evidenzbedingungen aus
schließlich die ideale Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Vollzugs gewisser
Urteile (A/B: S. 1 83) und im Falle der normativen Vorschriften betreffen sie
die rein·logische Nötigung zum Vollzug eines Schlußsatzes. Und schließlich kann
man auch sagen, daß die Evidenzbedingungen und normativen Vorschriften
in erster Linie nicht die Urteilsakte selbst betreffen, sondern ihren logischen
»Inhalt<< (§ 40, A/B: S. 142 f. und § 29, A/B: S. 1 0 1), d. h. die ideale Urteilsbe
deutung (§ 48, A/B: S. 1 79).
Zusammenfassend können wir also sagen, daß rein logische Allgemeinheiten
ideale Geltungen ohne jeden wesentlichen Bezug auf subjektive Erlebnisse sind.
Jedoch kann >>eine rein ideale und indirekte<< (A/B: S. 1 83) Beziehung der rein
logischen Allgemeinheiten auf subjektive Tatsachen hergestellt werden, wenn
auf die ideal-mögliche Gegebenheit dieser idealen Geltungen hingewiesen wird.
Daß ein (ideal-) wahrer Satz sekundär zu fassen ist als ideale Bedingung für die
Möglichkeit von evidenten Urteilen desselben Inhaltes, beruht darauf, daß in
all diesen Urteilen derselbe wahre Satz gegeben bzw. erfaßt ist. Husserl begreift
§ 2. Reine Logik und Psychologie 37
diese Beziehung rein logischer Wahrheiten auf Akte evidenten Urteilens ana
log zur Beziehung von idealen Bedeutungen auf die Mannigfaltigkeit von Ur
teilen, in denen diese ideal-identische Bedeutung ausgesagt wird. Und diese
Beziehung von ideal-identischer Bedeutung und jeweiligem Urteilsakt wird nun
sowohl in den Prolegomena als auch im 2. Teil der Logischen Untersuchungen
durchgehend als Vereinzelung einer idealen Spezies in individuellen Einzelfäl
len bestimmt: »Die Bedeutung verhält sich also zu den jeweiligen Akten des
Bedeutens (die logische Vorstellung zu den Vorstellungsakten, das logische Ur
teil zu den U rteilsakten, der logische Schluß zu den Schlußakten) wie etwa
die Röte in specie zu den hier liegenden Papierstreifen, die alle diese selbe Röte
> haben <. Jeder Streifen hat neben anderen konstituierenden Momenten . . . sei
ne individuelle Röte, d. i., seinen Einzelfall dieser Farbenspezies, während sie
selbst weder in diesem Streifen, noch sonst in aller Welt real existiert.<< 24 Eine
ideal-identische Bedeutung vereinzelt sich genauer besehen aber nicht im vol
len psychologischen Bestand der sie implizierenden Urteilsakte, sondern in
einem »gleichbestimmten psychischen Charakter<< all dieser Akte, den die
V Logische Untersuchung als »bedeutungsmäßiges Wesen<< bezeichnet.25 Verein
zeln sich rein logische Bedeutungen in psychologischen Einzelheiten, so bezie
hen sich auch die rein logischen Gesetze auf individuelle Denkakte: »Da die
idealen Bedeutungen sich in Akten des Bedeutens vereinzeln, so drückt jedes
rein logische Gesetz eine Allgemeinheit aus, die sich eo ipso auf die idealen
Umfänge der betreffenden Bedeutungsspezies, also auf mögliche reale Denk
akte beziehen läßt.26
Auch wenn diese Lehre noch der Verdeutlichung bedarf, so haben wir damit
doch eine Antwort auf die Frage nach der A nwendung rein-logischer Gesetze
auf konkrete Denkakte gefunden. Genauer besehen enthält diese Lehre von der
Vereinzelung idealer Spezies in individuellen psychologischen Einzelheiten aber
auch eine Antwort auf die andere eingangs gestellte Frage (vgl. oben S. 35). Diese
zweite Frage betraf die erkenntnismäßige Erfassung der rein logischen Allgemein
heiten. Die Einsicht in eine rein logische Idee (Begriff oder Gesetz) im Aus
gang von miteinander verglichenen individuellen Akten, d. h. ihrer bedeutungs
mäßigen Wesen ist zu verstehen in Analogie mit dem Prozeß der Vereinzelung
einer rein logischen Idee in einer Manigfaltigkeit von bedeutungsmäßigen We
sen individueller Akte. Statt von der idealen Allgemeinheit niederzusteigen zu
24 I. LU, § 3 1 , A: S. 101/B: S. 100 f. Vgl. auch Proleg. , § 39, A/B: S. 128 ff.; § 29, A/B: S. 1 0 1 .
I. LU, § 3 4 , A/B: S . 1 0 3 . 11. LU, Ein!., A/B: S. 106. Paldgyi-Rezension (a. a.O.), S . 290 f.
25 I. LU., § 30, A: S. 99/B: S. 98; § 3 1 , A/B: S. 99. V. LU. , § 2 1 , A: S. 392/B: S. 417. Vgl. auch
unten S. 159.
1 6 Paldgyi·Rezension (a.a.O.), S. 292; vgl. auch Proleg. , § 29, A/B: 1 0 1 .
38 1 . Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie
27 § 29, A/B: 1 0 1 . Vgl. auch die analogen Ausführungen in § 39, A/B: S. 128 f. und ebenfalls
§ 50, A/B: S. 1 86 f. ; § 24, A/B: S. 74 f. Zu »Ideation« und »Anwendung« von eidetischen Allge
meinheiten vgl. auch unten S. 76 ff.
§ 2. Reine Logik und Psychologie 39
von realem und idealem Sein nicht wieder verwischt? Bedeutet diese Lehre nicht
einen Rückfall in den Psychologismus?
2) Rein-logische Bedeutungen sind bloße Bedeutungsformen oder formale »We
senswahrheiten<<. Muß aber nicht zwischen den von der reinen Logik als for
male Wesen gefaßten Bedeutungen und den identischen Bedeutungen konkreter,
d. h. zeitlich individuierter und inhaltlich bestimmter Aussagen geschieden wer
den? Und muß in der Folge dieser Scheidung nicht auch zwischen Vereinze
lung formaler Bedeutungswesen und der Individuierung inhaltlicher Aussage
bedeutungen differenziert werden?
Dem Vorwurfdes Psychologismus begegnet Husserl in den Prolegomena durch
den unermüdlichen Hinweis darauf, daß die Anwendung bzw. Vereinzelung rein
logischer Gesetze und Begriffe in empirisch-psychologischen Tatsachen eine bloß
»ideale Möglichkeit« sei: '' · · · das Sein oder Gelten von [idealen] Allgemeinhei
ten . . . besitzt den Wert von idealen Möglichkeiten - nämlich in Hinsicht auf
das mögliche Sein von empirischen Einzelheiten, die unter jene Allgemeinhei
ten fallen . . . «28 Die ideale Möglichkeit der psychologischen Gegebenheit rein
logischer Gegenstände wird davon nicht betroffen, daß eine solche Gegeben
heit - sei es zufälliger Umstände wegen, sei es naturgesetzlich - »real unmög
lich« ist (A/B: S. 129). Zur reinen Logik gehören die psychologischen
Einzelheiten nur qua ideale Möglichkeiten und nicht qua reale Tatsachen. Die
se Position wird jedoch dann gefährdet, wenn die psychologischen Tatsachen
nicht mehr als bloß ideal-mögliche Vereinzelungen rein logischer Gegenstände
gefaßt werden, sondern als deren erkenntnistheoretisches Fundament. Ist es für
eine erkenntnistheoretische Ausweisung idealen Seins ideal notwendig, dessen
reale psychologische Gegebenheit zu beschreiben, so werden wir von neuem
mit dem Grundproblem des Psychologismus konfrontiert. Wer behauptet, das
ideale Sein rein logischer Gegenstände, d. h. ihre ideale Geltung habe ihren er
kenntnistheoretischen "Ursprung« im empirisch-psychologischen Akte der
»Ideation«, der begründet ideales Sein durch reale Tatsachen und ist somit ein
echter Psychologist.29 Dieser Psychologist entpuppt sich bei näherem Zusehen
als der Denker, der im 2. Teil der Logischen Untersuchungen, den »Untersuchun
gen zur Phänomenologie . . . der Erkenntnis«, am Werke ist. Zwar wird die phä
nomenologische Erkenntnistheorie, insbesondere auch diejenige, die sich in der
VI. Untersuchung der Bestimmung der »kategorialen Anschauung« widmet, ex-
28 § 39, A/B: S. 129; vgl. auch § 29, A/B: S. 1 0 1 ; § 50, A/B: S. 1 8 3 ff. Palcigyi·Rezension (a.a.O.),
S. 292.
2 9 Es ist also nicht genügend, die Erfassung des Idealen von der Erfassung des Realen abzuhe
ben (vgl. Proleg. , § 39, A/B: S. 128), um dem Psychologismus zu entgehen. Es bedarf des weiteren
einer nicht-empirischen Beschreibung der Ideation. Es bedarf einer Beschreibung, welche die Idea
tion nicht als ein reales Faktum, nicht als eine psychologische Tatsache in Anspruch nimmt.
40 1 . Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie
30 >>Entwurf einer > Vorrede< zu den >Logischen Untersuchungen «< ( 1 9 1 3): Tijdschrift voor Filo·
sofie, 1 (1939), 5. 329. Zur Bestimmung der Phänomenologie als Wesenswissenschaft vgl. die genau
eren Analysen unten S. 7 4 ff.
§ 2 . Reine Logik und Psychologie 41
einandersetzung mit dem Psychologismus verdankt. So ergibt sich aus der kla
ren Scheidung zwischen realem und idealem Sein bzw. realen und idealen Mög
lichkeiten ein neuer Begriff für die wissenschaftstheoretische Funktion der Logik.
Wissenschaftstheorie ist nicht bloß Sache einer technischen Verwertung der Lo
gik, sie ist im eigentlichen Sinne auch nicht deren Anwendung, vielmehr sind
die rein logischen Begriffe und Gesetze als ideale Bedingungen möglicher wis
senschaftlicher Erkenntnis ihrem eigensten Sinne nach wissenschaftstheoreti
sche Prinzipien.
Die reine Logik ist aber eine ganz besondere Art von Wissenschaftstheorie,
nämlich formale und universale Wissenschaftstheorie. Sie erforscht die formalen
Strukturen, die jeder (ideal möglichen) Wissenschaft zugrundeliegen, und zwar
sowohl nach seiten ihrer Theoriebildung als auch nach seiten ihrer Gegenstän
de und deren Integration in ein Forschungsgebiet. Die reine Logik erforscht
die allgemeinsten Formen und Kompositionsgesetze der Wesen > Bedeutung
überhaupt < und > Gegenstand-überhaupt <. Als Wissenschaft von der Wesensstruk
tur wissenschaftlichen Diskurses und wissenschaftlicher Forschungsgebiete über
haupt, als Wissenschaft vom Wesen > Wissenschaft-überhaupt < ist die reine Logik
formale Wissenschaft von allen (ideal möglichen) Wissenschaften: Die reine Lo
gik ist mathesis universalis. Dies ist zumindest das Ziel der reinen Logik, und
Husserl ist sich wohl bewußt, daß die Erreichung dieses Ziels die vorgängige
Verwirklichung bescheidenerer Aufgaben voraussetzt. Erst wenn geklärt ist, was
ein Satz überhaupt ist, wie Sätze in logisch-konsequenten Zusammenhang zu
bringen sind, kann man dazu übergehen, den für eine wissenschaftliche Theo
rie charakteristischen Zusammenhang von Aussagen zu studieren. Und erst wenn
man weiß, was eine Theorie ist, kann man verschiedene Theorieformen und
deren mögliche Ableitung von einer höchsten Theorieform untersuchen. Der
Weg bis zur mathesis universalis ist also ein langer und beschwerlicher. Es ist
der Weg einer > aufsteigenden Integration <, in dem vorgängig selbständige Be
deutungsformen als unselbständige Momente einer umfassenderen Bedeutungs
form erscheinen. So erklimmt man Stufe um Stufe bis zur höchsten Form
wissenschaftlicher Theorie überhaupt, ohne eine Stufe überspringen zu kön
nen. Die wesentlichsten »Aufgaben<< bzw. »Stufen« sind dabei, nach dem über
einstimmenden Urteil der Prolegomena und der Formalen und transzendentalen
Logik31: 1) Die Formenlehre der Bedeutungen, 2) Die Konsequenzlogik, 3) Die
Theorie der möglichen Theorieformen.
Die für die erste »A ufgabe« der reinen Logik leitende Bedeutungsform ist die-
3 1 Proleg., §§ 67-69 und FTL, §§ 13 f. und 28 ff. (Wir zitieren die FTL nach der Paginierung der
Niemeyer-Ausgabe, die in der Hussediana-Ausgabe am Rande angegeben ist.)
§ 2. Reine Logik und Psychologie 43
jenige des Satzes bzw. des Urteils. Die Formenlehre der (Satz-) Bedeutungen
oder rein logische Grammatik läßt sich in drei weitere Disziplinen unterteilen:
a) Formenlehre der primitiven Bedeutungskategorien, b) Lehre von den (syn
taktischen) Kompositionsgesetzen und c) Lehre von den grammatischen Ope
rationen.32 Die erste dieser Disziplinen inventarisiert nicht nur die grundle
genden Bedeutungskategorien, sondern systematisiert sie auch bereits unter dem
Gesichtspunkt ihrer Selbständigkeit und Unselbständigkeit. >>Prädikativer Satz«
z. B. ist eine selbständige Bedeutungskategorie, der >>Prädikat<< als unselbständi
ges Bedeutungsmoment zugehört. Die explizite Erforschung der Kompositions
gesetze, welche die Verbindung von unselbständigen Bedeutungsformen zu
(verschiedenen Arten von) selbständigen Bedeutungsformen betreffen, ist jedoch
bereits die Aufgabe der zweiten Disziplin. Sie untersucht, wie dieselben »nie
deren Bedeutungselemente<< als >>Stoff<< verschiedener Formen syntaktischer Ver
bindung fungieren können. Also z. B. wie ein selbes > Wort < (genauer: vorsyn
taktisch geformter >>Kernstoff<<) sich in den einheitlichen Zusammenhang eines
prädikativen, attributiven, konjunktiven, hypothetischen . . . Satzes einfügt. Die
dritte rein grammatische Disziplin schließt an diese Aufgabe an und untersucht
auf höherer Allgemeinheitsstufe das System der grammatischen >>Operationen<<.
Diese Operationen konstituieren aufgrund der grundlegenden syntaktischen
Formen und anhand der syntaktischen Kombinationsgesetze neue syntaktische
Formen. Ein Beispiel einer solchen Operation ist die Nominalisierung, in der
vom prädikativen Satz > S ist p< die Subjektform > daß Sp. . . < >>abgeleitet<< wird.
Es handelt sich dabei also um grammatische >>Komplikationsgesetze<<, welche
in den syntaktischen >>Kompositionsgesetzen<< und der Morphologie der pri
mitiven Bedeutungskategorien fundiert sind. Wichtig ist für uns im gegenwär
tigen Problemzusammenhang vor allem der rein logische Charakter dieser
> Grammatik < sowie deren wissenschaftstheoretische Funktion. Die rein logische
Grammatik widmet sich der Morphologie und Syntaktik apriorischer Bedeu
tungs/armen, sie ist eine Idealwissenschaft, die keine tatsächlichen Sprachstruk
turen voraussetzt. Nicht als Wissenschaft von der Grammatik faktischer Spra
chen, sondern als Wissenschaft von >>Grammatischen selbst« leitet sie den Auf
bau der reinen Logik (FTL, § 22). Und als Wissenschaft vom Grammatischen
32 Vgl. fTL, §§ 13 und 22; Proleg., § 67 und IV LU, § 14, A: S. 319 (bzw. wesentlich erweitert:
B: S. 339). Zu Husserls Idee einer reinlogischen Grammatik vgl. insbes. J. M. Edie, Speaking and
Meaning. 7he Phenomenology of Language: Studies in Phenomenology and Existential Philosoplry, Bloo
mington and London, 1976, S. 45 -71 und 202- 211. Diese Schrift gibt nicht nur eine sorgfältige
Interpretation von Husserls Ausführungen insbes. in der IV LUund der fTL, sondern nimmt auch
ausführlich Stellung zur umfangreichen Sekundärliteratur und konfrontiert schließlich Husserls
Theorie der reinen Grammatik auch mit N. Chomskys Lehre von der sprachlichen Tiefenstruktur
und der »linguistischen Kompetenz«.
44 1 . Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie
selbst geht es ihr um die idealen Bedingungen der sich im Medium der Sprache
bewegenden wissenschaftlichen Erkenntnis. Die rein logische Grammatik hat
es »auf die Begriffe abgesehen, welche die Idee der theoretischen Einheit konsti
tuieren<<, und auf deren >>elementare Verknüpfungsformen« (Proleg. , § 67). Sie
handelt von den primitivsten Bedingungen wissenschaftlicher Aussagen, näm
lich der Bildung von sinnvollen Sätzen und Theorien bzw. von der Vermeidung
des Unsinns.
Darauf aufbauend betrifft die zweite »A ufgabe« der reinen Logik die Vermei·
dung des Widersinnes in sinnvollen, d. h. wohlgeformten Satzkombinationen.
Während die Aussageform > Alle A sind B, aber gewisse A sind nicht B< z. B.
noch den Anforderungen der reinen Grammatik genügt, d. h. grammatisch sinn
voll ist, widerspricht sie den Anforderungen der Konsequenzlogik. 33 Die Kon
sequenzlogik bzw. »Logik der Widerspruchslosigkeit<< betrifft die idealen
Bedingungen möglicher (formaler) Wahrheit und Falschheit insbesondere von
komplexen Satzformen. Sie besteht aus einer Anzahl von Gesetzen zur Ver
meidung des Widerspruchs, und diese Gesetze lassen sich in eine umfassende
Theorie integrieren. Eine solche Theorie ist z. B. die traditionelle Syllogistik.
Die Konsequenzlogik selektiert somit die grammatisch möglichen komplexen
Satz- bzw. Schlußformen und bestimmt diejenigen, welche »den Wert von for
malen Wesensgesetzen haben, nämlich als generelle Wahrheiten über Urteils
konsequenz: über das (> analytische <) Beschlossensein von Urteilen der und der
Form in Prämissenurteilen entsprechender Form.<< (FTL, § 14) Die Grundstruk
tur ist also wiederum, wie schon für die rein logische Grammatik, eine solche
von Ganzem und Teilen, jedoch mit dem Unterschied, daß nun neben der gram
matischen »Möglichkeit<< auch auf die »Verträglichkeit« bzw. Widerspruchslo
sigkeit geachtet wird. 34
Diese Konsequenzlogik ist nun aber noch nicht eine eigentliche formale Wahr·
heitslogik, sondern bloß deren wichtigste Voraussetzung. Diese neue Einsicht
der Formalen und transzendentalen Logik blieb nicht nur ihm selbst in den
Prolegomena, sondern nach Husserls Meinung auch allen seinen Vorläufern
in der Theorie der formalen Logik verborgen. Für Husserl selbst ergab sich
diese Scheidung zwischen formaler Konsequenzlogik und formaler Wahrheits
logik (FTL, § 1 5) erst aus der Berücksichtigung der >>Verschiedenen subjektiven
35 Proleg. , § 69 f.; vgl. FTL, § 28 und §§ 3S f. Die drei »Aufgaben bzw. Stufen« der reinen Lo
gik werden in den Proleg. und in der FTL somit in derselben Weise bestimmt: 1. Reine Formenleh
re der >>Bedeutungen<< bzw. »Urteile«; 2. formale »Konsequenzlogik«; 3. »Theorie der deduktiven
Systeme«. Die Proleg. und die FTL unterscheiden sich jedoch in der Bestimmung der formalen Lo
gik möglicher Wahrheit, die im früheren Werk noch mit der formalen Konsequenzlogik identifi
ziert wurde und die im späteren Werk in eine formale Konsequenzlogik und eine formale
Wahrheitslogik zerfällt. Wenn Husserl die » Dreischichtung der formalen Logik« als einen wesentli
chen, erst in der FTL erzielten Fortschritt über die bisherige Logik und auch die Proleg. hinaus
bezeichnet (§§ 22, 70a), kann damit also nicht die erwähnte Bestimmung der drei »Aufgaben« bzw.
»Stufen• der reinen Logik gemeint sein. Die »Dreischichtung• ist vielmehr eine Folge der Schei
dung zwischen formaler Konsequenzlogik und formaler Wahrheitslogik und ergibt folgende Auf
teilung der formalen Logik als apophantischer Analytik: 1. »Formenlehre der Urteile•; 2.
»Konsequenzlehre«; 3. »Wahrheitslehre« (§ 70a). Leider versäumt es Husserl in der FJL, das Ver
hältnis zwischen den drei »Stufen« der Logik und der »Dreischichtung• der Logik genauer zu be
stimmen. Dieses Versäumnis hat eine korrekte Interpretation der FTL sehr beeinträchtigt: Vgl. G.
Heffernan, Isagoge in die phänomenologische Lehre vom Urteil, Dordrecht/Boston/London, 1989.
46 1 . Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie
3 6 FJL, §§ 37 - 46; vgl. auch §§ 25, 27. Die entsprechenden Ansätze der Proleg. finden sich in
§ 67, AlB: S. 244; § 68, A: S. 246/B: S. 245 f. ; § 70.
§ 2. Reine Logik und Psychologie 47
37 In früheren Texten nennt Husserl diese materiale Ontologie noch >>apriorische Ontologie des
Realen« bzw. »apriorische Metaphysik<<. Sie erforscht »die Grundkategorien, in die Reales als sol
ches seinem Wesen nach zu fassen ist. Also muß doch eine Gruppe von Forschungen möglich sein,
die bloß erwägen all das, ohne was Realität überhaupt nicht gedacht werden kann. Hierher würde
die ganze apriorische Zeitlehre, die apriorische Phoronomie gehören und die reine Geometrie... «
(Hu XXIV, S. 1 0 1 ( 1 906)).
38 Vgl. insbes. §§ 24 und 52. Zum Verhältnis von Logik und Mathematik in FTL sowie über
haupt zu diesem I., in der Sekundärliteratur meist vernachlässigten Teil der FTL vgl. den Aufsatz
von R. Sokolowski, >>Logic and Mathematics in Husserl's Formal and Transeendental Logic«: Ex
plorations in Phenomenology (ed. by D. Carr and E. S. Casey): Selected Studies in Phenomenology
and Existential Philosophy, 4, The Hague 1973 und in: R. Sokolowski, Husserlian Meditations. How
Words Present Things, Evanston, 1974, S. 271 -289.
48 1. Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie
nichts anderes als Mathematik? Bleibt Busserls Antwort auf diese Frage in den
Prolegomena (§ 7 1 ) noch ausweichend und wenig überzeugend, so nennt die
Formale und transzendentale Logik ein klares Kriterium der Scheidung zwischen
der »Mathematik der Mathematiker« und der Mathematik der Logiker, näm
lich das den letzteren eigene erkenntnis- bzw. wissenschaftstheoretische Inter
esse (§§ 5 1 f.). Wie sich dieses Interesse äußert, ist jedoch erst dann verständlich,
wenn wir die Scheidung zwischen formaler Apophantik und formaler Ontolo
gie weiter verdeutlichen.
Die Scheidung zwischen apophantischer Bedeutungslehre und formal
ontologischer Gegenstandstheorie entspricht der Scheidung zwischen »Urtei
len über Urteile und Urteilen über Gegenstände«. Diese Scheidung beruht auf
der Scheidung zwischen verschiedenen Einstellungen und ist in einem verschie
denen theoretischen Interesse begründet. Die Einstellung auf Gegenstände ist
die natürlichere, die formale Ontologie erwächst aus einer Formalisierung der
Gegenstände-geradehin natürlichen Erfahrens und wissenschaftlichen Forschens.
Die Einstellung auf Bedeutungen ist eine sekundäre, die formale Apophantik
wendet den Blick ab von den Gegenständen-geradehin und richtet sich reflexiv
auf das bedeutungsmäßige Medium ihrer Vermeinung. Die für die Apophan
tik charakteristische Reflexion ist Ausdruck eines erkenntniskritischen Interes
ses (FTL, §§ 44, 48). Neben dieser subjektiven Aufklärung der Doppelseitigkeit
der formalen Logik muß diese Doppelseitigkeit nun aber auch nach seiten ih
res objektiven Inhaltes charakterisiert werden. Bedeutungen (als Gegenstände
der Apophantik) sind > Gegenständlichkeiten < in einem sekundären, abgeleite
ten Sinne. Nicht >>> wahre < oder > Wirkliche < Gegenständlichkeiten«, sondern >>Ver
meinte Gegenständlichkeiten als vermeinte, . . rein als das im syntaktischen Gang
.
des Setzens Gesetzte als solches<< (§ 44bß). Gegenstände und Bedeutungen sind
nicht in derselben Einstellung bewußt, Bedeutungen sind im ursprünglichen
Urteilsbewußtsein überhaupt nicht > gegenständlich < bewußt (vgl. unten S. 165),
und dennoch - qua Gegenstände apophantischer Logik - bezeichnen sie eine
abgeleitete Form der Gegenstände-schlechthin der natürlichen Erfahrung (FTL,
§§ 44 f.). In diesem Sinne ist also auch die formale Apophantik abhängig von
der formalen Ontologie. Diese Priorität der formalen Ontologie schließt nun
aber nicht aus, daß formal-ontologische Aussagen ihrerseits dadurch in formal
apophantische umzuwandeln sind, daß ihre Gegenstände als Gegenstände-im
Wie der Vermeinung gefaßt werden, als >>Gegenstands-Sinne<< (§ 53).
Der wesentliche Grund, Urteilsgegenstände in »Gegenstandssinne<< bzw. Ge
genstände qua geurteilte umzuwandeln, ist das die Apophantik charakterisie
rende kritische Interesse, das die Gegenstände nicht mehr als selbstverständliche
Gegenstände-geradehin behandelt. Zu seinem vollen Ausdruck kommt dieses
erkenntnistheoretische Interesse des Logikers jedoch erst dann, wenn er sich
§ 2. Reine Logik und Psychologie 49
die Frage nach der Ü bereinstimmung der Bedeutungen bzw. Urteilsinhalte mit
den wirklichen Sachen stellt. Wir haben gesehen, wie diese »Erkenntniseinstel
lung<< des Logikers in der formalen Wahrheitslogik, d. h. in der Erforschung
der Urteilsformen und >>ihrer Adäquation an die Sachen selbst<< zu einer ersten
Befriedigung gelangt (§ 19). Die in der formalen Wahrheitslogik erreichte »Evi
denz der Klarheit<< ist jedoch noch keine >>Evidenz der Selbsthabe des Vermein
ten, des Endzieles<< (§ 1 6c, vgl. auch § 89). Formale, d. h. analytische Wahr
heitsbedingungeil erweisen sich als eine bloße »Antizipation<< von letzten, d. h.
material-synthetischen Wahrheitsbedingungen. Mit anderen Worten: Das Er
kenntnisinteresse, welches die Ausbildung der formal-reinen Logik leitet, treibt
über die Grenzen dieser Logik hinaus. Eine materiale Wahrheitslogik, die sich
mit der Ü bereinstimmung von inhaltlich bestimmten Urteilen mit der Wirk
lichkeit beschäftigt, kann nun aber nur durch eine »transzendentale Logik« der
subjektiven Erkenntnisakte entwickelt werden.
Stützte sich schon die Scheidung zwischen formaler Wahrheitslogik und for
maler Konsequenzlogik auf eine »subjektiv-phänomenologische« Betrachtung
der ihnen entsprechenden Arten, der Evidenz (der >>Klarheit<< und der »Deut
lichkeit<<) (§ 70a), so gründet a fortiori auch eine materiale Wahrheitslogik in
einer >> Evidenzkritik der Erfahrung<< (Titel des 4. Kap. im II. Abschn.). Die Be
schreibung der Gegebenheitsweisen der Dinge und Sachen bzw. die (subjektiv
gerichtete) Beschreibung der Modis des Erfahrens, Behauptens und Verifizie
rens stellt somit eine fundamentale Aufgabe dieser materialen Wahrheitslogik
dar. Die phänomenologische Erkenntnistheorie und insbesondere die phäno
menologische Lehre von der Evidenz und anschaulichen Erfüllung (vgl. unten
S. 167ff.) ist das eigentliche Instrument dieser sich als transzendentale Logik ver
wirklichenden materialen Wahrheitslehre. Für Husserl ist diese materiale Wahr
heitslogik jedoch mehr als eine bloße Ergänzung oder Vertiefung der formalen
Wahrheitslogik, sie fungiert als deren >>Kritik<< und »Fundament«. Sie kritisiert
die »idealisierenden Voraussetzungen der Logik<< (II. Abschn. , 3 . Kap.), d. h.
deren unausgewiesenen Bezug auf Umstände möglicher Erfahrung. Die forma
le Logik setzt die Einheit möglicher Erfahrung voraus, sie bezieht sich auf die
Sachzusammenhänge in der Welt, ohne der Erfahrung der Welt die geringste
Aufmerksamkeit zu schenken. Die formale Logik kann auch nicht umhin, letzte
Kerne syntaktischer Bildung vorauszusetzen, ohne sie als individuelle Gegen
stände sinnlicher Wahrnehmung bestimmen zu können. In der Fundierung der
formalen Logik durch die transzendentale Logik spielt denn auch die Bestim
mung der vorprädikativen Erfahrung und der in ihr begründeten Bedingungen
möglicher Wahrheit eine vorrangige Rolle.
Die Einsicht in die Notwendigkeit einer Fundierung der objektiv-gerichteten
formalen Logik durch eine subjektiv-gerichtete Erkenntnistheorie findet sich
50 1. Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie
§ 3. Phänomenologische Erkenntnistheorie
>>Die Logik als Wissenschaft vom Logischen überhaupt und in der obersten,
alle anderen Formen des Logischen umspannenden Gestalt, als Wissenschaft
von der Wissenschaft überhaupt, ist zweiseitig gerichtet. Ü berall handelt es sich
um Vernunftleistungen, und zwar in dem doppelten Sinn der leistenden Tätig·
keiten und Habitualitäten, andererseits der damit geleisteten und hinfort ver
harrenden Ergebnisse.<< (FTL, § 8) Diese Busserlsehe Auffassung von einer
>>doppelseitigen<<, subjektiv und objektiv gerichteten logischen Forschung be
herrschte auch schon den systematischen Aufbau der Logischen Untersuchun·
gen. Bevor wir in den folgenden Kapiteln näher auf die Durchführung dieser
subjektiven Logik bzw. Wissenschaftstheorie eingehen, wollen wir uns erst in
dieser vorbereitenden Betrachtung auf deren Motivation besinnen. Wir wer
den dabei sehen, daß das die (phänomenologische) Erforschung der >>leisten
den Tätigkeiten<< treibende Interesse ein erkenntnistheoretisches ist. Und Husserl
bestimmt diese phänomenologische Erkenntnistheorie als eine Fundamental
wissenschaft, d. h. als eine Wissenschaft, welche den letzten Rechtsgrund nicht
bloß der objektiv gerichteten Logik, sondern jeden Wissens schlechthin syste
matisch erforscht. Was sich erst als Aufgab€ einer subjektiven Ergänzung der
objektiven Logik darstellte, weitet sich aus zur Erforschung des allgemeinen
Korrelationsapriori >>Von Erkenntnis, Erkenntnissinn und Erkenntnisobjekt<<
(Hu II, 22) und mündet schließlich in die Konzeption einer absoluten Wissen
schaft, welche Husserl bereits 1908 wie folgt charakterisiert: >> . . . Erforschung
des letzten Sinnes der Geltung der Erkenntnis durch Rückgang auf die . . .
transzendental-phänomenologischen Ursprünge, nämlich transzendental-phäno
menologische Erforschung der Konstitution des . . . Objektiven: die Ursprünge
der Objektivität in der transzendentalen Subjektivität, des relativen Seins der
·
Objekte aus dem Absoluten.<< (Hu VII, S. 382)
Ihrem Programm gemäß wird die Phänomenologie in den Logischen Untersu·
chungen noch ganz auf die erkenntnistheoretische Aufklärung der reinen Logik
§ 3. Phänomenologische Erkenntnistheorie 51
ausgerichtet: >> . . . die Phänomenologie erschließt die > Quellen <, aus denen die
Grundbegriffe und die idealen Gesetze der reinen Logik > entspringen <, und bis
zu welchen sie wieder zurückverfolgt werden müssen, um ihnen die für ein
erkenntnistheoretisches Verständnis der reinen Logik erforderliche , Klarheit und
Deutlichkeit < zu verschaffen. << (LU II/1, S. 3) Diese durch die phänomenologi
sche Erkenntnistheorie erschlossenen »Quellen<< sind nichts anderes als die Er
lebnisse, in denen sich die logischen Begriffe und Gegenstände anschaulich
realisieren (S. 4) bzw. in denen sie zu anschaulicher Gegebenheit kommen (S.
5). Diese anschauliche Gegebenheit rein logischer Gegenstände ist nun aber ei
ne höherstufige Erlebnisform, die die Gegebenheit schlichter Gegenstände be
reits voraussetzt. Die phänomenologische Aufklärung des Zusammenhangs von
logisch-idealen Gegenständen und ihren (kategorial-) anschaulichen Gegeben
heiten impliziert also auch die Aufklärung der (sinnlich-) anschaulichen Gege
benheit schlichter Gegenstände; die erkenntnistheoretische Aufklärung der
reinen Logik wird notwendig mit den »allgemeinsten erkenntnistheoretischen
Grundfragen<< konfrontiert, »wie es denn zu verstehen sei, daß das > an sich < der
Objektivität zur , Vorstellung<, ja in der Erkenntnis zur > Erfahrung< komme,
also am Ende doch wieder subjektiv werde<< und wie es möglich ist, daß »alles
Denken und Erkennen auf Gegenstände bzw. Sachverhalte geht, sie angeblich
trifft . . . <<. (S. 8) Die traditionelle erkenntnistheoretische Grundfrage, an die Hus
serl hier anknüpft, sieht sich also vor die paradoxale Aufgabe ges!ellt, zu erklä
ren, »daß menschliches Denken, wenn es nach logischer Methode verfährt, eine
an sich seiende Dinglichkeit, Natur oder ein an sich Seiendes der Mathematik
trifft?<< (Hu XXIV, S. 40 1), obwohl man sich zugleich fragen muß: »Was küm
mern sich die Sachen an sich um unsere Denkbewegungen und um die sie re
gelnden logischen Gesetze?<< (Hu II, S. 3)
Angeregt werden diese erkenntnistheoretischen Grundfragen von verschie
denen Motiven. Die Logischen Untersuchungen nennen vor allem das Motiv der
schwankenden und äquivoken Wortbedeutungen, die den Fortschritt der rein
logischen Wissenschaft hindern (S. 5). Und wenige Jahre später steht vor allem
die Skepsis im Vordergrund, welche insbesondere durch die Verwirrungen ei
ner psychologisch, biologisch oder natürlich-geisteswissenschaftlich inspirier
ten, letztlich widersinnigen Erkenntnistheorie hervorgerufen wird (Hu II, S.
1 8 ff.). Durchgehend appelliert Husserl jedoch an die evidente Gegebenheit, in
der »die logischen Ideen, die Begriffe und Gesetze, zu erkenntnistheoretischer
Klarheit und Deutlichkeit zu bringen<< sind (LU II/1, S. 5) und die von den
widersinnigen Voraussetzungen natürlicher Erkenntnistheorien und der dar
aus resultierenden »skeptischen Verzweiflung« (Hu II, S. 30) zu befreien ver
mag. Die erforderlichen evidenten Gegebenheiten sind somit in erster Linie die
Akte kategorialer Anschauung, in denen logische Begriffe und Gesetze zu
52 1 . Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie
adäquater Gegebenheit kommen. Busserl erwarb sich jedoch während der kon
kreten Ausarbeitung insbesondere der I., V. und VI. Logischen Untersuchungen
sowie in den Jahren danach ein immer deutlicheres Bewußtsein davon, daß die
auf die Gegenstände der reinen Logik gerichteten Erkenntnisakte zwar wissen
schaftstheoretisch die wichtigsten Erkenntnisakte sind, daß ihre Erforschung
jedoch nur ein Sondergebiet der allgemeinen erkenntnistheoretischen Forschung
darstellt. Dieses erweiterte Problembewußtsein dokumentiert sich in einem Brief
an Brentano aus 1905, in dem Busserl bezüglich der in den Prolegomena (§ 65)
vorgeschlagenen Einbeziehung der erkenntnistheoretischen Problematik in das
Programm der reinen Logik schreibt: »Praktischer erscheint es mir jetzt, reine
Logik und Erkenntniskritik zu trennen.<< (vgl. Bu XVIII, S. XXXVI) Das »Rät
sel<< der Erkenntnis (Bu II, S. 36 u. ö.) betrifft nicht allein das Verhältnis von
logisch idealem Sein und subjektiv realem Sein, sondern allgemeiner das Ver
hältnis von Transzendenz und Immanenz. Immanenz bezeichnet dabei die Sphäre
der evidenten Gegebenheiten, der möglichen adäquaten Anschauung, während
Transzendenz negativ als Sphäre des Nicht-Immanenten bestimmt wird. Bereits
die Logischen Untersuchungen bezeichnen die Sphäre der Immanenz als Gebiet
voraussetzungsloser Gegebenheit (LU 11/1, S. 1 5) und in der >>Idee der Phäno
menologie<< aus 1907 (Bu II) wird diese Sphäre immanent evidenter Gegeben
heit unter ausdrücklicher Berufung auf Descartes' Zweifelsbetrachtung als Sphäre
zweifelloser Gegebenheit bestimmt (S. 30 u. ö.). Das Rätsel der Erkenntnis be
trifft also wesentlich die dem erkenntnistheoretischen Zweifel ausgesetzte Sphäre
transzendenten Seins bzw. gerrauer die Gegebenheit der Transzendenz in der
Immanenz und den erkenntnismäßigen Bezug der Immanenz auf die Transzen
denz. Dieses Rätsel ist jedoch, wie die traditionelle Erkenntnistheorie zeigt, so
lange unlösbar, als Immanenz und Transzendenz in Form eines ontologisch
begründeten Gegensatzes betrachtet werden, der dann nur durch die Konstruk
tion einer verbindenden > Brücke < zu überwinden wäre. Die Berufung auf die
Sphäre evidenter Gegebenheit als Forschungsgebiet der Erkenntnistheorie ist
zwar eine notwendige Bedingung einer voraussetzungslosen Erkenntnistheo
rie, doch zur Lösung der erkenntnistheoretischen Grundfrage trägt sie erst dann
bei, wenn die Beziehung zwischen Immanenz und Transzendenz selbst im Rah
men evident immanenter Gegebenheit zu erforschen ist: >>Unklar ist . . . die Be
ziehung auf Transzendenz, unklar ist . . . das > ein Transzendentes Treffen<, das
der Erkenntnis . . . zugeschrieben wird. Wo und wie wäre ... Klarheit? Nun, wenn
. . . die Beziehung eben selbst zu geben wäre, als etwas zu Schauendes.<< (Bu II,
S. 37)
Nur die phänomenologische Erkenntnistheorie als rein schauende Erforschung
der intentionalen Bewußtseinsakte ist in der Lage, die Beziehung von Imma
nenz und Transzendenz, >>die Einheit von Erkenntnis und Erkenntnisobjekt,
§ 3. Phänomenologische Erkenntnistheorie 53
die das Wort Triftigkeit andeutet<< (Hu II, S. 37), zu erforschen, ohne das Gebiet
evidenter Gegebenheit zu überschreiten. Der Forderung nach voraussetzungs
loser, evidenter Erforschung der Erkenntnis genügt die Phänomenologie da
durch, daß sie sich auf die Betrachtung der Erkenntniserlebnisse beschränkt und
diese zudem von jeder transzendierenden Apperzeption befreit. Wir werden
noch ausführlich auf diese phänomenologische Reduktion des Bewußtseins zu
rückkommen (vgl. unten, S. 56ff.). Der Ausschluß jeder Form von Transzendenz
aus dem Gebiet phänomenologischer Betrachtung bedeutet aber nicht, daß die
Transzendenz für die phänomenologische Forschung überhaupt verloren geht,
denn der bewußtseinsmäßige Bezug auf die Transzendenz ist in der phänome
nologisch-reflexiven Betrachtung evident gegeben. Husserl schreibt deswegen
in den Ideen I über die phänomenologische Reduktion der Transzendenz: >>Wir
haben eigentlich nichts verloren, aber das gesamte absolute Sein gewonnen, das,
recht verstanden, alle weltlichen Transzendenzeil in sich birgt . . . << (§ 50). Diese
Behauptung stützt sich im wesentlichen auf die Bestimmung der erkenntnis
theoretisch voraussetzungslosen, d. h. phänomenologisch reduzierten Imma
nenzsphäre als intentionales Bewußtsein. Auch auf diese fundamentale phäno
menologische Lehre wollen wir später noch zurückkommen (vgl. unten, S. 85 ff.).
Im gegenwärtigen Zusammenhang interessiert uns bloß, daß vermöge des in
tentionalen Bezugs der Bewußtseinserlebnisse auf einen Gegenstand jede Art
von intentionalem Bezug - ob erkennend oder leer behauptend, ob auf imma
nente oder transzendente Gegenstände gerichtet - zu phänomenologisch evi
denter Gegebenheit gebracht werden kann.
Die Logischen Untersuchungen fassen diese phänomenologisch evidente Ge
gebenheit der Transzendenz, zumindest in ihrer ausdrücklichen Selbstinterpre
tation, noch sehr eng. Als voraussetzungslose erkenntnistheoretische Gege
benheiten gelten allein die in phänomenologischer Reflexion gegebenen inten
tionalen Akte. Und die für die erkenntnistheoretische Grundfrage nach der
Wahrheit wesentlich relevanten Erkenntnisakte sind anschaulich erfüllte Akte,
in denen der intendierte Gegenstand zur anschaulichen Selbstgegebenheit kommt
(vgl. unten, S. 1 67 ff.). Streng genommen läßt sich also über den Erkenntnisge
genstand nichts anderes sagen, als daß er in einem näher zu beschreibenden
Akt und in einer näher zu bestimmenden Weise intendiert wird. Als Husserl
ab Ende 1906 dazu überging, auch das intentionale Korrelat dieses Aktes, d. h.
den intentionalen Gegenstand-gerade-so-wie er in diesem Akt intendiert wird,
als eine phänomenologisch evidente Gegebenheit zu bezeichnen (vgl. unten,
S. 92 ff.), hatte das für die Durchführung der phänomenologischen Erkenntnis
theorie ganz entscheidende Konsequenzen. Denn nun war es möglich, im Rah
men der phänomenologisch reduzierten Gegebenheiten nicht nur die inten
tionale Vermeinung des Erkenntnisaktes, sondern auch >>die reine Korrelation
54 1 . Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie
Sinn und Geltung aufbaut, ausweist, konstituiert. Qua konstituierter ist jeder
Erkenntnisgegenstand notwendig relativ auf seine Bestimmung und die Recht
fertigung seines Wirklichseins im Zusammenhang des anschaulich konstituie
renden Bewußtseins. Diese erkenntnistheoretische Fassung des Ursprungs »der
Objektivität in der transzendentalen Subjektivität, des relativen Seins der Ob
jekte aus dem Absoluten<< (Hu VII, S. 382) bestimmt auch, richtig verstanden,
den Sinn von Busserls erkenntnistheoretischem Idealismus: Das transzenden
tal-konstitutive Bewußtsein »ist die Wurzel, . . . die Quelle all dessen, was sonst
noch Sein heißt . . . Es trägt jedes andere . . . Sein . . . . Es ist . . . keine Einheit der
Mannigfaltigkeit: es weist auf nichts weiter zurück, aus dem es als Einheit ent
nommen werden könnte und müßte. Alles andere Sein ist eben einheitliches
und weist mittelbar oder unmittelbar auf den absoluten Bewußtseinsfluß zu
rück. Ist in seiner Weise der Bewußtseinsfluß, so ist alles, was sonst ist und ir
gend sein kann, es bedarf keines weiteren . . . Die Sachlage rechtfertigt es, das
. . . wurzelgebende Bewußtsein als absolutes Bewußtsein zu bezeichnen im Ge
gensatz zum relativen Sein, das Sein nur ist in Beziehung auf Bewußtsein und
zu ihm wesenhaft gehörige Gesetzmäßigkeit . . . . Andererseits freilich hätte es
seine Unzuträglichkeit, zu sagen > Es gibt nur absolutes Bewußtsein < als ob man
sagen wollte: alles andere Sein sei nur ein scheinbares . . . Das wäre freilich grund
falsch. Die Naturobjekte sind selbstverständlich wahre Objekte, ihr Sein ist wah
res Sein . . . Es ist grundfalsch, an dieses Sein einen anderen Maßstab anzulegen
[als] den es seiner Kategorie nach fordert und etwas darum zu diskreditieren,
weil es sich im Bewußtsein > konstituierendes <, im Bewußtsein wurzelndes ist.«
(Ms. B IV 6, S. 9 1 b f. ( 1 908))
2. Kapitel
Die methodische Grundlegung der Phänomenologie als Wissenschaft
vom reinen bzw. transzendentale n Bewußtsein
Im Zweiten Teil der Vorlesungen über >>Erste Philosophie« von 1923/24, der
der >>Theorie der phänomenologischen Reduktion<< gewidmet war1, sagt Hus
serl zum Abschluß einer Reihe von zuerst durchgeführten Erörterungen über
die >>cartesianische Methode der transzendentalen Reduktion<<, es sei >>klarge
worden, daß wir den Zugang zur transzendentalen Subjektivität nicht nur fak
tisch der beschriebenen Methode verdankten, sondern daß diese oder daß eine
verwandte Methode überhaupt unerläßlich ist, sie zu entdecken. Ich betone: ent·
decken . . . Begreiflicherweise mußte auch historisch die transzendentale Sub
.
Vollzug der Reduktion befassen. Ferner werden wir uns mit der Frage der ver
schiedenen Wege der Reduktion auseinandersetzen und mit einem Hinweis auf
Husserls Idee der Philosophie, die aufs engste mit dem Vollzug der Reduktion
zusammenhängt, schließen.
In einem Text aus den zwanziger Jahren schreibt Husserl: >>Subjektivität, und
sie universal und ausschließlich ist mein Thema, und es ist ein rein in sich ab
geschlossenes, independentes Thema. Daß das möglich ist und wie, das zu zei
gen ist die Aufgabe der Beschreibung der Methode der phänomenologischen
Reduktion.5 Diese >>reine Thematik der Subjektivität<< (a.a.O. , S. 203) hat Hus
serl selbst sich erst nach dem Erscheinen der Logischen Untersuchungen (1900/0 1)
allmählich methodisch reflektiert klargelegt. Es läßt sich zusammenfassend sa
gen, daß die eigentliche Leistung der phänomenologischen Reduktion, wie Hus
serl sie etwa um 1905 erfaßte, darin besteht, die bereits in den Logischen Un
tersuchungen bearbeitete Forschungsdomäne der phänomenologischen Analy
se in ihrer Eigenheit methodisch reinlich abzugrenzen, ihre reine, unvermischte
Gegebenheit methodisch sicherzustellen. Als Forschungsdomäne der deskripti
ven Psychologie bzw. der phänomenologischen Analyse umgrenzte Husserl in
diesem Werk die konkrete Komplexion von Erlebnissen eines psychischen In
dividuums, den Bewußtseinsstrom, wie er später sagen wird. Diese Domäne
kommt zu thematischer Gegebenheit ausschließlich durch die >>widernatürli
che Anschauungs- und Denkrichtung« der Reflexion. >>Anstatt im Vollzuge der
mannigfaltig aufeinander gebauten Akte aufzugehen und somit ihren Gegen
ständen ausschließlich zugewendet zu sein, sollen wir vielmehr > reflektieren <,
d. h. diese Akte selbst zu Gegenständen machen«. >>Unser theoretisches Interes
se« sollen wir auf diese >>Akte, die bislang gar nicht gegenständlich waren<<, rich
ten, >>und diese Akte sollen wir nun in neuen Anschauungs- und Denkakten
betrachten, sie analysieren, beschreiben, zu Gegenständen eines vergleichenden
und unterscheidenden Denkens machen«.6
Der entscheidende Gedanke für die phänomenologische Reduktion beruht
nun darauf, daß es über die in den Logischen Untersuchungen geleistete reflekti
ve Blickwendung auf die Bewußtseinsakte als solche hinaus einer methodisch
reinen Fassung des in der Reflexion zum Gegenstand der Forschung gemachten
Bewußtseins selbst bedurfte. Eine konsequent reine Apperzeptionsweise des Be-
wußtseins selbst hatte Husserl in den Logischen Untersuchungen noch nicht her
ausgearbeitet. Vielmehr begriff er Bewußtsein in der bewußtseinstheoretischen
fünften Untersuchung durchaus und ausdrücklich in natürlich-empirischer Ap
perzeption, wie die Psychologie es tut: Bewußtsein ist eben einfach ein Bestand
teil des empirischen, leiblich-geistig so und so bestimmten Menschen-Ich, dieses
oder jenes psychophysisch charakterisierten, im objektiven Raum lokalisierten,
der objektiven Zeit eingeordneten personalen Individuums. In einer Art philo
sophischen Unbekümmertheit? thematisierte Husserl in diesem Werk Bewußt
sein in der Reflexion aufdem Boden der empirisch-natürlichen Apperzeption,
die Reflexion blieb, in seiner späteren Redeweise gesprochen, der >>mundanen
Erfahrung<< verhaftet,8 in der das vorphilosophische, natürliche Leben verläuft.
Die Einstellung des natürlichen Lebens, »der ganze natürliche Zug des Den
kens<< geht, wie Husserl bereits um 1905/06 deutlich erkannte, >>auf die empiri
sche Apperzeption<<, die Erlebnisse erfahren >>gewohnheitsmäßige Beziehung
auf das empirische Ich<<, >>während es eigener Schulung bedarf, um die Grenze
reiner Gegebenheit innezuhalten<< (Ms. F I 26, S. 3a, Sa).
Die Schwierigkeit des Vollzugs der phänomenologischen Reduktion bringt
Husserl immer wieder mit ihrer Unnatürlichkeit in Verbindung. Schärfer noch
als im bloßen Habitus der Reflexion und reflektiven Forschung ist die eigentli
che Unnatürlichkeit der phänomenologischen Selbstbesinnung nämlich gera
de in der bezüglich der Reflexionsgegebenheiten selbst auftretenden Forderung
der >>Reinigung<< durch die Reduktion zu sehen. Denn >>bloße Reflexion, und
noch so sorgsam beobachtende, analysierende und noch so sehr auf mein rein
Psychisches, auf mein reines seelisches Innensein gerichtete<<, wie sie die phä
nomenologische Analyse der Logischen Untersuchungen kennzeichnete, >>bleibt
ohne solche Methode [der phänomenologischen Reduktion] natürliche psycho
logische Reflexion<< (Hu VIII, S. 79). Die eigentliche Leistung der phänomenolo
gischen Reduktion dagegen ist es, durch die konsequente A usschaltung der
natürlichen empirischen Apperzeption des Bewußtseins dessen reine Gegeben
heit methodisch innezuhalten. Metaphorisch beschreibt Husserl die Reduk
tion als >>Methode, mir das empirisch-objektive Gewand abzuziehen, . . . das ich
mir immer wieder in einem - während des naiven Erfahrungslebens unbeach
tet bleibenden - habituellen Apperzipieren angestalte<< (Hu VIII, S. 78; vgl.
auch S. 120 ff., S. 427). Durch diese methodische Ausschaltung der empirischen
Apperzeption in der Reduktion hört Bewußtsein auf, »menschliches oder sonst
ein empirisches Bewußtsein zu sein<<, das Wort Bewußtsein >>Verliert allen psy-
7 Vgl. D. Cairns, Conversations with Husserl and Fink, Den Haag 1975, das Gespräch vom
chologischen Sinn, und schließlich wird man auf ein Absolutes zurückgeführt,
das weder physisches noch psychisches Sein im naturwissenschaftlichen Sinn ist.
Das aber ist in der phänomenologischen Betrachtung überall das Feld der Gegeben·
heit. Mit dem aus dem natürlichen Denken stammenden, vermeintlich so selbst
verständlichen Gedanken, daß alles Gegebene entweder Physisches oder Psychi
sches ist, muß man eben brechen<<, schreibt Husserl bereits 1906 (Hu xxrv, S. 242).
Entsprechend dieser methodisch reflektierten »Reinigung<< des Bewußtseins
selbst modifiziert Husserl fortan seinen Begriff der Reflexion: Der natürlichen,
empirischen Wahrnehmung, die er in äußere und psychologische (innere, adä
quate) Wahrnehmung (Reflexion in den Logischen Untersuchungen) unterteilt,
setzt er im Rückblick auf die Logischen Untersuchungen nun gegenüber »die
phänomenologische Wahrnehmung (Reflexion), ein Ausdruck, den ich jetzt vor
ziehen möchte dem früher von mir gebrauchten Ausdruck > adäquate Wahrneh
mung<. Das Wesentliche ist zunächst nicht die Adäquatheit, sondern die phä
nomenologische Reduktion und Stellungnahme. Die phänomenologische Wahr
nehmung bezieht sich auf das reine Phänomen dieser Reduktion, das in ihr Wahr
genommene hat keine Stelle im objektiven Raum, aber auch nicht in der
objektiven Zeit. Nichts von Transzendenz ist mitgesetzt: Das reine Phänomen
ist ein reines schlechthinniges Dies, eine absolute Gegebenheit und Unfraglich
keit<<. Die innere, psychologische Wahrnehmung dagegen trägt eine »apperzep
tive Beziehung auf Ichkörper und sonstige > äußere Natur<<<, sie verbleibt in der
»Sphäre der Natürlichkeit<< (Hu XXIV, S. 371).
Die phänomenologische Reduktion hat die »reine Apperzeptionsweise<< des
Bewußtseins in Kraft zu setzen, uns vom proteron pros hemas, dem natürli
chen Bewußtsein, zum philosophischen Bewußtsein zu erheben (Hu XXIV,
S. 2 1 2). In einem Manuskript aus 1 9 1 0 schreibt Husserl: »Bewußtsein, das ist
der Grundfehler, der den letzten Grundfehler des Psychologismus ausmacht
(dem alle Empiristen nicht bloß, sondern auch Rationalisten unterliegen), ist
kein psychisches Erlebnis, kein Geflecht psychischer Erlebnisse, keine Sache,
kein Anhang (Zustand, Betätigung) an einem Naturobjekt. Wer errettet uns
vor der Realisierung des Bewußtseins? Das wäre der Retter der Philosophie,
ja der Schöpfer der Philosophie<< (Ms. A I 36, S. 193b).
Mit der Methode der phänomenologischen Reduktion wollte Husserl zutiefst
nichts anderes, als konsequent Bewußtsein nicht in solcher »Realisierung<<, Na
turalisierung zum Forschungsthema zu machen, vielmehr es in seiner Eigenwe·
sentlichkeit aufzuklären, wie bereits seine »Allgemeine Einführung in die reine
Phänomenologie<<, die Ideen I von 1 9 1 3 , in der »Phänomenologischen Funda
mentalbetrachtung<< aufs deutlichste herausstellte. 9 Es geht, auf einen Satz ge-
9 Hu III/ 1 , hrsg. von K. Schuhmann; vgl. insbesondere §§ 33; 39; 46; 49; 50; 5 1 , Anm.; 53.
60 2. Kapitel: Methodische Grundlegung der Phänomenologie
bracht, für das transzendentale Bewußtsein oder Ich darum, »seiner selbst in
nezuwerden, sich selbst in seiner Reinheit thematisch zu erfahren und zum the
matischen Erkenntnisfelde zu machen<< . Dazu, fügt Husserl bei, muß das Ich
erst in »Motivationen hineingeraten . . . und damit enden, phänomenologische
Reduktion zu üben<< . 10
In etwa ist bereits den obigen Ausführungen zu entnehmen, daß angesichts der
ganz fundamentalen Bedeutung, die Husserl der phänomenologischen Reduk
tion beimißt, die Motivation zu deren Vollzug aufs engste mit seinen Beweg
gründen, überhaupt zu philosophieren, bzw. mit seiner Idee der Philosophie
zusammenhängen dürfte. In der Tat läßt sich Husserls allmählich erreichte Klar
heit über die Grundgestalt der Methode der Reduktion als Rückgang auf das
reine Bewußtsein oder, wie er später immer mehr sagen wird, auf die transzen
dentale Subjektivität auch verstehen als Ausdruck der schließlich gewonnenen
Einsicht in das, was Philosophie soll, und in den Boden und Weg, auf denen
das Intendierte erreicht werden kann.
Ausschlaggebend für die Erfassung einer genuin philosophischen Thematik wur
de Husserls Auseinandersetzung mit den erkenntnis- oder vernunftkritischen,
den erfahrungslogischen Problemen, wie er sie nach dem Erscheinen der Logi
schen Untersuchungen in radikalisierter Weise fortführte. Er erweiterte den Ho
rizont seiner Problemstellung über die spezifisch logisch-mathematische Er
kenntnis hinaus auf die erkennende, die theoretische Vernunft bzw. vernünftig
erkannte Gegenständlichkeit überhaupt. 1 1 Das Bedürfnis nach einer universal
gefaßten Aufklärung der Erkenntnismöglichkeiten erwuchs aus einer vertief
ten Besinnung auf die in der Geschichte der Philosophie immer wieder aufle
benden skeptischen A rgumentationen über das Verhältnis von Erkenntnis und
Gegenstand. Ganz allgemein gesprochen interessierte Husserl sich nicht für die
natürlich-objektiv gerichtete Erkenntnisthematik der verschiedenen wissen
schaftlichen Disziplinen, deren evidente faktische Leistungen er stets anerkann
te, 12 sondern für die »Aufklärung der Erkenntnis nach Wesensmöglichkeiten
ihrer Leistung<<, welche >>nicht auf den Wegen objektiver Wissenschaft<< (Hu
II, S. 6) liegt und überhaupt der natürlichen Einstellung durchaus fremd ist (vgl.
Hu II, 1 . Vorlesung). Die dem natürlichen Denken selbstverständliche Mög-
10
Hu VIII, Beilage XVIII »Sinn der phänomenologischen Reduktion«, S. 4 1 7.
11
Vgl. z. B. FTL, Hu XVII, § 100 »Historisch-kritische Bemerkungen zur Entwicklung der Tran
szendentalphilosophie und insbesondere zur transzendentalen Problematik der formalen Logik«.
12
Ms. B II 1, S. 27a/b, zit. in Hu II, Einl. v. W. Biemel, S. X; Hu VII, Erste Philosophie, S. 246 f.
§ 1 . Phänomenologische Epoche und Reduktion 61
lichkeit der Erkenntnis, nämlich die Möglichkeit, eine Objektivität, die an sich
ist, was sie ist, in der Erkenntnis zu treffen, diese »Triftigkeit« als Leistung der
Erkenntnis wird hingegen in der philosophischen Skepsis radikal fraglich. Die
Möglichkeit objektiver Erkenntnis und Wissenschaft wird überhaupt geleug
net und ein radikaler Subjektivismus alles Erkennens behauptet.
Die skeptischen Argumentationen (Hume, antike Sophistik des Protagaras
und Gorgias) machten auf Husserl einen tiefen Eindruck. Sie entfachten in ihm
aber gerade, wie es scheint, die für seine Idee der Philosophie alles entscheiden
de >>transzendentale Wendung<<. In der Skepsis selbst nämlich entdeckte er de
ren verborgene transzendentale Motivation und brachte sie zu konsequenter
Auswirkung. 13 Wenn in den skeptischen Argumentationen die naive Vorgege
benheit der Welt als natürlicher Boden alles objektiv gerichteten Erkennens pro
blematisch und damit einhergehend die Welt selbst nach prinzipieller Möglichkeit
ihrer Erkenntnis und nach dem prinzipiellen Sinn ihres Ansichseins in Frage
gezogen wurde, dann galt es nach Husserl, das Rätsel der Möglichkeit der Er
kenntnis überhaupt auf einem letzten oder an sich ersten, nicht mehr hinter
gehbaren bzw. in aller anderen Erkenntnis stets als geltend vorausgesetzten Boden
aufzuklären. Dies gelingt nach ihm eben dank der phänomenologischen Re
duktion, die nicht mehr das psychologisch apperzipierte und dadurch bereits
als Bestandteil der rätselhaft gewordenen Welt gefaßte Bewußtsein, sondern das
reine Bewußtsein als letzten, »absoluten<< Forschungsboden freigibt. Es hängt
bei dieser transzen dentalen Betrachtungsweise alles daran, diesen reinen, abso
luten Gesichtspunkt in radikaler Konsequenz innezuhalten; denn »Wer nur in
einem Punkt . . . auf Vorgegebenheiten der natürlichen Apperzeption sich stützt,
hat dafür durch Widersinn und Absurdität zu büßen<<, schreibt Husserl bereits
1906 (Hu XXIV, S. 1 87 f.). Oder, es kommt alles darauf an, gegenüber der
natürlich-objektiven Erkenntnis und Wissenschaft »prinzipiell dieses zum The
ma und zum reinen Thema<< zu machen: »Wie die erkennende Subjektivität
in ihrem reinen Bewußtseinsleben diese Sinnesleistung, Urteils- und Einsichts
leistung > Objektivität < zustande bringt; nicht, wie sie eine Objektivität, die sie
im voraus in der Erfahrung und im Erfahrungsglauben hat, theoretisch fort
schreitend bestimmt, sondern, wie sie schon in sich zu diesem Haben kommt.
Denn sie hat nur, was sie in sich leistet; schon das schlichteste Ein-Ding-sich
gegenüber-haben des Wahrnehmens ist Bewußtsein und vollzieht in überrei-
11
Vgl. v.a. Hu VII, wo Husserl eine »Kritische Ideengeschichte• vorträgt. Impulse auf Husserls
vertieftes Interesse für die skeptischen Argumentationen sind sicherlich von R. Richters Werk Der
Skeptizismus in der Philosophie, dessen erster Band 1904 erschien, ausgegangen. Husserl erhielt das
Werk vom Verfasser zugeschickt (K. Schuhmann, Husserl-Chronik, S. 8 1) und hat es genauer Lektü
re unterzogen; auch im 1908 erschienenen zweiten Band finden sich Lesespuren von Husserls Hand
(z. B. bezüglich Hume)_ - Zu Husserls Begriff vom Skeptizismus vgl. schon Prolegomena zur rei
nen Logik ( 1 900).
62 2. Kapitel: Methodische Grundlegung der Phänomenologie
In Husserls Werk lassen sich vornehmlich drei Wegtypen nachweisen. Wir wol
len diese hier nicht so sehr in ihren Grundgestalten, wechselseitigen Verknüp
fungen und Ü berschneidungen durch die einzelnen Werke und Schaffensphasen
§ 1 . Phänomenologische Epoche und Reduktion 63
hindurch verfolgen 14, als vielmehr versuchen, sie in einigen Strichen im Hori
zont von Husserls Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Geschichte der
Philosophie zu charakterisieren. 15 Sosehr zwar im frii h en Ruf ,,zu den Sachen
selbst<< ein antihistorischer Ton mitschwingen mochte16, stand Husserl selbst
sicherlich nicht nur mehr oder weniger unbewußt unter dem Einfluß zeitge
nössischer Philosopheme, sondern fand in der Besinnung auf den Geistesge
halt der von ihm studierten Philosophen Hilfe zur Klärung der »VOn den
Problemen selbst ausgehenden Forderungen<< wie auch Anregung zu vertieften
bzw. neuen Problemstellungen. 17 In seiner reifen kritischen Ideengeschichte
von 1923/24 steht der berii h mte Satz: »Der tiefste Sinn der neuzeitlichen Phi
losophie ist der, daß ihr innerlich die Aufgabe zugewachsen ist, deren Trieb
kraft, sei es auch ungeklärt, sie immerfort in Bewegung setzt: nämlich, den
radikalen Subjektivismus der skeptischen Tradition in einem höheren Sinn wahr
zumachen<<, und zwar »durch den transzendentalen SubjektivismuS<< auf dem
Grunde der phänomenologischen Reduktion (vgl. Hu VII, S. 61).
Für den Weg zum transzendentalen Subjektivismus, wie Husserl selbst ihn
in der transzendentalen Phänomenologie, »der geheimen Sehnsucht der gan
zen neuzeitlichen Philosophie<< (Ideen I, S. 1 1 8), beschritt, waren in seinen Au
gen von hervorragender Bedeutung Descartes' »Fundamentalbetrachtung<< in
den Meditationes de prima philosophia, Kants >>Kopernikanische Wendung<< von
der alten ontologischen Thematik zur transzendentalen Sinnesdeutung der Welt
als Welt der möglichen Erfahrung in der Kritik der reinen Vernunft und die
mit dem englischen Empirismus (von Locke bis Hume) verknüpfte Psycholo
gie der »inneren Erfahrung<<, die Husserl durch Brentano vermittelt bekam. So
läßt sich vom »cartesianischen Weg<<, vom »Ontologischen Weg<<, den wir viel
leicht auch als »kantianischen Weg<< bezeichnen dürfen, und vom »Weg über
die deskriptive, intentionale Psychologie<< reden.
14 Siehe diesbezüglich v.a. I. Kern, Husserl und Kant, § 18 sowie R. Boehm, Einleitung in Hu VIII.
15 Es zeigt sich hierbei die Möglichkeit »einer ideengeschichtlichen Einleitung in die transzen
dentale Phänomenologie und phänomenologische Philosophie� (Hu VIII, S. 3), die allenfalls einen
vierten Wegtypus ausmachen könnte (vgl. Hu VIII, Hu VI, Teile I und II).
16 Vgl. I. Kern, Husserl und Kant, S. 306.
17 Vgl. "Philosophie als strenge Wissenschaft«, wgos, 1 9 1 1 , bes. S. 340 ( Hu XXV, S. 61).
=
64 2. Kapitel. Methodische Grundlegung der Phänomenologie
Nichtseins der objektiven Welt, diese ,,fiktive Bypothesis« (Bu VII, S. 340),
hält sich bei Busserl de facto ausschließlich auf dem Boden der rein reflexiven
66 2. Kapitel: Methodische Grundlegung der Phänomenologie
Auf einem anderen möglichen Weg zur transzendentalen Einstellung hält Hus
serl denn auch »in umgekehrter Richtung Ordnung, als wie es der Cartesiani
sche Ansatz nahelegt<< (Hu VI, S. 175). Er nimmt hier den Ausgang nicht »direkt<<
beim ego cogito, sondern von der objektiven, ontologischen Seite, und er will
das Bedürfnis nach einer korrelativen transzendental-subjektiven Betrachtung
zur Verständlichmachung des Sinnes der Objektivität wecken. Dieses Vorgehen
§ 1 . Phänomenologische Epoche und Reduktion 67
11
Zu Husserls Lehre von der formalen und den materialen Ontologien und der letztlich alles
fundierenden Ontologie der Lebenswelt vgl. Kapitel 1, § 2, S. 41 ff. und Kapitel 9.
" Vgl. etwa Hu XIII, Nr. 6, 1910/ 1 1 , S. 1 80, 1 82.
23 Hu XIII, Nr. 6, §§ 36 ff. ; Hu VIII, Beilage XX.
§ 1 . Phänomenologische Epoche und Reduktion 69
griffe<< (Hu VI, §§ 30 f. , § 57). Er hält Kam vor, daß er, >>Von der WolfEschen
Ontologie kommend . . . auch in der Transzendentalphilosophie immer wesent·
lieh ontologisch gerichtet<< blieb und >>die systematische Durchführung eines kor
relativen konkret anschaulichen Studiums der leistenden Subjektivität und ihrer
Bewußtseinsfunktionen . . . für die Erledigung seiner Problematik für entbehr
lich<< hielt. Kam habe trotz »erster Tiefblicke in das Apriori des sinngebenden
Bewußtseinslebens<< - besonders in der »subjektiven Deduktion<< der 1. Aufla
ge der Kritik der reinen Vernunft - »eine transzendentale Subjektivität kon·
struiert<<.24
Den Grund für dieses mythisch-konstruierende Verfahren sieht Husserl dar
in, daß Kam »jeden Rekurs auf die Psychologie als widersinnige Verkehrung der
echten Verstandesproblematik<< fürchtete. Dies geschah, weil Kam »in seiner Auf
fassung von der Seele und der Aufgabensphäre einer Psychologie<< vom Empi
rismus, den er andererseits bekämpfte, abhängig blieb, es geschah, weil ihm »als
Seele die naturalisierte und als Komponente des psycho-physischen Menschen
in der Zeit, der Natur, der Raumzeitlichkeit, gedachte Seele gilt. Da konnte
freilich das transzendental Subjektive nicht das Seelische sein<<. Sowie wir Kants
»transzendentale Subjektivität aber von der Seele unterscheiden, geraten wir
in ein unverständlich Mythisches<< (Krisis, S. 1 1 7 f.).
Der zuletzt erwähnte Vorwurf Husserls an Kam verhilft zur Einsicht in die
Husserl selbst eigentümliche Klärung des transzendentalen Problems, die unter
ausdrücklicher Rücksichtnahme auf die »darauf bezogene Funktion der Psycho·
logie<< geschieht.25 Die Beziehung zwischen Phänomenologie und Psychologie,
die in Husserls eigener Entwicklung ständig gegenwärtig war, hat er vor allem
in den zwanziger Jahren und wiederum in der Krisis methodisch durchdacht
und einen >>Weg in die phänomenologische Transzendentalphilosophie von der
Psychologie aus<< (Krisis, III B) als eine weitere Möglichkeit der Heranführung
an die transzendental-phänomenologische Reduktion entworfen.
Bei dieser Psychologie handelt es sich allerdings nicht um die positiv
wissenschaftliche, experimentelle Psychologie seiner Zeit, die Psychisches als
ein Vorkommnis der Natur, als real-kausalen Annex an animalischen Leibern
studierte. Der zentrale Gedanke aller Betrachtungen Husserls über die Idee ei
ner Psychologie, die er als deskriptive, reine, phänomenologische oder inten-
tionale Psychologie betitelt, liegt darin, daß er sie als die Thematisierung der
Eigenwesentlichkeif des Psychischen begreift, d. h. als Studium des dem Psychi
schen gegenüber dem Physischen eigenen Wesens und als Wesenswissenschaft
gegenüber einer Tatsachenwissenschaft.26 In Husserls Konzeption des dem Psy
chischen Eigenwesentlichen zeigt sich der von ihm stets hervorgehobene tiefe
Einfluß, der von Brentanos Wesenscharakterisierung der »psychischen Phäno
mene<< als solcher, die >>Beziehung auf einen Inhalt<<, >>Richtung auf ein Ob
jekt<< haben, auf ihn überging. Husserl brachte die von Brentano empfangene
Lehre von der verschiedenen >>Weise der Beziehung des Bewußtseins auf einen
Inhalt<< (vgl. V. LU, § 1 0), d.i., wie Husserl sagen wird, von der Intentionali
tät27 als dem Grundwesenszug alles psychischen Lebens in seiner Phänomeno
logie zu reiner Auswirkung. Seine radikale Loslösung von der in der damaligen
Psychologie gängigen Auffassung des Seelenlebens als >>Analogon physischen
Naturgeschehens<<, als immer neu sich wandelnde Komplexion von Elementen
mit entsprechenden Kausalgesetzen, als welche es auch von Brentano noch be
trachtet worden sei, war für seine eigene Idee der >>deskriptiven Psychologie<<
geradezu entscheidend. Er stellte scharf heraus, >>daß es zum Wesen des Bewußt
seinslebens gehört, an Stelle des räumlichen Außereinander, Ineinander und
Durcheinander und räumlicher Ganzheit ein intentionales Verflochtensein, Mo
tiviertsein, ineinander meinend Beschlossensein in sich zu bergen und in einer
Weise, die nach Form und Prinzip im Physischen überhaupt kein Analogon
hat<< (Hu IX, S. 3 6 f. , Hu VIII, S. 123 f.).
Besonders bedeutsam ist, daß sich der allgemeinste Wesenscharakter der In
tentionalität psychischen Lebens aus der Evidenz der inneren Erfahrung (der
Reflexion) direkt schöpfen und als »ein in mannigfaltigen nachweisbaren For
men und zugehörigen Synthesen sich vollziehendes Leisten<< (Hu IX, S. 36) des
kriptiv herausstellen läßt (vgl. Hu IX, S. 3 1). Durch Brentano vermittelt greift
Husserl damit die von ihm stets in ihrer Bedeutung für seine Phänomenologie
hochgehaltene »empiristische<< englische Tradition von Locke bis Hume auf. Er
verwandelt deren schließlich in Humes Skeptizismus endenden Sinn jedoch ra
dikal mittels der phänomenologischen Reduktion bzw. reinen Apperzeption
des Bewußtseins. Die reflektive, »innere Erfahrung<< vom psychologischen Be
wußtsein wird zur Thematisierung der anonymen »transzendentalen Erfahrung<<
des reinen Bewußtseins, die deskriptive Psychologie der »psychischen Phäno
mene<< zu einer Analyse der Intentionalität des Bewußtseins, die Husserl stets
weiter in die Tiefen des Wesensbaues des reinen, meines und des intersubjektiv
vergemeinschafteten, Bewußtseins führte. Mittels der subtil analysierten »irrten-
nomenologe »ist das Studium der reinen Subjektivität<< (Hu VIII, S. 43 1); den
Zugang zu dieser Thematik bildet die phänomenologische Reduktion. »Das ist
das Eigentümliche der Phänomenologie, daß sie in der Reflexion universal und
radikal ist und keine natürliche Gegebenheit in schlichter Weise hinnimmt, viel
mehr jede zurückführt auf das Bewußtsein, auf das Universum wirklichen und
möglichen Bewußtseins, in dem dieses natürliche Sein Bewußtes ist, Vermein
tes, evtl. > als wahr Ausgewiesenes < usw. , und jede nicht in gefährlicher Verein
zelung, sondern jede in eins mit jeder anderen wirklichen und möglichen -
in der Einheit eines radikalen Entschlusses, kein natürliches Dasein als gegeben
anzunehmen, sondern das Universum des Bewußtseins, und nur dieses, zum The·
ma zu machen, natürliches Dasein dann aber nur haben und betrachten zu wollen
als das in diesem Bewußtsein Erfahrene, in welcher Art sonst Vermeinte, Ge
dachte etc.« (Hu VIII, S. 430).
Das Wesentliche in Husserls Problematik der phänomenologischen Reduk
tion scheint uns in dem bei ihm faktisch ursprünglich als Entgegnung auf die
skeptischen Argumentationen entsprungenen »philosophischen Willen auf letzt
mögliches Wissen, und auf absolutes, auf Philosophie« zu liegen (vgl. Hu VIII,
S. 500). Es schiene uns aber verfehlt, diesen Willen einfach als »Cartesianismus«
abzustempeln, gar als überschwengliches sich über die menschliche Faktizität
Hinwegsetzen. Vielmehr erscheint Husserl innerhalb der neuzeitlichen euro
päischen Philosophie, ähnlich wie Kant, als Erneuerer des sokratisch-platoni
schen »> Erkenne dich selbst ! < , aus dem, wie sich immer deutlicher zeigt, die
gesamte Philosophie entquillt« (Hu VIII, S. 1 2 1 ; vgl. S. 1 66 f.) Den spekulativen
Philosophien des Deutschen Idealismus stand Husserl stets, auch in seinen Frei
burger Jahren, im Grunde fremd gegenüber.
In einer von vornherein nicht vorhersehbaren Radikalität und Konsequenz
gewann bzw. erneuerte Husserl die in seinem Verständnis bei Sokrates-Platon
gestiftete »Idee der Philosophie als absoluter Erkenntnis«, als Episteme gegenüber
bloßer Doxa. Diese Episteme als wahre Idee der Rationalität der von Husserl
oft beschworenen griechischen Urstiftung der europäischen Philosophie ver
band sich bei ihm ganz wesentlich mit der Selbsterkenntnis. »Vielleicht, daß
es im strengsten Verstande wahr ist, daß Selbsterkenntnis, aber dann nur radikal
reine oder transzendentale Selbsterkenntnis, die einzige Quelle aller im letzten
und höchsten Sinn echten, befriedigenden wissenschaftlichen Erkenntnis, der
philosophischen, ist, die ein > philosophisches < Leben möglich macht. Dann wäre
also Philosophie selbst nur systematische Selbstentfaltung der transzendentalen
Subjektivität in Form systematischer transzendentaler Selbsttheoretisierung auf
dem Grunde der transzendentalen Selbsterfahrung und ihrer Derivate« (Hu VIII,
S. 1 67; vgl. auch S. 5). Das im Kontext, dem das Zitat entstammt, >>rhetorisch«
Vorgetragene war durchaus Husserls Meinung. >>Aber das Ziel ist fern, der Weg
74 2. Kapitel. Methodische Grundlegung der Phänomenologie
ist mühselig und muß erst gebahnt werden. Ohne Leitgedanken kann man nicht
suchen. Aber die Wege, die sie bereitenden Theorien, müssen Schritt für Schritt
erarbeitet werden<< (Hu VIII, S. 1 69).
Philosophie, so verstanden, bildet in Busserls Augen >>eine Idee<<, sie ist »nur
in einem Stil relativer, zeitweiliger Gültigkeit und in einem unendlichen histo
rischen Prozess zu verwirklichen - aber so auch in der Tat zu verwirklichen<<
(Hu V, S. 1 39, Nachwort zu den Ideen). In diesem Sinne betonte Husserl im
mer wieder, daß die Durchführung eines echten und reinen Transzendentalis
mus nicht die Aufgabe eines Mannes und »Systems<<, sondern die wissenschaft
liche Aufgabe der Generationen sei (vgl. z. B. Hu VI, Beilage XIII, S. 459). »Phi
losophie als strenge Wissenschaft<< meint nicht zum mindesten gerade dieses Zu
sammenarbeiten der Philosophierenden gegenüber der an den Stil und die
Fähigkeiten, die Genialität einer Einzelpersönlichkeit gebundenen »Weltanschau
ungsphilosophie<<.32 In der Rückfrage auf die »>transzendentale Subjektivität <
als die Urstätte aller Sinngebung und Seinsbewährung<<, die durch den Vollzug
der phänomenologischen Reduktion in Gang gesetzt wird, setzt Husserl Phi
losophie als »im radikalen Sinne strenge Wissenschaft<< aus »letzter Selbstverant
wortung<< ins Werk (Hu V, S. 139).33
Als Husserl um 1 905 seine Phänomenologie auf dem Boden der phänomeno
logischen Reduktion in Gang brachte, erkannte er in aller Deutlichkeit sogleich
das Problem, ob und wie denn reine Phänomenologie als Wissenschaft möglich
sei.34 Die Hauptschwierigkeit für eine wissenschaftliche, und das heißt nicht
solipsistische, sondern intersubjektiv verifizierbare, objektivgültige Erforschung
des phänomenologisch reduzierten Bewußtseins35 rührt nämlich daher, daß wir
uns in der reinen Reflexion, d. h. nach Vollzug der phänomenologischen Re
duktion, »in einem nie standhaltenden Fluß nie wiederkehrender Phänomene<<,
in einem »ewigen Heraklitischen Fluß<< befinden.36 Es ist eine »Eigentümlich
keit des Bewußtseins überhaupt, ein nach verschiedenen Dimensionen verlau-
32 Vgl. Logos-Aufsatz von 1 9 1 1 und aus der Zeit der Krisis z. B. Hu VI, Beilage XXVIII mit dem
berühmten, oft mißverstandenen Satz ,,Philosophie als Wissenschaft ... der Traum ist ausgeträumt<<,
S. 508 ff.
33 Zu Busserls Gesamtkonzeption der Philosophie vgl. unten Kapitel 10.
34 Hu XXIV, S. 220 ff. ( 1 906) - Vgl. die »Freiburger Antrittsrede<< ( 1 9 1 7), Hu XXV, S. 78.
35 Vgl. Ms. F I 17, 1909, S. 26a; »Freiburger Antrittsrede<<, Hu XXV, S. 78/79.
36 »Freiburger Antrittsrede«, Hu XXV, S. 78/79; Hu II, S. 47; vgl. noch Krisis, § 52, S. 1 8 1 .
§ 2. Die >>eidetische<< Reduktion 75
fendes Fluktuieren zu sein«, (Ideen I, § 75). Mögen die Phänomene auch >>im
reflektiven Erfahren zweifellos gegeben sein. Bloße Erfahrung ist keine Wis
senschaft«Y >>Eine deskriptiv festlegende und bestimmende Erkenntnis einer
phänomenologischen > Welt <, wie wir eine solche Erkenntnis hinsichtlich der
Natur haben, ist völlig ausgeschlossen«. >>Wissenschaftliche Feststellungen in be
zug auf die Phänomene sind nach der phänomenologischen Reduktion nicht zu
machen, notabene wenn wir diese Phänomene als absolute Einzelheiten und
Einmaligkeiten fixieren und begrifflich bestimmen wollen«.38 Vom >>unfaßbar
strömenden Leben<< kann nämlich »selbst der einzelne Philosoph in der Epo
che . . . bei sich selbst nichts . . . so festhalten, mit stets gleichem Gehalt wieder
holen und seiner Diesheit und seines Soseins so gewiß werden, daß er es in festen
Aussagen beschreiben und (sei es auch nur für seine Person) sozusagen doku
mentieren könnte<< (Krisis, S. 1 8 1).
Angesichts dieser Schwierigkeit führte Husserl immer wieder ins Feld, daß
die Erforschung des Bewußtseins nicht Erfahrungs- sondern Wesenswissenschaft
sein wolle und überhaupt nur als Wesenserforschung zu wissenschaftlichen Er
gebnissen gelangen könne. Was aber ist Wesenswissenschaft nach Husserl? Stets
betonte er, daß Erfahrungswissenschaft nicht die einzige A rt von Wissenschaft
sei,39 daß es den »Wissenschaften aus Erfahrung und Induktion« gegenüber rei
ne, apriorische Wissenschaften gebe. Die Reinheit, nach der die Phänomenolo
gie sich nenne, sei >>nicht bloß diejenige der reinen Reflexion<<, d.i. die durch
die phänomenologische Reduktion ermöglichte, sondern auch die Reinheit im
Sinne des Apriori.40 Husserls Lehre von der Phänomenologie als Wesenswissen
schaft, die Lehre von der >>eidetischen Reduktion<<, wie er bisweilen auch sagt,
ist nun aufs engste mit seiner Auffassung von solcher reinen, apriorischen Er
kenntnis verknüpft. Und diese Auffassung wiederum ist durch die mathemati
sche Denkungsart, wie Husserl sie begriff, geprägt. Indem wir diesen Zusam
menhängen etwas nachgehen, gelangen wir zu einer näheren Bestimmung der
A rt der Wissenschaftlichkeit, die Husserl mit seiner reinen Phänomenologie . an-
strebte.
Folgende Zitate mögen die fraglichen Beziehungen andeuten: In Formale und
transzendentale Logik ( 1 929) schreibt Husserl: Der Begriff des Eidos »definiert
den einzigen der Begriffe des vieldeutigen Ausdrucks > a priori <, den wir philo
sophisch anerkennen. Er ausschließlich ist also gemeint, wo je in meinen Schrif
ten von > a priori < die Rede ist<< (S. 2 19, Anm.). In einem Manuskript wohl aus
der ersten Hälfte der zwanziger Jahre, das den Titel >>Die Methode der Wesens
forschung<< trägt, ist zu lesen: »Praktisch kennt jeder das Apriori von der rei
nen Mathematik her. Er kennt und billigt die mathematische Denkungsart . . .
A n ihr orientieren wir unseren Begriff von Apriori<< (Ms. K V I 4, S . 1 ) . Und
in den Ideen von 1 9 1 3 spricht Husserl die mathematischen Disziplinen, insbe
sondere Geometrie und Arithmetik, als »die alten, hochentwickleten eidetischen
Disziplinen<< an; in Parallele und Kontrast zu ihnen konzipiert er die »neue Ei
detik« vom transzendental reinen Bewußtsein (§ 71).
Das Grundlegende des der Mathematik sozusagen abgeschauten apriorischen
Denkens erkennt Husserl darin, daß hier eine Befreiung vom Faktum bzw. eine
Gestaltung des Faktums in die Form des beliebigen Exempels vollzogen wird
oder, anders ausgedrückt, daß »der Mathematiker sich prinzipiell jedweden Ur
teils über reale Wirklichkeit enthält<<, daß er es, statt mit Wirklichkeiten, mit
idealen Möglichkeiten und auf sie bezüglichen Gesetzen zu tun hat.41 Der rei
ne Geometer - Husserls bevorzugtes Beispiel - thematisiert Raumgestalten,
aber nicht die individuell erfahrenen oder in der Phantasie quasi erfahrenen, -
die auf der Tafel oder in seiner Vorstellung erzeugten Figuren, sondern die »rei
nen<< Raumgestalten. Diese weisen in sich eine A llgemeinheitsstruktur auf, die
durch die »vielgestaltige Geistestätigkeit<< der Ideation oder Ideenschau (Hu IX,
S. 76) bestimmbar ist. Husserl beschreibt diese Methode der Ideen- oder We
senserschauung näher als ein im reinen Phantasiedenken, in dem allein reine,
ideale Möglichkeiten sich konstituieren können, sich vollziehende Yariation,
in der sich das Allgemeine als das durchgehende Identische (Invariante, Unab
trennbare) an den als mögliche Wirklichkeiten gesetzten Gestalten und Gegen
ständlichkeiteil überhaupt aktiv er-schauen läßt.42 Es ist für das geistige Durch
laufen der einzelnen Varianten und das Herausschauen des tv &1rt 1ro'A'Awv
(vgl. Hu IX, S. 78; EU, S. 4 1 4) entscheidend, den Boden reiner Phantasie zu
gewinnen und innezuhalten, da nur auf ihm die reine, von keiner Setzung ent
sprechenden wirklichen Seins abhängige oder an keine vorausgesetzte Wirk
lichkeit gebundene Wesensallgemeinheit erfaßbar wird (EU, S. 426 f.). Die
Einsicht in diese reine Wesensallgemeinheit läßt dann im voraus (a priori) jede
erdenkliche Vereinzelung als solche ihres Wesens, d. h. im Bewußtsein bloßer
Exemplifizierung (als Glied des Umfangs von singulären reinen Möglichkeiten)
erkennen. Es lassen sich aufgrund des Eidos >>Gesetze der Notwendigkeit<< her
ausstellen, >>die bestimmen, was einem Gegenstand notwendig zukommen muß,
wenn er ein Gegenstand dieser Art soll sein können<< (EU, § 90, S. 426). Es
besteht hier die Korrelation von Wesensallgemeinheit und Wesensnotwendig
keit, wie Husserl sie in den Ideen ausdrückt: »Jede eidetische Besonderung und
Vereinzelung eines eidetisch allgemeinen Sachverhaltes heißt, sofern sie das ist,
eine Wesensnotwendigkeit<< (§ 6), oder es besteht hier die >>Notwendigkeit, die
eingesehen wird als das Nicht-anders-sein-können eines allgemein Eingesehe
nen in Anwendung auf einen beliebig vorgelegten Einzelfall als beliebigen<<.43
Die vom Mathematiker geübte Grundeinstellung kann Husserl zufolge >>an
gesichts des allgemeinen Wesensverhältnisses von Wirklichkeit und Möglich
keit, von Erfahrung und reiner Phantasie<< universal erweitert werden: >Non jeder
konkreten Wirklichkeit und jedem an ihr wirklich erfahrenen oder erfahrba
ren Einzelzuge steht der Weg in das Reich idealer oder reiner Möglichkeiten und
damit in das des apriorischen Denkens offen<< (Ms. K VI 4, S. 6; EU § 90,
S. 428). Die Wirklichkeit selbst wird in dieser Einstellung behandelt >>als eine
Möglichkeit unter anderen Möglichkeiten, und zwar als beliebige Phantasie
möglichkeit<< (Hu IX, S. 74). Die >>Grundleistung, von der alles weitere abhängt<<,
bildet eben die >>Gestaltung irgendeiner erfahrenen oder phantasierten Gegen
ständlichkeit zu einer Variante<<, was Husserl im Gebiet der reinen Mathema
tik exemplarisch vollzogen sieht. Den verschiedenen Gebieten der Wirklichkeit
entsprechend gibt es nach Husserl aber auch verschiedenartige eidetische Wis
senschaften (Ms. K VI 4, S. 6 f. , Ms. F IV 1 , S. 62a; Hu V, Ideen, Drittes Buch:
Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften, hrsg. von M.
Biemel, 1952).
Es ist wichtig zu beachten, daß in der Einstellung auf das reine Eidos >>die
faktische Wirklichkeit der in Variation erzielten Einzelfälle als völlig irrelevant<<
behandelt wird (Hu IX, S. 74), und zwar nicht etwa, weil die faktisch erfahrene
Wirklichkeit skeptisch geleugnet oder preisgegeben werden soll (Hu IX, S. 7 1),
sondern dem eigenen Sinn der Wesenseinstellung zufolge. Sie wird erst in Be
tracht gezogen bei der Ü bertragung der Wesensallgemeinheit in der >>Anwen
dung<< (s.u. S. 79 f.). Anders gesagt, es macht >>das Wesen rein eidetischer
Wissenschaft aus, daß sie ausschließlich eidetisch verfährt<< (Ideen I, § 7); >>anschau
ende Erfahrung von Wesen impliziert nicht das mindeste von Setzung irgend
eines individuellen Daseins, reine Wesenswahrheiten enthalten nicht die min-
43 Vgl. Zitat in I. Kern, Husserl und Kant, S. 1 16. - Demgegenüber würde alle nicht in reiner
Phantasie sich haltende, empirische Verallgemeinerung stets nur »Gemeinsamkeiten und Allgemein
heiteil in bezug auf empirische Umfänge<<, »empirische Notwendigkeiten« oder »präsumptive<< lie
fern (vgl. EU §§ 86, 97c; Hu IX, S. 79).
78 2. Kapitel. Methodische Grundlegung der Phänomenologie
deste Behauptung über Tatsachen, also ist auch aus ihnen allein nicht die ge
ringfügigste Tatsachenwahrheit zu erschließen<< (Ideen I, § 4, S. 1 7). Gegenüber
den Tatsachenwissenschaften, etwa dem Tun eines Naturforschers, der beob
achtet und experimentiert und erfahrungsmäßiges Dasein feststellt, dem also
»das Erfahren begründender Akt<< ist, >>der nie durch ein bloßes Einbilden er
setzbar wäre<<, gibt in der Einstellung der Wesenswissenschaften >>die faktische
Erfahrung nur einen exemplarischen A usgangspunkt, und zwar für den Stil frei
er Phantasien, die ich ihr nachgestalte, ohne sie im übrigen als Geltung zu be
nutzen<< (Ideen I, § 7; Bu IX, S. 7 1).
44 Diese an Platons »Parmenides<< erinnernden Sätze scheinen eine tiefe Busserlsehe Ü berzeugung
auszusprechen. Wenn er auch nie an eine Art >>Hypostasierung<< seiner Eide dachte, scheint uns
doch diese Universalisierung des Eidetischen kritischen Ü berdenkens würdig (vgl. I. Kern, Idee und
Methode der Philosophie, § 50).
§ 2. Die ••eidetische<< Reduktion 79
45 Vgl. z. B. Ideen I, § 8; Ideen III, § 7; Ms. K VI 4, S. 6 f. - Siehe auch oben Kapitel 1 , S. 46 ff.
46 Vgl. hierzu auch unten Kapitel 10.
47 Vgl. Ideen I, § 9; Ideen III, S. 43; Krisis, § 9.
80 2 . Kapitel. Methodische Grundlegung der Phänomenologie
17. Jahrhundert angebahnt, als durch die Anwendung der >>als reine Eidetik hoch
ausgebildeten Geometrie<< die »Mathesis der Natur« in Kraft tratY Dadurch
wurde "für eine der großen Regionen der Erfahrung eine Unendlichkeit von
Wahrheiten . . . , die in unbedingter Notwendigkeit für alles Erfahrbare dieser
Region gelten«, festgestellt (Ideen III, S. 43). Die Mathematik spricht apriori- ·
sehe Bedingungen für die Natur aus, >>ohne je von > der< Natur als Faktum zu
handeln« (EU, § 90, S. 427). Die apriori jederzeit mögliche A nwendung der ei
detischen mathematischen Erkenntnis kam zum Durchbruch, als die materiel
le Natur als wesentlich res extensa seiende und die Geometrie als entsprechende,
»auf ein Wesensmoment solcher Dinglichkeit, die Raumform, bezogene onto
logische [eidetische] Disziplin« erkannt wurde (Ideen I, § 9, S. 24). Die Wirk
lichkeit »materielle Natur« wurde so nach Gesetzen ihrer reinen Möglichkeit
beurteilbar, wie es in der mathematischen Naturwissenschaft praktiziert wird.
Solche Anwendung zugehöriger Wesenswissenschaft betrachtet Husserl als
>>universale, auf j ederlei Wirklichkeit zu beziehende und durchaus notwendige
Aufgabe«; denn nur dadurch kann auch >>wissenschaftliche Erkenntnis empiri
scher Wirklichkeit > exakt <, nur dadurch echter Rationalität teilhaftig werden,
daß sie diese Wirklichkeit auf ihre Wesensmöglichkeit zurückbezieht« (Ms.
K VI 4, S. 5; EU, § 90, S. 427 f.). Noch in den Cartesianischen Meditationen ( 1930)
schreibt Husserl, daß >>> an sich < die Wissenschaft der reinen Möglichkeiten der
jenigen von den Wirklichkeiten vorhergeht und sie als Wissenschaft überhaupt
erst möglich macht« (§ 34, S. 1 06; vgl. Ideen I, § 79).48
49 Vgl. Hu VII, S. 364, um 1908; LU, § 64, S. 668 ff. - Zu Husserls Kritik am Kamischen Apriori
vgl. die Diskussionen bei T. Seebohm ( 1962), I. Kern ( 1964), E. Tugendhat (1967), S. 1 63 ff. , E.
Marbach ( 1974), § 34 f.
50 »Freiburger Antrittsrede«, Hu XXV, S. 79/80.
82 2. Kapitel. Methodische Grundlegung der Phänomenologie
5 1 >>Freiburger Antrittsrede<<, Hu XXV, S. 79/80; vgl. Ideen I, Einleitung; vgl. auch Hu XVI, Ding
nehmung als solcher < gehört, gewissermaßen zum ewig gleichen Sinn von mög
licher Wahrnehmung überhaupt« (Hu V, S. 40; vgl. Hu I, § 34) und mutatis mu
tandis zu jedweder möglichen Bewußtseinsart als solcher.
Solcherart auf reine Bewußtseinsmöglichkeiten gerichtet, ist der eidetische Phä
nomenologe bezüglich der Seinssetzung des Allgemeinen, des Eidos, in keiner
Weise von der Seinssetzung des exemplarischen, >>beliebigen« Einzelfalles ab
hängig. Der Einzelfall, z_ B. die und die verfließende Wahrnehmung oder Phan
tasie, bildet bloß den >>Abstraktionsgrund« (Ms. F I 1 7, S. 42b) für die
Bestimmung des allgemeinen Wesens Wahrnehmung überhaupt, Phantasie über
haupt, mögliches Bewußtsein dieser oder jener Art überhaupt, wofür die Seins
weise des Einzelfalles >>gleichgültig« ist. 56
Wenn durch Ideation >>nur das allgemeine Wesen selbst, die Idee sozusagen«,
herausgestellt wird, dann haben wir >>eine Einheit, die in keinem Flusse steht,
die im Fließenden sich nur vereinzelt, aber dadurch nicht selbst in den Fluß
hineingezogen ist- Ideen oder Wesen sind > überzeitliche< Gegenständlichkeiten,
Wesen von phänomenologischen Gegebenheiten sind frei von der Individua
tion durch die phänomenologische Zeitlichkeit, von der Individualisierung in
der Abwandlung des Jetzt und Gewesen, die zum phänomenologisch Indivi
duellen all solchen gehört« (Ms. F I 1 7, S. 45a). So erlaubt die Wesensanalyse
auch für das Gebiet der verfließenden, zeitlich gebundenen reinen Erlebnisse
>>die Aufgaben einer umfassenden wissenschaftlichen Beschreibung sinnvoll zu
stellen« (Ideen I, § 75, S. 140).
Als Wesenswissenschaft vom Bewußtsein bildet die reine Phänomenologie in
Busserls Augen auch die der empirischen Psychologie als eine Tatsachenwissen
schaft vom Bewußtsein entsprechende rationale Disziplin, indem sie das in der
Psychologie studierte Faktum des psychischen Lebens, des individuellen wie
des vergemeinschafteten, aus Wesensgründen des möglichen Bewußtseins über
haupt aufzuklären, d_h. die Rationalität der notwendigen, apriorischen Bewußt
seinsgesetzlichkeiteil auf die faktischen Vorkommnisse zur Anwendung zu
bringen ermöglicht (s.o. S. 79 f.).
Abschließend ist sehr zu betonen, daß Husserl trotz aller Vorbildlichkeit der
reinen Mathematik für die Wesenseinstellung stets die Eidetik des phänomeno
logisch reduzierten Bewußtseins in ihrem theoretischen Typus als deskriptive
Eidetik von dem in der Mathematik dank >>ldealbegriffen« möglichen Typus
der Exaktheit abgehoben hatY Die Möglichkeit der >>Exaktheit der Begriffs
bildung« liegt nicht in unserer freien Willkür oder logischen Kunst, sondern
5 6 Ms. F I 4, S. lOb. - Zum Sonderfall »Eidos transzendentales ego - Faktum ego« vgl. unten
Kapitel 10.
57 Ideen I, §§ 7 1 - 75; Hu V, Ideen III, S. 44 und besonders § 1 1 .
84 2. Kapitel. Methodische Grundlegung der Phänomenologie
setzt »Exaktheit in den erfaßten Wesen selbst<< voraus (Ideen I, § 73), im »regio
nalen Apriori<<, wie Husserl auch sagt. Wenn die Idee > Raum < zu diesem Apriori
gehört, dann ist eine mathematische Eidetik angemessen (vgl. Hu V, S. 44), denn
in Husserls Sicht wird Raum als »definite Mannigfaltigkeit<< verstanden, d. h.
als »mathematisch erschöpfend definierbar<< aufgefaßt (vgl. Ideen I, § 72). Dem
gegenüber besitzt der Bewußtseinsfluß seinem eigenen Wesen nach keine räum
liche Struktur, noch irgendein dem Raum analoges Ordnungssystem der
Koexistenz, und bildet daher auch kein Feld der Mathematik (Ideen III, S. 44).
Aber auch eine Mathematisierung im Sinne einer rein formalen axiomatisch
deduktiven Theorie, die selbst nicht notwendig an die Idee > Raum < gebunden
sein müßte, würde in Anwendung auf die mannigfaltigen Intentionalitäteil des
Bewußtseins und auf die intentionalen Implikationen von Bewußtsein im Be
wußtsein (vgl. unten Kapitel 5) keine eigentliche Einsicht in das ergeben, was
Bewußtsein an ihm selbst, d. h. in seiner Eigenwesentlichkeit, als intentionales
auszeichnet. »Die transzendentale Phänomenologie als deskriptive Wesenswis
senschaft gehört . . . einer total anderen Grundklasse eidetischer Wissenschaften
an als die mathematischen Wissenschaften<< (Ideen I, § 75), denen ein konstruk
tiver Charakter eignet, der auch rein deduktive Ableitungen von Folgesätzen
ermöglicht. 5 8
Im Rückblick auf die beiden methodologischen Abschnitte sei abschließend
an Husserls Aussage in den Cartesianischen Meditationen ( 1 929) erinnert: »So
erheben wir uns zur methodischen Einsicht, daß neben der phänomenologi
schen Reduktion die eidetische Intuition die Grundform aller besonderen tran
szendentalen Methoden ist, daß beide den rechtmäßigen Sinn einer transzen
dentalen Phänomenologie durchaus bestimmen<< (Hu I, S. 1 06).59
58 Cf. z. B. Ms. K VI 4, S. 4; Ideen I, § 72; Ideen lll, S. 44, Hu V, Beilage IV, S. 132.
59 Ausgewählte Literatur
zum 2. Kapitel. § 1: I. Kern ( 1 964): S. 194 ff. ; R. Boehm (1968): S. 1 19 ff., 1 8 6 ff.; E. Marbach (1974):
S. 23 ff. ;
zum 2. Kapitel, § 2: I. Kern ( 1964): S. 55 ff., 1 12 . ; E. Tugendhat ( 1 967): S. 137 ff. , 201 ff. ; I. Kern
( 1975): s. 273 ff.
3 . Kapitel
A llgemeine Strukturen des Bewußtseins im phänomenologischen Sinn
Wir haben gesehen, daß die in phänomenologisch reiner Reflexion nach ihrer
Wesensstruktur erforschte Bewußtseinstätigkeit den eigentlichen Gegenstand
der phänomenologischen Wissenschaft bildet. Der Fortgang unserer Überle
gungen wird zeigen, wie sich diese allgemeine Gattung der Bewußtseinstätig
keit einerseits in verschiedene Arten von Bewußtseinsakten differenziert (Wahr
nehmung, Phantasie, Erinnerung, Fremdwahrnehmung) und wie andererseits
verschiedene Vollzugsmodi dieser bewußtseinsmäßigen Erlebnisse (Aktualität
und Potentialität, Spontaneität und Rezeptivität) zu unterscheiden sind. All diese
verschiedenen Arten von Bewußtsein und die ihnen entsprechenden konstitu
tiven Leistungen kommen jedoch darin überein, daß sie einerseits intentionale
Vermeinungen sind und andererseits im Strom immanenter Zeitlichkeit vollzo
gen werden.
(vgl. dazu Hedwig) und zeitgenössische Entwicklung. Zwar ist bekannt, daß
Brentano und dessen scholastische Vorbildung auf die Entwicklung von Bus
serls Begriff der Intentionalität einen wichtigen Einfluß ausgeübt haben. Und
der Leser der V Logischen Untersuchung weiß auch, daß Husserl seinen Begriff
des intentionalen bzw. >>objektivierenden Aktes« in Auseinandersetzung mit
Brentanos Begriff der >>psychischen Phänomene« entwickelt hat. Aber man kann
sich zur Bestimmung von Brentanos Position keinesfalls allein auf deren Dar
stellung bei Husserl verlassen. Eine ernsthafte Darstellung des Verhältnisses von
Brentanos und Husserls Lehre der Intentionalität müßte sich vielmehr zur Streit
frage äußern, inwieweit Husserl in seiner Kritik Brentanos Standpunkt insbe
sondere im Falle der >>mentalen InexistenZ<< des intentionalen Gegenstandes
korrekt wiedergegeben hat und auch inwiefern diese Kritik Brentano dann zu
einer Verdeutlichung oder Veränderung seiner Lehre bewogen hat. In der Folge
wäre es auch eine zentrale Aufgabe, auf den unterschiedlichen philosophischen
Hintergrund von Husserls und Brentanos Beschäftigung mit der Intentionali
tät hinzuweisen. Brentanos Interesse ist deutlich ein wissenschaftstheoretisches
und klassifikatorisches und es artikuliert sich im Rahmen einer realistischen
Metaphysik. Husserl dagegen geht es um eine metaphysisch neutrale, funktio
nale Bestimmung jeder Bewußtseinstätigkeit, ob sie nun ein Erkenntnisakt oder
eine bloße Vermeinung sei, ob sie sich auf bewußtseinsmäßiges oder auf räum
lichtranszendentes Sein richte, ob sie das Sein des intentionalen Gegenstandes
setze oder diese Setzung neutralisiere usw. Und schließlich müßte zu dieser
grundsätzlichen Debatte zumindest noch ein dritter Gesprächspartner, näm
lich Meinong zugelassen werden. Auch hier müssen wir uns mit dem bloßen
Hinweis darauf begnügen, daß die Beziehung von Brentanos, Meinongs und
Husserls Beschäftigung mit der Intentionalität >>auch heute noch . . . der Titel
eines zentralen Problems<< ist und daß die Vertrautheit mit Husserls Begriff der
Intentionalität nicht etwa das Studium der Schriften seiner vermeintlichen Vor
gänger entbehrlich macht (vgl. dazu Mohanty, 1 972).
Die wichtigste Bedingung einer möglichen, voraussetzungslosen phänome
nologischen Wissenschaft vom Bewußtsein ist deren Beschränkung auf eviden
te Gegebenheiten. Als evidente Selbstgegebenheiten gelten dem frühen Husserl
nur adäquate Gegebenheiten. Diesen Bereich adäquater Gegebenheiten bestimmt
Husserl in den Logischen Untersuchungen als Feld der in phänomenologisch rei
ner Reflexion gegebenen reellen Bewußtseinsinhalte. Reelle Bewußtseinsinhal
te sind (im Gegensatz zu realen und idealen Gegenständen) im zeitlichen Strom
des phänomenologischen Bewußtseins selbst liegende, stetig neu auftretende und
verfließende Bewußtseinsmomente (vgl. unten S. 98 ff.), welche die phänome
nologische Wissenschaft allerdings in eidetischer Einstellung, d. h. in ihren We
sensstrukturen beschreibt (vgl. oben S. 75 ff.). Reelle Bewußtseinsinhalte haben
§ 1 . Die Intentionalität 87
nicht notwendigerweise die Form von intentionalen Akten, aber auch die nicht
intentionalen reellen Empfindungsdaten stehen in möglichem Zusammenhang
mit intentionalen Akten bzw. apperzeptiven Auffassungen (vgl. unten S. l l O ff.).
In den Ideen I wird das Gebiet der phänomenologisch evidenten Gegebenheiten
über die Sphäre reeller Immanenz hinaus erweitert. Der phänomenologisch rei
nen Reflexion sind nicht nur die intentionalen Akte, sondern auch deren in
tentionale Korrelate adäquat selbstgegeben, d. h. die Gegenstände, so wie sie
in diesen Akten vermeint sind. Nennen wir alle reinen Gegebenheiten der phä
nomenologischen Reflexion >>immanent<<, so haben wir folglich zwischen >>reell
immanenten<< Inhalten wie den intentionalen Akten und >>intentional-immanen
ten<< Inhalten wie den intentionalen Korrelaten zu scheiden. (Beschränken wir
hingegen, wie Husserl das zuweilen auch tut, die Anwendung des Begriffs der
Immanenz auf reell immanente Gegebenheiten, so müssen wir die intentiona
len Korrelate >>transzendent<< nennen und sie aber zugleich von der Transzen
denz der natürlichen Realität unterscheiden.) In der Terminologie der Ideen I
(vgl. § 8 8) gesprochen, haben wir zwischen noetischen und noematischen phä
nomenologischen Gegebenheiten zu differenzieren. Natürlich hat die Einbe
ziehung noematischer Gegebenheiten in das Feld der Phänomenologie auch
ihre Folgen für die Lehre von der Intentionalität, Husserl spricht zuweilen so
gar von >>noematischer Intentionalität<< (§§ 1 0 1 , 1 04). Es ist dennoch sinnvoll,
zuerst die ausdrücklich noetische Formulierung der intentionalen Bewußtseins
funktion vorzustellen, denn sie behält auch nach der Einführung des Noema
noch ihre volle Gültigkeit. Diese bleibende Gültigkeit verdankt sie dem Um
stand, daß Noesis und Noema nicht nur parallel zu erforschende Gegebenheits
strukturen sind, sondern daß Gegebenheitsweise und Wesensbestimmung des
noematischen Korrelates in den Ideen I deutlich von der Bestimmung der Noe
sis bzw. des intentionalen Erlebnisses hergeleitet werden (vgl. § 98).
Intentionale Akte zeichnen sich nicht nur dadurch aus, daß sie sich auf Gegen
stände beziehen bzw. auf sie >>abzielen<< ( V. LU, §§ 10, 1 3), sondern auch da
durch, daß diese intentionale Richtung gesetzlich zu erfassende Differenzierun
gen erfährt (§ 14 ). Schon Brentano unterschied zwischen verschiedenen Arten
intentionaler Bezüge bzw. verschiedenen >>psychischen Phänomenen<<. Von Bren
tano (und auch von Natorp) unterscheidet sich Husserl jedoch dadurch, daß
er diese Differenzierung nicht etwa von den verschiedenen Arten intentionaler
Gegenstände herleitet, sondern sie ausschließlich in der Wesensstruktur des
intentionalen Aktes begründet. Überhaupt leitet sich alles, was in einer noeti-
88 3 . Kapitel. Allgemeine Strukturen des Bewußtseins
usw. verweisen können, d. h. auf all diejenigen Akte, die er in der VI. Logischen
Untersuchung als kategoriale Akte bezeichnet (vgl. unten S. 1 69 ff.). Ohne unse
ren späteren Ausführungen vorgreifen zu wollen, müssen wir doch betonen,
daß diese kategorialen Akte fundierte Akte sind, und zwar letztlich fundiert in
einstrahligen Akten. Die >>gegliederte<< Materie eines »synthetischen, mehrstrah
lig-einheitlichen Aktes« (§ 42) setzt Akte einstrahliger Vermeinung bzw. >>ein
gliedrige Materien<< voraus, in denen die Glieder der synthetischen Vermeinung
schlicht vermeint werden. So ist nach Husserls Auffassung z. B. der prädikative
Satz >>Der Bleistift ist rot<< in der schlichten Vorstellung des Bleistiftes fundiert.
Unser Leittext aus der VI. Logischen Untersuchung bezeichnete die Materie
aber auch noch als ein >>Moment<< des objektivierenden Aktes. Und >>Moment«
bedeutet nach der in der /!I. Logischen Untersuchung eingeführten Terminolo
gie »unselbständiger Teik Wir müssen uns also fragen, mit welch anderen un
selbständigen Momenten zusammen die Materie welches selbständige Ganze
bildet. Die Antwort lautet: >>Im deskriptiven Inhalt jedes Aktes haben wir Qua·
lität und Materie als zwei einander wechselseitig fordernde Momente«, und >>die
Einheit« der beiden >>durchaus wesentlichen und daher nie zu entbehrenden
Bestandstücke eines AkteS<< bezeichnen wir >>als das intentionale Wesen des Ak
tes«. ( V. LU, § 2 1 ) Qualität und Materie sind dabei ebenso wie ihre Einheit,
das intentionale Wesen, reelle Momente des intentionalen Aktes, welche zwar
>>den konkreten vollständigen Akt nicht ausmachen«, aber doch die wesentli
chen Bedingungen für dessen intentionale Funktion sind. Husserls Interesse geht
in der Beschreibung des Aktes nicht auf dessen psychologische Konkretion, son
dern bloß auf diejenigen Strukturmomente jedes intentionalen Aktes, welche
Träger der allgemeinen intentionalen Funktion der subjektiven Beziehung auf
einen Gegenstand sind.
Die Qualität bezeichnet den Modus, in dem ein gewisser, so und so bestimm
ter intentionaler Gegenstand vermeint wird (§§ 20, 26, 30). Verschiedene inten
tionale Akte mit derselben Materie unterscheiden sich dadurch, >>daß derselbe
Inhalt . . . Inhalt einer Frage, eines Zweifels, eines Wunsches und dergleichen sein
kann.« (§ 20) Die Qualität bezieht sich also auf eine Mannigfaltigkeit verschie
dener subjektiver Einstellungen im Vollzug des intentionalen bzw. objektivie
renden Aktes. Die strukturelle Einheit, welche diese verschiedenen Vollzugsmodi
des Fragens, Zweifelns usw. miteinander verbindet, kommt in den Logischen
Untersuchungen jedoch noch nicht zu deutlicher Abhebung. Erst die Ideen I
(§§ 103 ff.) geben eine deutliche Antwort auf diese Frage und bestimmen Zwei
feln, Wünschen, Fragen usw. als Modalisierungen der Weise, einen intentiona
len Gegenstand setzend zu vermeinen. Die Urform der Setzung ist dabei die
Seins-Setzung bzw. der Seins-Glaube (>>Urdoxa«). Fragen, Zweifeln usw. sind
Modalisierungen dieses doxischen Glaubens, in denen der bestimmte intentionale
90 3. Kapitel. Allgemeine Strukturen des Bewußtseins
natürlich sowohl ein Akt mit eingliedriger Materie sein (Freude a n einem ein
strahlig vorgestellten Gegenstand) als auch ein Akt mit gegliederter Materie (Freu
de an einem synthetisch vorgestellten und kategorial geformten Gegenstand,
z. B. der lustig klappernden Mühle am Bach . . . ).
Husserl nannte Qualität und Materie >>einander wechselseitig fordernde Mo
mente<< des intentionalen Aktes. Es ist leicht einzusehen, inwiefern die Quali
tät der Ergänzung durch die Materie bedarf: >>Die Qualität bestimmt nur, ob
das in bestimmter Weise bereits > Vorstellig Gemachte < als Erwünschtes, Erfrag
tes . . . u. dgl. intentional gegenwärtig sei.« (§ 2 1 ) Die korrelative notwendige
Ergänzung der Materie durch die Qualität etabliert Husserl in Form einer lang
wierigen Auseinandersetzung mit Brentanos Begriff der bloßen Vorstellungen
( V LU, Kap. 3 und z. T. auch Kap. 4 und 5). Brentano hatte nämlich die (un
selbständigen) Funktionen der einen Gegenstand vorstellig machenden Materie
einerseits und der Qualität, d. h. der doxischen Stellungnahme andererseits zwei
verschiedenen, selbständigen Bewußtseinsformen zugeschrieben, nämlich den
bloßen Vorstellungen und den Akten doxischen Setzens. Der Nerv von Bus
serls Kritik besteht im Nachweis, daß all diejenigen Phänomene, die Brentano
zur Stützung seines Begriffs der bloßen, setzungslosen Vorstellung anführt (z. B.
Verstehen eines Urteils ohne Zustimmung), phänomenal plausibler und lo
gisch konsequenter als Modifikationen der Klasse der doxisch setzenden ob
jektivierenden Akte zu fassen sind. Es gibt also keinen doxisch unqualifizierten
Bezug auf einen intentionalen Gegenstand, kein isoliertes Auftreten der Mate
rie: »Eine Materie, die weder Materie eines Vorstellens, noch die eines Urteilens
u. dgl. wäre, wird man für undenkbar erachten.« (§ 20) Vermöge der notwendi
gen, wechselseitigen Ergänzung von Materie und Qualität und angesichts der
beide kennzeichnenden Modifikationsreihen gibt es also: 1) objektivierende Akte
mit eingliedriger Materie (nominale Vorstellungen) oder 2) mit gegliederter Ma
terie ( mehrstrahlig-synthetische Akte wie z. B. das prädikative Urteilen); gehen
wir über zu den intentionalen Erlebnissen, deren Qualität eine fundierte ist,
so erhalten wir: 3) Gemüts- und Willensakte mit eingliedriger Materie und 4)
mit gegliederter Materie. Jeder intentionale Akt ist in eine dieser vier Klassen
einzureihen, doch die Berücksichtigung der intuitiven Fülle der Akte erlaubt
weitere Differenzierungen innerhalb jeder dieser Klassen (Akte des Wahrneh
mens und Phantasierens gehören z. B. beide in die Klasse 1).
Die Ideen I übernehmen den Gehalt der in den Logischen Untersuchungen erar
beiteten Wesensbestimmung des intentionalen Aktes ohne wesentliche Abstri-
92 3. Kapitel. Allgemeine Strukturen des Bewußtseins
ehe. Als wesentlich neuer Beitrag zur noetischen Intentionalanalyse ist neben
der neuen Lehre vom doxischen Charakter der Gemüts- und Willensakte (vgl.
unten S. 1 3 7) und der genaueren Analyse des Phänomens der intentionalen Im
plikation (vgl. unten S. 135) vor allem auch die Übertragung der Funktion inten
tionaler Vermeinung auf inaktuelles bzw. potentielles Bewußtsein zu erwäh
nen (vgl. Ideen I, §§ 35, 1 1 3). Nicht jedes intentionale Erlebnis ist Erlebnis ei
nes >» wachen < Ich<<, eines >>> cogito <<< im >>prägnanten Sinn<<, das sich >>aktuell<<
auf einen >>explizit<< vermeinten intentionalen Gegenstand richtet. Ebenso wie
ein Ding sich in eine gegenständliche Umgebung einordnet, so ist auch jedes
aktuelle Erlebnis >>Von einem > Hof< von inaktuellen [Erlebnissen] umgeben<<.
Jedes dieser inaktuellen Erlebnisse ist >>auch . . . ein >Bewußtseinserlebnis <, oder
kürzer, > Bewußtsein < . . . > VOll<<<. Und jedes >>implizite<< intentionale Bewußtsein
läßt sich explizieren, jedes >>potentielle<< Erlebnis ist potentiell aktuell, motivierte
Möglichkeit eines im Modus des cogito vollzogenen intentionalen Aktes (§ 35).
Wir werden noch sehen, welch entscheidende Rolle diese potentiellen Erleb
nisse in der Struktur des Zeitbewußtseins und auch der Dingwahrnehmung
spielen.
Der wichtigste Beitrag, den die Ideen I zur Weiterentwicklung der phänome
nologischen Intentionalanalytik liefern, betrifft jedoch zweifellos die Bestim
mung des intentionalen Korrelates, der noematischen Gegebenheits- und
Funktionsformen. Die diesbezüglichen Ausführungen der Ideen I stützen sich
auf die umfangreichen Forschungen der Jahre 1 906 bis 19 12, die im Nachlaß
in Form sowohl von Vorlesungs- als auch von Forschungsmanuskripten erhal
ten sind. Wie es bei einem >>in 6 Wochen, ohne Entwürfe als Unterlage, wie
in trance hingeschriebenen<< Text (vgl. Hu III/ 1 , S. XXXIX), der zudem als >>all
gemeine Einführung in die reine Phänomenologie<< gedacht war, zu erwarten
ist, bleiben die Ausführungen der Ideen I oftmals erheblich hinter dem in den
Nachlaßmanuskripten bereits erreichten Stand der Problementwicklung zurück.
Die meisten der zahllosen Kontroversen, welche die Interpretation der Ideen I
und insbesondere den Begriff des Noema zum Gegenstand hatten, lassen sich
nur durch das Studium dieser überaus sorgfältig ausgearbeiteten Nachlaßtexte
sachgerecht entscheiden. Wenn wir uns im folgenden dennoch vor allem am
Wortlaut der Ideen I orientieren, so hat das seinen Grund nicht bloß im be
schränkten Rahmen der vorliegenden Darstellung, sondern auch im Umstand,
daß die meisten dieser einschlägigen Nachlaßtexte noch unveröffentlicht sind.
Seine erstmalige Berücksichtigung im Rahmen phänomenologischer Gege
benheiten verdankt das Noema der Überlegung, daß einerseits die Gegeben
heit der intentionalen Vermeinung eines Gegenstandes und andererseits die
Gegebenheit des Gegenstandes gerade so, wie er in dieser Vermeinung >>liegt<<,
§ 1 . Die Intentionalität 93
nicht bloß korrelativ, sondern auch gleichermaßen evident sind: Der Phäno
menologe >>blickt sowohl hin auf die Phänomene als auch auf die in den Phä
nomenen erscheinenden oder denkmäßig gemeinten Gegenständlichkeiten . . . .
Evidentermaßen können wir . . . beschreiben, einen wie bestimmten Gegenstand
sie [sc.: die Wahrnehmung oder Phantasie] in ihrer Weise vorstellig machen,
wir können beschreiben, . . . was zum Wesen des Bewußtseins gehört, des Be
wußtseins, sofern es Bewußtsein einer gewissen Objektivität ist, . . . und zur kor
relativen Gegenständlichkeit, soweit und so wie sie in diesem sogearteten Bewußtsein
bewußt ist . . . << (Hu XXIV, S. 230 ff. (Dez. 1906)). Das wichtigste Motiv dieser
Berücksichtigung der intentionalen Korrelate im Rahmen der Phänomenolo
gie ist deutlich ein erkenntnistheoretisches Interesse: es geht darum, im Rah
men rein phänomenologischer Gegebenheiten das Studium der erkenntnis
mäßigen Relation zu ermöglichen: >>Also das zeigt sich überall, diese wunder
bare Korrelation zwischen Erkenntnisphänomen und Erkenntnisobjekt . . . Und
die Aufgabe ist nun doch die, innerhalb des Rahmens reiner Evidenz oder Selbst
gegebenheiten . . . allen Korrelationen nachzugehen . . . Die Phänomenologie der
Erkenntnis ist Wissenschaft von Erkenntnisphänomenen in dem doppelten Sinn,
von den Erkenntnissen als . . . Bewußtseinsakten, in denen sich diese und jene
Gegenständlichkeiteil darstellen . . . , und andererseits von diesen Gegenständlich
keiteil selbst als sich so darstellenden.« (Hu II, 12 ff. ( 1907)) Das intentionale
Korrelat bzw. Noema wird also eingeführt als Struktur gegenständlicher Ver
meintheit bzw. als "Erkenntnisgegenstand, >>SO weit und so wie« er innerhalb
der phänomenologischen Reduktion in Anspruch genommen werden darf: »Voll
ziehen wir nun die phänomenologische Reduktion, so erhält jede transzenden
te Setzung, also vor allem die in der Wahrnehmung selbst liegende, ihre aus
schaltende Klammer . . . Und so fragen wir denn überhaupt, diese Ausschaltun
gen in ihrem klaren Sinn innehaltend, was in dem ganzen > reduzierten < Phäno
men evidenterweise > liegt < . Nun, dann liegt eben in der Wahrnehmung auch
dies, daß sie . . . ihr > Wahrgenommenes als solches < hat, > diesen blühenden Baum
dort im Raume < - mit den Anführungszeichen verstanden - eben das zum
Wesen der phänomenologisch reduzierten Wahrnehmung gehörige Korrelat.«
(Ideen I, § 90) Und dieses >>> Wahrgenommene als solches «< ist nichts anderes
als das >>Wahrnehmungs-Noema« (§ 88).
Dieses noemarische Korrelat ist - ebenso wie die Noesis - phänomenolo
gisch adäquat gegeben (§§ 88, 90, 98, 144, 149). Vom natürlichen realen Gegen
stand scheidet sich dieses Noema aber nicht bloß durch die absolute Evidenz
seiner Gegebenheit, sondern auch durch deren reflexiven Charakter: >>Die pri
märe Einstellung ist die auf das Gegenständliche, die noematische Reflexion führt
auf die noematischen, die noetische auf die noetischen Bestände.<< (§ 148) Wo
durch gerrau sich diese >>eigenartige« noemarische Reflexion (§ 89) von der noe-
94 3. Kapitel. Allgemeine Strukturen des Bewußtseins
des Glaubens entspricht die Kennzeichnung des noemarischen Kerns als wirk
lich seiend (§ 1 04). Als Korrelat eines intentionalen Frageaktes ist dann der ver
meinte Gegenstand eben als fraglich seiend bewußt. Diese parallele Struktu
rierung betrifft aber nicht bloß die Aktmaterie und den noemarischen Kern
sowie die Aktqualität und die noemarischen Seinscharaktere, sondern auch ih
re jeweiligen Fundierungsstufen. Der Stufenbildung auf seiten der Akte ent
spricht eine noemarische Stufenbildung, und Husserl spricht hinsichtlich der
Weise, in der verschiedenstufige Noemata aufeinander verweisen, von >>noema
tischer Intentionalität<< (§ 1 0 1). Schließlich entsprechen sich Aktmaterie und
noemarischer Kern auch nicht bloß hinsichtlich ihrer Fundierungsstufen, son
dern ebenfalls hinsichtlich ihrer allgemeinen intentionalen Funktion. Wie die
Aktmaterie einen gewissen Gegenstand bezeichnet und ihn durch Merkmale
bestimmt, so ist auch der intentionale Gegenstand qua vermeinter ein gewisser
Gegenstand mit verschiedenen Merkmalen. Und ebenso, wie verschiedene Ak
te sich auf denselben Gegenstand, jedoch noch in verschiedener Bestimmung
beziehen können, so können auch verschiedene Noemata bzw. genauer ver
schiedene noemarische Kerne ( = >>Was<<) trotz ihrer Verschiedenheit noch ei
nen gemeinsamen Gegenstand (= »X<<) haben: »Mehrere Aktnoemata haben
hier überall verschiedene Kerne, jedoch so, daß sie sich trotzdem zur Identitäts
einheit zusammenschließen, zu einer Einheit, in der das > Etwas <, das Bestimm
bare, das in jedem Kern liegt, als identisches bewußt ist. << (§ 1 3 1) Nennt man
die inhaltlichen Bestimmungen des bestimmbaren Etwas (in einem über die Ur
teilssphäre hinaus erweiterten Sinn) »Prädikate<< (§ 130), so ist dieses identische
Etwas ein »Zentrales noemarisches Moment . . . : der > Gegenstand<, das > Objekt <,
das > Identische <, das > bestimmbare Subjekt seiner möglichen Prädikate < - das
pure X in Abstraktion von allen Prädikaten - . . . << (§ 1 3 1) Nennt man den noe
marischen Kern »Sinn<< (§§ 99, 129, 132) und das als »Sinnessubjekt<< qualifi
zierte X (§ 145) »Gegenstand<<, so liefert die Beschreibung des Zusammenhangs
von noemarischem Kern und X also auch eine Antwort auf »das phänomeno
logische Problem der Beziehung des Bewußtseins auf seine Gegenständlichkeit<<
',§ 128). Genauer besehen hat diese Antwort aber noch eine doppelte Bedeu
tung: Einerseits gilt überhaupt: »Jedes Noema hat einen > Inhalt <, nämlich sei
nen > Sinn < und bezieht sich durch ihn auf > Seinen < Gegenstand.<< (§ 129; vgl.
auch §§ 128, 1 35) Andererseits verstehen wir aber nicht nur, daß sich »jedes<<
Noema auf einen Gegenstand bezieht, sondern auch, wie es sich auf diesen Ge
genstand zu beziehen hat, damit die Wirklichkeit des »Gegenstandes<< eine
•.Tkenntnistheoretisch ausgewiesene ist: Die Erforschung des »wirklichen Ge
�:·.:nstandes<< ist »Titel für gewisse eidetisch betrachtete Vernunftzusammenhänge,
1 : : denen das in ihnen sinngemäß einheitliche X seine vernunftmäßige Setzung
matische Kern (§§ 99, 129, 1 32); 3) >>das identische noematische Was«, d. h. die
noemarische Urteilsbedeutung (§ 94). Diese Aequivokation des noematischen
Sinnbegriffs ist auch der wesentliche Grund dafür, daß der eine Interpret der
Ideen I das Noema als eine ideal-identische Vermeintheit bezeichnet und der
andere als eine jeweilige erscheinungsmäßige Gegebenheit, daß dem einen In
terpreten die Rede von der gegenständlichen Beziehung des Noema »durch«
bzw. »mittels« des Sinnes als eine metaphorische oder schlechthin unangemes
sene gilt und noch einem anderen dagegen als eine wertvolle Ergänzung einer
Fregeanschen Semantik. Trotz der Unsicherheit darüber, was nun die eigentli
che Bedeutung von Husserls Begriff des Noema ausmache, ist dieser Begriff
in der Gegenwartsphilosophie zu einem bevorzugten Anknüpfungspunkt der
Auseinandersetzung mit der Husserlschen Phänomenologie geworden.
§ 2. Das Zeitbewußtsein
1 Siehe Ideen I, S. 162 (Ausg. 1913), Ideen I!, S. 102/03 , ITL, S. 292 (Ausg. 1929: S. 252).
§ 2. Das Zeitbewußtsein 97
3 S. Hu X, S. 335 ff. Noch in den Ideen I gebraucht Husserl den Ausdruck »primäre Erinnerung«
(S. 145 ( 1 9 1 3)).
4 Dieses Bewußtsein der soeben verklungenen Töne oder Tonphasen ist nicht zu verwechseln
mit dem Phänomen des »Nachhalls<<; das Nachhallen eines Tones ist urimpressional bewußt
(Hu X, S. 3 1).
§ 2. Das Zeitbewußtsein 99
Husserl erst eine momentane Phase der Wahrnehmung eines Zeitobjektes be
schrieben. Diese Wahrnehmung hat in jeder Phase urimpressional-retentional
protentional ihr originäres Zeitfeld, aber diese Phase geht stetig über in eine
neue Phase, diese Wahrnehmung ist in einem stetigen Wandel (S. 1 1 4), in einem
stetigen Fluß (S. 360): kontinuierlich tritt ein neues Jetzt auf und schiebt die
früheren Jetzt in die Vergangenheit zurück (S. 43, 63), bzw. kontinuierlich wan
delt sich Urimpression in Retention, diese in modifizierte Retention usw.5• Die
Urimpression ist stetig neu, ein »lebendiger Quellpunkt des Seins<< (S. 67, 69,
100). Dieses immer neue Jetzt ist das Wesentliche, sozusagen der >>Motor<< der
Zeitkonstitution. >>Denn an sich wäre es doch denkbar, daß die Klarheit der
unmittelbaren Erinnerung [ Retention] nicht herabsänke, während ohne An
=
fügung des neuen Jetzt Zeitbewußtsein ganz undenkbar wäre.<< (S. 425) Diesen
ganzen vom stetig neuen Jetzt ausgehenden Wandel faßt Husserl als eine Kon
tinuität iterierter Modifikation: Urimpression modifiziert sich zu Retention von
Urimpression, Retention zu Retention von Retention, diese Retention zwei
ter Stufe zu Retention dritter Stufe usw. ; die Retentionen höherer Stufe sind
ein >>kontinuierliches Ineinander von Retentionen von Retentionen<< (Ideen I,
S. 1 64 ( 1 9 1 3)). In dieser Weise der Modifikation und der Modifikation von Mo
difikation trägt die Retention >>sozusagen in Form einer Abschattungsreihe das
Erbe der ganzen vorangegangenen Entwicklung in sich<< (S. 327). Husserl ent
fernt sich in dieser Sicht der Zeitkonstitution von dem ursprünglich von ihm
auch in diesem Bereich versuchten sog. lnha!t-Auffassungsschema, dem gemäß
besondere Aktcharaktere >>unzeitlichen Auffassungsinhalten<< einen Bezug zu
einer bestimmten Zeitstelle geben würden. (Vgl. S. 36, 40, 62) Er stellt fest, daß
die zeitliche Abstufung schon alle Inhalte betrifft (S. 47 ff.) und daß >>nicht jede
Konstitution das Schema Auffassungsinhalt-Auffassung hat<<. (S. 7, Anm.) Wei
ter beschreibt Husserl in diesem Wandel des originären Zeitfeldes auch die
Erfüllung bzw. Enttäuschung der Proremionen durch die Urimpressionen.
(Vgl. S. 52 ff.)
Das originäre Zeitfeld in seinem Wandel ist eine >>originäre Selbstgegebenheit<<
(S. 38) und in diesem Sinne wahrgenommen und nicht, wie Brentano lehrte,
Gegenstand reproduktiver und produktiver Phantasie. Die Reproduktion oder
Phantasie, z. B. die Wiedererinnerung (>>sekundäre Erinnerung<< gegenüber der
»primären Erinnerung<<, der Retention), ist gewissermaßen eine Wiederholung
dieses ganzen >>Zeithofes<<, sie ist eine Reproduktion dieses ganzen Wahrneh
mungsflusses (S. 36, 52): >>das ganze Erinnerungsphänomen hat mutatis mutan
dis genau dieselbe Konstitution wie die Wahrnehmung<<, z. B. im Wiedererinnern
der Melodie >>hören wir > gleichsam < zuerst den ersten, dann den zweiten Ton
usw.<<; ein Ton erklingt gleichsam wieder und versinkt ins Soeben; die Repro
duktion ist also eine Wiederholung von Urimpression, Retention und Proten
tion. (S. 35, 46, 5 1) Aber diese reproduzierte Melodie ist nicht Gegenwart,
sondern >>vergegenwärtigte Gegenwart<< (S. 36), sie ist nicht »leibhaft<< selbstge
geben, nicht wahrgenommen, sondern >>nur vorgestellt<< (S. 4 1 f.). Diese verge
genwärtigte Zeit >>weist notwendig zurück auf ursprünglich gegebene, nicht
phantasierte, sondern präsentierte<< (S. 45), also reproduzierte Zeit weist zurück
auf wahrgenommene, so daß als Ursprung der Zeitvorstellung eine Zeitwahr·
nehmung anzunehmen ist.
Husserl weist in diesem Zusammenhang im Gegensatz zu Brentano auf ei
nen radikalen Unterschied zwischen Retention (>>primäre Erinnerung<<) und Wie
dererinnerung (>>sekundäre Erinnerung<<): >>Die Modifikation des Bewußtseins,
die ein originäres Jetzt in ein reproduziertes verwandelt, ist etwas ganz anderes
als diejenige Modifikation, welche sei es das originäre, sei es das reproduzierte
Jetzt verwandelt in ein Vergangen.<< (S. 46 f.) Zwischen Urimpression und Re
tention besteht eine >>kontinuierliche Vermittlung, ein >>kontinuierlicher Über
gang<<, eine >>Stetige Abschattung<<; >>dagegen ist von einem stetigen Übergang
von Wahrnehmung in Phantasie, von Impression in Reproduktion keine Rede;
der letztere Unterschied ist ein diskreter<< (S. 4 1 , 47). Der Unterschied zwischen
Retention und Wiedererinnerung (Reproduktion) besteht nicht darin, daß die
Wiedererinnerung einfach nur zeitlich weiter zurückgreifen würde. Denn die
Wiedererinnerung kann auch etwas >>rekapitulieren<<, was retentional noch mehr
oder weniger klar bewußt ist, wie wenn ich etwa beim Hören einer Melodie
den Anfang dieser Melodie >>Wiederholend<< mir zurückrufe. (S. 62; vgl. S. 50,
153 f.) Der Unterschied ist vielmehr ein struktureller: Während Urimpression
kontinuierlich übergeht in Retention, und diese in Retention von Retention
usw. , wendet sich die Wiedererinnerung zeitlich zurück und wiederholt eine
ganze Wahrnehmung.
Der prinzipielle Unterschied von Retention und Wiedererinnerung wird auch
an der neuartigen Zeitform deutlich, die die Wiedererinnerung gegenüber der
Zeitwahrnehmung, deren unselbständiges Moment die Retention ist, hervor
bringt. Die wahrgenommene, gegenwärtige Zeit ist immerfort im Fluß (S. 1 08):
kontinuierlich entspringt ein neues Jetzt, und jedes zeitliche Moment sinkt re
tentional in immer fernere und dunklere Vergangenheit hinab. Gegenüber die
ser im Jetzt orientierten und fließenden Zeit haben wir die Idee einer objektiven
Zeit als einer festen Ordnung des Früher und Später von identifizierbaren Zeit
stellen. (S. 64) Während die zeitlichen Ereignisse in unserer Zeitwahrnehmung
vom Jetzt aus stetig in die Vergangenheit zurücksinken, verändern sie in der
objektiven Zeit ihre Stelle nicht. Diese objektive Zeit ist nach Husserl die Lei
stung der Reproduktion, primär der Wiedererinnerung (S. 69): >>In der Wieder-
§ 2. Das Zeitbewußtsein 101
erinnerung ist die Zeit zwar in jedem Moment der Erinnerung auch orientiert
gegeben, aber jeder Punkt stellt einen objektiven Zeitpunkt dar, der immer wie
der identifiziert werden kann, und die Zeitstrecke ist aus lauter objektiven Punk
ten gebildet und selbst immer wieder identifizierbar.<< »Identität von Zeitobjekten
ist also ein konstitutives Einheitsprodukt gewisser möglicher Identifizierungs
deckungen von Wiedererinnerungen.<< (S. 108) Eine objektive, an sich seiende
Zeitordnung, auf deren Stellen und Stellenrelationen ich immer wieder identifi
zierend zurückkommen kann, ist nur durch die Reproduktion bewußt. Sie ist
das Produkt einer Idealisierung in der Reproduktion, nämlich Korrelat des Be
wußtseins »ich kann immer wieder identifizierend darauf zurückkommen.<<6
Gegenüber dieser objektiven Zeit nennt Husserl die fließende, orientierte Zeit
die »Gegebenheitszeit<<.
Im Bewußtsein konstituiert sich Zeit, Gegebenheitszeit und objektive Zeit.
Ist nun diese Konstitution selbst ein zeitlicher Vorgang, ist das zeitkonstituie
rende Bewußtsein selbst in der Zeit? Mit dieser Frage treten wir in die subjekti
ve Richtung von Husserls Problematik des Zeitbewußtseins. Husserl schreibt:
»Nun wird man aber in der natürlichen Einstellung ganz selbstverständlich sa
gen und es ganz selbstverständlich finden zu sagen: fetzt erfasse ich einen Ton,
der sich seine Dauer hindurch erhält . . . Indem ich nun auf die konstituierenden
Erscheinungen des inneren Bewußtseins achte, erfasse ich sie als jetzt seiend,
ich erfasse jetzt das Bewußtsein vom Jetzt und die ganze Kontinuität des Vorher
Bewußtseins [des Bewußtseins vom Vorher, vom Soeben], und diese ganze Kon
tinuität ist gleichzeitig, sie gehört zum Jetzt, findet jetzt statt, steht als das da.
Und gehe ich dem Fluß dieser Kominuitären nach, so finden sie nacheinander
statt, und das Ganze erfüllt eine Dauer. Natürlich ist diese Dauer dieselbe wie
die des innerlich Erscheinenden, die Dauer des immanenten Tones ist diesel
be wie die des Bewußtseins, in dem es sich seiner Dauer nach stetig konstitu
iert.<< (Hu X, S. 369) Husserl selbst hat nun aber in Texten der Vorlesung von
1904/05, die den Grundstock der »Phänomenologie des inneren Zeitbewußt
seins<< (Hu X) bilden, das zeitkonstituierende Bewußtsein in die Zeit einge
ordnet, wäre also damals, nach seinem späteren Urteil, noch »in der natür
lichen Einstellung<< befangen gewesen. Er erklärt in solchen frühen Texten:
»Es ist ja evident, daß die Wahrnehmung eines zeitlichen Objektes selbst Zeit
lichkeit hat, daß Wahrnehmung der Dauer selbst Dauer der Wahrnehmung vor
aussetzt, daß die Wahrnehmung einer beliebigen Zeitgestalt selbst ihre Zeit
gestalt hat.<<7 Er identifizierte damals die Zeit der Empfindung und die Zeit des
6 Vgl. Hu X, S. 43, 69, Beilage V und Hu XI, S. 326 f., l l O f., 277 ff.
7 Hu X, S. 22 (der Text stammt wohl noch aus der Zeit vor 1904/05; siehe textkrit. Anm.,
S. 407).
102 3. Kapitel. Allgemeine Strukturen des Bewußtseins
Empfundenen, die Zeit der Wahrnehmung und die Zeit des Wahrgenomme
nen: Sie sind »gleichzeitig<<8•
Aber in den Jahren 1 908/09 vollzieht Husserl eine Positionsänderung, und
zwar scheint der Moment dieser Positionsänderung noch genau greifbar zu sein:
nämlich in einem Manuskript, das zum ersten Mal in Husserliana X veröf
fentlicht wurde (als Text Nr. 50) und das der Herausgeber, Rudolf Boehm, in
die Zeit zwischen Oktober 1908 und Sommersemester 1909 datiert. Zu Beginn
dieses Textes ordnet Husserl das zeitkonstituierende Bewußtsein noch in die
Zeit: » . . . wenn das Bewußtsein vom Ton-Jetzt, die Urempfindung, übergeht in
retentionale Erinnerung, so ist diese Erinnerung selbst wieder ein Jetzt, näm
lich gehörig zu einem neuen Ton-Jetzt.<< (S. 326) Nach Erörterungen über die
retentionale Modifikation und das Problem der Erfassung des zeitkonstituie
renden Flusses schließt Husserl mit den Sätzen: »Liegt eine Absurdität darin,
daß der Zeitfluß wie eine objektive Bewegung angesehen wird? Ja! Andererseits
ist doch Erinnerung etwas, das selbst sein fetzt hat, und dasselbe Jetzt etwa wie
ein Ton. Nein. Da steckt der Grundfehler. Der Fluß der Bewußtseinsmodi ist kein
Vorgang, das jetzt-Bewußtsein ist nicht selbst jetzt. Das mit dem Jetzt-Bewußtsein
> Zusammen < seiende der Retention ist nicht >jetzt <, ist nicht gleichzeitig mit dem
Jetzt, was vielmehr keinen Sinn gibt . . . Also Empfindung, wenn damit das Be
wußtsein verstanden wird (nicht das immanente dauernde Rot, Ton etc., also
nicht das Empfundene), ebenso Retention, Wiedererinnerung, Wahrnehmung etc.
ist unzeitlich, nämlich nichts in der immanenten Zeit. (Inwiefern es objektivier
bar ist in der Natur, in der > objektiven Zeit <, ist eine eigene Frage.) Das sind
höchst wichtige Sachen, vielleicht die wichtigsten der ganzen Phänomenolo
gie.<< (S. 333 f.) Der Grund, der Husserl in diesem Text dazu führt, die Unzeit
lichkeit des zeitkonstituierenden Bewußtseins zu behaupten, scheint der Gedanke
des unendlichen Regresses zu sein: Wäre dieses Bewußtsein in der Zeit, dann
wäre ein anderes Bewußtsein notwendig, das dieses Bewußtsein als zeitliches
konstituieren würde, u.s.w. (vgl. S. 322 f.) Der Grundgedanke ist also der, daß
alles als zeitlich Gegebene (Erscheinende), auch die als zeitlich gegebenen Er
lebnisse (cogitationes), im Bewußtsein konstituiert ist. Deshalb kann das letzt
lich konstituierende, selbst >>aller Konstitution vorausliegende Bewußtsein<<
(S. 73), das nicht ein Inbegriff zeitlich konstituierter Erlebnisse, sondern >>ein
Bewußtsein eines anderen Sinnes ist<< (Ideen II, S. 102), nicht selbst zeitlich
sem.
In einem anderen Text von Husserliana X (Text Nr. 54), der wohl nicht vor
8 Hu X, S. 72 (aus 1905); S. 1 1 0 ff. (Beilage V): das Originalmanuskript dieser Beilage konnte
im Husserl-Archiv nicht aufgefunden werden; der Text stammt aber aus inhaltlichen Gründen, und
nicht nur aus dem genannten, aus einer frühen Zeit (um 1905).
§ 2. Das Zeitbewußtsein 103
1 9 1 1 geschrieben wurde9 und der auch schon Eingang in die 1 9 1 7 von Edith
Stein zusammengestellten und 1928 von Heidegger herausgegebenen »Vorlesun
gen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins<< gefunden hatte (näm
lich in die §§ 3 5 - 39), geht Husserl der Unzeitlichkeit des zeitkonstituierenden
Bewußtseins gerrauer nach. Er nennt hier andere Gründe für diese Unzeitlich
keit als den soeben genannten, und zwar solche, die an Kants »Paralogismen
der reinen Vernunft<< erinnern: Eine zeitliche Veränderung oder Unveränderung
ist ein Vorgang an einem identischen Objekt, das in diesem Vorgang seine Dau
er hat. Demgegenüber ist der zeitkonstituierende Fluß kein Objekt, das sich
in seiner Dauer verändert oder nicht verändert. Weiter bemerkt Husserl, daß
die Veränderung eines zeitlichen Objekts ihre Geschwindigkeit habe und als
beschleunigt oder verlangsamt und als in Ruhe (Unveränderung) übergeführt
gedacht werden kann. Demgegenüber habe der Wandel, die »Veränderung<< des
zeitkonstituierenden Flusses »das Absurde, daß sie gerrau so läuft, wie sie läuft,
und weder > schneller< noch > langsamer < laufen kann.<< (S. 369 f. , vgl. S. 73 f.)
»Also ist es evident, daß die zeitkonstituierenden Erscheinungen prinzipiell an
dere Gegenständlichkeiteil sind als die in der Zeit konstituierten, daß sie keine
individuellen Objekte sind bzw. keine individuellen Vorgänge und daß Prädi
kate solcher sinnvoll ihnen nicht zugeschrieben werden können. Also kann es
auch keinen Sinn haben, von ihnen zu sagen (und in gleicher Bedeutung zu
sagen), sie seien im Jetzt und waren vorher, sie folgten einander zeitlich nach
oder seien miteinander gleichzeitig usW.<< (S. 370; vgl. S. 7 4 f.) Husserl stellt in
diesem Text (Nr. 54) das zeitkonstituierende Bewußtsein vor allem der objekti·
ven Zeit gegenüber, während er im zuvor zitierten (Nr. 50) primär an die wahr
genommene Zeit denkt.
Das unzeitliche, zeitkonstituierende Bewußtsein, das Husserl als das »abso
lut urkonstituierende Bewußtsein<< (Ms. B IV 6, S. 2 1 5 ff. (um 1908)), als das
»letzte und wahrhaft Absolute<< (Ideen I, S. 1 63 ( 1 9 1 3)) bezeichnet, ist, wie aus
den obigen Ausführungen schon deutlich wurde, nicht als bloße zeitlose Form
zu denken, durch die das Zeitliche gewissermaßen hindurchziehen würde. Das
Urempfindungsbewußtsein und das ursprüngliche Zeitbewußtsein überhaupt
denkt sich Husserl als »in beständiger Wandlung begriffen . . . Die Wandlung
besteht darin, daß das leibhafte Ton-Jetzt stetig sich modifiziert (scil. im Be
wußtsein, bewußtseinsmäßig) in ein Gewesen und daß stetig ein immer neues Ton
Jetzt das in Modifikation übergegangene ablöst.<< (Hu X, S. 326 (unsere Her
vorhebung)) Das heißt, das Bewußtsein wandelt sich, indem sich das Bewußte
zeitlich wandelt. Nur durch einen Wandel des Bewußtseins kann im Bewußt-
9 Der Herausgeber, R. Boehm, datiert ihn: »nicht vor Ende 1908, ja wohl nicht vor 1 9 1 1 « (Hu
X, S. 391).
104 3 . Kapitel. Allgemeine Strukturen des Bewußtseins
sein ein zeitlicher Wandel zur Erscheinung kommen. Doch ist der Wandel des
zeitkonstituierenden Bewußtseins keine zeitliche Folge (S. 376). Husserl spricht
auch von einem >>Zugleich<< oder >>Zusammen<< von Urimpressionen des jetzt
Gleichzeitigen (etwa eines Tones und einer Farbe), die aber selbst nicht gleich
zeitig sind, ebensowenig wie die zu diesem »Zugleich« gehörigen Retentionen
der soeben vergangenen Zeitphasen: »dieses ganze > Zugleich < aus ursprüngli
cher Präsentierung und der Kontinuität von präteritalen Phasen macht das be
wegliche Moment der Bewußtseinsaktualität aus, die in unaufhörlicher Ver
änderung das immanente [Zeit-] Objekt konstituiert.<< (S. 3 78) Husserl ver
sucht also, das wahrhaft absolute Bewußtsein, in dem die ganze Zeit zur Er
scheinung kommt, als in sich bewegliche Aktualität zu fassen. In seinen späte
ren Manuskripten nennt er es > Urtümlich stehend-strömende Vorgegenwart < (Ms.
C 3, S. 3a ff. ( 1930)), bezeichnet es also zugleich als beweglich-strömend und
unbeweglich-stehend, wie ein Quellpunkt, der zugleich beständig fließt und doch
am selben Ort verbleibt. Oder er nennt es »Urgegenwart, die keine Zeitmoda
lität ist<< (Hu XV, S. 667 f. (1934)), d. h., die nicht neben sich noch eine Vergan
genheit und Zukunft hat, da das zeitkonstituierende Bewußtsein als reine
Aktualität nicht in die Vergangenheit zu rücken ist.
Wie ist es aber überhaupt nach Husserl möglich, dieses »letzte und wahrhaft
Absolute<< zu erfassen? Husserl schreibt: »Man kann und muß sagen: Eine ge
wisse Erscheinungskontinuität, nämlich eine solche, die Phase des zeitkonsti
tuierenden Flusses ist, gehöre zu einem Jetzt, nämlich zu dem, das sie konstituiert,
und gehöre zu einem Vorher, nämlich diejenige, die konstitutiv ist (wir kön
nen nicht sagen: »War<<) für das Vorher. 10 Aber ist nicht der Fluß ein Nachein
ander, hat er nicht doch ein Jetzt, eine aktuelle Phase, und eine Kontinuität
von Vergangenheiten, in Retentionen jetzt bewußt? Wir können da nicht hel
fen und nur sagen: Dieser Fluß ist etwas, das wir nach dem Konstituierten so
nennen, aber es ist nichts zeitlich > Objektives <. Es ist die absolute Subjektivität,
und hat die absoluten Eigenschaften eines im Bilde als , fluß < zu bezeichnen
den, eines Aktualitätspunktes, Urquellpunktes >Jetzt < etc. Im Aktualitätserleb
nis haben wir den Urquellpunkt und eine Kontinuität von Nachhallmomenten.
Für all das haben wir keine Namen.<< (Hu X, S. 371) Nach diesem Passus scheint
das zeitkonstituierende Bewußtsein etwas Konstruiertes zu sein, nämlich kon
struiert als Bedingung der Möglichkeit des zeitlich Erlebten.
Doch im weiteren Verlauf dieses Textes sagt Husserl: »Ich weiß doch von die
sem Bewußtseinsfluß als Fluß, ich kann auf ihn hinsehen . . . << (S. 378). Dieser
Fluß scheint also doch keine bloße Konstruktion zu sein. Husserl versucht
10
Wir haben den Text oben amendiert. Wie er in Hu X steht, ergibt er keinen guten Sinn: "···
nämlich z u d e m , das konstitutiv ist (wir können nicht sagen: »War«) für das Vorher<<.
§ 2. Das Zeitbewußtsein 105
folgende Lösung: >>Es ist der eine, einzige Bewußtseinsfluß (evtl. innerhalb ei
nes > letzten < Bewußtseins), in dem sich die immanent-zeitliche Einheit des To
nes konstituiert und zugleich die Einheit des Bewußtseinsflusses selbst. So
anstößig (wo nicht anfangs sogar widersinnig) es erscheint, daß der Bewußt
seinsfluß seine eigene Einheit konstituiert, so ist es doch so, und aus seiner We
senskonstitution verständlich zu machen.« (S. 378) Und zwar versucht er diese
Selbsterscheinung des Flusses auf folgende Weise verständlich zu machen: Jede
Retention hat eine >>doppelte Intentionalität«: Die Retention einer vergange
nen Tonphase (z. B. des Einsatzpunktes des Tones c) ist auch Retention der ver
flossenen Retention dieser selben Tonphase, und in dieser Retention selbst ist
wiederum die vorangegangene Retention dieser Tonphase impliziert und so kon
tinuierlich bis zur Urimpression dieser Tonphase. (S. 379 ff., 326 ff.) Also die
Retention, die ich aktuell von der vergangeneu Tonphase habe, ist notwendig
auch Retention der vorangegangenen Kontinuität von Retentionen bis hin zur
Urimpression dieser Tonphase. Die Intention auf den Ton (auf das >>Objekt«)
nennt Husserl die >>Querintentionalität« der Retention, die Intention auf die
Retentionen (auf den Bewußtseinsfluß) nennt er die >>Längsintentionalität« der
Retention. (S. 379 ff., 82 ff.) In dieser Längsintentionalität der Retention erscheint
sich der zeitkonstituierende Fluß selbst. Diese Längsintentionalität ist nicht et
wa eine zusätzliche Retention, neben der Retention des Tones (des konstituier
ten Zeitobjektes), was wohl zu einer unendlichen Vervielfältigung der Flüsse
führen würde, da diese zusätzliche Retention dann selbst wieder durch eine zu
sätzliche Retention festgehalten werden müßte usw. , sondern diese Längsinten
tionalität ist in Wirklichkeit nichts anderes als der Charakter der Modifikation
der Retention: Die Modifikation weist als solche zurück auf das, wovon sie
Modifikation ist, in unserem Falle auf die vorangegangene Retention und letzt
lich auf die Urimpression als den Urmodus. >>Das führt auf keinen unendli
chen Regress dadurch, daß jede Erinnerung [ Retention] in sich selbst
=
tuiert sich die immanente Zeit, eine objektive Zeit, eine echte, in der es Dauer
und Veränderung von Dauerndem gibt; in der anderen die quasi-zeitliche Ein
ordnung der Phasen des Flusses . . . Der Fluß des immanente Zeit konstituieren
den Bewußtseins ist nicht nur, sondern, so merkwürdig und doch verständlich
geartet ist er, daß in ihm notwendig eine Selbsterscheinung des Flusses beste
hen und daher der Fluß selbst notwendig im Fließen erfaßbar sein muß. Die
Selbsterscheinung des Flusses fordert nicht einen zweiten Fluß, sondern als Phä
nomen konstituiert er sich in [sich] selbst. Das Konstituierende und das Kon
stituierte decken sich . . . << (ebenda)
Aber decken sie sich wirklich? Husserl erklärt die Selbsterscheinung des Flusses
durch die Längsintentionalität der Retention, und in der Retention ist doch im
mer nur das Vorangegangene, in ihrer Längsintentionalität die vorangegange
nen Bewußtseinsphasen bewußt. Also das zeitkonstituierende Bewußtsein als rei
ne Aktualität, also gerade als das »letzte und wahre Absolute<< kann in der Re
tention nicht erscheinen. Husserl fährt nach dem obigen Zitat fort: >>Das Kon
stituierende und das Konstituierte decken sich, und doch können sie sich natür
lich nicht in jeder Hinsicht decken. Die Phasen des Bewußtseinsflusses, in denen
Phasen desselben Bewußtseinsflusses sich phänomenal konstituieren, können
nicht mit diesen konstituierten Phasen identisch sein, und sind es natürlich nicht.
Was im Momentan-Aktuellen des Bewußtseinsflusses zur Erscheinung gebracht
wird, das sind, in der Serie der reproduktiven Momente desselben, vergangene
Phasen des Bewußtseinsflusses.<< (S. 3 8 1 ff.) Husserl überlegt sich die Möglich
keit, ob die aktuelle Phase des Bewußtseins noch in einem »letzten Bewußtsein<<
bewußt sein könne, und schließt mit der Bemerkung: »Es ist aber ernstlich zu
überlegen, ob man solch ein letztes Bewußtsein annehmen muß, das ein notwen
dig > unbewußtes < Bewußtsein wäre; nämlich als letzte Intentionalität kann sie
(wenn Aufmerken immer schon vorgegebene Intentionalität voraussetzt) nicht
Aufgemerktes sein, also nie in diesem besonderen Sinn zum Bewußtsein kom
men.<< (S. 382) Dieses »letzte Bewußtsein<<, das Husserl hier in Frage stellt, nennt
er in anderen Texten »inneres Bewußtsein<< (Hu X, Beilage XII) oder »Urbewußt
sein<< (Beilage IX). Es ist ein (Selbst-) Bewußtsein des aktuellen Bewußtseins
flusses, das aber prinzipiell nicht aufmerkendes, meinendes, setzendes sein kann:
»Bewußtsein ist notwendig Bewußtsein in jeder seiner Phasen. Wie die retentiona
le Phase die voranliegende bewußt hat, ohne sie zum Gegenstand zu machen, so
ist auch schon das Urdatum [die Aktualität des Bewußtseins] bewußt . . . , ohne
gegenständlich zu sein. Eben dieses Urbewußtsein ist es, das in die retentionale
Modifikation übergeht . . . wäre es nicht vorhanden, so wäre auch keine Reten
tion denkbar<<. (S. 1 19) Aber auch nach diesen Überlegungen kann das absolute
zeitkonstituierende Bewußtsein nicht in sich selbst, sondern nur in der Distanz
einer quasi zeitlich eingeordneten Erscheinung aufmerkend erfaßt werden.
§ 2. Das Zeitbewußtsein 107
1 1 Ausgewählte Literatur
zum 3. Kapitel, § 1: K. Hedwig (1979): S. 326-340; J. N. Mohanty (1972); D. Carr ( 1987): S. 1 1 7-136;
H. L. Dreyfus ( 1982);
zum 3. Kapitel, § 2: G. Eigler ( 1961); K. Held ( 1966); R. Sokolewski ( 1 974): S. 138-168; J. B. Brough
( 1 977): S. 83-100; R. Bernet ( 1983): S. 16-57; R. Bernet ( 1985): S. XL- LXVII.
4. Kapitel
Wahrnehmung, Ding und Raum
nämlich weder sagen, daß in diesem Überschuß über das eigentliche Sehen hin
aus das Ding anschaulich gegeben sei, noch, daß es darin überhaupt nicht zur
Gegebenheit käme. Aber wie ist denn das, was ich nicht eigentlich sehen kann,
im Sehen dennoch gegenwärtig?
Betrachten wir erst dasjenige Moment des Wahrnehmungaktes, das als Se
hen im strengen Sinn bezeichnet werden kann, d. h. in dem eine >>Seite<< des
Dinges voll anschaulich gegeben ist! Husserl nennt diese ausgezeichnete Gege
benheit »eigentliche Erscheinung<< und unterscheidet sie von der leeren Mit
meinung bzw. vom apperzeptiven Überschuß, den er >>Uneigentliche Erschei
nung<< nennt (Hu XVI, § 16 u.ö.). In dieser eigentlichen Erscheinung ist ein Ding
aspekt anschaulich selbstgegeben bzw. >>leibhaft<<, >>Originär<< gegeben. Diese für
den Wahrnehmungsakt (insgesamt) charakteristische (partielle) anschauliche
Selbstgegebenheit ist einerseits von anderen anschaulichen Gegebenheitsweisen
zu unterscheiden, in denen der Gegenstand nicht selbst, sondern etwa mittels
eines Bildes gegeben ist, und sie unterscheidet sich auch andererseits von Gege
benheitsweisen, in denen der Gegenstand überhaupt nicht anschaulich gege
ben ist, sondern bloß mittels eines ihn vertretenden (konventionellen) Zeichens.
Die Rede von der wahrnehmungsmäßigen Selbstgegebenheit des Gegenstandes
hat also auch eine polemische Konnotation, die sich auf die sog. erkenntnis
theoretische Bilder- und Zeichentheorie bezieht. Husserl kritisiert diese Theo
rie insbesondere in Auseinandersetzung mit K. Twardowskis Schrift Zur Lehre
von Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen ( 1 894). (Vgl. insbes. I. LU, § 1 3 ;
V LU, § 45; Ideen I, § 129; und für eine umfassendere Darstellung der Proble
matik Rang.) Twardowski vertritt die Ansicht, daß jeder intentionale Bezug auf
einen wirklichen Gegenstand durch einen mentalen »Inhalt<< bzw. >>sekundä
ren<< Gegenstand vermittelt ist, der als ein bewußtseinsmäßiges Bild den >>pri
mären<<, d. h. extramentalen Gegenstand vertritt. Die Wahrnehmung ist somit
ein komplexer Akt, eine >>doppelte Vorstellungstätigkeit<<, die sich durch den
bewußtseinsmäßigen >>Inhalt<< (id quo) auf den wirklichen Gegenstand (id quod)
bezieht. Nach Husserls Ansicht ist es nun aber ganz verkehrt, die Wahrneh
mung in Analogie mit dem Bildbewußtsein zu verstehen, da das Bildbewußt
sein im Gegenteil die mögliche wahrnehmungsmäßige Selbstgegebenheit des
Originals voraussetzt. Zudem weist Husserl nach, daß die Verdoppelung der
Struktur der intentionalen Gegenständlichkeit in Bewußtseins-Inhalt und rea
len Gegenstand zu einem unendlichen Regress führt (vgl. LU II/1, S. 42 1 ff. ;
Ideen I, §§ 52, 90).
Die unmittelbare, d. h. weder durch ein Bild noch durch ein Zeichen vermit
telte wahrnehmungsmäßige Selbstgegebenheit des Gegenstandes beschreibt Hus
serl als einen intentionalen Akt apperzeptiver >>Beseelung<< darstellender Inhalte
(Hu XVI, §§ 1 4 f. , 40 u.ö.). Seine A nschaulichkeit verdankt dieser Akt dem mit
§ 1 . Erscheinung als gemischte Repräsentation 111
standes. Genauer besehen sind die bloß mitgemeinten Dingaspekte weder mit
telbar zeichenhaft noch imaginativ, d. h. in phantasiemäßiger Anschaulichkeit
repräsentiert, sondern überhaupt nicht dargestellt: » . . . uneigentlich erscheinen
de gegenständliche Momente sind in keinerlei Weise dargestellt. Die Perzeption
Ist . . . ein Komplex voller und leerer Intentionen (Auffassungsstrahlen); die vol
len Intentionen oder vollen Auffassungen sind die eigentlich darstellenden, die
leeren sind eben leer an irgendeinem Darstellungsmaterial, sie bringen wirk
lich nichts zur Darstellung . . . << (Hu XVI, § 1 8 ; vgl. auch Ms. M III 2, S. 7a ff.
( 1 9 1 3)). Wird der apperzeptive Überschuß in der Dingwahrnehmung dergestalt
als Horizont leerer Mitmeinung bzw. motivierter Wahrnehmungsmöglichkeit
bestimmt, so folgt daraus unmittelbar als zweiter Punkt der Kritik an der Auf
fassung der Logischen Untersuchungen, daß eigentliche und uneigentliche Er
scheinung nicht bloß in der Weise assoziativer Kontiguität miteinander verknüpft
sind, sondern eine wesensmäßige Einheit bilden: »Eigentliche und uneigentli
che Erscheinung sind aber nichts Getrenntes, sondern einig in der Erscheinung
im weiteren Sinn. Das Bewußtsein ist Bewußtsein von leibhafter Gegenwart des
Hauses: es heißt, und ganz im Sinn der Gesamtperzeption: Das Haus erscheint .
. . . Die eigentliche Erscheinung ist nichts Abtrennbares.<< (Hu XVI, § 1 6)
Ein dritter Punkt der Kritik betrifft nicht bloß die Logischen Untersuchun
gen, sondern auch noch große Stücke der Dingvorlesung aus 1907 (Hu XVI).
Es handelt sich dabei darum, daß die Zerstückung des Wahrnehmungsaktes in
verschiedene Repräsentationsformen bzw. auch noch die Scheidung von eigent
licher und uneigentlicher Erscheinung von der Bestimmung des realen Gegen
standes hergeleitet wird, daß die natürliche Wirklichkeit dieses Gegenstandes
aber im Rahmen phänomenologisch reiner Betrachtung nicht in Anspruch ge
nommen werden darf. (Vgl. z. B. das im obigen Zitat aus § 16 von Hu XVI
weggelassene Stück: »Das Haus erscheint. Nur daß sich eine bloße Seite des
Hauses wirklich darstellt . . . Eine Seite ist aber Seite des vollen Gegenstandes.
Sie ist nichts für sich, als ein Fürsichsein nicht denkbar. Diese Evidenz be
sagt: Die eigentliche Erscheinung ist nichts Abtrennbares.<<) Diese Herleitung
der phänomenologischen Strukturierung der erscheinungsmäßigen Gegeben
heit von der physikalischen Realität des Dinges und Raumes ist insofern be
denklich, ja geradezu widersinnig, als die phänomenologische Beschreibung der
erscheinungsmäßigen Gegebenheit gerade einer konstitutiven Analyse des Seins
sinnes von dinglicher und räumlicher Wirklichkeit dienen soll. Wir werden
gleich noch auf das eigentliche Motiv dieser zirkelhaften phänomenologischen
Bestimmung dinglicher Realität zurückkommen. Betrachten wir erst ihre Fol
gen, so springt vor allem die Verräumlichung des Bewußtseins in Analogie mit
der rechtmäßig allein die physische Natur kennzeichnenden > partes extra par
tes <-Struktur in die Augen. Nicht nur sollen sich gemäß dieser bedenklichen
114 4 . Kapitel. Wahrnehmung, Ding und Raum
Lehre Teile des Dinges und Momente des Wahrnehmungsaktes gerrau entspre
chen, nicht nur soll der Wahrnehmungsakt in verschiedene, durch bloße Kon
tiguität miteinander verbundene Repräsentationsformen zerfallen, sondern selbst
noch innerhalb einer selben Repräsentationsform wie z. B. im intuitiven Ge
halt des Wahrnehmungsaktes sollen »Auffassungsmaterie<< und »Inhalt<< >>Stück
für Stück« miteinander verknüpft sein ( VI. LU, § 26; vgl. auch Hu XVI,
§§ 55, 60). Diese Zerfällung der Bewußtseinstätigkeit (Noese) in (selbständi
ge?) >>Stücke<< ist aber nicht bloß die Folge einer intellektualistischen Konstruk
tion bzw. einer naturalistischen Verdinglichung des Bewußtseins, sondern sie
zeugt auch von der fundamentalen Schwierigkeit der Konstitution des Raumes
durch das unräumliche, transzendentale Bewußtsein. Wir werden noch sehen,
daß Husserl sich gezwungen sieht, dem dingkonstituierenden Bewußtsein und
insbesondere den mit ihm reell verwobenen Empfindungsdaten eine >>präphäno
menale<< bzw. »präempirische<< Räumlichkeit bzw. Extension zuzuschreiben (vgl.
Hu XVI, §§ 20 -22, 25, 46, Beil. III). Und wir werden uns in diesem neuen
Zusammenhang dann überhaupt die allgemeinere Frage vorlegen müssen, ob
Husserl in seiner Analyse der Ding- und Raumkonstitution sich nicht gezwun
gen sieht, entweder den Begriff des konstitutierenden Bewußtseins zu erwei
tern oder aber zumindest vermeintlich reelle Bewußtseinsinhalte als noemarische
Vermeintheiten zu bezeichnen.
Sowohl die zumindest befremdliche Aufsplitterung des schlichten sinnlichen
Wahrnehmungsaktes in ein Strahlenbündel von >>Partialintentionen<< ·(vgl. VI.
LU, § 47; Hu XVI, § 1 8 u.ö.) als auch die widersinnige Voraussetzung dingli
cher Realität in einer phänomenologischen Konstitutionsanalyse führen uns
schließlich wieder auf das Grundproblem der phänomenologischen Wahrneh
mungsanalyse zurück, nämlich die Bestimmung der Erscheinung als partielle
Selbstgegebenheit. Die paradoxale Schwierigkeit besteht darin, daß die Erschei
nung als Selbstgegebenheit die erscheinende Gegenständlichkeit ist und zugleich
als partielle Selbstgegebenheit diese Gegenständlichkeit doch nicht ist, d. h. nie
mit dem in ihr Erscheinenden identisch ist. Wiederum eignet sich die Darstel
lung des Lösungsversuchs der Logischen Untersuchungen sowie dessen Kritik vor
züglich als Annäherung an eine befriedigende Antwort. Die Logischen Un
tersuchungen bestimmen die Partialität der erscheinungsmäßigen Selbstgegeben
heit des Dinges auf dem Hintergrund der vollen Selbstgegebenheit, wie sie
im Bereich innerer Wahrnehmung realisierbar ist (V LU, §§ 5 f.). Adäquate Selbst
gegebenheit charakterisiert sich dadurch, daß >> . . . repräsentierender und reprä
sentierter Inhalt hier identisch eines sind<< ( VI. LU, § 37). In partieller Selbst
gegebenheit hingegen ist der intuitive Repräsentant nicht schlechthin identisch
mit dem >>Gegenstand selbst, so wie er an sich ist<<, partielle Selbstdarstellung
bzw. >>Selbst-Abschattung<< ist »Repräsentation durch A"hnlichkeit<< (§ 37; vgl.
§ 1 . Erscheinung als gemischte Repräsentation 115
Auch die zweite Aufgabe betrifft bereits die Struktur des kontinuierlichen
Wahrnehmungsprozesses, und zwar insofern, als dessen phänomenologische Ana
lyse bei einem regional-ontologischen Vorbegriff des Dinges anschließt. In der
Sprache der Ideen I heißt das, daß »die Region Ding als transzendentaler Leitfa
den<< der phänomenologisch-konstitutiven Untersuchung dient (§ 1 50, auch
§ 149). Dieser in »gerader Blickrichtung« vorgegebene Dingbegriff weist der phä
nomenologisch-reflexiven Dingerfahrung an, was sie zu untersuchen hat und
schreibt zugleich auch dem »Gang« dieser konstitutiven Dingerfahrung selbst
>>Regeln<< vor. So sind etwa die durch die Phänomenologie erforschte Perspekti
vität der Dingerscheinung und auch die >>Grenzenlosigkeit im Fortgange ein
stimmiger Anschauungen<< des Dinges durch den Wesensbegriff >>Ding-über
haupt« bedingte >>Notwendigkeiten<<. Fällt Husserl damit aber nicht wieder in
die bei der Interpretation der Logischen Untersuchungen und der Dingvorlesung
gerügte widersinnige Voraussetzung zurück, welche die Bestimmung der phä
nomenologisch-konstitutiven Erfahrung (z. B. der wahrnehmungsmäßigen Er
scheinung) von der natürlichen Bestimmung der durch sie erst konstitutiv aus
zuweisenden natürlichen Wirklichkeit herleitet? Nein!, denn erstens leitet nun
nicht mehr ein empirisch wirklicher Gegenstand, sondern ein material
ontologisch erforschtes Wesen die transzendental-konstitutive Erforschung ding
licher und räumlicher Wirklichkeit und zweitens sind die Ergebnisse dieser phä
nomenologischen Erforschung nicht etwa vom material-ontologischen Vorbe
griff des Dinges (als qualitativ bedeckte Raumgestalt) abzuleiten, sondern sie
mußten der >>geradehin« gerichteten regional-ontologischen Wissenschaft viel
mehr notwendig verborgen bleiben: Mit dem in geometrischer Wesensanschau
ung gewonnenen Wesen räumlicher Gegenstände >>wissen wir aber nichts von
den Prozessen der Anschauung selbst und den ihr zugehörigen Wesen und We
sensunendlichkeiten . . . << (§ 1 50) Der Geometer ist kein Phänomenologe, die phä
nomenologische Lehre von Orientierung, Tiefe und Entfernung im Erschei
nungsfeld ist keine analytische Konsequenz, sondern eine subjektive Ergänzung
bzw. transzendentale Fundierung der geometrischen Lehre vom dreidimensio
nalen Raum. Der ontologische Vorbegriff des Dinges impliziert zwar notwen
dig die Unmöglichkeit einer adäquaten Dingerscheinung, sagt aber nichts aus
über die funktionale und inhaltliche Strukturierung dieser Erscheinung und
ihres Verweises auf eine geordnete Mannigfaltigkeit weiterer und ergänzender Er
scheinungen desselben Dinges. Mehr noch: die Bedingtheit der phänomenolo
gischen Untersuchung durch einen ontologischen Vorbegriff wird in der Durch
führung dieser Untersuchung nicht bloß eingeholt, sondern überhaupt erst
letztlich verständlich. Die transzendental-phänomenologische Analyse des Er
fahrungsprozesses bestimmt nämlich nicht nur den Seinssinn dinglicher Wirk
lichkeit, sondern betrifft auch den Prozeß der Gewinnung material-ontologi-
§ 2. Das Erscheinungskontinuum und seine konstitutive Leistung 117
scher Wesen und bestimmt somit auch die erkenntnistheoretische Geltung bzw.
den Seinssinn dieser Wesen.
Die dritte Aufgabe betrifft ebenfalls den kontinuierlichen Wahrnehmungspro
zeß, nun aber nicht mehr in seinem Bezug zum material-ontologischen Vorbe
griff vom Wesen des Dinges, sondern in seiner Charakterisierung als kontinuier
licher Erfüllungsprozeß bzw. als sinnlicher Erkenntnisprozeß, der teleologisch
auf die Idee maximaler Fülle bzw. letzter Gegebenheit des Dinges ausgerichtet
ist. Eine Lösung dieser Aufgabe ist deswegen so schwer, weil einerseits jede Ding
erfahrung eine notwendigerweise unendliche ist und somit eine adäquate Selbst
gegebenheit des Dinges ausschließt und weil andererseits ein wahrnehmungs
mäßiger Erkenntnisfortschritt ohne teleologische Antizipation der adäquaten
Gegebenheit des Ding-an-sich unverständlich bleibt. Wiederum gelang Husserl
erst in den Ideen I (§§ 143, 149) eine Lösung dieser Aporie und zwar dadurch,
daß er die adäquate Dinggegebenheit als eine »Idee (im Kautischen Sinn)« be
zeichnete und diese genauer als >>System endloser Prozesse kontinuierlichen Er
scheinens« bestimmte (§ 143). Das Ding-an-sich wird nun also als eine Idee gefaßt
und zwar als eine regulative Idee, die sich aus der Idee >>der Grenzenlosigkeit
des Fortganges der einstimmigen Anschauungen« ergibt (§ 1 49). Im Gegensatz
zum realen Ding-an-sich der Logischen Untersuchungen ist die Idee der dingli
chen Einheit im unendlichen Erfahrungsprozess eine rein phänomenologische
Idee, eine adäquate Gegebenheit und frei von der widersinnigen Voraussetzung
eines perspektivenlosen räumlichen Seins. Man kann sich aber trotzdem noch
fragen, ob die teleologisch-regulative Idee des unendlichen Erkenntnisforschrit
tes faktisch wirklich fähig ist, das im Wahrnehmungsprozeß lebende erkennt
nismäßige Interesse zu motivieren oder ob sie dieses Interesse nicht vielmehr
in der Verzweiflung untergehen läßt (vgl. Bernet 1978(a] und 1978[b ]).
haben. Wir wollen uns im vorliegenden Paragraphen auf eine schematische Be
schreibung des kontinuierlichen Wahrnehmungsablaufs und seiner konstituti
ven Funktion beschränken und erst im nächsten Paragraphen die kinästhetische
Motivation dieses Erscheinungskontinuums wie auch schon jeder einzelnen Er
scheinung behandeln.
Ein konkreter Wahrnehmungsakt ist faktisch stets ein zeitlich ausgebreiteter
Akt, aus dem wir in unserer Analyse des Erscheinungsbegriffs abstraktiv eine
einzelne, punktuelle Phase herausgeschnitten haben. Fügen wir diese Phase nun
wieder in den Zusammenhang des kontinuierlichen Erscheinungsablaufs ein,
so fragt sich zuerst, wie der Übergang von Phase zu Phase zu verstehen ist.
Und dann stellt sich die folgenreiche Frage, wie eine Einstimmigkeit dieses Er
scheinungskontinuums möglich ist, die nicht bloß mannigfaltige Erscheinun
gen einem selben Gegenstand zuordnet, sondern die zugleich als fortschreitende
Befriedigung eines diesen Gegenstand betreffenden Erkenntnisinteresses erfah
ren wird.
Husserl faßt die den Ablauf des Wahrnehmungsaktes kennzeichnende Erschei
nungskontinuität als eine synthetisch vereinheitlichte Mannigfaltigkeit ursprüng
licher Gegebenheiten des Wahrnehmungsgegenstandes. Die die Erscheinungs
mannigfaltigkeit synthetisierende Einheitsform ist in erster Linie die zeitliche
Form des Bewußtseinsstroms. Die Erscheinungen liegen im aktuellen Fluß prä
empirischer Zeitlichkeit, und in diesem Fluß konstituiert sich die Kontinuität
des Erscheinungsprozesses bzw. die Dauer des darin erscheinenden Gegenstan
des (Hu XVI, §§ 1 9 f. , 48, 56; S. 223 f. und 335). (Wir können hier davon abse
hen, daß diese mannigfaltigen Erscheinungen ihrerseits schon zeitliche Einheiten
sind, und zwar im absoluten, unzeitliehen Bewußtsein konstituierte Einheiten.)
Das sukzessive Auftreten einer neuen Erscheinung im Bewußtseinsfluß und
der damit verbundene retentionale und protentionale Horizont sind jedoch keine
genügende Motivation für die kontinuierlich-synthetische Zuordnung der Er
scheinungen zum selben erscheinenden Gegenstand bzw. für ihre Integration in
einen einstimmigen Wahrnehmungsablauf. Es bedarf dafür einer kontinuierli
chen Identifikationssynthese. Als Moment des Wahrnehmungsprozesses ist diese
Identifikationssynthese in ihrem ursprünglichen Vollzug aber eine Leistung sinn
lichen und nicht logisch-kategorialen bzw. verstandesmäßigen Bewußtseins. In
der VI. Logischen Untersuchung spricht Husserl deswegen von »Identitätsver
schmelzung<< (§ 29), in der »Identifikation vollzogen, aber keine Identität ge
meint<< sei (§ 47). In der Dingvorlesung orchestriert Husserl diese Scheidung
zwischen sinnlichem Vollzug der erscheinungsmäßigen >>Deckungssynthese<< (Hu
XVI, §§ 26, 30, 52) und ihrer nachträglichen logisch-kategorialen Rekonstruk
tion (§§ 26, 29, 44) durch weiteres Eindringen in die Konkretion der Phänome
ne. Die sinnliche Einheitsbildung ist >>eine gewisse Einheit des homogenen
§ 2. Das Erscheinungskontinuum und seine konstitutive Leistung 1 19
sammenhang kann auch die Form der Umbestimmung des Gegenstandes, der
Enttäuschung der Intention, des Widerstreites von Vermeinung und Gegeben
heit haben, wobei allerdings >>evident<< ist, »daß der Widerstreit Übereinstim
mung bzw. daß Enttäuschung Erfüllung voraussetzt.<< (§ 29)
Wir können hier nicht näher auf die Differenzierung dieser verschiedenen
Formen erscheinungsmäßiger Erfüllungsprozesse eingehen und wollen auch die
gerrauere Analyse der Wesensstruktur der Erfüllungssynthese einem späteren
Kapitel vorbehalten (vgl. unten S. 1 67 ff.). Es ist jedoch wichtig, diese erkennt
nismäßige Form der Erfüllung nicht mit der ebenfalls im Wahrnehmungsablauf
fungierenden Erfüllung der bloßen Erwartung des weiteren Gangs der Erfah
rung zu verwechseln. Letzterer Zusammenhang von Intention und Erfüllung
ergibt sich unmittelbar aus der kontinuierlichen synthetischen Einheitsform,
innerhalb der jede Phase des Wahrnehmungsablaufs die Vorzeichnung der vor
angehenden verwirklicht: Es handelt sich dabei um »beliebige Änderungsrei
hen . . . , und zu ihnen als solchen gehörten Zusammenhänge von Intentionen,
nämlich Hinweise, die jeweils den Phasen entlang von Phase zu Phase laufen:
das Nach-vorwärts-Gezogenwerden im vertrauten Zusammenhang in der Linie
stetiger Zusammengehörigkeit. Die Bewegung mochte übrigens dahin oder dort
hin gehen, sie mochte besser oder schlechter Gegebenheit realisieren.<< (§ 32)
Verbindet sich mit dieser synthetischen Einheitsform der kontinuierlichen Er
scheinungsmannigfaltigkeit jedoch ein erkenntnismäßiges Interesse, so sind die
Änderungsreihen keine »beliebigen<< mehr und die zugehörigen Einheitsformen
sind »besondere<<: »In ihnen liegt das, was wir . . . Steigerung . . . der Gegebenheits·
fülle nennen, das stetig vollkommener . . . Zur-Wahrnehmungsgegebenheit
Kommen . . . . Das Unvollkommene ist . . . schon ein Gegebenheitsbewußtsein .
. . . Aber es gilt nicht das Gegebenheitsbewußtsein als vollendetes, . . . es weist
über sich hinaus; es ist Andeutung für das eigentlich Gemeinte, . . . es trägt In
tentionen, die in Richtung auf vollkommenere Darstellungen weisen bzw. auf
den > Gegenstand selbst <<< (§ 32). Dieses Ziel der adäquaten Selbstgegebenheit
ist jedoch keine »reale<<, sondern eine bloß »ideale<< Möglichkeit; das vollbe
stimmte Ding-an-sich ist, wie wir schon gesehen haben, eine Karrtische Idee.
Als Gründe der Wesensunmöglichkeit, adäquate Selbstgegebenheit des Dinges
im Erscheinungsprozeß zu verwirklichen, nennt Husserl: 1) es ist unmöglich,
den unendlichen Raum auf die Endlichkeit des Gesichtsfeldes zu reduzieren;
2) räumliche Gegenstände und auch schon Dingseiten stellen sich in einem un
endlich dehnbaren Abschattungskontinuum dar; 3) der Raumkörper qua be
weglicher kann aus dem Erscheinungsfeld heraustreten und später wieder in
es eintreten (§ 35; vgl. auch §§ 30 und 32). Aus der wesensmäßigen Inadäquat
heit jeder Dingerscheinung folgt also die Unendlichkeit der Dingerfahrung, und
unendliche Dingerfahrung impliziert einen ins Unendliche fortschreitenden
§ 3 . Die kinästhetische Motivation der Konstitution von Ding und Raum 1 2 1
Wir haben schon von der prinzipiellen Schwierigkeit gesprochen, die darin liegt,
räumlich-transzendente Gegenstände in einem unräumlichen, d. h. phänomeno-
122 4. Kapitel. Wahrnehmung, Ding und Raum
seins sich mit einer Terminologie behelfen müsse, die eigentlich den durch die
ses Bewußtsein konstituierten, immanenten Zeitgegenständen zukomme (ebd.).
Man kann diese Schwierigkeit allerdings auch als ein Zeichen dafür werten, daß
es kein »absolut<< konstituierendes und unabhängig von dem in ihm konstitu
ierten intentionalen Korrelat bestehendes transzendentales Bewußtsein gibt. Für
eine sich als Konstitutionsanalyse verstehende Frage nach dem Ursprung ist
die intentionale Korrelationsbetrachtung eine letzte, d. h. nicht mehr weiter
zu begründende Gegebenheit. Ganz ähnlich verhält es sich auch im Fall der
phänomenologischen Bestimmung der Kinästbesen und der dabei implizit schon
immer vorausgesetzten Leiblichkeit. Auch hier liegt die Schwierigkeit nicht dar
in, daß eine phänomenologisch reine Betrachtung der Kinästbesen nicht ohne
die widersinnige Voraussetzung empirisch-physiologischer Tatsachen auskäme.
Es stellt sich vielmehr die Frage, ob eine phänomenologische Betrachtung den
konstitutiven Zusammenhang von Kinästbesen und Leib noch hinterfragen kann
und muß. Husserl schreibt: »Also fungieren die kinästhetischen Empfindun
gen einerseits als konstituierende für die . . . Erscheinung . . . des Leibes - und
andererseits als lokalisierte im Leib.<< (§ 83; vgl. auch § 47) Husserl will diese
Aussage so verstanden wissen: Kinästbesen sind ursprünglich-letzte Gegeben
heiten, welche neben der Erscheinung von Dingen (>>Körpern<<) auch die Erschei
nung des Leibes als >>Wahrnehmungsorgan<< motivieren. Der Leib wird dadurch
zum Wahrnehmungsorgan, zur >>fungierenden Leiblichkeit<< (Ms. D 2, S. 3a
( 1 933)), daß die Kinästbesen als leibliche Vermöglichkeiten erfahren werden.
Diese Einlegung der Kinästbesen in den (Eigen-) Leib geschieht nachträglich,
und zwar aufgrund besonderer Erfahrungen, wie der Überschneidung verschie
dener kinästhetischer Systeme (z. B. Ertasten des sehenden Auges) oder der Über
schneidung verschiedener Erfahrungen innerhalb eines selben Systems (Ertasten
der tastenden Hand). Man kann andererseits die oben zitierte Aussage natür
lich auch so verstehen, daß zwischen Kinästhese und Leib ein gegenseitiges und
somit nicht weiter reduzierbares Abhängigkeitsverhältnis besteht. Nicht nur
sind die Kinästbesen konstitutiv für die Erfahrung des Leibes, sondern die fun
gierende Leiblichkeit ist auch konstitutiv für die Erfahrung der verschiedenen
kinästhetischen Systeme. Daraus würde dann auch (ganz im Sinne von Merleau
Ponty) folgen, daß das transzendental-konstitutive Wahrnehmungsbewußtsein
stets ein leibliches Bewußtsein ist.
Wir wollen uns nicht länger bei diesen allgemeinen Fragen aufhalten und viel
mehr zur konkreten Betrachtung der konstitutiven Leistung der Kinästbesen
übergehen. Wie schon im Fall der Erscheinung hat das kinästhetische Bewußt
sein die Form eines zeitlichen Kontinuums der Sukzession. Das Kontinuum
des kinästhetischen Ablaufs ist normalerweise ein Kontinuum der Veränderung,
und als Grundform der Veränderung gilt Husserl die Bewegung. Kinästhetische
124 4. Kapitel. Wahrnehmung, Ding und Raum
Hinblick auf die darin konstituierte Gegenständlichkeit, sie hat die Form einer
intentionalen Korrelationsbetrachtung. Insofern nun aber die intentionale Ge
genständlichkeit durch die Auffassung inhaltlich-darstellender Empfindungsda
ten mit-konstituiert ist und die Kinästhesen somit eine wesentlich unselbständige
Konstitutionsleistung erbringen, sind die Kinästhesen und die systematische Ord
nung kinästhetischer Systeme auch nur innerhalb des Motivationszusammen
hangs zu erforschen, welcher sie mit Abschattungen qualitativer Art und mit
inhaltlich bestimmten hyletischen Sinnesfeldern verbindet.
Wir haben gesehen, daß das räumliche Ding sich in einem geregelten Zusam
menhang mannigfaltiger Erscheinungen konstituiert und daß diese Erscheinun
gen (noetisch) als apperzeptive Beseelung darstellender Empfindungsdaten
bestimmt werden. Husserl führt diese Erscheinungsmannigfaltigkeit nun zu
rück auf die letzte konstitutive Mannigfaltigkeit, nämlich diejenige der Emp
findungsdaten. Diese mannigfaltigen Empfindungsdaten verbinden sich auch
schon vor jeder intentionalen Auffassung zu primitiven, hyletischen Einhei
ten. Diese Einheitsbildung ist im wesentlichen eine Leistung >>passiver Synthe
sis<<, die vor allem die Form assoziativer Einheitsbildung hat. Diese passiv
gebildeten Einheiten sind vorintentionale Empfindungskomplexe, welche jedoch
in jeder intentionalen Wahrnehmung eines Dinges notwendig impliziert sind.
Hält man sich an Husserls Bestimmung der Wahrnehmung als intentionale Auf
fassung von vor-intentionalen Auffassungsinhalten, so können diese passiven
Einheitsbildungen somit nicht als Wahrnehmungsprozesse und die darin kon
stitutierten hyletischen Einheiten nicht als Wahrnehmungsgegenstände bezeich
net werden. Verschiedene Interpreten des Husserlschen Werkes schreckten jedoch
davor zurück, aller wahrnehmungsmäßigen Erfahrung dieses Schema der Auf
fassung eines Auffassungsinhaltes zu unterlegen. Sie waren der Ansicht, dieses
Schema sei nur auf höherstufige, sprachlich elaborierte, >>explikative<< Wahrneh
mungsakte anzuwenden. Daneben gäbe es primitivere Formen der Wahrneh
mung, die Husserl in seinen Analysen zur passiven Synthesis und hyletischen
Einheitsbildung bereits ansatzweise beschrieben habe. Wie dem auch sei, es muß
jedenfalls deutlich zwischen zwei verschiedenen Formen hyletischer Einheit
unterschieden werden: 1) dem universal-offenen Horizont, dem sich alle einem
selben Typus zugehörigen Empfindungen einfügen; 2) den partikulären Ein
heiten innerhalb dieses umfassenden Horizontes. Husserl nennt diesen umfas
senden Horizont ein >>Sinnesfeld<<. Es gibt verschiedene Typen von Sinnesfeldern,
jedoch ist jedes Sinnesfeld formal gleich organisiert, und somit gehorchen auch
die Bildungen von partikulären hyletischen Einheiten innerhalb der verschie
denen Sinnesfelder stets denselben Regeln.
Empfindungsdaten bzw. >>darstellende Daten<< kennzeichnen sich durch ihre
präempirische Ausdehnung und deren qualitative Bedeckung. Somit ist auch
126 4 . Kapitel. Wahrnehmung, Ding und Raum
( >>b<<) äußert sich zuerst darin, daß K und b schon innerhalb jeder Erscheinung
=
zusammen gegeben sind: >>Die Erscheinung in jeder Phase und die Erschei-
1 Zur terminologischen Bezeichnung der darstellenden Empfindungen als »Bilder« vgl. § 57:
»Dem allgemeinsten nach bleibt auch bestehen, was wir von den Erscheinungen gesagt haben, in
denen die Bilder als darstellende Inhalte fungieren (und nur um der darstellenden Funktion willen
nennen wir sie hinsichtlich der dargestellten Objekte > Bilder<).«
§ 3. Die kinästhetische Motivation der Konstitution von Ding und Raum 127
bindet. Der »Spielraum<< der Erscheinungen bzw. Empfindungen ist ein Ord
nungszusammenhang, ein festes Lagensystem mit wechselnder Bedeckung. Die
mannigfaltigen Punkte dieses Lagensystems sind alle letztlich auf den Zentral
punkt optimaler Gegebenheit hin ausgerichtet. Dabei bestimmt sich dieser Null
punkt erscheinungsmäßiger Orientierung vom leiblich apperzipierten kinästhe
tischen >>Ich kann<< her: » . . . ich selbst muß leiblich als Nullpunkt oder Null
glied der Welt, irgendwelcher Dinge schon für mich dasein, um einen offenen
Horizont von unwahrgenommenen und an sich für mich daseienden Dingen
haben zu können.<< (Ms. D 3, S. lOa ( 1920)) Der als »Nullpunkt der Orientie
rung<< gefaßte Leib ist ein > Organismus < wahrnehmungsmäßiger Vermöglich
keit, der sich aus verschiedenen Wahrnehmungsorganen bzw. verschiedenen
kinästhetischen Systemen aufbaut. Und diesem Stufenbau kinästhetischer Funk
tionen entspricht ein Stufenbau von Erscheinungsfeldern sowie ein Stufenbau
von erscheinenden Objektivitäten. Die primitivste Form der Bewegung des als
Sehorgan fungierenden Leibes ist die Augenbewegung. Dieses kinästhetische Ba
sissystem zerfällt genauer besehen noch in die kinästhetischen Systeme des Ein
auges und des Doppelauges (vgl. § 49 und Beil. IV). Das kinästhetische System
des Einauges und das entsprechende visuelle Feld weisen eine parallele Struktu
rierung auf: »Nullpunkt . . . , Rechts-links-, Oben-unten-Richtungen<< (S. 350).
Das visuelle Feld des Einauges ist ein zweidimensionales Kontinuum möglicher
Bewegungen. Durch Hinzutreten der »Akkomodation<< im kinästhetischen Sy
stem des Doppelauges ergibt sich im entsprechenden visuellen Feld eine paa
rungsweise Zuordnung von Bildern, welche sich zu Doppelbildern zusammen
schließen. Diese erlauben die erscheinungsmäßige Darstellung von dinglichen
»Reliefs<<. In der kinästhetisch motivierten Transformation des visuellen Feldes
bzw. im kontinuierlichen Ablauf mannigfaltiger Bilder oder Bildfelder konsti
tuieren sich vor-dingliche oder vor-räumliche Einheiten. Die kontinuierliche
Mannigfaltigkeit der Kinästbesen der Augenbewegungen z.B. motiviert die Kon
stitution eines identischen okularnotorischen Bildes (vgl. § 63) und zugleich
eines einheitlichen okularnotorischen Feldes (vgl. §§ 59 f. , 67).
Diese okularnotorischen Einheiten sind zwar Einheiten in Mannigfaltigkei
ten, aber noch keine Dinge, noch kein Dingraum. Dasselbe gilt auch von den
kephalomotorischen Einheiten (vgl. § 57). Obwohl die Berücksichtigung ver
schiedener Typen von Kopfbewegungen und Rumpfbewegungen und ihrer ge
genseitigen Zuordnung eine wichtige Erweiterung des okularnotorischen Feldes
darstellt, ist das sich in einer kontinuierlichen Mannigfaltigkeit von okularno
torischen Feldern konstituierende neue »Objektfeld<< noch nicht der Raum und
die ihm eingeordneten »Objekte . . . noch immer keine Dinge<< (§ 63 ) . Der ke
phalomotorische Raum ist bestenfalls, d. h. wenn wir nicht bloß die »Drehung
des Kopfes um seine Grundachse<<, sondern auch eine bestimmte Reihe von
§ 3. Die kinästhetische Motivation der Konstitution von Ding und Raum 129
' Vgl. Asemissen, Hans Ulrich, Strukturanalytische Probleme der Wahrnehmung in der Phäno·
menologie Husserls: Kantstudien. Ergänzungshefte 73, Köln, 1957. - Claesges, Ulrich, Edmund Hus·
serls Theorie der Raumkonstitution, Den Haag, 1964.
130 4. Kapitel. Wahrnehmung, Ding und Raum
3 Vgl. Gurwitsch, Aron, »Beitrag zur phänomenologischen Theorie der Wahrnehmung«, Zeit·
schrift für philosophische Forschung, 13, 1959, S. 4 19-437.
4 Bernet, Rudolf, >>Endlichkeit und Unendlichkeit in Husserls Phänomenologie der Wahrneh
mung«, Tijdschrift voor Filosofie, 40, 1978[a], S. 25 1 - 269.
5 . Kapite l
Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen
Eine der Hauptaufgaben der Analyse des Gebietes der anschaulichen Akte
besteht dann darin, die verschiedenen Formen des Vergegenwärtigens von der
Grundform anschaulichen Bewußtseins, der Wahrnehmung (vgl. 4. Kapitel),
in ihren intentionalen Eigentümlichkeiten abzuheben. Die zunächst recht spe
ziell anmutende Aufgabe, auf deren Lösung Husserl jahrelang immer wieder
seine Bemühungen wandte, ließ ihn schließlich unvermutete Tiefendimensio
nen und Zusammenhänge des intentionalen Bewußtseinslebens erschauen, die
in ihrer Bedeutung für seine spätere Lehre von der konstituierenden, transzen
dentalen Subjektivität kaum überschätzt werden können.
Die ersten Anregungen zur Beschäftigung mit den anschaulichen Akten emp
fing Husserl von Brentano.3 Mehrfach erwähnt er dessen »unvergeßliches Kol
leg über > Ausgewählte psychologische und ästhetische Fragen<<<, in welchem
Brentano sich »nahezu ausschließlich um die analytische Klärung der Phanta
sievorstellungen im Vergleich mit den Wahrnehmungsvorstellungen mühte<<.4
Brentano gelangte in jenem Kolleg nach ausführlicher Diskussion der philoso
phischen Tradition von Aristoteles bis in seine Gegenwart zu folgender Bestim
mung: »Phantasievorstellungen sind unanschauliche oder uneigentliche
Vorstellungen, die sich anschaulichen Vorstellungen annähern. [ . . ] Die Grenze .
ist freilich verschwommen<< (G. d. Asth. , S. 86). Die Annäherung an die anschau
lichen Wahrnehmungsvorstellungen gründet nach Brentano darin, daß »die
Phantasievorstellungen sozusagen einen anschaulichen Kern enthalten<< (vgl.
S. 84), die meisten Phantasievorstellungen seien aber tatsächlich nicht Anschau
ungen, sondern Begriffe mit anschaulichem Kern (vgl. S. 83). Die von Erenta
no zur Geltung gebrachte Uneigentlichkeit der Phantasievorstellungen wie
übrigens auch der Vorstellungen von fremden psychischen Phänomenen sowie
der eigenen vergangenen und zukünftigen psychischen Phänomene (vgl. G. d.
Asth. , S. 83 f.) gegenüber der Eigentlichkeit der Wahrnehmungsvorstellungen
bestimmte Husserl zur Zeit der Logischen Untersuchungen durch den Aktcha
rakter der Bildlichkeit, durch die »Verbildlichende Auffassung<<, gegenüber dem
Aktcharakter der Selbstgebung des Gegenstandes in der Wahrnehmung.5
3 Zum Historischen vgl. die Einleitung des Hrsg., E. Marbach, in Hu XXIII, S. XLIII ff.
4 Vgl. Zitat in Hu X, S. XV f. bzw. Hu XXIII, S. XLIV - Vgl. z. B. auch E. Husserl, »Erinne
rungen an Franz Brentano«, München 19 19, S. 153 u. 157. - Große Teile aus Brentanos Vorlesun
gen »Ausgewählte Fragen aus Psychologie und Ä sthetik« wurden in einer von Frau F.
Mayer-Hillebrand redigierten Form als erstes Stück in den Band: F. Brentano, Grundzüge der Asthe·
tik, Bern 1959, aufgenommen; vgl. die Anmerkungen der Herausgeberin, S. 225 und ihr Vorwort,
bes. S. XIV.
; Vgl. z. B. V LU, § 14, S. 364. Diese frühe Lehre Husserls steht auf dem Boden der empiristisch
beeinflußten Theorie des Bewußtseins, die im Bewußtsein (übrigens wie auch immer entstandene)
präsente, erlebte Inhalte - Empfindungen und Phantasmen - annimmt, die je nach Aktcharakter
oder »Weise des Bewußtseins« verschiedenartige A uffassung, Deutung, Apperzeption erfahren, der-
§ 1 . Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung 133
Rein vom Gesichtspunkt des Bewußtseins her betrachtet würde sich so ein
Gegenstand der Phantasie, der Erinnerung oder Erwartung im Gegensatz zu
einem Gegenstand der Wahrnehmung in seiner Gegebenheit dadurch kennzeich
nen, daß er nicht als >>selbst gegenwärtig<<, >>leibhaft« oder sozusagen >>in eige
ner Person« erscheint (vgl. oben, S. 1 1 0), sondern daß er mir bloß vorschwebt,
daß es nur gleichsam so ist, als wäre er da, daß er mir >>im Bilde« (Phantasiebild,
Erinnerungsbild) erscheint. Das Gegensatzpaar von >>leibhaft« etc. und >>gleich
sam«, >>als ob« bezüglich der Erscheinungsweisen von Wahrnehmungs- bzw. Ver
gegenwärtigungsbewußtsein wird Husserl stets beibehalten. Sein Denkweg nach
den Logischen Untersuchungen führte ihn aber von der anfänglichen Theorie
der Bildlichkeit anschaulichen Vergegenwärtigens über eine konkret durchge
führte Analyse der tiefliegenden Unterschiede zwischen Bildbewußtsein und
reiner Phantasie bzw. Erinnerung und die Einbeziehung des inneren Zeitbe
wußtseins ( 1904/05) zur Lehre von der Reproduktion von Akten, d.i. zur Ein
sicht in das Wesen der intentionalen Implikation anderen (eigenen und dann
auch fremden) Bewußtseins im aktuell vollzogenen Bewußtsein.
In der konkreten Analyse ging Husserl gewöhnlich so vor, daß er durch mei
stens vom gewöhnlichen Sprachgebrauch geleitete erste Beobachtungen an ver
schiedenen verwandten Bewußtseinsarten einen >>Yergleichshorizont« schuf,
>>über den wir von vornherein verfügen müssen, um schrittweise jede dieser
Anschauungsarten [Wahrnehmung, Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung) (die
nur im Kontrast gegen die parallelen ihre eigentümlichen Wesenseigentümlich
keiten enthüllt) einer Wesenserkenntnis unterziehen zu können« (Ms. A VI 1 1
I , S . 67b, 1 9 1 1 / 12). Ohne i n unserem Rahmen auf die einzelnen Denkschritte
und häufigen Aporien eingehen zu können, sei versucht, wesentliche Ergebnis
se, die oft Jahre auseinanderliegen, als Glieder einer phänomenologischen Theo
rie der anschaulichen Vergegenwärtigungen zusammenzufassen. 6
Ganz allgemein betrachtet ist in der Analyse zu unterscheiden zwischen dem
Moment der Anschaulichkeit (mit ihren möglichen Graden der Lebendigkeit,
Angemessenheit, Klarheit, Dunkelheit, Leere) und dem Moment der Setzung
nicht diskutiert werden; es wird versucht, möglichst die schließlich von Husserl bevorzugten Be
zeichnungen zur Geltung zu bringen.
134 5. Kapitel. Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen
(der doxischen Modalitäten) der hier fraglichen Akte.7 Entscheidend für Bus
serls Lehre wurde der seit den Vorlesungen vom Wintersemester 1904/05 er
kannte »innige Zusammenhang zwischen intuitiven Akten und Zeitbewußtsein<<
(vgl. Hu X, S. 394). Denn erst durch den Rückgang auf den grundlegenden,
temporal interpretierten Unterschied von Impression (Gegenwärtigung) und Re
produktion (Vergegenwärtigung) gelang es Husserl, den Unterschied zwischen
der unmittelbaren Anschaulichkeit des Leibhaften (in der Wahrnehmung) und
der des Nichtleibhaften (in Phantasie, Erinnerung, Erwartung) verständlich zu
machen (vgl. Ms. A VI 11 I, S. 6 1 -95; Hu XXIII, v.a. Nr. 12, 1 3 , 14). Auf seiten
der Setzung ist zu scheiden zwischen Aktualität (Positionalität) und Inaktuali
tät (Neutralität). Die beiden Unterscheidungspaare: Gegenwärtigung - Verge
genwärtigung, Aktualität - Inaktualität werden von Husserl als sich kreuzende
bestimmt (vgl. Hu XXIII, Nr. 13 ( 1 9 10) und Nr. 16 ( 1 9 1 2)). So spricht er be
züglich des uns hier interessierenden Gebiets der anschaulichen Vergegenwärti
gungeil von setzenden Vergegenwärtigungeil (Erinnerung, Mitvergegenwärtigung,
Erwartung) und nichtsetzender Vergegenwärtigung (purer Phantasie) (vgl. Hu
XXIII, Nr. 12, wohl 19 1 0).8 Und der zur Zeit der Logischen Untersuchungen
Schwierigkeiten bereitende Unterschied zwischen purer Phantasie und dem nor
malen Bildbewußtsein wird schließlich terminologisch verallgemeinert als Un
terschied zwischen reproduktiver Phantasie (oder Vergegenwärtigung) und
perzeptiver, d. h. Vergegenwärtigung im Bilde, in bildlieber Darstellung (vgl.
z. B. Hu XXIII, Nr. 1 6 und Nr. 1 8a ( 1 9 1 8)).
Versuchen wir nun nacheinander eine etwas genauere Vorstellung zu gewin
nen a) von der im inneren Zeitbewußtsein begründeten Unterscheidung zwi
schen Impression und Reproduktion, d. h. von der reproduktiven Modifikation,
b) vom Aspekt der Setzung bzw. Neutralisierung, d. h. von der qualitativen
Modifikation, und c) von der Eigenart des Bildbewußtseins in Abhebung von
den reproduktiven Vergegenwärtigungen.
a) In seinen Vorlesungen von 1 904/05 kam Husserl zum Ergebnis, daß pure
Phantasie bzw. Erinnerung als reines, schlichtes Vergegenwärtigungsbewußtsein
scharf von der Wahrnehmung als dem Gegenwärtigungsbewußtsein, aber auch
7 Diese beiden Momente kommen übrigens auch im gewöhnlichen Sprachgebrauch mehr oder
weniger ausdrücklich zur Geltung. Im deutschen Worte Einbildung (ebenso in »i maginatio« und
Abwandlungen in den lateinischen Sprachen) steckt einerseits das Moment der Anschaulichkeit
im Sinne der Verbildlichung (Einbildung; imago); andererseits zeigt die geläufige Rede von »bloßer
Einbildung<<, »bloßem Schein« an, daß wir ein Bewußtsein der Unwirklichkeit bezüglich des Vor·
gestellten haben, daß wir, was wir uns so »einbilden«, nicht als Wirklichkeit setzen, daran nicht
»glauben« (vgl. Hu XXIII, z. B. Nr. 1 , § 8.).
8 Husserl versucht bisweilen auch neben der setzenden Gegenwärtigung (Wahrnehmung) von
nichtsetzender Gegenwärtigung zu sprechen und führt als angebliches Beispiel dafür das Bildob
jektbewußtsein an (vgl. z. B. Ideen I, § 1 1 1 ; Hu XXIII, z. B. Nr. 13 u.a.).
§ 1 . Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung 135
Akte stellt Husserl die Möglichkeit des Übergangs vom setzenden Vorstellungs
akt zu einem Akt bloßer Vorstellung derselben Aktmaterie (vgl. oben, S. 88 f.),
und umgekehrt, heraus (vgl. V. LU, S. 435, 448). Es handelt sich also nicht um
einen Übergang von einer Aktqualität (Klasse) in eine andere - nicht z. B. um
den Übergang von einer Wahrnehmungsvorstellung zu dem komplexen Akt der
Freude, der einer neuen, fundierten Aktqualität (Klasse) angehört. Es handelt sich
um eine »qualitative Modifikation<<, d. h. eben um eine innerhalb derselben Akt
qualität mögliche Modifikation der Qualität >Vorstellung<: statt eine Vorstellung
ursprünglich, aktuell, zu vollziehen als setzenden, glaubenden Akt, ist es mög
lich, sie als bloße Vorstellung zu vollziehen, als nichtsetzenden Akt, den >>Glau
ben<< (belief) dahingestelltseinlassend. Diese qualitative Modifikation ist nicht
iterierbar. >>Hat sich das > Glauben< in > bloßes Vorstellen < verwandelt, so kön
nen wir höchstens zum Glauben zurückkehren; aber eine sich in gleichem Sin
ne wiederholende und fortführende Modifikation gibt es nicht<< ( V. LU, S. 452).
Die Ideen I führen die Neutralitätsmodifikation als universale Modifikation
von Bewußtsein überhaupt ein. Zuunterst liegt die Urdoxa (der Urglaube) des
wahrnehmenden Bewußtseins, auf die alle Glaubensmodifikationen (Anmutung,
Vermutung, Zweifel, Frage etc.) eben als doxische Modalitäten des Urglaubens
zurückbezogen sind. Auch die nichtdoxischen Akte (die nichtobjektivierenden
im Sinne der Logischen Untersuchungen: z. B. Wünschen, Begehren, Sich-freuen
etc.) weisen intentional auf die Urdoxa zurück. Die Verallgemeinerung liegt dar
in, daß Husserl alle Akte als setzende (thetische) Akte versteht (worunter die
doxischen Akte die spezielle Klasse der seinssetzenden Akte bilden), die ihr mög
liches Gegenstück in neutralen Akten als Gegenstücken alles >>Leistens<< haben
(vgl. v.a. § 1 09 und § 1 1 7) _ 11
Die pure Phantasie nun faßt Husserl als Neutralitätsmodifikation einer spe
ziellen Art von Setzungen, nämlich der setzenden Vergegenwärtigungen. Der
Terminus > Erinnerung< dient ihm in den Manuskripten (vgl. z. B. Hu XXIII,
S. 246, S. 396) und so auch im § 1 1 1 der Ideen zur Bezeichnung der setzenden
Vergegenwärtigungen als Vorvergegenwärtigung, Mitvergegenwärtigung, Wie
dervergegenwärtigung in ihrer reproduktiven Struktur. Insofern in Husserls Sicht
allem Erleben als originärem Bewußtsein vom Erlebnis Erinnerungen von ihm
als mögliche Parallelen entsprechen (Ideen, § 1 1 1 , S. 225), erweist sich auch die
Phantasiemodifikation als Neutralitätsmodifikation der Erinnerung von univer
saler Bedeutung (S. 224). Ganz allgemein gesagt verhält es sich beim Phanta-
11
Eine kritische Diskussion dieser Verallgemeinerung der Neutralisierung findet sich in I. Kern
( 1 975), S. 146 ff. Bemerkenswerterweise scheint Husserl selbst zeitweise auch im Falle der Wahr
nehmung, der Urdoxa, die Neutralisierung für unmöglich erachtet zu haben; vgl. Hu XXIII, z. B.
Nr. 1 5j ( 1 9 1 2); vgl. auch Logische Untersuchungen, S. 455 f.
138 5. Kapitel. Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen
sieren danach so, daß ich, welche Erlebnisse auch immer, nicht wirklich erfah
re, sondern in neutralisierender Weise, d. h. ohne Glaubenssetzung, unter Ein
klammerung oder Dahinstellen jeder Bewußtseinsleistung, mir all die Erlebnisse
nur (einbildend) vergegenwärtige, nur irraktuell vollziehe. Ich phantasiere mich
selbst in ein Erfahren hinein (mich selbst dabei in die Phantasiewelt hineinzie
hend oder nicht), ich fühle, als ob ich erfahren, sehen, hören, sprechen, zwei
feln, fragen, wollen, begehren etc. würde. Die ganze, sei es zusammenhängende
Phantasiewelt, sei es zusammenhangslose Abfolge einzelner Phantasiesituatio
nen ist gegeben in der Modifikation des Als-ob, ohne Vollzug von Glaubens
oder Setzungsbewußtsein, als Unwirklichkeit (vgl. z. B. Hu XXIII, v.a. Nr. 1 5 ,
Nr. 1 8 a).
Demgegenüber ist es für die setzenden Vergegenwärtigungen wesentlich, daß
ich sie im Bewußtsein der Aktualität des Glaubens vollziehe. Es ist zum Bei
spiel im Falle einer Erinnerung nicht einfach irgendeine eingebildete Erlebnis
abfolge setzungslos vergegenwärtigt, sondern die reproduktiv vollzogenen
Erlebnisse sind im >>Wieder<<-Bewußtsein, das ein >>Glaubensbewußtsein« ist, ge
geben (vgl. z. B. Hu XXIII, Nr. 1 1 , 12, 1 3). Das heißt vor allem auch, daß ih
nen vorwärts- und rückwärtsweisende Intentionen unabtrennbar anhaften, die
ihnen Einordnung in den Gesamtzusammenhang meines vergangenen Bewußt
seinsstromes verleihen (vgl. z. B. Hu XXIII, Beilage XXIX, wohl 1 9 1 0). Analo
ge Verhältnisse würden für Vorvergegenwärtigungen bezüglich künftiger Er
fahrung gelten (vgl. z. B. Hu XXIII, Nr. 1 3 , 1 9 1 0). Dieses setzende, glaubende
Bewußtsein bedeutet selbstverständlich nicht, daß ich mich bezüglich verge
genwärtigter Situationen nicht täuschen, irren könnte. Täuschung ist vielmehr
allgemein gesagt in zweifacher Hinsicht möglich: bezüglich des reproduzierten
Aktes (ich hatte es nicht gelesen, sondern es wurde mir erzählt) oder bezüglich
des vergegenwärtigten Gegenstandes (es war nicht x, sondern y). Es ist indessen
für die setzenden Vergegenwärtigungen charakteristisch, daß ich eben sozusa
gen Setzung gegen Setzung ausspiele, mich auf dem Boden der Doxa und
all der möglichen doxischen Modalitäten bewege und, solange ich der Erinne
rungstäuschung nicht gewahr werde, eben glaube, setze: es war so oder, es be
zweifelnd, mich frage: war es so oder war es nicht vielmehr so? (vgl. Hu XXIII,
Nr. 1 5 , bes. auch Beil. XXXVII, 1 9 1 2). Idealiter wäre es möglich, von der erin
nerten Vergangenheit oder der antizipierten Zukunft kontinuierlich bis zum
aktuellen Jetzt die Erlebnisabfolge zu reproduzieren, während eine derartige
Kontinuität im Falle der reinen (ohne Mischung mit jetzt oder einst aktueller
Erfahrung bewußter) Phantasie keinen Sinn gibt. Denn die Phantasiewelt ist
ganz und gar eine Welt-im-als-ob, ohne absolute Raum- und Zeitlage in der ob
jektiven Raum-Zeitlichkeit (vgl. z. B. EU, v.a. §§ 3 8 -42; Hu XXIII, v.a. Beilage
LVI; Nr. 19a).
§ 1 . Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung 139
sierter Gegenständlichkeiten ist also nicht möglich, ich bin anschaulich entwe
der der Gegenwart oder einer Nichtgegenwart zugewendet. Es besteht aber »Zwi
schen allen Erlebnissen eines Ich eine zeitliche Einheit<<, und so »besteht aufgrund
des Zusammen-konstituiert-seins im Fluß eines inneren Zeitbewußtseins die Mög
lichkeit der Herstellung eines anschaulichen Zusammenhanges zwischen allen
darin konstituierten Gegenständlichkeiten« (EU, § 42a, S. 206 f.). Dieser von
Husserl im Zusammenhang der Analyse der anschaulichen Vergegenwärtigun
gen herausgearbeitete vereinheitlichende Ichbezug wird im Kapitel »Ich und Per
son« etwas näher zur Sprache kommen; er gehört durchaus zur Analyse der
Wesensmomente anschaulicher Vergegenwärtigungen mit.
c) Ein gegenüber der Verdeckung andersartiges, wenn auch verwandtes Phä
nomen stellt Husserl unter den Titel der >>Durchsetzung« oder >>Durchdringung
mit Widerstreit« von Anschauungen. Dieses Phänomen sieht er beim gewöhn
lichen Bildbewußtsein, d. h. bei der nicht mehr rein reproduktiven, sondern
bei der perzeptiv fundierten Vergegenwärtigung verwirklicht (vgl. v.a. Nr. 1, Nr.
16, Nr. 17, Beil. IX, Beil. L sowie die meisten mit dem Bildbewußtsein sich
befassenden Texte in Hu XXIII). Es ist nicht leicht, Husserls Lehre vom Bild
bewußtsein in Kürze zusammenzufassen, da er oft recht schwankend ist. Ei
nen wesentlichen Punkt bildet die Abgrenzung vom Pikturnbewußtsein (Illusion),
von welchem Husserls frühe Analyse mit ihrem Akzent auf den widerstreiten
den Intentionen das Bildbewußtsein wohl zu wenig klar differenziert. Zunächst
orientierte Husserl seine Analyse auch zu stark am Gedanken der Abbildlich·
keit, wie er im Porträt vorliegt, während er später bei der Erörterung der
ästhetisch·künstlerischen Darstellung >>Bildlichkeit im Sinn der perzeptiven Phan
tasie als unmittelbare Imagination« ohne Abbildlichkeitsfunktion zu fassen ver
sucht (vgl. Hu XXIII, Nr. 1 8 b, S. 5 1 4 ff. , 1 9 1 8).
Was ist das, Vergegenwärtigen im Bilde, zunächst verstanden als Abbildbe
wußtsein (Fotos, Porträt- oder Landschaftsmalerei, Plastik)? Husserl unterschei
det drei Typen von Obj ekten, die im Bildbewußtsein impliziert sind: 1) Das
Bild als physisches Ding an der Wand, die Leinwand oder das Fotobildehen aus
Papier, das da hängt, zerrissen sein kann etc. wie irgendein physisches Objekt.
Dieses ist wahrnehmungsmäßig gegeben. 2) Das geistige Bildobjekt, das so und
so in seinen Farben und Formen >>wahrnehmungsmäßig<<, >>perzeptiv«, jedoch
nicht als Realität aufgefaßt erscheint. Im Bildbewußtsein lebend ist mir dieses
Bildobjekt anschaulich gegeben: In ihm fasse ich die verähnlichenden Züge als
solche auf, d. h. als darstellend für 3) das Bildsujet, z. B. die lebendige Person
oder die Landschaft selbst. Fundamental ist die Ahnlichkeitsbeziehung zwischen
dem Erscheinenden und dem Abgebildeten. Das nichtgegenwärtige Sujet er
scheint dabei nicht noch ein zweites Mal neben der Bildobjekterscheinung (außer
wenn das Sujet zufällig außerhalb des Bildraumes auch noch präsent ist), vielmehr
§ 1 . Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung 141
erscheint es, bildet es sich ab oder stellt sich dar im gegenwärtigen Bildobjekt
selbst. Im erscheinenden Bildobjekt schaue ich immanent das Sujet: im photo
graphischen Bild den Freund. Die doppelte Gegenständlichkeit: erscheinendes
Bild, abgebildete Sache stammt im Bildbewußtsein also nicht etwa aus zwei ge·
trennten, bloß vergleichend in Ähnlichkeitsbeziehung tretenden Auffassungen,
vielmehr durchdringen sich in der bildliehen Vorstellung nach Husserl zwei Auf
fassungen in einem Fundierungsverhältnis derart, daß die für das Bildobjekt
konstitutive objektivierende Auffassung gleichzeitig die Grundlage abgibt für
diejenige Vorstellung, die mittels des Bildobjekts die andere, nichtgegenwärtige
Gegenständlichkeit (das Sujet) konstituiert, nämlich für die in sich selbst un
selbständige bzw. eben fundierte Ahnlichkeitsrepräsentation, die die Beziehung
auf das Sujet herstellt (vgl. Hu XXIII, Nr. 1, bes. § 14). Die bewußte Beziehung
auf das Sujet ist Bewußtsein der Vergegenwärtigung eines Nichterscheinenden im
Erscheinenden aufgrund der Ähnlichkeit (ebd.).
In den Vorlesungen von 1904/05 analysiert Husserl vor allem das Widerstreits
verhältnis zwischen der Bildobjekterscheinung und dem physischen Bildding.
Auf dem Boden des Inhalts-Auffassungs-Schemas stellt er heraus, daß die sinn
lichen Inhalte für das Bildding wie für die Bildobjekterscheinung dieselben zu
sein scheinen, während es ausgeschlossen ist, daß aufgrund derselben Inhalte
gleichzeitig zwei Erscheinungen auftreten können. Weil die auch während des
im Bildbewußtsein-Lebens wahrnehmungsmäßig konstituierte Welt fortdauernd
mitbewußt ist und das Bildding als physisches Ding ja selbst in diesen einheitli
chen Wahrnehmungszusammenhang hineingehört, tritt nun, insofern dem Bild
ding durch die bildliehe Auffassung die sinnlichen Inhalte sozusagen geraubt,
nämlich für die Konstitution des Bildobjekts in Anspruch genommen werden,
ein Widerstreit oder Konflikt zwischen Bildding und Bildobjekt auf, die Bild
objekterscheinung mit ihrer vergegenwärtigenden Beziehung auf das Sujet
»siegt<<, aber sozusagen um den Preis der Wirklichkeit: Das Bildobjekt hat den
Charakter der Irrealität, des bloßen Scheines inmitten der wahrnehmungsmäßig
erscheinenden Bildumgebung (vgl. Hu XXIII, Nr. 1, v.a. die zusammenfassen
de Darstellung in § 14 und § 25). Andererseits betont er in diesen Vorlesungen
auch stark das Widerstreitsverhältnis >>zwischen der Bildobjekterscheinung und
der sich damit verschlingenden oder vielmehr sich mit ihr überschiebenden
Vorstellung des Sujets« (§ 25, u.a.), das eben auf dem Verhältnis geringerer oder
größerer Ähnlichkeit zwischen Darstellung und Dargestelltem beruht. In an
deren Aufzeichnungen (vgl. Hu XXIII, z. B. Beil. I, § 1 3 ; Beil. VII, VIII) weist
Husserl auch auf den >>empirischen Widerstreit« zwischen dem Erscheinenden
und dem durch die empirische Erfahrung Geforderten hin (>>Menschen in pho
tographischen Farben gibt es nicht«).
Daß es sich beim Schein- oder Unwirklichkeitsbewußtsein im Falle eines
142 5. Kapitel. Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen
§ 2. Fremderfahrung
Da Husserl in den von ihm veröffentlichten Schriften erst in der Formalen und
transzendentalen Logik ( 1929) und den Meditations Cartesiennes ( 193 1) ausführ
licher von der Fremderfahrung (Erfahrung des Andern) und Intersubjektivität
spricht, konnte man lange glauben, daß er sich erst im hohen Alter diesen Pro
blemen widmete. Die Nachlaßveröffentlichungen der Husserliana, besonders
der Bände XIII, XIV und XV Zur Phänomenologie der Intersubjektivität,
machten aber offenkundig, daß er sich schon von recht früh an, nämlich etwa
ab 1905, immer wieder mit diesen Fragen auseinandersetzte. In den Logischen
Untersuchungen ( 1901) hatte er in der Erörterung des sprachlichen Ausdrucks
und seiner Bedeutung von der kommunikativen Funktion der Sprache ausdrück
lich abgesehen und so die hier in Frage kommende Problematik der Intersub-
144 5 . Kapitel. Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen
20
Siehe a.a.O., Texte Nr. 8 bis 1 3 .
21
A.a.O. , Text Nr. 8 .
22
A.a.O. , S. 254 Anm. 3.
23 Siehe H u XIV, S. 1 ff.
24 A.a.O., S. 393 ff.
25 Veröffentlicht in Hu I.
16
Vgl. Hu XV.
27
Vgl. etwa Hu XIII, Text Nr. 8 .
28
Hu I, S. 124.
146 5. Kapitel. Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen
Es ist nicht leicht zu fassen, was diese Eigenheits- oder primordinale Sphäre
ist, und in Busserls diesbezüglichen Überlegungen sind oft zwei Begriffe mit
einander vermischt, die eigentlich systematisch aus verschiedenen Kontexten
stammen. Diese zwei verschiedenen Begriffe haben dies gemeinsam, daß beide
eine Sphäre des Ich bezeichnen, die negativ durch die Ausschaltung alles Frem
den, alles fremden Bewußtseins bestimmt ist. Die Eigenheits- oder Primordi
nalsphäre bedeutet nun aber für Busserl einmal in einer positiven Bestimmung
die Sphäre der denkbar ursprünglichsten Selbstgegebenheit29, die Sphäre der
>>bestdenkbaren Originalität«30; und >>Primordinalität<< scheint bei ihm ur
sprünglich für >>primordinale Originalität<< zu stehen.31 Der Andere, verstan
den als fremdes Bewußtsein und das darin Bewußte, ist nicht in dieser
Originalität gegeben: >>Wäre das der Fall, wäre das Eigenwesentliche des An
dem in direkter Weise zugänglich, so wäre es bloß Moment meines Eigenwe
sens, und schließlich er und ich selbst einerlei.<<32 Was diesen durch die Origi
nalität bestimmten Begriff der Primordinalität besonders charakterisiert, ist dies,
daß meine Erfahrungen vom Andern, die sog. Einfühlungen des Ich, mit in
diese so bestimmte primordinale Sphäre hineingehören3l, denn die Einfühlun
gen des Ich sind ja dessen eigene Erlebnisse und ihm, im Gegensatz zu fremden
Erlebnissen, in der bestdenkbaren Originalität selbstgegeben.
Die so bestimmte Primordinalsphäre oder Eigenheitssphäre ist also keines
wegs eine solipsistische Sphäre, denn sie umschließt auch die Erlebnisse des ego
von den Andern; was ausgeschaltet ist, sind nur die intentionalen Korrelate (Noe
mata) dieser Erlebnisse. Diese Sphäre umspannt überhaupt alle Erlebnisse des
Ich: >>Die primordinale konkrete Subjektivität umgreift alle Bewußtseinswei
sen, also auch die einfühlenden und die den Ausdruck von Personen in Sachen
verstehenden. Sie umfaßt sie als original erfahren und erfahrbar. Sie umfaßt
die Bewußtseinsweisen, in denen Natur, Geist in jedem Sinn, menschlicher und
tierischer Geist, objektiver Geist als Kultur, geistiges Sein als Familie, Verein,
Staat, Volk, Menschheit, in Geltung ist ... <<34 Diese >>Originalsphäre<<, wie Bus
serl auch sagt, bezeichnet also das dem Ich in seiner Gesamterfahrung direkt
Zugängliche, sie ist der Inbegriff dessen, was in allen Erfahrungen des Ich im
Original selbstgegeben und nicht bloß indirekt vermeint ist. Aber sie kann kei
nen konkreten, d. h. selbständig möglichen Teil, keine selbständige Stufe im
konstitutiven Aufbau der Erfahrung ausmachen. Sie ist vielmehr etwas in mei-
29 A.a.O., S. 133.
3 0 Hu XV, S. 10.
3 1 Vgl. Hu XIV, S. 389 f.
" Hu I, S. 139.
" A.a.O. , S. 125, 1 3 1 ; vgl. Hu XV, S. 6/7, 8 , 11, 12.
34 Hu XV, S. 559.
§ 2. Fremderfahrung 1 47
schiebt des Ich, die der höheren Schicht der Fremderfahrung als Fundament zu
grundeliegen soll. Unter der Leitung eines solchen Begriffs der Primordinal- oder
Eigenheitssphäre kann Husserl auch die Selbständigkeit dieser Sphäre behaup
ten43 und diese Sphäre durch ihre Unabtrennbarkeit vom Ich definieren4\ wäh
rend dies nach dem ersten Begriff (Originalsphäre) nicht anginge, da die Andern
als intentionale Korrelate der zur Originalsphäre gehörigen Einfühlungen unab
trennbar sind. 45 Während die Eigenheits- oder Primordinalssphäre im Sinn der
Originalität ein durch alle Erfahrungen des ego hindurchgehendes unselbständi
ges Moment ist46, ist sie im Sinn der solipsistischen Sphäre ein selbständiges
Fundament, eine »Unterschicht<< der Erfahrung47, die nur eine bloße »Natur«
unter Ausschluß aller geistigen oder Kulturprädikate zur Gegebenheit bringt.48
Husserl ist sich dieser Doppeldeutigkeit der »Eigenheits- oder Primordinal
sphäre« bewußt geworden, aber wohl erst nach der Niederschrift der Cartesia
nischen Meditationen. In einem Text, den er nur wenige Monate nach diesem
Werk verfaßte, schreibt er: »Die solipsistisch reduzierte Welt ist nicht zu verwech
seln mit der primordinalen Welt, oder die solipsistische Reduktion nicht mit der
primordinalen Reduktion. Denn diese ist die Reduktion dessen von der Welt,
die ich erfahrungsmäßig in Geltung habe, auf das von ihr, was ich originaliter
erfahre und je erfahren kann. Damit reduziere ich mich auf mein primordina
les Ich als Schichte meines konkreten Ich. Zum Primordinalen gehören alle meine
einfühlenden Erfahrungserlebnisse, nicht aber die darin wenn auch rechtmä
ßig erfahrenen Andern. Und ähnlich mit allen Bestimmungen der intersubjek
tiven Kultur.«49 In einem Text von 1 934 spricht Husserl von einer >>Wesens
mäßig begründeten Doppeldeutigkeit der Rede von der Primordinalität«: >>Im
ursprünglich methodischen Sinn bedeutet es die Abstraktion, die ich, das ego
der reduktiven Einstellung, phänomenologisierend vollziehe, indem ich abstrak
tiv ausscheide alle > Einfühlungen<. Sage ich nachher >primordinales ego <, so
nimmt es die Bedeutung der urmodalen Monade an, in welche die urmodale
Einfühlung mitaufgenommen ist . . . «50. Nach diesem Text wäre also der ur
sprüngliche Sinn der Primordinalität der solipsistische. Aber in den Cartesiani
schen Meditationen wird davon ungeschieden auch zugleich der durch die
Originalität bestimmte eingeführt. 51
5 1 Cart. Medit. , S . 1 2 5 .
§ 2. Fremderfahrung 149
Tatsächlich spielt für den Ausgangspunkt von Husserls Analyse der Fremd
erfahrung der solipsistische Begriff die dominierende Rolle: Husserl geht aus
von einer bloßen Unterschicht der Erfahrung, nämlich von einer (abgesehen
von der >>psychophysischen<< Selbsterfahrung) bloßen »Natur-<< oder »Körper<<
Erfahrung (wobei »Natur<< und »Körper<< hier gemäß der primordinalen Epo
che keinen intersubjektiven Sinn, nicht den Sinn »Natur für jedermann<< hat),
und er fragt, wie auf dieser Unterschicht die Erfahrung von andern psychischen
Wesen als höhere Erfahrungsstufe motiviert ist.52 Auf diese Unterschicht ist al
lerdings auch der durch die Originalität bestimmte Primordinalitätsbegriff an
wendbar, so daß unter dem Gesichtspunkt dieses Begriffs für Husserl das
Problem der Fremderfahrung darin besteht, wie deren Intentionalität »ein Mit-da
vorstellig macht, das selbst nicht da ist, nie ein Selbst-da werden kann<<, m.a.W.,
wie die Fremderfahrung als eine nie in eine Präsentation überzuführende »Ap
präsentation<<53 möglich ist. 54
58 Ebenda.
59 A.a.O., S. 142.
60 Ms. F I 32, S. 168a ( 1 927); z. B. zwei ähnliche rote Flecken auf einem Bilde.
61 Cart. Medit. , S. 143.
62
Vgl. Hu XIII, Beilage XVI.
63 Cart. Medit. , S. 143.
64 Ebenda.
§ 2. Fremderfahrung 151
nie zur originalen Gegebenheit kommen kann. Die fremden psychischen Be
stimmungen bewähren oder bestätigen sich nach Husserl dadurch, daß sie mit
der original wahrgenommenen Körperlichkeit in einem fortgesetzten gegensei·
tigen Motivationszusammenhang stehen: >>Wenn ich einen meinem Leibkörper
ähnlichen äußeren Körper als Leib auffasse, so übt dieser fremde Leibkörper
vermöge dieser Ähnlichkeit die Funktionen der Appräsentation in der Mise des
>A usdrucks<. Dazu gehört, daß eine mannigfaltige und sich in typischer Weise
fortentwickelnde Innerlichkeit mitgesetzt ist, die ihrerseits dann fordert eine
entsprechende Äußerlichkeit, die dann der Vorerwartung von innen her gemäß
auch wirklich eintritt. Wo die appräsentierende Auffassung so erfolgt und sich
in dieser Weise in sich selbst durch Fortgehen entsprechender Ausdrücke bestä
tigt, da hält sich die Appräsentation aufrecht.<<65 Husserl mag hier etwa an Bei
spiele folgender Art denken: Ich fasse einen äußeren Körper aufgrund seiner
Ähnlichkeit mit meinem Leib als wahrnehmenden, auch sehenden Leib auf.
Ich sehe nun, daß dieser Leib sich auf einen Graben zubewegt und fasse ap
präsentativ mit auf, daß er diesen Graben sieht. Ich erwarte als Motivationsfol
ge, daß er vor dem Graben anhält oder über ihn springt, also sich irgendwie
zu ihm verhält und nicht wie ein toter Gegenstand einfach hinunterrollt - und
tatsächlich hält er etwa, für mich original wahrnehmbar, vor dem Graben an.
Also nicht nur motiviert das original wahrnehmbare Außen ein original nicht
wahrnehmbares Innen, sondern auch das nicht original wahrnehmbare Innen
motiviert ein original wahrnehmbares Außen, und indem dieses für mich wahr
nehmbar eintritt, bestätigt es das nicht zugängliche motivierende Innen. Hus
serl denkt aber auch an andere Arten von Beispielen: >>Evtl. erzeugen wir, in
unsere Umwelt eingreifend, Vorkommnisse, die sich dem Sinn der Einfühlung
gemäß auch in der fremden Innen-Umwelt in entsprechenden Erscheinungs
weisen zeigen müssen und dann gemäß der wirksamen Analogie Motive für
das Verhalten des Anderen ergeben, die sich ausdrücken muß, sei es in seiner
Leiblichkeit, sei es in weiteren Äußerungen, in seinen Handlungen, in lautli
chen etc.<<66 Weiter bestätigt sich der >>Gehalt psychischer Bestimmungen« des
Andern, sofern er zweckmäßig ein von mir original wahrnehmbares Werk her
vorbringt, wie ich dergleichen als von mir selbst zwecktätig erzeugte kenneY
Oder: >>Ein ausgezeichneter Fall ist der, wo der Andere als auf mein Ich und
mein Ichliches bezogen interpretiert wird und ich dies nun wirklich erlebe. Die
65 Hu XIV, S. 249; vgl. S. 284, 493. Die entsprechende Stelle in den . . scheint mir ver·
darben zu sein (S. 144, Zeilen 1 3 - 20). Das Busserlsehe Originalmanuskript dieses Textes ist nicht
mehr vorhanden, sondern nur eine Abschrift und teilweise Bearbeitung seines damaligen Assisten·
ten E. Fink.
66 Hu XIV, S. 249.
68 A.a.O. , S. 504.
69 A.a.O. , S. 503 .
7° Cart. Medit. , S. 144.
71 A.a.O., S. 146 f.
§ 2. Fremderfahrung 153
primordinale Eigenheit als Monade hat den Gehalt des Hier und nicht den ir
gendeines und so auch jenes bestimmten Dort . . . Eines und das andere schließt
sich aus, es kann nicht zugleich sein.<<72 Der Körper dort assoziiert Erlebnisse
»wie wenn ich dort wäre<<, die aber nicht meine wirklichen Erlebnisse sein kön
nen, da ich hier bin. Es ist also die primordinale Unverträglichkeit der durch
den dortigen Körper appräsentierten subjektiven Situation mit der eigenen Si
tuation, die jene als fremde konstituiert. Der Andere ist also nicht nur dadurch
Anderer, daß seine Erlebnisse mir nicht original gegeben sein können, sondern
primär dadurch, daß er in einer subjektiven Situation erfahren wird, die prin
zipiell nicht die eigene sein kann: Er ist ein anderer >>Gesichtspunkt«.
Das ist die Hauptlinie von Husserls Gedanken über die Fremderfahrung auf
der Entwicklungsstufe der Cartesianischen Meditationen. Seine aus dem Nach
laß veröffentlichen Analysen73 sind aber weit differenzierter. So unterscheidet
er z. B. zwischen eigentlicher und uneigentlicher Einfühlung: In der uneigentli
chen Fremderfahrung ist nur das Körperliche des Andern wirklich anschau
lich vorgestellt, während das Seelische bloß assoziativ leer mitgeweckt ist (leere
Appräsentation). Diese uneigentliche Fremderfahrung ist die Grundlage einer
naturwissenschaftlichen Betrachtung des Menschen und der Lebewesen über
haupt. Demgegenüber lebt das Subjekt in der eigentlichen Fremderfahrung,
die Husserl auch als >>absolut einfühlende Kenntnisnahme« bezeichnerl\ gleich
sam im Andern, indem es sich anschaulich in die Motivationen seiner Situa
tion hineinversetzt (erfüllte Appräsentation). Diese eigentliche Fremderfahrung
ist Grundlage einer geisteswissenschaftlichen Betrachtung des Menschen.75
Auf der Grundlage dieser Analyse der Fremderfahrung oder Einfühlung er
örtert Husserl im weiteren auch das Problem der Intersubjektivität der Welrl6
wie auch die eigentlichen sozialen Akte, die Husserl als Akte des Sich-an-den
Andern-Wendens von der bloßen Einfühlung unterscheidet. 77 78 u.
72 A.a.O., S. 148.
73 In Hu XIII, XIV und XV.
74 Hu XIII, S. 445.
75 A.a.O., Text Nr. 16, §§ 9 - 13; Beilagen LV, LVI
76 Hu XIII, Text Nr. 14, Cart. Medit. , § 55
77 Hu XIV, Texte Nr. 9 und 10, Beilagen XXIII, XIV u.a.
78 Ausgewählte Literatur
zum 5. Kapitel, § 1: E. Fink ( 1966): S. 1 - 78; Th. Conrad ( 1 968); H. Kunz (1946); R. Sokolowski
( 1 978);
zum 5. Kapitel, § 2: D. Franck ( 198 1); A. Schütz ( 1971): S. 86- 1 1 8 ; M. Theunissen ( 1 965); B. Wal
denfels ( 1971).
6. Kapitel
Urteil und Wahrheit
Husserls ganzes frühes Werk ist deutlich auf die Lösung der hier anstehenden
Frage nach der Urteilswahrheit hin angelegt. Die Erarbeitung eines spezifisch
phänomenologischen Zugangs zum Bewußtsein und die sich darauf aufbauen
de intentionale Strukturanalyse der Wesensverfassung des Bewußtseins und der
Typen von Bewußtseinsleistungen findet ihre Krönung in der phänomenologi
schen Untersuchung der Erkenntnisakte im prägnanten Sinn. Zwar haben wir
in der Analyse der sinnlichen Wahrnehmung und ihrer konstitutiven Funk
tion bereits eine erste Form kognitiver Leistung kennengelernt, doch erst die
höherstufigen Urteilsakte und die mit ihnen assoziierten Akte eigentlichen Den
kens sind Erkenntnisakte im prägnanten Sinn. Und erst die erkenntnistheore
tische Untersuchung des Zusammenhangs von bedeutungsvollem Sprechen und
eigentlichem Denken vermag der eingangs skizzierten, objektiv gerichteten rei
nen Logik ihr phänomenologisches Fundament zu liefern. Die Einsicht, daß
die idealen Begriffe und Gegenstände der reinen Logik in diesen prägnanten,
kategorialen Erkenntnisakten kein letztes Fundament haben, sondern durch diese
Akte kategorialer > Anschauung< hindurch auf die sinnliche Anschauung sach
haltiger Individuen bezogen bleiben, bildet wohl das originellste Ergebnis die
ser durch die Frage der Fundierung geleiteten erkenntnistheoretischen Betrach
tung. Wir können jedoch erst dann in die genauere Untersuchung dieses er
kenntnistheoretischen Fragenkomplexes eintreten, wenn wir uns zuvor ein nä
heres Verständnis für Husserls Sprachtheorie und insbesondere seinen Begriff
des bedeutungsvollen, intentionalen Sprechaktes erarbeitet haben.
Die Lehre der Logischen Untersuchungen vom (prädikativen) Urteil sowie von
den sprachlichen Aussagen überhaupt ruht auf einer Reihe von Vorentschei
dungen, die für den heutigen Leser nichts weniger als selbstverständlich sind.
Diese , Basissätze < der Busserlsehen Bedeutungs- und Urteilstheorie betreffen
einerseits die Natur sprachlicher Aussagen und andererseits die Natur des Be
deutungsgehaltes dieser Aussagen. Sprachliche Aussagen sind für Husserl A us·
drücke, d. h. äußerliche, zeichenhaft vermittelte Darstellungen eines innerlichen
Vermeinungs- bzw. Denkprozesses. Ihre Bedeutung verdanken diese sprachli
chen Zeichen im wesentlichen dem (subjektiven) Vollzug intentionaler Akte,
§ 1 . Ausdruck, Bedeutung und intentionales Bewußtsein 155
Isomorphie von Denken und Sprechen als ein Repräsentations- bzw. Darstel
lungsverhältnis zu verstehen, d. h. die sprachlichen Zeichen haben eine bloß
sekundäre Funktion, sie dienen eigentlich bloß der äußeren Dokumentation
innerer Denkprozesse. Der äußerlich-öffentlichen Verwendung der Zeichen kann
diesem Ansatz zufolge somit keine sinnstiftende Funktion zugemessen werden.
In der I Logischen Untersuchung, die den Titel »Ausdruck und Bedeutung<<
trägt, ist die Busserlsehe Reduktion sprachlicher Aussagen auf ideal-sprachliche
Repräsentationsverhältnisse und dieser wiederum auf die zum sprachlichen Aus
druck kommenden denkmäßigen Bedeutungsintentionen besonders deutlich faß
bar. Charakteristisch für diese Tendenz ist insbesondere Husserls Behandlung
sowohl der okkasionellen Ausdrücke (der sog. >>shifters«) als auch der sprachli
chen Kommunikation. Beschränken wir uns hier auf den letzteren Problem
kreis, so gipfeln Husserls einschlägige Untersuchungen in der Behauptung, nicht
der kommunikative Informationsaustausch zwischen Sprecher und Hörer sei
die wesentliche sprachliche Leistung, sondern vielmehr die >>einsame Rede<<, der
Monolog des einsamen Denkers (§ 8). Diese überraschende Behauptung ist nur
dann zu verstehen, wenn man beachtet, 1) daß Husserl sich an einem ideal
sprachlichen Repräsentationsverhältnis von Bedeutung und sprachlichem Aus
druckszeichen orientiert; 2) daß Husserl die Tätigkeit des Zuhörers in der Kom
munikation als Verstehen der Bedeutung vermittels einer >>Kundnahme<< der
Bedeutungs- bzw. signitiven Denkakte der sprechenden Person faßt (§ 7); 3)
daß dieses Verhältnis kommunikativer Kundgabe und Kundnahme die physi
sche Realität des sprachlichen Zeichens, die >>Existenz des Wortes« (S. 36) vor
aussetzt. Für die >>Ausdrücke im einsamen Seelenleben<< hingegen >>begnügen
wir uns . . . mit vorgestellten, anstatt mit wirklichen Worten<<. Die Behauptung,
daß das Wesen des bedeutsamen Sprechens in der >>einsamen Rede« am reinsten
zum Ausdruck komme, stützt sich somit auf die Überzeugung, das sprachliche
Zeichen sei ein bloß sekundär mit der Bedeutung verknüpftes, äußerliches Kleid,
die ideale Bedeutung hingegen der Wesenskern eines sprachlichen Ausdrucks.
Das Wesen der Sprache besteht dieser Auffassung zufolge also darin, sich mit
solcher Wirksamkeit in den Dienst des Denkens zu stellen, daß man sie gar nicht
bemerkt bzw. ihre vermittelnde Funktion vergißt (vgl. § 10). In ihrer reinsten
Form begegnen wir der Sprache somit da, wo sie sich nicht mehr als >>Appell«
(K. Bühler) an einen Hörer richtet, sondern in Form bloß innerlicher Vorstel
lung von sprachlichen Zeichen dem Denken als >>Stütze<< (49; vgl. auch LU II/2,
S. 89) bzw. >>Anhalt« (LU IJ/2, S. 53) dient. Doch was sind nun diese denkmäßi·
gen Bedeutungen, an denen innerhalb der (idealen) Sprache alles hängen soll? Die
Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks ist das, was der Sprecher mittels der
Verwendung sprachlicher Zeichen (Laute, Buchstaben usw.) sagen will, sowie das,
was der Hörer mittels der (akustischen, visuellen usw.) sinnlichen Wahrnehmung
§ 1 . Ausdruck, Bedeutung und intentionales Bewußtsein 157
der sprachlichen Zeichen »Versteht<<. Wir werden gleich noch auf die Frage zu
rückkommen, wie Husserl diesen Zusammenhang von Akt des Verstehens
und verstandener Bedeutung genauer charakterisiert und auch, worin die Lei
stung bzw. das Resultat dieses bedeutungsmäßigen Verstehens besteht. Zuvor
muß aber deutlich bestimmt werden, inwiefern die Bedeutung wirklich und
wesentlich als eine eigenständige sprachliche Funktion zu bezeichnen ist und
somit von der sprachlichen Äußerung (Sprechakt) geschieden werden muß. Diese
Scheidung zwischen Bedeutung und Ausdruck ergibt sich nicht allein aus der
Ansetzung eines sie beide verknüpfenden Repräsentationsverhältnisses, d. h.
nicht allein aus der Bestimmung des Ausdrucks als Darstellung, Stellvertreter
der Bedeutung. Bedeutung und Ausdruck scheiden sich auch in unmittelbar
sprachlicher Betrachtung dadurch, daß eine selbe Bedeutung meist verschiede
ne sprachliche Formulierungen als ihre Ausdrücke zuläßt und daß umgekehrt
verschiedene sprachliche Aussagen als Aussagen desselben Bedeutungsgehaltes
verstanden werden. So beruht z. B. jede sprachliche Übersetzung auf dieser we
sentlichen Differenz von (einheitlicher) Bedeutung und (mannigfaltigem)
Ausdruck. Nicht nur Husserl, sondern die neuzeitliche Sprachphilosophie über
haupt hat diesen Zusammenhang von Identität (der Bedeutung) und Differenz
(des sprachlichen Ausdrucks) meist auf dem Hintergrund einer Philosophie der
Präsenz gedacht: verschiedene sprachliche Zeichen bringen dieselbe Bedeutung
zur anwesenden Gegebenheit. Erst neuerdings sind Denker wie Derrida dazu
übergegangen, den 'Vorzug der Identität vor der Differenz und der Anwesen
heit vor der Abwesenheit in Frage zu stellen. Diese Denker vermochten damit
der sinnstiftenden Funktion der Differenz sprachlicher Zeichen sowie der mög
lichen Abwesenheit des Referenzgegenstandes besser Rechnung zu tragen.
Die Differenz, von der sich die identische Bedeutung abhebt, betrifft jedoch
nicht bloß eine Mannigfaltigkeit sprachlicher Zeichen, sondern auch eine Man
nigfaltigkeit von individuellen Gegebenheiten der identischen Bedeutung, d. h.
eine Mannigfaltigkeit von zeitlich verfließenden Akten des Verstehens einer
einheitlichen Bedeutung. Jede Aussage impliziert die prinzipielle Möglichkeit
der späteren Reaktivierung ihres Bedeutungsgehaltes, und in dieser rekogniti
ven Wiederholung konstituiert sich die Identität der Bedeutung. Die intersub
jektive Kommunikation eines identischen Bedeutungsgehaltes ist dann in
Analogie mit der innersubjektiven Rekognition zu begreifen, nämlich als Ver
gegenwärtigung des Bedeutungsgehaltes der sprachlichen Aussage einer frem
den Person. Die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks hat somit stets die
158 6. Kapitel. Urteil und Wahrheit
Struktur einer Identität in der Differenz. Und mit den verschiedenen Bestim
mungen der Differenz ändert sich auch die jeweilige Charakterisierung der be
deutungsmäßigen Identität als übersetzbar, wiederholbar und kommunizier
bar. Ü bersetzbar ist der Bedeutungsgehalt eines Ausdrucks, weil er nicht
ausschließlich an seine materiale Realisierung in einem jeweiligen phonetischen
oder graphischen System gebunden ist. Und der Bedeutungsgehalt ist wieder
holbar, weil er ȟberzeitlich<< ist, d. h. in zeitlich verschieden individuierten
Bedeutungsintentionen vollzogen werden kann. Und der Bedeutungsgehalt ist
schließlich auch kommunizierbar, weil er als logischer > Gedanke < prinzipiell
von einer unendlichen Mannigfaltigkeit verschiedener, vernünftig denkender
Subjekte identisch vollzogen werden kann. Die eingehendsten Analysen wid
met Husserl jedoch der innersubjektiven Identität und Differenz, d. h. dem
synthetischen Zusammenhang von überzeitlicher, identischer Bedeutung und
zeitlich individuierten, mannigfaltigen Bedeutungsintentionen. Bevor wir uns
mit diesen Analysen genauer befassen, müssen wir jedoch noch ein Versäum
nis nachholen, nämlich die genauere Bestimmung dessen, was Husserl »Bedeu
tungsmtentiOn<< nennt.
Eine »Bedeutungsintention<< ist für Husserl ein intentionaler Akt (vgl. oben
S. 8 8 ff.), der, schematisch gesprochen, die Funktion hat, sprachliche Zeichen
und Bedeutung miteinander in Verbindung zu bringen, und zwar so, daß das
sprachliche Zeichen primär nicht als Repräsentant der Bedeutung, sondern des
intentionalen Referenzgegenstandes verstanden wird. In Husserls Worten: Die
Bedeutungsintention ist »das Verständnis . . . , dieses eigentümliche, auf den Aus
druck bezogene, ihn durchleuchtende, ihm Bedeutung und damit gegenständli·
ehe Beziehung verleihende Akterlebnis.<< (§ 1 8) Dieses Zitat impliziert zugleich
auch den Kern der ganzen Busserlsehen Bedeutungstheorie, nämlich die bei
den Vorentscheidungen: 1) daß das Verstehen ein mentaler (bzw. phänomeno
logischer), mit der physischen Realität der Zeichen assoziierter Denkprozeß ist
und 2) daß, wer die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens versteht, versteht
worüber gesprochen wird, d. h. auf welchen intentionalen Gegenstand der Spre
cher sich bezieht. Die zweite dieser beiden Vorentscheidungen ist nicht min
der problematisch als die erste. Denn wie sind unter dieser Voraussetzung dann
bedeutungsvolle Ausdrücke zu verstehen, denen in der Wirklichkeit gar kein
intentionaler Gegenstand entspricht? Und ist das sprachliche Zeichen nun nicht
ein Repräsentant sowohl der Bedeutung als auch des Gegenstandes, d. h. hat
ein Ausdruck nun nicht zwei referentiale Gegenstände, nämlich seine (menta
le) Bedeutung und seinen (extramentalen) Gegenstand? Und überhaupt: Ist es
zulässig, aus der Analyse gewisser sprachlicher Ausdrücke (Kennzeichnungen
und insbesondere Namen) und einer gewissen sprachlichen Funktion (Ausdruck
intentionaler Erlebnisse) zu schließen, daß jeder sprachliche Ausdruck dann
§ 1 . Ausdruck, Bedeutung und intentionales Bewußtsein 159
und nur dann bedeutungsvoll ist, wenn er mit der intentionalen Vorstellung
eines Gegenstandes-worüber assoziiert werden kann? Wir werden auf einige dieser
Fragen, deren befriedigende Beantwortung seit Husserls Zeiten nicht durchwegs
entscheidende Fortschritte gemacht hat, noch zurückkommen. Vorerst wollen
wir uns jedoch der phänomenologischen Analyse des Zusammenhangs von man
nigfaltigen Bedeutungsintentionen und einheitlich-identischer Bedeutung zu
wenden.
In den Logischen Untersuchungen wird der Zusammenhang von einheitlich
identischer Bedeutung und mannigfaltig-individuellen Bedeutungsintentionen
durchgehend als Verhältnis von Wesensallgemeinheit und deren spezifischer Ver
einzelung gefaßt. Diese spezifischen Einzelheiten, in denen sich die ideale Be
deutung vereinzelt, sind die individuellen Bedeutungsintentionen (bzw., genauer,
das >>intentionale Wesen<< dieser individuellen Akte): Die Identität der Bedeu
tung ist >>Identität der Spezies . . . Die mannigfaltigen Einzelheiten zur ideal-einen
Bedeutung sind natürlich die entsprechenden Aktmomente des Bedeutens, die
Bedeutungsintentionen. Die Bedeutung verhält sich also zu den jeweiligen Ak
ten des Bedeutens . . . wie etwa die Röte in specie zu den hier liegenden Papier
streifen, die alle diese selbe Röte > haben <.« (§ 3 1) Als Spezies von Bedeutungs
intentionen ist die identische Bedeutung also eine Aktspezies, d. h. ihre Identi
tät betrifft den Vollzug der bedeutungsvollen Sprechakte. Mannigfaltige Aussa
gen haben demzufolge dann eine identische, einheitliche Bedeutung, wenn sie
sich in derselben Weise, d. h. in identischer Bestimmung auf denselben Gegen
stand beziehen. Doch kann man wirklich sagen, daß sich die identische Bedeu
tung in der Weise einer Wesensallgemeinheit im reellen Gehalt der mannig
faltigen, bedeutungsvollen Sprechakte vereinzelt? Und umgekehrt: Ist der Ver
weis eines individuellen Sprechaktes auf seinen identischen Bedeutungsgehalt
wirklich an den Vollzug der logischen Operation einer wesensmäßigen Verall
gemeinerung bzw. Ideation gebunden? Beides scheint unplausibel, und doch
beantwortet Husserl diese beiden Fragen in den Logischen Untersuchungen po
sitiv. Ein erster Grund dafür ist sicher die Angleichung der identischen Bedeu
tung einer A ussage an den Status eines Bedeutungswesens bzw. einer Bedeu
tung-an-sich, wie sie die logische Apophantik zum Gegenstand ihrer Untersu
chungen macht (vgl. oben S. 42 ff.). Der Vollzug eines identischen Bedeutungs
gehaltes in einer individuellen Aussage wird analog zur »A nwendung« z. B. eines
logischen Gesetzes in einem psychologischen Denkprozeß gedacht. Und der
identische Bedeutungsgehalt einer jeweiligen Aussage soll so zur bewußtseins
mäßigen »Erfassung« kommen, wie das ideale Sein bzw. die unbedingte Gültig
keit eines logischen Gesetzes, nämlich durch eine sich auf einen synthetischen
Zusammenhang miteinander verglichener Akte stützende Ideation bzw. Wesens
schau. Gegen diese Lehre vom Zusammenhang von identischer Bedeutung und
160 6. Kapitel. Urteil und Wahrheit
»Idealität<< der Bedeutung: »Um den Satz [sc : die Urteilsbedeutung] 2 /^ !^zu
erfassen , haben wir nicht Urteilsakte, die urteilen, es sei 2 /^ !^ vergleichend
zu behandeln; wir haben keine generalisierende Abstraktion zu vollziehen, und
demnach finden wir auch nie und nimmer den Satz als ein Gattungsmäßiges,
als ob dementsprechend in jedem Urteilsakt ein eigenes Moment, ein indivi
dueller Satz vorfindlieh wäre Jedes Urteil für sich meint den Satz: Ƙ Satz
und dieser gemeinte ist von vornherein der irreale. . . Das Meinen ist indivi
duelles Moment jedes Setzens, aber das Gemeinte ist nicht individuell und nicht
mehr zu vereinzeln « "$Ƙ S 3 1 5n
!^Wenn nun aber jeder individuelle, bedeutsame Sprechakt die identische Be
deutung (zumindest implizitn vermeint, so ist diese irreale Bedeutung nicht bloß
kein bƘ sondern auch kein Wesen eines ;Ƙ Die irreale Bedeutung ist
also nicht mehr als eine identische Weise des Aussagens und Verstehens zu fas
sen, sondern vielmehr als das, Ƙgesagt und verstanden wird, als das Gesagte
bzw als der Gedanke. Husserl trug diesem Befund Rechnung und führte in
einer Vorlesung aus 1908 (>>Über Grundprobleme der Bedeutungs- und Urteils
lehre«n erstmals den noemarischen Bedeutungsbegriff ein Es fällt auf, daß die
ser neue Bedeutungsbegriff sich vorzugsweise an der Situation des wIƘ
orientiert, der versteht, Ƙder Sprecher sagt und damit auch, JƘer spricht
Der noetische Bedeutungsbegriff dagegen ging primär von der Situation des
0Ƙ aus, d h von der Weise, wie er sich im Vollzug seiner Aussagen auf
einen Gegenstand richtet. Der noemarische Bedeutungsbegriff hat dem noeti
schen gegenüber den entscheidenden Vorzug, sich zur Erklärung der Möglich
keit kommunikativer Verständigung nicht auf die Intentionen des Sprechers,
sondern auf eine Q닫⎚uasi-gegenständliche Gegebenheit der Bedeutung zu beru
fen. Der noemarische Bedeutungsbegriff zeigt somit deutliche Verwandtschaft
mit dem, was Frege den »Gedanken« genannt hat Der vorsichtige Interpret
wird sich von dieser Feststellung jedoch nicht so schnell zur Proklamation der
Grenzaufhebung zwischen phänomenologischer und sprachanalytischer Bedeu
Y\M=UY?8ORB8i?BMR8Bd8MiI0UU8MiRi_BR5iUB3?i^B8IK8?Ri28UOR=Xi:R0=8Mi_B8i Hus
serl nach Einführung des noemarischen Bedeutungsbegriffs die Scheidung
zwischen Bedeutung und Gegenstand noch zu bestimmen vermag, wenn er den
Referenzgegenstand nicht, wie Frege, als Wahrheitswert der Bedeutung (des Fre
geschen »Sinnes«n, sondern als intentionalen Gegenstand fassen will Jede Aus
sage scheint sich nun plötzlich auf zwei verschiedene Gegenständlichkeiteil zu
beziehen, nämlich die Bedeutung und den Gegenstand, und Husserl droht nun
selbst der (bildlichenn Verdoppelung der Struktur des intentionalen Gegenstandes
zu verfallen, die er in seiner Kritik an wardowski (vgl insbes xƘ *Ƙ 13 und
!I Ƙ *Ƙ 45; Ƙx%Ƙ *Ƙ 129n so überzeugend widerlegt hatte.
1 62 6. api el. Ur eil und Wahrhei
4
ƘƘ
Ƙ/W
Ƙ
Bevor wir diese Frage nach dem Bezug von noemarischer Bedeutung und in
tentionalem Gegenstand weiter verfolgen, tun wir gut daran, uns überhaupt
auf die allgemeinen Grundlagen von Husserls Bestimmung des referentialen Be
zugs von Sprechakten auf Gegenstände-worüber zu besinnen. Dieser referentia
le Bezug ist nach Husserls Auffassung im wesentlichen eine Leistung der
Bedeutungsintention. Und die Bedeutungsintention ist ein Vermeinungs- bzw.
Denkakt, der sich intentional auf einen Gegenstand richtet und zugleich das
sprachliche Zeichen als Repräsentant dieses intentionalen Gegenstandes deutet
bzw. apperzipiert. Der gegenständliche Bezug eines sprachlichen Ausdrucks ist
also wesentlich vermittelt durch einen mit dem sprachlichen Ausdruck (apper
zeptiv) assoziierten intentionalen Vorstellungsakt. Diese Bestimmung des refe
rentialen Bezugs impliziert jedoch insofern keinen Rückfall in eine psycho
logistische Bedeutungstheorie, als Husserl die Bedeutungsintention als indivi
duellen Vollzug einer
ŁƘBedeutung begreift. Husserls Bestimmung
der Bedeutungsintention (und somit auch die intentionale Bedeutungstheorie
schlechthin) ist jedoch insofern noch psychologisch zu nennen, als Denotation
und Konnotation des Referenzgegenstandes des Sprechaktes sich letztlich von
der intentionalen Vorstellung des Gegenstandes durch den Sprecher herleiten.
Dies zeigt sich besonders deutlich in Husserls Behandlung der sog. gegenstands
losen Ausdrücke wie >>goldener Berg<<, »viereckiger Kreis<<, »2 + 2 = 5<< usw. Twar
dowski meinte, solche Ausdrücke bezögen sich bloß auf einen mentalen Inhalt,
dem in der Wirklichkeit kein Gegenstand entspräche. Husserls Lösung ist dem
gegenüber bestechend einfach: Jeder intentionale Akt hat als seinen Zielpunkt
einen intentionalen Gegenstand (vgl. insbes. 'LU, § l l a), und der Gegenstand
einer Halluzination ist ein unwirklicher, fiktiver intentionaler Gegenstand, wäh
rend der Gegenstand einer Wahrnehmung ein wirklicher intentionaler Gegen
stand ist: ''· · · jedermann muß es anerkennen: daß der intentionale Gegenstand
der Vorstellung derselbe ist wie ihr wirklicher und gegebenenfalls ihr äußerer
Gegenstand, und daß es widersinnig ist, zwischen beiden zu unterscheiden . . . .
Stelle ich . . . ein rundes Viereck usw. vor, s o ist dieses hier Genannte und Tran
szendente eben gemeint, also (nur mit anderem Worte) intentionales Objekt;
dabei ist es gleichgültig, ob dieses Objekt existiert, ob es fingiert oder absurd
ist.<< 'L U, S. 425) Die These, daß jeder intentionale Akt sich auf einen Ge
genstand richtet, präjudiziert also nichts über die wirkliche Existenz dieses in
tentionalen Gegenstandes, denn der intentionale Gegenstand ist ganz einfach
Gegenstand qua intendierter. Und es liegt ganz in der Konsequenz dieser Be
stimmung des intentionalen Gegenstandes, wenn Husserl, wie wir noch sehen
werden, den wirklich existierenden intentionalen Gegenstand phänomenolo-
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Husserls Bestimmung des >>leeren<< Sprechens beschränkt, gilt auch für Husserl
(wie für Derrida), daß der Gegenstand des Sprechens sich auf dem Hintergrund
seiner möglichen Abwesenheit und im differentiellen Kontext von bedeutungs
vollen Sprechakten konstituiert.
Der sprachliche Ausdruck bezieht sich nach Husserl insofern wesentlich auf
einen Referenzgegenstand, als das physische Ausdrucksphänomen bzw. der
Sprechakt durch eine Bedeutungsintention belebt ist, welche diesen Gegenstand
intentional vermeint. Die Bestimmung des intentionalen Gegenstandes wird
dergestalt ganz von der Bestimmung des intentionalen Aktes, d. h. der Bedeu
tungsintention hergeleitet. Und daraus folgt, daß der Unterschied zwischen wirk
lichem oder bloß fiktiv existierendem Gegenstand für die (phänomenologische)
Analyse seiner Funktion als intendierter Gegenstand irrelevant ist. Die sich
auf den intentionalen Gegenstand beziehende Bedeutungsintention ist nun aber,
wie wir bereits gesehen haben, keine selbständige phänomenologische Gege
benheit, denn sie verweist notwendig auf eine ideal-identische Bedeutung. Heißt
das nun aber nicht, daß die Bedeutungsintention ein intentionaler Akt mit zwei
verschiedenen intentionalen Gegenständen ist, daß die Bedeutungsintention sich
intentional sowohl auf die (noematische) Bedeutung als auch auf den Referenz
gegenstand bezieht? Oder kann man diese ungewöhnliche Verdoppelung der
Struktur des intentionalen Gegenstandes evtl. dadurch vermeiden, daß man Be
deutung und Referenzgegenstand miteinander identifiziert? Aber ist diese Iden
tifikation statthaft, darf man wirklich sagen, daß das Verstehen eines bedeu
tungsvollen Ausdrucks sich im Hinblicken auf seinen intentionalen Referenz
gegenstand erschöpft? Husserl weist diese Verschmelzung von Bedeutung und
Gegenstand und die daraus folgende referentiale Bedeutungstheorie entschie
den ab: »Niemals fällt aber der Gegenstand mit der Bedeutung zusammen.<<
(§ 12) Diese Behauptung begründet Husserl in der I. Logischen Untersuchung
nicht etwa in Form einer phänomenologischen Intentionalanalyse der bewußt
seinsmäßigen Gegebenheit von Bedeutung und Gegenstand in der Bedeutungs
intention, sondern sozusagen > Sprachanalytisch < durch den Hinweis auf solche
sprachlichen Ausdrücke, für deren Verständnis die Scheidung von Bedeutung
und Gegenstand eine notwendige Voraussetzung bildet. Es gibt Ausdrücke, die
trotz verschiedener Bedeutung sich auf einen selben Gegenstand beziehen und
andere Ausdrücke, die zwar eine selbe Bedeutung haben, sich jedoch auf ver
schiedene Gegenstände beziehen. Beispiele letzterer Klasse bilden die Indexaus
drücke (wie »dies<<, »hier<< usw.) und Beispiele ersterer Klasse bilden äquivalente
Ausdrück wie »Der Sieger von Jena<< und »Der Besiegte von Waterloo<<. Wir
können hier nicht in eine gerrauere Analyse dieser > sprachanalytischen < Beweis
führung eintreten, müssen aber doch darauf hinweisen, daß sich Husserl vor
nehmlich an einer beschränkten Klasse von Ausdrücken orientiert, nämlich den
§ 1 . Ausdruck, Bedeutung und intentionales Bewußtsein 165
Namen bzw. Kennzeichnungen. Und auch darauf ist hinzuweisen, daß der Ge
genstand äquivalenter Ausdrücke sich nicht unabhängig vom Wahrheitswert die
ser Ausdrücke bzw. der wirklichen (ob realen oder idealen) Existenz des Ge
genstandes bestimmen läßt und daß Husserl das Verstehen des Ausdrucks »Der
Sieger von Jena« in der Analyse des obigen Beispiels vom historischen Wissen
um das Leben von Napoleon, d. h. von der vorgängigen Kenntnis des Gegen
standes herzuleiten scheint (vgl. Tugendhat ( 1976) und Atwell).
Aus den Inkonsequenzen bzw. Mängeln in Husserls > sprachanalytischen < Aus
führungen zur Scheidung von Bedeutung und Gegenstand folgt jedoch nicht,
daß Husserl eo ipso unfähig war, Bedeutung und Gegenstand auseinanderzu
halten, und auch nicht, daß die Busserlsehe Bedeutungstheorie letztlich doch
der als primitiv geltenden Klasse realistischer bzw. referentialer Bedeutungs
theorien einzuordnen ist. Der spezifisch phänomenologische Gesichtspunkt in
der Erörterung der Frage bedeutungsmäßiger Referenz orientiert sich nämlich
weniger am Sprachgebrauch als an der Intentionalanalyse des bedeutungsver
leihenden Bewußtseins. Solange man am noetischen Bedeutungsbegriff festhält,
ist mit der Scheidung von Bedeutung und Gegenstand keine wesentliche Schwie
rigkeit verbunden: die individuelle Bedeutungsintention ist eine spezifische Ver
einzelung der idealen Bedeutung, die ihrerseits als eine identische Weise des
intentionalen Bezugs auf den Gegenstand bestimmt wird. Innerhalb dieses Mo
dells ist die Scheidung von Bedeutung und Gegenstand die wesentliche Voraus
setzung, um >>mit Recht« sagen zu können, >>der Ausdruck bezeichne (nenne)
den Gegenstand mittels seiner Bedeutung bzw. es sei der Akt des Bedeutens
die bestimmte Weise des den jeweiligen Gegenstand Meinens.« (§ 1 3) Wie steht
es nun aber mit der Scheidung zwischen Bedeutung und Gegenstand, wenn
die identische Bedeutung selbst als eine intentionale Vermeintheit bzw. (noe
matische) >>Gegenständlichkeit« bezeichnet wird? Man ist versucht, eine mögli
che Antwort auf der Beobachtung aufzubauen, daß im ursprünglichen Vollzug
eines bedeutungsvollen Sprechaktes die Bedeutungsintention sich nicht auf die
Bedeutung richte, sondern sich vielmehr durch die unthematisch bewußte Be
deutung hindurch thematisch auf den intentionalen Referenzgegenstand bezie
he. Der Referenzgegenstand wäre demnach also der Gegenstand-geradehin eines
Ausdrucks, während die ungegenständliche Bedeutung der intentionale Gegen
stand einer Reflexion wäre, welche das implizite Bedeutungsbewußtsein des ur
sprünglich vollzogenen Sprechaktes nachträglich thematisiert. Diese Antwort
kann jedoch nicht befriedigen, da die phänomenologische Reflexion auf das
Bedeutungsbewußtsein zugleich thematisch aufzeigen muß, wie der gegenständ
liche Bezug des ursprünglichen Sprechaktes durch das unthematische Bewußt
sein der noemarischen Bedeutung vermittelt war. Wir finden uns also in der
phänomenologischen Reflexion auf die Bedeutungsintention erneut vor das Pro-
166 6. Kapitel. Urteil und Wahrheit
blem gestellt, daß sich diese Bedeutungsintention auf zwei verschiedene Arten
gegenständlicher Vermeintheit bezieht. Ein erster Ansatz zur Lösung dieser Frage
findet sich bereits im Text, der den noemarischen Bedeutungsbegriff erstmals
entwickelt, nämlich in der Vorlesung von 1 908 >> Ü ber Grundprobleme der
Bedeutungs- und Urteilslehre<<. Der Gegenstand wird da als Pol einer mannig
faltige Bedeutungen umspannenden >>Identitätsprädikation<< bestimmt (Hu
XXVI, S. 61 f. ; vgl. auch S. 80). Zu der daraus folgenden Einsicht, daß der Ge
genstand, so wie ihn diese phänomenologische Reflexion thematisiert, eine be
sondere Bedeutungsstruktur darstellt, bekannte sich Husserl jedoch erst später:
»Vermeinter Gegenstand ist ein dem Satz selbst angehöriges Sinnesmoment und
nichts ihm TranszendenteS.<< (Ms. B III 12, S. 53b (192 1)) Husserl hat diese Theo
rie der noemarischen Referenz jedoch nicht konsequent ausgearbeitet. Sowohl
in der Frage der noemarischen Bestimmung des Gegenstandes prädikativer Sät
ze (Subjektgegenstand oder >>Sachlage<<?) als auch in der Frage des Zusammen
hangs von phänomenologischer und ontologischer Bestimmung des Referenz
gegenstandes (des Zusammenhangs zwischen dem Gegenstand qua >>Sinnesmo
ment<< bzw. bedeutungsmäßiger Objektpol (=X) und qua wirklicher, transzen
denter Gegenstand) blieb Husserl uns eine eindeutige Antwort schuldig.
Der Schlüsselbegriff von Husserls Wahrheitslehre ist deutlich der Begriff der
anschaulichen Erfüllung, wie ihn insbes. die VI. Logische Untersuchung einge
hend darstellt. Nur in bezug auf diesen phänomenologischen Prozeß der Er
füllung lassen sich Stellenwert und Funktion der Begriffe Erkenntnis, Evidenz
168 6. Kapitel. Urteil und Wahrheit
und Wahrheit gerrauer bestimmen. Eine Erfüllung ist ein kognitiver Akt, in dem
eine leere Vermeinung bzw. Behauptung in synthetischen Zusammenhang mit
einer entsprechenden anschaulichen Gegebenheit gebracht und dadurch bestä
tigt und bekräftigt bzw. enttäuscht wird (vgl. insbes. §§ 6, 8, 1 1). Dieser kom
plexe Erlebniszusammenhang läßt sich schematisch in drei Elemente zerlegen:
a) den zu erfüllenden bzw. (partiell) leeren Akt, b) den erfüllenden Akt und
c) den diese beiden Akte synthetisch verbindenden Akt. Bei diesen drei Ele
menten handelt es sich um relativ selbständig abgegrenzte Erlebnisse bzw. psy
chische Tätigkeiten, in denen sich das Bewußtsein intentional auf Gegenstände
bezieht. Der synthetische Zusammenhang (c), der den erfüllenden Akt mit dem
zu erfüllenden Akt verbindet, hat die Form einer Synthesis der Identifikation
(§ 8). Die darin konstituierte Identität betrifft die beiden Akte (a und b) nach
denjenigen Momenten, welche wesentlich für die intentionale Funktion dieser
Akte verantwortlich sind (ihr >>intentionales Wesen<<). Die beiden Akte decken
sich (zumindest partiell) bezüglich ihres intentionalen Bezugs, sie beziehen sich
auf denselben Gegenstand. Die Identitätssynthese von zwei Akten wird jedoch
erst dann erkenntnistheoretisch relevant, wenn die beiden Akte einen verschie
denen kognitiven Wert haben (vgl. §§ 1 3 , 1 6). Diese Differenz zwischen den
zwei Akten betrifft ihr »erkenntnismäßiges Wesen<< (§ 28), d. h. die Weise, in
der jeder dieser Akte seinen (bzw. den identischen) intentionalen Gegenstand
anschaulich (bzw. unanschaulich) vorstellt, ihn zu intuitiver (bzw. partiell in
tuitiver oder nicht-intuitiver) Gegebenheit bringt . Diese intuitive Gegebenheit
des Gegenstandes im intentionalen Akt begreift Husserl in den Logischen Un
tersuchungen als einen Akt, der primitive, d. h. vor-intentionale Bewußtseins
inhalte intentional auf den Gegenstand bezieht und ihnen durch diese Apper
zeptionsweise die Funktion von anschaulich darstellenden Inhalten bzw. Er
scheinungen des Gegenstandes zumißt (§§ 14b, 22). Husserl sagt auch, daß der
intentionale Akt seinen Gegenstand vermöge dieser Apperzeption von primi
tiven Empfindungsdaten anschaulich »repräsentiere<< (vgl. oben S. 1 1 0 f.). Die
erkenntnismäßige Differenz von erfüllendem und zu erfüllendem Akt, die Diffe
renz somit von zwei intentionalen Akten, die denselben Gegenstand vermei
nen, leitet sich also von ihrer anschaulichen Repräsentationsweise bzw. dem
Umfang und Reichtum des in den beiden Akten jeweils apperzipierten Emp
findungsmaterials her. Formal gefaßt ist der Erfüllungsprozeß somit ein kom
plexer Akt, der zwei Akte in Hinsicht auf die Identität ihres intentionalen
Gegenstandes und auf die Differenz von dessen anschaulich repräsentativen Ge
gebenheiten zur Synthesis bringt.
Betrachten wir nun denjenigen Fall der Erfüllungssynthese etwas näher, in
dem eine leere Behauptung sich durch die anschauliche Selbstgegebenheit ihres
Gegenstandes erkenntnistheoretisch ausweist! Die Aussage »Der schwarze Vo-
2 a res r ei en und ern n iges en en 1 9
gÄl fläÄgt auf Ärfüllt sä h also äm synthÄtäs hÄn ZusammÄnhang mät dÄm Wahr
nÄhmÄn dÄs bÄhauptÄtÄn Sa hvÄrhaltÄs. AbÄr kann man das S hwarz e dÄs
VogÄls, sÄänÄ BÄstämmung als VogÄl und als der VogÄl dur h das sä h unsÄrÄn
AugÄn darbäÄtÄndÄ S hauspäÄl vÄrantwortÄn? Und au h läÄßÄ sä h das, was wär
sÄhÄn, nä ht au h spra hlä h andÄrs ausdrü kÄn? BÄädÄ FragÄn führÄn uns zur
Eänsä ht, daß ÄrstÄns ÄänÄ sännlä hÄ WahrnÄhmung ÄänÄ (prädäkatävÄ) AussagÄ
nur bÄgrÄnzt zu ÄrfüllÄn vÄrmag und daß zwÄätÄns ÄänÄ AussagÄ ährÄn BÄdÄu
tungsgÄhalt nur tÄälwÄäsÄ und ändärÄkt dÄr spra hlä h ausgÄdrü ktÄn WahrnÄh
mung vÄrdankt. In HussÄrls TÄrmänologäÄ hÄäßt das, daß än ÄänÄm WahrnÄh
mungsurtÄäl däÄ spra hlä hÄn ZÄä hÄn äm ÄägÄntlä hÄn SännÄ nä ht däÄ Wahr
nÄhmung, sondÄrn däÄ än ÄänÄr katÄgoräalÄn BÄdÄutungsäntÄntäon vollzogÄnÄ
UrtÄälsbÄdÄutung (dur h wÄl hÄ däÄ AussagÄ sä h auf dÄn WahrnÄhmungsgÄ
gÄnstand bÄzäÄht) ausdrü kÄn (§ 4). Und darän läÄgt wäÄdÄrum däÄ KonsÄq籘uÄnz,
daß däÄsÄ BÄdÄutungsäntÄntäon nä ht dur h ÄänÄ rÄän sännlä hÄ, sondÄrn (sänn
lä h vÄrmäs htÄ) katÄgoräalÄ Ans hauung zu ÄrfüllÄn äst. Do h bÄvor wär däÄ
sÄn synthÄtäs hÄn ErfüllungszusammÄnhang von katÄgoräalÄr BÄdÄutungsän
tÄntäon und katÄgoräalÄr Ans hauung nähÄr untÄrsu hÄn, müssÄn wär uns zu
mändÄst än dÄn großÄn LänäÄn vÄrgÄgÄnwärtägÄn, was das WÄsÄn ÄänÄs kategoria·
len Aktes übÄrhaupt ausma ht. KatÄgoräalÄ AktÄ sänd na h HussÄrl äntÄntäonalÄ
AktÄ dÄs VÄrbändÄns, BÄzäÄhÄns, UntÄrs hÄädÄns usw. SäÄ sänd also komplÄxÄ
AktÄ bzw. äntÄntäonalÄ AktÄ mät komplÄxÄr MatÄräÄ (vgl. obÄn S. 8 8 f.), däÄ vÄr
s häÄdÄnÄ, vorgÄgÄbÄnÄ äntÄntäonalÄ GÄgÄnständÄ aufÄänandÄr bÄzäÄhÄn und säÄ
untÄr ÄänÄm katÄgoräalÄn GÄsä htspunkt, z. B. dÄm VÄrhältnäs TÄäl - GanzÄs, zu
synthÄtäs hÄr EänhÄät brängÄn. Als komplÄxÄr bzw. synthÄtäs hÄr Akt sÄtzt däÄ
katÄgoräalÄ IntÄntäon däÄ zur synthÄtäs hÄn EänhÄät gÄbra htÄn AktÄ und ährÄ
äntÄntäonalÄn GÄgÄnständÄ voraus, dÄr Vollzug dÄs synthÄtäs hÄn AktÄs äst äm
Vollzug dÄr synthÄtäsäÄrtÄn AktÄ fundäÄrt« (§§ 46, 48). Und als fundäÄrtÄr än
tÄntäonalÄr Akt vÄrwÄäst dÄr katÄgoräalÄ Akt auf ÄänÄ dur h ähn Ärst gÄs haffÄ
nÄ höhÄrstufägÄ äntÄntäonalÄ GÄgÄnständlä hkÄät (§ 43). Es äst nun abÄr äußÄrst
ht g, dÄn Voll ug dÄs katÄg r alÄn AktÄs n ht als Ä nÄ andlung u bÄgrÄ
fÄn, wÄl hÄ rÄalÄ GÄgÄnständÄ dur h physäs hÄ Manäpulatäon modäfäzäÄrt (§ 6 1).
VäÄlmÄhr bÄstÄht däÄ LÄästung dÄs katÄgoräalÄn AktÄs än ÄänÄr bloß dÄnkmäßä
gÄn Formung und Artäkulatäon vorgÄgÄbÄnÄr StoffÄ bzw. än ÄänÄr bloß logä
s hÄn Umformung bÄrÄäts katÄgoräal gÄformtÄr StoffÄ. WÄnn nun abÄr dÄr
katÄgoräalÄ Akt kÄänÄ sännlä h physäs hÄ TätägkÄät ist, so äst au h sÄän äntÄntäo
nalÄr GÄgÄnstand kÄän sännlä h physäs hÄr GÄgÄnstand, kÄän GÄgÄnstand somät,
dÄn man mät dÄn AugÄn sÄhÄn, auf dÄn man sä h sÄtzÄn kann. HussÄrl nÄnnt
däÄ katÄgoräalÄn GÄgÄnständÄ äm GÄgÄnsatz zu dÄn Ämpäris h-rÄalÄn bzw. sänn
lä hÄn GÄgÄnständÄn >>höhÄrstufägÄ« odÄr »ädÄalÄ« GÄgÄnständÄ (§ 46). Man darf
sä h abÄr dur h däÄsÄ TÄrmänologäÄ nä ht dazu vÄrlÄätÄn lassÄn, allÄ katÄgoräa-
170 6. Kapitel. Urteil und Wahrheit
kategorialer Akt. Zudem ist die kategoriale Anschauung auch insofern ein fun
dierter Akt, als sie, qua Erkenntnisakt, ein unselbständiges Moment der Erfül
lungssynthese ist. Und als Erkenntnisakt ist die kategoriale Anschauung
schließlich auch nicht etwa ein »intuitus originarius<<, sondern mögliches Mo
ment eines in sinnlicher Erfahrung fundierten komplexen Prozesses >>kontinu
ierlicher Steigerung der Erfüllung<< (§ 24).
Doch was ist eigentlich damit gemeint, wenn man sagt, erst als Moment der
Erfüllungssynthese, d. h. erst im synthetischen Zusammenhang mit einem er
füllungsbedürftigen Akt sei die kategoriale Anschauung als Erkenntnisakt zu
bezeichnen? Dies heißt in erster Linie, daß bloßes Anschaulich-gegeben-Haben
des Gegenstandes noch kein Erkenntnisakt ist. Die anschauliche Gegebenheit
des Gegenstandes wird erst dann erkenntnistheoretisch relevant, wenn sie eine
Erkenntnisprätention rechtfertigt bzw. ein Erkenntnisinteresse befriedigt. Erst
in synthetischer Übereinstimmung mit einer entsprechenden Leervorstellung,
einem >>Manko<< (§ 2 1 ) wird der intuitive Akt zu einem Erkenntnisakt. Ähn
lich wie für Kant ist also auch für Husserl die bloße Anschauung erkenntnis
theoretisch irrelevant bzw. >>blind<<, wenn sie nicht unter eine entsprechende
Leerintention subsumiert und dadurch »klassifiziert<< wird. Korrelativ ist aber
auch die Leerintention eine bloß >>leere<< Vermeinung, wenn sie der anschauli
chen Bestätigung, Differenzierung und >>Annäherung<< an den vermeinten Ge
genstand >>selbst<< entbehrt. Die Tatsache, daß diese anschaulich zu erfüllende
Leerintention im allgemeinen bloß partiell leer (bzw. partiell bereits erfüllt) ist,
ändert nichts an der allgemeinen Charakterisierung des synthetischen Erkennt
niszusammenhangs von Leere und Fülle und kann hier somit außer Betracht
bleiben. Von entscheidender Bedeutung ist es hingegen, daß erst die Erfüllungs
synthese von kategorialen Akten den prägnanten Erkenntnisbegriff des Erken
nens von etwas als etwas phänomenologisch zu fundieren vermag. Bestimmt
man mit Husserl die kategoriale Leerintention als signitive Intention und diese
wiederum vorzüglich als kategoriale Bedeutungsintention, so erweist sich der
anschaulich erfüllte Sprechakt, d. h. die durch die anschauliche Gegebenheit
des Gegenstandes gerechtfertigte Behauptung als das eigentliche Paradigma des
Erkenntnisaktes im prägnanten Sinn. Der synthetische Erfüllungszusammen
hang von Bedeutungsintention und kategorialer Anschauung läßt sich übrigens
auch statt als Synthesis von zwei Akten als Synthesis ihrer intentionalen Ge
genstände beschreiben. Die Rede vom Erkennen eines Gegenstandes als etwas
paßt vorzüglich auf diese gegenständlich gerichtete Beschreibung der Erfüllungs
synthese, die man mit Kant auch >>Rekognition des Gegenstandes im Begriffe<<
nennen kann (vgl. § 8). Es fällt auf, daß dieser Erkenntnisbegriff phänomeno
logisch gar nicht zu formulieren wäre, würde Husserl nicht über die Struktur
eines bloß leer vermeinten, d. h. möglicherweise nicht existierenden intentio-
172 6. Kapitel. Urteil und Wahrheit
wiederum nichts anderes als Erforschung der Bedingungen des Vollzugs von
kategorialen Anschauungen (§§ 62 f.). Letztere Bedingungen zerfallen in zwei
Typen, je nachdem ob man die Kompossibilität kategorialer Formen oder ihre
Anwendbarkeit auf bestimmte sinnliche Stoffe im Auge hat. Es sind also analy
tische und synthetische Bedingungen kategorialer Anschauung bzw. >>Wirkli
cher oder möglicher Bedeutungserfüllungen<< zu unterscheiden. Die synthe
tischen Bedingungen bestimmen - unter Voraussetzung der analytischen Be
dingungen - aufgrund der anschaulichen Gegebenheit des sinnlichen Stoffes,
ob angesichts der >>jeweiligen Besonderheit« dieses Stoffes eine bestimmte >>ka
tegoriale Formung« dieses Stoffes >>wirklich vollziehbar« ist (S. 190). Die analy
tischen Bedingungen hingegen abstrahieren von der inhaltlichen Bestimmung
der sinnlichen Stoffe, d. h. sie behandeln diese sinnlichen Stoffe als >>bestimm
te, aber beliebige« und >>in Identität mit sich selbst festgehaltene« (S. 1 89) »Va
riabeln« (S. 195) in kategorialer Formung und Umformung. Die positive Aufgabe
der Erforschung dieser analytischen Bedingungen betrifft die Formulierung der
Idealgesetze, welche den >>ideal geschlossenen Kreis von möglichen Umgestal
tungen der jeweils statthabenden Form in immer neue Formen« regeln (S. 190).
So ist z. B. diesen analytischen Gesetzen gemäß die Umformung des Satzes >>g
ist Teil von G« in >>G ist Ganzes von g« gültig, die Umformung in >>G ist Teil
von g« hingegen ungültig. Den synthetischen Gesetzen möglicher kategorialer
Anschauung genügt die Aussage >>g ist Teil von G und G ist Ganzes von g«
nur dann, wenn die mit g und G bezeichneten sinnlichen Gegenstände wirk
lich, d. h. empirisch, in das Verhältnis von Teil und Ganzem zu bringen sind.
Wir werden jedoch noch sehen, daß die Verwirklichung nicht nur dieser syn
thetischen Gesetze, sondern auch der universal-gültigen analytischen Gesetze
notwendig die Möglichkeit anschaulicher Gegebenheit individuell bestimmter
sinnlicher Gegenstände voraussetzt.
Kategoriale Akte, welche den analytischen und synthetischen Bedingungen
möglichen anschaulichen Vollzugs widersprechen, können nicht wahr sein. Aber
diese notwendigerweise bloß signitiv vollziehbaren kategorialen Akte brauchen
deswegen nicht sinnlos im Sinn des Unsinnes zu sein. Signitive kategoriale Ak
te von der Art sprachlicher Ausdrücke sind sinnvoll, wenn sie den grammati
schen Gesetzen gehorchen, aber erst dann möglicherweise wahr, wenn sie zudem
auch den Gesetzen möglicher kategorialer Anschauung gehorchen (vgl. auch
oben S. 44 ff.). Nennt man die signitiven kategorialen Akte >>uneigentliche Denk
akte« und die anschaulichen kategorialen Akte >>eigentliche Denkakte« (S. 193),
so unterstehen die eigentlichen Denkakte notwendig auch den Gesetzen mög
licher uneigentlicher Denkakte, aber diese uneigentlichen Denkakte unterste
hen nicht notwendig den Gesetzen möglicher eigentlicher Denkakte: >>Aber
das Gebiet der Bedeutungen ist sehr viel umfassender als das der Anschauung«,
1 76 6. Kapitel. Urteil und Wahrheit
Urteilen, aber auch Denken bestimmt Husserl als kategoriale Akte. Kategoria
le Akte sind synthetische Akte der logischen Formung bzw. Umformung vor
gegebener Stoffe. Diese formende Tätigkeit ist jedoch keine absolut selbständige
und spontane Verstandestätigkeit, denn sie setzt die notwendige Vorgegeben
heit letztlich sinnlicher Stoffe voraus: »Es liegt in der Natur der Sache, daß letzt
lich alles Kategoriale auf sinnlicher Anschauung beruht, ja daß . . . ein Denken
. . . ohne fundierende Sinnlichkeit ein Widersinn ist.<< (§ 60) Erinnern wir uns
178 6. Kapitel. Urteil und Wahrheit
daran, daß wir anschaulich erfüllte kategoriale Akte als Erkenntnisakte im präg
nanten Sinn bezeichnet haben, so stellt sich die Frage, inwiefern die Vorgege
benheit sinnlicher Stoffe nicht bloß deren Wesensbestimmung als kategoriale
Akte, sondern auch deren Wahrheitswert fundiert.
Die Rede von der Fundiertheit aller, ob signitiver oder anschaulicher katego
rialer Akte hat einen doppelten Sinn je nachdem, ob man den Begriff der Fun
dierung logisch oder phänomenologisch-genetisch faßt. In seinem logischen Sinn
genommen bedeutet die Fundiertheit kategorialer Akte, daß diese Akte qua syn
thetische Akte den Vollzug der durch sie vereinheitlichten Partialakte implizie
ren. Kategoriale Akte sind somit als synthetisierende Akte so in den Akten
schlichten Bezugs auf die synthetisierten Glieder fundiert, wie das einheitliche
Ganze in seinen mannigfaltigen Teilen. Dabei ist zu beachten, daß zwar diese
synthetisierten Glieder möglicherweise bereits (nominalisierte) kategoriale Ge
genstände sein können, daß aber die kategoriale Komplikation einen absoluten
Anfang hat und daß also alle kategorialen Gegenstände letztlich in sinnlichen
Stoffen (logisch) fundiert sind. Betrachten wir den phänomenologischen Pro
zeß des erlebnismäßigen Vollzugs des synthetischen Aktes, so fällt auf, daß den
synthetisierten Gliedern auch eine chronologische Priorität vor dem Vollzug
des synthetisierenden Aktes zukommt. In diesem zweiten Sinn genommen be
deutet die Rede von der Fundiertheit kategorialer Akte also, daß die kategoria
len Akte erst dann zu vollziehen sind, wenn die zugehörigen Partialakte bereits
vollzogen wurden.
Gehen wir nun über zur besonderen Klasse derjenigen kategorialen Akte, wel
che signitive Akte wie die Bedeutungsintentionen anschaulich zu erfüllen ver
mögen. Die Rede von der Fundierung kategorialer Akte in der Vor-Gegebenheit
der sinnlichen Stoffe erhält in diesem Fall einen neuen und engeren Sinn. Zum
anschaulichen (d. h. wirklich möglichen) Vollzug eines kategorialen und ins
besondere eines synthetisch-kategorialen Aktes gehört nämlich neben der lo
gischen Verträglichkeit der darin eingesetzten kategorialen Formen auch die
Anpassung dieser Formen an die Besonderheit ihres jeweiligen Stoffes. Erst wenn
dieser Stoff in seiner jeweiligen inhaltlichen Besonderheit anschaulich bzw. wahr
nehmungsmäßig gegeben ist, ist auch gesichert, daß man ihn nicht in einen
unpassenden kategorialen Zusammenhang einbezieht. Der mögliche Vollzug
einer kategorialen Anschauung und auch die mögliche Wahrheit eines katego
rialen Sprechaktes sind somit fundiert in der wahrnehmungsmäßigen Gegeben
heit der als Stoffe fungierenden sinnlichen Gegenstände. So ist z. B. die Wahrheit
des Wahrnehmungsurteils »Der Bleistift ist rot<< in der Wahrnehmung eines ro
ten Bleistifts fundiert. (Aber das Wahrnehmungsurteil bzw. seine Bedeutung ist
in der Wahrnehmung nicht enthalten, da der kategorialen Form der prädikati
ven Identifikationssynthese keine wahrnehmungsmäßi ge Gegebenheit ent-
§ 2. Wahres Urteilen und vernünftiges Denken 179
spricht.) Wie steht es nun aber mit dieser notwendigen Fundiertheit in der sinn
lichen Wahrnehmung der Stoffe, wenn wir von den synthetisch wahren Urtei
len zu den analytisch wahren Urteilen (wie etwa »G ist Ganzes von g und g
ist Teil von G<<) ü bergehen? Als Stoffe fungieren hier doch bloße Variabeln und
variable, d. h. unabhängig von ihrer inhaltlichen Besonderheit betrachtete, >>be
liebige<< Stoffe fallen jedenfalls nicht in den Bereich sinnlichen Sehens. Ande
rerseits sind Stoffe, die als beliebig variable, jedoch mit sich selbst durchgehend
identische Stoffe kategorialer Formung fungieren, aber doch auch nicht not
wendig schon als (materiale oder formale) Wesensallgemeinheiten zu bezeich
nen. (Als Wesen im Sinne von >>Modis des Etwas-überhaupt<< fungieren diese
>>beliebigen, nur als identisch festzuhaltend gedachten Kerne<< (vgl. FTL, § 55)
wohl erst dann, wenn analytisch wahre Aussagen zu gesetzesmäßigen Aussagen
verallgemeinert werden.) Husserl scheint in den Logischen Untersuchungen deut
lich die Ansicht zu vertreten, daß auch der wirklich mögliche, d. h. anschauli
che Vollzug eines analytischen kategorialen Aktes in der anschaulichen
Gegebenheit der sinnlichen Stoffe fundiert ist, und zwar so, daß im wirklichen
Vollzug des kategorialen Aktes eine zumindest phantasiemäßige Vorstellung ir
gendeines in die eingesetzte kategoriale Form passenden sinnlichen Gegenstan
des vorausgesetzt ist (vgl. § 62, S. 189 f.). In der Formalen und transzendentalen
Logik ergänzt Husserl diese frühen Untersuchungen durch den Nachweis, daß
analytisch wahre Aussagen und insbesondere formal-logische Gesetze sich nicht
bloß in ihrer Erfassung bzw. ihrem erkenntnistheoretisch verantworteten Voll
zug auf die anschauliche Gegebenheit sinnlicher Gegenstände beziehen, son
dern daß diese Gesetze sich auch in ihrer Anwendung letztlich notwendig auf
sachhaltige Individuen beziehen (§ 82). Werden die rein logischen Gesetze als
Gesetze möglicher Wahrheit verstanden (vgl. oben S. 44 f.) , so bedürfen ihre
>>idealisierenden Voraussetzungen<< (§§ 73 ff.) bezüglich ihrer möglichen Anwen
dung in wirklicher Erfahrung der kritischen Aufklärung. Die formal-logische
Wahrheitslogik impliziert also Behauptungen, die sich sowohl auf sachhaltiges,
individuelles Sein als auch auf dessen anschaulich-sinnliche Erfahrung bezie
hen. Die kritische Rechtfertigung dieser (impliziten) Behauptungen ist eine Auf
gabe, die nicht durch die formale Logik selbst, sondern nur durch eine tran
szendentale Logik des welterfahrenden Lebens zu bewältigen ist. Husserl ging
in dieser phänomenologisch-genetischen Fundierung der formalen Logik so
weit, eine >>Vorprädikative<< »syntaktische Leistung<< dieser ,,fundierenden Er
fahrung<< zu postulieren (vgl. § 86), doch wir können hier auf diese spätere
Entwicklung der Problematik der Fundierung des Urteils in der Erfahrung nicht
mehr eingehen.
Der wichtigste Ertrag von Husserls frühen Analysen der Urteilswahrheit ist
wohl der Hinweis auf die notwendige Fundierung sprachlicher Erkenntnisakte
1 80 6. Kapitel. Urteil und Wahrheit
1 Ausgewählte Literatur zum 6. Kapitel: J. E. Atwell (1977): S. 83 -93; R. Bernet (1979): S. 3 1-64;
J. Derrida ( 1967[a] und [bl); J. Derrida ( 1972); E. Husserl Phaenomenologica 25 (1968); E. Ströker
(1978): S. 3 - 30; E. Tugendhat ( 1967); E. Tugendhat (1976); K. Twardowski ( 1 894).
7. Kapitel
Statische und genetische Konstitution
1 Für Husserls Konzeption einer genetischen Phänomenologie scheint der Einfluß des Marburger
Neukantianers, Paul Natorp, nicht unbedeutend gewesen zu sein.
7. Kapitel. Statische und genetische Konstitution 1 83
S. 129). Aber nach Husserls späterer Auffassung ist die Analyse dieser teleolo
gisch auf ursprüngliche Gegebenheit eines Gegenstandes, bzw. auf Erfüllung
der Intentionen ausgerichteten »Bekundungs- und Beurkundungssysteme<< noch
nicht im eigentlichen Sinn genetisch. Diese Systeme sind zwar Regeln zeitli
cher Abläufe von Bewußtseinsmannigfaltigkeiten, aber diese Abläufe sind nur
die subjektiven Korrelate einer festen Identität, nämlich des in ihnen zur Gege
benheit kommenden Gegenstandes. In der eigentlich genetischen Phänomeno
logie wird es nicht mehr darum gehen, diese fertigen Korrelationssysteme zu
analysieren, sondern nach ihrer Genesis zu fragen: »Der Konstitution nachge
hen ist nicht der Genesis nachgehen, die eben Genesis der Konstitution ist . . . <<
(Hu XIV, S. 41).
Noch in einem anderen uneigentlichen Sinn spricht Husserl zur Zeit der Ideen
( 1 9 1 3) von »Genesis<<: Die Phänomenologie betrachtet nicht nur vereinzelt oder
rhapsodisch die konstituierenden Bewußtseinsmannigfaltigkeiteil dieser oder je
ner Gegenständlichkeit, sondern sie bringt diese konstitutiven Systeme in ei
nen Zusammenhang. Dieser Zusammenhang ist ein »Stufenbau<< nach dem
Prinzip der Fundierung: Die Konstitution gewisser Gegenständlichkeiten setzt
diejenige anderer voraus: so setzt etwa die Konstitution kategorialer Sachver
halte die Konstitution von sinnlichen Wahrnehmungsgegenständen voraus, oder
die Konstitution fremder psychischer Wesen diejenige von Raumdingen. Von
dieser Stufenordnung, in der das >>Obere<< das >>Untere<< als seine Bedingung der
Möglichkeit voraussetzt, sagt Husserl: >>Man kann sich die Stufenbildung der
Konstitution am Bilde einer Genesis vorstellig machen, indem man sich fin
giert, Erfahrung vollzöge sich wirklich erst in den Gegebenheiten der unter
sten Stufe allein, es trete dann das Neue in der neuen Stufe auf, womit neue
Einheiten sich konstituieren usw.<< (Hu V, S. 125) Aber nach Husserls eigener
Rede ist >>Genesis<< hier nur ein fiktives Bild. Denn in dieser Stufenordnung
>>Wird nicht das Bedingte aus dem Bedingenden<< erklärt (Hu XIV, S. 41), ja es
wird nicht einmal eine zeitliche Priorität des Bedingenden behauptet.
Schließlich spricht Husserl noch in einem dritten Zusammenhang, der be
reits in seiner früheren Phänomenologie auftritt, von Genesis: bei der Konsti
tution der Zeit. Die Zeitlichkeit ist nicht nur die universale Form der Genesis,
sondern diese selbst baut sich in einer >>beständigen passiven und völlig univer
salen Genesis<< auf (Hu I, S. 1 1 4; vgl. Hu XIV, S. 39, 41). In den Cartesianischen
Meditationen wird die Konstitution des inneren Zeitbewußtseins zu den >>gene
tischen Problemen der ersten und fundamentalsten Stufe<< gerechnet (S. 1 69,
vgl. S. 1 09). Dieser Konstitution hatte sich Husserl bereits in Vorlesungen von
1 904/05 gewidmet (vgl. Hu X) und er dürfte sich auf diese Problematik bezie
hen, wenn er 1 9 1 8 an Paul Natorp schreibt, daß er seit mehr als einem Jahr
zehnt die Stufe des statischen Platonismus überwunden und der Phänomeno-
184 7. Kapitel. Statische und genetische Konstitution
logie als Hauptthema die Idee der transzendentalen Genesis gestellt habe.3 Hus
serl gebraucht hier das Wort, nachdem er eine genetische Phänomenologie kon
zipiert hat, und er scheint es auch in einem eigentlichen Sinne zu gebrauchen.
Doch ist die Lage nicht eindeutig, denn er hält die Bezeichnung der ursprüng
lichen Zeitkonstitution als eine Genesis nicht konsequent fest. So kann er etwa
anfangs der zwanziger Jahre erklären, daß es keine Frage nach einer Genesis
sei, wenn wir »Von den originalen Impressionen . . . übergehen in den Beschrei
bungen zu all den modalen Abwandlungen in Retentionen, Widererinnerun
gen, Erwartungen usw. und damit ein Prinzip systematischer Ordnung der
Apperzeptionen verfolgen . . . << (Hu XI, S. 340). Auch eine Stelle der Cartesiani
schen Meditationen scheint erst über die Zeitformung hinausgehende Fragen zur
genetischen Phänomenologie zu rechnen (S. 1 1 0). Diese Schwierigkeit in der
Auffassung des ursprünglichen Zeitbewußtseins unter dem Gesichtspunkt der
Genesis scheint daher zu rühren, daß dieses Bewußtsein als stetiger Wandel (»Mo
difikation<<) von Urimpression in Retention nicht nur notwendig die Form ei
ner Genesis, sondern als Form ein "fluß,, ist, aber doch etwas Beständiges, sich
nicht Veränderndes (vgl. oben, 3. Kapitel, § 2). Solange das Zeitbewußtsein
nur in seiner Form betrachtet wird, hat es jedenfalls nicht ein Werden wie sei
ne verschiedenen Inhalte (seine Apperzeptionen). So ist die Phänomenologie
des Zeitbewußtseins, sofern sie der bloßen Zeitform nachgeht, nicht im sonst
bei Husserl üblichen Sinne genetische Phänomenologie, sondern deren Grund
lage, indem sie die Grundlage der Genesis herausstellt. Doch wäre sie anderer
seits insofern wiederum genetische Phänomenologie, als sie sich nicht auf die
bloße Zeitform beschränkt, sondern Inhalte mit in Rechnung zieht (und bei
Husserls Begriff der Protention auch ziehen muß) . »Bloße Form ist freilich ei
ne Abstraktion, und so ist die intentionale Analyse des Zeitbewußtseins und
seiner Leistung von vornherein eine abstraktive. Sie erfaßt, interessiert sich nur
für die notwendige Zeitform aller einzelnen Gegenstände und Gegenstandsviel
heiten, bzw. korrelativ für die Form der Zeitliches konstituierenden Mannig
faltigkeiteil . . . Aber was dem jeweiligen Gegenstand inhaltliche Einheit gibt,
was Unterschiede des einen und anderen inhaltlich ausmacht, und zwar für das
Bewußtsein und aus seiner eigenen konstitutiven Leistung, was Teilung und Teil
verhältnis bewußtseinsmäßig möglich macht u. dgl. - das sagt uns die Zeitana
lyse allein nicht, da sie ja eben von dem Inhaltlichen abstrahiert. So gibt sie
auch keine Vorstellung der notwendigen synthetischen Strukturen der strömen
den Gegenwart und des Einheitsstromes der Gegenwart, die irgendwie die Be
sonderheit des Inhalts betreffen<< (Hu XI, S. 128). Der Begriff, der solchen
inhaltlichen Zusammenhängen, sofern sie die fundamentalen, bloß passiven Ein-
in den Jahren 1 9 1 7 - 1921 arbeitet er unter dem Titel einer genetischen Phäno
menologie die Aufgabe aus, solcher Geschichte nachzugehen. Während also die
statische Phänomenologie bloß bereits ausgebildete, "fertige<< konstitutive Sy
steme durchleuchtet, indem sie nach Wesensgesetzen geregelte Abläufe von in
tentionalen Erlebnissen beschreibt, in denen Gegenstände einer gewissen Art
zur Gegebenheit kommen, fragt die genetische Phänomenologie nach dem Ur
sprung solcher Systeme selbst, in ihr geht es um die Genesis dieser Konstitu
tion und damit zugleich um die Genesis der darin konstituierten Gegenstandsart;
der Gegenstand ist nicht mehr fixer Leitfaden wie in der statischen Phänome
nologie, sondern ein Gewordenes: Die Phänomenologie der Genesis »Verfolgt
die Geschichte . . . dieser Objektivierung und damit die Geschichte des Objekts
selbst als Objektes einer möglichen Erkenntnis<< (Hu XI, S. 345). Dabei ist aber
nicht die faktische Geschichte einzelner Apperzeptionen in Frage, sondern die
allgemeine Form oder Typik dieser Geschichte, die Husserl als ein Apriori oder
Wesen betrachtet.5 Es handelt sich um Wesensgesetze der Kompossibilität und
Sukzession, die den Grundcharakter eines Motivationszusammenhanges haben
(vgl. Hu XI, S. 3 3 6 ff. und Hu I, §§ 36 f.).
Innerhalb der genetischen Phänomenologie unterscheidet Husserl zwei Grund
formen der Genesis: aktive und passive Genesis (vgl. Hu XI, S. 342 f. und Hu I,
S. 1 1 1 ff.). Zur aktiven Genesis gehören die Leistungen der erzeugenden Ver
nunft: die Leistung von realen Kulturerzeugnissen (wie Kunstwerke, Werkzeu
ge) und von idealen Gegenständen (wie Prädikate und prädikative Sachverhalte,
Schlüsse und Theorien, Mengen und Zahlen). Das Programm für die geneti
sche Analyse der logischen Gebilde hat Husserl in Formale und transzendenta·
le Logik entworfen: Urteile enthalten in Form von »verborgenen intentionalen
Implikationen<< eine sedimentierte Sinnesgenesis; soll Klarheit über die verbor
genen Voraussetzungen der verschiedenen Urteilsgestalten geschaffen werden,
ist diese Sinnesgeschichte zu enthüllen. So weisen etwa nominalisierte Sinnge
stalten (»das Rot<<, >>dies, daß S p ist<<) in sich genetisch zurück auf die entspre
chende ursprünglichere Gestalt (>>fOt<<, >>S ist p<<). Genetisch ursprünglich ist nach
Husserl in diesem Zusammenhang ein Doppeltes: einmal die jeweils ursprün
glichere Gestalt, weiter aber auch die ursprünglich erwerbende Aktivität, in
5 »Diese > Geschichte < des Bewußtseins (die Geschichte aller möglichen Apperzeptionen) betrifft
nicht die Aufwe isung faktischer Genesis für faktische Apperzeptionen oder faktische Typen in ei
nem faktischen Bewußtseinsstro m oder auch in dem aller faktischen Menschen . . . , vielmehr jede
Gestalt von Apperzeptionen ist eine Wesensgestalt und hat ihre Genesis nach Wesensgesetzen, und
somit liegt in der Idee solcher Apperzeption beschlossen, daß sie einer > genetischen Analyse < zu
unterziehen ist. Und nicht das notwendige Werden der jeweiligen einzelnen Apperzeption (wenn
sie als Faktum gedacht ist) wird gegeben, sondern es ist mit der Wesensgenesis nur gegeben der
Modus der Genesis, in dem irgendeine Apperzeption dieses Typus in einem individuellen Bewußt
seinsstrome ursprünglich entstanden sein mußte . ( Hu XI, 5. 339).
..«
7. Kapitel. Statische und genetische Konstitution 187
der das neue logische Gebilde auf der Grundlage der ursprünglicheren Gestalt
erzeugt wird; >>die ursprünglich erwerbende Aktivität ist die > Evidenz< für die
se Idealitäten<< (a.a.O. , S. 1 50). Die unterste Stufe, auf die die genetische Analyse
des Logischen zurückführt, bilden die Individualurteile, und diese weisen ih
rerseits genetisch zurück auf die vorprädikative Erfahrung (vgl. a.a.O. , §§ 85,
86). Die in passiven Synthesen verlaufende Erfahrung ist der passive Untergrund
für die aktive Urteilserzeugung, wie denn überhaupt jede aktive Genesis als
ihre Grundlage eine vorgebende Passivität voraussetzt. Diese Fundiertheit ist
bei Husserl geradezu die Definition der Aktivität.
Die Passivität hat nun aber ihrerseits ihre Genesis, die passive Genesis, deren
universales Prinzip die Assoziation ist. Husserl sagt 1929, daß die Phänomeno
logie erst »sehr spät Zugänge zur Erforschung der Assoziation gefunden hat<<
(Hu I, S. 1 14). Dies entspricht der Tatsache, daß Husserl in der Assoziation
ein wesentlich genetisches Prinzip sah, mit dem er sich erst in seiner spät kon
zipierten genetischen Phänomenologie wirklich befassen konnte (vgl. die Er
örterung des Assoziationsbegriffs in der 1 . Auflage der Logischen Untersuchungen,
2. Band, S. 29). »Assoziation<< bezeichnet für Husserl nicht bloß eine empiri
sche Gesetzlichkeit der Komplexion von psychischen Daten, sondern sie ist ein
»höchst umfassender Titel für eine intentionale Wesensgesetzlichkeit der Kon
stitution des ego<< (Hu I, S. 1 14).5 Er macht vor allen zwei Assoziationsformen
geltend: 1. Assoziation als Prinzip der Einheitsbildung, der Integration und Kon
figuration, verschiedener Momente in der Koexistenz und Sukzession inner
halb des unmittelbaren Gegenwartsbewußtseins (z. B. Gruppen von Farbflecken,
Tonfolgen) durch gegenseitige affektive Weckung oder Verstärkung der auf die
se Momente gerichteten Intentionen aufgrund von Kontiguität, Ä hnlichkeit und
Kontrast; 2. als Prinzip der Apperzeption von Gegenständen als Gegenstände
eines bestimmten Sinnes aufgrund der assoziativen Weckung früherer Erfah
rung und der davon ausgehenden analogisierenden Sinnesübertragung. Diese
Sinnesübertragung ist eine assoziative »Induktion<< oder induktive Assoziation,
indem der bisherigen Erfahrungstypik Entsprechendes erwartet wird. Das Ge
genwärtige wird aufgrund von Ä hnlichkeiten passiv aufgefaßt in einem in frü
herer Erfahrung »ursprünglich gestifteten<< und habituell gewordenen Sinn.
»Durch die Assoziation erweitert sich die konstitutive Leistung um alle Stufen
der Apperzeption<< (Hu XI, S. 1 1 8). Nicht nur passive Einheitsbildungen, son
dern auch aktiv erzeugte Sinngestalten werden zu einem habituellen Erwerb
des Subjekts und können durch Assoziation in einer »sekundären Sinnlichkeit<<
passiv geweckt und auf Gegenwärtiges übertragen werden. Solches vor Augen
6 Noch 1910 betrachtete Husserl die Assoziationsgesetze nur als »ungefähre Regeln«, nicht als
Wesensgesetze (vgl. Hu XIII, S. 83).
188 7. Kapitel. Statische und genetische Konstitution
sagt Husserl: >>Gewohnheit ist, wie Hume richtig lehrt, unsere Amme nicht
nur, sondern die die Welt - ja alle Objektivität gestaltende und beständig fort
gestaltende Bewußtseinsfunktion. > Gewohnheit < ist die Urquelle aller objekti
ven Sinngebung, Gewohnheit als Induktion, aber freilich in Begleitung mit
entsprechender Erfüllung, die beständig die ursprünglich daseinskonstitutierende
Kraft ist<< (Vorlesung >>Natur und Geist« vom SS 1927, Ms. F I 32, S. 1 62a).
Mit dieser Skizze der passiven und aktiven Genesis verschiedener Arten von
Bewußtseinsgegenständlichkeiteil ist aber Husserls Idee einer genetischen Phä
nomenologie noch nicht umrissen. Solche Gegenstände sind für das Ich in er
worbenen Apperzeptionen, Vermögen, Dispositionen, Überzeugungen, und in
diesen Habitualitäten wird das Ich selbst als bestimmte Persönlichkeit, als eige
ne Individualität. Die konkrete Subjektivität, die Monade, hat »notwendig die
Form einer Werdenseinheit, einer Einheit unaufhörlicher Genesis« (Hu XIV,
S. 34). Im Hinblick darauf ergibt sich in einer >>Phänomenologie der monadi
schen Individualität« die Aufgabe, universal den apriorischen Wesensgesetzen
nachzugehen, »welche zu den Erlebnisgesetzen hinzutreten und festlegen, was
die individuelle Einheit und Abgeschlossenheit einer Monade fordert . . . « (eben
da). Da aber die einzelne Monade in ihren Akten und ihrer Welthabe mit ande
ren Monaden intentional verbunden ist, impliziert die Genesis der Monade die
Genesis ihrer Vergemeinschaftung mit anderen Monaden: »Aber die mir gel
tende Welt in ihre Geltungsstrukturen zurückverfolgen, das ist, meine, des Gel
tungsträgers Genesis und darin die Genesis seiner Mitträger, der selbst für mich
in einer Genesis Seinssinn gewinnenden, aufklären; und sowie dieser letzteren
Genesis anhebt, hebt auch die Genesis der Vergemeinschaftung der Genossen
und die vergemeinschaftete Genesis in ihrer umgreifenden Bewegung an, die
von meiner ersten, > solipsistischen< Genesis ausläuft und sich verbreitet« (Ms.
B I 14, Tr. X, S. 25). Die genetische Phänomenologie führt schließlich auch
zu den generativen Problemen von Geburt und Tod und Generationszusam
menhang, von denen aber die Cartesianischen Meditationen erklären, daß sie
>>offenbar einer höheren Dimension angehören und eine so ungeheure ausle
gende Arbeit der unteren Sphären voraussetzen, daß sie noch lange nicht zu
Arbeitsproblemen werden können« (S. 1 69).
Husserls Idee der Genesis ist wohl bedeutend für sein Verständnis seiner Phi
losophie als phänomenologischen oder transzendentalen Idealismus. Erst seit den
zwanziger Jahren, also erst seit der Konzeption einer gen etischen Phänomeno
logie, nimmt Husserl diesen Titel für seine Philosophie in Anspruch (siehe For·
male und transzendentale I.ngik, Cartesianische Meditationen). Allerdings sprachen
schon Überlegungen innerhalb der »statischen« Phänomenologie für eine
>>transzendental-idealistische« Position: Diese Phänomenologie ist vom Gedan
ken geleitet, daß die Entscheidung darüber, was und in welchem Sinn ein Ge-
7. Kapitel. Statische und genetische Konstitution 1 89
genstand irgendwelcher Art letztlich ist, nur durch die Analyse semer
Gegebenheits- oder Bekundungsweise im Bewußtsein zu fällen ist. Schon um
1 907 gelangte Husserl zur Einsicht, daß Naturdinge prinzipiell (selbst "für ei
nen göttlichen Verstand«) nur in subjektiven Erscheinungen (Abschattungen,
Aspekten, Perspektiven) gegeben werden können: In ursprünglicher Gegeben
heit ist ein Naturding nichts anderes als ein Identisches einer prinzipiell unab
schließbaren Erscheinungsmannigfaltigkeit (vgl. oben Kapitel 4). Als ein solches
Identisches ist es Korrelat dieser subjektiven Mannigfaltigkeit, d. h. ohne diese
hat es keinen Sinn. Husserl schreibt 1 9 1 4 oder 1 9 1 5 : »Der transzendentale Ide
alismus besagt: Eine Natur ist nicht denkbar ohne mitexistierende Subjekte mög
licher Erfahrung von ihr<< (Ms. B IV 6, Tr. S. 45).7 Die statische Phänomeno
logie kann aber nicht von einem >>Erzeugen<< oder >>Hervorbringen<< von Ge
genständen sprechen, da sie nur die Gegebenheit >>fertiger<< Gegenstände in den
ihnen entsprechenden subjektiven Bekundungssystemen analysiert. Indem nun
Husserl aber in der genetischen Phänomenologie diese Bekundungssysteme als
gewordene betrachtet, betrachtet er auch die darin sich bekundenden Gegen
stände, sofern sich ihr Sinn in dieser Gegebenheit verwirklicht (zur ursprüngli
chen Selbstgegebenheit kommt), als korrelativ damit geworden, als damit
entstandene >>Leistungsgebilde<<: >>Eben damit wird jede Art Seiendes selbst, rea
les und ideales, verständlich als eben in dieser Leistung konstituiertes Gebilde
der transzendentalen Subjektivität<< (Hu I, S. 1 1 8). Sofern der Sinn eines Seien
den sich aber nicht m den Gegebenheitsweisen des Ich verwirklicht, kann die
ses Seiende nicht in das Werden des subjektiven Bekundungssystemes aufgelöst
werden. Husserl hat diesem Gedanken in seiner Idee der >>Konstitution des An
deren<< Rechnung getragen: Der Andere ist seinem Sinn gemäß für sich und ist
mir als das nie selbst (>>im Original<<) gegeben, sondern nur >>indiziert<< : er ist
eine >>wahre TranszendenZ<< (vgl. Hu XIV, S. 8 f. , 256 ff. und oben Kap. 5, § 2).
Von dieser ersten wahren Transzendenz her hat auch die Natur als intersubjek
tive gegenüber dem einzelnen Ich ihre Transzendenz. s 9 u.
7 Analoges könnte Husserl kaum von idealen Gegenständen, etwa mathematischen Begriffen,
behaupten, sofern diese »adäquat« (nicht in Erscheinungen) gegeben werden können, so daß die
statische Phänomenologie gegenüber idealen Gegenständen >>realistischer<< wäre als gegenüber der
Natur.
8 Wichtige Texte zur genetischen Phänomenologie: Hu XIII, Beilage XLV; Hu XI, S. 336 ff.; Hu
XIV, Beilage I; FTL, §§ 8S ff., Beilage II; Cart. Medit. §§ 3 7 - 39; Hu XV, Text Nr. 35; Hu VI, Bei
lage III.
9 Ausgewählte Literatur zum 7. Kapitel: K. Held ( 1972): 5. 3 - 60; E. Holenstein ( 1972); D. Wel
ton ( 1983).
8 . Kapitel
Ich und Person
Die Titel Ich (reines Ich) und Person (personales Ich) zeigen zwei Aspekte ei
ner einheitlichen Problematik an, die in Husserls Phänomenologie erst nach
den Logischen Untersuchungen, dann aber zunehmend von Bedeutung wurde
und eine sich fortschreitend differenzierende Analyse erfuhr. Zur Zeit der Lo
gischen Untersuchungen selbst verwarf Husserl den Begriff eines reinen Ich als
Fiktion, und eine Behandlung des Begriffs der Person fehlte völlig innerhalb
seiner Erlebnis-Phänomenologie. Nach Jahren der Verlegenheit darüber, »was
das Phänomenologische des > Ic h < ausmacht« (Hu X, Nr. 35, 1905, S. 253), war
Husserl in den Ideen I ( 1 9 1 3) zu einer positiven Stellungnahme zur Frage des
reinen Ich durchgedrungen, er anerkannte - aus weiter unten zu diskutieren
den Motiven - die phänomenologische Evidenz des reinen Ich innerhalb des
Forschungsgebietes der phänomenologisch reduzierten, reinen Erlebnisse, und
in dem als Fortsetzung zum Ersten Buch der Ideen geplanten Werk legte er in
den Entwürfen der letzten Göttinger Jahre auch schon einige Wesenszüge des
personalen Ich frei (vgl. Hu IV, S. 1 72 ff.). Eine vertiefte Erörterung der Frage
nach dem, »Was wir im eigentlichen Sinn Ich nennen<< (vgl. Hu IX, § 42, S. 2 1 5),
und dabei insbesondere eine Aufklärung des Verhältnisses der Begriffe vom rei
nen und vom personalen Ich zueinander finden wir vornehmlich in der Frei
burger Zeit, also ab 19 16.
Auf dem Boden der um 1905 - 07 eingeführten phänomenologischen Reduk
tion (vgl. Kapitel 2, bes. S. 57- 59) sieht es zunächst so aus, als ob die phäno
menologis�he Analyse es mit Erlebnissen >>in einem Nirgendheim<< (vgl. Hu
VII, S. 1 66) oder eben mit >>niemandes<< reinen Erlebnissen (vgl. Hu XVI, S.
40 f.) zu tun hätte. Husserl scheint der Frage, wie es sich denn mit »mir«, dem
Ich, verhalte, der ich die und die Erlebnisse habe, welche ich als Phänomenolo
ge in der Reduktion auf ihre Wesensverfassung hin untersuche, anfänglich auf
dem phänomenologischen Boden selbst keinen Sinn abgewinnen zu können,
es sei denn als Problem der Konstitution des empirisch-dinglichen, transzen
denten Ich, des Menschen, in den reinen Erlebnissen (vgl. Hu XVI, S. 40 f.).
Zwei ganz verschiedene Zusammenhänge der statischen Erlebnisanalyse mo
tivierten Husserl in den Jahren vor den Ideen I jedoch dazu, auch die subjekti
ve Richtung auf ein Ichsubjekt dieser reinen Erlebnisse innerhalb der phäno
menologischen Reduktion mit in Betracht zu ziehen: 1 ) als Prinzip der Einheit
eines Bewußtseinsstromes in Abgrenzung gegen andere Bewußtseinsströme, 2)
zur Bestimmung des prägnanten Begriffs des cogito als Akt des Ich. Während
8. Kapitel. Ich und Person 191
mehr als eine >>unzeitliche<<, >>überzeitliche, aber auf immanente Zeitlichkeit [der
Erlebnisse] bezogene > ideale < [d. h. nicht-reelle] Einheit<< (vgl. etwa Ms. E III
2, S. 35, Ms. L I 20, S. 4a, 1 9 1 7 - 1 8 ; Ms. A IV 5, S. 42a/b, 1925). Nur als im
vergegenwärtigenden und vergegenwärtigten Akt identifiziertes Ich hat es zeit
liche Dauer (vgl. z. B. Hu IV, § 23, S. 1 0 1).
2) Was den an den universalen Begriff des Bewußtseinsaktes im prägnanten
Sinn des cogito geknüpften Begriff des reinen Ich betrifft, ist in den Ideen I die
These zu lesen: >>Unter den allgemeinen Wesenseigentümlichkeiten des tran
szendental gereinigten Erlebnisgebietes gebührt eigentlich die erste Stelle der Be
ziehung jedes Erlebnisses auf das > reine < Ich. Jedes > cogito <, j eder Akt in einem
ausgezeichneten Sinne ist charakterisiert als Akt des Ich, er > geht aus dem Ich
hervor<, es > lebt < in ihm > aktuell <<< (§ 80). Diesen Ichbegriff führte Husserl in
den Jahren unmittelbar vor den Ideen I in Verknüpfung mit dem für den Be
griff des Aktes im prägnanten Sinn konstitutiven Phänomen der A ufmerksam
keit ein. Aufmerksamkeit stellte er seit den Logischen Untersuchungen in einen
Wesenszusammenhang mit der Intentionalität überhaupt, er begriff sie >>als ei
ne Grundart intentionaler Modifikation<< (vgl. Ideen I, § 92, Anm. S. 192 f.).
In einer im Frühjahr 1 9 1 2 entstandenen Aufzeichnung schreibt Husserl: >> . . .
bei jedem intentionalen Erlebnis ist der Modus des Darinlebens ausgezeichnet,
und er besagt aktuelle Aufmerksamkeit auf das Gegenständliche dieses Erleb
nisses<<. >>Dieses Aufmerken, als Gerichtetsein, Zugewendetsein<<, ist >>gar nichts
anderes als ein Ausdruck für > Vollzug< eines intentionalen ErlebnisseS<< (vgl. Hu
XXIII, S. 344). Das Gerichtetsein-auf bzw. Vollziehen weist nun für Husserl,
vermutlich beeinflußt von den psychologischen Lehren Th. Lipps' und A. Pfän
ders vom Ich als Zentralpunkt des psychischen Lebens (vgl. Ideen I, § 92, Anm.
S. 192 f.), zurück auf ein Ausstrahlungszentrum bzw. ein Vollzugssubjekt, ei
nen Quellpunkt des Bewußtseinslebens. Wiederum Anfang 1 9 1 2 schrieb Hus
serl: >>Bei diesem Wechsel des sich-richtenden Aufmerkens . . . ist es so, als ob
das Sich-Richten ein ausgesandter Strahl wäre und als ob alle diese Strahlen Zu
sammenhang hätten als Emanationen aus einem zentralen > Ich < . . . . > Ich<, das
ist aber in der Regel das empirische Ich. Ob es etwas anderes noch enthalten
oder besagen kann, und überhaupt, was diese Beziehung zum Ich phänomeno
logisch weiter enthält, . . . das schalten wir hier aus<< (Ms. A VI 8 I, S. 1 8a). We
nige Monate später, in den Ideen I, setzte Husserl dann fraglos das Ich in der
Funktion des Quellpunktes der Aufmerksamkeitsstrahlen ein: >>Das > Gerich
tetsein auf,, > Beschäftigtsein mit <, > Stellungnehmen zu <, > Erfahren, Leiden von <
birgt notwendig i n seinem Wesen dies, daß e s eben ein > von dem Ich dahin <
oder im umgekehrten Richtungsstrahl > ZUm Ich hin < ist - und dieses Ich ist
das reine, ihm kann keine Reduktion etwas anhabe � (§ 80, S. 1 60).
Husserl war sich zwar in selbstkritischen Texten durchaus bewußt, daß die
194 8 . Kapitel. Ich und Person
in Korrelation mit seiner Umwelt und den Begriff der Monade (vgl. Kapitel S,
§ 2, über >>Fremderfahrung<<, bes. 147). Der Begriff des personalen Ich hängt of
fenbar engstens mit Husserls Hinwendung zu einem genetischen Verständnis der
Konstitutionsproblematik selbst zusammen (vgl. oben Kapitel 7). Die sich ent
wickelnde Korrelation personales Ich - Umwelt thematisierte Husserl in der Frei
burger Zeit stets aufs neue. Er erreichte solcherart Prinzipien einer an Kant
anknüpfenden, in ihrer Konkretheit aber wohl über ihn hinausführenden Theo
rie der im >>Stehenden und bleibenden personalen Ich<< bzw. in der personalen
Ichgemeinschaft verwurzelten transzendentalen Subjektivität und Intersubjek
tivität in Korrelation zur objektiven Welt der Erfahrung (vgl. Hu I, § 32,
S. 1 0 1 ) . 1
Husserl stellt bezüglich der »Selbstkonstitution<< des Ich in der Genesis der
Apperzeptionen heraus, daß das Subjekt als Subjekt der Apperzeptionen >>selbst
konkret bestimmtes<< ist. >>Es ist nicht nur überhaupt abstrakter Ichpunkt und
bezogen auf eine dingliche Umwelt, sondern es ist als Subjekt, das diese Um
welt hat, Subjekt von Vermögen (ein Subjekt, das ein bestimmtes > ich kann<
hat)<< (Ms. A VI 30, S. 39 f.). >>Die Vermögen weisen zurück auf Felder der Habe,
und damit drückt sich eine ursprüngliche und erworbene seelische Habe aus,
von der Reize auf mich, das Subjekt der Freiheit ausgehen, über die ich, ihnen
folgend, Verfügung habe<< (Ms. A VI 9, S. 2a, wohl 1 9 1 6). >>Was wir im eigentli
chen Sinn Ich nennen (abgesehen von der kommunikativen Beziehung auf ein
Du oder Wir)<<, bestimmt Husserl stets prägnanter als eine »personale Indivi
dualität<<, als >>Subjekt personaler Motivationen<< (vgl. Hu IX, S. 2 1 5; Ms. A VI
9, S. 2a). In diesem Sinne typisch sind folgende Kennzeichnungen aus den zwan
ziger Jahren: »Im eigentlichen Sinn ist das > Ich < der Ichpol mit den ihm aus
seinem Leben und Stellungnehmen zuwachsenden Habitualitäten, Vermögen<<
(Hu XIV, S. 275), oder: >>Das Ich ist doch immerzu konstituiert (in völlig eigen
artiger Weise konstituiert) als personales Ich, Ich seiner Habitualitäten, seiner
Vermögen, seines Charakters<< (Hu XIV, S. 44, Anm. 1).
Husserl bemüht sich darum, einen phänomenologischen >> Wesensbegriff von
Person« (Hu XIV, S. 2 1) auszubilden. Obschon >>das personale Ich individuelles
ist«, ist nach allgemeinen Wesensgesetzen zu bestimmen, >>Was dieses nur im Ein
leben in ein aktuelles cogito und den Zusammenhang der rückliegenden (habi
tuell gewordenen) Stellungnahmen und die Motivationszusammenhänge zu
erfassende Ich ist, was ich als identisch durchgehende Person Ich eigentlich fin
de<< (Hu XIV, S. 2 1 , S. 1 7). Husserls vielfältige Beschreibungen zum Begriff des
1 Wesentliches, was Husserl zum Begriff des personalen Ich gedacht hat, kommt vornehmlich
im Zusammenhang oder Hinblick auf seine Intersubjektivitätsproblematik zur Sprache; vgl. Hu XIII
bis XV.
196 8. Kapitel. Ich und Person
personalen Ich können hier nur nach einigen Hauptthemen angezeigt werden.
Ein wesentlicher Gedanke, der immer wieder zum Zuge kommt, ist der, daß
Husserl die Person als ein >>Prinzip der Verständlichkeit, also Rationalität<<
faßt.2 Die Person ist nicht einfach eine >>assoziativ-induktiv konstituierte Ein
heit<<, in der sich >>nichts von der Individualität<< bekundet (Hu XIV, S. 1 9 ff.,
Hu XIII, S. 434 f.). Vielmehr konstituiert sich die Person mit einer >>individuel
len Eigenart<<, einem >>bleibenden Stil<< mit durchgehender Identitätseinheit,
einem »personalen Charakter<<. 3 Diese Begriffe Personalität, Individualität,
Charakter beziehen sich nach Husserl auf >>das Feld der sich vom Ich her bil
denden und es ichlieh bestimmenden Überzeugungen<< (Hu IX, S. 2 1 4), auf die
habituellen Eigenheiten. Die individuelle Eigenart, die das Ich auszeichnet, be
kundet sich in seinen Stellungnahmen, seinen Interessen, seinen Motivationen,
festen Meinungen, Entscheidungen, Überzeugungen. Husserl versucht, das We
sen des sich wandelnden personalen Ich in Korrelation mit seiner Umwelt als
>>Einheit der KonsequenZ<< zu fassen. Gibt das Ich eine Überzeugung preis, so
>>ändert es seine > Richtung auf<<<, es ist indessen >>Wieder und notwendig gerich
tetes (und im Modus des bleibenden Ich gerichtetes), aber es hat sich gegenüber
eine > andere < Umwelt . . . , es ist dasselbe Subjekt der neuen Welt, aber anderer
seits, es ist dasjenige, das sich nach seinen Überzeugungen, Wünschen etc. ge
ändert hat<< (Ms. A VI 30, S. 45b; zwischen 1 9 1 8 und 1921). >>Meine Umwelt
ist so ein beständig wechselndes Reich von bleibenden Gesetztheiten, und kor
relativ ändere ich mich selbst beständig als ihr sie konsequent setzendes Sub
jekt. Ich ändere mich in Form der InkonsequenZ<<. Es gilt aber: >>Durch alle
durch Inkonsequenz sich wandelnden und immer neuen habituellen Ich geht
hindurch, oder es konstituiert sich in ihnen, ein konsequent bleibendes Ich und
als sein Korrelat: eine und dieselbe Umwelt (Universum des aus meiner Setzung
her Geltenden)<< (Ms. A VI 30, S. 46b).
Diese Korrelativität zwischen personalem Ich und Umwelt thematisierte er
in den zwanziger und dreißiger Jahren nach verschiedenen >>Möglichkeiten<<:
1) In Hinsicht auf Kants Problem des >>Ich der transzendentalen Apperzeption<<
und der dazugehörigen >>transzendentalen Deduktion<<. Die Idee eines konse
quenten Ich erscheint Husserl schließlich >>Zu formal<< (Ms. A VI 30, S. 37a),
ungenügend zur vollen, konkreten Bestimmung der Selbsterhaltung, der Ein
heit des Ich, die zum echten Sinn des Ich der transzendentalen Apperzeption
gehöre (vgl. Ms. A VI 30, S. 37a; S. 43 f.; vgl. auch Ms. A V 2 1 , S. 1 0 1 a). Das
Ich der Selbsterhaltung muß konkret im Verband mit der >>Frage der universa
len Erfahrungsstruktur, bzw. der Konstitution einer standhaltenden Welt<< be-
2 Vgl. etwa Hu XIV, S. 17; Hu IX, S. 2 1 5 ; Ms. E III 2, S. 2 1 b; Ms. A VI 25, S. 1 0 ff.
3 Vgl. Hu XIV, S. 23 , Hu IX, S. 2 1 5 , Hu I, S. 1 0 1 .
8. Kapitel. Ich und Person 197
stimmt werden: Busserl sucht nachzuweisen, daß <<Ich als Ich Einheit durch die
Welt habe, wenn sie wirkliche Welt ist, wenn sie Titel für ein Reich der Wahr
heiten an sich ist<< (Ms. A VI 30, S. 38b). Die Welt muß eine gewisse Struktur
haben, und andererseits muß das Ich in sich »potentiell die Möglichkeit einer
zu erwerbenden festen Habitualität<< tragen, denn >>alles für mich Seiende unter
dem Titel Welt ist für mich selbstverständlich nur aus meiner Intentionalität<<
(Ms. A VI, 30, S. 3 8). In einer kurzen Aufzeichnung mit dem Titel »Ich der
transzendentalen Apperzeption<< schreibt Busserl: » Ichpol ist nicht Ich. Ich bin
in meinen Überzeugungen. Ich erhalte mein eines und selbes Ich - mein idea
les Verstandes-Ich -, wenn ich immerzu und gesichert fortstreben kann zur
Einsicht einer Gesamtüberzeugung, wenn eine Objektwelt für mich beständig
erhalten bleibt, und mit der offenen Möglichkeit, sie immer näher in Einstim
migkeit zu bestimmen<< (Ms. A VI 30, S. 54b, wohl 1926).
2) In Hinsicht auf die Möglichkeit der Auflösung der Welt in ein Gewühl
in Korrelation mit der Auflösung des Ich der transzendentalen Apperzeption:
Unter Einbeziehung seiner Lehre von der Faktizität der Weltkonstitution (vgl.
Kapitel 10, bes. S. 2 1 1 f.) konzipiert Busserl die Möglichkeit einer Zersetzung
des personalen Ich. In einem der zahlreichen diesen Problemen nachgehenden
Texte ist zu lesen: »Muß es stehende und bleibende Ich als Personen oder zum
mindesten eine stehende und bleibende personale Allheit in möglicher Gemein
schaft geben . . . muß ich, muß jede Person sein? Liegt in der Evidenz des Ich
bin mehr als die Evidenz der Person in Beziehung auf eine präsumptive Welt,
und warum soll es nicht ein > vielfärbiges < Selbst geben können? Ist das Gegen
teil nicht in der Tat denkmöglich, kann ich nicht durch Abbau der assoziati
ven Erfahrungskonstitution sozusagen einen personalen Selbstmord begehen,
während doch als Unterlage für diese Möglichkeit mein Leben, wenn auch als
objektiv sinnloses, verbleibt mitsamt der Ich-Polarisierung, wennschon dieser
Ichpol keinen personalen habituellen Sinn hat<< (Ms. A VI 30, S. 52b, wohl zwan
ziger Jahre).
3) Schließlich geht Busserl auch der Frage n ac h de r ap ri o r is c h e n Begründung
der Möglichkeit verschiedenartiger einheitlicher Umwehen in Korrelation mit
verschiedenartigen »personalen<< Subjekten nach: Ganz allgemein gesprochen un
tersucht er menschliche Umwelten, darunter die frühkindliche, die Umwelt der
»reifen<< Person als »normalen<<, die Umwelt der »Primitiven<<, der Anomalen,
der Kranken, gegenüber der tierischen Umwelt. Insbesondere aus den dreißiger
Jahren finden sich Aufzeichnungen, in denen Busserl das Spezifische der mensch
lichen Umwelt bzw. der Person gegenüber der Tierwelt auf den Begriff zu brin
gen versucht. Er hebt vor allem die Selbstbezogenheit auf die Universalität des
Lebens und die individuelle und soziale Historie gegenüber dem »Gegenwarts
Ich<< des Tieres hervor. Die »menschliche Person lebt nicht in der bloßen Ge-
198 8. Kapitel. Ich und Person
genwart, sie lebt in ihrem ganzen Leben, ihr ganzes Leben, ihr personales Sein
als gewesenes personales Sein und wieder als künftiges personales Sein, die gan
ze vergangene Personalität in der ganzen personalen Zeitlichkeit, der persona
len strömenden Lebensdauer ist für die Person thematisch, ist Motivationsfeld,
Feld spezifisch menschlicher Stellungnahmen, Wertungen und Wallungen<< (vgl.
Ms. A V 5, S. 12a/b). Er fragt, ob dagegen beim Tiere nicht eine »rein triebmä
ßige, triebmäßig auf Einstimmigkeit gerichtete Intentionalität<< für die Konsti
tution der tierischen Umwelt angenommen werden müsse, derart, daß die Tiere
von dieser, >>die wir ihnen in naiver Einfühlung zuschreiben<<, nichts wüßten
(Hu XV, S. 1 84). »Vergangenheit haben sie nur als Retentionalität und haben
Selbigkeit von Dingen nur in der Form des primären Wiedererkennens, das
noch kein Zurückgehen auf die Vergangenheit im Wiedererinnern (als quasi
Wiederwahrnehmen) kennt und kein Identifizieren der Zeit- und Ortsstellen,
das Individualität der Dinge als seiender ermöglicht<< (ebd.). Was den Menschen
und menschliche Umwelt dagegen auszeichnen würde, versucht Husserl wie folgt
anzusetzen: >>Beim Menschen vollzieht sich eben eine ständige Umwandlung
der passiven Intentionalität in eine Aktivität aus Vermögen der Wiederholung.
Ist das so als schroffe Scheidung richtig?<< (S. 1 84).
Abschließend sei ein Hinweis auf Husserls Bestimmung des Verhältnisses zwi
schen dem reinen, unwandelbaren, numerisch identischen Ich und dem perso
nalen Ich gegeben! Einerseits besteht zwischen dem in beiden Begriffen An
gesprochenen ein scharfer Unterschied, der sich in der phänomenologischen
Gegebenheitsweise niederschlägt: >>Das reine Ich ist nicht die Person . . . . Die
Person Ich ist das Identische im Wandel meines Ichlebens, meines Aktiv- und
Affiziertseins, es ist in keiner Reflexion adäquat gegeben« (Ms. A VI 2 1 , S. 21 ).
Andererseits besteht doch, und es muß bestehen, eine Identität des >>Ich<<: Das
>>reine Ich liegt aber auch im personalen Ich beschlossen, jeder Akt cogito des
personalen Ich ist ein Akt des reinen Ich<< (Ms. A VI 2 1 , S. 2 1). Die Identität
im Wandel, die für das personale Ich konstitutiv ist, bleibt letztlich begründet
im reinen Ich: >>Das [personale] Ich bleibt solange unverändert als es > bei seiner
Überzeugung, Meinung bleibt <; die Überzeugung ändern ist > Sich < ändern. Aber
in der Änderung und Unveränderung ist das Ich identisch dasselbe eben als
Pol,, (Hu IV, S. 3 1 1).4
4 Ausgewählte Literatur zum 8 . Kapitel: A. Gurwitsch ( 1 929); G. Brand ( 1 955); K. Held ( 1966);
1 Siehe Hu IV, S. 375; Ms. D 13 I, S. 173a (um 1 9 1 8); Ms. A IV 22, Transkription S. 70 (1920)
2 Diesen Begriff, den er von Richard Avenarius übernommen hat, gebraucht er schon in der
Vorlesung »Grundprobleme der Phänomenologie« von 1910/ 1 1 (Hu XIII, S. 125).
3 Etwa im Aufsatz Philosophie als strenge Wissenschaft von 19 1 1 und in den Ideen von 1 9 1 3 .
200 9. Kapitel. Die Lebenswelt als Grundlagenproblem
4 Ms. F I 32, S. 4 1 a (Vorlesung ,,Natur und Geist<< von 1927 ) ; paralleler Text: Ms. A IV 5,
S. lOb.
5 Vgl. Hu IX, S. 54 ff.; Ms. F I 32, S. 40a, 86a, 99a, 1 1 7a ff.
Wissenschaftliche Welt und Lebenswelt 20 1
In den zwanziger Jahren bedeutet für Husserl der Rückgang von den Wis
senschaften auf ihre Erfahrungsgrundlage den Rückgang auf die »schlichte<< oder
»pure<< Erfahrung, und das heißt für ihn damals auf die vorbegriffliche (vorsprach
liehe, anteprädikative) Erfahrung. Die Welt schlichter Erfahrung, in der alle
Weltwissenschaften letzlieh gründen, >>geht allem Erfahrungsdenken voraus<< (Hu
IX, S. 69), in ihr »bleibt jede prädizierende, theoretisierende Tätigkeit, wie jede
andere, die den Erfahrungsgegenstand mit irgendeinem neuartigen Sinn behaf
tet, außer Spiel.<< (S. 59) »In der Einheit der Erfahrung selbst ist allem Bereden,
Bedenken, Begründen, Theoretisieren voran eine durchaus einheitliche, unge
brochene, in sich zusammenhängende Welt erfahren.<<8 Es ist die Welt der blo
ßen, vorbegrifflichen Wahrnehmung und Erinnerung (vgl. Hu IX, S. 58 ff.), die
Welt der bloßen Anschauung; es ist, was Husserl in den Cartesianischen Medi
tationen die »primordinale Welt<< oder »Eigenheitssphäre<< nennt, nämlich die
vom einzelnen Subjekt, in Abstraktion vom intersubjektiven traditionalen Kom
munikationszusammenhang, ursprünglich selbst erfahrene und erfahrbare Welt.
In dieser Perspektive (vgl. Hu I, § 44; vgl. oben Kapitel 5, § 2) ist die Aufgabe
der Grundlagenforschung die folgende: »Den Weg zu durchmessen, der von der
stummen, begrifflosen Erfahrung und ihren universalen Verflechtungen über
führt zunächst zur typischen, vagen, ersten Allgemeinheit, die im Alltag genü
gend ist, und von da zu den echten und wahren Begriffen, wie sie echte Wis
senschaft voraussetzen muß.<< (Ms. F I 32, S. 39b/40a)
In den zwanziger Jahren nennt Husserl diese unhistarische »Welt der Anschau
ung<< auch »Lebenswelt<< (Ms. F I 32, S. 1 1 0b). Es scheint, daß hier der Begriff
des Lebens, wie in gewissen Richtungen der sog. Lebensphilosophie, einen Ge
gensatz zum intellektuellen begrifflichen Denken bildet. Aber im Laufe der
Jahre wandelt sich Busserls Bestimmung der für die Wissenschaften grundle
genden Erfahrung, und mit dieser Wandlung verändert sich auch der Begriff
der »Lebenswelt<<. In der Vorlesung »Phänomenologische Psychologie<< von 1925
führte Husserl aus: »Wir gehen von den für uns fraglichen Begriffen Natur und
Geist, als Gebietsbegriffen von Wissenschaften, zurück auf die vor allen Wis
senschaften und ihren theoretischen Intentionen liegende Welt als Welt vor
theoretischer Anschauung<<, aber später fügt er in seinem Vorlesungsmanuskript
noch hinzu: »ja als Welt des aktuellen Lebens, in welchem das welterfahrende
und welttheoretisierende Leben beschlossen ist.<< (Hu IX, S. 56) Und in der Vor
lesung »Einführung in die Phänomenologie<< von 1926/27 sagt er, nachdem er
zur Grundlegung der Wissenschaften eine »radikale Selbstbesinnung über das,
was allen Wissenschaften voranliegt als der universale Erfahrungsboden, auf dem
sie baut<<, sowie eine »Epoche hinsichtlich aller Wissenschaft<< (Hu XIV, s. 396)
gefordert hat: »Andererseits sind für uns europäische Kulturmenschen die Wis
senschaften doch da, Bestandstück unserer vielgestaltigen Kulturwelt, so wie
unsere Kunst, unsere wissenschaftliche Technik usw. Mögen wir ihre Geltung
auch unbetätigt lassen, mögen wir sie auch in Frage stellen, sie sind für uns
MitTatsachen in der Erfahrungswelt, in der wir leben. Ob klare oder unklare,
vollgültige oder ungültige Wissenschaften, wie alle guten oder schlechten Werk
gebilde der Menschheit gehören sie zum Bestand der Welt als Welt reiner Er
fahrung.<<9 Die die Wissenschaften letztlich tragende Erfahrung ist also nicht
mehr eine stumme, vorbegriffliche Anschauung, sondern die Erfahrung der ak
tuellen, konkreten historischen Welt mit ihren Kulturgebilden, und das heißt
auch mit ihren Begriffen und Wissenschaften. Dieser von Husserl in den zwan
ziger Jahren erst zögernd ausgedrückte Gedanke wird in der Krisis klar durch
geführt: Die objektive Wissenschaft hat in der Lebenswelt ihre Grundlage und
als menschliche Leistung gehört sie wie alle andern menschlichen Leistungen
zugleich in die konkrete Lebenswelt hinein. (Hu VI, S. 1 07, 127, 1 32 f. , 1 3 6,
1 39, 1 4 1 , 460) War zunächst Husserls Problem der Grundlegung der objekti
ven Wissenschaft als ein Problem des Begründungsverhältnisses von wissenschaft
lichem Begriff und vorbegrifflicher Anschauung formuliert, so verwandelte es
sich in seinen Ü berlegungen zum Problem der grundsätzlichen Beziehung von
abstrakter Welt der objektiven Theorie und von konkreter geschichtlicher Welt
des subjektiven Lebens, in das die »theoretische Praxis<< als eine menschliche
Praxis unter andern (>>und zwar eine eigenartige und historisch späte<<) hinein
gehört. (Hu VI, S. 1 1 3, 135, 1 45)
Was Husserl zu dieser Umwandlung der Problematik führte, war wohl einer
seits schon rein wissenschaftstheoretisch bedingt : Die Grundlage der Geistes
wissenschaften jedenfalls kann keine stumme, vorbegriffliche Erfahrung sein,
sondern nur die lebendige Teilhabe an der kulturellen Welt. Andererseits wur
de Husserl in Laufe der zwanziger Jahre das Problem der objektiven Wissen
schaft nicht nur als ein bloß wissenschaftstheoretisches fühlbar, sondern immer
mehr auch als ein Problem ihrer Relevanz, ihres Sinnes für das konkrete ge
schichtliche Leben. Wie auch vielen seiner Zeitgenossen wurde ihm die »Le
bensentfremdung<< der objektiven Wissenschaften empfindlich, nämlich die
Tatsache, daß sie zu den wichtigsten Fragen des menschlichen Lebens, den Sinn
fragen, nichts zu sagen hatten. Darin sah er ihre tiefste »Krisis<< im wörtlichen
Sinn, nämlich ihre Abspaltung vom konkreten subjektiven Leben. Daher trat
9 Hu XIV, S. 396f.; im selben Sinne auch in »Natur und Geist« von 1927: »Ist denn nicht Wis·
senschaft selbst eine Funktion des Lebens, und nicht eines zufälligen Einzellebens und einer zu.
fälligen Gegenwan, sondern eines der größten Produkte historischer Intentionen und getaner Ar·
beit in Jahrtausenden? Ist sie nicht ein Stück selbst der einheitlichen Lebenswelt?• (Ms. F I 32,
s. 108b)
204 9. Kapitel. Die Lebenswelt als Grundlagenproblem
schon vorgegebene, im voraus daseiende Boden und Horizont für alle, theore
tische und außertheoretische, Praxis. (Hu VI, S. 145) Als solcher Horizont und
Boden ist sie zwar immer bewußt, aber auch in der vor- und außerwissenschaft
lichen Praxis ist sie als solche nicht Gegenstand unserer Aufmerksamkeit und
Besinnung. Denn wir leben thematisch befangen in unseren jeweiligen, mo
mentanen oder dauernden, Zwecken, die innerhalb der Lebenswelt ihre eige
nen abstrakten »Welten<< konstituieren; »normalerweise ist kein Anlaß, uns die
Lebenswelt universal ausdrücklich thematisch zu machen« (Hu VI, S. 459).
Gegenüber der objektiven Welt der Wissenschaft ist die Lebenswelt »das Uni
versum von Seiendem, das ständig in unaufhörlicher Bewegung der Relativität
für uns ist<< (Hu VI, S. 462). Es ist die Welt des anschaulich Erfahrenen, das
relativ ist auf die erfahrende Subjektivität (Hu VI, S. 1 27) und auch im gewöhn
lichen Leben auf unsere Menschengemeinschaft als eine Gemeinschaft von Men
schen normaler Sinnlichkeit und normaler Wechselverständigung bezogen wird.
(Ms. F I 32, S. 6a, 25b) »Die Voraussetzung, die das Leben immer leitet, daß
die Erfahrungswelt sei, wobei das Sein in naiver Weise auf eine vorausgesetzte
empirische Normalität bezogen wird, wird nun in der Wissenschaft fast unwill
kürlich unbedingt gefaßt, d. h. man setzt voraus eine Wahrheit und ein wahres
Sein, das über alle Unterschiede der Normalität und Anomalität hinausreicht.
Aber da jede wirkliche Einzelerfahrung und Gemeinschaftserfahrung relativ
ist, so ist die Voraussetzung eines wahren Seins und zugehöriger an sich wah
rer, überrelativer Bestimmungen des Seienden von vornherein eine ideale, eine
jede wirkliche und mögliche Erfahrung transzendierende.<< (Ms. F I 32, S. 6b)
Der Kontrast zwischen der Subj ektivität der Lebenswelt und der Objektivität
der wissenschaftlichen Welt liegt also darin, »daß die letztere eine theoretisch
logische Substruktion ist, die eines prinzipiell nicht Wahrnehmbaren, prinzi
piell in seinem eigenen Selbstsein nicht Erfahrbaren, während das lebenswelt
lich Subjektive in allem und jedem eben durch seine wirkliche Erfahrbarkeit
ausgezeichnet ist. Die Lebenswelt ist ein Reich ursprünglicher Evidenzen.<< (Hu
VI, S. 1 30)
Obschon die logische Substruktion der objektiven Wissenschaft die anschau
liche subjektive Lebenswelt transzendiert, kann sie doch nur in Rückbeziehung
auf lebensweltliche Evidenzen ihre Wahrheit haben. Die lebensweltlich erfah
rene theoretische Praxis der Wissenschaftler und ihre Instrumente bleiben der
beständige Geltungsboden: >>das Subjektiv-Relative fungiert nicht etwa als ein
irrelevanter Durchgang, sondern als das für alle objektive Bewährung die
theoretisch-logische Seinsgeltung letztlich Begründende, also als Evidenzquel
le, Bewährungsquelle. Die gesehenen Maßstäbe, Teilstriche usw. sind benützt
als wirklich seiend und nicht als Illusionen; also das wirklich lebensweltlich
Seiende als gültiges ist eine Prämisse.<< (Hu VI, S. 129) Als >>UrevidenZ<< für die
206 9. Kapitel. Die Lebenswelt als Grundlagenproblem
Husserl entwirft nun die Idee, die subjektiv-relative Lebenswelt als solche zum
Thema einer neuartigen Wissenschaft zu machen, nicht nur zur Aufklärung
des Geltungsfundamentes der objektiven Wissenschaften, sondern zur Erkennt
nis des Sinnes weltlichen Seins und Wahrheit überhaupt. »Kann man nicht die
Lebenswelt, die, deren wir alle im Leben als unser aller Welt bewußt sind, oh
ne sie irgendwie zum universalen Thema zu machen, vielmehr immer nur un
sern alltäglichen, momentanen, unseren einzelnen oder universalen Berufs
zwecken und -interessen hingegeben - kann man sie nicht in geänderter Ein
stellung universal überschauen und kann man nicht, als was und wie sie ist,
kennenlernen wollen in ihrer eigenen Beweglichkeit, Relativität, sie zum The
ma einer universalen Wissenschaft machen, die aber keineswegs das Ziel hat
der universalen Theorie, in dem Sinne wie die historische Philosophie und die
Wissenschaften es erstrebten?« (Hu VI, S. 462) Als ersten Schrittes dieser neuar-
Die Idee einer Ontologie der Lebenswelt 207
10
Vgl. Husserls Brief an Hugo von Hoffmannstal, veröffentlicht in Sprache und Politik. Fest·
gabe für Dolf Sternberger, hrsg. von C. ]. Friedrich, Heidelberg, 1968, S. 1 1 1 - 1 14.
208 9. Kapitel. Die Lebenswelt als Grundlagenproblem
senheit des personalen Ich eine gewisse Selbständigkeit gewinnt, dadurch zu
gleich ihre Welt, die Natur, unrechtmäßig verabsolutierend<< (Hu IV, S. 1 8 3 f.);
aber auch im alltäglichen, personalistisch eingestellten Leben sind wir nach Hus
serl auf einzelne Zwecke gerichtet, die die Lebenswelt in ihrer Konkretion und
Universalität unthematisch belassen.
Die Lebensumwehen sind relativ zu den verschiedenen Kulturkreisen, haben
aber eine allgemeine Struktur, die zwar eine subjektive Relativität ein beschließt,
aber den verschiedenen faktischen Kulturkreisen allgemein ist. So gibt es eine
lebensweltliche Zeitlichkeit, Räumlichkeit, Kausalität, die nicht identisch sind
mit den entsprechenden Idealisierungen der objektiven Wissenschaft. Husserl
sah in einer solchen allgemeinen Struktur oder Typik ein >>lebensweltliches
Apriori<<, das in einer apriorischen Wissenschaft, in einer >>Ontologie der Le
benswelt<< zu erfassen ist. (Hu VI, S. 1 76; vgl. Hu IX, S. 64 f.) Eine solche Onto
logie hätte auch allgemeine Strukturen der subjektiven Relativität und inter
subjektiven Praxis (etwa die Struktur >>Heimwelt-Fernwelt<<11) zu erfassen. Hus
serl hat eine solche Ontologie nie systematisch ausgearbeitet.
Eine solche apriorische Wissenschaft lebensweltlicher Strukturen ist nach Hus
serl noch unabhänig von transzendental-subjektiven Interessen, d. h. noch auf
dem Boden der Lebenswelt und noch nicht in der transzendental-reflexiven Ein
stellung möglich. (Hu VI, S. 1 76 f.) Aber eine solche >>naive<< Ontologie der Le
benswelt vermag nach ihm noch nicht den Seinssinn der wesentlich auf Sub
jektivität relativen Lebenswelt letztlich zu verstehen. Letzte Klärung ist nur mög
lich in einer Reflexion auf die transzendentale Subjektivität, auf das >>universa
le leistende Leben, in welchem die Welt als die für uns ständig in strömender
Jeweiligkeit seiende, die uns ständig > Vorgegebene < zustande kommt<< (Hu VI,
S. 148). >>So nur können wir studieren, was Welt als Bodengeltung natürlichen
Lebens, in allen seinen Vorhaben und Gehaben, ist, und korrelativ, was natür
liches Leben und seine Subjektivität letztlich ist, d. h. rein als die Subjektivität,
die da als Geltung vollziehende fungiert.<< (Hu VI, S. 1 5 1) Zum Studium dieses
Lebens bedarf es methodisch der transzendentalen Epoche und Reduktion. So
sah Husserl methodisch in der Problematik der Lebenswelt einen Weg zur
transzendentalen Reduktion. (Vgl. oben, Kapitel 2, § 1) 1 2
verstanden und in rechter Weise nutzbar gemacht wird, eine große Wahrheit«
(Ideen I ( 1 9 1 3), S. 1 59). »Alle Rationalität des Faktischen liegt ja im Apriori.
Apriorische Wissenschaft ist Wissenschaft von dem Prinzipiellen, auf das Tat
sachenwissenschaft rekurrieren muß, um letztlich eben prinzipiell begründet
zu werden . . . « (Hu I, S. 1 8 1). »Ist auch mein eigentliches Interesse, nach der tran
szendentalen Reduktion auf mein reines ego, seine, dieses faktischen ego, Ent
hüllung, so kann die Enthüllung zu einer echt wissenschaftlichen nur werden
unter Rekurs auf die ihr, das ist dem ego als einem ego überhaupt, zugrundelie
genden apodiktischen Prinzipien, auf die Wesensallgemeinheiten und Notwen
digkeiten, mittels deren das Faktum auf seine rationalen Gründe, auf die seiner
reinen Möglichkeiten zurückbezogen und dadurch verwissenschaftlicht (logifi
ziert) wird. So geht > an sich < die Wissenschaft der reinen Möglichkeiten derje
nigen von den Wirklichkeiten vorher und macht sie als Wissenschaft überhaupt
erst möglich<< (a.a.O., S. 1 06).
Die transzendentale Phänomenologie als Wissenschaft reiner Möglichkeiten
ist, indem sie das in einer transzendentalen Subjektivität und darin konstitui
erten Intersubjektivität beschlossene Apriori entfaltet, aufgrund der Bezogen
heit alles erdenklichen Seins auf die transzendentale Subjektivität und Inter
subjektivität letztlich »universale Ontologie<< als Lehre vom möglichen Sein.
»Diese universale konkrete Ontologie (oder auch universale und konkrete Wis
senschaftslehre, diese konkrete Logik des Seins) wäre also das an sich erste Wis
senschaftsuniversum aus absoluter Begründung . . . Diese totale Wissenschaft vom
Apriori wäre dann das Fundament für echte Tatsachenwissenschaften und für
eine echte Universalphilosophie im Cartesianischen Sinne, eine universale Wis
senschaft vom tatsächlichen Seienden aus absoluter Begründung<< (a.a.O., S. 1 8 1).
Nach dieser Begründungsordnung nennt Husserl - dem Platonischen Ursprung
dieser Konzeption entsprechend - die eidetische, transzendentale Phänome
nologie (die universale Ontologie oder Logik des Seins) Erste Philosophie und
bezeichnet die empirische Philosophie des Faktischen als Zweite Philosophie:
»Die streng systematisch durchgeführte Phänomenologie des vorhin erweiter
ten Sinnes [nämlich erweitert zur empirischen Phänomenologie] ist identisch
mit dieser alle echten Erkenntnisse umspannenden Philosophie [der universa
len Wissenschaft aus radikaler Selbstrechtfertigung]. Sie zerfällt in die eideti
sche Phänomenologie (oder universale Ontologie) als Erste Philosophie und in
die Zweite Philosophie, die Wissenschaft vom Universum der Fakta oder der
sie alle synthetisch beschließenden Intersubjektivität<< (Hu IX, S. 298 f.).
Die Zweite Philosophie oder Metaphysik scheint nach Husserl vorerst nichts
anderes zu sein als eine letzte Begründung oder Aufklärung aller Tatsachenwis
senschaften aus den transzendental-apriorischen Prinzipien. Im Sinne dieses Karr
tischen Gedankens schreibt Husserl auf einem Beiblatt zu seiner Vorlesung
10. Kapitel. Erste und Zweite Philosophie 211
1 Hu IX, S. 298. In ähnlichem Sinne schon in der Vorlesung >>Grundprobleme der Ethik und
Wertlehre« vom SS 1 9 1 1 : »Nennen wir die auf das faktische Sein bezogene Wissenschaft, sofern
sie absolute Wissenschaft, höchsten Interessen genügend sein will, Metaphysik, so ist es klar, daß
Metaphysik nichts anderes ist als Fortführung aller aktuellen Natur- und Geisteswissenschaften
als ihre Vollendung, Vervollkommung, Philosophierung, nämlich nach den in den reinen [ aprio
=
rischen] philosophischen Disziplinen ausgebildeten Prinzipien, nach den in ihnen rein ausgestalte
ten Ideen und Idealen« (Ms. F I 14).
2 Vgl. Hu VIII, S. 385, 394.
212 1 0 . Kapitel. Erste u n d Zweite Philosophie
3 Hu I, S. 182; so fast wörtlich auch in den »Pariser Vorträgen«, a.a.O. , S. 39. Vgl. Hu VIII, S.
506: »Die Geschichte ist das große Faktum des absoluten Seins; und die letzten Fragen, die letztme
taphysischen und -teleologischen, sind eins mit den nach dem absoluten Sinn der Geschichte.<<
4 Vgl. I. Kern, Husserl und Kant, 1964, S. 300- 303.
10. Kapitel. Erste und Zweite Philosophie 213
wendigkeiten fundiert sind. Mein faktisches Sein kann ich nicht überschreiten
und darin nicht das intentional beschlossene Mitsein Anderer etc., also die ab
solute Wirklichkeit. Das Absolute hat in sich selbst seinen Grund und in sei
nem grundlosen Sein seine absolute Notwendigkeit als die eine > absolute
Substanz<. Seine Notwendigkeit ist nicht Wesensnotwendigkeit, die ein Zufäl
liges offen ließe. Alle Wesensnotwendigkeiten sind Momente seines Faktums,
sind Weisen seines in bezug auf sich selbst Funktionierens - seine Weisen, sich
selbst zu verstehen oder verstehen zu können.<<5 Diese Überlegung steht in ei
nem Kontext, der vom Faktum der teleologischen Ausrichtung der vom göttli
chen Willen getragenen transzendentalen Intersubjektivität auf Vollkommenheit
(>>wahres Sein<<) ausgeht. Nicht nur das >>Urfaktum<< des Ich, sondern auch das
Faktum seiner historischen Welt überhaupt scheint hier den Ausgangspunkt
des Philosophierens zu bilden, so daß hier manches an Heideggers Hermeneu
tik der Faktizität erinnert (vgl. auch Hu XV, S. 666 ff.). Jedoch ist es nach die
sem Neuansatz bei Husserl nicht mehr zu einer systematischen und prinzipiellen
Ausarbeitung des Verhältnisses zwischen Eidetik (an der er als Bedingung der
Möglichkeit transzendentaler Erkenntnis unerschüttert festhält), Wirklichkeit
und empirischem Faktum gekommen.6
5 Hu XV, S. 3 8 5 f. Vgl. den Text in Ms. D 17, S. 2 1 a (Mai 1 934), der veröffentlicht ist in Philo
sophical Essays in Memory ofE. Husserl, ed. M. Farber, Cambridge, Mass., Harvard University Press,
1940 (2. Auf!. 1970), S. 323: >>Das ego lebt und geht allem wirklichen und möglichen Seienden vor
an, und Seiendes jedes, ob realen oder irrealen Sinnes.<<
6 Eine etwas ausführlichere Darstellung von Husserls Sicht des Verhältnisses von Erster und Zwei
ter Philosophie findet sich in L Kern, Idee und Methode der Philosophie -·-1975, S. 333 ff.
Anhang
Daten zu Leben, Werk und Lehrtätigkeit
1 859 Edmund Husserl wird als zweites von vier Kindern in Prossnitz (Prostejov,
Mähren) geboren.
1 8 76 - 1 887 Studienjahre.
WS 1 8 76/77-WS 1 8 77/78: Universität Leipzig.
Astronomie; Vorlesungen in Mathematik, Physik, Astronomie und Philo
sophie. Erste philosophische Lektüre: Berkeley. Begegnung mit Thomas
Masaryk, dem späteren Staatspräsidenten der Tschechoslowakei, der ihn nach
Wien zu Franz Brentano wies.
1 878 - 1 880/8 1 : Universität Berlin.
Studium der Mathematik (u.a. bei L. Kronecker und C. Weierstraß, dessen
Privatassistent er im SS 1883 war und von dem er »das Ethos seines wissen
schaftlichen Strebens<< habe) und der Philosophie (F. Paulsen).
1 88 1 - 1 8 8 1/82: Universität Wien.
Studium der Mathematik
1 882, 8. Oktober: Approbation der Dissertation >>Beiträge zur Theorie der
Variationsrechnung<<;
1883, 23. Januar: Promotion zum Dr. phil.
1 884 Tod des Vaters (24. April)
WS 1 884/85-SS 1 886: Universität Wien.
Philosophische Vorlesungen bei Franz Brentano.
W/S 1 8 86/87-SS 1887: Universität Halle a.S.
Vorlesungen bei C. Stumpf, zu dem Husserl zwecks Habilitation auf Emp
fehlung von Brentano kam.
1 8 86 - 1 895 Studien vorzugsweise in den Gebieten der formalen Mathematik und for
malen Logik.
1 887 Heirat mit Malvine, geh. Steinschneider (6. August)
1 8 87 Herbst: Druck der Habilitationsschrift Über den Begriff der Zahl, Psycholo·
gisehe A nalysen
Bücherbeschaffungen auf dem Gebiet der Philosophie während der Studien
zeit (in Auswahl):
1 880: Schopenhauer, Spinoza; 1 884: Hege!, Phänomenologie des Geistes;
H. Spencer, Grundlagen der Philosophie; 1 886: E. Mach, Beiträge zur A naly·
se der Empfindungen; 1 887: G. Frege, Die Grundlagen der A rithmetik.
1926 (8. April) Heidegger überreicht Husserl die Widmung zu Sein und Zeit
1927 - 1928 Arbeit am Encyclopedia Britannica-Artikel mit Heidegger
1928 Veröffentlichung von Husserls »Vorlesungen zur Phänomenologie des inne
ren Zeitbewußtseins<< durch Heidegger im Bd. 9 des Jahrbuchs
1928 (3 1 . März) Emeritierung
1937 (8. Juni) Ablehnung von Husserls Ersuchen um Erlaubnis zur Teilnahme
am IX. Internationalen Kongreß für Philosophie in Paris durch das Reichs
ministerium
1938 (27. April) Husserl stirbt im Alter von 79 Jahren.
Husserl hat relativ wenig veröffentlicht, aber er hat sehr viel geschrieben, so daß sein
philosophischer Nachlaß über 40.000, meist in Gabelsberger Stenographie verfaßte Ma
nuskriptseiten umfaßt. Diese Fülle ist zu ihrem wesentlichen Teil dadurch entstanden,
daß Husserl schreibend Probleme durchdachte. Seine Nachlaßmanuskripte sind also größ
tenteils nicht für ein Publikum geschrieben, sondern bilden >>Selbstgespräche<<, in denen
er um die Lösung von philosophischen Problemen rang. Daneben liegen aber im Nach
laß auch Manuskripte von Vorlesungen, Vorträgen und zu einem geringen Teil von Vor
bereitungen für Veröffentlichungen vor.
Husserl hätte gerne mehr von seinen philosophischen Gedanken veröffentlicht. Er
faßte immer wieder Veröffentlichungspläne, aber nur in seltenen Fällen hat er sie zu
verwirklichen vermocht (siehe >>E. Husserl. Persönliche Aufzeichnungen<<, hrsg. von Wal
ter Biemel. Philosophy and Phenomenological Research, 16, 3 (March 1956), S. 293 - 302;
Einleitungen des Herausgebers zu Husserliana XIV und XV) . Diese Unfähigkeit
Husserls war wohl einerseits durch seinen starken selbstkritischen Geist bedingt, der
ihn immer wieder sein Erreichtes in Frage stellen ließ, andererseits aber auch durch
den analytischen Charakter seines Philosophierens und die Schwierigkeit, die Fülle
der Einzelanalysen zu einem Zusammenhang zu systematisieren. Aufgrund dieses
Scheiterns seiner Veröffentlichungspläne gewann in den späteren Jahren für Husserl
selbst der Gedanke seines Nachlasses immer mehr Bedeutung. So schreibt er schon 1922
in einem Brief an Paul Natorp: >>Ich bin in weit schlimmerer Lage als Sie, da der größ
te Teil meiner Arbeit in meinen Manuskripten steckt. Fast verwünsche ich meine
Unfähigkeit, mich zu verendlichen, und daß mir erst so spät, z.T. erst jetzt, die uni
versalen systematischen Gedanken zuteil werden, die, durch alle meine bisherigen Son
deruntersuchungen gefordert, nun auch zwingen, sie alle umzuarbeiten. Alles im Sta
dium der Umkristallisierung! Vielleicht arbeite ich, mit aller menschlich möglichen An
spannung der Kräfte, nur für meinen Nachlaß« (Hu XIV, S. XIX). Spätestens seit
dem Frühjahr 1932 arbeitete Husserl direkt im Hinblick auf seinen Nachlaß (s. Hu XV,
Einleitung des Herausgebers, S. LXII und LXVII f.), und 1935/36 ließ er ihn durch
Eugen Fink und Ludwig Landgrebe nach systematischen Gesichtspunkten ordnen und
mit entsprechenden Signaturen versehen (s. >>Note sur !es Archives Husserl a Louvain<<
in Problemes actuels de la phenomenologie. 1952, S. 156 Anm.; s. auch Husserl-Chronik,
S. 473 (Notiz unter 8. Feburar 1936). Diese systematische Ordnung von 1935 liegt noch
der heutigen Anordnung von Husserls Nachlaß im Husserl-Archiv Leuven zugrunde
(s. unten).
Da nach Husserls Tod am 27. April 1938 für seinen Nachlaß in dem von den Natio
nalsozialisten regierten Deutschland keine Möglichkeiten der Bearbeitung und Veröf
fentlichung bestanden, ja diesem sogar die Zerstörung drohte, wurde er noch im selben
Jahre ins Ausland, an die Universität Leuven in Belgien, gebracht. Das Verdienst für
diese Rettung kommt vor allem Pater Hermann Leo Van Breda zu (s. H. L. Van Breda
»Le sauvetage de l'heritage husserlien« in Husserl et la pensee moderne). Unter seiner Lei
tung und unter Mithilfe der früheren Assistenten Husserls, Eugen Fink und Ludwig
226 Notiz zu Husserls Nachlaß
Landgrebe, wurde in Leuven das Husserl-Archiv aufgebaut. Husserls Nachlaß ist dort
nach folgendem Plan geordnet:
A. Mundane Phänomenologie
I. Logik und formale Ontologie (41 Konvolute) 1
li. Formale Ethik, Rechtsphilosophie (1)
III. Ontologie (Eidetik und ihre Methodologie) ( 1 3)
IV. Wissenschaftstheorie (22)
V. Intentionale Anthropologie (Person und Umwelt) (26)
VI. Psychologie (Lehre von der Intentionalität) (36)
VII. Theorie der Weltapperzeption (3 1)
B. Die Reduktion
I. Wege zur Reduktion (38)
II. Die Reduktion selbst und ihre Methodologie (23)
III. Vorläufige transzendentale Intentionalanalytik ( 12)
IV. Historische und systematische Selbstcharakteristik der Phänomenologie (12)
C. Zeitkonstitution als formale Konstitution ( 1 7)
D. Primordiale Konstitution {>> Urkonstitution<� ( 1 8)
E. Intersubjektive Konstitution
I. Konstitutive Elementarlehre der unmittelbaren Fremderfahrung (7)
li. Konstitution der mittelbaren Fremderfahrung (die volle Sozialität) (3)
III. Transzendentale Anthropologie (transzendentale Theologie, usw.) ( 1 1)
F. Vorlesungen und Vorträge
I. Vorlesungen und Teile aus Vorlesungen (44)
II. Vorträge mit Beilagen (7)
III. Manuskripte der gedruckten Abhandlungen mit späteren Beilagen (1)
IV. Lose Blätter (4)
K. Autographe, in der kritischen Sichtung von 1935 nicht aufgenommen
I. Manuskripte vor 1910 (69)
II. Manuskripte von 1 9 1 0 - 1930 (5)
III. Manuskripte nach 1930 - zur Krisisproblematik (33)
IX. -X. Abschriften von Randbemerkungen Husserls in den Büchern seiner Biblio
thek
L. Bernauer Manuskripte
I. (2 1 Konvolute)
II. (2 1 Konvolute)
M. Abschriften von Manuskripten Husserls in Kurrentschrift bzw. Maschinenschrift, vor
1938 von Husserls Assistenten in Freiburg ausgeführt
I. Vorlesungen (4)
II. Vorträge (3)
III. Entwürfe für Publikationen ( 1 7)
1 Im folgenden bezieht sich die zwischen Klammern angegebene Zahl auf die Anzahl Konvolu
te der entsprechenden Gruppe.
Notiz zu Husserls Nachlaß 227
N. Nachschriften
P. Manuskripte anderer Autoren
Q. Notizen Husserls in den Vorlesungen seiner Lehrer
R. Briefe
I. Briefe von Husserl
II. Briefe an Husserl
III. Briefe über Husserl
X. Briefe Malvine Husserls (nach 1938)
X. A rchivaria
Auch heute, nachdem schon 26 Bände der Husserliana vorliegen, ist vom Nachlaß
noch Bedeutsames zu erwarten. Das Schwergewicht der Edition lag bis heute aus ver
ständlichen Griinden bei den von Husserl für ein Publikum geschriebenen Texten, wäh
rend erst wenige Bände den schwer zugänglichen >>Selbstgesprächen<< (»Forschungsma
nuskripten<<) gewidmet sind, die aber den Großteil des Nachlasses ausmachen und in
denen Husserls schöpferisches Denken sozuagen in statu nascendi verfolgt werden kann.
Besonders die Spätzeit Husserls (nach den Cartesianischen Meditationen 1929) ist in die
ser Hinsicht editorisch noch wenig erschlossen (der einzige Band, der bisher aus der
Fülle der »Forschungsmanuskripte<< aus der Zeit zwischen den Cartesianischen Medita·
tionen (1929) und Husserls Arbeit an der Krisis (ab 1935) veröffentlicht wurde, ist Hus·
serliana XV, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität ( 1929 - 1935). Aber auch aus
frii heren Zeiten ist manches editorisch noch zu erschließen, wie etwa die Manuskripte
über Gemüts- und Willensakte und überhaupt die Busserlsehe Ethik.
Kopien der Transkriptionen von Husserls Manuskripten (die Transkription aus der
Gabelsberger Stenographie ist noch nicht abgeschlossen) befinden sich außer in Leuven
auch in den Husserl-Archiven an der Universität Köln, an der Universität Freiburg i.Br.,
an der New School for Social Research in New York City, an der Duquesne University
in Pittsburgh PA und an der Ecole Normale Superieure Paris.
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Bd. I: Cartesianische Meditationen un� Pariser Vorträge, hrsg. von B. Strasser, 1950.
Bd. II: Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen, hrsg. von W Biemel, 1950.
Bd. III,1 : Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie.
Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. Text der 1 . -3 . Auf
lage, neu hrsg. von K. Schuhmann, 1976.
Bd. III,2: Dass. Ergänzende Texte ( 1 9 1 2 - 1 929), neu hrsg. von K. Schuhmann, 1976.
Bd. IV: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie.
Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, hrsg. von M.
Biemel, 1952.
Bd. V: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie.
Drittes Buch: Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften, hrsg.
von M. Biemel, 1953.
Bd. VI: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phäno
menologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, hrsg. von W. Bie
mel, 1954.
Bd. VII: Erste Philosophie ( 1 923/24). Erster Teil: Kritische Ideengeschichte, hrsg. von
R. Boehm, 1956.
Bd. VIII: Erste Philosophie ( 1 923/24). Zweiter Teil: Theorie der phänomenologischen
Reduktion, hrsg. von R. Boehm, 1959.
Bd. IX: Phänomenologische Psychologie. Volesungen Sommersemester 1 925, hrsg. von
W. Biemel, 1962.
Bd. X: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins ( 1 893 - 19 17), hrsg. von R.
Boehm, 1966.
Bd. XI: Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskrip
ten 1 9 1 8 - 1926, hrsg. von M. Fleischer, 1966.
Bd. XII: Philosophie der Arithmetik. Mit ergänzenden Texten (1 890- 1901), hrsg. von
L. Eley, 1970.
Bd. XIII: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß. Erster
Teil: 1905 - 1 920, hrsg. von I. Kern, 1973 .
Bd. XIV: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß. Zweiter
Teil: 192 1 - 1928, hrsg. von I. Kern, 1973 .
Bd. XV: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß. Dritter
Teil: 1929 - 1935, hrsg. von I. Kern, 1973 .
Bd. XVI: Ding und Raum. Vorlesungen 1907, hrsg. von U. Claesges, 1973 .
Bd. XVII: Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Ver
nunft, hrsg. von P. Janssen, 1 974.
230 Bibliographie
Bd. XVIII: Logische Untersuchungen. Erster Band: Prolegomena zur reinen Logik, hrsg.
von E. Holenstein, 1975.
Bd. XIX,l : Logische Untersuchungen. Zweiter Band: Untersuchungen zur Phänome
nologie und Theorie der Erkenntnis. Erster Teil, hrsg. von U. Panzer, 1984.
Bd. XIX,2: Logische Untersuchungen. Zweiter Band: Untersuchungen zur Phänomeno
logie und Theorie der Erkenntnis. Zweiter Teil, hrsg. von U. Panzer, 1984.
Bd. XXI: Studien zur Arithmetik und Geometrie. Texte aus dem Nachlaß ( 1 886- 1901),
hrsg. von I. Strohmeyer, 1983.
Bd. XXII: Aufsätze und Rezensionen ( 1 890 - 1 9 10), hrsg. von B. Rang, 1979.
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Namenregister
Akte Assoziation
- einfache intentionale Akte 8 8 ff. - Assoziation als universales Prinzip
- kategoriale intentionale Akte der passiven Genesis 1 8 5 , 1 87 f.
1 5 , 1 69 ff. , 174ff. - Paarungsassoziation in der Fremd
- anschauliche Akte 1 3 l ff. erfahrung 150
- Reproduktion von Akten 133 - mittelbare Assoziation 152
- Zusammenhang von anschaulichen - induktive Assoziation 1 87
Akten und Zeitbewußtsein 1 3 4 ff.
- (vgl. Intentionalität) Bedeutung
Aktivität (vgl. Genesis, aktive und - formale Logik der Bedeutung
passive) (>>Apophantik<<) 42 ff. , 1 59
Allgemeinheit (vgl. Wesen) - Bedeutung und sprachlicher
Apperzeption >>Ausdruck« 1 5 4 ff.
- empirische Apperzeption des - ideale Bedeutung und individueller
Bewußtseins 58 Akt 3 7 ff. , 1 5 7 ff.
- reine Apperzeption des Bewußt - ideale Bedeutung und
seins 57 ff. (vgl. Reduktion, Wesen 1 5 9 ff.
Reflexion) - Bedeutung und internationaler
- Apperzeption als Auffassung, Gegenstand 1 6 2 ff.
Deutung 1 3 2 f. , Anm. 5 Bewußtsein
- Genesis der Apperzeption 1 8 5 f. - Bewußtsein in e mpirisch-natür
- Assoziation als Prinzip der licher Apperzeption 5 7 f. , 59
Apperzeption 1 87 - Bewußtsein und Reflexion I
- analogisierende Apperzeption in Reduktion 57 ff.
der Fremderfahrung 149 f. - Eigenwesentlichkeit des Bewußt
- (vgl . Repräsentation) seins 59, 70 ff. , 84
Appräsentation - Bewußtsein als Fluß 74 f. , 8 2 f. ,
- Appräsentation in der Weise des 1 0 3 ff.
Ausdrucks 1 5 1 - Bewußtseinsstufen 1 4 2 f.
- leere und erfüllte Appräsentation - Urbewußtsein (inneres Bewußt-
in der Fremderfahrung 153 sein) 106
Apriori 75 ff. , 8 l f. - Bewußtsein als Absolutes 5 8 f. , 61
- Apriori der Konstitution (der Sub- - (vgl. Wesen)
jektivität) 6 7 ff. , 8 1 ff. Bildbewußtsein
- obj ektives Apriori 67 ff. - Bildbewußtsein und reproduktive
- Apriori der Geschichte 1 86 Vergegenwärtigungen 140 ff.
- lebensweltliches Apriori 208 - Bildbewußtsein und Pikturnbe
- Apriori und Mathematik 75 ff. wußtsein (Illusion) 140, 1 4 1 ff.
- (vgl . Wesen) - Bildbewußtsein als perzeptive
Phantasie 1 40 ff.
240 Sachregister