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Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 1

1 . Kapitel: Mathematik, Logik und Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11


§ 1. Der psychologische Ursprung der arithmetischen Begriffe . . . . . . 12
§ 2. Reine Logik und Psychologie . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
§ 3. Phänomenologische Erkenntnistheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

2. Kapitel: Die methodische Grundlegung der Phänomenologie als Wis-


senschaft vom reinen bzw. transzendentalen Bewußtsein 56
§ 1. Die phänomenologische oder transzendentale Epoche und Reduk-
tion 56
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

§ 2. Die »eidetische« Reduktion: Phänomenologie als Wesenswissen·


schaft des Bewußtseins - Die Methode der Wesensforschung 74

3 . Kapitel: Allgemeine Strukturen des Bewußtseins im phänomenologi-


schen Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 5
§ 1 . Die Intentionalität . . . . . . .................................... 85
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

§ 2. Das Zeitbewußtsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

4. Kapitel: Wahrnehmung, Ding und Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108


§ 1. Erscheinung als gemischte Repräsentation und als partielle Selbst-
gegebenheit des Dinges . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
§ 2. Das Erscheinungskontinuum und seine konstitutive Leistung 1 17
§ 3 . Die kinästhetische Motivation der Konstitution von Ding und
Raum . . . . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

5. Kapitel: Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen 1 3 1


§ 1 . Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung . . ............ 131 . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

§ 2 . Fremderfahrung .. .. . . . . . 143 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6. Kapitel: Urteil und Wahrheit . . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 54


§ 1 . Sprachlicher Ausdruck, Bedeutung und intentionales Bewußt-
sezn . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . .. . 1 54
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

§ 2. Wahres Urteilen, vernünftiges Denken und anschauliche Gege-


benheit des Erkenntnisgegenstandes . . 1 66
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VI Inhalt

7. Kapitel: Statische und genetische Konstitution ................................ 181

8 . Kapitel: Ich und Person .


.............. ..................................................... 1 90

9. Kapitel: Die Lebenswelt als Grundlagenproblem der objektiven Wis­


senschaften und als universales Wahrheits- und Seinsproblem 199

10. Kapitel: Erste und Zweite Philosophie (Transzendentale Phänomeno-


logie und Metaphysik) 209 ........... . . ............................................

A nhang

Daten zu Leben, Werk und Lehrtätigkeit ............................................... 217

Notiz zu Husserls Nachlaß ..................................................................... 225

Bibliographie ................................................. ....... . ... ...... .................. ..... .. . 229

Namenregister ................................... ........................... . ........ .................. . 237

Sachregister . . . . . . . . . . .. . . . . .. . . .. . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . 239
Einleitung

Diese Darstellung von Edmund Busserls phänomenologischer Philosophie ver­


fährt entwicklungsgeschichtlich (chronologisch), gliedert sich aber auch nach
systematischen Zusammenhängen, die im Fortgang seines Denkens deutlich her­
vortreten. Im Rückgang auf die Quellen, d. h. den Nachlaß und die edierten
Werke, wird die Entfaltung seines Denkens nachgezeichnet. Im Vordergrund
steht sein Werk und nicht dessen philosophiegeschichtliche Ursprünge oder sein
Einfluß auf andere Denker.
In allererster Annäherung an das sehr umfangreiche Gesamtwerk Busserls
läßt sich eine Art Zweiteilung ausmachen. Chronologisch gesehen beginnt sie
sich in den letzten Göttinger Jahren abzuzeichnen (um 1915-1917), deutlich
faßbar wird sie aber erst in den ersten Jahren der Freiburger Lehrtätigkeit (um
1917-1921). In systematischer Hinsicht betrifft die Zweiteilung die konsequente
Erweiterung des Forschungsprogrammes der phänomenologischen Philosophie
um die Dimension einer genetisch-erklärenden neben der bis anhin verfolgten
statisch-deskriptiven Phänomenologie. Grob gesprochen läßt sich diese Entwick­
lung wie folgt umreißen: In den frühen Phasen war Husserl zum einen vor­
nehmlich mit der phänomenologisch-deskriptiven A nalyse einzelner Erlebnis·
arten und deren Korrelaten (Denk- und Erkenntniserlebnisse bzw. -gebilde) so­
wie der Beschreibung allgemeiner Bewußtseinsstrukturen, zum anderen mit der
Grundlegung und Ausgestaltung der zugehörigen Methodik (phänomenologi­
sche Reflexion, Reduktion und Eidetik) beschäftigt. Später trat, neben weite­
ren Verfeinerungen und teils wesentlichen Ergänzungen zu jenen Problem­
bereichen, immer mehr der Versuch in den Vordergrund, die konkrete Verein·
heitlichung des Erlebens im personalen Ich bzw. in der transzendentalen Ich- oder
Monadengemeinschaft sowie in der Konstitution der korrelativen Umwelten
und der einen, allen gemeinsamen wett phänomenologisch-genetisch aufzuklären.
Unsere Darstellung spiegelt die systematischen Zusammenhänge dieses Denk­
weges in einzelnen Kapiteln wider. Es ergab sich dabei auch eine Relativierung
im Setzen von Schwerpunkten bei den Quellen. Große Teile von Busserls ei­
genen Publikationen (vorab die Logischen Untersuchungen, 1900/1901, die Ideen,
1913, und die Formale und transzendentale Logik, 1929) erscheinen nämlich so­
zusagen als bloß momentane Ruhephasen oder >>Kondensierungen<< der stän­
dig im Fluß gehaltenen Denkbewegung, die sich genauer nur in den nachge­
lassenen Manuskripten verfolgen läßt. Busserls eigenem Zeugnis zufolge sind
die Ideen und die Formale und transzendentale Logik aufgrund langjähriger Vorar-
2 Einleitung

beiten in den Manuskripten wie unter der Hand oder wie >>in Trance<< für den
Druck fertiggestellt worden. In solchen Veröffentlichungen >>FestgehalteneS<< hat
Husserl in den Manuskripten immer wieder neu durchdacht und oft, seinem
fortschreitenden Denken entsprechend, in neue Zusammenhänge gestellt. Die
vorliegende Darstellung orientiert sich in wichtigen Hinsichten auch an sol­
chen, teils noch unveröffentlichten (Forschungs-)Manuskripten (siehe die No­
tiz zu Husserls Nachlaß im Anhang). Allerdings muß ausdrücklich darauf
hingewiesen werden, daß Sachgebiete, deren Textunterlage praktisch ausschließ­
lich in noch unveröffentlichten Manuskripten liegt, in unserer einführenden
Arbeit nicht berücksichtigt wurden. So kommen hier insbesondere etwa Hus­
serls Arbeiten zur Ethik, zur Praxis und zur intentionalen Anthropologie, aber
auch die spätere Behandlung der universalen Zeitproblematik sowie, bei der
Darstellung der Analysen einzelner Erlebnisklassen, der Bereich der Gemüts­
und Willenserlebnisse nicht zur Geltung.

Aufbau der Darstellung

In Kapitel l , Mathematik, reine Logik und Phänomenologie, kommen Husserls


philosophische Anfänge nach einigen Grundgedanken und ihrer Verknüpfung
sowie insbesondere auch nach ihren auf das spätere Werk vorausweisenden Aus­
führungen zur Sprache. Von der Mathematik herkommend (siehe deri. biogra­
phischen Überblick im Anhang) stellte Husserl in seinem Erstlingswerk, der
Philosophie der A rithmetik ( 1 89 1), Fragen nach dem psychologischen Ursprung
der arithmetischen Grundbegriffe wie Einheit, Vielheit und Zahl (als fest be­
stimmte Anzahl). Zunächst wird Husserls Ursprungsanalyse bezüglich der ei­
gentlichen, d. h. anschaulich zu denkenden Anzahlenbegriffe erörtert (§ 1).
Aktvollzüge des Kolligierens und darauf Reflektierens stehen hier im Zentrum.
Besondere Beachtung wird Husserls Stellungnahmen zur Frage nach dem Ab­
straktionsfundament für die arithmetischen Grundbegriffe geschenkt. Die Be­
antwortung dieser Frage ist dann auch von großer Bedeutung im Zusammenhang
des sogenannten logischen Psychologismus. Ihre Erörterung erlaubt auch eine
Kennzeichnung des für Husserl eigentümlichen und von Frege abweichenden,
erkenntnistheoretisch motivierten Ansatzes seiner Grundlagenkritik der Arith­
metik und Logik. Die Ausführungen über die subjektiven Ursprünge der ei­
gentlichen Zahlbegriffe werden ergänzt durch Hinweise auf Husserls Lehre von
den uneigentlichen, den bloß symbolischen Zahlvorstellungen und von der Bil­
dung der unendlichen Reihe der natürlichen Zahlen mittels fest bestimmter
Zahlsymbole und Konstruktionsregeln.
Im Zentrum der Darstellung des weiteren Denkweges des frühen Husserl
Einleitung 3

steht sodann eine Reihe von Fragen, die sich auf die Herausarbeitung der Idee
einer reinen Logik sowie auf den Umriss ihrer Aufgaben bezieht. Husserls be­
rühmt gewordene Widerlegung des logischen >>Psychologismus<<, deren es zur Ge­
winnung der Idee einer reinen Logik bedurfte, ist von ihrem positiven Gegen­
stück nicht zu trennen. Dieses besteht in einer neuartigen, eidetisch-deskriptiven
»Psychologie<< der Denk- und Erkenntniserlebnisse, die Husserl in den sechs
»Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis<< im Zweiten
Band der Logischen Untersuchungen (1901) einführte. Die »Reinigung<< der Ge­
genstände und Gesetze der formalen Logik von psychologischen Bestimmun­
gen in den Prolegomena ( 1900) ist nicht Husserls Endziel, sondern Vorarbeit,
um den Zusammenhang von reiner Logik und konkreten Denkakten, idealen
Erkenntnisbedingungen und zeitlich individuierten Erkenntniserlebnissen ver­
stehen zu können. In dieser Perspektive erscheinen die Prolegomena denn auch
als Fortführung der zuvor in der Philosophie der A rithmetik angeschnittenen
Fragestellung.
Zum Abschluß des 1. Kapitels wird Husserls von früh an lebendiges Interesse
an einer spezifisch phänomenologischen, d. h. auf die »leistenden Tätigkeiten<<
zurückgehenden Erkenntnistheorie erörtert (§ 3). Die anfängliche Aufgabe ei­
ner subjektiven Ergänzung der objektiven Logik führte Husserl zur Erforschung
des allgemeinen Korrelationsapriori von Erkenntnis, Erkenntnissinn und Er­
kenntnisobjekt und zur Konzeption einer absoluten Wissenschaft, die als uni­
versal gefaßte Konstitutionsanalyse die Ursprünge der Objektivität in der
transzendentalen Subjektivität aufzuklären bestimmt ist.
Das Kapitel 2 ist der methodischen Grundlegung der Phänomenologie als Wis­
senschaft vom reinen bzw. transzendentalen Bewußtsein, in dem die Konstitu­
tion der Gegenständlichkeiteil sich vollzieht, gewidmet. In ihm werden die
inneren Zusammenhänge von Reflexion, Reduktion und Eidetik dargelegt, und
zwar so, wie sie sich für Husserl im Rückgang »ZU den Sachen selbst<< allmäh­
lich herauskristallisierten.
Die fundamentale Leistung der phänomenologischen Reduktion, die Husserl
etwa um 1905 deutlich zu erfassen begann, besteht darin, daß es mit ihr ge­
lingt, eine methodisch reine Fassung des in der Reflexion zum Gegenstand der
Forschung gemachten Bewußtseins selbst sicherzustellen. Die Motivation zum
Vollzug der phänomenologischen Reduktion steht in einem engen Bezug mit
Husserls Beweggründen, daß er überhaupt philosophierte, bzw. mit seiner Idee
der Philosophie, die vor allem in der Auseinandersetzung mit dem philosophi­
schen Skeptizismus Gestalt annahm. Husserl hatte in seinem Schaffen »verschie­
dene gleichmögliche Wege<< eingeschlagen, um mittels der phänomenologischen
Reduktion von der natürlichen zur philosophischen Einstellung zu leiten. Im
wesentlichen lassen sich drei Wegtypen unterscheiden. Sie werden hier in eini-
4 Einleitung

gen Strichen im Horizont von Husserls Bezugnahmen auf Descartes, Karrt und
den englischen Empirismus von Locke, Berkeley, Hume gekennzeichnet. Hus­
serls Idee der Philosophie ist bestimmt vom Gedanken der Erneuerung der bei
Sokrates-Platon urgestifteten Idee der Philosophie als absoluter Erkenntnis in
ihrer Verbindung mit der Selbsterkenntnis. Als solche Idee ist Philosophie in
Husserls Augen nur in einem unendlichen historischen Prozess, nicht als Werk
eines Mannes und »Systems<<, zu verwirklichen.
Eine nähere Bestimmung der Art der Wissenschaftlichkeit, die Husserl mit
seiner reinen oder transzendentalen Phänomenologie anstrebte, ergibt sich aus
der anschließenden Erörterung der Methode der Eidetik bzw., wie Husserl sich
auch ausdrückte, der eidetischen Reduktion. Die Darstellung macht auf die Zu­
sammenhänge zwischen Husserls Lehre von der Eidetik oder Wesenswissen­
schaft des Bewußtseins, seiner Auffassung des Sinnes des Apriori und der
Vorbildlichkeit der Denkungsart der Mathematik aufmerksam, um auf diesem
Hintergrund die »neue«, deskriptive Eidetik vom transzendental reinen Bewußt­
sein zu erläutern, die Husserl in Parallele und Kontrast zu den >>alten<< eideti­
schen Disziplinen der Geometrie und Arithmetik konzipierte. Skizziert wird
dann auch Husserls Verständnis des Verhältnisses von Tatsachenwissenschaften
(Erfahrungswissenschaften) und Wesenswissenschaften sowie sein Gedanke der
A nwendung apriorischer Erkenntnis auf das Faktische als Rationalisierung der
Erfahrungswissenschaften.
In den folgenden Kapiteln 3-6 kommen Husserls Analysen der Bewußt­
seinstätigkeit, die den eigentlichen, methodisch im Sinne von Kapitel 2 klarge­
stellten Forschungsgegenstand der Phänomenologie bildet, nach allgemeinen
Strukturen und Funktionen sowie nach spezifischen Grundformen und Mo­
dalitäten zur Sprache.
Im Kapitel 3 werden die ganz allgemein das Bewußtsein überhaupt auszeich­
nenden Strukturen und Funktionen der Intentionalität und der immanenten
Zeitlichkeit dargelegt. Husserl hat in den Logischen Untersuchungen die Verschie­
denheit der intentionalen Gegenstandsbezüge, die den >>psychischen Phänome­
nen« eignen, primär in den Wesensstrukturen des intentionalen Aktes (der Noesis),
und nicht in denen ihrer Gegenstände begründet (§ 1). Den Schritt zur Einbe­
ziehung des intentionalen Korrelates, der noematischen Gegebenheits- und Funk­
tionsformen, in das Feld phänomenologisch-reiner Gegebenheiten, hat Husserl
ab 1906 vollzogen. Er wurde für die Weiterentwicklung seiner Intentionalana­
lytik zur Verwirklichung des Programms der Konstitutionsanalyse entscheidend,
wie unter Beiziehung der Ausführungen in den Ideen ( 1 9 13) gezeigt wird. Spe­
zifischere Fragen bezüglich der Theorie der Beziehung des noematischen Sin­
nes auf den wirklichen Gegenstand werden in den Kapiteln 4 bzw. 6 weiter
verfolgt (s. dort).
Einleitung 5

Das Zeitbewußtsein (§ 2) hat Busserl als das fundamentalste, in allen anderen


Bewußtseinsstrukturen und -formen vorausgesetzte Bewußtsein verstanden. In
seinen Analysen hat er zwei Hauptrichtungen verfolgt. Einerseits hat er, in kri­
tischer Auseinandersetzung mit Brentanos Zeittheorie, die Frage nach der Mög­
lichkeit der Erfassung eines Zeitobjektes (einer Dauer oder eines zeitlichen
Ablaufes) mit seiner Lehre von den drei Momenten des gegenwärtigen Bewußt­
seins (Urimpression, Retention und Protention) beantwortet. Gegenüber dem
originären, wahrgenommenen Zeitfeld ist die Wiedererinnerung gewisserma­
ßen eine Wiederholung des ganzen Zeithofes als »Vergegenwärtigte Gegenwart<<.
Als solche ist sie radikal verschieden von bloßer Retention. Die Idee der objek·
tiven Zeit macht Busserl als Leistung der Reproduktion und Identifikation ver­
ständlich.
Andererseits ist Busserl der Frage nachgegangen, ob das zeitkonstituierende
Bewußtsein selbst in der Zeit sei. Busserl bewegte sich im Verlauf seines Denk­
weges von der Ansicht, das zeitkonstituierende Bewußtsein sei selbst in die Zeit
eingeordnet, zur entgegengesetzten Ansicht, derzufolge es selbst als unzeitli­
ches, als >>absolut urkonstituierendes Bewußtsein<< zu bezeichnen sei. Schließ­
lich wird die Frage aufgegriffen, wie es nach Busserl überhaupt möglich ist,
dieses >>letzte und wahrhaft Absolute<< zu erfassen. Vorgestellt wird Busserls Lö­
sungsvorschlag von der Selbsterscheinung des Bewußtseinsflusses durch die sog.
Längsintentionalität der Retention.
Mit Kapitel 4 setzt die Darstellung von Busserls Analysen der Grundformen
und -modalitäten des Bewußtseins ein. Das Bewußtsein der Wahrnehmung spielt
für Busserl eine ausgezeichnete Rolle; es wird zuerst und entsprechend ausführ­
lich behandelt. Zunächst (§ 1) wird der phänomenologische Befund diskutiert,
daß räumliche Wahrnehmungsgegenstände nie nach allen ihren Seiten und Merk­
malen voll anschaulich, in eigentlicher Erscheinung, gegeben sind und doch
im schlichten Vollzug der Dingwahrnehmung das einheitliche Ding, und nicht
etwa bloß dessen Vorderseite, gesehen wird. Die von Busserl in den Logischen
Untersuchungen vertretene Lehre von der >>gemischten<<, d.h. zugleich intuiti­
ven und signitiven, Repräsentationsform als Erklärung für den vollen Wahr­
nehmungsakt bzw. die volle Dingerscheinung wird kritisch erörtert. An­
schließend (§ 2) wird das konkrete Erscheinungskontinuum als Wahrnehmungs­
prozess und seine konstitutive Leistung erläutert. Die kontinuierliche Wahr­
nehmungssynthese wird näher als Erfüllungsprozess dargestellt (s. auch Kap.
6). Abschließend (§ 3) wird Busserls Lehre von der leiblichen Verfassung des
Wahrnehmungssubjektes vorgestellt. Im Zentrum steht die Frage nach der kon­
stitutiven Leistung der Kinästhesen, mittels deren Busserl die Stufenfolge der
Ding- und Raumkonstitution im Wahrnehmungsprozess phänomenologisch ver­
ständlich machte.
6 Einleitung

Im Kapitel 5 kommen Husserls Analysen zu Grundformen anschaulicher �r­


gegenwärtigung zur Darstellung. Zuerst werden Akte der Phantasie, des Bildbe­
wußtseins und der Erinnerung nach ihren intentionalen Wesenseigentümlich­
keiten erläutert (§ 1). Als Akte der A nschauung heben sie sich von begriffli­
chen Vorstellungen ab. Als anschauliche Vergegenwärtigungen zeichnen sie sich
als Modifikationen von schlichten, sinnlichen Wahrnehmungen oder Gegen­
wärtigungen aus. Es wird skizziert, wie Husserl, von Anregungen durch Eren­
tanos Bestimmung der uneigentlichen Vorstellungen ausgehend, seine Lehre der
anschaulichen Vergegenwärtigungen schrittweise entwickelte. Ganz allgemein
handelt es sich in Husserls Analyse der Vergegenwärtigungen darum, einerseits
das Moment der A nschaulichkeit in Gegenwärtigung bzw. Vergegenwärtigung,
andererseits das Moment der Setzung herauszustellen und die teils sich kreu­
zenden Unterscheidungen deskriptiv zu erfassen. Etwas genauer vorgestellt wer­
den die Lehren vom Wesensgesetz intentionaler Implikation bzw. Modifikation
und von der Neutralitätsmodifikation; das Phänomen der Verdeckung oder des
Widerstreits von Anschauungen; und schließlich das Phänomen der >>Durch­
setzung« oder >>Durchdringung mit Widerstreit« von Anschauungen, das Hus­
serl beim gewöhnlichen Bildbewußtsein verwirklicht sieht.
Anschließend kommt Husserls Analyse der besondere Komplikationen auf­
weisenden Vergegenwärtigungsform der Einfühlung zur Darstellung (§ 2). Schon
vor 1910, vor allem in Auseinandersetzung mit den Lehren von Th. Lipps, ging
Husserl in seiner Analyse der Erfahrung anderer psychischer Wesen vom Dilem­
ma aus, daß diese Erfahrung weder als eine eigentliche Wahrnehmung, noch
auch als ein eigentlicher logischer, auf kategorialen Akten basierender Schluß
aufgefaßt werden kann. Zur genaueren Erörterung orientiert sich die Darstel­
lung dann an der Exposition des Problems der Fremderfahrung in der V. Car­
tesianischen Meditation (1929). Zunächst wird eine Doppeldeutigkeit in Husserls
Rede von der Eigenheitssphäre oder der primordinalen Sphäre geklärt. Unter
diesem Begriff versteht Husserl einerseits eine Sphäre der denkbar ursprünglich­
sten Selbstgegebenheit, die keineswegs solipsistisch zu verstehen ist. Anderer­
seits meint er aber mit > Eigenheitssphäre < bisweilen auch so etwas wie eine
solipsistische Sphäre im Sinne einer Erfahrungsschicht vor der Fremderfahrung,
und diese als Unterschicht fundierend. Husserls konkrete Analyse der verge­
genwärtigenden Erlebnisse der Klasse der Einfühlung wird danach in ihrer Struk­
tur als mittelbare apperzeptive Übertragung näher erläutert. Für die Motivation
dieser Übertragung spielt die Ähnlichkeit zwischen wahrgenommenem äuße­
rem Körper und meinem Leib eine grundlegende Rolle. Mit einigen Hinweisen
auf weitere Differenzierungen und Fortführungen der Analyse der Einfühlung
in der Erörterung der Intersubjektivität der Welt und der eigentlichen sozialen
Akte schließt der Abschnitt.
Einleitung 7

Im Kapitel 6, Urteil und Wahrheit, wird die phänomenologische Aufklärung


der Denk- und Erkenntnisakte im prägnanten Sinn eigentlichen Denkens bzw.
wahrer Urteile vorgestellt. Zunächst wird Husserls Sprachtheorie, wie sie sich
insbesondere der ersten der Logischen Untersuchungen entnehmen läßt, und zwar
vor allem sein Begriff des bedeutungsvollen intentionalen Sprechaktes, näher
beleuchtet(§ 1). In einem weiteren Schritt wird Husserls Bestimmung des Zu­
sammenhangs von identischem Ausdruck bzw. identischer Bedeutung und in­
dividueller Bedeutungsintention kritisch diskutiert. Daraus erhellt, wie Husserl
den noematisch verstandenen Bedeutungsbegriff gewann, den er erstmals in Vor­
lesungen 1908 vortrug und der mit Freges Lehre vom »Gedanken« verwandt
ist. Im Anschluß werden Probleme erörtert, die sich aus dieser quasi-gegen­
ständlichen Fassung der Bedeutung bezüglich des Verhältnisses von (noemati­
scher) Bedeutung und Referenzgegenstand ergeben. Im folgenden wird der Fra­
ge nachgegangen, wie Husserl innerhalb des Rahmens der Bedeutungs- und
Urteilstheorie dem Unterschied zwischen wahrem und falschem Sprechen Rech­
nung tragen kann(§ 2). Ins Zentrum der Darstellung von Husserls Wahrheits­
lehre wird der Begriff der anschaulichen Erfüllung gerückt, wie er besonders
in der sechsten der Logischen Untersuchungen erörtert wird. Insbesondere wird
erläutert, was unter fundierten »kategorialen Akten« bzw. ihren »idealen« Ge­
genständen und dann vor allem, was unter dem anschaulich erfüllenden Akt
»kategorialer Anschauung« zu verstehen ist. Anschließend wird gezeigt, wie
Erkenntnis, primär wissenschaftliche Erkenntnis, als komplexer Akt befriedigten
Erkenntnisinteresses bzw. gerechtfertigter Erkenntnisprätention von Husserl hin­
sichtlich ihrer Evidenz nach Stufen der Vollkommenheit differenziert und wie
der Zusammenhang von Evidenz und Wahrheit gekennzeichnet wird. Abschlie­
ßend wird Husserls Lehre von der Notwendigkeit sinnlicher Erkenntnisakte
als Fundament der kategorialen Akte des Denkens und des wahren Urteilens
als der prägnanten Erkenntnisakte zur Geltung gebracht.
In den restlichen Kapiteln 7-10 werden nun insbesondere auch jene Problem­
bereiche zur Sprache gebracht, die mit Husserls Wende zur Einbeziehung ei­
ner genetisch-erklärenden Phänomenologie neben der grundlegenden statisch­
deskriptiven in den Blick traten.
Zuerst wird in Kapitel 7 in Abhebung vom Gegenbegriff der >>statischen Phä­
nomenologie« erläutert, was Husserl unter einer »genetischen Phänomenologie«
versteht, deren Idee er vor allem in den Jahren 1917-1921 entworfen hat. Die
statische Phänomenologie bzw. Konstitutionsanalyse hat eine feste »Ontolo­
gie« zum Leitfaden, und sie hat es mit Erlebnissen zu tun. Bezüglich der »gene­
tischen Phänomenologie« wird zuerst nachgewiesen, daß Husserl schon vor dem
eigentlichen Durchbruch der Idee der genetischen Phänomenologie in drei Sach­
bereichen(konstitutive Phänomenologie vs. Ontologie; konstitutive Systeme als
8 Einleitung

Stufenbau; Zeitbewußtsein) gelegentlich den Terminus > genetisch < gebraucht.


Als Grundeinsicht zur Kennzeichnung der Idee der eigentlich genetischen Phä­
nomenologie wird dann zur Geltung gebracht, daß Husserl nicht mehr, wie
noch in den Ideen (1913), vom Ich als leerem Identitätspol spricht, sondern ei­
nen Begriff des Ich entwickelt, das Vermögen, Stellungnahmen, Überzeugun­
gen etc. hat und dem die Welt als Horizont des > Ich kann < vorgegeben ist.
Aufgabe der genetischen Phänomenologie wird es, der Geschichte des Ich nach­
zugehen, nach dem Ursprung der Konstitutionssysteme und der darin konsti­
tuierten Gegenstände selbst zu fragen. Näher werden dann die von Husserl
unterschiedenen zwei Grundformen der aktiven und passiven Genesis skizziert.
Bezüglich der passiven Genesis wird deren universales Prinzip der Assoziation
nach zwei Hauptformen erläutert. Husserls Idee der genetischen Phänomeno­
logie zieht auch die Lehre von der Selbstkonstitution des Ich als bestimmte Per­
sönlichkeit nach sich sowie die Aufgabe, die Genesis der konkreten Monade
in ihrer Vergemeinschaftung mit anderen Monaden aufzuklären. Am Schluß
des Kapitels wird auf Husserls Verständnis seiner Philosophie als transzenden­
talem Idealismus in Verbindung mit der Idee der Genesis aufmerksam gemacht.
Im Kapitel 8 kommen die soeben bei der Kennzeichnung der Idee der geneti­
schen Phänomenologie gegenübergestellten Begriffe des reinen und des persona­
len Ich ausführlicher zur Sprache. > Reines Ich < und > personales Ich < bilden zwei
Aspekte einer einheitlichen Problematik, die erst nach den Logischen Untersu­
chungen, dann aber in zunehmendem Maße von Bedeutung wurde. Zwei ganz
verschiedene Zusammenhänge der statischen Erlebnisanalyse motivierten Hus­
serl, das zunächst als Fiktion verworfene reine Ich mit in Betracht zu ziehen.
Es ergibt sich daraus im Gesamtwerk eine Zweideutigkeit im Begriff des reinen
Ich. Einerseits kam Husserl kurz vor den Ideen (1913) dazu, das reine Ich als
Prinzip der Einheit eines Bewußtseinsstromes in Abgrenzung gegen andere Be­
wußtseinsströme einzuführen. Angedeutet wird, wie sich dieser intersubjekti­
ve Problembestand auch im späteren Werk immer wieder findet. Andererseits
führte Husserl, ebenfalls kurz vor den Ideen, den Begriff des reinen Ich zur
Bestimmung des Bewußtseinsaktes im prägnanten Sinn des cogito ein. Dies ge­
schah in Verknüpfung mit dem Phänomen des Aufmerkens. Im späteren Werk
brachte Husserl in Entsprechung zum reinen Ich als Ausstrahlungszentrum der
intentionalen Erlebnisse dann auch den Gedanken vom Ich als Pol der Affek­
tion, als Einstrahlungszentrum, in Ansatz. Husserls Konzeption des personalen
Ich steht engstens mit der Hinwendung zu einem genetischen Verständnis der
Konstitutionsproblematik in Zusammenhang. In der Freiburger Zeit gelangte
Husserl durch die Thematisierung der Beziehung zwischen personalem Ich und
Umwelt zu einer an Kant anknüpfenden Theorie der transzendentalen Subjek­
tivität und Intersubjektivität in Korrelation zur objektiven Welt der Erfahrung.
Einleitung 9

Mit einem Hinweis auf Husserls Bestimmung des Zusammenhanges zwischen


dem reinen und dem personalen Ich schließt das Kapitel.
Das Kapitel 9 ist der Darstellung von Husserls Lehre von der Lebenswelt ge­
widmet. Nach einer Vorbemerkung zu Husserls Gebrauch des Wortes > Lebens­
welt < (§ 1) wird die Thematik nach drei Hinsichten näher erläutert. In einem
ersten Schritt wird die Lebenswelt als Grundlagenproblem der objektiven Wis­
senschaften diskutiert (§ 2). Erst in den zwanziger Jahren trat in Husserls wis­
senschaftstheoretischen Erörterungen gegenüber seiner früheren Orientierung
an den einzelnen Wissenschaften die Frage nach deren Einheit und prinzipiel­
len Gliederung in den Vordergrund. Diese neue Frage stellte sich Husserl ins­
besondere mit Bezug auf die Einheit und innere Struktur der Welt, auf die
sich die Einzelwissenschaften beziehen. Diese vereinheitlichende Fragestellung
steht mit dem Ideal einer universalen, philosophisch letztbegründeten Wissen­
schaft in Zusammenhang. Die Motivation zur Entfaltung der Problematik des
>>natürlichen Weltbegriffs<< (>>Lebenswelt<<) war ihm aus der Auseinandersetzung
mit dem Dualismus von Natur und Geist der Cartesianischen Tradition erwach­
sen. In einem zweiten Schritt wird Husserls Lehre vom Verhältnis der wissen­
schaftlichen Welt und der Lebenswelt näher erörtert (§ 3). Es wird erklärt, warum
sich die zunächst rein wissenschaftstheoretisch verstandene Grundproblema­
tik für Husserl dann zu einem universal gefaßten Seins- und Wahrheitsproblem
ausweitete, so daß in der Krisis ( 1 936), Husserls letztem Werk, der Titel > Le­
benswelt < selbst für eine universale Problematik steht. Im letzten Schritt dieses
Kapitels kommt Husserls Entwurf einer Ontologie der Lebenswelt zur Spra­
che (§ 4). Ihre Etablierung erfordert eine Epoche vom Mitvollzug der Gelrun­
gen der objektiven Wissenschaften sowie überhaupt von allen zweckgerichteten
Interessen, die auf Sonderhorizonte bezogen bleiben. Zur Verdeutlichung wird
diese Einstellung mit der sog. »personalistischen Einstellung<< verglichen. Nach
einigen Hinweisen auf Husserls Ansatz eines »lebensweltlichen Apriori<< wird
abschließend die Ontologie der Lebenswelt in Beziehung gebracht zur Proble­
matik einer transzendental-phänomenologischen Reflexion auf die Subjektivität.
Im abschließenden Kapitel 1 0 wird Husserls Gesamtkonzeption der Philoso­
phie kurz vorgestellt. Im wesentlichen handelt es sich um eine Erläuterung der
Titel »transzendentale Phänomenologie« und »Metaphysik«. Die transzendentale
Phänomenologie in ihrer systematischen Ausführung bildet in Husserls Au­
gen das vollständige eidetische Fundament und damit die entscheidende Bedin­
gung der Möglichkeit einer wissenschaftlichen Philosophie und Metaphysik.
Husserl spricht von der eidetischen Phänomenologie auch als Erster Philoso­
phie; in dieser Konzeption gilt ihm die empirische Philosophie der faktischen
Wirklichkeit als Zweite Philosophie oder Metaphysik. Letztlich geht Husserls
Auffassung von der Philosophie der Wirklichkeit, seine Metaphysik, aber nicht
10 Einleitung

darin auf, Interpretation der Tatsachenwissenschaften aus transzendental­


apriorischen Prinzipien zu sein. Vielmehr gilt ihm von friih an das irrationale
Faktum der Rationalität der Welt als Thema einer Metaphysik in einem neuen
Sinn, wobei Husserl vornehmlich an ethisch-religiöse Probleme denkt. Zum
Abschluß wird auf einen späten Neuansatz in Husserls Bestimmung des Ver­
hältnisses von Erster und Zweiter Philosophie hingewiesen. Man ist versucht,
diesbezüglich von einer »Kehre<< bei Husserl zu reden. An Heideggers Herme­
neutik der Faktizität erinnernd, scheinen jetzt das Urfaktum des Ich und das
Faktum seiner historischen Welt den Ausgangspunkt seines Philosophierens zu
bilden. An der Eidetik als Bedingung der Möglichkeit transzendentaler Erkennt­
nis hielt Husserl jedoch fest.
Das vorliegende Buch ist ein Gemeinschaftswerk der drei Verfasser. Aufbau
und Inhalt der einzelnen Kapitel wurden gemeinsam festgelegt und wiederholt
besprochen. Trotz dieser engen Zusammenarbeit und der vielen gegenseitigen
Anregungen zur Überarbeitung des Manuskriptes, ist ein Text entstanden, in
dem die individuelle Eigenart der verschiedenen Verfasser deutliche Spuren hin­
terlassen hat. Es scheint somit zweckmäßig, zu erwähnen, wer für welches Ka­
pitel zuständig war: R. Bernet: Kapitel l , 3/§ 1, 4, 6; I. Kern: Kapitel 3/§ 2,
5/§ 2, 7, 9, 10; E. Marbach: Einleitung, Kapitel 2, 5/§ 1, 8.
Die Verfasser möchten Frau M. Ryckeboer-Gieffers für ihre aufmerksame und
geduldige Hilfe bei der Erstellung der Satzvorlage und beim Lesen der Korrek­
turen herzlich danken.
1. Kapitel
Mathematik, Logik und Phänomenologie

Husserls ganzes philosophisches Werk bewegt sich im magnetischen Feld des


Begriffs der Wissenschaft. Die Grundspannung, der sich Husserl damit aussetzt,
läßt sich als Gegensatz von philosophischer und nicht-philosophischer (>>na­
türlicher<<) Wissenschaftlichkeit fassen. Die Etablierung der phänomenologi­
schen Wissenschaft erfolgt somit naturgemäß auf dem Wege einer Kritik der
bereits mehr oder weniger erfolgreich funktionierenden - natürlichen und
philosophischen - Wissenschaften. Diese phänomenologische Wissenschafts­
kritik erfährt in der Entwicklung von Husserls Werk wesentliche Veränderun­
gen. Der frühe, primär mathematisch und logisch interessierte Husserl sucht
nach einem philosophischen (bzw. erkenntnistheoretischen) Fundament der in
höchster Abstraktion verfahrenden logisch-mathematischen Theoriebildung.
Der spätere Husserl rückt dagegen die wissenschaftstheoretische Relevanz der
sinnlichen Erfahrung und der ursprünglichen Lebenspraxis immer mehr in den
Vordergrund. Diese Entwicklung darf jedoch nicht überbewertet werden: der
Philosophie der A rithmetik und der Krisis, den Ideen und der Formalen und tran­
szendentalen Logik ist gemeinsam das philosophische Interesse am subjektiven
Erkenntnisleben. Die phänomenologische Kritik der Grundlagen, Gültigkeit
und Folgen der natürlichen Wissenschaften führt bei Husserl immer über die
phänomenologische Wissenschaft vom Erkenntnissubjekt. Mag sich die Bestim­
mung dieses Subjektes sowie die Artikulation seines Zusammenhangs mit den
Objekten der Wissenschaften in der Entwicklung von Husserls Denken auch
mehrmals gründlich geändert haben, die Priorität der Wissenschaft von der wis­
senschaftlichen Tätigkeit blieb unangetastet.
Phänomenologie ist in ihrer ersten Entwicklungsstufe wesentlich nichts an­
deres als Wissenschaft von den subjektiven > Ursprüngen < bzw. > Quellen < der
Mathematik (insbes. Arithmetik und Geometrie) und formalen Logik. Eine sach­
liche Diskussion dieser Problematik kann somit zugleich als repräsentative hi­
storische Darstellung von Husserls Frühwerk gelten. Wir legen deswegen im
folgenden den Nachdruck vor allem auf die Ausführungen der Philosophie der
A rithmetik ( 1 8 9 1 ) und der Logischen Untersuchungen ( 1900/0 1) und verweisen
nur da auf die Formale und transzendentale Logik ( 1 929), wo sich dies aus sach­
lichen Gründen aufdrängt.
12 1 . Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie

§ 1. Der psychologische Ursprung der arithmetischen Begriffe

Die folgende Darstellung einiger Grundgedanken aus Husserls Philosophie der


A rithmetik bleibt notgedrungen beschränkt und schematisch. Unser Interesse
richtet sich vor allem auf den Nachweis, daß dieses Erstlingswerk nicht etwa
eine bloße Jugendsünde aus Husserls psychologistischer Periode darstellt, son­
dern eine vollwertige und noch immer aktuelle Schrift. Diese Behauptung be­
stätigt sich in der Folge unserer Darstellung durch die Beobachtung, daß die
Philosophie der A rithmetik tro tz unleugbarer Mängel entscheidende Ergebnisse
nicht nur der Logischen Untersuchungen, sondern auch der späteren Werke von
Husserl vorwegnimmt. Die phänomenologischen Analysen der VI Logischen
Untersuchung zur erkenntnistheoretischen Begründung der Geltung von mathe­
matischen und logischen Gegenständen sind eine (partielle) Verwirklichung des
in der Philosophie der A rithmetik entworfenen Forschungsprogramms, und ih­
re Lehre von den anschaulichen sowie den zeichenhaft vermittelten, leeren ka­
tegorialen Akten, von der Konstitution idealer Gegenstände und formaler
Allgemeinbegriffe ist eine Antwort auf Fragen, die Husserl bereits in der Philo·
sophie der A rithmetik verfolgt. Auch wenn sich Husserl später von der Philoso·
phie der A rithmetik distanziert, so betrifft dies im wesentlichen bloß das darin
wirksame methodologische Selbstverständnis der subjektiv gerichteten Aufklä­
rung der Arithmetik, nicht aber deren Ergebnisse. 1

Die eigentlichen A nzahlenbegriffe

Das Anfangs- und Kernstück der Philosophie der A rithmetik (Kap. I-IV) über­
nimmt ohne entscheidende Veränderungen den Text von Husserls Hallenser
Habilitationsschrift aus 1887: Über den Begriff der Zahl. Psychologische A naly·
sen (Hu XII, S. 289-338). Husserls Analysen zu Begriff und Ursprung der
(Kardinal-) Zahlen orientieren sich durchgängig an einem unkritischen Vorbe­
griff, der die Zahl als eine komplexe > Gegenständlichkeit < faßt, als eine »Viel­
heit von Einheiten« bzw. als »Mehrheit, Inbegriff, Aggregat, Sammlung, Menge<<
(S. 297). Husserls primäres Interesse richtet sich auf die genauere Bestimmung
der besonderen Art von »Vielheit<< bzw. »Inbegriff<<, die dem Begriff der Zahl
zugrunde liegt . Was ein > Zahl-Inbegriff< ist, läßt sich gemäß Husserls einleuch­
tender Argumentation nur dadurch aufklären, daß man einerseits die darin be­
faßten »Einheiten<< und andererseits die sie umfassende »Verbindung<< genauer

1 Daß Husserl auch später noch an den wesentlichen Einsichten der Ph. d. Arith. zum Zahlbe­

griff festhielt, zeigt der Vergleich mit den Ideen!(§§ 119-122, 158), der FTL (§ 27) und EU(§ 96).
§ 1 . Psychologischer Ursprung arithmetischer Begriffe 13

beschreibt. Husserl vertritt zudem die Ansicht, daß diesen beiden Aufgaben
ausschließlich durch eine »Reflexion<< auf den »Akt<< nachzukommen ist, der
jede dieser »Einheiten<< aussondert >>und zugleich mit den anderen einigend zu­
sammenhält.« (S. 337) Sachlich begründet er diese Behauptung im wesentlichen
dadurch, daß die Bildung des formalen Zahlbegriffs sich auf das allen inhalt­
lich bestimmten, konkreten Inbegriffen Gemeinsame, nämlich den in ihrer Bil­
dung implizierten Akt des Kolligierens stützen müsse. Der Begriff der Zahl läßt
sich somit nur in der Reflexion auf seinen >>Ursprung<< in psychischen Tätig­
keiten aufklären. Frege folgerte daraus, daß Busserls Theorie »Psychologie und
Logik« zu einer modischen »Lauge<< vermische, in der »alles [zur] Vorstellung
wird<<.2 Die sachliche Berechtigung dieses Urteils wurde bisher kaum in Frage
gestellt; im Gegenteil, die Ansicht, Frege hätte damit Husserl von der Mischung
von Logik und Psychologie (dem »Psychologismus<<) geheilt und auf den Weg
einer klaren Scheidung von »Begriff,,, »Bedeutung<< und »Gegenstand<< geführt,
ist geradezu zum Gemeinplatz geworden.3 Wir können in dieser Frage erst
dann Stellung beziehen, wenn wir Busserls Ausführungen über den psycholo­
gischen Ursprung des Begriffs der Zahl besser verstehen gelernt haben.
Der »Inbegriff,, oder die bestimmte Vielheit, welche die anschauliche Grund­
lage zur Gewinnung des Begriffs der Zahl bilden, sind das Ergebnis eines Zu­
sammenschauens von ursprünglicheren Einheiten. Es handelt sich dabei um
einen Prozess der Inklusion und Exklusion bzw. der > selektiven Aufmerksam­
keit <, der bestimmt, welche vorgegebenen Einheiten zu einem Inbegriff ver­
bunden werden. Es ist deutlich, daß die inhaltliche Bestimmung der zu einem
Inbegriff verbundenen Einheiten für die Bestimmung des Zahlbegriffs völlig
irrelevant ist: »Jedes Vorstellungsobjekt, ob physisch oder psychisch, abstrakt
oder konkret, ob durch Empfindung gegeben oder durch Phantasie etc., kann
zusammen mit einem jeden und beliebig vielen anderen zu einem Inbegriff ver­
einigt werden, z.B. . . . ein Gefühl, ein Engel, der Mond und Italien<<. (S. 298)
Handelt es sich nicht mehr um einen konkreten (wie im Falle der Menge im
Busserlsehen Beispiel), sondern um einen abstrakten bzw. formalen Inbegriff,
wie denjenigen der Zahl, so kann bezüglich der in ihm verbundenen > Einhei­
ten < im eigentlichen Sinn gar nicht mehr von > Objekten < gesprochen werden.
Es handelt sich dabei um »irgendwelche Inhalte<<, deren inhaltliche Bestimmt­
heit irrelevant bzw. frei variabel ist, diese Inhalte werden »gedacht . . . als irgend

2 G. Frege, »Rezension von: E. G. Husserl, Philosophie der Arithmetik. 1«: Zeitschrift für Phi·

losophie und philosophische Kritik. N. F. 103 (1894), 5. 316, bzw. Kleine Schriften, hrsg. von I. Ange­
lelli, Darmstadt, 1967, 5. 181.
3 Vgl. dagegen: D. Willard, »Concerning Husserl's V iew of Number�: The Southwestern Journal

of Philosophy, Vol. V, No. 3 (1974), 5. 97 f.: "frege, far from directing a >crushing attackupon Philo­
sophie der Arithmetik, did not even understand the view of number which the book expresses.«
14 1 . Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie

etwas, als irgend eins« (S. 335). Husserl kennzeichnet diese >>Begriffe Etwas und
Eins . . . als Formbegriffe oder Kategorien<< (S. 84). Dasselbe gilt a fortiori für
die aus ihnen gebildeten abstrakten Inbegriffe »Vielheit und Anzahl<< (ebenda).
Die > Anzahl , wird dabei genauer als eine > Vielheit < gefaßt, für welche das >>Wie­
viel<< der durch sie umfaßten >>Etwas<< >>scharf bestimmt<< ist (S. 8 3). Eine An­
zahl (z. B. > drei <) ist nichts anderes als die durch kollektive Verbindung von
Einsen gebildete bestimmte Vielheit: >>Irgend etwas und irgend etwas und ir­
gend etwas . . . oder: irgend eines und irgend eines und irgend eines . . . oder kür­
zer: eins und eins und eins . . . << (S. 3 3 5). Der Zahlbegriff ist somit der Begriff
einer abstrakten, j edoch bezüglich der sie aufbauenden Einheiten »scharf be­
stimmten<< Vielheit.
Husserl geht es j edoch in erster Linie >>nicht um eine Definition des Begriffs
Vielheit [bzw. Anzahl], sondern um eine psychologische Charakteristik der Phä­
nomene, auf welchen die Abstraktion dieses Begriffs beruht<<. (S. 30 1)4 Diese
>>psychologische Charakteristik<< macht es sich zur Aufgabe, die Bildung des Zahl­
begriffs in entsprechenden psychologischen Tätigkeiten zu verfolgen. Die For­
mulierung dieser Frage nach dem psychologischen >>Ursprung<< des Zahlbegriffs
ist deutlich geprägt von der Psychologie Brentanos und insbesondere etwa von
den Untersuchungen von Carl Stumpf (Über den psychologischen Ursprung der
Raumvorstellung, 1 873), bei dem sich Husserl mit der hier besprochenen Schrift
Über den Begriffder Zahl. Psychologische A nalysen habilitiert hat. Ihre sachliche
Berechtigung schöpfen diese >>psychologischen Analysen<< zum >>Begriff der Zahl<<
aus der Beobachtung, daß der Akt des Kolligierens die einzige Invariante in der
Entstehung von allen konkreten Inbegriffen darstellt. Es liegt somit nahe, sich
an dieser psychischen Invariante zu orientieren, wenn es um die Charakterisie­
rung der Bestimmung der Begriffe »Vielheit<< und >>Anzahl<< geht. Es handelt
sich bei dieser Aufklärung des Sinnes der >>Formbegriffe oder Kategorien<< »Viel­
heit und Anzahl<< (S. 84) durch die Beschreibung ihrer Bildung in einem >>psy­
chischen Akt zweiter Ordnung<< bzw. >>höherer Ordnung« (S. 74, 92) um eine
erste, jedoch noch mangelhafte Durchführung einer phänomenologischen Kon­
stitutionsanalyse.5 Es ist kein Zufall, daß diese Konstitutionsanalyse erstmals
an einem Gegenstand durchgeführt wurde, für den es im Bereich sinnlicher Er-

4 Die Hervorhebungen innerhalb der Zitate stammen in der Regel von den Verf. Wo dies nicht
der Fall ist, wird darauf jedoch nicht eigens hingewiesen.
1 Vgl. R. Sokolowski, The Formation of Husserl's Concept of Constitution, The Hague, 1964, S.

15ff. Vgl. auch J. Ph. Miller, Number in Presence and Absence. A Study of Husserl's Philosophy of
Mathematics, The Hague/Boston/London, 1982, S. 38 ff. Miller relativiert in seiner sorgfältigen und
überzeugenden Argumentation die Behauptung von de Boer, es könne sich in der Ph. d. Arith.
keinesfalls schon um einen phänomenologisch verstandenen Begriff des Ursprungs und der Kon­
stitution handeln (vgl. Th. de Boer, The Development of Husserl's Thought, The Hague/Boston/Lon­
don, 1978, S. 72, 119 ff. ).
§ 1 . Psychologischer Ursprung arithmetischer Begriffe 15

fahrung von empirischem Sein kein Äquivalent gibt. Inbegriffe von der Art
der Vielheit bzw. der Zahl gibt es nur vermöge der kolligierenden Tätigkeit,
die abstrakte Gegenstände von der Art des >>Etwas-überhaupt« aufeinander be­
zieht und synthetisch vereinheitlicht. In die Terminologie der Logischen Unter­
suchungen übersetzt heißt dies nichts anderes, als daß kategoriale Gegenstände
nicht in sinnlicher Anschauung, sondern nur in einem Akte kategorialer Tä­
tigkeit gegeben sind bzw. sich konstituieren (vgl. unten S. 169-171).6
Ein problematischer Teil in Husserls Ausführungen zum psychologischen
Ursprung des Zahlbegriffs bleibt jedoch die der Reflexion zugeschriebene
Funktion. Husserl behauptet, der Begriff der Zahl als bestimmte Vielheit er­
gebe sich aus der Reflexion auf den Akt des Kolligierens. Der Begriff der Zahl
leite sich nämlich vom Begriff der kollektiven Verbindung her; die kollek­
tive Verbindung der Elemente sei ein unterscheidendes Merkmal von allen
konkreten Inbegriffen; dieses Merkmal könne durch abstraktive Aufmerksam­
keit jedem konkreten Inbegriff entnommen werden; diese abstraktive Aufmerk­
samkeit sei notwendig mit Reflexion verbunden, denn die kollektive Verbin­
dung entstehe im psychischen Akt des Kolligierens. Eine erste Schwierigkeit
ergibt sich bereits aus der Bestimmung der Tätigkeit der kollektiven Eini­
gung, auf die zur Gewinnung der Begriffe kollektive Verbindung und Vielheit
zu reflektieren sei (S. 330, 333 ff.). Der Akt des Kolligierens besteht darin, in
zeitlicher Sukzession und logisch bestimmter Ordnung diskrete Inhalte für
sich zu bemerken und zugleich in einer sie umfassenden Einheit zusammen­
zufassen (S. 337). Genauer besehen richtet sich der Akt des Kolligierens auf
bewußtseinsmäßig gegebene Inhalte, er ist also ein >>psychischer Akt zweiter Ord­
nung<< bzw. >>höherer Ordnung<<, welcher sich kollektiv einigend auf die psy­
chischen Akte bezieht, in denen die entsprechenden diskreten Inhalte für sich
bemerkt werden (S. 74, 92). In die Sprache der Logischen Untersuchungen über­
setzt ist der kolligierende Akt also ein fundierter Akt kategorialer Formung
frei variabler, letztlich aber doch sinnlich gegebener Stoffe. In der Philosophie
der A rithmetik wird diese kategorial formende Leistung j edoch noch sehr un­
deutlich als >>Akt des zusammenfassenden Interesses und Bemerkens<< bestimmt
(S. 337; vgl. auch S. 335), als Akt selektiver Aufmerksamkeit. Was nun die
Reflexion auf diesen Akt des Kolligierens selbst betrifft, so soll sie imstande
sein, nicht etwa bloß die wesensmäßigen Merkmale des psychologischen Voll-

6 Nach Husserls eigenem Eingeständnis gelingt jedoch auch den Log. Unters. noch keine voll
befriedigende Analyse der kategorialen Anschauung. Husserl verwarf später insbesondere die Auf­
fassung, daß der repräsentierende Inhalt der kategorialen Anschauung als ein »psychisches Band«
verstanden werden müsse. Es fällt nicht schwer, in dieser Lehre von einem psychischen Band, das
der kategorialen Apperzeption zugrunde liegt, ein Erbstück der Ph. d. Arith. und deren Lehre von
der Bildung des kategorialen Begriffs der Zahl zu erkennen.
16 1 . Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie

zugs dieses Aktes zu beschreiben, sondern vielmehr die »abstrakten<< »Allge­


meinbegriffe<< kollektiver Verbindung-überhaupt und formaler Vielheit-über­
haupt zu bilden: »In der Reflexion auf jenen elementaren Akt des heraushe­
benden Interesses und Bemerkens, welcher die Inbegriffsvorstellung zum ln­
halte besitzt, erlangen wir die abstrakte Vorstellung der kollektiven Verbindung,
und vermittels ihrer bilden wir den Allgemeinbegriff der Vielheit als eines Gan­
zen, welches Teile in bloß kollektiver Weise verbindet.<< (S. 335) Aus dem Zu­
sammenhang wird deutlich, daß nicht die Reflexion selbst schon den Allge­
meinbegriff zu bilden vermag, sondern daß die Gegebenheiten der Reflexion
bloß die »Grundlagen für die Bildung des Allgemeinbegriffs der Vielheit<< (S.
300) bilden. Wie man sich diese Bildung des Allgemeinbegriffs auf der Grund­
lage der reflexiven Gegebenheit zu denken hat, ist jedoch nicht zu erfahren.
Es fehlt Husserl hier nämlich nicht bloß das klare Verständnis für den in der
Begriffsbildung implizierten Prozess der >>Ideation<< (vgl. unten S. 76 ff.), sondern
auch überhaupt für die Scheidung zwischen der Bildung einer kategorialen Ge­
genständlichkeit und der Bildung des Begriffs dieser Gegenständlichkeit. Und
es bleibt zudem auch unklar, wie und ob die Reflexion auf den Akt des Kolli­
gierens nicht nur für die Bildung der >>abstrakten Vorstellung der kollektiven
Verbindung<< förderlich sein soll, sondern >>Vermittels<< dieser Vorstellung dann
auch für die Bildung des >>Allgemeinbegriffs der Vielheit<<. Ist es wirklich so,
daß die Reflexion in der Bildung des Relationsbegriffs >>kollektive Verbindung<<
und des Ganzheitsbegriffs »Vielheit<< dieselbe und eine notwendige Rolle spielt?
Es scheint zwar einleuchtend, daß der Erfassung einer rein formalen Verbin­
dung wie der kollektiven >>eine besondere Reflexion<< (S. 330) auf den kategorial­
formenden Akt des Kolligierens förderlich ist. Und es ist auch richtig, daß die
Bildung des Allgemeinbegriffs >>kollektive Verbindung<< sich daran orientieren
muß, wie >>diese Einigung bemerkt<< (S. 330) wird. Undeutlich bleibt jedoch,
ob dann als Fundament dieser Begriffsbildung der kolligierende Akt selbst oder
die durch ihn hergestellte logische Beziehung dienen soll. Daß diese Frage kei­
ne deutliche Antwort findet, deutet darauf hin, daß sich Husserl in der Philoso­
phie der A rithmetik der Scheidung zwischen kategorialem Akt und korrelativer
kategorialer Gegenständlichkeit noch nicht voll bewußt war. Einer analogen
Schwierigkeit begegnen wir, wenn wir vom logischen Allgemeinbegriff >>kol­
lektive Verbindung<< zur Betrachtung der Bildung des Allgemeinbegriffs »Viel­
heit<< übergehen. Der Begriff der Vielheit soll angeblich in seiner Bildung durch
die Vorstellung der kollektiven Verbindung und somit durch die Reflexion auf
den Akt des Kolligierens vermittelt sein. Auch in diesem Fall scheint die Beru­
fung auf die Reflexion fraglich: Zwar ist die Vielheit eine durch den kolligie­
renden Akt gebildete kategoriale Gegenständlichkeit, doch zur Bildung des
Begriffs dieser Vielheit bedarf es wdhl kaum der ausdrücklichen Reflexion auf
§ 1 . Psychologischer Ursprung arithmetischer Begriffe 17

den Akt. Es scheint plausibler, diese Begriffsbildung im Hinblick auf eine indi­
viduelle, inhaltlich bestimmte Vielheit zu fundieren, d. h. im direkten Hin­
blicken auf die (»sinnlich vermischte<<) kategoriale Gegenständlichkeit, und sich
dafür nicht auf die Reflexion auf den sie konstituierenden kategorialen Akt zu
berufen. Wir werden noch sehen, daß dies in der Tat die Ansicht ist, die Bus­
serl in den Logischen Untersuchungen vertritt.
Vorerst wollen wir aber noch erörtern, welche Rolle die Reflexion in der Bil­
dung des Allgemeinbegriffs Etwas spielt, jenes Begriffs also, der zusammen mit
dem Begriff der kollektiven Verbindung den Begriff der Zahl ausmachen soll.
Der >>Formbegriff,, (S. 84) des Etwas bezieht sich auf die inhaltsentleerten »Ein­
heiten<<, welche als »Fundamente<< der kollektiven Verbindung fungieren. »Ir­
gend etwaS<< (S. 335) kann mit »irgend eins<< (S. 335) zum Ganzen einer formalen
Vielheit kolligiert werden, und wenn das »Wieviel<< dieser mannigfaltigen »ir­
gend eins<< bestimmt ist, so ist diese formale Vielheit eine Anzahl (S. 83). Der
Begriff dieses »irgend eins<< bzw. >>Etwas<< (S. 3 3 5) soll nun nach Husserl seine
Entstehung ebenso der Reflexion verdanken wie der Begriff der kollektiven Ei­
nigung. Busserls Argument lautet, daß >>Etwas<< einen beliebigen Inhalt einer
Vorstellung-überhaupt bezeichne und somit nur in der Reflexion auf dieses Vor­
stellen zu erfassen sei: >>Etwas ist ein Name, welcher auf jeden denkbaren In­
halt paßt . . . . Worin alle Gegenstände . . . übereinkommen, ist nur dies, daß sie
Vorstellungsinhalte sind . . . Offenbar verdankt der Begriff des Etwas seine Ent­
stehung der Reflexion auf den psychischen Akt des Vorstellens, als dessen In­
halt eben jedes bestimmte Objekt gegeben ist . . . . Natürlich kann der Begriff
Etwas nie gedacht werden, ohne daß irgendein Inhalt gegenwärtig ist, an dem
jene Reflexion vollzogen wird<< (S. 3 3 5 f.). Einleuchtend in dieser Argumenta­
tion ist jedenfalls, daß, wenn das Etwas als beliebiger Vorstellungsinhalt bezeich­
net wird, der Blick auf den korrelativen beliebigen bzw. invarianten Vorstel­
lungsakt der (erkenntnistheoretischen) Klärung des Begriffs Etwas evtl. förder­
lich sein kann. Wiederum muß man sich aber fragen, ob es zur Bildung des
Formbegriffs Etwas notwendig >>der Reflexion auf den psychischen Akt des Vor­
stellens<< bedarf oder ob als Abstraktionsfundament zur Bildung dieses All­
gemeinbegriffs nicht vielmehr der in dieser Vorstellung intentional bewußte
Vorstellungsgegenstand dienen soll. Husserl scheint im obigen Zitat selbst schon
in diese Richtung zu gehen, wenn er sagt, daß die Reflexion an irgendeinem
gegenwärtigen Inhalt zu vollziehen sei und daß dieser Inhalt das bestimmte Ob­
jekt einer Vorstellung sei. Nicht deutlich wird jedoch, ob dieses Vorstellungs­
objekt ein schlichter (>>jedes bestimmte Objekt<<, S. 336) oder ein kategorialer
Gegenstand (>>Gedankending<<, S. 335) ist. Und es bleibt vollkommen dunkel,
wie aus der > Reflexion < auf irgendein (inhaltlich) bestimmtes Objekt einer kon­
kreten intentionalen Vorstellung der Formbegriff des Etwas entstehen kann.
18 1 . Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie

Der in dieser Begriffsbildung implizierte Formalisierungsprozess bleibt in sei­


ner Beziehung sowohl zur > Reflexion < als auch zur begriffsmäßigen Verallge­
meinerung sowie überhaupt seinem Eigenwesen nach völlig unbestimmt.
Genauer besehen weist diese problematische Lehre von der die Begriffe kol­
lektive Verbindung, Vielheit, Etwas und somit Zahl konstituierenden Reflexion
auf eine noch fundamentalere Schwierigkeit zurück, nämlich auf das Fehlen
einer deutlichen Lehre von der kategorial formenden Tätigkeit. Als Husserl
dann in der VI. Logischen Untersuchung über die ausgearbeitete Theorie vom
anschaulichen kategorialen Akt und der ihm intentional entsprechenden kate­
gorialen Gegenständlichkeit verfügte, bemerkte er ausdrücklich, daß die sich
an der Gegebenheit kategorialer Gegenstände orientierende Bildung formaler
Allgemeinbegriffe nicht durch eine ausdrückliche Reflexion auf die entsprechen­
den kategorialen Akte vermittelt sei: >>Nicht in der Reflexion<< auf die katego­
rialen Akte, d.h. >>nicht in diesen Akten als Gegenständen, sondern in den
Gegenständen dieser Akte finden wir das Abstraktionsfundament für die Reali­
sierung der besagten Begriffe . . . Ein Inbegriff z.B. ist gegeben und kann nur
gegeben sein in einem aktuellen Zusammenbegreifen . . . Aber der Begriff des
Inbegriffs erwächst nicht durch Reflexion auf diesen Akt; statt auf den geben­
den Akt haben wir vielmehr auf das, was er gibt, auf den Inbegriff, den er in
concreto zur Erscheinung bringt, zu achten und seine allgemeine Form ins all­
gemeinbegriffliche Bewußtsein zu erheben.<< (§ 44) Auch der in dieser Begriffs­
bildung implizierte Abstraktionsprozeß kommt erst in den Logischen Unter­
suchungen zu einer befriedigenden Verdeutlichung. Während die begriffsbildende
Abstraktion in der Philosophie der A rithmetik noch als ein Akt selektiver Auf­
merksamkeit verstanden wird, sprechen die Logischen Untersuchungen diesbe­
züglich bereits von ideierender A bstraktion: >>Natürlich meine ich hier nicht
Abstraktion in dem bloßen Sinne der Hervorhebung irgendeines unselbständi­
gen Moments an einem sinnlichen Objekte, sondern die ideierende Abstrak­
tion, in welcher statt des unselbständigen Moments seine > Idee <, sein Allgemeines
zum Bewußtsein, zum aktuellen Gegebensein kommt.<< (§ 52)
Die Logischen Untersuchungen bemängeln somit nicht, daß die Philosophie der
A rithmetik sich zur Aufklärung des psychologischen (bzw. erkenntnistheoreti­
schen) Ursprungs von kategorialen Gegenständen wie des Inbegriffs auf kate­
goriale Akte wie das Kolligieren berufen hat. Sie kritisieren bloß, daß in der
Philosophie der Arithmetik nicht deutlich wurde, daß das gegenständliche Korre­
lat des Vollzugs dieses kategorialen Aktes und nicht die Reflexion auf diesen
Aktvollzug die Abstraktionsgrundlage für die Ideation des allgemeinen Begriffs
eines kate gorialen Gegenstandes wie Vielheit, Etwas und kollektive Verbindung
darstellt. Daß sich Husserl in der Philosophie der A rithmetik noch auf die Re·
flexion auf den Akt beruft, hat wesentlich drei verschiedene Gründe:
§ 1 . Psychologischer Ursprung arithmetischer Begriffe 19

1) Husserl orientierte sich ganz an der Beobachtung, daß derselbe, einheitliche


Akt des Kolligierens in der Bildung der mannigfaltigen, inhaltlich verschieden
bestimmten, konkreten Inbegriffe impliziert ist und folgerte daraus, die Refle­
xion auf diesen Akt müsse der Bildung des Begriffs des Kollektivums-überhaupt
die Richtung geben.
2) Husserl war noch beeinflußt von der >>seit Locke allgemein verbreiteten, aber
grundirrigen Lehre, daß . . . die logischen Kategorien, wie . . . Einheit . . . , Anzahl
. . . durch Reflexion auf gewisse psychische Akte, also im Gebiete des inneren
Sinnes, der > inneren Wahrnehmung< entspringen.<< (VI LU, § 44) Wir haben
allerdings gesehen, daß sich Husserl in der Philosophie der A rithmetik bereits
von diesem Einfluß entfernte.
3) Es fehlte Husserl noch ein deutlicher Begriff für das gegenständliche Korre­
lat des kategorialen Aktes und dessen Funktion als Fundament eines weiteren
kategorialen Aktes, nämlich der Bildung des Allgemeinbegriffs. Das Fundament
des Allgemeinbegriffs >>kollektive Verbindung überhaupt<< ist nicht der Blick
auf den Akt des Kolligierens selbst, sondern der Blick auf die durch ihn gestif­
tete formale Verbindung zwischen Inhalten. Und auch der Begriff des >>Etwas<<
ist nicht im Ausgang von einem beliebigen Denkakt, sondern von einem belie­
bigen Denkgegenstand zu gewinnen. In der Philosophie der Arithmetik lassen
sich bereits Passagen finden, die in diese Richtung weisen (z.B. S. 337), doch
das Festhalten an der notwendigen Funktion der Reflexion zeigt deutlich, daß
subjektive und objektive Bestimmungen des kategorialen Abstraktionsfunda­
mentes und mithin kategorialer Akt und kategoriale Gegenständlichkeit, Akt
und Bedeutung noch nicht deutlich geschieden werden.
Frege hat diesen wunden Punkt in seiner Rezension der Philosophie der A rith·
metik deutlich herausgestellt: >>Dadurch, daß man Subjektives und Objektives
unter dem Worte > Vorstellung< zusammenfaßt, verwischt man die Grenze zwi-
schen beiden . . . So erscheint . . . der Inbegriff (die Menge, Vielheit) bald als Vor-
stellung . . . , bald als Objektives . . . << (S. 318). Es ist jedoch nicht wahr, daß Husserl
die spätere Einsicht in die Scheidung von kategorialen Gegenständen und Form­
begriffen einerseits und dieser beiden von den sie konstituierenden Akten an­
dererseits Freges Rezension verdankt. Bereits in der Schröder·Rezension7, welche

7 E. Husserl, »[Rezension von] Schröder, Ernst, Vorlesungen über die A lgebra der Logik . « : Göt·
..

tingsche gelehrte A nzeigen, 2, Nr. 7 ( 1 891), S. 243 -278. Neu veröffentlicht in Hu XXII. (Wir ver­
weisen auf die auch in der Hussediana-Ausgabe angeführte ursprüngliche Paginierung.)
Wir können hier nicht auf die zentralen Anliegen der Schröder-Rezension eingehen, nämlich auf
den Zusammenhang von Umfangs- und Inhaltslogik sowie insbesondere die prinzipielle Abhebung
einer Logik des deduktiven Denkens und fortschreitenden Erkennens vom Folgerungskalkül und
dessen automatisch-technischem Hantieren mit Zeichen: »Weit entfernt eine Theorie der reinen
Folgerungen zu sein, ist er [sc. : der Kalkül] vielmehr eine Kunst, solche Folgerungen entbehrlich
zu machen. Er ist nichts anderes als eine Zeichentechnik ... Unabweisbar sind freilich hier, wie
20 1 . Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie

im selben Jahr wie die Philosophie der A rithmetik erschien (d.h. drei Jahre vor
Freges Rezension der Philosophie der A rithmetik), macht Husserl Sehröder den
Vorwurf, Bedeutung und Vorstellung sowie Bedeutung und Gegenstand nicht
mit genügender Deutlichkeit voneinander abzuheben (S. 250). Husserl insistiert
demgegenüber darauf, daß das Schwanken der subjektiven Vorstellung eines Ge­
genstandes nicht eo ipso eine schwankende Bedeutung genannt werden könne
und daß Namen ohne entsprechenden, wirklichen Gegenstand doch nicht be­
deutungslos sind.
Frege ging in seiner Kritik der Philosophie der A rithmetik aber noch viel wei­
ter und behauptete: bei Husserl >>wird alles Vorstellung<< (S. 3 1 6) und das heißt
für ihn, alles wird zeitlich individuierter, intramentaler Bewußtseinsinhalt ei­
ner empirischen Person. Leider ist auch in der späteren Literatur zur Philoso­
phie der A rithmetik die Meinung sehr verbreitet, eben diese von Frege gerügte
Identifizierung arithmetischer Gegenstände, Begriffe und Relationen mit reel­
len Bewußtseinsinhalten mache den dieses Werk kennzeichnenden >>Psycholo­
gismus« aus. Freges Kritik geht jedoch zu weit, und die sich darauf stützenden
Busserl-Interpreten gehen meist ganz fehl. Zwar wird die Beziehung zwischen
der objektiv-logischen kollektiven Verbindung und dem Akt des Kolligierens
bei Husserl nicht deutlich genug herausgearbeitet, jedoch wird die kollektive
Verbindung nicht als psychischer Akt bezeichnet. Nur einem oberflächlichen
Leser kann entgehen, daß in Husserls Bezeichnung der kollektiven Verbindung
als >>psychische Verbindung« der Terminus >>psychisch« nicht im Gegensatz zu
»objektiv«, »logisch« oder >>ideal« gebraucht wird, sondern im Gegensatz zu >>phy­
sisch«. Eine >>psychische« Relation ist in dieser sich an Brentano anlehnenden
Terminologie im Gegensatz zu der >>physischen« Relation eine Verbindung, die
nicht in der inhaltlichen Bestimmung der verbundenen Glieder fundiert ist
(S. 329 ff.). Was nun die Begriffe Etwas und kollektive Verbindung angeht, so be­
hauptet Husserl zwar, daß es zu ihrer Bildung der Reflexion auf psychische Tä­
tigkeiten bedarf. Aber dadurch wird der >>Formbegriff oder Kategorie« (S. 84)
der kollektiven Verbindung doch nicht eo ipso schon mit dem ihm als Abstrak­
tionsfundament dienenden >>psychischen Akt zweiter Ordnung« identifiziert.
Gleichermaßen bedeutet auch Husserls schwankende Bestimmung des Abstrak­
tionsfundamentes für den Begriff Etwas doch keineswegs, daß er den Gegenstand

bei allen calculatorischen Disciplinen, die schwierigen Fragen nach Wesen und logischer Berechti­
gung der rechnenden Methode, zumal von der Beantwortung derselben allererst der Erkenntnis­
wert der Resultate dieser Disciplinen abhängig ist . . . Aber die Logik dieses algebraischen [Logik-]
Calculs fällt nicht in den Gesichtskreis der ihn für deduktive Logik haltenden Forscher, zumal
ja die Geistesoperationen, auf denen er beruht, selbst nicht in jenes Gebiet reiner Folgerungen gehö­
ren, welches er ausschließlich beherrscht. Der Logikcalcul ist also ein Calcul der reinen Folgerun­
gen, nicht aber ihre Logik.<< (A.a.O. , S. 247).
§ 1 . Psychologischer Ursprung arithmetischer Begriffe 21

einer (schlichten oder kategorialen) Vorstellung mit dieser Vorstellung selbst


identifiziert. Die Begriffe Vielheit, Etwas und somit auch Zahl ergeben sich
dieser Lehre zufolge zwar notwendig aus einer abstraktiven Betrachtung der
entsprechenden Vorstellungen. Sie sind jedoch nicht etwa wesensmäßige Bestim­
mungen dieser Vorstellungen qua psychische Tätigkeiten, sondern betreffen ih­
ren logischen Gehalt (S. 2 1 8 , 78). Wie wir noch sehen werden, beschäftigt sich
die Philosophie der A rithmetik auch sehr ausführlich mit dem Unterschied zwi­
schen eigentlichen, d. h. intuitiven, und uneigentlichen, d. h. signitiven oder
symbolischen Vorstellungen von Zahlen. Wenn eine selbe Zahl sowohl in ei­
ner eigentlichen als auch in einer uneigentlichen Vorstellung gegeben sein kann,
dann folgt auch, daß eine Zahl nicht ohne weiteres mit der sich auf sie bezie­
henden jeweiligen Vorstellung zusammenfallen kann.
Freges Scharfsinn sind diese Nuancen wohl nur deswegen entgangen, weil ihm
der Husserlsche Problemansatz fremd geblieben ist. Dieser Problemansatz ist
charakterisiert durch die subjektiv gerichtete Aufklärung idealer Gegenstände
mit dem Zweck der >>erkenntnistheoretischen Erforschung<< und »Kritik<< der
»Fundamente<< der Arithmetik und Logik (S. S f.) Für Frege war dieser Ansatz
auch deswegen unverständlich, weil er selber den Zahlbegriff nicht im Ausgang
von einer kategorialen Gegenständlichkeit wie Inbegriff oder Vielheit begreift,
sondern als ein »Begriffswort<<, dessen objektiver Referent (»Bedeutung<<) als Be­
griff zu bestimmen ist.a
Dennoch hat Freges starke Betonung der grundsätzlichen Scheidung von em­
pirisch Psychischem und ideal Logischem in Husserls Werk deutliche Spuren
hinterlassen. Diese Spuren von Freges Einfluß betreffen vor allem die Einsicht
in die Notwendigkeit einer rein logischen Fundierung der arithmetischen und
logischen Operationen. Husserls spätere Selbstkritik, in der er seine frühe phi­
losophische Analyse der Arithmetik des Psychologismus bezichtigt, bezieht sich
denn auch vor allem auf den Zusammenhang von Arithmetik und Logik und
nicht etwa auf eine vermeintliche Identifizierung der Zahl mit ihrer psychi­
schen Vorstellung. 9 Psychologistisch ist das Verständnis der Logik, welcher die
Arithmetik als Disziplin zugeordnet wird. Es handelt sich genauer um eine durch
Brentano beeinflußte Bestimmung der Logik als Kunstlehre des Denkens (vgl.
unten S. 26 ff.). Neben der Entwicklung von Husserls Idee der objektiv gerich­
teten, idealen Logik beeinflußte Frege indirekt auch die Entwicklung der Phäno-

8 Vgl. Freges Brief an Husserl vom 24. V. 1 8 9 1 : G. Frege, Wissenschaftlicher Briefwechsel, hrsg.

von G. Gabriel, Hamburg, 1976, S. 96. Zur Geschichte der Interaktion von Husserls und Freges
Denken vgl. insbes. J. N. Mohanty, >>Husserl and Frege. A New Look at their Relationship«:
Research in Phenomenology, Vol. IV ( 1974), S. 5 1 - 62 und auch in: Readings on Edmund Husserl's
Logical Investigations, ed. by J. N. Mohanty, The Hague, 1976, S. 22 -32.
9 Vgl. ]. P. Miller, a.a.O. , S. 1 9 f.
22 1 . Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie

menologie als subjektiv gerichtete Begründung der Arithmetik und Logik. Hus­
serl ließ sich nämlich durch Frege nicht etwa von seinem Projekt einer subjek­
tiven Fundierung der Geltung von arithmetischen Operationen, logischen
(Denk-) Gesetzen sowie von allen Aussagen schlechthin abbringen, doch er be­
griff die Notwendigkeit, deren methodologischen Status zu verdeutlichen. Die
psychologischen Ursprungsanalysen der Philosophie der A rithmetik verwandeln
sich dann in eine phänomenologische Analyse des intentionalen Bewußtseins,
in dessen Leistungen die ideale Geltung mathematischer und logischer Opera­
tionen erkenntnistheoretisch fundiert bzw. konstituiert wird. Die Durchfüh­
rung dieser subjektiv gerichteten bzw. erkenntnistheoretischen Begründung der
arithmetisch idealen Gegenstände bleibt in der Philosophie der A rithmetik inso­
fern noch psychologistisch, als sie sich auf empirisch-psychologisch und nicht
eidetisch-phänomenologisch bestimmte Erkenntisakte stützt.

Die symbolischen A nzahlenbegriffe und das Zahlensystem

Die psychologische Aufklärung der >>eigentlichen Anzahlenbegriffe<< wird im


zweiten Teil der Philosophie der A rithmetik ergänzt durch die psychologische
Aufklärung der »symbolischen Anzahlenbegriffe<<. Diese Scheidung von eigent­
lichen und uneigentlichen Vorstellungen von Zahlen verrät wiederum, daß Bus­
serl sich in seiner Aufklärung der Arithmetik mehr von seinem philosophischen
Lehrmeister Brentano als von seinem mathematischen Lehrer Weierstraß lei­
ten läßt. Die Notwendigkeit, in der Arithmetik mit symbolischen Anzahlen­
begriffen und graphischen Zeichen zu operieren, ergibt sich daraus, daß wir
>>im eigentlichen Sinne<<, d. h. intuitiv, >>kaum über drei [1891: > zehn bis zwölf<]
hinaus zählen<< können (Hu XII, S. 339). Analog zu der Behandlung der intui­
tiv gegebenen Zahlenbegriffe stützt sich Busserls Darstellung der »symbolischen
Zahlenvorstellungen<< (Kap. XII) auf die Analyse der >>symbolischen Vielheits·
vorstellungen<< (Kap. XI).
Unsere Auffassungsgabe und Gedächtniskraft erlauben es uns nicht, größere
Mengen von Inhalten schrittweise auszusondern und dann alle diese Inhalte in
einem einzigen Akt intuitiver Überschau zu einer kollektiven Einheit zu ver­
binden. Es gibt aber Fälle, wo uns größere Mengen von individuellen Gegen­
ständen unmittelbar sinnlich anschaulich gegeben sind, wir sprechen >>Z.B. von
einer Reihe Soldaten, einem Haufen Äpfel, einer Allee Bäume, einer Kette Hüh­
ner, einem Schwarm Vögel, einem Zug Gänse usW.<< (S. 203) > Reihe <, > Haufen <
. . . sind Qualitäten der Ganzheit, der Menge und nicht der einzelnen Glieder;
Husserl nennt sie deswegen >>Quasi-Qualitäten<< (S. 202) oder genauer >>sinnli­
che Qualitäten zweiter Ordnung<< (S. 201). Diese Mengen sind aber noch keine
§ 1 . Psychologischer Ursprung arithmetischer Begriffe 23

kategorial artikulierten Inbegriffe, sondern sinnliche Gruppen von inhaltlich


gleichen Gegenständen, gebildet durch Erfassung eines >>figuralen MomenteS<<,
einer >>Gestalt<< bzw. eines sinnlich-anschaulichen Typus (S. 205). 10 Innerhalb
dieser Mengen können nun einzelne Glieder nacheinander fixiert und kategorial­
intuitiv kolligiert werden. Da die ganze Menge zugleich in Form von Gestalt­
qualitäten quasi-sinnlich gegeben ist, versichert uns dieses Rudiment intuitiv
kolligierter Glieder der prinzipiellen (aber nicht faktischen) Möglichkeit, die
ganze Menge intuitiv zu durchlaufen bzw. auszuzählen. Die kleine Vielheit in­
tuitiv kolligierter Glieder einer zugleich als Gestaltqualität gegebenen Menge
fungiert somit als Zeichen für die (mögliche) intuitive Gegebenheit der gesam­
ten Vielheit: >>Das Prozessrudiment [intuitiv-kollektiver Verbindung] dient dann
. . . als Zeichen für den intendierten vollen Prozess, wobei die einheitliche Figural­
Qualität der Mengenanschauung uns der Fortsetzbarkeit des angefangenen Pro­
zesses versichert, zumal die anschauliche Mengeneinheit der herausgehobenen
Glieder als Teil der gesamten Mengenanschauung erkannt wird.<< (S. 2 13) Zei­
chen und Bezeichnetes, intuitiv-kollektive Verbindung einzelner Glieder und
gesamte Vielheit treten somit unter wesentlicher Vermittlung der sinnlich-typi­
schen Mengenvorstellungen miteinander in Beziehung. Diese vermittelnde Funk­
tion ist in der erfahrungs- bzw. gewohnheitsmäßigen Assoziation von in schritt­
weiser intuitiver Kollektion gewonnenen Vielheiten und unmittelbar sinnlich
gegebenen Gestalten bzw. sinnlichen Mengen fundiert1 1 : Da wir wissen, daß
sinnliche Mengen vollständig intuitiv kolligiert werden können, genügen eini­
ge rudimentäre Schritte intuitiver Kollektion und das gewohnheitsmäßige Be­
wußtsein, in derselben Weise bis zur vollständigen Aufzählung fortfahren zu
können.
Symbolische A nzahlenvorstellungen entstehen, wenn bei symbolischen Viel­
heitsvorstellungen das > Wieviel < der Vielheit bestimmt wird (S. 222). Es han­
delt sich nun darum, ein symbolisches Zahlensystem zu konzipieren, innerhalb
dessen jede nicht mehr anschaulich zu bildende Anzahl durch ein (graphisches)
Symbol dargestellt und zugleich begrifflich eindeutig bestimmt werden kann. 12

10 Husserl verweist selber auf die Verwandtschaft dieser Analysen mit denjenigen der Gestalt­
Psychologie. Husserl erwähnt insbes. Chr. Ehrenfels' Theorie der »Gestaltqualitäten« und die ge­
meinsame Abhängigkeit von E. Mach (Anm., S. 2 1 0 f.).
11
»Indem wir nun von froh auf die durchlaufende Einzelauffassung bei den verschiedenartig­
sten Mengen übten, mußten sich notwendig diese Kennzeichen [sc. : figuralen Momente) . . . mit
dem Mengenbegriff assoziieren und so jeweilig die Brocken herstellen für die unmittelbare Aner­
kenntnis einer zunächst einheitlichen sinnlichen Anschauung der hier betrachteten Art als einer
Menge.<< (S. 203)
12
••Und so ist denn die ... Zahlensymbolik (im besonderen unser gemeinübliches dekadisches
System) nicht eine bloße Methode, gegebene Begriffe zu signieren, als vielmehr neue Begriffe zu
konstruieren und mit der Konstruktion zugleich zu bezeichnen.<< (S. 234)
24 1 . Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie

Es ist möglich, mit den anschaulich gewonnenen Begriffen >>mehr<<, >>Weniger<<


und >>Eins<< jede Zahl der natürlichen Zahlenreihe bezüglich ihres unmittelba­
ren Vorgängers ( -1) und Nachfolgers ( + 1) eindeutig zu situieren. Auf dersel­
ben Basis ergibt sich auch ein »Verfahren der sukzessiven Zahlbildung durch
die Addition je einer Einheit zu der bereits gebildeten Zahl : 1; 2 1 + 1; o o . =

3 2 + 1; 4
= = 3 + 1; ; 10
0 0 0 9 + 1 << (S. 226) Dieses Verfahren erlaubt
= .

zwar die Bildung einer unendlichen Zahlenreihe, für die höheren Zahlen ist
jedoch die Bestimmung ihrer systematischen Stelle in der Zahlenreihe (und so­
mit jedes Rechnen) höchst umständlich: >>Der Begriff 50 ist uns gegeben durch
die Bildung 49 + 1. Was ist aber 49? 48 + 1. Was 48 ? 47 + 1 usw. Jede Antwort
bedeutet eine Zurückschiebung der Frage um einen neuen Schritt, und erst wenn
wir in das Gebiet der eigentlichen Zahlbegriffe [ 1 1 2] gekommen sind, kön­
0 0 . ,

nen wir befriedigt stehen bleiben.<< (S. 229) Diese Schwierigkeit ist dadurch zu
überwinden, daß wir aufgrund der eigentlichen Zahlbegriffe ein System von
Zahlsymbolen und uneigentlichen Zahlbegriffen konstruieren, >>das jeder be­
stimmten Zahl ein bequemes, leicht unterscheidbares Zeichen verleiht und zu­
gleich ihre systematische Stelle in der Zahlenreihe scharf ausprägt<< (S. 228). Ein
mögliches Konstruktionsprinzip besteht darin, die (intuitiv zu bildenden) Zahlen
1 bis 9 als Elementarzahlen zu bezeichnen und die weiteren Zahlen durch Wie­
derholung der Elementarzahlenreihe zu bilden. Ein dem Elementarzahlzeichen
vorangestelltes Zahlzeichen bezeichnet die Stufe der Wiederholung: 1. Wieder­
holung >>1 << : 1 1 , 1 2, 1 3,
= 18, 19; 2. Wiederholung >>2<< : 20, 21, 22, 23,
0 0 0 =

28, 29; 5. Wiederholung >>5<< : 50, 51, 52, 53,


0 0 0 = 58, 59 usw. Das System
0 0 0

der Zahlsymbole beruht somit auf der Reihe der anschaulich gegebenen Zahl­
begriffe; daß nur die ersten zehn Glieder dieser Reihe als Elementarzahlen fun­
gieren, hat nach Husserl allein faktische Gründe (zehn Finger; vgl. S. 246).

§ 2. Reine Logik und Psychologie

Der erste Band der Logischen Untersuchungen, der 1900 unter dem Titel >>Prole­
gomena zur reinen Logik<< erschien, ist dasjenige von Husserls Werken, wel­
ches bei seinen Zeitgenossen die größte Beachtung gefunden hat. Allein schon
der Umstand, daß ein beinahe unbekannter Privatdozent sich nicht scheute,
maßgebende und anerkannte Philosophen, Logiker und Psychologen seiner
Zeit13 widersinniger Denkweisen zu bezichtigen, mag die Aufmerksamkeit auf
dieses Werk gerichtet haben. Als sich dann bei näherer Kenntnisnahme erwies,

1 3 Insbes. R. Avenarius, A. Bain, H. Cornelius, Th. Elsenhans, B. Erdmann, A. Höfler und A.

Meinong, Th. Lipps, E. Mach, Chr. Sigwart, W. Wundt.


§ 2. Reine Logik und Psychologie 25

daß die Prolegomena keine polemische Streitschrift waren, sondern eine sorg­
fältige und ernsthafte Untersuchung zu einer zentralen Fragestellung der zeit­
genössischen Philosophie, da war eine breite und tiefe Wirkung des Werkes
gesichert. Es war Husserl gelungen, den Bann zu brechen, welchen die rasche
Entwicklung einer wissenschaftlichen Psychologie auf seine Zeitgenossen aus­
übte. Mit der reinen Logik gewann die Philosophie nicht allein wieder ein eige­
nes, von Psychologie und Naturwissenschaft unabhängiges Forschungsgebiet,
sondern auch ein Gebiet >>höchster Dignität<<. Erst die Befreiung der Philoso­
phie von naturwissenschaftlichen Denkweisen eröffnete den Blick auf die Trag­
weite philosophischer Wissenschaftstheorie, auf die reine Logik als mathesis
universalis. Viele Leser der Prolegomena haben den paradoxen Charakter dieser
Errungenschaft übersehen: Die Befreiung der formal-logischen Gegenstände und
Gesetze von psychologischen Bestimmungen war nicht Busserls Endziel14, son­
dern bloße Vorarbeit, um den Zusammenhang von reiner Logik und konkre­
ten (psychischen bzw. phänomenologischen) Denkerlebnissen, idealen Erkennt­
nisbedingungen und zeitlich individuierten Denkakten verstehen zu können.
Die Prolegomena sind somit durchaus als Fortführung der schon in der Philoso­
phie der A rithmetik angeschnittenen Fragestellung zu begreifen.
Die Prolegomena untersuchen zwei Grundformen logischer Wissenschaft: nor­
mative Logik und reine Logik. Beiden gemeinsam ist jedoch das Interesse an
der >>Begründung<< möglicher wissenschaftlicher Erkenntnis. Logik ist >>Wissen­
schaftslehre<<, d. h. Lehre von den Bedingungen wahrer Aussagen und ihrer Ein­
ordnung in den systematischen Zusammenhang einer kohärenten wissenschaft­
lichen Theorie. Bezieht sich die Logik naturgemäß auf mögliche Denkakte, so
ist eine genaue, gegenseitige Abgrenzung von logischen und psychologischen
Gesetzmäßigkeiten nicht bloß Aufgabe einer methodologischen Vorarbeit, son­
dern die zentrale Aufgabe. Die Abweisung des logischen >>Psychologismus<<,
d. h. die Befreiung der >>reinen<< Logik von ihrer Einordnung in die (empirisch­
genetische) Psychologie, ist nicht zu sondern von ihrem positiven Gegenstück,
der Ausbildung einer neuartigen, eidetisch-deskriptiven > Psychologie <. Die anti­
psychologistische, reine Logik der Prolegomena verweist mit sachlicher Not­
wendigkeit auf die »Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Er­
kenntis<< im 2. Band der Logischen Untersuchungen.

1 4 Dies ist ein wesentlicher, oftmals übersehener Unterschied zwischen der Kritik, die Husserl

und G. Frege (vgl. insbes. Die Grundlagen der A rithmetik, Breslau, 1 8 84) am logischen Psycholo­
gismus geübt haben.
26 1 . Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie

Logische Kunstlehre und ihr theoretisches Fundament

Es ist deutlich, daß das wesentliche Interesse der Prolegomena und damit auch
die treibende Kraft in der polemischen Auseinandersetzung mit dem logischen
Psychologismus durch die Idee einer reinen Logik bestimmt ist. Husserls Ziel
ist (seit der Konzeption des allerdings nie erschienenen 2. Bandes der Philoso·
phie der A rithmetik) die Ausbildung >>einer allgemeinen Theorie der formalen
deduktiven Systeme<<15, einer formalen mathesis universalis. Man darf jedoch
nicht übersehen, daß dadurch die >>Berechtigung<< einer praktisch-normativen
Logik, der >>Logik als Methodologie, als Kunstlehre des wissenschaftlichen Er­
kennens . . . natürlich unangetastet bleibt.<< 16 Und auch wenn nicht zu leugnen
ist, daß die Behandlung dieser logischen Kunstlehre den Prolegomena primär
dazu dient, die reine Logik als deren theoretisches Fundament einzuführen
(Kap. li und III), so darf man doch die Behauptung wagen, Husserls Idee der
reinen Logik bleibe wesentlich mit praktischen Motiven verbunden. Nicht nur
weil eine normative Kunstlehre der theoretischen Fundierung bedarf, sondern
auch weil eine Theorie, die von den Bedingungen der Rationalität überhaupt
handelt, der Förderung eines vernunftgemäßen, konkreten Lebens dienen muß.
Die Kunstlehre des wissenschaftlichen Erkennens besteht aus Vorschriften dar­
über, wie und unter welchen Bedingungen wissenschaftliche Erkenntnis erreicht
werden kann. Diese Vorschriften zerfallen in normative Sätze und praktische
Anleitungen zu deren konkreter Verwirklichung. Die normativen Sätze betref­
fen richtiges Denken, Urteilen und Schließen sowie die systematische Einord­
nung der Sätze in den Zusammenhang einer Theorie; die praktischen Anlei­
tungen betreffen insbesondere die psychologischen Bedingungen der Verwirk­
lichung der normativen Vorschriften. Ein normativer Satz ist z. B. die Vorschrift:
>>Ein Urteil soll nur bei voller Einsicht in den beurteilten Sachverhalt gefällt
werden!<< Und die praktische Anleitung zur Verwirklichung dieser Vorschrift
verlangt vom urteilenden Subjekt Konzentration, Aufmerksamkeit usw. Es ist
deutlich, daß letztere Vorschriften auf erstere verweisen, aber auch, daß erstere
nicht auf sich selbst beruhen. Normative Sätze bedürfen einer Begründung, und
ein wesentliches Moment dieser Begründung ist die Thematisierung einer Grund­
norm, der die Sätze einer bestimmten normativen Wissenschaft verpflich­
tet sind. 17 Die Grundnorm der normativen Logik, die angibt, warum ein-

1 5 Proleg. , 1. Auf!. ( =A), S. V. I 2. Auf!. ( =B), S. V. (Wir zitieren im folgenden die Log. Unters.
stets nach der ursprünglichen, im Niemeyer:Verlag erschienenen 1. und 2. Auflage. In der Hussediana­
Ausgabe sind die ursprünglichen Seitenzahlen am Rande angegeben.)
16 Vgl. "Selbstanzeige« der Proleg. (Hu XVIII, S. 261 f.).
17 Dies gilt nicht nur für die normative Logik, sondern für jede normative Wissenschaft und

insbesondere die Ethik. In Husserls gegenwärtig noch unveröffentlichten Untersuchungen zur


§ 2. Reine Logik und Psychologie 27

sichtig geurteilt werden »soll<<, leitet sich her vom Ziel wissenschaftlicher Er­
kenntnis. Die Grundnorm bezeichnet den angestrebten Grundwert, das ein­
heitliche Grundziel einer bestimmten normativen Wissenschaft. Jeder normative
Satz der normativen Logik normiert also einen konkreten Sachverhalt und un­
tersteht gleichzeitig der Grundnorm. Diese Beziehung der »Abmessung<< nor­
mativer Sätze >>an der Grundnorm<< und konkreter Sachverhalte an verschiedenen
normativen Sätzen impliziert eine theoretische >>Beziehung zwischen Bedingung
und Bedingtem<<. >>So schließt z. B. jeder normative Satz der Form > Ein A soll
B sein < den theoretischen Satz ein > Nur ein A, welches B ist, hat die Beschaf­
fenheit [ Wert] C<< (§ 16, A/B: S. 48). Eine normative Logik bedarf somit
=

wie jede andere normative Wissenschaft eines theoretischen >>FundamenteS<<,


d. h. einer theoretischen Erforschung des >>theoretischen Kerngehaltes<< der >>Be­
ziehungen der zu normierenden Sachverhalte zur Grundnorm<< (A/B: S. 49).
Die Frage ist aber nun, welche Wissenschaft dafür im Falle der Kunstlehre des
Denkens in Frage kommt. Genauer: Welche Wissenschaft studiert die in der
normativen Logik implizierten, theoretischen Grundgesetze des Denkens?
Diese letztere Frage können wir jedoch erst dann beantworten, wenn wir wis­
sen, was man unter >>Grundgesetzen des Denkens<< überhaupt zu verstehen hat.
Eine mögliche Antwort auf diese Frage bildet die im Anschluß an R. Avenari­
us und E. Mach insbes. durch H. Cornelius entwickelte >>Denkökonomik<<, mit
der Husserl sich im IX. Kapitel der Prolegomena auseinandersetzt. Die >>Grund­
gesetze des Verstandes<< betreffen nach dieser Lehre die >>Ökonomie des Den­
kens<<, etwa in Form des von Avenarius entwickelten >>Prinzips vom kleinsten
Kraftmaß<<. Die Grundnorm, der jedes Denken und Urteilen letztlich unter­
steht, ist eine möglichst sparsame Einsetzung der Denkenergie mit dem Ziel
einer möglichst wirksamen Anpassung des Denkens an das untersuchte Erschei­
nungsgebiet und schließlich an die Erfahrungwelt schlechthin. Das Denken dient
dem Menschen dazu, sich nicht nur reaktiv, sondern prospektiv der äußeren
Wirklichkeit anzupassen und seine Existenz im Lebenskampf erfolgreich zu be­
haupten. Die >>Denkökonomik<< beschäftigt sich mit einer optimalen Gestal­
tung dieser Beziehung zwischen der Grundnorm der Selbsterhaltung und der
konkreten menschlichen Wirklichkeit. Und die Erforschung dieses Zusammen­
hangs von Norm und normierten Tatsachen gibt Anlaß zur Ausbildung von
>>denkökonomischen Vorkehrungen<<. In seiner kritischen Auseinandersetzung
mit dieser Theorie bestreitet Husserl nicht, daß das Denken faktisch durch bio-

ethischen Problematik spielt die hier skizzierte Scheidung von praktischen und normativen Vor­
schriften sowie die Systematik der logischen Fundierungszusammenhänge von Werten im Rahmen
einer »Axiologie« eine wesentliche Rolle. Vgl. dazu A. Roth, Edmund Husserls ethische Untersu­
chungen, Phaenomenologica 7, Den Haag 1960. Vgl. auch M. Scheler, Der Formalismus in der Ethik
und die materiale Wertethik, 5. Auf!., Bern und München 1966, insbes. S. 99 f.
28 1 . Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie

logische Anpassungsgesetze bestimmt ist und daß somit die denkökonomischen


Gesetze ihren berechtigten Platz in einer praktisch-normativen Logik einneh­
men. Seine prinzipielle Kritik an dieser Form eines ' biologischen Pragmatis­
mus < richtet sich vielmehr allein gegen dessen Anspruch, der praktischen Logik
ihr theoretisches Fundament bereitzustellen. Abstrahiert man von den spezi­
fisch praktischen Vorschriften der Denkökonomik und beschränkt man sich
auf die darin implizierten theoretischen Aussagen über das Wesen menschli­
chen Erkenntnislebens, so handelt es sich dabei um eine biologisch inspirierte
Psychologie. Die Frage, ob denkökonomische Gesetze zur theoretischen Fun­
dierung der praktisch-normativen Logik taugen, führt uns also zurück zur all­
gemeineren Frage, ob und inwieweit die Psychologie eine praktische Logik
theoretisch zu fundieren vermag (vgl. Kap. III).
Husserls Antwort auf diese letztere Frage lautet: Die psychologische Beschrei­
bung der Denkprozesse ist eine notwendige, aber keine zureichende theoreti­
sche Bedingung der logischen Kunstlehre. Eine notwendige Bedingung ist sie ganz
einfach deswegen, weil die logische Kunstlehre Denkprozesse normiert und da­
mit eine Theorie von der Natur dieser psychischen Prozesse voraussetzt. Doch
reicht dieses Wissen um die Natur des menschlichen Denkens, der darin impli­
zierten psychischen Tätigkeiten, Faktoren und Ursachen nicht aus, um alle die
Gesetze zu formulieren, die das Denken und somit auch eine praktische Wissen­
schaft vom richtigen wissenschaftlichen Denken möglich machen. Denn Den­
ken ist ein psychischer Prozess, der zugleich durch universal-logische Gesetze
geregelt wird, und diese Gesetze sind nicht aus der faktischen Natur des Den­
kens ableitbar. Die Erforschung dieser allgemeinen Denkgesetze bildet die Auf­
gabe einer reinen Logik, die von der Psychologie streng zu scheiden ist. Logischer
Psychologismus ist nichts anderes als eben die Verkennung dieser Scheidung, als
die Zuordnung der allgemeinsten, rein-logischen Gesetze möglichen Denkens zum
Forschungsgebiet der Psychologie. Die Widerlegung dieser psychologistischen
»Metabasis<< (§ 40, A/B: S. 145; § 45, A/B: S. 169) von reiner, d. h. zugleich for­
maler und apriorischer Logik in eine empirisch-genetische Psychologie ist der
eigentliche Motor in den Ausführungen der Prolegomena. Hinter dieser negativen
Aufgabe profiliert sich jedoch mit zunehmender Deutlichkeit das Eigenwesen
der reinen Logik als universal-objektiver Wissenschaft nicht nur von den idealen
Denkgesetzen, sondern von ideal-logischen Wahrheiten bzw. idealem Sein-an-sich.
Die subtilen antipsychologistischen Argumentationen der Prolegomena führen
alle hin zu diesem Fixpunkt der Theorie der reinen Logik als Idealwissenschaft,
sie beschreiten in mühevoller Diskussion mit einer Vielheit von philosophischen
Schulen und einer Ü berzahl ihrer Vertreter immer wieder denselben Weg, der
von der Betrachtung einer begrenzten empirischen Wissenschaft zur Anerken­
nung einer allumfassenden, formal-logischen Idealwissenschaft führt.
§ 2. Reine Logik und Psychologie 29

Die Behandlung der Frage nach dem theoretischen Fundament der logischen
Kunstlehre bietet eine gute Gelegenheit, sich mit den wesentlichen Posten von
Husserls anti-psychologistischem Gefechtsdispositiv in einem ersten Überblick
vertraut zu machen. Logik, so zeigt sich da, ist nicht notwendig praktisch­
normative Logik, sondern es gibt auch eine sie fundierende reine Logik. Doch
zum theoretischen Fundament der praktischen Logik gehört neben der reinen
Logik auch die Psychologie, und es ergibt sich somit die Aufgabe, die gegensei­
tige Beziehung dieser beiden Wissenschaften und ihr Verhältnis zur praktischen
Logik zu klären. Dies tut Husserl in der Form, daß er dem psychologistischen
Anspruch, die Möglichkeit des Denkens (und somit einer normativen Logik)
durch psychologische Erklärungen vollumfassend fundieren zu können, entge­
gentritt. Psychologie ist eine Wissenschaft, die ein begrenztes Gebiet von Tat­
sachen erforscht, während die praktische Logik universale Wissenschaftslehre
ist, d. h. jede mögliche Form wissenschaftlicher Erkenntnis betrifft. Ist es nun,
so lautet ein von Husserl auch später immer wieder eingesetztes Argument, nicht
widersprii c hlich, die universalen Bedingungen möglicher Wissenschaft über­
haupt in einer partikulären Wissenschaft, d. h. in einem Einzelfall empirischer
Wissenschaft zu suchen? Und dieser logische Widerspruch (part-whole fallacy)
beruht, so zeigt sich bei aufmerksamer Analyse, auf einer Verkennung des ra­
dikalen Unterschiedes zwischen einzelwissenschaftlichen und universalwissen­
schaftlichen Gesetzen. Einzelwissenschaftliche Gesetze wie diejenigen der
Psychologie haben Anwendung auf ein beschränktes Gebiet von Tatsachen, das­
jenige Gebiet, aus dem sie durch induktive Verallgemeinerung gewonnen sind.
Universale Gesetze betreffen dagegen die Möglichkeit jeder, ob empirischen oder
apriorischen Erkenntnis, sie betreffen ideal-objektive Bedingungen vernünfti­
gen Denkens überhaupt. Und insofern sind sie auch nicht von gesetzlich erfaß­
ten Kausalbeziehungen zwischen (psychischen, physiologischen oder chemi­
schen) Tatsachen herzuleiten. Das »wesentliche theoretische Fundament<<, wel­
ches >>Von entscheidender Bedeutung<< ist >>für die Ermöglichung<< der jedes rich­
tige Denken normierenden Kunstlehre, ist nicht die Psychologie, sondern die
>>reine Logik« (§§ 16, 20).

Widerlegung des logischen Psychologismus

>>Die psychologistischen Logiker verkennen die grundwesentlichen und ewig


unüberbriickbaren Unterschiede zwischen Idealgesetz und Realgesetz, zwischen
normierender Regelung und kausaler Regelung, zwischen logischer und realer
Notwendigkeit, zwischen logischem Grund und Realgrund.<< (§ 22, A/B: S. 68)
Wir wollen nun in schematischer Darstellung eine Reihe von anti-psycho-
30 1. Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie

logistischen Argumenten von Husserl betrachten, welche einerseits die wider­


sinnigen Konsequenzen und andererseits die falschen Voraussetzungen des lo­
gischen Psychologismus betreffen. Es sind insbesondere die Kapitel IV und VII
der Prolegomena, die sich den »empiristischen« bzw. >>skeptischen<< Konsequen·
zen des logischen Psychologismus widmen. Erstere Konsequenzen dienen Hus­
serl für den Nachweis, daß der Psychologismus die absolute Notwendigkeit der
logischen Gesetze nicht zu begründen vermag. Den Todesstoß versetzt dem Psy­
chologismus aber erst der weitere Schritt, in dem Husserl nachweist, daß eine
Form des Psychologismus, welche sich zu ersterer Konsequenz, d. h. zur Rela­
tivität logischer Gesetze bekennt, sich gezwungen sieht, die allgemeinsten Be­
dingungen möglicher Erkenntnis überhaupt zu leugnen. Kapitel VIII faßt dann
in systematischer Darstellung die den Psychologismus nährenden Vorurteile zu­
sammen. Es handelt sich dabei im wesentlichen aber nur um eine Wiederho­
lung der Ergebnisse der vorangehenden kritischen Diskussionen unter einem
etwas veränderten Gesichtspunkt.
Psychologische Gesetze sind »bislang noch<< vage »Naturgesetze, vage Verallge­
meinerungen der Erfahrung . . . , Aussagen über ungefähre Regelmäßigkeiteil der
Koexistenz oder Sukzession<< von Tatsachen, für die es noch an einer strengen
Begrifflichkeit fehlt (§ 21, AlB: S. 61). Aber auch die Ausbildung einer streng­
wissenschaftlichen Psychologie würde nichts daran ändern, daß den psychologi­
schen Naturgesetzen eine nur wahrscheinliche Geltung zukommt. Denn eine Na­
turwissenschaft, die kausale Zusammenhänge von Tatsachen erforscht, beruht auf
induktiver Verallgemeinerung von Erfahrungsgegebenheiten, ihre Gesetze gelten
stets nur unter gewissen faktischen Bedingungen und nicht absolut. Die logischen
Gesetze als psychologische Naturgesetze zu bezeichnen, impliziert somit im be­
sten Falle (bei Ausbildung einer exakten psychologischen Naturwissenschaft), ih­
nen eine »Wahrscheinlichkeit höchster Dignität<< (§ 23, A/B: S. 72) zuzusprechen,
ohne ihre mögliche Falsifikation prinzipiell ausschließen zu können. Der logi­
sche Satz vom Widerspruch aber beansprucht absolute Geltung, unter allen Um­
ständen bzw. genauer: unabhängig von allen tatsächlichen Umständen.
Der Anspruch der logischen Gesetze, absolut, d. h. jederzeit und für jeder­
mann und unter allen Umständen gültig zu sein, schließt somit ihre Bestim­
mung als Naturgesetz aus. Das heißt, sie sind nicht auf dem Wege induktiver
Verallgemeinerung von Tatsachenbehauptungen zu gewinnen. Und umgekehrt
regeln sie das Denken nicht wie Naturgesetze Naturphänomene gesetzlich re­
geln, d. h. sie beziehen sich nicht auf Tatsachen. 18 Aber beziehen sich die lo-
18
»Wie jedes Gesetz, das der Erfahrung und der Induktion aus Einzeltatsachen entstammt, ein
Gesetz für Tatsachen ist, so ist umgekehrt jedes Gesetz für Tatsachen ein Gesetz aus Erfahrung
und Induktion; und folglich sind von ihm . . . Behauptungen existentialen Gehalts unabtrennbar. «
(§ 23, AlB: S. 74)
§ 2 . Reine Logik und Psychologie 31

giseben Gesetze nicht wesentlich auf das Denken, und ist Denken nicht eine
Tatsache, die >>psychische Wesen<<, >>Urteilende Wesen und nicht Steine<< (§ 40,
A/B: S. 14 2) betrifft? Haben also die logischen Gesetze nicht doch eine not­
wendige Beziehung auf psychologische Tatsachen, auch wenn sie nicht aus der
Erfahrung, sondern aus rein-logischen Begriffen >>entspringen<< (§ 24)? Husserl
beantwortet diese Frage, die im Streit um den Psychologismus eine zentrale (und
von anderen >>Anti-Psychologisten<< wie etwa Frege verkannte) Rolle spielt, vor­
erst nur indirekt. Er vergleicht die (psychologische) Denkleistung mit dem Funk­
tionieren einer >>Rechenmaschine<< (§ 22). Es ist zwar richtig, daß die mechanische
Erzeugung der Resultate >> naturgesetzlich so geregelt wird, wie es die arithmeti­
schen Sätze . . . fordern. Aber niemand wird, um den Gang der Maschine physi­
kalisch zu erklären, statt der mechanischen die arithmetischen Gesetze her­
anziehen.<< (A/B: S. 68) Könnte es sich mit der menschlichen >>Denkmaschine<<
nicht ähnlich verhalten? Nämlich so, daß jede Denkoperation eine psychologi­
sche Leistung ist, deren Richtigkeit durch logische Gesetze geregelt, aber nicht
verursacht ist?
Bevor wir dieser Frage nach einem berechtigten Sinn des Zusammenhangs
von Logik und Psychologie weiter nachgehen, wollen wir unsere Einsicht in
die Konsequenzen der unberechtigten Identifizierung von Logik und Psycho­
logie vertiefen. Eine gute Gelegenheit dazu bietet uns das Studium von Hus­
serls Auseinandersetzung mit B. Erdmanns >>Logik, I, Logische Elementarlehre<<
( 1892) in § 30 des VII. Kapitels der Prolegomena. B. Erdmann interessierte Hus­
serl deswegen ganz besonders, weil er als einziger unter den von Husserl kriti­
sierten, zeitgenössischen Psychologisten (u.a. Sigwart, Wundt, Th. Lipps) sich
>>in lehrreicher Folgerichtigkeit<< und >>entschieden<< zur extremen Konsequenz
des >>Relativismus<< bekennt (A/B: S. 137). Der von Erdmann vertretene logi­
sche Relativismus ist ein >>spezifischer<<, d. h. er bezieht die Gültigkeit der Er­
kenntnis und der logischen Gesetze auf die Existenz einer besonderen Spezies
von Lebewesen, nämlich des Menschen; Husserl spricht deswegen auch meist
von einem >>Anthropologismus<< (§ 34). Der Anthropologismus behauptet eine
radikale Abhängigkeit der logischen Gesetze von der Beschaffenheit der mensch­
lichen Natur. Diese Behauptung impliziert eine weitere, nämlich, daß die An­
nahme eines andersartigen Denkens, für das > unsere < Denkgesetze nicht gelten
würden, nicht etwa widersinnig ist, sondern der Ausdruck einer realen Mög­
lichkeit. Die zentrale Motivation der von Erdmann vertretenen Spielart des An­
thropologismus ist die Betonung der Beschränktheit des Menschen und seiner
Denkleistungen. Die logischen Gesetze gelten ihm als menschliche >>Denkge­
setze<< und der logische Absolutismus, der >>da meint, an diesem Punkte die Gren­
zen unseres Denkens überspringen . . . zu können« und der eine universal
objektive Geltung dieser Gesetze fordert, ist ihm ein Ausdruck menschlicher
32 1. Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie

»Vermessenheit<< (S. 378 f. bzw. in Busserls Zitat A/B: S. 1 37). Die absolute Not­
wendigkeit der logischen Gesetze ist nach Erdmann ein bloßer Schein, der sich
aus der Tatsache ergibt, daß man im menschlichen Denken nicht außerhalb
der Gesetze dieses Denkens zu treten vermag, faktisch dem Zwang dieser Ge­
setze unterworfen bleibt und sie deswegen nicht leugnen kann (A/B: S. 1 3 7
und 141). Als faktische Gesetze des menschlichen Denkens können die logi­
schen Gesetze auch keine >>Ewigkeit<< bzw. ideale Identität beanspruchen; soll­
te sich das menschliche Denken >>seiner Beschaffenheit nach<< ändern, so würden
sich auch die logischen Denkgesetze ändern (A/B: S. 146; vgl. auch A/B: S.
139 und 137).
Der Haupteinwand gegen den Anthropologismus ist in Busserls Augen, daß
aus seinen Voraussetzungen ein radikaler Skeptizismus folgt: die anthropologi­
sche Aufklärung der logischen Gesetze verstößt >>gegen die evidenten Bedin­
gungen einer Theorie überhaupt<< (§ 32, A/B: S. 1 1 0). Und eine Theorie, die
die notwendigen Bedingungen einer Theorie überhaupt negiert, verstrickt sich
notwendig in >>einen evidenten Widerspruch zwischen dem Sinn ihrer These
und dem, was von keiner These als solcher sinngemäß abtrennbar ist. (§ 36,
A/B: S. 1 1 6) Husserl weist dies in einer Reihe von Argumenten nach (§ 36),
von denen wir nur das erste erwähnen wollen: >>Der spezifische Relativist stellt
die Behauptung auf: Wahr ist für jede Spezies urteilender Wesen, was nach ih­
rer Konstitution, nach ihren Denkgesetzen als wahr zu gelten habe. Diese Leh­
re ist widersinnig. Denn es liegt in ihrem Sinne, daß derselbe Urteilsinhalt (Satz)
für den einen, nämlich für ein Subjekt der Spezies homo, wahr, für einen ande­
ren, nämlich für ein Subjekt einer anders konstituierten Spezies, falsch sein kann.
Aber derselbe Urteilsinhalt kann nicht beides, wahr und falsch sein. Dies liegt
in dem bloßen Sinn der Worte wahr und falsch . . . Was wahr ist, ist absolut,
ist > an sich < wahr<< (A/B: S. 1 1 7). Achten wir darauf, daß der Skeptizismus das
leugnet, was »in dem bloßen Sinne der Worte wahr und falsch liegt<<, so ergibt
sich sein Widerspruch unmittelbar aus der Negation der >>Grundsätze<< der rei­
nen Logik, die nichts weiter ausdrücken, >>als gewisse Wahrheiten, die im bloßen
Sinn . . . gewisser Begriffe, wie Wahrheit, Falschheit, Urteil (Satz) u. dgl. grün­
den.<< (§ 40, A/B: S. 139; vgl. auch § 37, A/B: S. 122) Der Anthropologist wird
demgegenüber aber darauf hinweisen, daß der Nachweis des Widersinnes sei­
ner Position nur unter der Voraussetzung der absoluten Geltung der logischen
Gesetze zu erbringen sei und daß er ja gerade dies bestreite. Solange >>der logi­
sche Absolutist<< seine Position nicht positiv begründet und eine nicht­
psychologistische Theorie vom Zusammenhang von reiner Logik und Psycho­
logie schuldig bleibt, wird sich der Psychologist weder vor >>empirischen<< noch
>>skeptischen<< Konsequenzen fürchten. Kehren wir deshalb noch einmal zu Bus­
serls Auseinandersetzung mit Erdmann zurück und achten wir dabei besonders
§ 2. Reine Logik und Psychologie 33

auf die in der kritischen Diskussion implizierten Elemente einer positiven Be­
gründung der Logik als Idealwissenschaft!
Die von den logischen Absolutisten so nachdrücklich betonte Notwendig­
keit der logischen Gesetze ist in Erdmanns Augen nichts anderes als die fakti­
sche Unmöglichkeit des Denkens, die für sein Wesen konstitutiven Gesetze zu
leugnen. Husserls erster kritischer Hinweis bezieht sich darauf, daß >>Unmög­
lichkeit<< hier nichts anderes bedeutet als »Unvollziehbarkeit solcher Leugnung<<
(A/B: S. 1 4 1), d. h. reale Unmöglichkeit einer ein Denkgesetz negierenden Be­
hauptung. Entscheidend ist hier aber nach Husserl die ideale Unmöglichkeit
( Widersinn im strengen Sinn), die nicht einen jeweiligen Akt der Leugnung
=

betrifft, sondern dessen idealen Inhalt, nämlich das Denkgesetz. Pointiert for­
muliert kann Husserl also Erdmann entgegnen, daß die Negation eines logi­
schen Gesetzes zwar psychologisch vollziehbar, aber logisch widersinnig sei:
Die »ideale Unmöglichkeit des negativen Satzes streitet gar nicht mit der rea­
len Möglichkeit des negierenden UrteilsakteS<<. (A/B: S. 1 4 1 ) Das den ganzen
Psychologismus-Streit beherrschende Begriffspaar »real - ideal<< erhält in die­
ser Diskussion dadurch einen neuen Gehalt, daß es auf die Scheidung zwischen
Urteilsakt und Urteilsinhalt angewandt wird. Die Verkennung der Scheidung
von realer und idealer Unmöglichkeit der Negation der logischen Gesetze ist
nur ein Sonderfall der allgemeineren, für den Psychologismus insgesamt cha­
rakteristischen Verkennung der Scheidung von psychologischem Urteilsakt und
ideal-logischem Urteilsinhalt. 19 Wenn Erdmann des weiteren eine mögliche
Veränderung der logischen Gesetze annimmt, so leistet auch dieser Behauptung
die zweideutige Bezeichnung der logischen Gesetze als »Denkgesetze<< einen we­
sentlichen Vorschub: Eine Ä nderung der Beschaffenheit des menschlichen Den­
kens sei nicht prinzipiell auszuschließen und wenn sie einträte, so bliebe die
(»hypothetische<< (A/B: S. 147)) Geltung unserer Denkgesetze davon nicht un­
berührt. Husserl dagegen behauptet eine »ewige<< bzw. ideal-»überzeitliche<<20
und »absolute<< (A/B: S. 147 u.ö.) Geltung der logischen Gesetze (wie z. B. des
Satzes vom Widerspruch). Denn von »hypothetischer<< und »veränderlicher<< Gel­
tung könne nur bei Realgesetzen die Rede sein. Die logischen Gesetze aber sei­
en keine Realgesetze, sondern als »triviale Allgemeinheiten<< bloß "formale<<
Erkenntnisbedingungen, die, weit entfernt »das Wesen unseres menschlichen
Denkens<< auszudrücken, uns bloß »den formalen Widersinn vom Leibe hal­
ten<< (A/B: S. 139 ff.).
Das Problem des Psychologismus ist für Husserl im wesentlichen ein wissen­
schaftstheoretisches Problem, es betrifft die gesetzmäßigen Bedingungen mög-

19 §§ 44 -48; vgl. auch schon § 36, AlB: 5. 1 19; § 39, AlB: 5. 132; § 4 0, AlB: 5. 150 f.
20 § 39, AlB: 5. 128; § 40, AlB: 5. 142; § 36, AlB: 5. 1 19.
34 1. Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie

lieber wissenschaftlicher Erkenntnis. Husserls ganze Argumentation läuft dar­


auf hinaus, den Leser von der Notwendigkeit nicht-psychologischer, rein-lo­
gischer Gesetze möglichen Denkens zu überzeugen. Und das dafür eingesetzte
Mittel ist die (wissenschaftstheoretische) Scheidung von Tatsachenwissenschaft
und Idealwissenschaft bzw. empirischen und idealen Gesetzen. Die Unabhän­
gigkeit von der Kontingenz der Tatsachen, die Universalität und absolute Not­
wendigkeit sind die wesentlichsten wissenschaftstheoretischen Vorzüge, welche
die rein-logischen Gesetze vor den psychologischen Gesetzen auszeichnen. Be­
gründet sind diese Vorzüge einerseits im rein begrifflichen (analytischen) und
formalen Charakter der rein-logischen Gesetze2 1 , andererseits in ihrer
apodiktisch-evidenten Gegebenheit22• Rein logische Sätze sind für Husserl de­
duktive Ableitungen aus »unmittelbar einsichtigen Axiomen<< (§ 4 1 , A/B: S.
1 59) und betreffen formale Bedeutungs- und Gegenstandsbegriffe. Die reine Lo­
gik insgesamt ist ein hierarchisch aufgebautes System von rein logischen Sätzen
bzw. apriorischen Wahrheiten-an-sich. Daß das Sein dieser Wahrheiten kein
reales, sondern ein >>ideales<< ist, bedeutet jedoch nicht, daß diese Wahrheiten
»in einem r6no� oöpavw� oder im göttlichen Geist existieren<< (!. LU,
§ 3 1 , A/B: S. 10 1), sondern allein, daß sie absolute Geltung haben, Geltung un­
abhängig von erkennenden Personen und von raum-zeitlichen Umständen:
>> ... jede Wahrheit an sich bleibt, was sie ist, sie behält ihr ideales Sein. Sie ist
nicht > irgendwo im Leeren<, sondern ist eine Geltungseinheit im unzeitliehen
Reiche der Ideen.<< (Proleg., § 39, A/B: S. 1 30 ) 23

11 Vgl. § 40, AlB: S. 139 f. ; § 37, AlB: S. 122; § 42, A/B: S. 1 62; § 48, AlB: S. 179.
22 Vgl. § 37, AlB: S. 122; § 40, AlB: S. 143; § 24, AlB: S. 75.
23 In einer nachträglichen Selbstinterpretation ( 1903 ) weist Husserl nachdrücklich auf den Ein·

fluß hin, den Latzes Interpretation der Platonischen Ideenlehre auf seinen Begriff des idealen Seins
der logischen Gegenstände ausgeübt hat. Erst Latzes Logik hätte ihm die Augen für Bolzanos Lehre
von den »Sätzen an sich« geöffnet. Wären diese ihm früher »als mythische zwischen Sein und Nicht·
sein schwebende Entitäten erschienen«, so hätte Latze ihn gelehrt, deren »ideales Sein oder Gelten<<
zu verstehen. (Vgl. [Husserls Rezension von] Melchior Palagyi, »Der Streit der Psychologisten und
Formalisten in der modernen Logik«: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane,
Bd. 3 1 ( 1903 ) , S. 290 bzw. Hu XXII, S. 156 f.). Die frühen Kritiker der Proleg. , die Husserls Kon·
zeption der reinen Logik als »Platonismus<< bezeichneten, waren also auf dem guten Weg. Nur über·
sahen sie wohl meist (wie auch manche späteren Leser), daß es sich dabei nicht um einen onto­
logischen, sondern einen logisch inspirierten Platonismus handelt. Das ideale Sein der logischen
Bedeutungen und Gesetze ist der Lehre der Proleg. zufolge im eigentlichen Sinne nicht > gegenständ­
liches < Sein, sondern absolutes Sein logischer Geltung. Zu »idealen Gegenständen<< werden diese
logischen Allgemeinheiten (Spezies) erst durch ihre thematische Erforschung in einer rein-logischen
Apophantik (vgl. unten S. 42 ff.).
§ 2. Reine Logik und Psychologie 35

Psychologische Gegebenheit rein logischer Gegenstände

Bevor wir dazu übergehen, Husserls Skizze einer Architektonik der rein logi­
schen Wissenschaften näher zu betrachten, verbleibt uns aber noch die Aufga­
be, Husserl über seine positiven Vorstellungen bezüglich des Verhältnisses von
reiner Logik und konkreten Denkakten zu befragen. Der Psychologismus ist
erst dann radikal überwunden, wenn die Widerlegung der Vermischung von
Realem und Idealem durch eine positive Darstellung ihres korrekt gefaßten Zu­
sammenhangs ergänzt wird. »Es muß zu klarem Verständnis kommen, was denn
das Ideale in sich und in seinem Verhältnis zum Realen ist, wie das Ideale auf
Reales bezogen, wie es ihm einwohnen und so zur Erkenntnis kommen kann.«
(§ 5 1 , A/B: S. 1 88) Es muß gezeigt werden, wie die rein-logischen Gesetze kon­
krete Erkenntnisakte regeln, ohne dabei ihre Idealität einzubüssen. Und umge­
kehrt gilt es zu begreifen, wie die psychologischen Akte beschaffen sind, in denen
das ideale Sein dieser Gesetze erfaßt wird. Beide Aufgaben sind engstens mit­
einander verbunden, sie überschneiden sich in der Frage, >>in welchem Sinne
die [ideale, rein-logische] Wahrheit in der Erkenntnis liegt<< (§ 40, A/B: S. 1 50).
Die Beantwortung dieser Frage ist eigentlich die Aufgabe des 2. Teils der Logi­
schen Untersuchungen (insbes. der I. und VI. Untersuchung). Gelingt es uns aber,
bereits in den Prolegomena und trotz deren primär polemischer Absicht eine
Vorwegnahme dieser Antwort nachzuweisen, so ist gleichzeitig die von vielen
Lesern angezweifelte systematische Kontinuität der beiden Teile der Logischen
Untersuchungen bewiesen.
Die erste Frage betrifft die A nwendung rein-logischer Gesetze auf die psy­
chologischen Tatsachen individueller Denk-, Sprech- und Erkenntnisakte. Die
l Logische Untersuchung faßt einen Grundgedanken der Prolegomena treffend
zusammen, wenn sie ausführt, daß die »rein-logischen Einheiten . . . einen ideal
geschlossenen Inbegriff von generellen Gegenständen bilden, denen das Gedacht­
und Ausgedrücktwerden zufällig ist.<< (§ 35, A/B: S. 1 05) Ihrem Eigensinn nach
sind die logischen Gesetze rein begrifflicher Art und somit ohne jeden Bezug
auf psychologische Tatsachen. Ist im Rahmen der reinen Logik von einer »Ver­
einzelung<< rein-logischer Allgemeinheiten die Rede, so sind damit Stufen der
Allgemeinheit idealen Seins-an-sich gemeint. Die »Einzelheiten<< sind nicht psy­
chologische Tatsachen, sondern »niederste spezifische Differenzen<< eines All­
gemeinbegriffs bzw. »ideale Einheiten<< (§ 48, A/B: S. 178 und § 46, A/B: S.
1 73). So ist z.B. die Zahl Drei die »Vereinzelung<< des allgemeinen Zahlbegriffs
und so ist auch die (Idee) • prädikative Satzbedeutung< die »Vereinzelung<< der
Idee > Satzbedeutung überhaupt <.
Einen ausdrücklichen Bezug auf psychische Tatsachen wie Denkakte erwer­
ben die rein-logischen Wahrheiten erst durch eine sekundäre »Umformung<<,
36 1 . Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie

nämlich dadurch, daß sie beispielsweise >>bei der Normierung des Denkens eine
Rolle zu spielen berufen sind<< (§ 40, A/B: S. 140). Rein logische Gesetze kön­
nen äquivalent als normative Gesetze formuliert werden, ohne ihre ideale Gel­
tung einzubüßen und ohne damit in ein Verhältnis logischer Abhängigkeit von
der psychischen Natur des Denkens zu geraten (§ 4 1 , A/B: S. 1 5 8 f.). Sie gehö­
ren in diesem Fall aber nicht einer praktischen Kunstlehre des Denkens an (vgl.
oben S. 2 6 ff.), sie sind >>rein logische Normen<< und nicht >>technische Regeln
einer spezifisch humanen Denkkunst.<< (A/B: S. 1 59) Ein Beispiel einer solchen
Regel, die ausschließlich in einem rein logischen Gesetz gründet, ist die Vor­
schrift: >>Wer immer urteilt, daß jedes A auch B sei, und daß ein gewisses S A
sei, der muß (soll) urteilen, daß dieses S auch B sei<< (A/B: S. 1 55). Eine sol­
che äquivalente U mformulierung rein logischer Gesetze, welche sich ausdrück­
lich auf das Denken, Erkennen und Urteilen bezieht, ist aber auch außerhalb
jeder normativen Umformung denkbar. So sind alle logischen Sätze bzw.
Gesetze formulierbar als Sätze bzw. Gesetze über Bedingungen möglicher Evi­
denz: Der Satz >A ist wahr < z. B. ist äquivalent mit dem Satz > es ist möglich,
daß irgend jemand mit Evidenz urteilt, es sei A< (§ 50, A/B: S. 1 84; vgl. auch
§ 39, A/B: S. 129). Aber wie ist in all diesen Umformungen die Behauptung
ihres rein logischen Gehaltes mit der Bezugnahme auf ein beliebiges Urteils­
subjekt zu vereinbaren? Sind Urteilssubjekt und sein jeweiliger, individueller
Urteilsakt keine psychologischen Tatsachen? Die Antwort lautet: Ja, sie sind
psychologische Fakten, fungieren in den angeführten Beispielen jedoch nicht
als solche. Mit anderen Worten: die angeführten Sätze enthalten keine Aussa­
gen über die psychologische Natur dieses Urteilssubjektes und seiner Akte. Und
genauer: die angeführten Sätze betreffen im Falle der Evidenzbedingungen aus­
schließlich die ideale Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Vollzugs gewisser
Urteile (A/B: S. 1 83) und im Falle der normativen Vorschriften betreffen sie
die rein·logische Nötigung zum Vollzug eines Schlußsatzes. Und schließlich kann
man auch sagen, daß die Evidenzbedingungen und normativen Vorschriften
in erster Linie nicht die Urteilsakte selbst betreffen, sondern ihren logischen
»Inhalt<< (§ 40, A/B: S. 142 f. und § 29, A/B: S. 1 0 1), d. h. die ideale Urteilsbe­
deutung (§ 48, A/B: S. 1 79).
Zusammenfassend können wir also sagen, daß rein logische Allgemeinheiten
ideale Geltungen ohne jeden wesentlichen Bezug auf subjektive Erlebnisse sind.
Jedoch kann >>eine rein ideale und indirekte<< (A/B: S. 1 83) Beziehung der rein
logischen Allgemeinheiten auf subjektive Tatsachen hergestellt werden, wenn
auf die ideal-mögliche Gegebenheit dieser idealen Geltungen hingewiesen wird.
Daß ein (ideal-) wahrer Satz sekundär zu fassen ist als ideale Bedingung für die
Möglichkeit von evidenten Urteilen desselben Inhaltes, beruht darauf, daß in
all diesen Urteilen derselbe wahre Satz gegeben bzw. erfaßt ist. Husserl begreift
§ 2. Reine Logik und Psychologie 37

diese Beziehung rein logischer Wahrheiten auf Akte evidenten Urteilens ana­
log zur Beziehung von idealen Bedeutungen auf die Mannigfaltigkeit von Ur­
teilen, in denen diese ideal-identische Bedeutung ausgesagt wird. Und diese
Beziehung von ideal-identischer Bedeutung und jeweiligem Urteilsakt wird nun
sowohl in den Prolegomena als auch im 2. Teil der Logischen Untersuchungen
durchgehend als Vereinzelung einer idealen Spezies in individuellen Einzelfäl­
len bestimmt: »Die Bedeutung verhält sich also zu den jeweiligen Akten des
Bedeutens (die logische Vorstellung zu den Vorstellungsakten, das logische Ur­
teil zu den U rteilsakten, der logische Schluß zu den Schlußakten) wie etwa
die Röte in specie zu den hier liegenden Papierstreifen, die alle diese selbe Röte
> haben <. Jeder Streifen hat neben anderen konstituierenden Momenten . . . sei­
ne individuelle Röte, d. i., seinen Einzelfall dieser Farbenspezies, während sie
selbst weder in diesem Streifen, noch sonst in aller Welt real existiert.<< 24 Eine
ideal-identische Bedeutung vereinzelt sich genauer besehen aber nicht im vol­
len psychologischen Bestand der sie implizierenden Urteilsakte, sondern in
einem »gleichbestimmten psychischen Charakter<< all dieser Akte, den die
V Logische Untersuchung als »bedeutungsmäßiges Wesen<< bezeichnet.25 Verein­
zeln sich rein logische Bedeutungen in psychologischen Einzelheiten, so bezie­
hen sich auch die rein logischen Gesetze auf individuelle Denkakte: »Da die
idealen Bedeutungen sich in Akten des Bedeutens vereinzeln, so drückt jedes
rein logische Gesetz eine Allgemeinheit aus, die sich eo ipso auf die idealen
Umfänge der betreffenden Bedeutungsspezies, also auf mögliche reale Denk­
akte beziehen läßt.26
Auch wenn diese Lehre noch der Verdeutlichung bedarf, so haben wir damit
doch eine Antwort auf die Frage nach der A nwendung rein-logischer Gesetze
auf konkrete Denkakte gefunden. Genauer besehen enthält diese Lehre von der
Vereinzelung idealer Spezies in individuellen psychologischen Einzelheiten aber
auch eine Antwort auf die andere eingangs gestellte Frage (vgl. oben S. 35). Diese
zweite Frage betraf die erkenntnismäßige Erfassung der rein logischen Allgemein­
heiten. Die Einsicht in eine rein logische Idee (Begriff oder Gesetz) im Aus­
gang von miteinander verglichenen individuellen Akten, d. h. ihrer bedeutungs­
mäßigen Wesen ist zu verstehen in Analogie mit dem Prozeß der Vereinzelung
einer rein logischen Idee in einer Manigfaltigkeit von bedeutungsmäßigen We­
sen individueller Akte. Statt von der idealen Allgemeinheit niederzusteigen zu

24 I. LU, § 3 1 , A: S. 101/B: S. 100 f. Vgl. auch Proleg. , § 39, A/B: S. 128 ff.; § 29, A/B: S. 1 0 1 .
I. LU, § 3 4 , A/B: S . 1 0 3 . 11. LU, Ein!., A/B: S. 106. Paldgyi-Rezension (a. a.O.), S . 290 f.
25 I. LU., § 30, A: S. 99/B: S. 98; § 3 1 , A/B: S. 99. V. LU. , § 2 1 , A: S. 392/B: S. 417. Vgl. auch
unten S. 159.
1 6 Paldgyi·Rezension (a.a.O.), S. 292; vgl. auch Proleg. , § 29, A/B: 1 0 1 .
38 1 . Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie

ihrer individuellen Gegebenheit, steigt die >>Ideation<< von individuellen Einzel­


heiten empor zur Erfassung der Spezies. Die Prolegomena verfügen bereits über
die wesentlichen Momente der in der VI. Logischen Untersuchung ausführlich
entwickelten Lehre von der »Wesensschau<<: » . . . wie die eine Spezies ein ideal
Identisches ist gegenüber der Mannigfaltigkeit möglicher Einzelfälle (die selbst
[z. B.] nicht Farben sind, sondern eben Fälle einer Farbe), so verhält es sich
auch mit den identischen Bedeutungen oder Begriffen in Beziehung auf die be­
grifflichen Vorstellungen, deren > Inhalte < sie sind. Die Fähigkeit, ideierend im
Einzelnen das Allgemeine, in der empirischen Vorstellung den Begriff schau­
end zu erfassen . . . ist die Voraussetzung für die Möglichkeit der Erkenntnis.
Und wie wir ein Begriffliches im Akte der Ideation schauend erfassen - als die
eine Spezies, deren Einheit gegenüber der Mannigfaltigkeit tatsächlicher oder
als tatsächlich vorgestellter Einzelfälle wir einsichtig zu vertreten vermögen -,
so können wir auch die Evidenz der logischen Gesetze gewinnen . . . die Vorstel­
lungen haben ihre > Inhalte <, ihre idealen Bedeutungen, deren wir uns . . . in ide­
ierender Abstraktion bemächtigen können; und damit haben wir auch überall
die Möglichkeit der A nwendung der logischen Gesetze gegeben. Die Geltung
dieser Gesetze ist aber schlechthin unbegrenzt, sie hängt nicht davon ab, ob
wir und wer immer begriffliche Vorstellungen faktisch zu vollziehen . . .
vermag.<<27
Fassen wir die Ausführungen der Prolegomena über das Verhältnis von »Idea­
lem und Realem<< zusammen! Für sich betrachtet haben die rein logischen Be­
griffe und Gesetze keinen Bezug auf psychologische Tatsachen, sie sind an und
für sich bestehende ideale Geltungen. Einen Bezug auf psychologische Denk-,
Sprech- und Erkenntnisakte gewinnen die rein logischen Allgemeinheiten erst
dann, wenn nach ihrer Anwendung auf bzw. Erfassung in »realen<< Denkakten
gefragt wird. Beiderseits geht die Frage auf die psychologische Gegebenheit der
rein logischen Ideen, und diese Frage ist motiviert durch ein erkenntnistheoreti­
sches Interesse, d. h. das Interesse an einem Denken, das mit dem rein logischen
Denken konform ist, und das Interesse an eindeutigen Begriffen. Husserl faßt
nun diese psychologische Gegebenheit idealer Gegenstände in Analogie mit der
Vereinzelung einer Farbenspezies (Röte) in einer Mannigfaltigkeit von indivi­
duellen, farbigen Gegenständen (rote Gegenstände). Diese Lehre ruft aber zu­
mindest zwei Bedenken hervor:
1) Wenn sich ideale Gegenstände in Momenten psychologischer Akte verein­
zeln, wird dann die radikale Scheidung von Psychologie und reiner Logik bzw.

27 § 29, A/B: 1 0 1 . Vgl. auch die analogen Ausführungen in § 39, A/B: S. 128 f. und ebenfalls
§ 50, A/B: S. 1 86 f. ; § 24, A/B: S. 74 f. Zu »Ideation« und »Anwendung« von eidetischen Allge­
meinheiten vgl. auch unten S. 76 ff.
§ 2. Reine Logik und Psychologie 39

von realem und idealem Sein nicht wieder verwischt? Bedeutet diese Lehre nicht
einen Rückfall in den Psychologismus?
2) Rein-logische Bedeutungen sind bloße Bedeutungsformen oder formale »We­
senswahrheiten<<. Muß aber nicht zwischen den von der reinen Logik als for­
male Wesen gefaßten Bedeutungen und den identischen Bedeutungen konkreter,
d. h. zeitlich individuierter und inhaltlich bestimmter Aussagen geschieden wer­
den? Und muß in der Folge dieser Scheidung nicht auch zwischen Vereinze­
lung formaler Bedeutungswesen und der Individuierung inhaltlicher Aussage­
bedeutungen differenziert werden?
Dem Vorwurfdes Psychologismus begegnet Husserl in den Prolegomena durch
den unermüdlichen Hinweis darauf, daß die Anwendung bzw. Vereinzelung rein
logischer Gesetze und Begriffe in empirisch-psychologischen Tatsachen eine bloß
»ideale Möglichkeit« sei: '' · · · das Sein oder Gelten von [idealen] Allgemeinhei­
ten . . . besitzt den Wert von idealen Möglichkeiten - nämlich in Hinsicht auf
das mögliche Sein von empirischen Einzelheiten, die unter jene Allgemeinhei­
ten fallen . . . «28 Die ideale Möglichkeit der psychologischen Gegebenheit rein
logischer Gegenstände wird davon nicht betroffen, daß eine solche Gegeben­
heit - sei es zufälliger Umstände wegen, sei es naturgesetzlich - »real unmög­
lich« ist (A/B: S. 129). Zur reinen Logik gehören die psychologischen
Einzelheiten nur qua ideale Möglichkeiten und nicht qua reale Tatsachen. Die­
se Position wird jedoch dann gefährdet, wenn die psychologischen Tatsachen
nicht mehr als bloß ideal-mögliche Vereinzelungen rein logischer Gegenstände
gefaßt werden, sondern als deren erkenntnistheoretisches Fundament. Ist es für
eine erkenntnistheoretische Ausweisung idealen Seins ideal notwendig, dessen
reale psychologische Gegebenheit zu beschreiben, so werden wir von neuem
mit dem Grundproblem des Psychologismus konfrontiert. Wer behauptet, das
ideale Sein rein logischer Gegenstände, d. h. ihre ideale Geltung habe ihren er­
kenntnistheoretischen "Ursprung« im empirisch-psychologischen Akte der
»Ideation«, der begründet ideales Sein durch reale Tatsachen und ist somit ein
echter Psychologist.29 Dieser Psychologist entpuppt sich bei näherem Zusehen
als der Denker, der im 2. Teil der Logischen Untersuchungen, den »Untersuchun­
gen zur Phänomenologie . . . der Erkenntnis«, am Werke ist. Zwar wird die phä­
nomenologische Erkenntnistheorie, insbesondere auch diejenige, die sich in der
VI. Untersuchung der Bestimmung der »kategorialen Anschauung« widmet, ex-

28 § 39, A/B: S. 129; vgl. auch § 29, A/B: S. 1 0 1 ; § 50, A/B: S. 1 8 3 ff. Palcigyi·Rezension (a.a.O.),
S. 292.
2 9 Es ist also nicht genügend, die Erfassung des Idealen von der Erfassung des Realen abzuhe­
ben (vgl. Proleg. , § 39, A/B: S. 128), um dem Psychologismus zu entgehen. Es bedarf des weiteren
einer nicht-empirischen Beschreibung der Ideation. Es bedarf einer Beschreibung, welche die Idea­
tion nicht als ein reales Faktum, nicht als eine psychologische Tatsache in Anspruch nimmt.
40 1 . Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie

plizit von der empirisch-genetischen Psychologie abgehoben (vgl. unten, S. 69 f.).


Solange jedoch nicht ausdrücklich gesagt wird, daß es sich dabei um eine Wesens­
wissenschaft handelt, bleibt diese Phänomenologie dem berechtigten Vorwurf
des Rückfalls in den Psychologismus ausgesetzt. Erst in der 2. Auflage der Lo­
gischen Untersuchungen wird der Status der Phänomenologie als Idealwissen­
schaft in deutlicher methodologischer Selbstinterpretation konsequent betont.
Bezüglich der bereits in der 1. Auflage geleisteten erkenntnistheoretischen Ana­
lysen behauptet Husserl jedoch zur Zeit der 2. Auflage: »De facto waren die
Analysen als Wesensanalysen durchgeführt, aber nicht überall in einem gleich­
mäßig klaren reflektiven Bewußtsein. Die ganze Widerlegung des Psychologis­
mus beruht darauf, daß die Analysen, insbesondere der VI., aber auch der
anderen Untersuchungen, als Wesensanalysen in Anspruch genommen werden,
also als apodiktisch-evidente Ideenanalysen.<<30
Ein zweiter Vorwurf, dem sich die Ausführungen der Prolegomena (und der
Logischen Untersuchungen insgesamt) über den Zusammenhang von Idealem und
psychologisch Realem aussetzen, betrifft die mangelnde Differenzierung zwi­
schen der Idealität von formal-logischen Bedeutungen und der Irrealität von
Aussagebedeutungen. Es scheint wenig sinnvoll, auch die (identischen) Bedeu­
tungen konkreter Aussagen als Bedeutungen zu bezeichnen, »denen das Gedacht­
und Ausgedrücktwerden zufällig ist« (I. LU, § 35, A/B: S. 1 05). In langj ährigen
Untersuchungen ist Husserl in späteren Jahren zur Überzeugung gelangt, daß
weder die Bedeutungen von j eweiligen Aussagen, die sich auf Tatsachen bezie­
hen, noch die Bedeutungen von Aussagen, die sich (wie die Aussagen der reinen
Logik) auf Wesen beziehen, selbst als Wesen zu bezeichnen sind (vgl. unten
S. 1 60 f.). Bedeutungen qua Aussagebedeutungen sind zwar ideal bzw. irreal, aber
sie sind keine Wesen und können sich somit auch nicht in der Weise der Wesen
im reellen Gehalt von Aussageakten bzw. Bedeutungsintentionen vereinzeln.
Bedeutungen als Gegenstände der rein logischen Wissenschaft dagegen sind for­
male Wesen, »denen das Ausgedrückt- und Gedachtwerden zufällig ist«. Ihrem
eigenen Seinssinn nach vereinzeln sich diese logisch-apophantischen Wesen nicht
in psychologischen Einzelheiten, sondern, wie die Prolegomena ganz richtig aus­
führen, in »idealen Einzelheiten, . . . echten Spezies« (§ 46, A/B: S. 173; vgl. auch
§ 48, A/B: S. 178). Erst wenn es um die erkenntnistheoretische Aufklärung dieser
logisch-apophantischen Wesen geht, wird deren Erfassen im Ausgang von sub­
jektiven Erkenntnisakten sowie deren Anwendung auf subjektive Erkenntnis­
akte relevant. Wir haben gesehen, daß die Prolegomena (wie auch die VI LU)

30 >>Entwurf einer > Vorrede< zu den >Logischen Untersuchungen «< ( 1 9 1 3): Tijdschrift voor Filo·
sofie, 1 (1939), 5. 329. Zur Bestimmung der Phänomenologie als Wesenswissenschaft vgl. die genau­
eren Analysen unten S. 7 4 ff.
§ 2 . Reine Logik und Psychologie 41

die Erfassung logischer Wesen als idealisierende Abstraktion im Ausgang von


miteinander verglichenen reellen Momenten mannigfaltiger Akte faßt. Wenn
es nun aber wahr ist, daß Aussagebedeutungen sich nicht im reellen Gehalt der
zugehörigen Aussageakte spezifisch vereinzeln, dann wird auch Busserls Be­
stimmung des Prozesses der Ideation fraglich. Ebenso wie in der Gewinnung
des Begriffs Inbegriff nicht die Reflexion auf den Akt des Kolligierens, sondern
der Gegenstand dieses Aktes, d. h. ein konkreter Inbegriff die Abstraktions­
grundlage bildet (vgl. oben S. 1 8), so auch hier: Das formale Wesen Bedeutung­
überhaupt ist nicht im Ausgang von mannigfaltigen Bedeutungsintentionen zu
erfassen, sondern im Ausgang von der identischen (noematischen) Bedeutung
eines konkreten Aussageaktes. Und das formale Wesen Bedeutung-überhaupt
vereinzelt sich in einer konkreten, identischen Aussagebedeutung, welche sich
im jeweiligen Aussageakt nicht mehr spezifisch vereinzelt, sondern zeitlich in­
dividuiert.

Idee und Aufgaben der reinen Logik

Die Lehre von der ideal-möglichen Vereinzelung rein logischer Allgemeinhei­


ten in subjektiven Denkakten ist sicher ein bedeutendes Moment der Argu­
mentation der Prolegomena. Solange die Frage der möglichen A nwendung der
reinen Logik auf das konkrete Denken nicht sorgsam und konsequent behan­
delt wird, solange bleibt auch der Psychologismus in seinen wesentlichen Moti­
ven unüberwunden. Bezeichnenderweise besteht Busserls Antwort auf diese
Frage in einer begrenzten Rehabilitation des > psychologistischen < Interesses an
einer > menschlichen < Logik, d. h. einer Logik, die sich in den Dienst menschli­
chen Denkens und Forschens stellt. Auch wenn die rein logischen Begriffe und
Gesetze nicht aus der menschlichen Erfahrung abzuleiten sind, auch wenn sie
in ihrem Eigenwesen vom Bestehen der Menschen und ihrer Erfahrungswelt
unabhängig sind, so lassen sie sich doch zugleich und ohne Widerspruch als
regulative Normen bzw. apriorische Bedingungen möglicher wissenschaftlicher
Erkenntnis begreifen. Der Kampf gegen den Psychologismus, der ein Kampf
für das Eigenwesen der reinen Logik ist, darf nicht darüber hinwegtäuschen,
daß Busserl die Ausbildung dieser reinen Logik wesentlich mit einem wissen­
schaftstheoretischen Interesse verbindet. Ein schlagender Beweis dafür ist das
letzte Kapitel der Prolegomena (Kap. XI), in dem sich Busserl von neuem der
bereits im I. Kapitel skizzierten wissenschaftstheoretischen Funktion der rei­
nen Logik zuwendet. Der Vergleich des ersten und letzten Kapitels der Prolego­
mena ist lehrreich, denn er beweist nicht nur die Kontinuität von Busserls
wissenschaftstheoretischem Intresse, sondern er bringt auch deutlich vor Au­
gen, welche positiven Einsichten und sachlichen Fortschritte Busserl der Aus-
42 1. Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie

einandersetzung mit dem Psychologismus verdankt. So ergibt sich aus der kla­
ren Scheidung zwischen realem und idealem Sein bzw. realen und idealen Mög­
lichkeiten ein neuer Begriff für die wissenschaftstheoretische Funktion der Logik.
Wissenschaftstheorie ist nicht bloß Sache einer technischen Verwertung der Lo­
gik, sie ist im eigentlichen Sinne auch nicht deren Anwendung, vielmehr sind
die rein logischen Begriffe und Gesetze als ideale Bedingungen möglicher wis­
senschaftlicher Erkenntnis ihrem eigensten Sinne nach wissenschaftstheoreti­
sche Prinzipien.
Die reine Logik ist aber eine ganz besondere Art von Wissenschaftstheorie,
nämlich formale und universale Wissenschaftstheorie. Sie erforscht die formalen
Strukturen, die jeder (ideal möglichen) Wissenschaft zugrundeliegen, und zwar
sowohl nach seiten ihrer Theoriebildung als auch nach seiten ihrer Gegenstän­
de und deren Integration in ein Forschungsgebiet. Die reine Logik erforscht
die allgemeinsten Formen und Kompositionsgesetze der Wesen > Bedeutung­
überhaupt < und > Gegenstand-überhaupt <. Als Wissenschaft von der Wesensstruk­
tur wissenschaftlichen Diskurses und wissenschaftlicher Forschungsgebiete über­
haupt, als Wissenschaft vom Wesen > Wissenschaft-überhaupt < ist die reine Logik
formale Wissenschaft von allen (ideal möglichen) Wissenschaften: Die reine Lo­
gik ist mathesis universalis. Dies ist zumindest das Ziel der reinen Logik, und
Husserl ist sich wohl bewußt, daß die Erreichung dieses Ziels die vorgängige
Verwirklichung bescheidenerer Aufgaben voraussetzt. Erst wenn geklärt ist, was
ein Satz überhaupt ist, wie Sätze in logisch-konsequenten Zusammenhang zu
bringen sind, kann man dazu übergehen, den für eine wissenschaftliche Theo­
rie charakteristischen Zusammenhang von Aussagen zu studieren. Und erst wenn
man weiß, was eine Theorie ist, kann man verschiedene Theorieformen und
deren mögliche Ableitung von einer höchsten Theorieform untersuchen. Der
Weg bis zur mathesis universalis ist also ein langer und beschwerlicher. Es ist
der Weg einer > aufsteigenden Integration <, in dem vorgängig selbständige Be­
deutungsformen als unselbständige Momente einer umfassenderen Bedeutungs­
form erscheinen. So erklimmt man Stufe um Stufe bis zur höchsten Form
wissenschaftlicher Theorie überhaupt, ohne eine Stufe überspringen zu kön­
nen. Die wesentlichsten »Aufgaben<< bzw. »Stufen« sind dabei, nach dem über­
einstimmenden Urteil der Prolegomena und der Formalen und transzendentalen
Logik31: 1) Die Formenlehre der Bedeutungen, 2) Die Konsequenzlogik, 3) Die
Theorie der möglichen Theorieformen.
Die für die erste »A ufgabe« der reinen Logik leitende Bedeutungsform ist die-

3 1 Proleg., §§ 67-69 und FTL, §§ 13 f. und 28 ff. (Wir zitieren die FTL nach der Paginierung der
Niemeyer-Ausgabe, die in der Hussediana-Ausgabe am Rande angegeben ist.)
§ 2. Reine Logik und Psychologie 43

jenige des Satzes bzw. des Urteils. Die Formenlehre der (Satz-) Bedeutungen
oder rein logische Grammatik läßt sich in drei weitere Disziplinen unterteilen:
a) Formenlehre der primitiven Bedeutungskategorien, b) Lehre von den (syn­
taktischen) Kompositionsgesetzen und c) Lehre von den grammatischen Ope­
rationen.32 Die erste dieser Disziplinen inventarisiert nicht nur die grundle­
genden Bedeutungskategorien, sondern systematisiert sie auch bereits unter dem
Gesichtspunkt ihrer Selbständigkeit und Unselbständigkeit. >>Prädikativer Satz«
z. B. ist eine selbständige Bedeutungskategorie, der >>Prädikat<< als unselbständi­
ges Bedeutungsmoment zugehört. Die explizite Erforschung der Kompositions­
gesetze, welche die Verbindung von unselbständigen Bedeutungsformen zu
(verschiedenen Arten von) selbständigen Bedeutungsformen betreffen, ist jedoch
bereits die Aufgabe der zweiten Disziplin. Sie untersucht, wie dieselben »nie­
deren Bedeutungselemente<< als >>Stoff<< verschiedener Formen syntaktischer Ver­
bindung fungieren können. Also z. B. wie ein selbes > Wort < (genauer: vorsyn­
taktisch geformter >>Kernstoff<<) sich in den einheitlichen Zusammenhang eines
prädikativen, attributiven, konjunktiven, hypothetischen . . . Satzes einfügt. Die
dritte rein grammatische Disziplin schließt an diese Aufgabe an und untersucht
auf höherer Allgemeinheitsstufe das System der grammatischen >>Operationen<<.
Diese Operationen konstituieren aufgrund der grundlegenden syntaktischen
Formen und anhand der syntaktischen Kombinationsgesetze neue syntaktische
Formen. Ein Beispiel einer solchen Operation ist die Nominalisierung, in der
vom prädikativen Satz > S ist p< die Subjektform > daß Sp. . . < >>abgeleitet<< wird.
Es handelt sich dabei also um grammatische >>Komplikationsgesetze<<, welche
in den syntaktischen >>Kompositionsgesetzen<< und der Morphologie der pri­
mitiven Bedeutungskategorien fundiert sind. Wichtig ist für uns im gegenwär­
tigen Problemzusammenhang vor allem der rein logische Charakter dieser
> Grammatik < sowie deren wissenschaftstheoretische Funktion. Die rein logische
Grammatik widmet sich der Morphologie und Syntaktik apriorischer Bedeu­
tungs/armen, sie ist eine Idealwissenschaft, die keine tatsächlichen Sprachstruk­
turen voraussetzt. Nicht als Wissenschaft von der Grammatik faktischer Spra­
chen, sondern als Wissenschaft von >>Grammatischen selbst« leitet sie den Auf­
bau der reinen Logik (FTL, § 22). Und als Wissenschaft vom Grammatischen

32 Vgl. fTL, §§ 13 und 22; Proleg., § 67 und IV LU, § 14, A: S. 319 (bzw. wesentlich erweitert:

B: S. 339). Zu Husserls Idee einer reinlogischen Grammatik vgl. insbes. J. M. Edie, Speaking and
Meaning. 7he Phenomenology of Language: Studies in Phenomenology and Existential Philosoplry, Bloo­
mington and London, 1976, S. 45 -71 und 202- 211. Diese Schrift gibt nicht nur eine sorgfältige
Interpretation von Husserls Ausführungen insbes. in der IV LUund der fTL, sondern nimmt auch
ausführlich Stellung zur umfangreichen Sekundärliteratur und konfrontiert schließlich Husserls
Theorie der reinen Grammatik auch mit N. Chomskys Lehre von der sprachlichen Tiefenstruktur
und der »linguistischen Kompetenz«.
44 1 . Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie

selbst geht es ihr um die idealen Bedingungen der sich im Medium der Sprache
bewegenden wissenschaftlichen Erkenntnis. Die rein logische Grammatik hat
es »auf die Begriffe abgesehen, welche die Idee der theoretischen Einheit konsti­
tuieren<<, und auf deren >>elementare Verknüpfungsformen« (Proleg. , § 67). Sie
handelt von den primitivsten Bedingungen wissenschaftlicher Aussagen, näm­
lich der Bildung von sinnvollen Sätzen und Theorien bzw. von der Vermeidung
des Unsinns.
Darauf aufbauend betrifft die zweite »A ufgabe« der reinen Logik die Vermei·
dung des Widersinnes in sinnvollen, d. h. wohlgeformten Satzkombinationen.
Während die Aussageform > Alle A sind B, aber gewisse A sind nicht B< z. B.
noch den Anforderungen der reinen Grammatik genügt, d. h. grammatisch sinn­
voll ist, widerspricht sie den Anforderungen der Konsequenzlogik. 33 Die Kon­
sequenzlogik bzw. »Logik der Widerspruchslosigkeit<< betrifft die idealen
Bedingungen möglicher (formaler) Wahrheit und Falschheit insbesondere von
komplexen Satzformen. Sie besteht aus einer Anzahl von Gesetzen zur Ver­
meidung des Widerspruchs, und diese Gesetze lassen sich in eine umfassende
Theorie integrieren. Eine solche Theorie ist z. B. die traditionelle Syllogistik.
Die Konsequenzlogik selektiert somit die grammatisch möglichen komplexen
Satz- bzw. Schlußformen und bestimmt diejenigen, welche »den Wert von for­
malen Wesensgesetzen haben, nämlich als generelle Wahrheiten über Urteils­
konsequenz: über das (> analytische <) Beschlossensein von Urteilen der und der
Form in Prämissenurteilen entsprechender Form.<< (FTL, § 14) Die Grundstruk­
tur ist also wiederum, wie schon für die rein logische Grammatik, eine solche
von Ganzem und Teilen, jedoch mit dem Unterschied, daß nun neben der gram­
matischen »Möglichkeit<< auch auf die »Verträglichkeit« bzw. Widerspruchslo­
sigkeit geachtet wird. 34
Diese Konsequenzlogik ist nun aber noch nicht eine eigentliche formale Wahr·
heitslogik, sondern bloß deren wichtigste Voraussetzung. Diese neue Einsicht
der Formalen und transzendentalen Logik blieb nicht nur ihm selbst in den
Prolegomena, sondern nach Husserls Meinung auch allen seinen Vorläufern
in der Theorie der formalen Logik verborgen. Für Husserl selbst ergab sich
diese Scheidung zwischen formaler Konsequenzlogik und formaler Wahrheits­
logik (FTL, § 1 5) erst aus der Berücksichtigung der >>Verschiedenen subjektiven

33 Vgl. Proleg., § 68, und FTL, §§ 14 ff.


34 Vgl. auch die §§ 30-35 der VI. LU, die dieser Logik der »Verträglichkeit und Unverträglich·
keit<< gewidmet sind. Zur zentralen methodologischen Funktion von Husserls Logik won Gan­
zem und Teilen« (III. Unters.) für die LU insgesamt vgl. R. Sokolowski, >>The Logic of Parts and
Wholes in H usserl' s > Investigations «<: Philosophy and Phenomenological Research, Vol. 28 ( 1967 - 68),
S. 537-553 und auch in: Readings on Edmund Husserl's Logical Investigations, ed. by ]. N. Mohanty,
The Hague, 1976, S. 94- 1 1 1 .
§ 2. Reine Logik und Psychologie 45

Gegebenheitsweisen<< von Urteilen (§ 1 6a), aus der >>subjektiv-phänomenolo­


gischen<< Besinnung auf die >>Einstellung im Urteilen<< bzw. die Formen der >>Evi­
denzen<< im Urteilen (§ 70a). Kurz: Aus einer >>Erkenntniseinstellung<<, die ­
ohne den Rahmen der Untersuchung formal-logischer Wahrheitsbedingungen
zu verlassen - die >>Urteilsformen<< zugleich mit Bezug auf >>ihre Adäquation
an die Sachen selbst<< untersucht (§ 19). Urteilen im Sinne der Konsequenz­
logik erweist sich in dieser subjektiven Aufklärung der formalen Logik als Ur­
teilen in der »Evidenz der Deutlichkeit<<; Urteilen im Sinne der formalen Wahr­
heitslogik erfordert eine >>Evidenz der Klarheit<< (§ 1 6). Formal-logische Prin­
zipien möglicher Urteilswahrheit wie z. B. der Satz vom Widerspruch können
somit zugleich im Rahmen der Konsequenzlogik formuliert werden (Non zwei
kontradiktorischen Urteilen sind nicht beide als eigentliche Urteile möglich,
nicht beide zur Evidenz der Deutlichkeit zu bringen<<) sowie im Rahmen der
formalen Wahrheitslogik (Non zwei kontradiktorischen Urteilen ist notwen­
dig eines wahr und das andere falsch<<) (§ 20). Die Konsequenzlogik bildet dabei
eine notwendige Voraussetzung der formalen Wahrheitslogik bzw. (subjektiv-phä­
nomenologisch formuliert): >>Das Erkenntnisstreben geht . . . von der > Verwor­
renheit < zur Deutlichkeit, . . . es geht weiter zur . . . Klarheit . . . << (§ 1 6c).
Die dritte »Aujgabe« der reinen Logik schließlich betrifft nicht mehr die formal­
idealen Voraussetzungen der wissenschaftlichen Theorie (Möglichkeit und Ver­
träglichkeit der Bedeutungsformen), sondern die Idee der Theorie schlechthin
und ihre möglichen Abwandlungen. Die höchste Aufgabe der reinen Logik ist
die Ausbildung einer >>Theorie der möglichen Theorieformen<<.35 Darunter ver­
stand Husserl offensichtlich ein hierarchisches System möglicher wissenschaft­
licher Theorieformen, analog zur axiomatisch-deduktiv formulierten, mathe­
matischen Mannigfaltigkeitslehre. Für dieses >>letzte und höchste Ziel einer

35 Proleg. , § 69 f.; vgl. FTL, § 28 und §§ 3S f. Die drei »Aufgaben bzw. Stufen« der reinen Lo­
gik werden in den Proleg. und in der FTL somit in derselben Weise bestimmt: 1. Reine Formenleh­
re der >>Bedeutungen<< bzw. »Urteile«; 2. formale »Konsequenzlogik«; 3. »Theorie der deduktiven
Systeme«. Die Proleg. und die FTL unterscheiden sich jedoch in der Bestimmung der formalen Lo­
gik möglicher Wahrheit, die im früheren Werk noch mit der formalen Konsequenzlogik identifi­
ziert wurde und die im späteren Werk in eine formale Konsequenzlogik und eine formale
Wahrheitslogik zerfällt. Wenn Husserl die » Dreischichtung der formalen Logik« als einen wesentli­
chen, erst in der FTL erzielten Fortschritt über die bisherige Logik und auch die Proleg. hinaus
bezeichnet (§§ 22, 70a), kann damit also nicht die erwähnte Bestimmung der drei »Aufgaben« bzw.
»Stufen• der reinen Logik gemeint sein. Die »Dreischichtung• ist vielmehr eine Folge der Schei­
dung zwischen formaler Konsequenzlogik und formaler Wahrheitslogik und ergibt folgende Auf­
teilung der formalen Logik als apophantischer Analytik: 1. »Formenlehre der Urteile•; 2.
»Konsequenzlehre«; 3. »Wahrheitslehre« (§ 70a). Leider versäumt es Husserl in der FJL, das Ver­
hältnis zwischen den drei »Stufen« der Logik und der »Dreischichtung• der Logik genauer zu be­
stimmen. Dieses Versäumnis hat eine korrekte Interpretation der FTL sehr beeinträchtigt: Vgl. G.
Heffernan, Isagoge in die phänomenologische Lehre vom Urteil, Dordrecht/Boston/London, 1989.
46 1 . Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie

theoretischen Wissenschaft von der Theorie überhaupt<< gibt es keine histori­


schen Vorbilder, und auch Husserl begnügt sich mit einer rohen Skizzierung.
Ihren eindeutigen Sinn verdankt diese Wissenschaft ihrem >>gegenständlichen
Korrelat<<, nämlich dem der Theorie von den Theorieformen entsprechenden
gegenständlichen Erkenntnisgebiete. Streng wissenschaftliche Erkenntnisgebiete
haben in mathematischer Erfassung die Form einer definiten Mannigfaltigkeit,
und dieser Formbegriff ist es auch, was dem >>Ganzen der ins Unendliche fort­
laufenden Sätze einer Wissenschaft eine systematische Einheitsform [verleiht],
die mittels der logisch-kategorialen Begriffe aus einer endlichen Anzahl von
reinen A x iomenformen a priori konstruierbar ist: (FTL, § 35b). Die Theorie
der Theorieformen ist also gerrauer eine Theorie der >> Urteilssysteme in ihrer
Ganzheit<< bzw. >>eine Theorie der deduktiven Systeme<< (FTL, § 28).
Erst die Formale und transzendentale Logik widmet dieser bereits in den Pro­
legomena erwähnten Korrelation von Bedingungen und Formen wissenschaft­
licher Theorie einerseits und ihrer Gegenstände andererseits ausführliche
Untersuchungen. Rein logische Grammatik, Konsequenzlogik und Theorie der
Theorieformen orientieren sich durchgängig am Begriff der Bedeutung. Hus­
serl nennt die sie umfassende rein logische Wissenschaft >>formale Apophantik«
und stellt ihr die sich am formalen Gegenstandsbegriff orientierende »formale
Ontologie<< als korrelative rein logische Wissenschaft gegenüber.36 Den drei
>>Aufgaben<< der formalen Apophantik entsprechen drei Aufgaben der forma­
len Ontologie. Der reinen Grammatik korrespondiert eine Morphologie der
formalen gegenständlichen Kategorien wie »Gegenstand, Sachverhalt, Einheit,
Vielheit, Anzahl, Beziehung, Verknüpfung usw. - alle diese Begriffe von der
Besonderheit der Erkenntnismaterie frei gehalten.<< (FTL, § 27b) Betrifft die
apophantische Konsequenzlogik (und Wahrheitslogik) die notwendigen Bedin­
gungen von formaler Wahrheit und Falschheit der Bedeutungen, so betrifft die
ihr entsprechende formal-ontologische Wissenschaft >>Sein und Nichtsein von
Gegenständen überhaupt, Sachverhalten überhaupt usW.<< (Proleg. , § 68, A: S.
246/B: S. 245) War die Syllogistik ein Beispiel apophantischer Konsequenzlo­
gik, so sind die »Vielheitslehre<<, »Anzahlenlehre<< oder Arithmetik Beispiele
einer formal-ontologischen Konsequenzlogik. Der apophantischen Theorie der
möglichen Theorieformen entspricht die formal-ontologische, reine Mannig­
faltigkeitslehre.
Die Mannigfaltigkeitslehre ist Lehre von der Form des einer Theorie ent­
sprechenden >>ErkenntnisgebieteS<<. Ersetzen wir nun diesen Formbegriff durch

3 6 FJL, §§ 37 - 46; vgl. auch §§ 25, 27. Die entsprechenden Ansätze der Proleg. finden sich in
§ 67, AlB: S. 244; § 68, A: S. 246/B: S. 245 f. ; § 70.
§ 2. Reine Logik und Psychologie 47

einen inhaltlich bestimmten, aber doch allgemeinen Begriff gegenständlichen


Seins, so ergeben sich sog. »materiale Ontologien<< (vgl. Ideen I, § 10; Hu XIII,
S. 125 ff.). Materiale Ontologien orientieren sich nicht wie die formale Ontolo­
gie am formalen Begriff des »Gegenstandes überhaupt«, sondern am Begriff ei­
ner Seinsregion. Seinsregionen sind etwa (in traditioneller Terminologie)
seelisches und körperliches Sein. Die auf sie bezogenen materialen Ontologien
sind dann nichts anderes als die > psychologia rationalis < und die auf die > natura
formaliter spectata< bezogene rationale Physik. > Rationale < Wissenschaften schei­
den sich von experimentellen Wissenschaften. Während letztere Tatsachen be­
obachten, klassifizieren und gesetzlich zu fassen suchen, erforschen erstere die
Wesensbestimmungen der diesen Tatsachen zugrundeliegenden Seinsregion. Daß
räumliches Sein ausgedehnt ist, ergibt sich z. B. nicht aus induktiver Verallge­
meinerung von Erfahrungstatsachen, die Ausgedehntheit ist eine Wesensbestim­
mung räumlichen Seins. Der rationalen Physik unterstehen materiale Ontologien
niederer Allgemeinheitsstufe, die sich auf bloße Momente physikalischen Seins
beziehen (vgl. Kants »Phoronomie<<, »Dynamik<< und »Mechanik<<). Ihrer logi­
schen Form nach ist jede materiale Ontologie eine inhaltliche Vereinzelung der
formalen LogikY
Der mathematische Charakter der formalen Ontologie leuchtet schon aus der
bloßen Definition ihrer Disziplinen ein: »Vielheitslehre<< bzw. »Anzahlenleh­
re<< und »Mannigfaltigkeitslehre<< (bzw. Mengenlehre) sind anerkannte mathe­
matische Wissenschaften (vgl. FTL, § 24). Die Ausführungen der Philosophie
der A rithmetik zum Mengen- bzw. Anzahlenbegriff und seiner Beziehung auf
das formale »Etwas überhaupt<< waren Schritte in Richtung auf die für den
2. Teil geplante »formale Arithmetik<<, Schritte also in Richtung auf die Aus­
bildung einer formalen Ontologie (vgl. FTL, § 27a). Der Formalen und tran­
szendentalen Logik zufolge kann aber auch die formale Apophantik als mathe­
matische Wissenschaft formuliert werden.38 Ist also reine Logik schließlich

37 In früheren Texten nennt Husserl diese materiale Ontologie noch >>apriorische Ontologie des

Realen« bzw. »apriorische Metaphysik<<. Sie erforscht »die Grundkategorien, in die Reales als sol­
ches seinem Wesen nach zu fassen ist. Also muß doch eine Gruppe von Forschungen möglich sein,
die bloß erwägen all das, ohne was Realität überhaupt nicht gedacht werden kann. Hierher würde
die ganze apriorische Zeitlehre, die apriorische Phoronomie gehören und die reine Geometrie... «
(Hu XXIV, S. 1 0 1 ( 1 906)).
38 Vgl. insbes. §§ 24 und 52. Zum Verhältnis von Logik und Mathematik in FTL sowie über­
haupt zu diesem I., in der Sekundärliteratur meist vernachlässigten Teil der FTL vgl. den Aufsatz
von R. Sokolowski, >>Logic and Mathematics in Husserl's Formal and Transeendental Logic«: Ex­
plorations in Phenomenology (ed. by D. Carr and E. S. Casey): Selected Studies in Phenomenology
and Existential Philosophy, 4, The Hague 1973 und in: R. Sokolowski, Husserlian Meditations. How
Words Present Things, Evanston, 1974, S. 271 -289.
48 1. Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie

nichts anderes als Mathematik? Bleibt Busserls Antwort auf diese Frage in den
Prolegomena (§ 7 1 ) noch ausweichend und wenig überzeugend, so nennt die
Formale und transzendentale Logik ein klares Kriterium der Scheidung zwischen
der »Mathematik der Mathematiker« und der Mathematik der Logiker, näm­
lich das den letzteren eigene erkenntnis- bzw. wissenschaftstheoretische Inter­
esse (§§ 5 1 f.). Wie sich dieses Interesse äußert, ist jedoch erst dann verständlich,
wenn wir die Scheidung zwischen formaler Apophantik und formaler Ontolo­
gie weiter verdeutlichen.
Die Scheidung zwischen apophantischer Bedeutungslehre und formal­
ontologischer Gegenstandstheorie entspricht der Scheidung zwischen »Urtei­
len über Urteile und Urteilen über Gegenstände«. Diese Scheidung beruht auf
der Scheidung zwischen verschiedenen Einstellungen und ist in einem verschie­
denen theoretischen Interesse begründet. Die Einstellung auf Gegenstände ist
die natürlichere, die formale Ontologie erwächst aus einer Formalisierung der
Gegenstände-geradehin natürlichen Erfahrens und wissenschaftlichen Forschens.
Die Einstellung auf Bedeutungen ist eine sekundäre, die formale Apophantik
wendet den Blick ab von den Gegenständen-geradehin und richtet sich reflexiv
auf das bedeutungsmäßige Medium ihrer Vermeinung. Die für die Apophan­
tik charakteristische Reflexion ist Ausdruck eines erkenntniskritischen Interes­
ses (FTL, §§ 44, 48). Neben dieser subjektiven Aufklärung der Doppelseitigkeit
der formalen Logik muß diese Doppelseitigkeit nun aber auch nach seiten ih­
res objektiven Inhaltes charakterisiert werden. Bedeutungen (als Gegenstände
der Apophantik) sind > Gegenständlichkeiten < in einem sekundären, abgeleite­
ten Sinne. Nicht >>> wahre < oder > Wirkliche < Gegenständlichkeiten«, sondern >>Ver­
meinte Gegenständlichkeiten als vermeinte, . . rein als das im syntaktischen Gang
.

des Setzens Gesetzte als solches<< (§ 44bß). Gegenstände und Bedeutungen sind
nicht in derselben Einstellung bewußt, Bedeutungen sind im ursprünglichen
Urteilsbewußtsein überhaupt nicht > gegenständlich < bewußt (vgl. unten S. 165),
und dennoch - qua Gegenstände apophantischer Logik - bezeichnen sie eine
abgeleitete Form der Gegenstände-schlechthin der natürlichen Erfahrung (FTL,
§§ 44 f.). In diesem Sinne ist also auch die formale Apophantik abhängig von
der formalen Ontologie. Diese Priorität der formalen Ontologie schließt nun
aber nicht aus, daß formal-ontologische Aussagen ihrerseits dadurch in formal­
apophantische umzuwandeln sind, daß ihre Gegenstände als Gegenstände-im­
Wie der Vermeinung gefaßt werden, als >>Gegenstands-Sinne<< (§ 53).
Der wesentliche Grund, Urteilsgegenstände in »Gegenstandssinne<< bzw. Ge­
genstände qua geurteilte umzuwandeln, ist das die Apophantik charakterisie­
rende kritische Interesse, das die Gegenstände nicht mehr als selbstverständliche
Gegenstände-geradehin behandelt. Zu seinem vollen Ausdruck kommt dieses
erkenntnistheoretische Interesse des Logikers jedoch erst dann, wenn er sich
§ 2. Reine Logik und Psychologie 49

die Frage nach der Ü bereinstimmung der Bedeutungen bzw. Urteilsinhalte mit
den wirklichen Sachen stellt. Wir haben gesehen, wie diese »Erkenntniseinstel­
lung<< des Logikers in der formalen Wahrheitslogik, d. h. in der Erforschung
der Urteilsformen und >>ihrer Adäquation an die Sachen selbst<< zu einer ersten
Befriedigung gelangt (§ 19). Die in der formalen Wahrheitslogik erreichte »Evi­
denz der Klarheit<< ist jedoch noch keine >>Evidenz der Selbsthabe des Vermein­
ten, des Endzieles<< (§ 1 6c, vgl. auch § 89). Formale, d. h. analytische Wahr­
heitsbedingungeil erweisen sich als eine bloße »Antizipation<< von letzten, d. h.
material-synthetischen Wahrheitsbedingungen. Mit anderen Worten: Das Er­
kenntnisinteresse, welches die Ausbildung der formal-reinen Logik leitet, treibt
über die Grenzen dieser Logik hinaus. Eine materiale Wahrheitslogik, die sich
mit der Ü bereinstimmung von inhaltlich bestimmten Urteilen mit der Wirk­
lichkeit beschäftigt, kann nun aber nur durch eine »transzendentale Logik« der
subjektiven Erkenntnisakte entwickelt werden.
Stützte sich schon die Scheidung zwischen formaler Wahrheitslogik und for­
maler Konsequenzlogik auf eine »subjektiv-phänomenologische« Betrachtung
der ihnen entsprechenden Arten, der Evidenz (der >>Klarheit<< und der »Deut­
lichkeit<<) (§ 70a), so gründet a fortiori auch eine materiale Wahrheitslogik in
einer >> Evidenzkritik der Erfahrung<< (Titel des 4. Kap. im II. Abschn.). Die Be­
schreibung der Gegebenheitsweisen der Dinge und Sachen bzw. die (subjektiv
gerichtete) Beschreibung der Modis des Erfahrens, Behauptens und Verifizie­
rens stellt somit eine fundamentale Aufgabe dieser materialen Wahrheitslogik
dar. Die phänomenologische Erkenntnistheorie und insbesondere die phäno­
menologische Lehre von der Evidenz und anschaulichen Erfüllung (vgl. unten
S. 167ff.) ist das eigentliche Instrument dieser sich als transzendentale Logik ver­
wirklichenden materialen Wahrheitslehre. Für Husserl ist diese materiale Wahr­
heitslogik jedoch mehr als eine bloße Ergänzung oder Vertiefung der formalen
Wahrheitslogik, sie fungiert als deren >>Kritik<< und »Fundament«. Sie kritisiert
die »idealisierenden Voraussetzungen der Logik<< (II. Abschn. , 3 . Kap.), d. h.
deren unausgewiesenen Bezug auf Umstände möglicher Erfahrung. Die forma­
le Logik setzt die Einheit möglicher Erfahrung voraus, sie bezieht sich auf die
Sachzusammenhänge in der Welt, ohne der Erfahrung der Welt die geringste
Aufmerksamkeit zu schenken. Die formale Logik kann auch nicht umhin, letzte
Kerne syntaktischer Bildung vorauszusetzen, ohne sie als individuelle Gegen­
stände sinnlicher Wahrnehmung bestimmen zu können. In der Fundierung der
formalen Logik durch die transzendentale Logik spielt denn auch die Bestim­
mung der vorprädikativen Erfahrung und der in ihr begründeten Bedingungen
möglicher Wahrheit eine vorrangige Rolle.
Die Einsicht in die Notwendigkeit einer Fundierung der objektiv-gerichteten
formalen Logik durch eine subjektiv-gerichtete Erkenntnistheorie findet sich
50 1. Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie

ansatzweise auch schon in den Prolegomena. Husserl fordert da als notwendige


Ergänzung der rein logischen Wissenschaftstheorie eine >>Noetik« (§§ 63, 32).
Während die reine Logik den objektiven >>Inhalt« ideal möglicher Erkenntnis
erforscht (§§ 65 f.), untersucht diese Noetik die >>subjektiven<< idealen Bedin­
gungen, die die denkenden Wesen befähigen, >>alle Arten von Akten zu vollzie­
hen, in denen sich theoretische Erkenntnis realisiert<< (§ 65, A/B: S. 23 8). Was
Husserl hier >>Noetik<< nennt, ist nichts anderes als die >>Phänomenologie«, der
das eigentlichste Interesse seines Werkes gilt.

§ 3. Phänomenologische Erkenntnistheorie

>>Die Logik als Wissenschaft vom Logischen überhaupt und in der obersten,
alle anderen Formen des Logischen umspannenden Gestalt, als Wissenschaft
von der Wissenschaft überhaupt, ist zweiseitig gerichtet. Ü berall handelt es sich
um Vernunftleistungen, und zwar in dem doppelten Sinn der leistenden Tätig·
keiten und Habitualitäten, andererseits der damit geleisteten und hinfort ver­
harrenden Ergebnisse.<< (FTL, § 8) Diese Busserlsehe Auffassung von einer
>>doppelseitigen<<, subjektiv und objektiv gerichteten logischen Forschung be­
herrschte auch schon den systematischen Aufbau der Logischen Untersuchun·
gen. Bevor wir in den folgenden Kapiteln näher auf die Durchführung dieser
subjektiven Logik bzw. Wissenschaftstheorie eingehen, wollen wir uns erst in
dieser vorbereitenden Betrachtung auf deren Motivation besinnen. Wir wer­
den dabei sehen, daß das die (phänomenologische) Erforschung der >>leisten­
den Tätigkeiten<< treibende Interesse ein erkenntnistheoretisches ist. Und Husserl
bestimmt diese phänomenologische Erkenntnistheorie als eine Fundamental­
wissenschaft, d. h. als eine Wissenschaft, welche den letzten Rechtsgrund nicht
bloß der objektiv gerichteten Logik, sondern jeden Wissens schlechthin syste­
matisch erforscht. Was sich erst als Aufgab€ einer subjektiven Ergänzung der
objektiven Logik darstellte, weitet sich aus zur Erforschung des allgemeinen
Korrelationsapriori >>Von Erkenntnis, Erkenntnissinn und Erkenntnisobjekt<<
(Hu II, 22) und mündet schließlich in die Konzeption einer absoluten Wissen­
schaft, welche Husserl bereits 1908 wie folgt charakterisiert: >> . . . Erforschung
des letzten Sinnes der Geltung der Erkenntnis durch Rückgang auf die . . .
transzendental-phänomenologischen Ursprünge, nämlich transzendental-phäno­
menologische Erforschung der Konstitution des . . . Objektiven: die Ursprünge
der Objektivität in der transzendentalen Subjektivität, des relativen Seins der
·
Objekte aus dem Absoluten.<< (Hu VII, S. 382)
Ihrem Programm gemäß wird die Phänomenologie in den Logischen Untersu·
chungen noch ganz auf die erkenntnistheoretische Aufklärung der reinen Logik
§ 3. Phänomenologische Erkenntnistheorie 51

ausgerichtet: >> . . . die Phänomenologie erschließt die > Quellen <, aus denen die
Grundbegriffe und die idealen Gesetze der reinen Logik > entspringen <, und bis
zu welchen sie wieder zurückverfolgt werden müssen, um ihnen die für ein
erkenntnistheoretisches Verständnis der reinen Logik erforderliche , Klarheit und
Deutlichkeit < zu verschaffen. << (LU II/1, S. 3) Diese durch die phänomenologi­
sche Erkenntnistheorie erschlossenen »Quellen<< sind nichts anderes als die Er­
lebnisse, in denen sich die logischen Begriffe und Gegenstände anschaulich
realisieren (S. 4) bzw. in denen sie zu anschaulicher Gegebenheit kommen (S.
5). Diese anschauliche Gegebenheit rein logischer Gegenstände ist nun aber ei­
ne höherstufige Erlebnisform, die die Gegebenheit schlichter Gegenstände be­
reits voraussetzt. Die phänomenologische Aufklärung des Zusammenhangs von
logisch-idealen Gegenständen und ihren (kategorial-) anschaulichen Gegeben­
heiten impliziert also auch die Aufklärung der (sinnlich-) anschaulichen Gege­
benheit schlichter Gegenstände; die erkenntnistheoretische Aufklärung der
reinen Logik wird notwendig mit den »allgemeinsten erkenntnistheoretischen
Grundfragen<< konfrontiert, »wie es denn zu verstehen sei, daß das > an sich < der
Objektivität zur , Vorstellung<, ja in der Erkenntnis zur > Erfahrung< komme,
also am Ende doch wieder subjektiv werde<< und wie es möglich ist, daß »alles
Denken und Erkennen auf Gegenstände bzw. Sachverhalte geht, sie angeblich
trifft . . . <<. (S. 8) Die traditionelle erkenntnistheoretische Grundfrage, an die Hus­
serl hier anknüpft, sieht sich also vor die paradoxale Aufgabe ges!ellt, zu erklä­
ren, »daß menschliches Denken, wenn es nach logischer Methode verfährt, eine
an sich seiende Dinglichkeit, Natur oder ein an sich Seiendes der Mathematik
trifft?<< (Hu XXIV, S. 40 1), obwohl man sich zugleich fragen muß: »Was küm­
mern sich die Sachen an sich um unsere Denkbewegungen und um die sie re­
gelnden logischen Gesetze?<< (Hu II, S. 3)
Angeregt werden diese erkenntnistheoretischen Grundfragen von verschie­
denen Motiven. Die Logischen Untersuchungen nennen vor allem das Motiv der
schwankenden und äquivoken Wortbedeutungen, die den Fortschritt der rein
logischen Wissenschaft hindern (S. 5). Und wenige Jahre später steht vor allem
die Skepsis im Vordergrund, welche insbesondere durch die Verwirrungen ei­
ner psychologisch, biologisch oder natürlich-geisteswissenschaftlich inspirier­
ten, letztlich widersinnigen Erkenntnistheorie hervorgerufen wird (Hu II, S.
1 8 ff.). Durchgehend appelliert Husserl jedoch an die evidente Gegebenheit, in
der »die logischen Ideen, die Begriffe und Gesetze, zu erkenntnistheoretischer
Klarheit und Deutlichkeit zu bringen<< sind (LU II/1, S. 5) und die von den
widersinnigen Voraussetzungen natürlicher Erkenntnistheorien und der dar­
aus resultierenden »skeptischen Verzweiflung« (Hu II, S. 30) zu befreien ver­
mag. Die erforderlichen evidenten Gegebenheiten sind somit in erster Linie die
Akte kategorialer Anschauung, in denen logische Begriffe und Gesetze zu
52 1 . Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie

adäquater Gegebenheit kommen. Busserl erwarb sich jedoch während der kon­
kreten Ausarbeitung insbesondere der I., V. und VI. Logischen Untersuchungen
sowie in den Jahren danach ein immer deutlicheres Bewußtsein davon, daß die
auf die Gegenstände der reinen Logik gerichteten Erkenntnisakte zwar wissen­
schaftstheoretisch die wichtigsten Erkenntnisakte sind, daß ihre Erforschung
jedoch nur ein Sondergebiet der allgemeinen erkenntnistheoretischen Forschung
darstellt. Dieses erweiterte Problembewußtsein dokumentiert sich in einem Brief
an Brentano aus 1905, in dem Busserl bezüglich der in den Prolegomena (§ 65)
vorgeschlagenen Einbeziehung der erkenntnistheoretischen Problematik in das
Programm der reinen Logik schreibt: »Praktischer erscheint es mir jetzt, reine
Logik und Erkenntniskritik zu trennen.<< (vgl. Bu XVIII, S. XXXVI) Das »Rät­
sel<< der Erkenntnis (Bu II, S. 36 u. ö.) betrifft nicht allein das Verhältnis von
logisch idealem Sein und subjektiv realem Sein, sondern allgemeiner das Ver­
hältnis von Transzendenz und Immanenz. Immanenz bezeichnet dabei die Sphäre
der evidenten Gegebenheiten, der möglichen adäquaten Anschauung, während
Transzendenz negativ als Sphäre des Nicht-Immanenten bestimmt wird. Bereits
die Logischen Untersuchungen bezeichnen die Sphäre der Immanenz als Gebiet
voraussetzungsloser Gegebenheit (LU 11/1, S. 1 5) und in der >>Idee der Phäno­
menologie<< aus 1907 (Bu II) wird diese Sphäre immanent evidenter Gegeben­
heit unter ausdrücklicher Berufung auf Descartes' Zweifelsbetrachtung als Sphäre
zweifelloser Gegebenheit bestimmt (S. 30 u. ö.). Das Rätsel der Erkenntnis be­
trifft also wesentlich die dem erkenntnistheoretischen Zweifel ausgesetzte Sphäre
transzendenten Seins bzw. gerrauer die Gegebenheit der Transzendenz in der
Immanenz und den erkenntnismäßigen Bezug der Immanenz auf die Transzen­
denz. Dieses Rätsel ist jedoch, wie die traditionelle Erkenntnistheorie zeigt, so­
lange unlösbar, als Immanenz und Transzendenz in Form eines ontologisch
begründeten Gegensatzes betrachtet werden, der dann nur durch die Konstruk­
tion einer verbindenden > Brücke < zu überwinden wäre. Die Berufung auf die
Sphäre evidenter Gegebenheit als Forschungsgebiet der Erkenntnistheorie ist
zwar eine notwendige Bedingung einer voraussetzungslosen Erkenntnistheo­
rie, doch zur Lösung der erkenntnistheoretischen Grundfrage trägt sie erst dann
bei, wenn die Beziehung zwischen Immanenz und Transzendenz selbst im Rah­
men evident immanenter Gegebenheit zu erforschen ist: >>Unklar ist . . . die Be­
ziehung auf Transzendenz, unklar ist . . . das > ein Transzendentes Treffen<, das
der Erkenntnis . . . zugeschrieben wird. Wo und wie wäre ... Klarheit? Nun, wenn
. . . die Beziehung eben selbst zu geben wäre, als etwas zu Schauendes.<< (Bu II,
S. 37)
Nur die phänomenologische Erkenntnistheorie als rein schauende Erforschung
der intentionalen Bewußtseinsakte ist in der Lage, die Beziehung von Imma­
nenz und Transzendenz, >>die Einheit von Erkenntnis und Erkenntnisobjekt,
§ 3. Phänomenologische Erkenntnistheorie 53

die das Wort Triftigkeit andeutet<< (Hu II, S. 37), zu erforschen, ohne das Gebiet
evidenter Gegebenheit zu überschreiten. Der Forderung nach voraussetzungs­
loser, evidenter Erforschung der Erkenntnis genügt die Phänomenologie da­
durch, daß sie sich auf die Betrachtung der Erkenntniserlebnisse beschränkt und
diese zudem von jeder transzendierenden Apperzeption befreit. Wir werden
noch ausführlich auf diese phänomenologische Reduktion des Bewußtseins zu­
rückkommen (vgl. unten, S. 56ff.). Der Ausschluß jeder Form von Transzendenz
aus dem Gebiet phänomenologischer Betrachtung bedeutet aber nicht, daß die
Transzendenz für die phänomenologische Forschung überhaupt verloren geht,
denn der bewußtseinsmäßige Bezug auf die Transzendenz ist in der phänome­
nologisch-reflexiven Betrachtung evident gegeben. Husserl schreibt deswegen
in den Ideen I über die phänomenologische Reduktion der Transzendenz: >>Wir
haben eigentlich nichts verloren, aber das gesamte absolute Sein gewonnen, das,
recht verstanden, alle weltlichen Transzendenzeil in sich birgt . . . << (§ 50). Diese
Behauptung stützt sich im wesentlichen auf die Bestimmung der erkenntnis­
theoretisch voraussetzungslosen, d. h. phänomenologisch reduzierten Imma­
nenzsphäre als intentionales Bewußtsein. Auch auf diese fundamentale phäno­
menologische Lehre wollen wir später noch zurückkommen (vgl. unten, S. 85 ff.).
Im gegenwärtigen Zusammenhang interessiert uns bloß, daß vermöge des in­
tentionalen Bezugs der Bewußtseinserlebnisse auf einen Gegenstand jede Art
von intentionalem Bezug - ob erkennend oder leer behauptend, ob auf imma­
nente oder transzendente Gegenstände gerichtet - zu phänomenologisch evi­
denter Gegebenheit gebracht werden kann.
Die Logischen Untersuchungen fassen diese phänomenologisch evidente Ge­
gebenheit der Transzendenz, zumindest in ihrer ausdrücklichen Selbstinterpre­
tation, noch sehr eng. Als voraussetzungslose erkenntnistheoretische Gege­
benheiten gelten allein die in phänomenologischer Reflexion gegebenen inten­
tionalen Akte. Und die für die erkenntnistheoretische Grundfrage nach der
Wahrheit wesentlich relevanten Erkenntnisakte sind anschaulich erfüllte Akte,
in denen der intendierte Gegenstand zur anschaulichen Selbstgegebenheit kommt
(vgl. unten, S. 1 67 ff.). Streng genommen läßt sich also über den Erkenntnisge­
genstand nichts anderes sagen, als daß er in einem näher zu beschreibenden
Akt und in einer näher zu bestimmenden Weise intendiert wird. Als Husserl
ab Ende 1906 dazu überging, auch das intentionale Korrelat dieses Aktes, d. h.
den intentionalen Gegenstand-gerade-so-wie er in diesem Akt intendiert wird,
als eine phänomenologisch evidente Gegebenheit zu bezeichnen (vgl. unten,
S. 92 ff.), hatte das für die Durchführung der phänomenologischen Erkenntnis­
theorie ganz entscheidende Konsequenzen. Denn nun war es möglich, im Rah­
men der phänomenologisch reduzierten Gegebenheiten nicht nur die inten­
tionale Vermeinung des Erkenntnisaktes, sondern auch >>die reine Korrelation
54 1 . Kapitel. Mathematik, Logik und Phänomenologie

zwischen Gegenständlichkeit und Erkenntnis . . . rein immanent und essentiell


. . . [zu] studieren<< (Hu VII, S. 387 f. ( 1 908)). Diese Korrelationsbetrachtung ent­
faltet jedoch erst dann ihre volle Wirkung, wenn sie auch die Korrelation zwi­
schen dem synthetischen Zusammenhang mannigfaltiger Erkenntnisakte und
dem darin anschaulich gegebenen einheitlichen intentionalen Gegenstand in ihre
Untersuchungen einbezieht. Ü berschreitet man dergestalt die Grenzen der bloß
punktuellen Korrelation von jetzigem Erkenntnisakt und seinem jeweiligen in­
tentionalen Korrelat, betrachtet man, wie im synthetischen Zusammenhang
mannigfaltiger anschaulicher Akte z. B. ein einheitliches Ding anschaulich selbst­
gegeben ist bzw. erscheint, so erwirbt man sich ein phänomenologisch eviden­
tes Verständnis des in einer Dingwahrnehmung implizierten kontinuierlichen
Erkenntnisprozesses (vgl. unten, S. 1 1 7 ff.).
Husserl nennt diese phänomenologische Untersuchung der Korrelation zwi­
schen einer geregelten Mannigfaltigkeit von Erkenntnisakten und dem sich in
ihnen bewußtseinsmäßig bekundenden einheitlichen intentionalen Gegenstand
eine Konstitutionsanalyse. Diese Konstitutionsanalyse, welche sich genauer be­
sehen noch auf den Begriff anschaulicher Repräsentation eines intentionalen
Gegenstands im Akt (vgl. unten, S. l l l f.) und den Begriff des erfüllungsmäßigen
synthetischen Zusammenhangs mannigfaltiger Akte (vgl. unten, S. 1 1 8 f.) stützt,
ist die eigentliche Antwort der Phänomenologie auf das Rätsel der Erkenntnis:
»Und die Aufgabe ist nun doch die, innerhalb des Rahmens reiner Evidenz
oder Selbstgegebenheit allen Gegebenheitsformen und allen Korrelationen nach­
zugehen . . . Und natürlich kommen da nicht nur die einzelnen Akte in Betracht,
sondern auch ihre Komplexionen, ihre Zusammenhänge der Einstimmigkeit
und Unstimmigkeit und die darin zutage tretenden Teleologien. Diese Zusam­
menhänge sind . . . Einheiten der Erkenntnis, die als Erkenntniseinheiten auch
ihre einheitlichen gegenständlichen Korrelate haben . . . . Auf diesem Wege ge­
langen wir schließlich auch zum Verständnis, wie das transzendente reale Ob­
jekt im Erkenntnisakt getroffen . . . werden kann, als was es zunächst gemeint
ist, und wie der Sinn dieser Meinung sich im fortlaufenden Erkenntniszusam­
menhange . . . schrittweise erfüllt. Wir verstehen dann, wie das Erfahrungsob­
jekt kontinuierlich sich konstituiert . . . << (Hu II, S. 1 3 ; vgl. auch S. 75).
Die konstitutive Erforschung dieser komplexen Korrelation von Erkennt­
nisakteil und Erkenntnisgegenstand nennt Husserl ab etwa 1908 eine transzen­
dental-phänomenologische Aufgabe: >>Diese Zusammenhänge zwischen wahrhaf­
tem Sein und Erkennen klarzulegen und so überhaupt die Korrelationen zwi­
schen Akt, Bedeutung, Gegenstand zu erforschen, ist die Aufgabe der tran­
szendentalen Phänomenologie . . . « (Hu XXIV, S. 427). Als Konstitutionsanalyse
erforscht diese transzendentale Phänomenologie, wie sich im erfüllungsmäßi­
gen Zusammenhang von anschaulichen Erkenntnisakten ein Gegenstand nach
§ 3. Phänomenologische Erkenntnistheorie 55

Sinn und Geltung aufbaut, ausweist, konstituiert. Qua konstituierter ist jeder
Erkenntnisgegenstand notwendig relativ auf seine Bestimmung und die Recht­
fertigung seines Wirklichseins im Zusammenhang des anschaulich konstituie­
renden Bewußtseins. Diese erkenntnistheoretische Fassung des Ursprungs »der
Objektivität in der transzendentalen Subjektivität, des relativen Seins der Ob­
jekte aus dem Absoluten<< (Hu VII, S. 382) bestimmt auch, richtig verstanden,
den Sinn von Busserls erkenntnistheoretischem Idealismus: Das transzenden­
tal-konstitutive Bewußtsein »ist die Wurzel, . . . die Quelle all dessen, was sonst
noch Sein heißt . . . Es trägt jedes andere . . . Sein . . . . Es ist . . . keine Einheit der
Mannigfaltigkeit: es weist auf nichts weiter zurück, aus dem es als Einheit ent­
nommen werden könnte und müßte. Alles andere Sein ist eben einheitliches
und weist mittelbar oder unmittelbar auf den absoluten Bewußtseinsfluß zu­
rück. Ist in seiner Weise der Bewußtseinsfluß, so ist alles, was sonst ist und ir­
gend sein kann, es bedarf keines weiteren . . . Die Sachlage rechtfertigt es, das
. . . wurzelgebende Bewußtsein als absolutes Bewußtsein zu bezeichnen im Ge­
gensatz zum relativen Sein, das Sein nur ist in Beziehung auf Bewußtsein und
zu ihm wesenhaft gehörige Gesetzmäßigkeit . . . . Andererseits freilich hätte es
seine Unzuträglichkeit, zu sagen > Es gibt nur absolutes Bewußtsein < als ob man
sagen wollte: alles andere Sein sei nur ein scheinbares . . . Das wäre freilich grund­
falsch. Die Naturobjekte sind selbstverständlich wahre Objekte, ihr Sein ist wah­
res Sein . . . Es ist grundfalsch, an dieses Sein einen anderen Maßstab anzulegen
[als] den es seiner Kategorie nach fordert und etwas darum zu diskreditieren,
weil es sich im Bewußtsein > konstituierendes <, im Bewußtsein wurzelndes ist.«
(Ms. B IV 6, S. 9 1 b f. ( 1 908))
2. Kapitel
Die methodische Grundlegung der Phänomenologie als Wissenschaft
vom reinen bzw. transzendentale n Bewußtsein

§ 1. Die phänomenologische oder transzendentale Epoche und Reduktion

Im Zweiten Teil der Vorlesungen über >>Erste Philosophie« von 1923/24, der
der >>Theorie der phänomenologischen Reduktion<< gewidmet war1, sagt Hus­
serl zum Abschluß einer Reihe von zuerst durchgeführten Erörterungen über
die >>cartesianische Methode der transzendentalen Reduktion<<, es sei >>klarge­
worden, daß wir den Zugang zur transzendentalen Subjektivität nicht nur fak­
tisch der beschriebenen Methode verdankten, sondern daß diese oder daß eine
verwandte Methode überhaupt unerläßlich ist, sie zu entdecken. Ich betone: ent·
decken . . . Begreiflicherweise mußte auch historisch die transzendentale Sub­
.

jektivität allererst entdeckt werden. In einer ersten ungereiften . . . Form tritt


die Entdeckung im Cartesianischen ego cogito hervor . . . . Eine reine wirkliche
Aufweisung der transzendentalen Subjektivität vollzieht sich erst in der jedem
Phänomenologen bekannten Methode der phänomenologischen Reduktion<<.2
Was Husserl phänomenologische oder transzendentale Reduktion nennt, bildet
also in seinen Augen ganz allgemein die unerläßliche Methode, die der Philo­
sophierende für sich vollziehen muß, um die reine oder transzendentale Sub­
jektivität, d. i. die der Phänomenologie als >>Grundwissenschaft der Philoso­
phie<<3 eigene Forschungsdomäne, zu gewinnen. Husserl bemüht sich daher in
seinen philosophiegeschichtlichen Betrachtungen, die er vor allem in späteren
Jahren durchführte, um eine kritische Erschließung der vorbereitenden Schrit­
te zu einer transzendentalen Grundwissenschaft bei den Denkern der Vergan­
genheit, indem er deren Erschauen und doch Verfehlen des eigentlichen Sinnes
der phänomenologischen Reduktion in ihren Werken aufzuspüren trachtet.4
Um angesichts der vielfältigen Problemaspekte dieser Methode in Husserls
ausgedehntem Werk zu einiger Klarheit zu kommen, versuchen wir zuerst in
Abstraktion von der philosophischen Motivation den schlichten Sinn der fun·
damentalen Leistung der phänomenologischen Reduktion als Methode des Zu­
gangs zur Forschungssphäre der Phänomenologie zu umreißen. Danach erst
wollen wir uns mit dem von Husserl erörterten Problem der Motivation zum

1Vgl. Hu VIII, Erste Philosophie, hrsg. von R. Boehm, Titelpagina.


2a.a.O., S. 7 8 - 80; Hervorhebung von den Verfassern.
3 Vgl. die Einleitung zu den Ideen I von 1 9 1 3 , Jahrbuch-Paginierung, S. 1.
4 Vgl. v.a. Hu VII, Erste Philosophie, Erster Teil: Kritische Ideengeschichte, hrsg. von R. Boehm;
Hu VI, Krisis, hrsg. von W. Biemel.
§ 1 . Phänomenologische Epoche und Reduktion 57

Vollzug der Reduktion befassen. Ferner werden wir uns mit der Frage der ver­
schiedenen Wege der Reduktion auseinandersetzen und mit einem Hinweis auf
Husserls Idee der Philosophie, die aufs engste mit dem Vollzug der Reduktion
zusammenhängt, schließen.

Die fundamentale Leistung der phänomenologischen Reduktion

In einem Text aus den zwanziger Jahren schreibt Husserl: >>Subjektivität, und
sie universal und ausschließlich ist mein Thema, und es ist ein rein in sich ab­
geschlossenes, independentes Thema. Daß das möglich ist und wie, das zu zei­
gen ist die Aufgabe der Beschreibung der Methode der phänomenologischen
Reduktion.5 Diese >>reine Thematik der Subjektivität<< (a.a.O. , S. 203) hat Hus­
serl selbst sich erst nach dem Erscheinen der Logischen Untersuchungen (1900/0 1)
allmählich methodisch reflektiert klargelegt. Es läßt sich zusammenfassend sa­
gen, daß die eigentliche Leistung der phänomenologischen Reduktion, wie Hus­
serl sie etwa um 1905 erfaßte, darin besteht, die bereits in den Logischen Un­
tersuchungen bearbeitete Forschungsdomäne der phänomenologischen Analy­
se in ihrer Eigenheit methodisch reinlich abzugrenzen, ihre reine, unvermischte
Gegebenheit methodisch sicherzustellen. Als Forschungsdomäne der deskripti­
ven Psychologie bzw. der phänomenologischen Analyse umgrenzte Husserl in
diesem Werk die konkrete Komplexion von Erlebnissen eines psychischen In­
dividuums, den Bewußtseinsstrom, wie er später sagen wird. Diese Domäne
kommt zu thematischer Gegebenheit ausschließlich durch die >>widernatürli­
che Anschauungs- und Denkrichtung« der Reflexion. >>Anstatt im Vollzuge der
mannigfaltig aufeinander gebauten Akte aufzugehen und somit ihren Gegen­
ständen ausschließlich zugewendet zu sein, sollen wir vielmehr > reflektieren <,
d. h. diese Akte selbst zu Gegenständen machen«. >>Unser theoretisches Interes­
se« sollen wir auf diese >>Akte, die bislang gar nicht gegenständlich waren<<, rich­
ten, >>und diese Akte sollen wir nun in neuen Anschauungs- und Denkakten
betrachten, sie analysieren, beschreiben, zu Gegenständen eines vergleichenden
und unterscheidenden Denkens machen«.6
Der entscheidende Gedanke für die phänomenologische Reduktion beruht
nun darauf, daß es über die in den Logischen Untersuchungen geleistete reflekti­
ve Blickwendung auf die Bewußtseinsakte als solche hinaus einer methodisch
reinen Fassung des in der Reflexion zum Gegenstand der Forschung gemachten
Bewußtseins selbst bedurfte. Eine konsequent reine Apperzeptionsweise des Be-

s Hu XIII, Zur Phänomenologie der lntersubjektivität, hrsg. von I. Kern, S. 200.


6 LU, Zweiter Teil, 190 1 , Einleitung § 3; vgl. auch V. Untersuchung, § 14, S. 364 f.
58 2 . Kapitel. Methodische Grundlegung der Phänomenologie

wußtseins selbst hatte Husserl in den Logischen Untersuchungen noch nicht her­
ausgearbeitet. Vielmehr begriff er Bewußtsein in der bewußtseinstheoretischen
fünften Untersuchung durchaus und ausdrücklich in natürlich-empirischer Ap­
perzeption, wie die Psychologie es tut: Bewußtsein ist eben einfach ein Bestand­
teil des empirischen, leiblich-geistig so und so bestimmten Menschen-Ich, dieses
oder jenes psychophysisch charakterisierten, im objektiven Raum lokalisierten,
der objektiven Zeit eingeordneten personalen Individuums. In einer Art philo­
sophischen Unbekümmertheit? thematisierte Husserl in diesem Werk Bewußt­
sein in der Reflexion aufdem Boden der empirisch-natürlichen Apperzeption,
die Reflexion blieb, in seiner späteren Redeweise gesprochen, der >>mundanen
Erfahrung<< verhaftet,8 in der das vorphilosophische, natürliche Leben verläuft.
Die Einstellung des natürlichen Lebens, »der ganze natürliche Zug des Den­
kens<< geht, wie Husserl bereits um 1905/06 deutlich erkannte, >>auf die empiri­
sche Apperzeption<<, die Erlebnisse erfahren >>gewohnheitsmäßige Beziehung
auf das empirische Ich<<, >>während es eigener Schulung bedarf, um die Grenze
reiner Gegebenheit innezuhalten<< (Ms. F I 26, S. 3a, Sa).
Die Schwierigkeit des Vollzugs der phänomenologischen Reduktion bringt
Husserl immer wieder mit ihrer Unnatürlichkeit in Verbindung. Schärfer noch
als im bloßen Habitus der Reflexion und reflektiven Forschung ist die eigentli­
che Unnatürlichkeit der phänomenologischen Selbstbesinnung nämlich gera­
de in der bezüglich der Reflexionsgegebenheiten selbst auftretenden Forderung
der >>Reinigung<< durch die Reduktion zu sehen. Denn >>bloße Reflexion, und
noch so sorgsam beobachtende, analysierende und noch so sehr auf mein rein
Psychisches, auf mein reines seelisches Innensein gerichtete<<, wie sie die phä­
nomenologische Analyse der Logischen Untersuchungen kennzeichnete, >>bleibt
ohne solche Methode [der phänomenologischen Reduktion] natürliche psycho­
logische Reflexion<< (Hu VIII, S. 79). Die eigentliche Leistung der phänomenolo­
gischen Reduktion dagegen ist es, durch die konsequente A usschaltung der
natürlichen empirischen Apperzeption des Bewußtseins dessen reine Gegeben­
heit methodisch innezuhalten. Metaphorisch beschreibt Husserl die Reduk­
tion als >>Methode, mir das empirisch-objektive Gewand abzuziehen, . . . das ich
mir immer wieder in einem - während des naiven Erfahrungslebens unbeach­
tet bleibenden - habituellen Apperzipieren angestalte<< (Hu VIII, S. 78; vgl.
auch S. 120 ff., S. 427). Durch diese methodische Ausschaltung der empirischen
Apperzeption in der Reduktion hört Bewußtsein auf, »menschliches oder sonst
ein empirisches Bewußtsein zu sein<<, das Wort Bewußtsein >>Verliert allen psy-

7 Vgl. D. Cairns, Conversations with Husserl and Fink, Den Haag 1975, das Gespräch vom

23. VI. 1932.


8 Hu VIII, S. 79.
§ 1 . Phänomenologische Epoche und Reduktion 59

chologischen Sinn, und schließlich wird man auf ein Absolutes zurückgeführt,
das weder physisches noch psychisches Sein im naturwissenschaftlichen Sinn ist.
Das aber ist in der phänomenologischen Betrachtung überall das Feld der Gegeben·
heit. Mit dem aus dem natürlichen Denken stammenden, vermeintlich so selbst­
verständlichen Gedanken, daß alles Gegebene entweder Physisches oder Psychi­
sches ist, muß man eben brechen<<, schreibt Husserl bereits 1906 (Hu xxrv, S. 242).
Entsprechend dieser methodisch reflektierten »Reinigung<< des Bewußtseins
selbst modifiziert Husserl fortan seinen Begriff der Reflexion: Der natürlichen,
empirischen Wahrnehmung, die er in äußere und psychologische (innere, adä­
quate) Wahrnehmung (Reflexion in den Logischen Untersuchungen) unterteilt,
setzt er im Rückblick auf die Logischen Untersuchungen nun gegenüber »die
phänomenologische Wahrnehmung (Reflexion), ein Ausdruck, den ich jetzt vor­
ziehen möchte dem früher von mir gebrauchten Ausdruck > adäquate Wahrneh­
mung<. Das Wesentliche ist zunächst nicht die Adäquatheit, sondern die phä­
nomenologische Reduktion und Stellungnahme. Die phänomenologische Wahr­
nehmung bezieht sich auf das reine Phänomen dieser Reduktion, das in ihr Wahr­
genommene hat keine Stelle im objektiven Raum, aber auch nicht in der
objektiven Zeit. Nichts von Transzendenz ist mitgesetzt: Das reine Phänomen
ist ein reines schlechthinniges Dies, eine absolute Gegebenheit und Unfraglich­
keit<<. Die innere, psychologische Wahrnehmung dagegen trägt eine »apperzep­
tive Beziehung auf Ichkörper und sonstige > äußere Natur<<<, sie verbleibt in der
»Sphäre der Natürlichkeit<< (Hu XXIV, S. 371).
Die phänomenologische Reduktion hat die »reine Apperzeptionsweise<< des
Bewußtseins in Kraft zu setzen, uns vom proteron pros hemas, dem natürli­
chen Bewußtsein, zum philosophischen Bewußtsein zu erheben (Hu XXIV,
S. 2 1 2). In einem Manuskript aus 1 9 1 0 schreibt Husserl: »Bewußtsein, das ist
der Grundfehler, der den letzten Grundfehler des Psychologismus ausmacht
(dem alle Empiristen nicht bloß, sondern auch Rationalisten unterliegen), ist
kein psychisches Erlebnis, kein Geflecht psychischer Erlebnisse, keine Sache,
kein Anhang (Zustand, Betätigung) an einem Naturobjekt. Wer errettet uns
vor der Realisierung des Bewußtseins? Das wäre der Retter der Philosophie,
ja der Schöpfer der Philosophie<< (Ms. A I 36, S. 193b).
Mit der Methode der phänomenologischen Reduktion wollte Husserl zutiefst
nichts anderes, als konsequent Bewußtsein nicht in solcher »Realisierung<<, Na­
turalisierung zum Forschungsthema zu machen, vielmehr es in seiner Eigenwe·
sentlichkeit aufzuklären, wie bereits seine »Allgemeine Einführung in die reine
Phänomenologie<<, die Ideen I von 1 9 1 3 , in der »Phänomenologischen Funda­
mentalbetrachtung<< aufs deutlichste herausstellte. 9 Es geht, auf einen Satz ge-

9 Hu III/ 1 , hrsg. von K. Schuhmann; vgl. insbesondere §§ 33; 39; 46; 49; 50; 5 1 , Anm.; 53.
60 2. Kapitel: Methodische Grundlegung der Phänomenologie

bracht, für das transzendentale Bewußtsein oder Ich darum, »seiner selbst in­
nezuwerden, sich selbst in seiner Reinheit thematisch zu erfahren und zum the­
matischen Erkenntnisfelde zu machen<< . Dazu, fügt Husserl bei, muß das Ich
erst in »Motivationen hineingeraten . . . und damit enden, phänomenologische
Reduktion zu üben<< . 10

Motivation zum Vollzug der phänomenologischen Reduktion

In etwa ist bereits den obigen Ausführungen zu entnehmen, daß angesichts der
ganz fundamentalen Bedeutung, die Husserl der phänomenologischen Reduk­
tion beimißt, die Motivation zu deren Vollzug aufs engste mit seinen Beweg­
gründen, überhaupt zu philosophieren, bzw. mit seiner Idee der Philosophie
zusammenhängen dürfte. In der Tat läßt sich Husserls allmählich erreichte Klar­
heit über die Grundgestalt der Methode der Reduktion als Rückgang auf das
reine Bewußtsein oder, wie er später immer mehr sagen wird, auf die transzen­
dentale Subjektivität auch verstehen als Ausdruck der schließlich gewonnenen
Einsicht in das, was Philosophie soll, und in den Boden und Weg, auf denen
das Intendierte erreicht werden kann.
Ausschlaggebend für die Erfassung einer genuin philosophischen Thematik wur­
de Husserls Auseinandersetzung mit den erkenntnis- oder vernunftkritischen,
den erfahrungslogischen Problemen, wie er sie nach dem Erscheinen der Logi­
schen Untersuchungen in radikalisierter Weise fortführte. Er erweiterte den Ho­
rizont seiner Problemstellung über die spezifisch logisch-mathematische Er­
kenntnis hinaus auf die erkennende, die theoretische Vernunft bzw. vernünftig
erkannte Gegenständlichkeit überhaupt. 1 1 Das Bedürfnis nach einer universal
gefaßten Aufklärung der Erkenntnismöglichkeiten erwuchs aus einer vertief­
ten Besinnung auf die in der Geschichte der Philosophie immer wieder aufle­
benden skeptischen A rgumentationen über das Verhältnis von Erkenntnis und
Gegenstand. Ganz allgemein gesprochen interessierte Husserl sich nicht für die
natürlich-objektiv gerichtete Erkenntnisthematik der verschiedenen wissen­
schaftlichen Disziplinen, deren evidente faktische Leistungen er stets anerkann­
te, 12 sondern für die »Aufklärung der Erkenntnis nach Wesensmöglichkeiten
ihrer Leistung<<, welche >>nicht auf den Wegen objektiver Wissenschaft<< (Hu
II, S. 6) liegt und überhaupt der natürlichen Einstellung durchaus fremd ist (vgl.
Hu II, 1 . Vorlesung). Die dem natürlichen Denken selbstverständliche Mög-
10
Hu VIII, Beilage XVIII »Sinn der phänomenologischen Reduktion«, S. 4 1 7.
11
Vgl. z. B. FTL, Hu XVII, § 100 »Historisch-kritische Bemerkungen zur Entwicklung der Tran­
szendentalphilosophie und insbesondere zur transzendentalen Problematik der formalen Logik«.
12
Ms. B II 1, S. 27a/b, zit. in Hu II, Einl. v. W. Biemel, S. X; Hu VII, Erste Philosophie, S. 246 f.
§ 1 . Phänomenologische Epoche und Reduktion 61

lichkeit der Erkenntnis, nämlich die Möglichkeit, eine Objektivität, die an sich
ist, was sie ist, in der Erkenntnis zu treffen, diese »Triftigkeit« als Leistung der
Erkenntnis wird hingegen in der philosophischen Skepsis radikal fraglich. Die
Möglichkeit objektiver Erkenntnis und Wissenschaft wird überhaupt geleug­
net und ein radikaler Subjektivismus alles Erkennens behauptet.
Die skeptischen Argumentationen (Hume, antike Sophistik des Protagaras
und Gorgias) machten auf Husserl einen tiefen Eindruck. Sie entfachten in ihm
aber gerade, wie es scheint, die für seine Idee der Philosophie alles entscheiden­
de >>transzendentale Wendung<<. In der Skepsis selbst nämlich entdeckte er de­
ren verborgene transzendentale Motivation und brachte sie zu konsequenter
Auswirkung. 13 Wenn in den skeptischen Argumentationen die naive Vorgege­
benheit der Welt als natürlicher Boden alles objektiv gerichteten Erkennens pro­
blematisch und damit einhergehend die Welt selbst nach prinzipieller Möglichkeit
ihrer Erkenntnis und nach dem prinzipiellen Sinn ihres Ansichseins in Frage
gezogen wurde, dann galt es nach Husserl, das Rätsel der Möglichkeit der Er­
kenntnis überhaupt auf einem letzten oder an sich ersten, nicht mehr hinter­
gehbaren bzw. in aller anderen Erkenntnis stets als geltend vorausgesetzten Boden
aufzuklären. Dies gelingt nach ihm eben dank der phänomenologischen Re­
duktion, die nicht mehr das psychologisch apperzipierte und dadurch bereits
als Bestandteil der rätselhaft gewordenen Welt gefaßte Bewußtsein, sondern das
reine Bewußtsein als letzten, »absoluten<< Forschungsboden freigibt. Es hängt
bei dieser transzen dentalen Betrachtungsweise alles daran, diesen reinen, abso­
luten Gesichtspunkt in radikaler Konsequenz innezuhalten; denn »Wer nur in
einem Punkt . . . auf Vorgegebenheiten der natürlichen Apperzeption sich stützt,
hat dafür durch Widersinn und Absurdität zu büßen<<, schreibt Husserl bereits
1906 (Hu XXIV, S. 1 87 f.). Oder, es kommt alles darauf an, gegenüber der
natürlich-objektiven Erkenntnis und Wissenschaft »prinzipiell dieses zum The­
ma und zum reinen Thema<< zu machen: »Wie die erkennende Subjektivität
in ihrem reinen Bewußtseinsleben diese Sinnesleistung, Urteils- und Einsichts­
leistung > Objektivität < zustande bringt; nicht, wie sie eine Objektivität, die sie
im voraus in der Erfahrung und im Erfahrungsglauben hat, theoretisch fort­
schreitend bestimmt, sondern, wie sie schon in sich zu diesem Haben kommt.
Denn sie hat nur, was sie in sich leistet; schon das schlichteste Ein-Ding-sich­
gegenüber-haben des Wahrnehmens ist Bewußtsein und vollzieht in überrei-
11
Vgl. v.a. Hu VII, wo Husserl eine »Kritische Ideengeschichte• vorträgt. Impulse auf Husserls
vertieftes Interesse für die skeptischen Argumentationen sind sicherlich von R. Richters Werk Der
Skeptizismus in der Philosophie, dessen erster Band 1904 erschien, ausgegangen. Husserl erhielt das
Werk vom Verfasser zugeschickt (K. Schuhmann, Husserl-Chronik, S. 8 1) und hat es genauer Lektü­
re unterzogen; auch im 1908 erschienenen zweiten Band finden sich Lesespuren von Husserls Hand
(z. B. bezüglich Hume)_ - Zu Husserls Begriff vom Skeptizismus vgl. schon Prolegomena zur rei­
nen Logik ( 1 900).
62 2. Kapitel: Methodische Grundlegung der Phänomenologie

eben Strukturen Sinngebung und Wirklichkeitssetzung: nur, daß Reflexion und


reflektives Studium dazu gehört, davon etwas, und gar etwas wissenschaftlich
Brauchbares, zu wissen<< (Hu VII, S. 67 f.).
Die »transzendentale Wissenschaft<< hat damit >>ein total anderes Thema als al­
le objektiven Wissenschaften, von ihnen allen getrennt, und doch als Korrelat
auf sie alle bezogen<< (Hu VII, S. 68). Bereits in Vorlesungen von 1907 betonte
Husserl in aller Deutlichkeit, daß »die Philosophie in einer gegenüber aller na­
türlichen Erkennntis neuen Dimension<< liege und daß dieser »eine neue, von
Grund auf neue Methode, die der > natürlichen < entgegengesetzt ist<<, entspre­
che. Es wird dort deutlich, daß Husserls Idee der Philosophie ursprünglich aus
der erkenntniskritisch-skeptischen Problematik hervorging, mit der Entdeckung
der phänomenologischen Reduktion sozusagen Fuß fassen konnte und im uni­
versal gestellten Problem der transzendentalen Konstitution sich zu entfalten
begann. Husserl führt nämlich ebendort aus, daß der, welcher jene völlig neue
Dimension und Methode leugne, die ganze der Erkenntniskritik eigentümli­
che Problemschicht nicht verstanden und damit auch nicht verstanden habe,
»was Philosophie eigentlich will und soll, und was ihr, aller natürlichen Erkennt­
nis und Wissenschaft gegenüber, Eigenart und Eigenberechtigung verleiht<< (Hu
Il, bes. S. 24 ff.). Wenig später, in den Ideen I von 1 9 1 3 , wird vollends deutlich,
daß die auszuführende Theorie der transzendentalen Konstitution die »neue
> Erkenntnistheorie<<< zu bilden hat (a.a.O., § 55, S. 107).
In der Selbstverständigung des Philosophierenden darüber, »Worauf er unter
dem Titel Philosophie eigentlich hinaus will, und inwiefern er ein prinzipiell
Anderes wollen muß als > positive < Wissenschaft<<, erwächst nach Busserl letz­
ten Endes »eine notwendige Motivation<<, »die über die natürliche Positivität
des Lebens und der Wissenschaft hinaustreibt und die transzendentale Umstel­
lung, die phänomenologische Reduktion notwendig macht<<. In seinem Schaf­
fen hat Husserl »verschiedene gleichmögliche Wege eingeschlagen, um eine solche
Motivation absolut durchsichtig und zwingend herauszustellen<<, um von der
natürlichen zur philosophischen Einstellung zu leiten, zu zeigen, daß der durch
die phänomenologische Reduktion freigelegte transzendentale Boden der spe­
zifisch philosophische Erfahrungsboden ist (vgl. Hu V, Nachwort zu meinen
Ideen, S. 147 f.).

Wt?ge der phänomenologischen Epoche und Reduktion

In Husserls Werk lassen sich vornehmlich drei Wegtypen nachweisen. Wir wol­
len diese hier nicht so sehr in ihren Grundgestalten, wechselseitigen Verknüp­
fungen und Ü berschneidungen durch die einzelnen Werke und Schaffensphasen
§ 1 . Phänomenologische Epoche und Reduktion 63

hindurch verfolgen 14, als vielmehr versuchen, sie in einigen Strichen im Hori­
zont von Husserls Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Geschichte der
Philosophie zu charakterisieren. 15 Sosehr zwar im frii h en Ruf ,,zu den Sachen
selbst<< ein antihistorischer Ton mitschwingen mochte16, stand Husserl selbst
sicherlich nicht nur mehr oder weniger unbewußt unter dem Einfluß zeitge­
nössischer Philosopheme, sondern fand in der Besinnung auf den Geistesge­
halt der von ihm studierten Philosophen Hilfe zur Klärung der »VOn den
Problemen selbst ausgehenden Forderungen<< wie auch Anregung zu vertieften
bzw. neuen Problemstellungen. 17 In seiner reifen kritischen Ideengeschichte
von 1923/24 steht der berii h mte Satz: »Der tiefste Sinn der neuzeitlichen Phi­
losophie ist der, daß ihr innerlich die Aufgabe zugewachsen ist, deren Trieb­
kraft, sei es auch ungeklärt, sie immerfort in Bewegung setzt: nämlich, den
radikalen Subjektivismus der skeptischen Tradition in einem höheren Sinn wahr­
zumachen<<, und zwar »durch den transzendentalen SubjektivismuS<< auf dem
Grunde der phänomenologischen Reduktion (vgl. Hu VII, S. 61).
Für den Weg zum transzendentalen Subjektivismus, wie Husserl selbst ihn
in der transzendentalen Phänomenologie, »der geheimen Sehnsucht der gan­
zen neuzeitlichen Philosophie<< (Ideen I, S. 1 1 8), beschritt, waren in seinen Au­
gen von hervorragender Bedeutung Descartes' »Fundamentalbetrachtung<< in
den Meditationes de prima philosophia, Kants >>Kopernikanische Wendung<< von
der alten ontologischen Thematik zur transzendentalen Sinnesdeutung der Welt
als Welt der möglichen Erfahrung in der Kritik der reinen Vernunft und die
mit dem englischen Empirismus (von Locke bis Hume) verknüpfte Psycholo­
gie der »inneren Erfahrung<<, die Husserl durch Brentano vermittelt bekam. So
läßt sich vom »cartesianischen Weg<<, vom »Ontologischen Weg<<, den wir viel­
leicht auch als »kantianischen Weg<< bezeichnen dürfen, und vom »Weg über
die deskriptive, intentionale Psychologie<< reden.

Der »Cartesianische« Weg

Husserl schreibt 1923/24: »Die Keime der Transzendentalphilosophie finden


wir historisch bei Descartes<< (Hu VIII, S. 4). Fast zwanzig Jahre frii h er, zur
Zeit der ersten Einführung der Methode der phänomenologischen Reduktion

14 Siehe diesbezüglich v.a. I. Kern, Husserl und Kant, § 18 sowie R. Boehm, Einleitung in Hu VIII.
15 Es zeigt sich hierbei die Möglichkeit »einer ideengeschichtlichen Einleitung in die transzen­
dentale Phänomenologie und phänomenologische Philosophie� (Hu VIII, S. 3), die allenfalls einen
vierten Wegtypus ausmachen könnte (vgl. Hu VIII, Hu VI, Teile I und II).
16 Vgl. I. Kern, Husserl und Kant, S. 306.
17 Vgl. "Philosophie als strenge Wissenschaft«, wgos, 1 9 1 1 , bes. S. 340 ( Hu XXV, S. 61).
=
64 2. Kapitel. Methodische Grundlegung der Phänomenologie

in seine Phänomenologie, notierte Husserl im Banne der skeptisch gegen die


Erkenntnismöglichkeit überhaupt gerichteten Argumentationen: >>Wenn unklar
und zweifelhaft geworden ist, wie Triftigkeit der Erkenntnis möglich sei, und
wenn wir geneigt werden zu zweifeln, ob dergleichen möglich sei, müssen wir
zunächst zweifellose Fälle von Erkenntnissen oder möglichen Erkenntnissen
im Auge haben, die ihre Erkenntnisgegenstände wirklich treffen, bzw. treffen
würden . . . . Da bietet uns einen Anfang die Cartesianische Zweifelsbetrachtung:
. . . die cogitationes sind die ersten absoluten Gegebenheiten.<< (Hu li, S. 4)
Insbesondere im Zusammenhang dieser skeptischen Argumentationen und
der meistens damit einhergehenden Berufung auf Descartes' Verfahren des Rück­
ganges auf das ego cogito nennt Husserl seine Methode auch die phänomeno­
logische oder transzendentale Epoche. Der vorherrschende Gedanke hierbei ist
der der methodischen Außergeltungsetzung, Einklammerung oder Ausschal­
tung der ganzen transzendenten Erfahrungswelt, wie sie in gerader, »positiver<<
Erkenntnis und Wissenschaft erkannt ist, um dadurch die reine, immanente
konstituierende Subjektivität in den Blick zu bringen, die »übrig bliebe<< (»Re­
siduum<<-Gedanke), auch wenn die Welt nicht wäre (»Weltvernichtungs<<­
Gedanke; siehe unten, S. 65 f.), und von der daher der Anfang der neuartigen
transzendentalen Wissenschaft zu machen sei (vgl. Hu li, 1907; Ideen I, 1 9 1 3 ;
H u VIII, 1923/24; H u I, 1929).
Nach Husserl war bei Descartes »genau der Bereich jenes > bloß Subjektiven <
wissenschaftlich herausgestellt, auf das der skeptische Relativismus alles erkenn­
bare Sein - nur eben skeptisch - reduzierte<< (Hu VII, S. 66). So wird er nicht
müde, die »beispiellose<<, Descartes selbst und allen späteren Erkenntnistheo­
rien allerdings verborgen gebliebene »Bedeutung des cartesianischen Anfangs<<
zu unterstreichen, »seine Bedeutung als Freilegung des Reiches des reinen Be­
wußtseins mit dem reinen Ich<<, und immer wieder »die notwendige und aus­
schließliche Rückbeziehung der Erkenntnistheorie auf dieses Reich<< zu betonen.
In den beiden ersten Meditationen Descartes' findet er »den einzigen Ansatz
eines wahren Anfangs derjenigen Erörterungen, die zu reinen Formulierungen
der eigentümlichen Problematik der Vernunft führen können<< (Hu VIII, S. 328).
Entscheidend für Husserls eigenen Weg ist indessen die schon an der Car­
tesianischen cogitatio vorzunehmende phänomenologische Reduktion (vgl.
Hu XXIV, 1906/07; Hu li, 1907, S. 7). Bereits 1906 schreibt Husserl, »das erste
und Grundstück der erkenntnistheoretischen Methode<< sei die »skeptische Stel­
lungnahme, diese absolute Epoche, die keine Vorgegebenheit anerkennt und aller
natürlichen Erkenntnis ihr non liquet als reine Urteilsenthaltung gegenübersetzt<<
(Hu XXIV, S. 1 87). Sosehr Husserl Descartes' revolutionären Rückgang auf das
ego cogito als vorbildlich einschätzte, war es doch stets seine Kritik, daß Des­
cartes selbst das ego cogito noch als »Weltendchen<< verstand und die reine
§ 1 . Phänomenologische Epoche und Reduktion 65

transzendentale Subjektivität verfehlte. In der phänomenologischen Reduktion,


d.i. der reinen Apperzeptionsweise des Bewußtseins, liegt, wie Busserl schon
1906 sagen kann, die >>notwendige Korrektion der Cartesianischen Evidenzbe­
trachtung<<, des Sinnes, daß fortan nur >>Von der Evidenz des in der strengsten
phänomenologischen Reduktion direkt Aufgewiesenen und auf diesem Funda­
ment rein immanent Erkennbaren« die Rede sein dürfe, nicht mehr von der
>>Evidenz des sum, die im natürlichen, psychologischen Sinn meine Existenz
feststellt« (Bu XXIV, S. 2 1 6).
Die Frage ist nicht mehr die: >>Wie kann ich, dieser Mensch, in meinen Erleb­
nissen ein Sein an sich, etwa draußen außer mir und dgl. treffen«, sondern auf
dem Boden der phänomenologischen Reduktion stellt sich >>jetzt die reine
Grundfrage: wie kann das reine Erkenntnisphänomen etwas treffen, was ihm
nicht immanent ist . . . ?« (Bu II, S. 7). Descartes selbst verfehlte in Busserls Au­
gen die reine Problemformulierung, sosehr er an sie rührte, weil er >>nicht in
der rechten Weise bei der Skepsis in die Lehre gegangen war« (Bu VII, S. 64).
Er verlor sich >>im Versuch, das Recht der Evidenz und ihrer transsubjektiven
Tragweite zu beweisen, in früh gesehene und viel beklagte Zirkel« (Bu VII, S.
65). Busserl dagegen kommt es auf einen >>Beweis«, auf eine >>Sicherung« der
Transzendenz oder Objektivität gar nicht an (vgl. Bu VII, S. 65; Krisis, S. 193).
Es geht im ausschließlich - wie oben bereits berührt - um eine A ufklärung
der Wesensmöglichkeiten der Erkenntnis aus Quellen des in seiner Reinheit
thematisierten intentional leistenden Bewußtseinslebens, das in mannigfaltigen
Weisen Objektivität konstituiert.
Dieser konsequent reflexive Ansatz, der jede Rede über Objektivität >>gerade­
hin« in ihrem Sinne radikal umwertet und Bewußtsein als Funktion, in sich
selbst Wirklichkeit zu konstituieren, sichtbar macht (vgl. Ms. M I 1, S. 89),
kommt auch in der oftmals Anstoß erregenden (und wohl auch von Busserl
selbst teils mißverständlich vorgetragenen) Erörterung der Möglichkeit des Nicht­
seins der objektiven Welt (der >>Weltvernichtung«) zum Tragen. Für Busserl bil­
det sie auf dem >>Cartesianischen« Weg ein besonders wirksames gedankliches
Experiment für eine radikal durchgeführte Aufhebung der natürlichen Lebens­
einstellung und theoretischen Einstellung, in der die Welt für mich da ist (Bu
VII, S. 340). Es handelt sich auch hier um die Gewinnung des intentional lei­
stenden Bewußtseinslebens in seiner transzendentalen Reinigung als die abso­
lute phänomenologische Gegebenheit, als ein >>eigenes, in eigener, von der Welt­
erfahrung unabhängiger Erfahrung gegebenes Seinsfeld, das nun eo ipso ein Feld
möglichen Urteilens und dann wohl auch einsichtigen und wissenschaftlichen
Urteilens werden kann« (Ideen I, S. 635) Das Durchdenken des möglichen
.

Nichtseins der objektiven Welt, diese ,,fiktive Bypothesis« (Bu VII, S. 340),
hält sich bei Busserl de facto ausschließlich auf dem Boden der rein reflexiven
66 2. Kapitel: Methodische Grundlegung der Phänomenologie

Bewußtseinsthematik und betrachtet nicht irgendwie spekulativ >>VOll außen«


Welt und Bewußtsein, um dann, z. B. aufgrund einer Zweifelsbetrachtung, fest­
zustellen, daß Bewußtsein trotz Weltvernichtung als »Residuum<< übrigbliebe
- ein sicherlich unvollziehbarer Gedanke. Vielmehr ist »Weltvernichtung<< selbst
der Titel für eine allein aus der Reflexion auf das Bewußtseinsleben und sei­
nen denkmöglichen Verlauf gewonnene Einsicht in den »Korrelatstil der Un­
stimmigkeit in dem Universum meiner möglichen cogitationes<<, in die »We­
sensmöglichkeit der Abwandlung<< des Stils der Einstimmigkeit (Hu VII, S. 337 f.;
Ideen I, S. 634). Umgekehrt, sozusagen »positiV<< gewendet, handelt es sich
in der reflexiven Bewußtseinsthematik der phänomenologischen Reduktion
darum, zu verstehen, wie Glaube mit seinem Gehalt »Welt<< zustandekommt
(vgl. Ideen I, S. 634).
Von der skeptischen Problematik geleitet, beschränkte Husserl anfänglich sein
Forschungsfeld auf die Reflexion auf den aktuellen Bewußtseinsstrom und ver­
fügte noch nicht über die Mittel, die Daseinsgeltung des intentionalen Objekts,
gar der ganzen »Welt<< (qua cogitatum), auf dem Boden bloß momentaner Er­
lebnisse transzendental verständlich zu machen. In solcher Beschränkung war
ihm insbesondere auch der Zugang zu einer subjektiven Aufklärung der objek­
tivierenden Leistung »Welt als intersubjektive Einheit<< versperrt, und ein »tran­
szendentaler Solipsismus<< schien das Los des radikalisierten Rückgangs auf das
ego cogito zu sein. Der Schein einer solchen Konsequenz haftet auch Husserls
späteren Heranführungen an die transzendentale Subjektivität auf dem carte­
sianischen Wege an. Der große Nachteil für den auf diesem Wege an den phä­
nomenologischen Gesichtspunkt herangeführten Leser liegt, wie Husserl in der
Krisis sagen wird, darin, daß dieser Weg »zwar wie im Sprunge schon zum tran­
szendentalen ego führt, dieses aber, da jede vorgängige Explikation fehlen muß,
in einer scheinbaren Inhaltsleere zur Sicht bringt, in der man zunächst ratlos
ist, was damit gewonnen sein soll, und gar, wie von da aus eine neue und für
eine Philosophie entscheidende, völlig neuartige Grundwissenschaft gewonnen
sein soll<< (Hu VI, S. 158).

Der »Ontologische« Weg

Auf einem anderen möglichen Weg zur transzendentalen Einstellung hält Hus­
serl denn auch »in umgekehrter Richtung Ordnung, als wie es der Cartesiani­
sche Ansatz nahelegt<< (Hu VI, S. 175). Er nimmt hier den Ausgang nicht »direkt<<
beim ego cogito, sondern von der objektiven, ontologischen Seite, und er will
das Bedürfnis nach einer korrelativen transzendental-subjektiven Betrachtung
zur Verständlichmachung des Sinnes der Objektivität wecken. Dieses Vorgehen
§ 1 . Phänomenologische Epoche und Reduktion 67

entsprach durchaus auch Busserls eigenem Entwicklungsgang von den forma­


len Wissenschaften her. 18 Seit etwa 1907/08 war es auch stark von seiner Aus­
einandersetzung mit Kants Idee der Transzendentalphilosophie geprägt. 19 Es ist
bemerkenswert, daß auch schon Karrt selbst unter dem Einfluß des Skeptikers
Bume zur Installierung seiner transzendentalen Weltinterpretation geführt wur­
de. Im Entwicklungsgang seiner transzendentalen Phänomenologie sieht Bus­
serl sich »in den wesentlichen Ergebnissen<< seiner »systematisch von den absolut
letzten Quellen aller Erkenntnis emporsteigenden Arbeit . . . nach großen Li­
nien mit Karrt einig<< (Bu VII, S. 235).
Busserls ontologischer Weg zur transzendentalen Subjektivität besteht, all­
gemein gesprochen, darin, auf die prinzipielle letzte >> Unverständlichkeit<< als
Grundcharakter aller natürlichen, vorwissenschaftliehen oder wissenschaftli­
chen Erkenntnis von Objektivem (von Seienden, Onta) aufmerksam zu ma­
chen, die solange bestehe, als diese »gerade<< Erkenntnis nicht überhaupt und
universal im vollen konkreten Zusammenhang der intentional leistenden Sub­
jektivität betrachtet, in dieser konkreten Korrelation aufgeklärt wird. >>Jede po­
sitive Wissenschaft ist . . . von einer abstrakten Einseitigkeit, dadurch daß in ihr
das transzendentale Leben und Leisten des erfahrenden, denkenden, forschen­
den und begründenden Bewußtseins anonym bleibt, ungesehen, untheoretisiert,
unverstanden<< (Bu VIII, S. 27). Wie Kant stellt Busserl die >>transzendentalen
Fragen<<, sucht er >>in der Subjektivität, bzw. in der Korrelation zwischen Sub­
jektivität und Objektivem die letzte Bestimmung des Sinnes der Objektivität,
die durch Erkenntnis erkannt wird<< (Bu VII, S. 386). Es handelt sich für ihn,
wie schon für Kant, um die >>transzendentale Subjektivierung, die sich mit der
echten Objektivität nicht nur verträgt, vielmehr ihre apriorische Kehrseite ist<<
(vgl. FTL, S. 263). Das >>Apriori der Subjektivität<< oder das >>phänomenologi­
sche Apriori der Konstitution<< gilt ihm als >>das letztverständliche und alles
andere erst verständlich machende<<.20
Diese Einstellung, die von der als gegeben hingenommenen Erfahrungswelt
wegführt und konsequent subjektiv auf das Welterfahren selbst gerichtet ist,
hat ihre Vorbildlichkeit also in Kants >>Kopernikanischer Wendung<< als Um­
wendung der gesamten natürlichen Denkungsart. Auf diesem Weg liegt für das
konkretere Verständnis der transzendentalen Sinnesdeutung der Welt gegenüber
dem Cartesianischen Weg der Vorteil vor allem darin, daß hier keine skepti­
sche Epoche im Sinne der Außergeltungssetzung der Welt und des Rückzuges
auf ein absolut gegebenes Fundament zu vollziehen ist, vielmehr werden die
18
Vgl. oben Kapitel 1. Vgl. auch etwa Hu IX, § 3 und FTL, § 100.
19
Husserls Kamstudium war in bedeutsamer Weise von Natorps Kaminterpretation und Auf­
fassung der philosophischen Psychologie inspiriert; vgl. I. Kern, Husserl und Kant, § 17, S. 194.
10
Vgl. I. Kern, Husserl und Kant, die S. 193 gegebenen Zitate.
68 2. Kapitel. Methodische Grundlegung der Phänomenologie

Erfahrungsdinge und schließlich die ganze Welt in ihren Grundstrukturen oder


in ihren ontologischen Strukturen als >>Index« oder >>Leitfaden« für das subjek­
tive Apriori der Konstitution begriffen. Durch diese der transzendentalen Wen­
dung vorangehende Orientierung an der natürlichen Erfahrung erhält die
transzendentale Thematik selbst von Anfang an Inhaltsfülle und eine feste Lei­
tung: Es besteht die Aufgabe, die ontologische oder objektive Strukturierung
der natürlich erfahrenen Welt als Erscheinungszusammenhänge rein aus den
subjektiven Quellen intentionaler Bewußtseinsleistung verständlich zu ma­
chen.21
Die Durchbrechung der Einschränkung des phänomenologischen Feldes auf
den aktuellen Bewußtseinsstrom (s.o. S. 66) wird auf dem ontologischen Weg
von den Sachen selbst gefordert. Deren objektives Apriori indiziert phänomeno­
logische Bewußtseinszusammenhänge, wirkliche und mögliche Regelungen des
Bewußtseins als reinen Bewußtseins von Objektivem.22 Es kommt in der phä­
nomenologischen Erfahrung zur reflexiven Thematik eines ganzen, als Horizont
stilmäßig bestimmten Systems sich zeitlich folgender aktueller und möglicher,
ineinander intentional implizierter Erlebnisse und vor allen Dingen zur Erwei­
terung der phänomenologischen Reduktion auf die Intersubjektivität, in der al­
lein der volle Sinn der Objektivitäten als >>intersubjektiver Einheiten<< ihrem
objektiven Apriori gemäß konstitutiv aufgeklärt werden kann.23 In dieser Her­
anführung zur transzendentalen Subjektivität auf dem ontologischen Weg kann
Busserl denn auch folgende, an Kants >>Kopernikanische Wendung<< anklingen­
de Bestimmung der phänomenologischen Reduktion geben: >>Phänomenologi­
sche Reduktion ist eben gar nichts anderes als Einstellungsänderung, in der
konsequent und universal die Erfahrungswelt als Welt der möglichen Erfahrung
betrachtet wird, und d.i. das erfahrende Leben betrachtet wird, in dem das Er­
fahrene jeweils - und universal - Erfahrungssinn ist mit bestimmtem intentio­
nalem Horizont<< (Hu VIII, S. 436).
Busserl wirft indessen Kant einerseits mangelnde Radikalität bzw. >>Hoch­
stufigkeit<< im Ansatz der transzendentalen Problematik vor und spielt bis in
die Krisis Descartes' Rückgang auf das ego cogito gegen ihn aus (Hu VI, S. 102 f.;
S. 437). Andererseits und vor allem aber kritisiert er von früh an und wieder
bis in die Krisis Kants >>mythische Begriffsbildung<< und Reden von >>transzen­
dental-subjektiven > Vermögen <, > Funktionen <, > Formungen «<, vom >>Ich der
transzendentalen Apperzeption<< und dem >>Ding an sich<< als >>konstruktive Be-

11
Zu Husserls Lehre von der formalen und den materialen Ontologien und der letztlich alles
fundierenden Ontologie der Lebenswelt vgl. Kapitel 1, § 2, S. 41 ff. und Kapitel 9.
" Vgl. etwa Hu XIII, Nr. 6, 1910/ 1 1 , S. 1 80, 1 82.
23 Hu XIII, Nr. 6, §§ 36 ff. ; Hu VIII, Beilage XX.
§ 1 . Phänomenologische Epoche und Reduktion 69

griffe<< (Hu VI, §§ 30 f. , § 57). Er hält Kam vor, daß er, >>Von der WolfEschen
Ontologie kommend . . . auch in der Transzendentalphilosophie immer wesent·
lieh ontologisch gerichtet<< blieb und >>die systematische Durchführung eines kor­
relativen konkret anschaulichen Studiums der leistenden Subjektivität und ihrer
Bewußtseinsfunktionen . . . für die Erledigung seiner Problematik für entbehr­
lich<< hielt. Kam habe trotz »erster Tiefblicke in das Apriori des sinngebenden
Bewußtseinslebens<< - besonders in der »subjektiven Deduktion<< der 1. Aufla­
ge der Kritik der reinen Vernunft - »eine transzendentale Subjektivität kon·
struiert<<.24
Den Grund für dieses mythisch-konstruierende Verfahren sieht Husserl dar­
in, daß Kam »jeden Rekurs auf die Psychologie als widersinnige Verkehrung der
echten Verstandesproblematik<< fürchtete. Dies geschah, weil Kam »in seiner Auf­
fassung von der Seele und der Aufgabensphäre einer Psychologie<< vom Empi­
rismus, den er andererseits bekämpfte, abhängig blieb, es geschah, weil ihm »als
Seele die naturalisierte und als Komponente des psycho-physischen Menschen
in der Zeit, der Natur, der Raumzeitlichkeit, gedachte Seele gilt. Da konnte
freilich das transzendental Subjektive nicht das Seelische sein<<. Sowie wir Kants
»transzendentale Subjektivität aber von der Seele unterscheiden, geraten wir
in ein unverständlich Mythisches<< (Krisis, S. 1 1 7 f.).

Der Weg über die deskriptive, intentionale Psychologie

Der zuletzt erwähnte Vorwurf Husserls an Kam verhilft zur Einsicht in die
Husserl selbst eigentümliche Klärung des transzendentalen Problems, die unter
ausdrücklicher Rücksichtnahme auf die »darauf bezogene Funktion der Psycho·
logie<< geschieht.25 Die Beziehung zwischen Phänomenologie und Psychologie,
die in Husserls eigener Entwicklung ständig gegenwärtig war, hat er vor allem
in den zwanziger Jahren und wiederum in der Krisis methodisch durchdacht
und einen >>Weg in die phänomenologische Transzendentalphilosophie von der
Psychologie aus<< (Krisis, III B) als eine weitere Möglichkeit der Heranführung
an die transzendental-phänomenologische Reduktion entworfen.
Bei dieser Psychologie handelt es sich allerdings nicht um die positiv­
wissenschaftliche, experimentelle Psychologie seiner Zeit, die Psychisches als
ein Vorkommnis der Natur, als real-kausalen Annex an animalischen Leibern
studierte. Der zentrale Gedanke aller Betrachtungen Husserls über die Idee ei­
ner Psychologie, die er als deskriptive, reine, phänomenologische oder inten-

14 Vgl. Hu VII, 5. 227 und 5. 28 1 f. bzw. Krisis, § 3 1 , 5. 120.


'; Vgl. den Titel des III. Teils der Krisis.
70 2. Kapitel. Methodische Grundlegung der Phänomenologie

tionale Psychologie betitelt, liegt darin, daß er sie als die Thematisierung der
Eigenwesentlichkeif des Psychischen begreift, d. h. als Studium des dem Psychi­
schen gegenüber dem Physischen eigenen Wesens und als Wesenswissenschaft
gegenüber einer Tatsachenwissenschaft.26 In Husserls Konzeption des dem Psy­
chischen Eigenwesentlichen zeigt sich der von ihm stets hervorgehobene tiefe
Einfluß, der von Brentanos Wesenscharakterisierung der »psychischen Phäno­
mene<< als solcher, die >>Beziehung auf einen Inhalt<<, >>Richtung auf ein Ob­
jekt<< haben, auf ihn überging. Husserl brachte die von Brentano empfangene
Lehre von der verschiedenen >>Weise der Beziehung des Bewußtseins auf einen
Inhalt<< (vgl. V. LU, § 1 0), d.i., wie Husserl sagen wird, von der Intentionali­
tät27 als dem Grundwesenszug alles psychischen Lebens in seiner Phänomeno­
logie zu reiner Auswirkung. Seine radikale Loslösung von der in der damaligen
Psychologie gängigen Auffassung des Seelenlebens als >>Analogon physischen
Naturgeschehens<<, als immer neu sich wandelnde Komplexion von Elementen
mit entsprechenden Kausalgesetzen, als welche es auch von Brentano noch be­
trachtet worden sei, war für seine eigene Idee der >>deskriptiven Psychologie<<
geradezu entscheidend. Er stellte scharf heraus, >>daß es zum Wesen des Bewußt­
seinslebens gehört, an Stelle des räumlichen Außereinander, Ineinander und
Durcheinander und räumlicher Ganzheit ein intentionales Verflochtensein, Mo­
tiviertsein, ineinander meinend Beschlossensein in sich zu bergen und in einer
Weise, die nach Form und Prinzip im Physischen überhaupt kein Analogon
hat<< (Hu IX, S. 3 6 f. , Hu VIII, S. 123 f.).
Besonders bedeutsam ist, daß sich der allgemeinste Wesenscharakter der In­
tentionalität psychischen Lebens aus der Evidenz der inneren Erfahrung (der
Reflexion) direkt schöpfen und als »ein in mannigfaltigen nachweisbaren For­
men und zugehörigen Synthesen sich vollziehendes Leisten<< (Hu IX, S. 36) des­
kriptiv herausstellen läßt (vgl. Hu IX, S. 3 1). Durch Brentano vermittelt greift
Husserl damit die von ihm stets in ihrer Bedeutung für seine Phänomenologie
hochgehaltene »empiristische<< englische Tradition von Locke bis Hume auf. Er
verwandelt deren schließlich in Humes Skeptizismus endenden Sinn jedoch ra­
dikal mittels der phänomenologischen Reduktion bzw. reinen Apperzeption
des Bewußtseins. Die reflektive, »innere Erfahrung<< vom psychologischen Be­
wußtsein wird zur Thematisierung der anonymen »transzendentalen Erfahrung<<
des reinen Bewußtseins, die deskriptive Psychologie der »psychischen Phäno­
mene<< zu einer Analyse der Intentionalität des Bewußtseins, die Husserl stets
weiter in die Tiefen des Wesensbaues des reinen, meines und des intersubjektiv
vergemeinschafteten, Bewußtseins führte. Mittels der subtil analysierten »irrten-

'6Zu »Wesenswissenschaft<< vgl. unten § 2, S. 74 ff. .

" Zu >>Intentionalität<< vgl. unten Kapitel 3, § 1 .


§ 1 . Phänomenologische Epoche und Reduktion 71

tionalen Implikationen<<28 des Bewußtseins und des unabtrennbar zugehörigen


universalen intentionalen Korrelates versuchte Husserl, die Eigenwesentlichkeit
der Seelen, die in der natürlich-mundanen Einstellung als in Leibern lokalisier­
tes Außereinander erscheint, als »ein reines intentionales Ineinander<<, als »All­
einheit eines endlosen Lebenszusammenhanges<< zu erweisen und die schlicht
seiende Welt als >>das allgemeinschaftliche Phänomen >Welt <, >Welt für alle wirk­
lichen und möglichen Subjekte <, von denen keines sich der intentionalen Im­
plikation entziehen kann<<, verständlich zu machen (Krisis, S. 259; Hu VIII,
S. 1 53).
In der »reinen Auswirkung<< (Krisis, S. 259) der so verstandenen deskripti­
ven Psychologie als rein reflexiver Analyse der mannigfaltigen Bewußtseins­
intentionalitäten mit ihren lmplikationen und Korrelaten liegt nun nach Hus­
serl, bei radikaler und universaler Innehaltung der reinen Thematik, das U rn­
schlagen in die transzendental-philosophische Betrachtung der Welt notwendig
beschlossen, nämlich die radikale Einstellungsänderung, in der die Welt, Ob­
jektivitäten jeder Art, eben ausschließlich als intentionale Korrelate von Be­
wußtseinsmannigfaltigkeiten begriffen und nicht natürlich-geradehin als vor­
gegeben vorausgesetzt werden (vgl. Krisis, S. 259 et passim). Das »Seelische<< oder
»Psychische<<, das in der natürlichen Einstellung und positiv eingestellten Psy­
chologie als unselbständige Seinsschicht an Menschen und Tieren erscheint, ver­
liert dabei selbst den Sinn eines weltlich-phänomenalen Vorkommnisses, es ist
das »Rein-Apperzipierte<<, das Transzendental-Subjektive (vgl. z. B. Hu VIII,
S. 427).
Auf dem Hintergrund der »Aufhebung<< der rein deskriptiven Psychologie
in der transzendentalen Phänomenologie, die Husserls eigene Entwicklung spie­
gelt, gewinnt die Idee eines Weges über die reine Psychologie zur transzenden­
talen Phänomenologie ihre volle Bedeutung als eine vorzügliche »Propädeu·
tik « .29 Spätestens seit den zwanziger Jahren spricht Husserl von phänomeno­
logisch-psychologischer Reduktion, in welcher in der phänomenologischen oder
reinen Psychologie, ohne den in der natürlichen Einstellung, in der auch diese
Psychologie befangen bleibt, selbstverständlichen Seinsglauben hinsichtlich der
Erfahrungswelt irgendwie in Frage zu ziehen, auszuschalten oder einzuklam­
mern, die »reine psychologische Subjektivität<< thematisiert wird. Genau diese
reflexive Erkenntnis von der Eigenwesentlichkeit des Bewußtseinslebens gewinnt

28 Vgl. dazu unten Kapitel 5.


29 Vgl. z. B. Hu IX, S. 344, S. 6 16; überhaupt die Schriften der zwanziger Jahre: Hu VIII, Hu
IX (Haupttext und Abhandlungen). Instruktiv ist auch der Umarbeitungsversuch der Ideen I von
1929 in Richtung auf einen Weg über die Psychologie zur transzendentalen Phänomenologie an­
stelle des 1 9 1 3 vordergründigen »cartesianischen<< Weges, der bei den Zeitgenossen viel Anstoß er­
regt hatte (vgl. die von K. Schuhmann besorgte Neuausgabe der Ideen I, 2. Halbband, 1976).
72 2. Kapitel. Methodische Grundlegung der Phänomenologie

aber auch der transzendental-phänomenologisch Eingestellte in durchgängiger


Parallele zur reinen Psychologie.30 In der Krisis schreibt Husserl schließlich, die
reine Psychologie, die historisch außer in seiner eigenen reinen Phänomenolo­
gie gar noch nicht aufgetreten sei31 , sei >>nichts und kann nichts anderes sein
als dasselbe, was vorweg in philosophischer Absicht als absolut begründete Philo­
sophie gesucht war und nur als phänomenologische Transzendentalphilosophie
sich erfüllen kann« (Hu VI, S. 263). In Husserls Augen versagte die historisch
im Gefolge des englischen Empirismus tatsächlich ausgebildete moderne Psy­
chologie, weil sie >>nach dem ihr als Universalwissenschaft vom psychischen Sein
wesensmäßig allein echten Aufgabensinn zu fragen<< unterließ. Die >>konsequente
und reine Durchführung dieser Aufgabe<< hätte sie >>Von selbst und mit Not­
wendigkeit zu einer Wissenschaft von der transzendentalen Subjektivität und
so zu ihrer Verwandlung in eine universale Transzendentalwissenschaft führen<<
müssen (Krisis, S. 207). Das ganz besondere Interesse dieses Weggedankens über
die reine Psychologie zur transzendentalen Phänomenologie liegt wohl darin,
daß es Husserl auf diesem Wege besonders eindrücklich gelingt, die Klärung
und Durchführung der von Kant inaugurierten transzendentalen Problematik
als eine nicht bloß >>konstruktive<<, sondern konkret-anschauliche verständlich
zu machen.

Phänomenologische Reduktion und Idee der Philosophie

Husserls philosophische Absicht, den skeptischen Subjektivismus in Form des


>>transzendentalen Subjektivismus<< in einem höheren Sinne wahrzumachen
(s. o. S. 63), scheint uns in der Besinnung auf seine Methode der Reduktion kon­
kreter verständlich zu werden: Objektivität, Welt insgesamt hat in der tran­
szendental-phänomenologischen Betrachtung nur den Sinn intentionalen Kor­
relatseins der wechselseitig intentional ineinander implizierten Subjekte, bzw.
eine andere, nicht auf unsere Subjektivität und Intersubjektivität bezogene Welt
hat für uns überhaupt keinen Sinn (vgl. Krisis, S. 257 f.), Objektivität ist selbst
Korrelatleistung des vergemeinschafteten transzendentalen Bewußtseins. Von der
Verabsolutierung der Welt (z. B. Hu VII, S. 283), wie sie letztlich auch den skep­
tischen Argumentationen versteckterweise zugrunde liegt, zu befreien, stellt Hus­
serl immer wieder als Leistung der Reduktion heraus.
Zusammenfassend können wir mit Husserl festhalten: >>Mein Beruf<< als Phä-

30 Vgl. z. B. Hu IX, S. 343, Hu V, S. 144 ff.


31 Vgl. Hu V, S. 37 (§ 8). Vermutlich wäre P. Natorps "Allgemeine Psychologie« von 1912 als
weiteres Beispiel zu nennen.
§ 1 . Phänomenologische Epoche und Reduktion 73

nomenologe »ist das Studium der reinen Subjektivität<< (Hu VIII, S. 43 1); den
Zugang zu dieser Thematik bildet die phänomenologische Reduktion. »Das ist
das Eigentümliche der Phänomenologie, daß sie in der Reflexion universal und
radikal ist und keine natürliche Gegebenheit in schlichter Weise hinnimmt, viel­
mehr jede zurückführt auf das Bewußtsein, auf das Universum wirklichen und
möglichen Bewußtseins, in dem dieses natürliche Sein Bewußtes ist, Vermein­
tes, evtl. > als wahr Ausgewiesenes < usw. , und jede nicht in gefährlicher Verein­
zelung, sondern jede in eins mit jeder anderen wirklichen und möglichen -
in der Einheit eines radikalen Entschlusses, kein natürliches Dasein als gegeben
anzunehmen, sondern das Universum des Bewußtseins, und nur dieses, zum The·
ma zu machen, natürliches Dasein dann aber nur haben und betrachten zu wollen
als das in diesem Bewußtsein Erfahrene, in welcher Art sonst Vermeinte, Ge­
dachte etc.« (Hu VIII, S. 430).
Das Wesentliche in Husserls Problematik der phänomenologischen Reduk­
tion scheint uns in dem bei ihm faktisch ursprünglich als Entgegnung auf die
skeptischen Argumentationen entsprungenen »philosophischen Willen auf letzt­
mögliches Wissen, und auf absolutes, auf Philosophie« zu liegen (vgl. Hu VIII,
S. 500). Es schiene uns aber verfehlt, diesen Willen einfach als »Cartesianismus«
abzustempeln, gar als überschwengliches sich über die menschliche Faktizität
Hinwegsetzen. Vielmehr erscheint Husserl innerhalb der neuzeitlichen euro­
päischen Philosophie, ähnlich wie Kant, als Erneuerer des sokratisch-platoni­
schen »> Erkenne dich selbst ! < , aus dem, wie sich immer deutlicher zeigt, die
gesamte Philosophie entquillt« (Hu VIII, S. 1 2 1 ; vgl. S. 1 66 f.) Den spekulativen
Philosophien des Deutschen Idealismus stand Husserl stets, auch in seinen Frei­
burger Jahren, im Grunde fremd gegenüber.
In einer von vornherein nicht vorhersehbaren Radikalität und Konsequenz
gewann bzw. erneuerte Husserl die in seinem Verständnis bei Sokrates-Platon
gestiftete »Idee der Philosophie als absoluter Erkenntnis«, als Episteme gegenüber
bloßer Doxa. Diese Episteme als wahre Idee der Rationalität der von Husserl
oft beschworenen griechischen Urstiftung der europäischen Philosophie ver­
band sich bei ihm ganz wesentlich mit der Selbsterkenntnis. »Vielleicht, daß
es im strengsten Verstande wahr ist, daß Selbsterkenntnis, aber dann nur radikal
reine oder transzendentale Selbsterkenntnis, die einzige Quelle aller im letzten
und höchsten Sinn echten, befriedigenden wissenschaftlichen Erkenntnis, der
philosophischen, ist, die ein > philosophisches < Leben möglich macht. Dann wäre
also Philosophie selbst nur systematische Selbstentfaltung der transzendentalen
Subjektivität in Form systematischer transzendentaler Selbsttheoretisierung auf
dem Grunde der transzendentalen Selbsterfahrung und ihrer Derivate« (Hu VIII,
S. 1 67; vgl. auch S. 5). Das im Kontext, dem das Zitat entstammt, >>rhetorisch«
Vorgetragene war durchaus Husserls Meinung. >>Aber das Ziel ist fern, der Weg
74 2. Kapitel. Methodische Grundlegung der Phänomenologie

ist mühselig und muß erst gebahnt werden. Ohne Leitgedanken kann man nicht
suchen. Aber die Wege, die sie bereitenden Theorien, müssen Schritt für Schritt
erarbeitet werden<< (Hu VIII, S. 1 69).
Philosophie, so verstanden, bildet in Busserls Augen >>eine Idee<<, sie ist »nur
in einem Stil relativer, zeitweiliger Gültigkeit und in einem unendlichen histo­
rischen Prozess zu verwirklichen - aber so auch in der Tat zu verwirklichen<<
(Hu V, S. 1 39, Nachwort zu den Ideen). In diesem Sinne betonte Husserl im­
mer wieder, daß die Durchführung eines echten und reinen Transzendentalis­
mus nicht die Aufgabe eines Mannes und »Systems<<, sondern die wissenschaft­
liche Aufgabe der Generationen sei (vgl. z. B. Hu VI, Beilage XIII, S. 459). »Phi­
losophie als strenge Wissenschaft<< meint nicht zum mindesten gerade dieses Zu­
sammenarbeiten der Philosophierenden gegenüber der an den Stil und die
Fähigkeiten, die Genialität einer Einzelpersönlichkeit gebundenen »Weltanschau­
ungsphilosophie<<.32 In der Rückfrage auf die »>transzendentale Subjektivität <
als die Urstätte aller Sinngebung und Seinsbewährung<<, die durch den Vollzug
der phänomenologischen Reduktion in Gang gesetzt wird, setzt Husserl Phi­
losophie als »im radikalen Sinne strenge Wissenschaft<< aus »letzter Selbstverant­
wortung<< ins Werk (Hu V, S. 139).33

§ 2 . Die »eidetische<< Reduktion: Phänomenologie als Wesenswissenschaft des


Bewußtseins - die Methode der Wesensforschung

Als Husserl um 1 905 seine Phänomenologie auf dem Boden der phänomeno­
logischen Reduktion in Gang brachte, erkannte er in aller Deutlichkeit sogleich
das Problem, ob und wie denn reine Phänomenologie als Wissenschaft möglich
sei.34 Die Hauptschwierigkeit für eine wissenschaftliche, und das heißt nicht
solipsistische, sondern intersubjektiv verifizierbare, objektivgültige Erforschung
des phänomenologisch reduzierten Bewußtseins35 rührt nämlich daher, daß wir
uns in der reinen Reflexion, d. h. nach Vollzug der phänomenologischen Re­
duktion, »in einem nie standhaltenden Fluß nie wiederkehrender Phänomene<<,
in einem »ewigen Heraklitischen Fluß<< befinden.36 Es ist eine »Eigentümlich­
keit des Bewußtseins überhaupt, ein nach verschiedenen Dimensionen verlau-

32 Vgl. Logos-Aufsatz von 1 9 1 1 und aus der Zeit der Krisis z. B. Hu VI, Beilage XXVIII mit dem
berühmten, oft mißverstandenen Satz ,,Philosophie als Wissenschaft ... der Traum ist ausgeträumt<<,
S. 508 ff.
33 Zu Busserls Gesamtkonzeption der Philosophie vgl. unten Kapitel 10.
34 Hu XXIV, S. 220 ff. ( 1 906) - Vgl. die »Freiburger Antrittsrede<< ( 1 9 1 7), Hu XXV, S. 78.
35 Vgl. Ms. F I 17, 1909, S. 26a; »Freiburger Antrittsrede<<, Hu XXV, S. 78/79.
36 »Freiburger Antrittsrede«, Hu XXV, S. 78/79; Hu II, S. 47; vgl. noch Krisis, § 52, S. 1 8 1 .
§ 2. Die >>eidetische<< Reduktion 75

fendes Fluktuieren zu sein«, (Ideen I, § 75). Mögen die Phänomene auch >>im
reflektiven Erfahren zweifellos gegeben sein. Bloße Erfahrung ist keine Wis­
senschaft«Y >>Eine deskriptiv festlegende und bestimmende Erkenntnis einer
phänomenologischen > Welt <, wie wir eine solche Erkenntnis hinsichtlich der
Natur haben, ist völlig ausgeschlossen«. >>Wissenschaftliche Feststellungen in be­
zug auf die Phänomene sind nach der phänomenologischen Reduktion nicht zu
machen, notabene wenn wir diese Phänomene als absolute Einzelheiten und
Einmaligkeiten fixieren und begrifflich bestimmen wollen«.38 Vom >>unfaßbar
strömenden Leben<< kann nämlich »selbst der einzelne Philosoph in der Epo­
che . . . bei sich selbst nichts . . . so festhalten, mit stets gleichem Gehalt wieder­
holen und seiner Diesheit und seines Soseins so gewiß werden, daß er es in festen
Aussagen beschreiben und (sei es auch nur für seine Person) sozusagen doku­
mentieren könnte<< (Krisis, S. 1 8 1).
Angesichts dieser Schwierigkeit führte Husserl immer wieder ins Feld, daß
die Erforschung des Bewußtseins nicht Erfahrungs- sondern Wesenswissenschaft
sein wolle und überhaupt nur als Wesenserforschung zu wissenschaftlichen Er­
gebnissen gelangen könne. Was aber ist Wesenswissenschaft nach Husserl? Stets
betonte er, daß Erfahrungswissenschaft nicht die einzige A rt von Wissenschaft
sei,39 daß es den »Wissenschaften aus Erfahrung und Induktion« gegenüber rei­
ne, apriorische Wissenschaften gebe. Die Reinheit, nach der die Phänomenolo­
gie sich nenne, sei >>nicht bloß diejenige der reinen Reflexion<<, d.i. die durch
die phänomenologische Reduktion ermöglichte, sondern auch die Reinheit im
Sinne des Apriori.40 Husserls Lehre von der Phänomenologie als Wesenswissen­
schaft, die Lehre von der >>eidetischen Reduktion<<, wie er bisweilen auch sagt,
ist nun aufs engste mit seiner Auffassung von solcher reinen, apriorischen Er­
kenntnis verknüpft. Und diese Auffassung wiederum ist durch die mathemati­
sche Denkungsart, wie Husserl sie begriff, geprägt. Indem wir diesen Zusam­
menhängen etwas nachgehen, gelangen wir zu einer näheren Bestimmung der
A rt der Wissenschaftlichkeit, die Husserl mit seiner reinen Phänomenologie . an-
strebte.
Folgende Zitate mögen die fraglichen Beziehungen andeuten: In Formale und
transzendentale Logik ( 1 929) schreibt Husserl: Der Begriff des Eidos »definiert
den einzigen der Begriffe des vieldeutigen Ausdrucks > a priori <, den wir philo­
sophisch anerkennen. Er ausschließlich ist also gemeint, wo je in meinen Schrif­
ten von > a priori < die Rede ist<< (S. 2 19, Anm.). In einem Manuskript wohl aus

37 »Freiburger Antrittsrede«, Hu XXV, S. 79.


38 Hu XXIV, S. 224.
39 »Freiburger Antrittsrede«, Hu XXV, S. 79. Vgl. ferner: Hu XXIV; Ms. F I 17, 1909; Ms.
F I 4, 19 12; Ideen I, I. Abschnitt.
40 »Freiburger Antrittsrede<<, Hu XXV, S. 79.
76 2. Kapitel. Methodische Grundlegung der Phänomenologie

der ersten Hälfte der zwanziger Jahre, das den Titel >>Die Methode der Wesens­
forschung<< trägt, ist zu lesen: »Praktisch kennt jeder das Apriori von der rei­
nen Mathematik her. Er kennt und billigt die mathematische Denkungsart . . .
A n ihr orientieren wir unseren Begriff von Apriori<< (Ms. K V I 4, S . 1 ) . Und
in den Ideen von 1 9 1 3 spricht Husserl die mathematischen Disziplinen, insbe­
sondere Geometrie und Arithmetik, als »die alten, hochentwickleten eidetischen
Disziplinen<< an; in Parallele und Kontrast zu ihnen konzipiert er die »neue Ei­
detik« vom transzendental reinen Bewußtsein (§ 71).
Das Grundlegende des der Mathematik sozusagen abgeschauten apriorischen
Denkens erkennt Husserl darin, daß hier eine Befreiung vom Faktum bzw. eine
Gestaltung des Faktums in die Form des beliebigen Exempels vollzogen wird
oder, anders ausgedrückt, daß »der Mathematiker sich prinzipiell jedweden Ur­
teils über reale Wirklichkeit enthält<<, daß er es, statt mit Wirklichkeiten, mit
idealen Möglichkeiten und auf sie bezüglichen Gesetzen zu tun hat.41 Der rei­
ne Geometer - Husserls bevorzugtes Beispiel - thematisiert Raumgestalten,
aber nicht die individuell erfahrenen oder in der Phantasie quasi erfahrenen, -

die auf der Tafel oder in seiner Vorstellung erzeugten Figuren, sondern die »rei­
nen<< Raumgestalten. Diese weisen in sich eine A llgemeinheitsstruktur auf, die
durch die »vielgestaltige Geistestätigkeit<< der Ideation oder Ideenschau (Hu IX,
S. 76) bestimmbar ist. Husserl beschreibt diese Methode der Ideen- oder We­
senserschauung näher als ein im reinen Phantasiedenken, in dem allein reine,
ideale Möglichkeiten sich konstituieren können, sich vollziehende Yariation,
in der sich das Allgemeine als das durchgehende Identische (Invariante, Unab­
trennbare) an den als mögliche Wirklichkeiten gesetzten Gestalten und Gegen­
ständlichkeiteil überhaupt aktiv er-schauen läßt.42 Es ist für das geistige Durch­
laufen der einzelnen Varianten und das Herausschauen des tv &1rt 1ro'A'Awv
(vgl. Hu IX, S. 78; EU, S. 4 1 4) entscheidend, den Boden reiner Phantasie zu
gewinnen und innezuhalten, da nur auf ihm die reine, von keiner Setzung ent­
sprechenden wirklichen Seins abhängige oder an keine vorausgesetzte Wirk­
lichkeit gebundene Wesensallgemeinheit erfaßbar wird (EU, S. 426 f.). Die
Einsicht in diese reine Wesensallgemeinheit läßt dann im voraus (a priori) jede
erdenkliche Vereinzelung als solche ihres Wesens, d. h. im Bewußtsein bloßer
Exemplifizierung (als Glied des Umfangs von singulären reinen Möglichkeiten)

41 Vgl. z. B. Hu IX, S. 7 1 , S. 76; Ideen I, § 7, EU, § 87a; Ms. K VI 4, S. 1 f. ; Freiburger An­


»

trittsrede•, Hu XXV, S. 79.


42 Vgl. v.a. Erfahrung und Urteil, §§ 8 6 - 9 1 bzw. den praktisch identischen Text in Phänomeno­
logische Psychologie, Hu IX, § 9. - Kritische Diskussionen der Methode der Wesenserschauung
bei W. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Band I (6. Auf!.), 1976, S. 70 ff.;
E. Tugendhat, Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, 1967, S. 137- 163; I. Kern, Idee und Me­
thode der Philosophie, § 4 1 f.
§ 2. Die >>eidetische<< Reduktion 77

erkennen. Es lassen sich aufgrund des Eidos >>Gesetze der Notwendigkeit<< her­
ausstellen, >>die bestimmen, was einem Gegenstand notwendig zukommen muß,
wenn er ein Gegenstand dieser Art soll sein können<< (EU, § 90, S. 426). Es
besteht hier die Korrelation von Wesensallgemeinheit und Wesensnotwendig­
keit, wie Husserl sie in den Ideen ausdrückt: »Jede eidetische Besonderung und
Vereinzelung eines eidetisch allgemeinen Sachverhaltes heißt, sofern sie das ist,
eine Wesensnotwendigkeit<< (§ 6), oder es besteht hier die >>Notwendigkeit, die
eingesehen wird als das Nicht-anders-sein-können eines allgemein Eingesehe­
nen in Anwendung auf einen beliebig vorgelegten Einzelfall als beliebigen<<.43
Die vom Mathematiker geübte Grundeinstellung kann Husserl zufolge >>an­
gesichts des allgemeinen Wesensverhältnisses von Wirklichkeit und Möglich­
keit, von Erfahrung und reiner Phantasie<< universal erweitert werden: >Non jeder
konkreten Wirklichkeit und jedem an ihr wirklich erfahrenen oder erfahrba­
ren Einzelzuge steht der Weg in das Reich idealer oder reiner Möglichkeiten und
damit in das des apriorischen Denkens offen<< (Ms. K VI 4, S. 6; EU § 90,
S. 428). Die Wirklichkeit selbst wird in dieser Einstellung behandelt >>als eine
Möglichkeit unter anderen Möglichkeiten, und zwar als beliebige Phantasie­
möglichkeit<< (Hu IX, S. 74). Die >>Grundleistung, von der alles weitere abhängt<<,
bildet eben die >>Gestaltung irgendeiner erfahrenen oder phantasierten Gegen­
ständlichkeit zu einer Variante<<, was Husserl im Gebiet der reinen Mathema­
tik exemplarisch vollzogen sieht. Den verschiedenen Gebieten der Wirklichkeit
entsprechend gibt es nach Husserl aber auch verschiedenartige eidetische Wis­
senschaften (Ms. K VI 4, S. 6 f. , Ms. F IV 1 , S. 62a; Hu V, Ideen, Drittes Buch:
Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften, hrsg. von M.
Biemel, 1952).
Es ist wichtig zu beachten, daß in der Einstellung auf das reine Eidos >>die
faktische Wirklichkeit der in Variation erzielten Einzelfälle als völlig irrelevant<<
behandelt wird (Hu IX, S. 74), und zwar nicht etwa, weil die faktisch erfahrene
Wirklichkeit skeptisch geleugnet oder preisgegeben werden soll (Hu IX, S. 7 1),
sondern dem eigenen Sinn der Wesenseinstellung zufolge. Sie wird erst in Be­
tracht gezogen bei der Ü bertragung der Wesensallgemeinheit in der >>Anwen­
dung<< (s.u. S. 79 f.). Anders gesagt, es macht >>das Wesen rein eidetischer
Wissenschaft aus, daß sie ausschließlich eidetisch verfährt<< (Ideen I, § 7); >>anschau­
ende Erfahrung von Wesen impliziert nicht das mindeste von Setzung irgend­
eines individuellen Daseins, reine Wesenswahrheiten enthalten nicht die min-

43 Vgl. Zitat in I. Kern, Husserl und Kant, S. 1 16. - Demgegenüber würde alle nicht in reiner
Phantasie sich haltende, empirische Verallgemeinerung stets nur »Gemeinsamkeiten und Allgemein­
heiteil in bezug auf empirische Umfänge<<, »empirische Notwendigkeiten« oder »präsumptive<< lie­
fern (vgl. EU §§ 86, 97c; Hu IX, S. 79).
78 2. Kapitel. Methodische Grundlegung der Phänomenologie

deste Behauptung über Tatsachen, also ist auch aus ihnen allein nicht die ge­
ringfügigste Tatsachenwahrheit zu erschließen<< (Ideen I, § 4, S. 1 7). Gegenüber
den Tatsachenwissenschaften, etwa dem Tun eines Naturforschers, der beob­
achtet und experimentiert und erfahrungsmäßiges Dasein feststellt, dem also
»das Erfahren begründender Akt<< ist, >>der nie durch ein bloßes Einbilden er­
setzbar wäre<<, gibt in der Einstellung der Wesenswissenschaften >>die faktische
Erfahrung nur einen exemplarischen A usgangspunkt, und zwar für den Stil frei­
er Phantasien, die ich ihr nachgestalte, ohne sie im übrigen als Geltung zu be­
nutzen<< (Ideen I, § 7; Bu IX, S. 7 1).

Tatsachenwissenschaften - Wesenswissenschaften; Tatsache - Wesen.


»Anwendung« apriorischer Erkenntnis auf Faktisches

Die Unterscheidung von Tatsachenwissenschaften und Wesenswissenschaften,


die in Busserls allgemeinen wissenschaftstheoretischen Ü berlegungen immer
wieder auftritt, wurzelt in seiner wohl als >>platonisch inspiriert« zu bezeich­
nenden Grundauffassung des Verhältnisses von Tatsachen und Wesen. Die lei­
tenden Gedanken, wie Busserl sie im ersten Abschnitt der Ideen von 1 9 1 3
ausspricht, sind knapp die folgenden: Tatsachen, individuelles, räumlich-zeitlich
Daseiendes ist >>zufällig«. >>Es ist so, es könnte seinem Wesen nach anders sein<<
(§ 2). Allfällige gültige Naturgesetze drücken hier auch >>nur faktische Regelun­
gen aus, die selbst ganz anders lauten könnten<< (§ 2). Entscheidend für Bus­
serls Auffassung sind dann folgende Aussagen: >>Sagten wir: jede Tatsache könnte
> ihrem eigenen Wesen nach < anders sein, so drückten wir damit schon aus, daß
es zum Sinn jedes Zufälligen gehört, eben ein Wesen, und somit ein rein zu
fassendes Eidos zu haben, und dieses steht nun unter Wesens-Wahrheiten ver­
schiedener Allgemeinheitsstufe. Ein individueller Gegenstand ist nicht bloß über­
haupt ein individueller, ein Dies da!, ein einmaliger, er hat als > in sich selbst<
so und so beschaffener seine Eigenart, seinen Bestand an wesentlichen Prädika­
bilien, die ihm zukommen müssen (als > Seiendem, wie er in sich selbst ist <),
damit ihm andere, sekundäre, relative Bestimmungen zukommen können<<
(§ 2).44 Dieses Verhältnis >>begründet eine entsprechende Aufeinanderbeziehung
von Tatsachenwissenschaften und Wesenswissenschaften« (§ 7) und deren >>Ab­
hängigkeitsverhältnisse« (§ 8).

44 Diese an Platons »Parmenides<< erinnernden Sätze scheinen eine tiefe Busserlsehe Ü berzeugung

auszusprechen. Wenn er auch nie an eine Art >>Hypostasierung<< seiner Eide dachte, scheint uns
doch diese Universalisierung des Eidetischen kritischen Ü berdenkens würdig (vgl. I. Kern, Idee und
Methode der Philosophie, § 50).
§ 2. Die ••eidetische<< Reduktion 79

Husserl trennt die eidetischen (apriorischen) Disziplinen ganz allgemein in


die sogenannte »formale Ontologie<< als eidetische Wissenschaft von der forma­
len Region >>Gegenständlichkeit überhaupt« und in materiale oder regionale On­
tologien.45 Die Tatsachenwissenschaften (Erfahrungswissenschaften) ihrerseits
sind wesentlich sowohl auf die formal-eidetische wie auf ihnen entsprechende
material-eidetische Disziplinen zurückbezogen, d. h. sie haben >>Wesentliche theo­
retische Fundamente in eidetischen Ontologien« (Ideen I, § 9).
Von besonderer Bedeutung ist das Verhältnis der >>A nwendung« apriorischer
Erkenntnis auf das Faktische, das von den Abhängigkeitsverhältnissen zwischen
Tatsache und Wesen bzw. Tatsachen- und Wesenswissenschaften her verständ­
lich zu machen ist. 46 Es läßt sich nach Husserl >>die Idee einer vollkommen ra­
tionalisierten Erfahrungswissenschaft« (Ideen I, § 9) bilden, die auf folgenden
Ü berlegungen beruht: Die eidetische Allgemeinheit läßt sich zu vorkommen­
den Wirklichkeiten in Beziehung setzen, weil jede wirklich vorkommende Ge­
genständlichkeit zugleich eine im reinen Sinne mögliche ist, die sich als Exempel,
als Fall reiner Möglichkeit, ansehen und in eine Variante verwandeln läßt (EU,
§ 90, S. 426). Das oben (S. 77) besprochene Verhältnis der Wesensnotwendigkeit
im Falle eidetischer Besonderung >>gilt dann mit für alles Faktische«. Wir kön­
nen nämlich sehen, daß alles, was zum reinen Eidos unabtrennbar gehört, auch
zu jedem entsprechenden faktischen Vorkommnis gehören muß (EU, § 90; Ideen
I, § 6; Ideen III, § 8 , S. 40 f.).
Die Rationalisierung des Faktischen geschieht also auf dem Wege der Beur­
teilung der faktischen Wirklichkeiten nach den Gesetzen ihrer reinen Möglich­
keiten, d.i. den apriorischen Bedingungen möglicher Erfahrung (Ms. K VI 4,
S. 5; EU, § 90). Es ist deutlich, daß eine solche Rationalisierung ihrem eigenen
Sinne gemäß natürlich nicht dazu berufen und imstande ist, die entsprechende
erfahrungswissenschaftliche Erkenntnis etwa selbst zu leisten und schließlich
sozusagen überflüssig zu machen. Die realen Bedingungen der Möglichkeit wer­
den stets nach den Methoden der Erfahrungswissenschaften zu bestimmen sein
(vgl. Ideen III, S. 39 f. ; Ms. F I 1 7). Husserl glaubt aber, daß eine Erfahrungswis­
senschaft, in der eine Rationalisierung ihres regionalen Gebietes, sei es auch
nur teilweise, verwirklicht ist, als Wissenschaft >>auf eine neue Stufe erhoben«
wird und daß die Konstitution der eidetischen Disziplin >>einen entscheiden­
den Fortschritt der entsprechenden Erfahrungswissenschaft bedeuten muß«
(Ideen III, S. 43).
Einen solchen Fall sieht Husserl in der physischen Naturwissenschaft im

45 Vgl. z. B. Ideen I, § 8; Ideen III, § 7; Ms. K VI 4, S. 6 f. - Siehe auch oben Kapitel 1 , S. 46 ff.
46 Vgl. hierzu auch unten Kapitel 10.
47 Vgl. Ideen I, § 9; Ideen III, S. 43; Krisis, § 9.
80 2 . Kapitel. Methodische Grundlegung der Phänomenologie

17. Jahrhundert angebahnt, als durch die Anwendung der >>als reine Eidetik hoch
ausgebildeten Geometrie<< die »Mathesis der Natur« in Kraft tratY Dadurch
wurde "für eine der großen Regionen der Erfahrung eine Unendlichkeit von
Wahrheiten . . . , die in unbedingter Notwendigkeit für alles Erfahrbare dieser
Region gelten«, festgestellt (Ideen III, S. 43). Die Mathematik spricht apriori- ·

sehe Bedingungen für die Natur aus, >>ohne je von > der< Natur als Faktum zu
handeln« (EU, § 90, S. 427). Die apriori jederzeit mögliche A nwendung der ei­
detischen mathematischen Erkenntnis kam zum Durchbruch, als die materiel­
le Natur als wesentlich res extensa seiende und die Geometrie als entsprechende,
»auf ein Wesensmoment solcher Dinglichkeit, die Raumform, bezogene onto­
logische [eidetische] Disziplin« erkannt wurde (Ideen I, § 9, S. 24). Die Wirk­
lichkeit »materielle Natur« wurde so nach Gesetzen ihrer reinen Möglichkeit
beurteilbar, wie es in der mathematischen Naturwissenschaft praktiziert wird.
Solche Anwendung zugehöriger Wesenswissenschaft betrachtet Husserl als
>>universale, auf j ederlei Wirklichkeit zu beziehende und durchaus notwendige
Aufgabe«; denn nur dadurch kann auch >>wissenschaftliche Erkenntnis empiri­
scher Wirklichkeit > exakt <, nur dadurch echter Rationalität teilhaftig werden,
daß sie diese Wirklichkeit auf ihre Wesensmöglichkeit zurückbezieht« (Ms.
K VI 4, S. 5; EU, § 90, S. 427 f.). Noch in den Cartesianischen Meditationen ( 1930)
schreibt Husserl, daß >>> an sich < die Wissenschaft der reinen Möglichkeiten der­
jenigen von den Wirklichkeiten vorhergeht und sie als Wissenschaft überhaupt
erst möglich macht« (§ 34, S. 1 06; vgl. Ideen I, § 79).48

Reine Phänomenologie als Eidetik des Bewußtseins

Alle soeben erörterten wissenschaftstheoretischen Ü berlegungen gipfeln für Hus­


serl in der transzendentalphilosophischen These von der »Wesensbeziehung« >>Zwi­
schen allen Ideen von Sein und Bewußtsein» (vgl. z.B. Ms. F IV 1 , S. 62a). Husserl
ist der Auffassung, >>daß alle möglichen apriorischen Disziplinen eine zusam­
menhängende > Universitas <, in der Vielheit eine innerste Einheit bilden, daß

47 Vgl. Ideen I, § 9; Ideen Ill, S. 43; Krisis, § 9.


48 In einem Manuskript der dreißiger Jahre schreibt Husserl bezüglich seines »Eintretens für eine
universale Ontologie . . . als universale apriorische Wissenschaft vom Seienden überhaupt<<: »Der
Gedanke, der mich leitete, war, daß, was Mathematik für die Naturwissenschaft leistet, sich für
alle Tatsachenwissenschaften muß leisten lassen, und universal gesprochen, die Totalität des tat­
sächlichen Seienden in ihrer Gliederung in universale Seinsregionen kann zu echter, zu >rationaler<
Wissenschaft nur werden, so wie Physik aus einer bloß deskriptiv-empirischen zu einer rationalen
Physik geworden ist und beständig wird: durch Rückgang auf die Wesensallgemeinheit, auf die rein
rational eben in Wesensallgemeinheit zu beherrschenden Wesensmöglichkeiten, deren eine als Tat­
sächlichkeit der Natur vorgegeben ist« (Ms. B I 32, S. 32).
§ 2. Die »eidetische<< Reduktion 81

sie i n einer apriorischen Urquellenwissenschaft alles möglichen Bewußtseins


und Seins zusammenhängen - in einer > transzendentalen Phänomenologie <,
als deren wesensnotwendige Verzweigungen sie behandelt werden müssen<< (Ms.
K VI 4, S. 7 f.). A lle eidetischen Wissenschaften >>hängen miteinander zusam­
men durch die Eidetik des Bewußtseins<< (Ms. F IV 1 , S. 62a). >>Das spezifisch Phä­
nomenologische besteht in der Wesenserwägung, welche uns in das intentional
allumspannende Bewußtsein hineinversetzt, welche also alles, was eidetische Be­
trachtung ergibt, in Beziehung setzt zum eidetischen Wesen des Bewußtseins, in
dem sich . . . alles Sein > konstituiert < << (Bu V, Beilage IV, S. 1 33). Mit dieser Rück­
beziehung aller wirklichen und möglichen Gegenständlichkeiteil auf die ent­
sprechenden erfahrenden Akte des Bewußtseins, auf das subjektive, konstitutive
Apriori des Bewußtseins überhaupt ist das Zentralthema der Busserlsehen rei­
nen Phänomenologie als Eidetik des Bewußtseins erreicht.
Fundamental ist auch für das Studium der intentionalen Bewußtseinserleb­
nisse, auf die Busserl seit den Logischen Untersuchungen die spezifisch phäno­
menologische Thematik bezieht, die Befreiung vom Faktum der empirischen
Zufälligkeiten des Bewußtseinsverlaufes unserer, sei es auch allgemein-mensch­
lichen Organisation, die Einstellung auf das >>rein Spezifische<< der Bewußtseins­
akte, auf ihr ideales Wesen. Die hierbei herauszustellenden Gesetze gehören
»ZU allen möglichen Organisationen überhaupt, welche aus so gearteten Akten
zu erbauen sind<< ( VI. LU, § 64). Auf dem Spiel steht schon in den Logischen
Untersuchungen Busserls kritisch von Kant sich abhebendes Verständnis des
reinen Apriori als Einsicht in einen Wesenszusammenhang, der als solcher nicht
nur >>auf Grund unserer faktischen Subjektivität<< gilt.49
Die in der wirklichen, psychologischen Erfahrung reflektiv gegebenen Be­
wußtseinserlebnisse binden den Phänomenologen nicht als solche wirklichen
Erfahrungen. >>Ganz so, . . . wie die reine Geometrie sich nicht an die in wirkli­
cher Erfahrung beobachteten Gestalten bindet, sondern in frei konstruieren­
der geometrischer Phantasie den möglichen Gestalten und Gestaltswandlungen
nachgeht und ihre Wesensgesetze feststellt: genau so will die reine Phänomeno­
logie das Reich des reinen Bewußtseins und seiner Phänomene nicht nach fak­
tischem Dasein, sondern nach reinen Möglichkeiten und Gesetzen erforschen<<. 5°
Erfahrungswissenschaft vom Bewußtsein ist die Psychologie, Phänomenologie
dagegen etabliert sich als apriorische, »reine<< im Sinne der >>> Reinheit < mathe­
matischer Analysis und Geometrie<<, Wesenswissenschaft, den idealen apriori-

49 Vgl. Hu VII, S. 364, um 1908; LU, § 64, S. 668 ff. - Zu Husserls Kritik am Kamischen Apriori
vgl. die Diskussionen bei T. Seebohm ( 1962), I. Kern ( 1964), E. Tugendhat (1967), S. 1 63 ff. , E.
Marbach ( 1974), § 34 f.
50 »Freiburger Antrittsrede«, Hu XXV, S. 79/80.
82 2. Kapitel. Methodische Grundlegung der Phänomenologie

sehen Gesetzen, unter denen die reinen Bewußtseinsmöglichkeiten stehen, nach­


forschend. 51 Sie scheidet alle Fragen nach dem realen Dasein aus. >>Wenn der
Phänomenologe also sagt, es gibt Erlebnisse, es gibt seelische Zustände wie Wahr­
nehmungen, Erinnerungen u. dgl., so sagt sein > es gibt < genau so viel wie das
mathematische > es gibt <, z. B. eine Reihe von Anzahlen . . . Begründet ist dieses
> es gibt < beiderseits nicht durch Erfahrung, sondern durch Wesensschauung<<,
welche >>nicht Einzelheiten des Daseins, sondern Wesen von niederster Allge­
meinheit oder als Arten und Gattungen von höherer Allgemeinheit<< zur Er­
fassung bringt (Ideen III, S. 47). 52
In der reinen Phänomenologie kann es sich infolge des >>Beraklitischen Flus­
seS<< nur um eine begriffliche und terminologische Fixierung der >>Wesen von
höherer Stufe der Spezialität<< (Wahrnehmung überhaupt, Erinnerung überhaupt,
Einfühlung überhaupt, Wollen überhaupt etc.) und der höchsten Allgemein­
heiten >>Erlebnis überhaupt, cogitatio überhaupt handeln (Ideen I, § 75; Bu V,
S. 41). Dieses oder j enes fließende Konkretum, die, wie Busserl auch sagt, >>sin­
guläre Idee<< oder >>eidetische Singularität<< als >>niederste Allgemeinheit<< hinge­
gen gehört >>in die Sphäre des > Unbegrenzten<, des i hrHpov, des wissenschaftlich
Nichtbestimmbaren ebensogut wie die individuellen cogitationes selbst<<.53 Be­
züglich des der phänomenologischen Wesensanalyse zugrunde zu legenden Ein­
zelfalles dieses oder jenes Erlebnisses gilt, was Busserl noch in der Krisis festhält:
»Das Faktum ist hier als das seines Wesens und nur durch sein Wesen bestimm­
bar und in keiner Weise in analogem Sinne wie in der Objektivität durch eine
induktive Empirie empirisch zu dokumentieren<< (Bu VI, S. 1 82).
Die Frage der Wesenseinstellung oder Ideation lautet: >>Was ist das überhaupt,
, Wahrnehmung<, was ist das, > Urteil <, was ist das, > Erinnerung<? Wir könnten
auch fragen: Was meinen wir überhaupt unter. . . ? Oder: Was heißt das > Wahr­
nehmung< usw.?<<.54 Die Frage geht, wie Busserl auch sagt, auf die Bestimmung
dessen, >>was in solchen Wahrnehmungen [etc.] so liegt, daß sie ohne dergleichen
nicht gedacht werden können«55, oder wir trachten nach der Einsicht, daß die
und die Momente für diese oder j ene Bewußtseinsform (Wahrnehmung, Erin­
nerung etc.) konstitutiv sind, daß man keines dieser Momente weglassen kann
und daß man kein weiteres zur Bestimmung hinzufügen muß. Die Wesenserfas­
sung bei den Erlebnissen betrifft, mit einem Wort, das, was zu einer >>> Wahr-

5 1 >>Freiburger Antrittsrede<<, Hu XXV, S. 79/80; vgl. Ideen I, Einleitung; vgl. auch Hu XVI, Ding

und Raum, 1907, § 40, S. 1 4 1 f.


52 Bezüglich des mathematischen >es gibt < vgl. EU, S. 450: Es handelt sich um ein »>es gibt < in
der eigentumliehen Modifikation des Apriori<<, ein »es ist apriori möglich, daß es gibt<<.
53 Vgl. Ms. F I 17, 1909, S. 46a.

54 Ms. F I 17, 1909, S. 45a.

55 Ms. F I 4, 1912, S. 9b.


§ 2. Die »eidetische<< Reduktion 83

nehmung als solcher < gehört, gewissermaßen zum ewig gleichen Sinn von mög­
licher Wahrnehmung überhaupt« (Hu V, S. 40; vgl. Hu I, § 34) und mutatis mu­
tandis zu jedweder möglichen Bewußtseinsart als solcher.
Solcherart auf reine Bewußtseinsmöglichkeiten gerichtet, ist der eidetische Phä­
nomenologe bezüglich der Seinssetzung des Allgemeinen, des Eidos, in keiner
Weise von der Seinssetzung des exemplarischen, >>beliebigen« Einzelfalles ab­
hängig. Der Einzelfall, z_ B. die und die verfließende Wahrnehmung oder Phan­
tasie, bildet bloß den >>Abstraktionsgrund« (Ms. F I 1 7, S. 42b) für die
Bestimmung des allgemeinen Wesens Wahrnehmung überhaupt, Phantasie über­
haupt, mögliches Bewußtsein dieser oder jener Art überhaupt, wofür die Seins­
weise des Einzelfalles >>gleichgültig« ist. 56
Wenn durch Ideation >>nur das allgemeine Wesen selbst, die Idee sozusagen«,
herausgestellt wird, dann haben wir >>eine Einheit, die in keinem Flusse steht,
die im Fließenden sich nur vereinzelt, aber dadurch nicht selbst in den Fluß
hineingezogen ist- Ideen oder Wesen sind > überzeitliche< Gegenständlichkeiten,
Wesen von phänomenologischen Gegebenheiten sind frei von der Individua­
tion durch die phänomenologische Zeitlichkeit, von der Individualisierung in
der Abwandlung des Jetzt und Gewesen, die zum phänomenologisch Indivi­
duellen all solchen gehört« (Ms. F I 1 7, S. 45a). So erlaubt die Wesensanalyse
auch für das Gebiet der verfließenden, zeitlich gebundenen reinen Erlebnisse
>>die Aufgaben einer umfassenden wissenschaftlichen Beschreibung sinnvoll zu
stellen« (Ideen I, § 75, S. 140).
Als Wesenswissenschaft vom Bewußtsein bildet die reine Phänomenologie in
Busserls Augen auch die der empirischen Psychologie als eine Tatsachenwissen­
schaft vom Bewußtsein entsprechende rationale Disziplin, indem sie das in der
Psychologie studierte Faktum des psychischen Lebens, des individuellen wie
des vergemeinschafteten, aus Wesensgründen des möglichen Bewußtseins über­
haupt aufzuklären, d_h. die Rationalität der notwendigen, apriorischen Bewußt­
seinsgesetzlichkeiteil auf die faktischen Vorkommnisse zur Anwendung zu
bringen ermöglicht (s.o. S. 79 f.).
Abschließend ist sehr zu betonen, daß Husserl trotz aller Vorbildlichkeit der
reinen Mathematik für die Wesenseinstellung stets die Eidetik des phänomeno­
logisch reduzierten Bewußtseins in ihrem theoretischen Typus als deskriptive
Eidetik von dem in der Mathematik dank >>ldealbegriffen« möglichen Typus
der Exaktheit abgehoben hatY Die Möglichkeit der >>Exaktheit der Begriffs­
bildung« liegt nicht in unserer freien Willkür oder logischen Kunst, sondern

5 6 Ms. F I 4, S. lOb. - Zum Sonderfall »Eidos transzendentales ego - Faktum ego« vgl. unten
Kapitel 10.
57 Ideen I, §§ 7 1 - 75; Hu V, Ideen III, S. 44 und besonders § 1 1 .
84 2. Kapitel. Methodische Grundlegung der Phänomenologie

setzt »Exaktheit in den erfaßten Wesen selbst<< voraus (Ideen I, § 73), im »regio­
nalen Apriori<<, wie Husserl auch sagt. Wenn die Idee > Raum < zu diesem Apriori
gehört, dann ist eine mathematische Eidetik angemessen (vgl. Hu V, S. 44), denn
in Husserls Sicht wird Raum als »definite Mannigfaltigkeit<< verstanden, d. h.
als »mathematisch erschöpfend definierbar<< aufgefaßt (vgl. Ideen I, § 72). Dem­
gegenüber besitzt der Bewußtseinsfluß seinem eigenen Wesen nach keine räum­
liche Struktur, noch irgendein dem Raum analoges Ordnungssystem der
Koexistenz, und bildet daher auch kein Feld der Mathematik (Ideen III, S. 44).
Aber auch eine Mathematisierung im Sinne einer rein formalen axiomatisch­
deduktiven Theorie, die selbst nicht notwendig an die Idee > Raum < gebunden
sein müßte, würde in Anwendung auf die mannigfaltigen Intentionalitäteil des
Bewußtseins und auf die intentionalen Implikationen von Bewußtsein im Be­
wußtsein (vgl. unten Kapitel 5) keine eigentliche Einsicht in das ergeben, was
Bewußtsein an ihm selbst, d. h. in seiner Eigenwesentlichkeit, als intentionales
auszeichnet. »Die transzendentale Phänomenologie als deskriptive Wesenswis­
senschaft gehört . . . einer total anderen Grundklasse eidetischer Wissenschaften
an als die mathematischen Wissenschaften<< (Ideen I, § 75), denen ein konstruk­
tiver Charakter eignet, der auch rein deduktive Ableitungen von Folgesätzen
ermöglicht. 5 8
Im Rückblick auf die beiden methodologischen Abschnitte sei abschließend
an Husserls Aussage in den Cartesianischen Meditationen ( 1 929) erinnert: »So
erheben wir uns zur methodischen Einsicht, daß neben der phänomenologi­
schen Reduktion die eidetische Intuition die Grundform aller besonderen tran­
szendentalen Methoden ist, daß beide den rechtmäßigen Sinn einer transzen­
dentalen Phänomenologie durchaus bestimmen<< (Hu I, S. 1 06).59

58 Cf. z. B. Ms. K VI 4, S. 4; Ideen I, § 72; Ideen lll, S. 44, Hu V, Beilage IV, S. 132.
59 Ausgewählte Literatur
zum 2. Kapitel. § 1: I. Kern ( 1 964): S. 194 ff. ; R. Boehm (1968): S. 1 19 ff., 1 8 6 ff.; E. Marbach (1974):
S. 23 ff. ;
zum 2. Kapitel, § 2: I. Kern ( 1964): S. 55 ff., 1 12 . ; E. Tugendhat ( 1 967): S. 137 ff. , 201 ff. ; I. Kern
( 1975): s. 273 ff.
3 . Kapitel
A llgemeine Strukturen des Bewußtseins im phänomenologischen Sinn

Wir haben gesehen, daß die in phänomenologisch reiner Reflexion nach ihrer
Wesensstruktur erforschte Bewußtseinstätigkeit den eigentlichen Gegenstand
der phänomenologischen Wissenschaft bildet. Der Fortgang unserer Überle­
gungen wird zeigen, wie sich diese allgemeine Gattung der Bewußtseinstätig­
keit einerseits in verschiedene Arten von Bewußtseinsakten differenziert (Wahr­
nehmung, Phantasie, Erinnerung, Fremdwahrnehmung) und wie andererseits
verschiedene Vollzugsmodi dieser bewußtseinsmäßigen Erlebnisse (Aktualität
und Potentialität, Spontaneität und Rezeptivität) zu unterscheiden sind. All diese
verschiedenen Arten von Bewußtsein und die ihnen entsprechenden konstitu­
tiven Leistungen kommen jedoch darin überein, daß sie einerseits intentionale
Vermeinungen sind und andererseits im Strom immanenter Zeitlichkeit vollzo­
gen werden.

§ 1. Die Intent i onalität

Daß bewußtseinsmäßige Erlebnisse die Eigenschaft haben, sich intentional auf


entsprechende Gegenstände zu beziehen, erscheint vielen Denkern als eine tri­
viale Tatsache. Busserls sorgfältige Analyse der Intentionalität des Bewußtseins
und die stetigen Modifikationen, welche diese Lehre in der Entwicklung seines
Werkes erfährt, gelten diesen Denkern denn auch als Beweis dafür, daß die gan­
ze Busserlsehe Phänomenologie eine Trivialphilosophie ist. Andere, der Phä­
nomenologie Busserls näher stehende Denker sind hingegen der Meinung, die
Intentionalanalyse sei zwar das wesentlichste Verdienst der Busserlsehen Phä­
nomenologie, deren Beschreibung des intentionalen Bewußtseins bedürfe jedoch
dringend der Weiterentwicklung und Radikalisierung. Es gelte, die für den Bus­
serlsehen Intentionalitätsbegriff noch richtunggebende Scheidung von Subjekt
und Objekt zu überwinden. Und ein vertieftes Verständnis des intentionalen
Phänomens sei auch das geeignetste Mittel, um Busserls rationalistische Fixie­
rung der Phänomenologie an die Aufgaben der Erkenntnistheorie zu unterlau­
fen. Diese Debatte, auf die wir nicht näher eingehen können, ist jedenfalls ein
deutlicher Beweis dafür, daß nicht nur für Busserl selbst, sondern auch in der
ganzen phänomenologischen Bewegung die >>Intentionalität . . . kein Losungs­
wort, sondern der Titel eines zentralen Problems<< ist (Beidegger: Bu X, S. XXV).
Wir vernachlässigen im folgenden allerdings nicht nur die Weiterentwicklung
von Busserls Begriff der Intentionalität, sondern auch dessen Vorgeschichte
86 3 . Kapitel. Allgemeine Strukturen des Bewußtseins

(vgl. dazu Hedwig) und zeitgenössische Entwicklung. Zwar ist bekannt, daß
Brentano und dessen scholastische Vorbildung auf die Entwicklung von Bus­
serls Begriff der Intentionalität einen wichtigen Einfluß ausgeübt haben. Und
der Leser der V Logischen Untersuchung weiß auch, daß Husserl seinen Begriff
des intentionalen bzw. >>objektivierenden Aktes« in Auseinandersetzung mit
Brentanos Begriff der >>psychischen Phänomene« entwickelt hat. Aber man kann
sich zur Bestimmung von Brentanos Position keinesfalls allein auf deren Dar­
stellung bei Husserl verlassen. Eine ernsthafte Darstellung des Verhältnisses von
Brentanos und Husserls Lehre der Intentionalität müßte sich vielmehr zur Streit­
frage äußern, inwieweit Husserl in seiner Kritik Brentanos Standpunkt insbe­
sondere im Falle der >>mentalen InexistenZ<< des intentionalen Gegenstandes
korrekt wiedergegeben hat und auch inwiefern diese Kritik Brentano dann zu
einer Verdeutlichung oder Veränderung seiner Lehre bewogen hat. In der Folge
wäre es auch eine zentrale Aufgabe, auf den unterschiedlichen philosophischen
Hintergrund von Husserls und Brentanos Beschäftigung mit der Intentionali­
tät hinzuweisen. Brentanos Interesse ist deutlich ein wissenschaftstheoretisches
und klassifikatorisches und es artikuliert sich im Rahmen einer realistischen
Metaphysik. Husserl dagegen geht es um eine metaphysisch neutrale, funktio­
nale Bestimmung jeder Bewußtseinstätigkeit, ob sie nun ein Erkenntnisakt oder
eine bloße Vermeinung sei, ob sie sich auf bewußtseinsmäßiges oder auf räum­
lichtranszendentes Sein richte, ob sie das Sein des intentionalen Gegenstandes
setze oder diese Setzung neutralisiere usw. Und schließlich müßte zu dieser
grundsätzlichen Debatte zumindest noch ein dritter Gesprächspartner, näm­
lich Meinong zugelassen werden. Auch hier müssen wir uns mit dem bloßen
Hinweis darauf begnügen, daß die Beziehung von Brentanos, Meinongs und
Husserls Beschäftigung mit der Intentionalität >>auch heute noch . . . der Titel
eines zentralen Problems<< ist und daß die Vertrautheit mit Husserls Begriff der
Intentionalität nicht etwa das Studium der Schriften seiner vermeintlichen Vor­
gänger entbehrlich macht (vgl. dazu Mohanty, 1 972).
Die wichtigste Bedingung einer möglichen, voraussetzungslosen phänome­
nologischen Wissenschaft vom Bewußtsein ist deren Beschränkung auf eviden­
te Gegebenheiten. Als evidente Selbstgegebenheiten gelten dem frühen Husserl
nur adäquate Gegebenheiten. Diesen Bereich adäquater Gegebenheiten bestimmt
Husserl in den Logischen Untersuchungen als Feld der in phänomenologisch rei­
ner Reflexion gegebenen reellen Bewußtseinsinhalte. Reelle Bewußtseinsinhal­
te sind (im Gegensatz zu realen und idealen Gegenständen) im zeitlichen Strom
des phänomenologischen Bewußtseins selbst liegende, stetig neu auftretende und
verfließende Bewußtseinsmomente (vgl. unten S. 98 ff.), welche die phänome­
nologische Wissenschaft allerdings in eidetischer Einstellung, d. h. in ihren We­
sensstrukturen beschreibt (vgl. oben S. 75 ff.). Reelle Bewußtseinsinhalte haben
§ 1 . Die Intentionalität 87

nicht notwendigerweise die Form von intentionalen Akten, aber auch die nicht­
intentionalen reellen Empfindungsdaten stehen in möglichem Zusammenhang
mit intentionalen Akten bzw. apperzeptiven Auffassungen (vgl. unten S. l l O ff.).
In den Ideen I wird das Gebiet der phänomenologisch evidenten Gegebenheiten
über die Sphäre reeller Immanenz hinaus erweitert. Der phänomenologisch rei­
nen Reflexion sind nicht nur die intentionalen Akte, sondern auch deren in­
tentionale Korrelate adäquat selbstgegeben, d. h. die Gegenstände, so wie sie
in diesen Akten vermeint sind. Nennen wir alle reinen Gegebenheiten der phä­
nomenologischen Reflexion >>immanent<<, so haben wir folglich zwischen >>reell­
immanenten<< Inhalten wie den intentionalen Akten und >>intentional-immanen­
ten<< Inhalten wie den intentionalen Korrelaten zu scheiden. (Beschränken wir
hingegen, wie Husserl das zuweilen auch tut, die Anwendung des Begriffs der
Immanenz auf reell immanente Gegebenheiten, so müssen wir die intentiona­
len Korrelate >>transzendent<< nennen und sie aber zugleich von der Transzen­
denz der natürlichen Realität unterscheiden.) In der Terminologie der Ideen I
(vgl. § 8 8) gesprochen, haben wir zwischen noetischen und noematischen phä­
nomenologischen Gegebenheiten zu differenzieren. Natürlich hat die Einbe­
ziehung noematischer Gegebenheiten in das Feld der Phänomenologie auch
ihre Folgen für die Lehre von der Intentionalität, Husserl spricht zuweilen so­
gar von >>noematischer Intentionalität<< (§§ 1 0 1 , 1 04). Es ist dennoch sinnvoll,
zuerst die ausdrücklich noetische Formulierung der intentionalen Bewußtseins­
funktion vorzustellen, denn sie behält auch nach der Einführung des Noema
noch ihre volle Gültigkeit. Diese bleibende Gültigkeit verdankt sie dem Um­
stand, daß Noesis und Noema nicht nur parallel zu erforschende Gegebenheits­
strukturen sind, sondern daß Gegebenheitsweise und Wesensbestimmung des
noematischen Korrelates in den Ideen I deutlich von der Bestimmung der Noe­
sis bzw. des intentionalen Erlebnisses hergeleitet werden (vgl. § 98).

Der intentionale Akt (Noesis)

Intentionale Akte zeichnen sich nicht nur dadurch aus, daß sie sich auf Gegen­
stände beziehen bzw. auf sie >>abzielen<< ( V. LU, §§ 10, 1 3), sondern auch da­
durch, daß diese intentionale Richtung gesetzlich zu erfassende Differenzierun­
gen erfährt (§ 14 ). Schon Brentano unterschied zwischen verschiedenen Arten
intentionaler Bezüge bzw. verschiedenen >>psychischen Phänomenen<<. Von Bren­
tano (und auch von Natorp) unterscheidet sich Husserl jedoch dadurch, daß
er diese Differenzierung nicht etwa von den verschiedenen Arten intentionaler
Gegenstände herleitet, sondern sie ausschließlich in der Wesensstruktur des
intentionalen Aktes begründet. Überhaupt leitet sich alles, was in einer noeti-
88 3 . Kapitel. Allgemeine Strukturen des Bewußtseins

sehen Phänomenologie über den intentionalen Gegenstand gesagt werden kann,


unmittelbar ab von der Beschreibung des intentionalen Aktes: >>Der Gegenstand
ist ein intentionaler, das heißt, es ist ein Akt mit einer bestimmt charakterisier­
ten Intention, die in dieser Bestimmtheit eben das ausmacht, was wir die Inten­
tion auf diesen Gegenstand nennen.<< (§ 20) >>Es sind . . . nicht zwei Sachen
erlebnismäßig präsent, es ist nicht der Gegenstand erlebt und daneben das in­
tentionale Erlebnis, . . . sondern nur Eines ist präsent, das intentionale Erlebnis,
dessen wesentlicher deskriptiver Charakter eben die bezügliche Intention ist.<<
(§ l l a) Dieser Charakter, eine »Gegenständlichkeit . . . vorstellig zu machen<< ist
denn auch das allen intentionalen Erlebnissen ungeachtet ihrer Verschieden­
heiten Gemeinsame; die verschiedenen Arten von intentionalen Erlebnissen ge­
hören derselben Gattung der »objektivierenden Akte<< an (§ 4 1).
Das allen objektivierenden Akten gemeinsame Moment, das die Funktion
hat, eine intentionale Gegenständlichkeit vorstellig zu machen, nennt Busserl
die >>Materie<< des Aktes: >>Die Materie galt uns als dasjenige Moment des objek­
tivierenden Aktes, welches macht, daß der Akt gerade diesen Gegenstand und
gerade in dieser Weise, d. h. gerade in diesen Gliederungen und Formen, mit
besonderer Beziehung auf diese Bestimmtheit� n oder Verhältnisse vorstellt.<< ( VI
LU, § 25) Jedes Wort dieser Definition ist wichtig und faßt eine ganze Reihe
von Überlegungen in der V. Logischen Untersuchung prägnant zusammen. Die
wichtigste Bestimmung der Materie ist zweifellos, daß sie den Akt auf >>gerade
diesen Gegenstand<< bezieht und zwar in einer >>Weise<<, die zugleich die >>Be­
stimmtheiten<< dieses Gegenstandes impliziert. Die Materie bestimmt also, auf
welchen Gegenstand sich der Akt bezieht (denoting) und in dieser >>gegenständ­
lichen Beziehung<< bestimmt sie zugleich die Merkmale dieses Gegenstandes (con­
noting): >>durch die Materie ist nicht nur das Gegenständliche überhaupt, welches
der Akt meint, sondern auch die Weise, in welcher er es meint, fest bestimmt<<
( V. LU, § 20). Unter diese >>Weise<< fallen nun aber nach obigem Zitat aus der
VI. Logischen Untersuchung nicht bloß die dem Gegenstand zugesprochenen
Merkmale, sondern zugleich auch die >>Gliederungen und Formen<<, mit denen
diese Merkmale dem Gegenstand zugesprochen werden. Die einfachste, weil
unmittelbarste Weise, sich auf einen bestimmten Gegenstand zu beziehen, ist
diejenige der Namen ( V. LU, § § 33 f.). Im Nennen bezieht sich der Akt direkt,
>>wie mit dem Finger<< auf den Gegenstand, >>das Gegenständliche in einem Mei­
nungsstrahl meinend<<. Die Materie eines solchen >>eingliedrigen (einfältigen) Ak­
tes<< (§ 33) ist eine >>eingliedrige Materie« (§ 42). Diese >>einstrahligen<< Akte des
Nennens unterscheiden sich von den »mehrstrahligen<< Akten, d. h. den >>pro­
positionalen<< bzw. »synthetischen<< Akten (§§ 33, 36, 38). Als Beispiel eines
propositionalen Aktes nennt Busserl hier bloß das prädikative Urteilen, er hätte
aber zugleich auch auf die verstandesmäßigen Akte des Kolligierens, Beziehens
§ 1 . Die Intentionalität 89

usw. verweisen können, d. h. auf all diejenigen Akte, die er in der VI. Logischen
Untersuchung als kategoriale Akte bezeichnet (vgl. unten S. 1 69 ff.). Ohne unse­
ren späteren Ausführungen vorgreifen zu wollen, müssen wir doch betonen,
daß diese kategorialen Akte fundierte Akte sind, und zwar letztlich fundiert in
einstrahligen Akten. Die >>gegliederte<< Materie eines »synthetischen, mehrstrah­
lig-einheitlichen Aktes« (§ 42) setzt Akte einstrahliger Vermeinung bzw. >>ein­
gliedrige Materien<< voraus, in denen die Glieder der synthetischen Vermeinung
schlicht vermeint werden. So ist nach Husserls Auffassung z. B. der prädikative
Satz >>Der Bleistift ist rot<< in der schlichten Vorstellung des Bleistiftes fundiert.
Unser Leittext aus der VI. Logischen Untersuchung bezeichnete die Materie
aber auch noch als ein >>Moment<< des objektivierenden Aktes. Und >>Moment«
bedeutet nach der in der /!I. Logischen Untersuchung eingeführten Terminolo­
gie »unselbständiger Teik Wir müssen uns also fragen, mit welch anderen un­
selbständigen Momenten zusammen die Materie welches selbständige Ganze
bildet. Die Antwort lautet: >>Im deskriptiven Inhalt jedes Aktes haben wir Qua·
lität und Materie als zwei einander wechselseitig fordernde Momente«, und >>die
Einheit« der beiden >>durchaus wesentlichen und daher nie zu entbehrenden
Bestandstücke eines AkteS<< bezeichnen wir >>als das intentionale Wesen des Ak­
tes«. ( V. LU, § 2 1 ) Qualität und Materie sind dabei ebenso wie ihre Einheit,
das intentionale Wesen, reelle Momente des intentionalen Aktes, welche zwar
>>den konkreten vollständigen Akt nicht ausmachen«, aber doch die wesentli­
chen Bedingungen für dessen intentionale Funktion sind. Husserls Interesse geht
in der Beschreibung des Aktes nicht auf dessen psychologische Konkretion, son­
dern bloß auf diejenigen Strukturmomente jedes intentionalen Aktes, welche
Träger der allgemeinen intentionalen Funktion der subjektiven Beziehung auf
einen Gegenstand sind.
Die Qualität bezeichnet den Modus, in dem ein gewisser, so und so bestimm­
ter intentionaler Gegenstand vermeint wird (§§ 20, 26, 30). Verschiedene inten­
tionale Akte mit derselben Materie unterscheiden sich dadurch, >>daß derselbe
Inhalt . . . Inhalt einer Frage, eines Zweifels, eines Wunsches und dergleichen sein
kann.« (§ 20) Die Qualität bezieht sich also auf eine Mannigfaltigkeit verschie­
dener subjektiver Einstellungen im Vollzug des intentionalen bzw. objektivie­
renden Aktes. Die strukturelle Einheit, welche diese verschiedenen Vollzugsmodi
des Fragens, Zweifelns usw. miteinander verbindet, kommt in den Logischen
Untersuchungen jedoch noch nicht zu deutlicher Abhebung. Erst die Ideen I
(§§ 103 ff.) geben eine deutliche Antwort auf diese Frage und bestimmen Zwei­
feln, Wünschen, Fragen usw. als Modalisierungen der Weise, einen intentiona­
len Gegenstand setzend zu vermeinen. Die Urform der Setzung ist dabei die
Seins-Setzung bzw. der Seins-Glaube (>>Urdoxa«). Fragen, Zweifeln usw. sind
Modalisierungen dieses doxischen Glaubens, in denen der bestimmte intentionale
90 3. Kapitel. Allgemeine Strukturen des Bewußtseins

Gegenstand als fraglich-seiend, zweifelhaft-seiend usw. bewußtseinsmäßig ver­


meint wird. Dieses positionale intentionale Bewußtsein braucht jedoch nicht
notwendig die Form aktuell vollzogener Setzung zu haben, die Setzung kann
auch eine bloß >>potentielle<< sein (Ideen I, § 1 1 3). Die Qualität bezeichnet also
den allen intentionalen Akten zugehörigen Setzungscharakter, wobei diese Set­
zung nicht nur die Form des Urglaubens, sondern auch des Fragens usw. ha­
ben kann und nicht nur eine aktuell, sondern auch potentiell vollzogene sein
kann. Die Charakterisierung der intentionalen Aktqualität als (vernunftmäßig
zu rechtfertigende) kognitive Setzung und ihres noemarischen Korrelates als
Seins-charakter gab auch der terminologischen Bezeichnung des intentionalen
Aktes als Noesis die Richtung (Ideen I, §§ 85 f.). Die Modalisierung der Setzungs­
qualität des intentionalen Aktes ist jedoch nicht die einzige Weise, wie Akte
mit gleicher Materie sich noch voneinander abheben können. Eine Wahrneh­
mung und eine Erinnerung beziehen sich möglicherweise in derselben doxi­
schen Einstellung auf denselben intentionalen Gegenstand, mit identischer
Bestimmung und in identischer Gliederung. Was diese Akte voneinander schei­
det, ist die Weise, in der sie ihren intentionalen Gegenstand intuitiv >>repräsen­
tieren<< (vgl. unten S. 132 ff.). Obwohl die anschauliche Fülle eines Aktes mit
der doxischen Setzung bzw. Erkenntnisprätention in einem funktional sehr en­
gen Zusammenhang steht (vgl. unten S. 1 68), scheint es zweckvoll, sie nicht
mehr als eine Modifikation der Aktqualität selbst zu bezeichnen. Die Logischen
Untersuchungen bestimmen die Aktqualität nämlich als ein allen intentionalen
Akten (und nicht bloß den anschaulichen Akten) wesensmäßig gemeinsames
Moment, und auch die Ideen I scheiden zwischen noemarischen >>Seinscharak­
teren<< (§ 1 03) und (möglicherweise intuitiven) >>Gegebenheitsweisen<< (§ 99).
Ebenso wie Husserl zwischen eingliedrigen und fundierten Aktmaterien un­
terschied, differenziert er nun auch zwischen intentionalen Erlebnissen mit ein­
facher oder fundierter Aktqualität. Akte mit einfacher Aktqualität sind alle
objektivierenden A kte ( V LU, §§ 37 f. , 4 1), sowohl die im Urmodus des Seins­
glaubens vollzogenen als auch die im Modus des Zweifelns, Fragens usw. einen
intentionalen Gegenstand setzenden Akte. Ein intentionaler Akt mit fundier­
ter Qualität ist im strengen Sinne kein objektivierender Akt, aber er hat >>ei­
nen objektivierenden Akt . . . zur > Grundlage <, d. h. er hat . . . einen objekti­
vierenden Akt notwendig als Bestandstück in sich, dessen Gesamtmaterie zu­
gleich, und zwar individuell identisch seine Gesamtmaterie ist.<< (§ 4 1 ) Es han­
delt sich bei diesen qualitativ komplexen Akten um Erlebnisse der Gemüts-,
Willens- und Wertsphäre. Ein Erlebnis der Freude z. B. ist kein schlicht objek­
tivierender Akt, sondern eine (bloß) subjektive Einstellung, welche aber den
intentionalen Bezug auf den als erfreulich erfahrenen Gegenstand voraussetzt
(vgl. auch Ideen I, § 1 1 6). Und dieser fundierende objektivierende Akt kann
§ 1 . Die Intentionalität 91

natürlich sowohl ein Akt mit eingliedriger Materie sein (Freude a n einem ein­
strahlig vorgestellten Gegenstand) als auch ein Akt mit gegliederter Materie (Freu­
de an einem synthetisch vorgestellten und kategorial geformten Gegenstand,
z. B. der lustig klappernden Mühle am Bach . . . ).
Husserl nannte Qualität und Materie >>einander wechselseitig fordernde Mo­
mente<< des intentionalen Aktes. Es ist leicht einzusehen, inwiefern die Quali­
tät der Ergänzung durch die Materie bedarf: >>Die Qualität bestimmt nur, ob
das in bestimmter Weise bereits > Vorstellig Gemachte < als Erwünschtes, Erfrag­
tes . . . u. dgl. intentional gegenwärtig sei.« (§ 2 1 ) Die korrelative notwendige
Ergänzung der Materie durch die Qualität etabliert Husserl in Form einer lang­
wierigen Auseinandersetzung mit Brentanos Begriff der bloßen Vorstellungen
( V LU, Kap. 3 und z. T. auch Kap. 4 und 5). Brentano hatte nämlich die (un­
selbständigen) Funktionen der einen Gegenstand vorstellig machenden Materie
einerseits und der Qualität, d. h. der doxischen Stellungnahme andererseits zwei
verschiedenen, selbständigen Bewußtseinsformen zugeschrieben, nämlich den
bloßen Vorstellungen und den Akten doxischen Setzens. Der Nerv von Bus­
serls Kritik besteht im Nachweis, daß all diejenigen Phänomene, die Brentano
zur Stützung seines Begriffs der bloßen, setzungslosen Vorstellung anführt (z. B.
Verstehen eines Urteils ohne Zustimmung), phänomenal plausibler und lo­
gisch konsequenter als Modifikationen der Klasse der doxisch setzenden ob­
jektivierenden Akte zu fassen sind. Es gibt also keinen doxisch unqualifizierten
Bezug auf einen intentionalen Gegenstand, kein isoliertes Auftreten der Mate­
rie: »Eine Materie, die weder Materie eines Vorstellens, noch die eines Urteilens
u. dgl. wäre, wird man für undenkbar erachten.« (§ 20) Vermöge der notwendi­
gen, wechselseitigen Ergänzung von Materie und Qualität und angesichts der
beide kennzeichnenden Modifikationsreihen gibt es also: 1) objektivierende Akte
mit eingliedriger Materie (nominale Vorstellungen) oder 2) mit gegliederter Ma­
terie ( mehrstrahlig-synthetische Akte wie z. B. das prädikative Urteilen); gehen
wir über zu den intentionalen Erlebnissen, deren Qualität eine fundierte ist,
so erhalten wir: 3) Gemüts- und Willensakte mit eingliedriger Materie und 4)
mit gegliederter Materie. Jeder intentionale Akt ist in eine dieser vier Klassen
einzureihen, doch die Berücksichtigung der intuitiven Fülle der Akte erlaubt
weitere Differenzierungen innerhalb jeder dieser Klassen (Akte des Wahrneh­
mens und Phantasierens gehören z. B. beide in die Klasse 1).

Das intentionale Korrelat (Noema)

Die Ideen I übernehmen den Gehalt der in den Logischen Untersuchungen erar­
beiteten Wesensbestimmung des intentionalen Aktes ohne wesentliche Abstri-
92 3. Kapitel. Allgemeine Strukturen des Bewußtseins

ehe. Als wesentlich neuer Beitrag zur noetischen Intentionalanalyse ist neben
der neuen Lehre vom doxischen Charakter der Gemüts- und Willensakte (vgl.
unten S. 1 3 7) und der genaueren Analyse des Phänomens der intentionalen Im­
plikation (vgl. unten S. 135) vor allem auch die Übertragung der Funktion inten­
tionaler Vermeinung auf inaktuelles bzw. potentielles Bewußtsein zu erwäh­
nen (vgl. Ideen I, §§ 35, 1 1 3). Nicht jedes intentionale Erlebnis ist Erlebnis ei­
nes >» wachen < Ich<<, eines >>> cogito <<< im >>prägnanten Sinn<<, das sich >>aktuell<<
auf einen >>explizit<< vermeinten intentionalen Gegenstand richtet. Ebenso wie
ein Ding sich in eine gegenständliche Umgebung einordnet, so ist auch jedes
aktuelle Erlebnis >>Von einem > Hof< von inaktuellen [Erlebnissen] umgeben<<.
Jedes dieser inaktuellen Erlebnisse ist >>auch . . . ein >Bewußtseinserlebnis <, oder
kürzer, > Bewußtsein < . . . > VOll<<<. Und jedes >>implizite<< intentionale Bewußtsein
läßt sich explizieren, jedes >>potentielle<< Erlebnis ist potentiell aktuell, motivierte
Möglichkeit eines im Modus des cogito vollzogenen intentionalen Aktes (§ 35).
Wir werden noch sehen, welch entscheidende Rolle diese potentiellen Erleb­
nisse in der Struktur des Zeitbewußtseins und auch der Dingwahrnehmung
spielen.
Der wichtigste Beitrag, den die Ideen I zur Weiterentwicklung der phänome­
nologischen Intentionalanalytik liefern, betrifft jedoch zweifellos die Bestim­
mung des intentionalen Korrelates, der noematischen Gegebenheits- und
Funktionsformen. Die diesbezüglichen Ausführungen der Ideen I stützen sich
auf die umfangreichen Forschungen der Jahre 1 906 bis 19 12, die im Nachlaß
in Form sowohl von Vorlesungs- als auch von Forschungsmanuskripten erhal­
ten sind. Wie es bei einem >>in 6 Wochen, ohne Entwürfe als Unterlage, wie
in trance hingeschriebenen<< Text (vgl. Hu III/ 1 , S. XXXIX), der zudem als >>all­
gemeine Einführung in die reine Phänomenologie<< gedacht war, zu erwarten
ist, bleiben die Ausführungen der Ideen I oftmals erheblich hinter dem in den
Nachlaßmanuskripten bereits erreichten Stand der Problementwicklung zurück.
Die meisten der zahllosen Kontroversen, welche die Interpretation der Ideen I
und insbesondere den Begriff des Noema zum Gegenstand hatten, lassen sich
nur durch das Studium dieser überaus sorgfältig ausgearbeiteten Nachlaßtexte
sachgerecht entscheiden. Wenn wir uns im folgenden dennoch vor allem am
Wortlaut der Ideen I orientieren, so hat das seinen Grund nicht bloß im be­
schränkten Rahmen der vorliegenden Darstellung, sondern auch im Umstand,
daß die meisten dieser einschlägigen Nachlaßtexte noch unveröffentlicht sind.
Seine erstmalige Berücksichtigung im Rahmen phänomenologischer Gege­
benheiten verdankt das Noema der Überlegung, daß einerseits die Gegeben­
heit der intentionalen Vermeinung eines Gegenstandes und andererseits die
Gegebenheit des Gegenstandes gerade so, wie er in dieser Vermeinung >>liegt<<,
§ 1 . Die Intentionalität 93

nicht bloß korrelativ, sondern auch gleichermaßen evident sind: Der Phäno­
menologe >>blickt sowohl hin auf die Phänomene als auch auf die in den Phä­
nomenen erscheinenden oder denkmäßig gemeinten Gegenständlichkeiten . . . .
Evidentermaßen können wir . . . beschreiben, einen wie bestimmten Gegenstand
sie [sc.: die Wahrnehmung oder Phantasie] in ihrer Weise vorstellig machen,
wir können beschreiben, . . . was zum Wesen des Bewußtseins gehört, des Be­
wußtseins, sofern es Bewußtsein einer gewissen Objektivität ist, . . . und zur kor­
relativen Gegenständlichkeit, soweit und so wie sie in diesem sogearteten Bewußtsein
bewußt ist . . . << (Hu XXIV, S. 230 ff. (Dez. 1906)). Das wichtigste Motiv dieser
Berücksichtigung der intentionalen Korrelate im Rahmen der Phänomenolo­
gie ist deutlich ein erkenntnistheoretisches Interesse: es geht darum, im Rah­
men rein phänomenologischer Gegebenheiten das Studium der erkenntnis­
mäßigen Relation zu ermöglichen: >>Also das zeigt sich überall, diese wunder­
bare Korrelation zwischen Erkenntnisphänomen und Erkenntnisobjekt . . . Und
die Aufgabe ist nun doch die, innerhalb des Rahmens reiner Evidenz oder Selbst­
gegebenheiten . . . allen Korrelationen nachzugehen . . . Die Phänomenologie der
Erkenntnis ist Wissenschaft von Erkenntnisphänomenen in dem doppelten Sinn,
von den Erkenntnissen als . . . Bewußtseinsakten, in denen sich diese und jene
Gegenständlichkeiteil darstellen . . . , und andererseits von diesen Gegenständlich­
keiteil selbst als sich so darstellenden.« (Hu II, 12 ff. ( 1907)) Das intentionale
Korrelat bzw. Noema wird also eingeführt als Struktur gegenständlicher Ver­
meintheit bzw. als "Erkenntnisgegenstand, >>SO weit und so wie« er innerhalb
der phänomenologischen Reduktion in Anspruch genommen werden darf: »Voll­
ziehen wir nun die phänomenologische Reduktion, so erhält jede transzenden­
te Setzung, also vor allem die in der Wahrnehmung selbst liegende, ihre aus­
schaltende Klammer . . . Und so fragen wir denn überhaupt, diese Ausschaltun­
gen in ihrem klaren Sinn innehaltend, was in dem ganzen > reduzierten < Phäno­
men evidenterweise > liegt < . Nun, dann liegt eben in der Wahrnehmung auch
dies, daß sie . . . ihr > Wahrgenommenes als solches < hat, > diesen blühenden Baum
dort im Raume < - mit den Anführungszeichen verstanden - eben das zum
Wesen der phänomenologisch reduzierten Wahrnehmung gehörige Korrelat.«
(Ideen I, § 90) Und dieses >>> Wahrgenommene als solches «< ist nichts anderes
als das >>Wahrnehmungs-Noema« (§ 88).
Dieses noemarische Korrelat ist - ebenso wie die Noesis - phänomenolo­
gisch adäquat gegeben (§§ 88, 90, 98, 144, 149). Vom natürlichen realen Gegen­
stand scheidet sich dieses Noema aber nicht bloß durch die absolute Evidenz
seiner Gegebenheit, sondern auch durch deren reflexiven Charakter: >>Die pri­
märe Einstellung ist die auf das Gegenständliche, die noematische Reflexion führt
auf die noematischen, die noetische auf die noetischen Bestände.<< (§ 148) Wo­
durch gerrau sich diese >>eigenartige« noemarische Reflexion (§ 89) von der noe-
94 3. Kapitel. Allgemeine Strukturen des Bewußtseins

tischen Reflexion unterscheidet, bleibt jedoch undeutlich. Und diese Undeut­


lichkeit betrifft zugleich das ganze Verhältnis von Noesis und Noema: Einer­
seits ist das >>Bewußtseinskorrelat von Bewußtsein unabtrennbar<< (§ 128), ein
»Unselbständiger Gegenstand<< (§ 98) und andererseits gilt doch: >>Trotz dieser
Unselbständigkeit läßt sich aber das Noema für sich betrachten« (§ 98). Diese
undeutliche Bestimmung sowohl der Eigenart der noematischen Reflexion als
auch der Eigenständigkeit der noematischen Gegebenheit führt uns schließlich
zur Einsicht, daß der bewußtseinsmäßige Status des Noema überhaupt undeut­
lich bleibt. Deutlich ist in den Ideen I allein die konsequente Feststellung, das
Noema sei keine reell immanente bewußtseinsmäßige Gegebenheit (§§ 8 8 , 90,
97 f. , 128). Als sich Husserl dann aber später genauer für die zeitliche Indivi­
duation des jeweiligen Korrelates einer jeweiligen Aktphase interessierte, geriet
auch dieser Punkt wieder ins Wanken: >>Jede Erinnerung hat ihr Vermeintes,
und das Vermeinte als solches hat dieselbe Zeitstelle wie die Erinnerung . . . Al­
so wieder zeigt es sich, daß kein Grund ist, das > Noema < vom Erlebnis abzu­
rücken und ihm den Charakter eines reellen Momentes zu bestreiten.« (Hu XI,
S. 335) Allerdings ist damit aber die Scheidung zwischen Noema und Noesis
nicht überhaupt und schlechthin in Frage gestellt. Die Frage der reellen Be­
schlossenheit des Noema im Bewußtseinsvollzug betrifft nur einen ganz be­
sonderen und engen Begriff des Noema, nämlich das jeweilige, punktuelle
Bewußtseinskorrelat einer Aktphase. Zudem operiert Husserl im obigen Zitat
mit der nicht unproblematischen Voraussetzung einer , Gleichzeitigkeit < (im
Sinn der gleichen Lokalisierung im gleichen Zeitstrom) von Aktphase und in­
dividuellem noematischem Korrelat. Es besteht jedenfalls kein Grund, noema­
tischen .Einheiten wie z. B. den ideal-identischen noematischen Sinn oder die
»Gegenständlichkeit« (in Anführungszeichen) qua bewußtseinsmäßig konsti­
tuierte als reell immanente Gegebenheiten zu bezeichnen und sie dem Bewußt­
seinsstrom als Momente einzulegen. Eine kritische Besinnung auf den Bewußt­
seinsstatus des Noema müßte sich also primär damit befassen, die verschiede­
nen Formen möglicher noematischer Gegebenheit deutlicher zu differenzie­
ren, als Husserl dies in den Ideen I selbst getan hat.
Deutlich ist jedenfalls, daß das Noema als phänomenologisch reine und re­
flexive Gegebenheit mit dem noetischen Vollzug intentionaler Akte in sehr en­
gem Zusammenhang steht. Als >>Gegenstand« gerade so, wie er vermeint ist,
weist das noematische Korrelat eine parallele Strukturierung auf wie der ent­
sprechende intentionale Vermeinungsakt. Ebenso wie verschiedene Akte des
Fragens, Zweifelns usw. eine selbe intentionale Materie haben können, so läßt
sich auch in ihren mannigfaltigen noematischen Korrelaten ein mit verschiede­
nen Seinscharakteren versehener >>noematischer Kern<< isolieren (§§ 99, 102, 129,
133). Dem die Aktqualität einheitlich strukturierenden doxischen Urmodus
§ 1 . Die Intentionalität 95

des Glaubens entspricht die Kennzeichnung des noemarischen Kerns als wirk­
lich seiend (§ 1 04). Als Korrelat eines intentionalen Frageaktes ist dann der ver­
meinte Gegenstand eben als fraglich seiend bewußt. Diese parallele Struktu­
rierung betrifft aber nicht bloß die Aktmaterie und den noemarischen Kern
sowie die Aktqualität und die noemarischen Seinscharaktere, sondern auch ih­
re jeweiligen Fundierungsstufen. Der Stufenbildung auf seiten der Akte ent­
spricht eine noemarische Stufenbildung, und Husserl spricht hinsichtlich der
Weise, in der verschiedenstufige Noemata aufeinander verweisen, von >>noema­
tischer Intentionalität<< (§ 1 0 1). Schließlich entsprechen sich Aktmaterie und
noemarischer Kern auch nicht bloß hinsichtlich ihrer Fundierungsstufen, son­
dern ebenfalls hinsichtlich ihrer allgemeinen intentionalen Funktion. Wie die
Aktmaterie einen gewissen Gegenstand bezeichnet und ihn durch Merkmale
bestimmt, so ist auch der intentionale Gegenstand qua vermeinter ein gewisser
Gegenstand mit verschiedenen Merkmalen. Und ebenso, wie verschiedene Ak­
te sich auf denselben Gegenstand, jedoch noch in verschiedener Bestimmung
beziehen können, so können auch verschiedene Noemata bzw. genauer ver­
schiedene noemarische Kerne ( = >>Was<<) trotz ihrer Verschiedenheit noch ei­
nen gemeinsamen Gegenstand (= »X<<) haben: »Mehrere Aktnoemata haben
hier überall verschiedene Kerne, jedoch so, daß sie sich trotzdem zur Identitäts­
einheit zusammenschließen, zu einer Einheit, in der das > Etwas <, das Bestimm­
bare, das in jedem Kern liegt, als identisches bewußt ist. << (§ 1 3 1) Nennt man
die inhaltlichen Bestimmungen des bestimmbaren Etwas (in einem über die Ur­
teilssphäre hinaus erweiterten Sinn) »Prädikate<< (§ 130), so ist dieses identische
Etwas ein »Zentrales noemarisches Moment . . . : der > Gegenstand<, das > Objekt <,
das > Identische <, das > bestimmbare Subjekt seiner möglichen Prädikate < - das
pure X in Abstraktion von allen Prädikaten - . . . << (§ 1 3 1) Nennt man den noe­
marischen Kern »Sinn<< (§§ 99, 129, 132) und das als »Sinnessubjekt<< qualifi­
zierte X (§ 145) »Gegenstand<<, so liefert die Beschreibung des Zusammenhangs
von noemarischem Kern und X also auch eine Antwort auf »das phänomeno­
logische Problem der Beziehung des Bewußtseins auf seine Gegenständlichkeit<<
',§ 128). Genauer besehen hat diese Antwort aber noch eine doppelte Bedeu­
tung: Einerseits gilt überhaupt: »Jedes Noema hat einen > Inhalt <, nämlich sei­
nen > Sinn < und bezieht sich durch ihn auf > Seinen < Gegenstand.<< (§ 129; vgl.
auch §§ 128, 1 35) Andererseits verstehen wir aber nicht nur, daß sich »jedes<<
Noema auf einen Gegenstand bezieht, sondern auch, wie es sich auf diesen Ge­
genstand zu beziehen hat, damit die Wirklichkeit des »Gegenstandes<< eine
•.Tkenntnistheoretisch ausgewiesene ist: Die Erforschung des »wirklichen Ge­
�:·.:nstandes<< ist »Titel für gewisse eidetisch betrachtete Vernunftzusammenhänge,
1 : : denen das in ihnen sinngemäß einheitliche X seine vernunftmäßige Setzung

e:hält.<< (§ 145; vgl. auch § 1 3 5) Und diese vernunftmäßige Setzung rechtfertigt


96 3. Kapitel. Allgemeine Strukturen des Bewußtseins

sich im einheitlichen Zusammenhang von anschaulich erfüllten Sinnen bzw.


Noemata (vgl. §§ 142, 1 44 f.).
Wir werden auf diese Theorie der Beziehung des noematischen Korrelates
auf >>seinen<< Gegenstand im Zusammenhang der Urteilsanalyse und auch der
wahrnehmungsmäßigen Konstitution des Dinges noch näher eingehen. Auffal­
lend ist in den Ausführungen der Ideen I vor allem der schillernde Gebrauch
des Terminus >>noematischer Sinn«. Als >>Sinn« wird bezeichnet: 1) der phäno­
menologisch reduzierte Gegenstand (der Gegenstand in Anführungszeichen)
bzw. das Vermeinte als solches (§§ 88, 90) - wobei noch gerrauer zwischen dem
(mannigfaltigen) noematischen Korrelat eines jeweiligen, punktuellen Aktes und
dem (einheitlichen) noematischen Korrelat eines kontinuierlich-einheitlichen
Zusammenhangs mannigfaltiger konstituierender Bewußtseinsakte zu scheiden
wäre; 2) ein bloß abstraktes Moment des vollen Noema ( 1), nämlich der noe­
=

matische Kern (§§ 99, 129, 1 32); 3) >>das identische noematische Was«, d. h. die
noemarische Urteilsbedeutung (§ 94). Diese Aequivokation des noematischen
Sinnbegriffs ist auch der wesentliche Grund dafür, daß der eine Interpret der
Ideen I das Noema als eine ideal-identische Vermeintheit bezeichnet und der
andere als eine jeweilige erscheinungsmäßige Gegebenheit, daß dem einen In­
terpreten die Rede von der gegenständlichen Beziehung des Noema »durch«
bzw. »mittels« des Sinnes als eine metaphorische oder schlechthin unangemes­
sene gilt und noch einem anderen dagegen als eine wertvolle Ergänzung einer
Fregeanschen Semantik. Trotz der Unsicherheit darüber, was nun die eigentli­
che Bedeutung von Husserls Begriff des Noema ausmache, ist dieser Begriff
in der Gegenwartsphilosophie zu einem bevorzugten Anknüpfungspunkt der
Auseinandersetzung mit der Husserlschen Phänomenologie geworden.

§ 2. Das Zeitbewußtsein

Das fundamentalste Bewußtsein, das in allen andern Bewußtseinsstrukturen und


-formen vorausgesetzt ist, ist nach Husserl das Bewußtsein der Zeit: »Im ABC
der Konstitution aller bewußtwerdenden Objektivität, und der Subjektivität
für sich selbst als seiend, liegt hier das A. Es besteht, wie wir sagen können,
in einem universalen formalen Rahmen, in einer synthetisch konstituierten
Form, an der alle anderen möglichen Synthesen Anteil haben müssen.« (Hu
XI, S. 125) Allerdings hat Husserl in seiner Darstellung der Bewußtseinsstruk­
turen nicht immer mit diesem A angefangen, vielmehr hat er im ersten Band
seiner Ideen diese »Problemsphäre von ausnehmender Schwierigkeit« ausge­
schaltet. 1

1 Siehe Ideen I, S. 162 (Ausg. 1913), Ideen I!, S. 102/03 , ITL, S. 292 (Ausg. 1929: S. 252).
§ 2. Das Zeitbewußtsein 97

Husserls Untersuchung der Problematik des Zeitbewußtseins verfolgt zwei


Hauptrichtungen: einerseits eine in gewissem Sinne objektive Richtung, die aus­
geht von der Frage nach der Möglichkeit der Erfassung eines Zeitobjekts (einer
Dauer, z.B. der Dauer eines Tones, oder eines zeitlichen Ablaufes, z. B. einer
Melodie); andererseits eine subjektive Richtung, die das Bewußtsein als zeiti­
gende, alle zeitliche Erscheinung konstituierende »absolute Subjektivität<<, aber
auch in seiner Selbsterscheinung oder Selbstzeitigung als konstituierter Bewußt­
seinsfluß zum Thema hat. In unserer Darstellung folgen wir der hier angezeig­
ten Problemordnung.
In der ersten Fragerichtung, bei der Frage, wie sich im Bewußtsein ein Zeit­
objekt konstituieren kann, geht Husserl von Franz Brentanos Zeittheorie aus.
Franz Brentano legte seiner Zeittheorie die Feststellung zugrunde, daß uns bei
der Erfassung eines zeitlichen Vorganges das einmal Wahrgenommene unmit­
telbar nachher noch eine Zeit lang im B ewußtsein gegenwärtig bleibt, dabei
aber zugleich als ein mehr oder minder Vergangenes, als ein gleichsam zeitlich
Zuriic kgeschobenes erscheint: beim H Ö ren einer Melodie ist beim Erklingen ei­
nes neuen Tones der vorangegangene, verklungene Ton nicht völlig aus dem
Bewußtsein verschwunden, sonst wäre gar keine Erfassung einer Melodie mög­
lich; aber der verklungene Ton verbleibt auch nicht einfach als Tonempfindung,
sondern ist durch seine Zeitbestimmtheit modifiziert, sonst hätten wir keine
Melodie (Tonfolge), sondern einen Akkord bzw. ein Tongewirr. Dieses Phäno­
men legt Brentano nun folgendermaßen aus: Es besteht das psychologische Ge­
setz, daß sich an eine Vorstellung eine kontinuierliche Reihe von Vorstellungen
anknüpft, wovon jede den Inhalt der vorhergehenden reproduziert und ihr ein
zeitliches Moment der Vergangenheit anheftet. Dies ist eine ursprungliehe Asso­
ziation, eine Leistung der Phantasie, die aber nicht nur reproduktiv ist, sondern
zugleich produktiv ein neues Moment, nämlich das modifizierende, stetig ver­
schiedene Zeitmoment schafft. Zeit, Sukzession und Veränderung, ist nach Bren­
tano nicht wahrgenommen, sondern nur durch reproduktive und produktive
Phantasie erfaßt. Gestützt auf die Vorstellung der Vergangenheit bildet die Phan­
tasie nach Brentano auch die Vorstellung der Zukunft als eine Art Übertra­
gung oder Transposition der Vergangenheit. 2
Gegenüber dieser Theorie Brentanos erhebt Husserl hauptsächlich zwei kri­
tische Fragen: 1 . Erscheint wirklich, etwa beim Hören einer Melodie, das un­
mittelbar Vergangene in der Weise eines Phantasieobjektes; besteht nicht ein
wesentlicher Unterschied zwischen dem Phantasieren eines Zeitobjektes und
dem Bewußtsein des soeben Vergangenen beim Wahrnehmen eines gegenwärti­
gen Zeitobjektes? 2. Vermag die bloße Anknüpfung eines neuen Momentes, des

2 Vgl. Husserls Darstellung von Brentanos Theorie, in Hu X, S. l O ff.


98 3 . Kapitel. Allgemeine Strukturen des Bewußtseins

» Zeitmomentes des Vergangenen<< an ein reproduziertes Gegenwärtiges das »tran­


szendierende Bewußtsein« der Vergangenheit zu erklären? Husserls eigene Ge­
danken über die Zeitkonstitution versuchen diesen kritischen Fragen Rechnung
zu tragen.
Husserl geht aus von der Analyse der Erfassung eines gegenwärtigen zeitli­
chen Ablaufes. Sein Grundbeispiel ist das Hören einer Tonfolge (z.B. einer Me­
lodie). Er unterscheidet hier drei notwendig zusammengehörende Momente:
1. Die >> Urimpression« (Hu X, S. 67, 1 00) oder >>Urempfindung« (S. 77 ff, 32S f. ,
372). Ihr entspricht das Jetzt-Moment des Zeitobjektes, etwa der gerade erklin­
gende Ton. In einem >>Momentanzugleich« sind mehrere Urempfindungen mit­
einander möglich. (S. 376) 2. >>Zugleich« mit der Urimpression besteht eine
>>Kontinuität« (ein >>Schwanz oder Kometenschweif«, S. 377 /78) von ,,frischen«
oder >>primären Erinnerungen«. Es ist dies ein »Zurückhaltendes Noch-Be­
wußtsein« (S. 8 1), dem am Zeitobjekt das >>Vorhin«, das >>Soeben«, das >>Nicht­
mehr« entspricht, im Beispiel der Melodie die soeben verklungenen Töne oder
Tonphasen. Von 1 909 an wird Husserl dem Ausdruck ,,frische oder primäre
Erinnerung« immer mehr den Ausdruck >>Retention« vorziehen3• Jede Reten­
tion in dieser Kontinuität von Retentionen hat einen bestimmten Modus, in
dem sich ein bestimmter früherer Zeitpunkt (ein mehr oder weniger zurücklie­
gendes Soeben) abschattet.4 Je weiter die Zeitpunkte zurückliegen, umso dun­
kler sind sie retiniert: >>das Ganze verschwindet ins Dunkel, in ein leeres reten­
tionales Bewußtsein« (Hu X, S. 26, 62). Husserl spricht auch von einer Art
,,zeitlichen Perspektive«, in der sich das Objekt mit der zeitlichen Entfernung
immer mehr >>Zusammenzieht« und dunkel wird (S. 26). 3. Das dritte Moment
ist die Erwartung der Protention. Sie intendiert das unmittelbar Kommende,
das Noch-nicht. Sie ist nach Husserl eine Vorzeichnung oder Antizipation des
Kommenden aufgrund des retentional Bewußten (Hu XI, S. 1 8 6), ein »Vorge­
worfener Schatten« oder eine Projektion des Vergangenen als Erwartung in die
Zukunft. (Hu XI, S. 287, 1 86)
Diese drei Momente, U rimpression, Retention und Protention, konstituie­
ren nach Husserl die konkrete Lebensgegenwart, die das >>originäre Zeitfeld«
ist (Hu X, S. 3 1). Dieses besteht also in einem Jetzt mit einem >>Zeithof«, d.
h. mit einem lebendigen Horizont, des Nicht-mehr (soeben) und des Noch­
nicht (das Kommende) in verschiedenen Abstufungen.
Doch mit diesen drei Momenten, die selbst eine Kontinuität bilden, ist nach

3 S. Hu X, S. 335 ff. Noch in den Ideen I gebraucht Husserl den Ausdruck »primäre Erinnerung«
(S. 145 ( 1 9 1 3)).
4 Dieses Bewußtsein der soeben verklungenen Töne oder Tonphasen ist nicht zu verwechseln

mit dem Phänomen des »Nachhalls<<; das Nachhallen eines Tones ist urimpressional bewußt
(Hu X, S. 3 1).
§ 2. Das Zeitbewußtsein 99

Husserl erst eine momentane Phase der Wahrnehmung eines Zeitobjektes be­
schrieben. Diese Wahrnehmung hat in jeder Phase urimpressional-retentional­
protentional ihr originäres Zeitfeld, aber diese Phase geht stetig über in eine
neue Phase, diese Wahrnehmung ist in einem stetigen Wandel (S. 1 1 4), in einem
stetigen Fluß (S. 360): kontinuierlich tritt ein neues Jetzt auf und schiebt die
früheren Jetzt in die Vergangenheit zurück (S. 43, 63), bzw. kontinuierlich wan­
delt sich Urimpression in Retention, diese in modifizierte Retention usw.5• Die
Urimpression ist stetig neu, ein »lebendiger Quellpunkt des Seins<< (S. 67, 69,
100). Dieses immer neue Jetzt ist das Wesentliche, sozusagen der >>Motor<< der
Zeitkonstitution. >>Denn an sich wäre es doch denkbar, daß die Klarheit der
unmittelbaren Erinnerung [ Retention] nicht herabsänke, während ohne An­
=

fügung des neuen Jetzt Zeitbewußtsein ganz undenkbar wäre.<< (S. 425) Diesen
ganzen vom stetig neuen Jetzt ausgehenden Wandel faßt Husserl als eine Kon­
tinuität iterierter Modifikation: Urimpression modifiziert sich zu Retention von
Urimpression, Retention zu Retention von Retention, diese Retention zwei­
ter Stufe zu Retention dritter Stufe usw. ; die Retentionen höherer Stufe sind
ein >>kontinuierliches Ineinander von Retentionen von Retentionen<< (Ideen I,
S. 1 64 ( 1 9 1 3)). In dieser Weise der Modifikation und der Modifikation von Mo­
difikation trägt die Retention >>sozusagen in Form einer Abschattungsreihe das
Erbe der ganzen vorangegangenen Entwicklung in sich<< (S. 327). Husserl ent­
fernt sich in dieser Sicht der Zeitkonstitution von dem ursprünglich von ihm
auch in diesem Bereich versuchten sog. lnha!t-Auffassungsschema, dem gemäß
besondere Aktcharaktere >>unzeitlichen Auffassungsinhalten<< einen Bezug zu
einer bestimmten Zeitstelle geben würden. (Vgl. S. 36, 40, 62) Er stellt fest, daß
die zeitliche Abstufung schon alle Inhalte betrifft (S. 47 ff.) und daß >>nicht jede
Konstitution das Schema Auffassungsinhalt-Auffassung hat<<. (S. 7, Anm.) Wei­
ter beschreibt Husserl in diesem Wandel des originären Zeitfeldes auch die
Erfüllung bzw. Enttäuschung der Proremionen durch die Urimpressionen.
(Vgl. S. 52 ff.)
Das originäre Zeitfeld in seinem Wandel ist eine >>originäre Selbstgegebenheit<<
(S. 38) und in diesem Sinne wahrgenommen und nicht, wie Brentano lehrte,
Gegenstand reproduktiver und produktiver Phantasie. Die Reproduktion oder
Phantasie, z. B. die Wiedererinnerung (>>sekundäre Erinnerung<< gegenüber der
»primären Erinnerung<<, der Retention), ist gewissermaßen eine Wiederholung
dieses ganzen >>Zeithofes<<, sie ist eine Reproduktion dieses ganzen Wahrneh­
mungsflusses (S. 36, 52): >>das ganze Erinnerungsphänomen hat mutatis mutan­
dis genau dieselbe Konstitution wie die Wahrnehmung<<, z. B. im Wiedererinnern
der Melodie >>hören wir > gleichsam < zuerst den ersten, dann den zweiten Ton

5 Ideen I, S. 1 64 ( 1 9 1 3), Hu X, S. 40.


100 3. Kapitel. Allgemeine Strukturen des Bewußtseins

usw.<<; ein Ton erklingt gleichsam wieder und versinkt ins Soeben; die Repro­
duktion ist also eine Wiederholung von Urimpression, Retention und Proten­
tion. (S. 35, 46, 5 1) Aber diese reproduzierte Melodie ist nicht Gegenwart,
sondern >>vergegenwärtigte Gegenwart<< (S. 36), sie ist nicht »leibhaft<< selbstge­
geben, nicht wahrgenommen, sondern >>nur vorgestellt<< (S. 4 1 f.). Diese verge­
genwärtigte Zeit >>weist notwendig zurück auf ursprünglich gegebene, nicht
phantasierte, sondern präsentierte<< (S. 45), also reproduzierte Zeit weist zurück
auf wahrgenommene, so daß als Ursprung der Zeitvorstellung eine Zeitwahr·
nehmung anzunehmen ist.
Husserl weist in diesem Zusammenhang im Gegensatz zu Brentano auf ei­
nen radikalen Unterschied zwischen Retention (>>primäre Erinnerung<<) und Wie­
dererinnerung (>>sekundäre Erinnerung<<): >>Die Modifikation des Bewußtseins,
die ein originäres Jetzt in ein reproduziertes verwandelt, ist etwas ganz anderes
als diejenige Modifikation, welche sei es das originäre, sei es das reproduzierte
Jetzt verwandelt in ein Vergangen.<< (S. 46 f.) Zwischen Urimpression und Re­
tention besteht eine >>kontinuierliche Vermittlung, ein >>kontinuierlicher Über­
gang<<, eine >>Stetige Abschattung<<; >>dagegen ist von einem stetigen Übergang
von Wahrnehmung in Phantasie, von Impression in Reproduktion keine Rede;
der letztere Unterschied ist ein diskreter<< (S. 4 1 , 47). Der Unterschied zwischen
Retention und Wiedererinnerung (Reproduktion) besteht nicht darin, daß die
Wiedererinnerung einfach nur zeitlich weiter zurückgreifen würde. Denn die
Wiedererinnerung kann auch etwas >>rekapitulieren<<, was retentional noch mehr
oder weniger klar bewußt ist, wie wenn ich etwa beim Hören einer Melodie
den Anfang dieser Melodie >>Wiederholend<< mir zurückrufe. (S. 62; vgl. S. 50,
153 f.) Der Unterschied ist vielmehr ein struktureller: Während Urimpression
kontinuierlich übergeht in Retention, und diese in Retention von Retention
usw. , wendet sich die Wiedererinnerung zeitlich zurück und wiederholt eine
ganze Wahrnehmung.
Der prinzipielle Unterschied von Retention und Wiedererinnerung wird auch
an der neuartigen Zeitform deutlich, die die Wiedererinnerung gegenüber der
Zeitwahrnehmung, deren unselbständiges Moment die Retention ist, hervor­
bringt. Die wahrgenommene, gegenwärtige Zeit ist immerfort im Fluß (S. 1 08):
kontinuierlich entspringt ein neues Jetzt, und jedes zeitliche Moment sinkt re­
tentional in immer fernere und dunklere Vergangenheit hinab. Gegenüber die­
ser im Jetzt orientierten und fließenden Zeit haben wir die Idee einer objektiven
Zeit als einer festen Ordnung des Früher und Später von identifizierbaren Zeit­
stellen. (S. 64) Während die zeitlichen Ereignisse in unserer Zeitwahrnehmung
vom Jetzt aus stetig in die Vergangenheit zurücksinken, verändern sie in der
objektiven Zeit ihre Stelle nicht. Diese objektive Zeit ist nach Husserl die Lei­
stung der Reproduktion, primär der Wiedererinnerung (S. 69): >>In der Wieder-
§ 2. Das Zeitbewußtsein 101

erinnerung ist die Zeit zwar in jedem Moment der Erinnerung auch orientiert
gegeben, aber jeder Punkt stellt einen objektiven Zeitpunkt dar, der immer wie­
der identifiziert werden kann, und die Zeitstrecke ist aus lauter objektiven Punk­
ten gebildet und selbst immer wieder identifizierbar.<< »Identität von Zeitobjekten
ist also ein konstitutives Einheitsprodukt gewisser möglicher Identifizierungs­
deckungen von Wiedererinnerungen.<< (S. 108) Eine objektive, an sich seiende
Zeitordnung, auf deren Stellen und Stellenrelationen ich immer wieder identifi­
zierend zurückkommen kann, ist nur durch die Reproduktion bewußt. Sie ist
das Produkt einer Idealisierung in der Reproduktion, nämlich Korrelat des Be­
wußtseins »ich kann immer wieder identifizierend darauf zurückkommen.<<6
Gegenüber dieser objektiven Zeit nennt Husserl die fließende, orientierte Zeit
die »Gegebenheitszeit<<.
Im Bewußtsein konstituiert sich Zeit, Gegebenheitszeit und objektive Zeit.
Ist nun diese Konstitution selbst ein zeitlicher Vorgang, ist das zeitkonstituie­
rende Bewußtsein selbst in der Zeit? Mit dieser Frage treten wir in die subjekti­
ve Richtung von Husserls Problematik des Zeitbewußtseins. Husserl schreibt:
»Nun wird man aber in der natürlichen Einstellung ganz selbstverständlich sa­
gen und es ganz selbstverständlich finden zu sagen: fetzt erfasse ich einen Ton,
der sich seine Dauer hindurch erhält . . . Indem ich nun auf die konstituierenden
Erscheinungen des inneren Bewußtseins achte, erfasse ich sie als jetzt seiend,
ich erfasse jetzt das Bewußtsein vom Jetzt und die ganze Kontinuität des Vorher­
Bewußtseins [des Bewußtseins vom Vorher, vom Soeben], und diese ganze Kon­
tinuität ist gleichzeitig, sie gehört zum Jetzt, findet jetzt statt, steht als das da.
Und gehe ich dem Fluß dieser Kominuitären nach, so finden sie nacheinander
statt, und das Ganze erfüllt eine Dauer. Natürlich ist diese Dauer dieselbe wie
die des innerlich Erscheinenden, die Dauer des immanenten Tones ist diesel­
be wie die des Bewußtseins, in dem es sich seiner Dauer nach stetig konstitu­
iert.<< (Hu X, S. 369) Husserl selbst hat nun aber in Texten der Vorlesung von
1904/05, die den Grundstock der »Phänomenologie des inneren Zeitbewußt­
seins<< (Hu X) bilden, das zeitkonstituierende Bewußtsein in die Zeit einge­
ordnet, wäre also damals, nach seinem späteren Urteil, noch »in der natür­
lichen Einstellung<< befangen gewesen. Er erklärt in solchen frühen Texten:
»Es ist ja evident, daß die Wahrnehmung eines zeitlichen Objektes selbst Zeit­
lichkeit hat, daß Wahrnehmung der Dauer selbst Dauer der Wahrnehmung vor­
aussetzt, daß die Wahrnehmung einer beliebigen Zeitgestalt selbst ihre Zeit­
gestalt hat.<<7 Er identifizierte damals die Zeit der Empfindung und die Zeit des

6 Vgl. Hu X, S. 43, 69, Beilage V und Hu XI, S. 326 f., l l O f., 277 ff.
7 Hu X, S. 22 (der Text stammt wohl noch aus der Zeit vor 1904/05; siehe textkrit. Anm.,
S. 407).
102 3. Kapitel. Allgemeine Strukturen des Bewußtseins

Empfundenen, die Zeit der Wahrnehmung und die Zeit des Wahrgenomme­
nen: Sie sind »gleichzeitig<<8•
Aber in den Jahren 1 908/09 vollzieht Husserl eine Positionsänderung, und
zwar scheint der Moment dieser Positionsänderung noch genau greifbar zu sein:
nämlich in einem Manuskript, das zum ersten Mal in Husserliana X veröf­
fentlicht wurde (als Text Nr. 50) und das der Herausgeber, Rudolf Boehm, in
die Zeit zwischen Oktober 1908 und Sommersemester 1909 datiert. Zu Beginn
dieses Textes ordnet Husserl das zeitkonstituierende Bewußtsein noch in die
Zeit: » . . . wenn das Bewußtsein vom Ton-Jetzt, die Urempfindung, übergeht in
retentionale Erinnerung, so ist diese Erinnerung selbst wieder ein Jetzt, näm­
lich gehörig zu einem neuen Ton-Jetzt.<< (S. 326) Nach Erörterungen über die
retentionale Modifikation und das Problem der Erfassung des zeitkonstituie­
renden Flusses schließt Husserl mit den Sätzen: »Liegt eine Absurdität darin,
daß der Zeitfluß wie eine objektive Bewegung angesehen wird? Ja! Andererseits
ist doch Erinnerung etwas, das selbst sein fetzt hat, und dasselbe Jetzt etwa wie
ein Ton. Nein. Da steckt der Grundfehler. Der Fluß der Bewußtseinsmodi ist kein
Vorgang, das jetzt-Bewußtsein ist nicht selbst jetzt. Das mit dem Jetzt-Bewußtsein
> Zusammen < seiende der Retention ist nicht >jetzt <, ist nicht gleichzeitig mit dem
Jetzt, was vielmehr keinen Sinn gibt . . . Also Empfindung, wenn damit das Be­
wußtsein verstanden wird (nicht das immanente dauernde Rot, Ton etc., also
nicht das Empfundene), ebenso Retention, Wiedererinnerung, Wahrnehmung etc.
ist unzeitlich, nämlich nichts in der immanenten Zeit. (Inwiefern es objektivier­
bar ist in der Natur, in der > objektiven Zeit <, ist eine eigene Frage.) Das sind
höchst wichtige Sachen, vielleicht die wichtigsten der ganzen Phänomenolo­
gie.<< (S. 333 f.) Der Grund, der Husserl in diesem Text dazu führt, die Unzeit­
lichkeit des zeitkonstituierenden Bewußtseins zu behaupten, scheint der Gedanke
des unendlichen Regresses zu sein: Wäre dieses Bewußtsein in der Zeit, dann
wäre ein anderes Bewußtsein notwendig, das dieses Bewußtsein als zeitliches
konstituieren würde, u.s.w. (vgl. S. 322 f.) Der Grundgedanke ist also der, daß
alles als zeitlich Gegebene (Erscheinende), auch die als zeitlich gegebenen Er­
lebnisse (cogitationes), im Bewußtsein konstituiert ist. Deshalb kann das letzt­
lich konstituierende, selbst >>aller Konstitution vorausliegende Bewußtsein<<
(S. 73), das nicht ein Inbegriff zeitlich konstituierter Erlebnisse, sondern >>ein
Bewußtsein eines anderen Sinnes ist<< (Ideen II, S. 102), nicht selbst zeitlich
sem.
In einem anderen Text von Husserliana X (Text Nr. 54), der wohl nicht vor

8 Hu X, S. 72 (aus 1905); S. 1 1 0 ff. (Beilage V): das Originalmanuskript dieser Beilage konnte
im Husserl-Archiv nicht aufgefunden werden; der Text stammt aber aus inhaltlichen Gründen, und
nicht nur aus dem genannten, aus einer frühen Zeit (um 1905).
§ 2. Das Zeitbewußtsein 103

1 9 1 1 geschrieben wurde9 und der auch schon Eingang in die 1 9 1 7 von Edith
Stein zusammengestellten und 1928 von Heidegger herausgegebenen »Vorlesun­
gen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins<< gefunden hatte (näm­
lich in die §§ 3 5 - 39), geht Husserl der Unzeitlichkeit des zeitkonstituierenden
Bewußtseins gerrauer nach. Er nennt hier andere Gründe für diese Unzeitlich­
keit als den soeben genannten, und zwar solche, die an Kants »Paralogismen
der reinen Vernunft<< erinnern: Eine zeitliche Veränderung oder Unveränderung
ist ein Vorgang an einem identischen Objekt, das in diesem Vorgang seine Dau­
er hat. Demgegenüber ist der zeitkonstituierende Fluß kein Objekt, das sich
in seiner Dauer verändert oder nicht verändert. Weiter bemerkt Husserl, daß
die Veränderung eines zeitlichen Objekts ihre Geschwindigkeit habe und als
beschleunigt oder verlangsamt und als in Ruhe (Unveränderung) übergeführt
gedacht werden kann. Demgegenüber habe der Wandel, die »Veränderung<< des
zeitkonstituierenden Flusses »das Absurde, daß sie gerrau so läuft, wie sie läuft,
und weder > schneller< noch > langsamer < laufen kann.<< (S. 369 f. , vgl. S. 73 f.)
»Also ist es evident, daß die zeitkonstituierenden Erscheinungen prinzipiell an­
dere Gegenständlichkeiteil sind als die in der Zeit konstituierten, daß sie keine
individuellen Objekte sind bzw. keine individuellen Vorgänge und daß Prädi­
kate solcher sinnvoll ihnen nicht zugeschrieben werden können. Also kann es
auch keinen Sinn haben, von ihnen zu sagen (und in gleicher Bedeutung zu
sagen), sie seien im Jetzt und waren vorher, sie folgten einander zeitlich nach
oder seien miteinander gleichzeitig usW.<< (S. 370; vgl. S. 7 4 f.) Husserl stellt in
diesem Text (Nr. 54) das zeitkonstituierende Bewußtsein vor allem der objekti·
ven Zeit gegenüber, während er im zuvor zitierten (Nr. 50) primär an die wahr­
genommene Zeit denkt.
Das unzeitliche, zeitkonstituierende Bewußtsein, das Husserl als das »abso­
lut urkonstituierende Bewußtsein<< (Ms. B IV 6, S. 2 1 5 ff. (um 1908)), als das
»letzte und wahrhaft Absolute<< (Ideen I, S. 1 63 ( 1 9 1 3)) bezeichnet, ist, wie aus
den obigen Ausführungen schon deutlich wurde, nicht als bloße zeitlose Form
zu denken, durch die das Zeitliche gewissermaßen hindurchziehen würde. Das
Urempfindungsbewußtsein und das ursprüngliche Zeitbewußtsein überhaupt
denkt sich Husserl als »in beständiger Wandlung begriffen . . . Die Wandlung
besteht darin, daß das leibhafte Ton-Jetzt stetig sich modifiziert (scil. im Be­
wußtsein, bewußtseinsmäßig) in ein Gewesen und daß stetig ein immer neues Ton­
Jetzt das in Modifikation übergegangene ablöst.<< (Hu X, S. 326 (unsere Her­
vorhebung)) Das heißt, das Bewußtsein wandelt sich, indem sich das Bewußte
zeitlich wandelt. Nur durch einen Wandel des Bewußtseins kann im Bewußt-

9 Der Herausgeber, R. Boehm, datiert ihn: »nicht vor Ende 1908, ja wohl nicht vor 1 9 1 1 « (Hu
X, S. 391).
104 3 . Kapitel. Allgemeine Strukturen des Bewußtseins

sein ein zeitlicher Wandel zur Erscheinung kommen. Doch ist der Wandel des
zeitkonstituierenden Bewußtseins keine zeitliche Folge (S. 376). Husserl spricht
auch von einem >>Zugleich<< oder >>Zusammen<< von Urimpressionen des jetzt
Gleichzeitigen (etwa eines Tones und einer Farbe), die aber selbst nicht gleich­
zeitig sind, ebensowenig wie die zu diesem »Zugleich« gehörigen Retentionen
der soeben vergangenen Zeitphasen: »dieses ganze > Zugleich < aus ursprüngli­
cher Präsentierung und der Kontinuität von präteritalen Phasen macht das be­
wegliche Moment der Bewußtseinsaktualität aus, die in unaufhörlicher Ver­
änderung das immanente [Zeit-] Objekt konstituiert.<< (S. 3 78) Husserl ver­
sucht also, das wahrhaft absolute Bewußtsein, in dem die ganze Zeit zur Er­
scheinung kommt, als in sich bewegliche Aktualität zu fassen. In seinen späte­
ren Manuskripten nennt er es > Urtümlich stehend-strömende Vorgegenwart < (Ms.
C 3, S. 3a ff. ( 1930)), bezeichnet es also zugleich als beweglich-strömend und
unbeweglich-stehend, wie ein Quellpunkt, der zugleich beständig fließt und doch
am selben Ort verbleibt. Oder er nennt es »Urgegenwart, die keine Zeitmoda­
lität ist<< (Hu XV, S. 667 f. (1934)), d. h., die nicht neben sich noch eine Vergan­
genheit und Zukunft hat, da das zeitkonstituierende Bewußtsein als reine
Aktualität nicht in die Vergangenheit zu rücken ist.
Wie ist es aber überhaupt nach Husserl möglich, dieses »letzte und wahrhaft
Absolute<< zu erfassen? Husserl schreibt: »Man kann und muß sagen: Eine ge­
wisse Erscheinungskontinuität, nämlich eine solche, die Phase des zeitkonsti­
tuierenden Flusses ist, gehöre zu einem Jetzt, nämlich zu dem, das sie konstituiert,
und gehöre zu einem Vorher, nämlich diejenige, die konstitutiv ist (wir kön­
nen nicht sagen: »War<<) für das Vorher. 10 Aber ist nicht der Fluß ein Nachein­
ander, hat er nicht doch ein Jetzt, eine aktuelle Phase, und eine Kontinuität
von Vergangenheiten, in Retentionen jetzt bewußt? Wir können da nicht hel­
fen und nur sagen: Dieser Fluß ist etwas, das wir nach dem Konstituierten so
nennen, aber es ist nichts zeitlich > Objektives <. Es ist die absolute Subjektivität,
und hat die absoluten Eigenschaften eines im Bilde als , fluß < zu bezeichnen­
den, eines Aktualitätspunktes, Urquellpunktes >Jetzt < etc. Im Aktualitätserleb­
nis haben wir den Urquellpunkt und eine Kontinuität von Nachhallmomenten.
Für all das haben wir keine Namen.<< (Hu X, S. 371) Nach diesem Passus scheint
das zeitkonstituierende Bewußtsein etwas Konstruiertes zu sein, nämlich kon­
struiert als Bedingung der Möglichkeit des zeitlich Erlebten.
Doch im weiteren Verlauf dieses Textes sagt Husserl: »Ich weiß doch von die­
sem Bewußtseinsfluß als Fluß, ich kann auf ihn hinsehen . . . << (S. 378). Dieser
Fluß scheint also doch keine bloße Konstruktion zu sein. Husserl versucht

10
Wir haben den Text oben amendiert. Wie er in Hu X steht, ergibt er keinen guten Sinn: "···

nämlich z u d e m , das konstitutiv ist (wir können nicht sagen: »War«) für das Vorher<<.
§ 2. Das Zeitbewußtsein 105

folgende Lösung: >>Es ist der eine, einzige Bewußtseinsfluß (evtl. innerhalb ei­
nes > letzten < Bewußtseins), in dem sich die immanent-zeitliche Einheit des To­
nes konstituiert und zugleich die Einheit des Bewußtseinsflusses selbst. So
anstößig (wo nicht anfangs sogar widersinnig) es erscheint, daß der Bewußt­
seinsfluß seine eigene Einheit konstituiert, so ist es doch so, und aus seiner We­
senskonstitution verständlich zu machen.« (S. 378) Und zwar versucht er diese
Selbsterscheinung des Flusses auf folgende Weise verständlich zu machen: Jede
Retention hat eine >>doppelte Intentionalität«: Die Retention einer vergange­
nen Tonphase (z. B. des Einsatzpunktes des Tones c) ist auch Retention der ver­
flossenen Retention dieser selben Tonphase, und in dieser Retention selbst ist
wiederum die vorangegangene Retention dieser Tonphase impliziert und so kon­
tinuierlich bis zur Urimpression dieser Tonphase. (S. 379 ff., 326 ff.) Also die
Retention, die ich aktuell von der vergangeneu Tonphase habe, ist notwendig
auch Retention der vorangegangenen Kontinuität von Retentionen bis hin zur
Urimpression dieser Tonphase. Die Intention auf den Ton (auf das >>Objekt«)
nennt Husserl die >>Querintentionalität« der Retention, die Intention auf die
Retentionen (auf den Bewußtseinsfluß) nennt er die >>Längsintentionalität« der
Retention. (S. 379 ff., 82 ff.) In dieser Längsintentionalität der Retention erscheint
sich der zeitkonstituierende Fluß selbst. Diese Längsintentionalität ist nicht et­
wa eine zusätzliche Retention, neben der Retention des Tones (des konstituier­
ten Zeitobjektes), was wohl zu einer unendlichen Vervielfältigung der Flüsse
führen würde, da diese zusätzliche Retention dann selbst wieder durch eine zu­
sätzliche Retention festgehalten werden müßte usw. , sondern diese Längsinten­
tionalität ist in Wirklichkeit nichts anderes als der Charakter der Modifikation
der Retention: Die Modifikation weist als solche zurück auf das, wovon sie
Modifikation ist, in unserem Falle auf die vorangegangene Retention und letzt­
lich auf die Urimpression als den Urmodus. >>Das führt auf keinen unendli­
chen Regress dadurch, daß jede Erinnerung [ Retention] in sich selbst
=

kontinuierliche Modifikation ist, die sozusagen in Form einer Abschattungs­


reihe das Erbe der ganzen vorangegangenen Entwicklung in sich trägt.« (S. 327)
Der in der Längsintentionalität erscheinende Fluß ist aber nicht zeitlich wie
die Töne (die >>Zeitobjekte«) zeitlich sind, Husserl spricht aber von einer >>quasi­
zeitlichen Einordnung der Phasen des Flusses« (S. 3 8 1 , 383), was wohl im Sin­
ne einer quasi-zeitlichen Zuordnung der konstituierenden Subjektivität zu der
in ihr konstituierten Objektivität zu verstehen ist, und er spricht weiter von
einer >>präphänomenalen, präempirischen Zeitlichkeit« des (erscheinenden) Flus­
ses (S. 3 8 1). >>Es scheint also, daß sich das alles, so schwierig es ist, wirklich
verstehen läßt. Es sind danach zwei untrennbar einheitliche, wie zwei Seiten
einer und derselben Sache einander fordernde Intentionalitäteil miteinander ver­
flochten in dem einen, einzigen Bewußtseinsfluß; vermöge der einen konsti-
106 3 . Kapitel. Allgemeine Strukturen des Bewußtseins

tuiert sich die immanente Zeit, eine objektive Zeit, eine echte, in der es Dauer
und Veränderung von Dauerndem gibt; in der anderen die quasi-zeitliche Ein­
ordnung der Phasen des Flusses . . . Der Fluß des immanente Zeit konstituieren­
den Bewußtseins ist nicht nur, sondern, so merkwürdig und doch verständlich
geartet ist er, daß in ihm notwendig eine Selbsterscheinung des Flusses beste­
hen und daher der Fluß selbst notwendig im Fließen erfaßbar sein muß. Die
Selbsterscheinung des Flusses fordert nicht einen zweiten Fluß, sondern als Phä­
nomen konstituiert er sich in [sich] selbst. Das Konstituierende und das Kon­
stituierte decken sich . . . << (ebenda)
Aber decken sie sich wirklich? Husserl erklärt die Selbsterscheinung des Flusses
durch die Längsintentionalität der Retention, und in der Retention ist doch im­
mer nur das Vorangegangene, in ihrer Längsintentionalität die vorangegange­
nen Bewußtseinsphasen bewußt. Also das zeitkonstituierende Bewußtsein als rei­
ne Aktualität, also gerade als das »letzte und wahre Absolute<< kann in der Re­
tention nicht erscheinen. Husserl fährt nach dem obigen Zitat fort: >>Das Kon­
stituierende und das Konstituierte decken sich, und doch können sie sich natür­
lich nicht in jeder Hinsicht decken. Die Phasen des Bewußtseinsflusses, in denen
Phasen desselben Bewußtseinsflusses sich phänomenal konstituieren, können
nicht mit diesen konstituierten Phasen identisch sein, und sind es natürlich nicht.
Was im Momentan-Aktuellen des Bewußtseinsflusses zur Erscheinung gebracht
wird, das sind, in der Serie der reproduktiven Momente desselben, vergangene
Phasen des Bewußtseinsflusses.<< (S. 3 8 1 ff.) Husserl überlegt sich die Möglich­
keit, ob die aktuelle Phase des Bewußtseins noch in einem »letzten Bewußtsein<<
bewußt sein könne, und schließt mit der Bemerkung: »Es ist aber ernstlich zu
überlegen, ob man solch ein letztes Bewußtsein annehmen muß, das ein notwen­
dig > unbewußtes < Bewußtsein wäre; nämlich als letzte Intentionalität kann sie
(wenn Aufmerken immer schon vorgegebene Intentionalität voraussetzt) nicht
Aufgemerktes sein, also nie in diesem besonderen Sinn zum Bewußtsein kom­
men.<< (S. 382) Dieses »letzte Bewußtsein<<, das Husserl hier in Frage stellt, nennt
er in anderen Texten »inneres Bewußtsein<< (Hu X, Beilage XII) oder »Urbewußt­
sein<< (Beilage IX). Es ist ein (Selbst-) Bewußtsein des aktuellen Bewußtseins­
flusses, das aber prinzipiell nicht aufmerkendes, meinendes, setzendes sein kann:
»Bewußtsein ist notwendig Bewußtsein in jeder seiner Phasen. Wie die retentiona­
le Phase die voranliegende bewußt hat, ohne sie zum Gegenstand zu machen, so
ist auch schon das Urdatum [die Aktualität des Bewußtseins] bewußt . . . , ohne
gegenständlich zu sein. Eben dieses Urbewußtsein ist es, das in die retentionale
Modifikation übergeht . . . wäre es nicht vorhanden, so wäre auch keine Reten­
tion denkbar<<. (S. 1 19) Aber auch nach diesen Überlegungen kann das absolute
zeitkonstituierende Bewußtsein nicht in sich selbst, sondern nur in der Distanz
einer quasi zeitlich eingeordneten Erscheinung aufmerkend erfaßt werden.
§ 2. Das Zeitbewußtsein 107

Zur Verdeutlichung können wir zusammenfassend sagen, daß Husserl in sei­


ner Phänomenologie der Zeit zwischen folgenden drei Grundarten von Zeit
bzw. ihren verschiedenartigen Konstitutionen unterscheidet: 1 . die Gegenwarts­
zeit (das wahrgenommene originäre Zeitfeld oder die Gegebenheitszeit), konsti­
tuiert im kontinuierlichen Fluß der Impression-Retention (Querintentionalität)
-Protention, 2. die objektive Zeit, konstituiert in der Reproduktion und der darin
möglichen Identifizierung; hinsichtlich der objektiven Zeit unterscheidet Bus­
serl übrigens zwischen der objektiven transzendenten Zeit (Raum- oder Natur­
zeit) und der objektiven immanenten Zeit (ein »endloses Kontinuum von Dau­
ern« wie in den Ideen I, § 8 1 erörtert), 3 . die präphänomenale, präempirische
Zeit des sich selbst erscheinenden Flusses, konstituiert in der Längsintentiona­
lität der Retention (eine quasi zeitliche Einordnung). All diesen drei Zeiten steht
das absolute zeitkonstituierende Bewußtsein gegenüber, die Urgegenwart, die
keine Zeitmodalität ist. Zu diesem »letzten<< Bewußtsein gehören Impression­
Retention-Protention, die Retention in ihrer Quer- und Längsintentionalität,
und auch die Reproduktionen, überhaupt alles Bewußtsein, sofern dieses rein
als aktuell konstituierend (Urgegenwart) verstanden wird. Sofern es aber in der
Längsintentionalität einer Retention selbst erscheint (und insofern konstitu­
iert ist), gehört es zur präphänomenalen Zeit, und sofern es in der Reproduk­
tion objektiv als Erlebnis identifiziert wird, gehört es zur objektiven imma­
nenten Zeit (unter gewissen Bedingungen auch zur objektiven Naturzeit). 1 1

1 1 Ausgewählte Literatur
zum 3. Kapitel, § 1: K. Hedwig (1979): S. 326-340; J. N. Mohanty (1972); D. Carr ( 1987): S. 1 1 7-136;
H. L. Dreyfus ( 1982);
zum 3. Kapitel, § 2: G. Eigler ( 1961); K. Held ( 1966); R. Sokolewski ( 1 974): S. 138-168; J. B. Brough
( 1 977): S. 83-100; R. Bernet ( 1983): S. 16-57; R. Bernet ( 1985): S. XL- LXVII.
4. Kapitel
Wahrnehmung, Ding und Raum

Die phänomenologische Analyse der Wahrnehmung hat in Busserls Erkennt­


nistheorie den Stellenwert eines fundamentalen Lehrstückes. Wahrnehmungen
gehören in die erkenntnistheoretisch ausgezeichnete Klasse anschaulich selbst­
gebender Akte und als sinnliche Akte sind sie zugleich Paradigma und Funda­
ment der Bestimmung jeder anderen Art von anschaulichen Akten. Die den
nächsten Kapiteln vorbehaltene phänomenologische Analyse der Akte anschau­
licher Vergegenwärtigung sowie anschaulichen Denkens und U rteilens stützt
sich wesentlich auf den nun zu erarbeitenden Begriff eines sinnlichen Aktes,
in dem der intentionale Gegenstand unmittelbar selbstgegeben ist. Wir schrän­
ken die Problematik im folgenden jedoch auf die Analyse der Wahrnehmung
von räumlichen Gegenständen ein, da die Wesensbestimmung der sogenannten
> inneren < Wahrnehmung sowohl in den Ausführungen zur phänomenologischen
Reflexion als auch in der Analyse der Konstitution von Zeitobjekten bereits
zur Sprache gekommen ist. Andererseits erweitern wir im folgenden die Pro­
blematik der > äußeren < Wahrnehmung dadurch, daß wir nicht bloß ihre Funk­
tion als erkenntnistheoretisches Paradigma eines anschaulichen Aktes unter­
suchen, sondern übergehen zur Betrachtung der wahrnehmungsmäßigen Kon­
stitution des Dinges und auch des Raumes. Wiederum kann füglieh behauptet
werden, daß die Dingkonstitution als Paradigma aller Busserlsehen Konstitu­
tionsanalysen überhaupt fungiert und deswegen von Busserl auch am sorgsam­
sten und eingehendsten ausgearbeitet wurde. Der beschränkte Rahmen dieser
Darstellung erlaubt es uns allerdings nicht, den Busserlsehen Analysen in al­
len Einzelheiten zu folgen, noch auch, die einschlägigen, veröffentlichten oder
unveröffentlichten Quellen in vollem Umfang zu berücksichtigen. Wir wollen
vor allem auf die Analyse der visuellen Wahrnehmung und ihrer kinästheti­
schen Motivation eingehen und uns dabei insbesondere auf Busserls frühere,
in Busserliana XVI (»Ding und Raum. Vorlesungen 1907«) und den Logischen
Untersuchungen zu findende Ausführungen beschränken. Aus dieser Beschrän­
kung ergibt sich auch, daß wichtige Themen wie die passive Konstitution
der wahrnehmungsmäßigen Erscheinung, wie der Übergang in der Konsti­
tutionsanalyse vom visuellen Dingphantom zum physikalisch-materialen bzw.
kausal-substantialen Ding-an-sich, wie die Einfügung des Einzeldinges in
den umgreifenden weltlichen Erfahrungshorizont, wie die Verschränkung und
erfahrungsmäßige Integration der verschiedenen (z.B. visuellen und hapti­
schen) Sinnesfelder sowie auch die leib-seelische Verfassung des Wahrneh-
§ 1 . Erscheinung als gemischte Repräsentation 109

mungssubjektes hier höchstens gestreift, jedoch nicht eigens behandelt werden


können.

§ 1. Erscheinung als gemischte Repräsentation und als partielle


Selbstgegebenheit des Dinges

Die phänomenologische Analyse der Wahrnehmung räumlicher Gegenstände


setzt, wie nicht anders zu erwarten, bei der bewußtseinsmäßigen Gegebenheit
dieser Gegenstände ein. Ihre erste und wichtigste Beobachtung betrifft den U rn­
stand, daß räumliche Gegenstände nie nach allen ihren Seiten und Merkmalen
voll anschaulich gegeben sind. Die Reflexion auf die Gegebenheitsweisen lehrt,
daß in der visuellen Wahrnehmung eines Dinges nur gewisse »Seiten<< bzw.
»Aspekte<< wirklich gesehen werden, daß andere Seiten desselben Gegenstandes
hingegen ganz außerhalb des Gesichtsfeldes fallen (z.B. die Rückseite, die Un­
terseite, eine verdeckte Seite usw.). Und doch meinen wir im schlichten, vor­
reflexiven Vollzug einer Dingwahrnehmung, das Ding und nicht bloß seine Vor­
derseite zu sehen; und doch verweist auch in der Reflexion die eigentlich gese­
hene Seite notwendig auf die nicht eigentlich gesehenen Seiten bzw. auf den
Gesamtzusammenhang des einheitlichen Dinges. Es ist die erste und fundamen­
talste Aufgabe einer phänomenologischen Analyse der Dingwahrnehmung, die­
sen notwendigen Zusammenhang von partieller bzw. perspektivischer Ge­
gebenheit und ganzem bzw. einheitlichem Ding verständlich zu machen. Der
spezifisch phänomenologische Charakter dieser Analyse der perspektivischen
Gegebenheitsweise des Dinges besteht darin, daß man sich dabei ausschließlich
im Rahmen phänomenologisch reduzierter Gegebenheiten bewegt. Partielle an­
schauliche Gegebenheit darf also nicht so verstanden werden, als ob bloß ein
Stück des an sich bestehenden und in sich selbst inhaltlich voll differenzierten
Dinges gegeben wäre. Und partielle anschauliche Gegebenheit darf wiederum
nicht so verstanden werden, als ob sich im Bewußtsein ein Vertreter des nou­
menalen Dinges befände, der dann durch den Vollzug eines Kausalschlusses als
Gegebenheit des Dinges zu begreifen wäre (vgl. Hu XVI, § 40). Als phänome­
nologische Dinggegebenheit kann allein die wahrnehmungsmäßige Erfahrung
in Anspruch genommen werden, Totalität des Dinges und Partialität seiner Ge­
gebenheit sind ausschließlich in Reflexion auf die phänomenologische Gege­
benheit des intentionalen Wahrnehmungsaktes (und seines noematischen
Korrelates) zu differenzieren. Husserl gelang es nicht auf Anhieb, diese Aufga­
be befriedigend zu lösen. Insbesondere die Bestimmung des >> Überschusses<< der
Wahrnehmungsintention über die partielle Selbstgegebenheit des Gegenstan­
des hinaus, d. h. die Bestimmung des Verweises der partiellen wahrnehmungs­
mäßigen Gegebenheit auf das volle Ding machte ihm Schwierigkeiten. Man kann
1 10 4 . Kapitel. Wahrnehmung, Ding und Raum

nämlich weder sagen, daß in diesem Überschuß über das eigentliche Sehen hin­
aus das Ding anschaulich gegeben sei, noch, daß es darin überhaupt nicht zur
Gegebenheit käme. Aber wie ist denn das, was ich nicht eigentlich sehen kann,
im Sehen dennoch gegenwärtig?
Betrachten wir erst dasjenige Moment des Wahrnehmungaktes, das als Se­
hen im strengen Sinn bezeichnet werden kann, d. h. in dem eine >>Seite<< des
Dinges voll anschaulich gegeben ist! Husserl nennt diese ausgezeichnete Gege­
benheit »eigentliche Erscheinung<< und unterscheidet sie von der leeren Mit­
meinung bzw. vom apperzeptiven Überschuß, den er >>Uneigentliche Erschei­
nung<< nennt (Hu XVI, § 16 u.ö.). In dieser eigentlichen Erscheinung ist ein Ding­
aspekt anschaulich selbstgegeben bzw. >>leibhaft<<, >>Originär<< gegeben. Diese für
den Wahrnehmungsakt (insgesamt) charakteristische (partielle) anschauliche
Selbstgegebenheit ist einerseits von anderen anschaulichen Gegebenheitsweisen
zu unterscheiden, in denen der Gegenstand nicht selbst, sondern etwa mittels
eines Bildes gegeben ist, und sie unterscheidet sich auch andererseits von Gege­
benheitsweisen, in denen der Gegenstand überhaupt nicht anschaulich gege­
ben ist, sondern bloß mittels eines ihn vertretenden (konventionellen) Zeichens.
Die Rede von der wahrnehmungsmäßigen Selbstgegebenheit des Gegenstandes
hat also auch eine polemische Konnotation, die sich auf die sog. erkenntnis­
theoretische Bilder- und Zeichentheorie bezieht. Husserl kritisiert diese Theo­
rie insbesondere in Auseinandersetzung mit K. Twardowskis Schrift Zur Lehre
von Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen ( 1 894). (Vgl. insbes. I. LU, § 1 3 ;
V LU, § 45; Ideen I, § 129; und für eine umfassendere Darstellung der Proble­
matik Rang.) Twardowski vertritt die Ansicht, daß jeder intentionale Bezug auf
einen wirklichen Gegenstand durch einen mentalen »Inhalt<< bzw. >>sekundä­
ren<< Gegenstand vermittelt ist, der als ein bewußtseinsmäßiges Bild den >>pri­
mären<<, d. h. extramentalen Gegenstand vertritt. Die Wahrnehmung ist somit
ein komplexer Akt, eine >>doppelte Vorstellungstätigkeit<<, die sich durch den
bewußtseinsmäßigen >>Inhalt<< (id quo) auf den wirklichen Gegenstand (id quod)
bezieht. Nach Husserls Ansicht ist es nun aber ganz verkehrt, die Wahrneh­
mung in Analogie mit dem Bildbewußtsein zu verstehen, da das Bildbewußt­
sein im Gegenteil die mögliche wahrnehmungsmäßige Selbstgegebenheit des
Originals voraussetzt. Zudem weist Husserl nach, daß die Verdoppelung der
Struktur der intentionalen Gegenständlichkeit in Bewußtseins-Inhalt und rea­
len Gegenstand zu einem unendlichen Regress führt (vgl. LU II/1, S. 42 1 ff. ;
Ideen I, §§ 52, 90).
Die unmittelbare, d. h. weder durch ein Bild noch durch ein Zeichen vermit­
telte wahrnehmungsmäßige Selbstgegebenheit des Gegenstandes beschreibt Hus­
serl als einen intentionalen Akt apperzeptiver >>Beseelung<< darstellender Inhalte
(Hu XVI, §§ 1 4 f. , 40 u.ö.). Seine A nschaulichkeit verdankt dieser Akt dem mit
§ 1 . Erscheinung als gemischte Repräsentation 111

ihm zu >>einer innigsten Einheit<< ( § 40) verwobenen Komplex von Empfindungs­


daten, doch diese Daten fungieren bloß vermöge ihrer Beseelung durch den in­
tentionalen Akt als Repräsentanten eines intentionalen Gegenstandes. Die
eigentliche Erscheinung eines Wahrnehmungsgegenstandes ist der intentionale
Akt sofern und soweit er mit entsprechenden darstellenden Empfindungsdaten
verwoben ist, die uneigentliche Erscheinung ist der apperzeptive Überschuß,
d. h. dasjenige Moment der intentionalen Vermeinung des Gegenstandes, für
das es an darstellenden Empfindungsdaten fehlt. Die eigentliche Erscheinung
bzw. partielle Selbstgegebenheit des Dinges faßt Husserl als den >>rein perzepti­
ven Gehalt« der Wahrnehmungsintention ( VI LU, § 14 b) bzw. , wiederum in
der Terminologie der Logischen Untersuchungen, als intuitives Moment im Ge­
samtzusammenhang wahrnehmungsmäßiger Repräsentation eines intentiona­
len Gegenstandes. >>Repräsentation« bedeutet dabei nichts anderes als den
(noetischen) Apperzeptionszusammenhang, den Zusammenhang somit von
Empfindungsdaten und der durch sie hindurchgehenden und sie damit auf den
Gegenstand beziehenden Intention bzw. deren intentionaler Materie ( VI LU,
§ 26). Als Modell für diese apperzeptive Repräsentation dient in den Logischen
Untersuchungen die Bedeutungsintention, welche die sprachlichen Ausdrucks­
zeichen nicht für sich selbst betrachtet, sondern sie auf den bedeuteten Refe­
renzgegenstand bezieht bzw. als dessen zeichenhaften Vertreter versteht (vgl.
unten S. 1 58). Die intuitive Repräsentation des intentionalen Gegenstandes un­
terscheidet sich von diesem Modell der signitiven Repräsentation dadurch, daß
die darstellenden Daten im Gegensatz zu den sprachlichen Zeichen hier weder
physische (Zeichen-) Gegenstände noch überhaupt (signitive) Vertreter des Ge­
genstandes sind, sondern als Selbstgegebenheit des Gegenstandes apperzipiert
werden. In rein phänomenologischer Betrachtung des (noetischen) Repräsenta­
tionszusammenhangs drückt sich die Scheidung von signitiver und intuitiver
Repräsentation dadurch aus, daß Auffassung und darstellender Inhalt im erste­
ren Fall einen bloß >>Zufälligen, äußerlichen« und im Ietzeren Fall einen >>We­
sentlichen, innerlichen« Zusammenhang bilden. In der intuitiven Repräsentation
>>besteht ein innerer, notwendiger Zusammenhang zwischen der Materie und
dem Repräsentanten . . . « (§ 26). Objektiv gewendet heißt das, daß als wahrneh­
mungsmäßig-intuitiver >>Repräsentant eines Gegenstandes nur ein Inhalt die­
nen kann, der ihm . . . gleich ist<< (§ 26), dingliche Farbe kann sich intuitiv nur
durch ein Farbdatum darstellen.
Die wahrnehmungsmäßige Gegebenheit bzw. Erscheinung des Dinges ist so­
mit eine intuitive Repräsentation, in der der intentionale Gegenstand jedoch
nur partiell selbstgegeben ist - also eine partiell intuitive Repräsentation. Eine
erste Schwierigkeit dieser Lehre von der wahrnehmungsmäßigen Repräsenta­
tion ist eine bloß terminologische. Es ist mißverständlich, die unmittelbare,
1 12 4. Kapitel. Wahrnehmung, Ding und Raum

wahrnehmungsmäßige Gegebenheit des Dinges noch als Repräsentation zu be­


zeichnen, denn Repräsentation bedeutet im normalen Sprachgebrauch Stellver­
tretung oder zumindest mathematisch feste Zuordnung, kaum aber leibhafte
Selbstgegebenheit eines Gegenstandes. Es handelt sich dabei um eine termino­
logische Neueinführung der Logischen Untersuchungen (der II. Teil der »Psy­
chologischen Studien zur elementaren Logik<< (1 893) schied noch streng zwischen
»Anschauungen<< und »Repräsentationen<<), die Husserl auch bald wieder fal­
len ließ. Aber es geht in den Logischen Untersuchungen um mehr als um eine
bloße terminologische Ungeschicktheit. Husserl spricht hier im Rahmen wahr­
nehmungsmäßiger Gegebenheit eines Dinges deswegen von intuitiver Reprä­
sentation, weil die intuitive Selbstgegebenheit des Dinges eine bloß partielle ist,
d. h. sich in einen (noetischen) Gesamtrepräsentationszusammenhang einfügt,
in dem sie durch signitive, d. h. zeichenhafte Repräsentation des Wahrnehmungs­
gegenstandes ergänzt wird. Was wir mit der »Dingvorlesung<< von 1907 eine
>>uneigentliche<< Wahrnehmungserscheinung genannt haben, der apperzeptive
>>Überschuß<< ( V LU, § 1 4) über den >>rein perzeptiven Gehalt<<, soll also die
nicht wahrnehmungsmäßig gegebenen Seiten des Dinges in der Weise einer sig­
nitiven Repräsentation zur Gegebenheit bringen ( VI. LU, §§ 1 4b, 15, 23). >>Der­
selbe Inhalt<< bzw. dieselbe Empfindungskomplexion soll somit durch einen Teil
des intentionalen Aktes als intuitiver Repräsentant des intentionalen Gegen­
standes, durch einen anderen Teil des Aktes als bloß signitiver Repräsentant
apperzipiert werden (§ 26). Der Zusammenhang dieser beiden Repräsentations­
formen innerhalb des Wahrnehmungsaktes ist nun nach Husserl ein solcher,
in dem die Aufmerksamkeit primär dem Vollzug der intuitiven Apperzeption
gilt, während der Apperzeptionsüberschuß die bloß mitgemeinten Aspekte des
Gegenstandes (durch >>Angrenzung<< (§ 1 0) bzw. >>Kontiguität<< (§§ 15, 23, 26)
mit dieser intuitiven Repräsentation) in der Weise signitiver Repräsentation dar­
stellt. Ein voller Wahrnehmungsakt bzw. die volle Dingerscheinung, d. h. die
Einheit von eigentlicher und uneigentlicher Erscheinung ist also eine Summe
(vgl. § 23) verschiedener Repräsentationsformen bzw. eine zugleich intuitive
und signitive, also >>gemischte<< Repräsentationsform (§§ 1 4b, 23, 25, 26).
Wir brauchen diese Lehre von der gesamten Dingerscheinung als gemischter
Repräsentationsform nicht weiter zu entwickeln, um zur Kritik anzusetzen.
Da wir uns dabei in jedem Schritt auf Husserls eigene Einsichten stützen kön­
nen, eignet sich diese Kritik vorzüglich als Leitfaden zur Darstellung der späte­
ren Entwicklung der Problematik. Erstens erscheint es überaus bedenklich, die
uneigentliche Erscheinung der bloß mitgemeinten Dingaspekte als signitive,
d. h. zeichenhafte Repräsentation zu bestimmen. Empfindungen sind keine Zei­
chen im Sinn physischer Objekte und fungieren nicht wie die sprachlichen Zei­
chen als bloß konventionelle Vertreter des sinnlichen Wahrnehmungsgegen-
§ 1 . Erscheinung als gemischte Repräsentation 113

standes. Genauer besehen sind die bloß mitgemeinten Dingaspekte weder mit­
telbar zeichenhaft noch imaginativ, d. h. in phantasiemäßiger Anschaulichkeit
repräsentiert, sondern überhaupt nicht dargestellt: » . . . uneigentlich erscheinen­
de gegenständliche Momente sind in keinerlei Weise dargestellt. Die Perzeption
Ist . . . ein Komplex voller und leerer Intentionen (Auffassungsstrahlen); die vol­
len Intentionen oder vollen Auffassungen sind die eigentlich darstellenden, die
leeren sind eben leer an irgendeinem Darstellungsmaterial, sie bringen wirk­
lich nichts zur Darstellung . . . << (Hu XVI, § 1 8 ; vgl. auch Ms. M III 2, S. 7a ff.
( 1 9 1 3)). Wird der apperzeptive Überschuß in der Dingwahrnehmung dergestalt
als Horizont leerer Mitmeinung bzw. motivierter Wahrnehmungsmöglichkeit
bestimmt, so folgt daraus unmittelbar als zweiter Punkt der Kritik an der Auf­
fassung der Logischen Untersuchungen, daß eigentliche und uneigentliche Er­
scheinung nicht bloß in der Weise assoziativer Kontiguität miteinander verknüpft
sind, sondern eine wesensmäßige Einheit bilden: »Eigentliche und uneigentli­
che Erscheinung sind aber nichts Getrenntes, sondern einig in der Erscheinung
im weiteren Sinn. Das Bewußtsein ist Bewußtsein von leibhafter Gegenwart des
Hauses: es heißt, und ganz im Sinn der Gesamtperzeption: Das Haus erscheint .
. . . Die eigentliche Erscheinung ist nichts Abtrennbares.<< (Hu XVI, § 1 6)
Ein dritter Punkt der Kritik betrifft nicht bloß die Logischen Untersuchun­
gen, sondern auch noch große Stücke der Dingvorlesung aus 1907 (Hu XVI).
Es handelt sich dabei darum, daß die Zerstückung des Wahrnehmungsaktes in
verschiedene Repräsentationsformen bzw. auch noch die Scheidung von eigent­
licher und uneigentlicher Erscheinung von der Bestimmung des realen Gegen­
standes hergeleitet wird, daß die natürliche Wirklichkeit dieses Gegenstandes
aber im Rahmen phänomenologisch reiner Betrachtung nicht in Anspruch ge­
nommen werden darf. (Vgl. z. B. das im obigen Zitat aus § 16 von Hu XVI
weggelassene Stück: »Das Haus erscheint. Nur daß sich eine bloße Seite des
Hauses wirklich darstellt . . . Eine Seite ist aber Seite des vollen Gegenstandes.
Sie ist nichts für sich, als ein Fürsichsein nicht denkbar. Diese Evidenz be­
sagt: Die eigentliche Erscheinung ist nichts Abtrennbares.<<) Diese Herleitung
der phänomenologischen Strukturierung der erscheinungsmäßigen Gegeben­
heit von der physikalischen Realität des Dinges und Raumes ist insofern be­
denklich, ja geradezu widersinnig, als die phänomenologische Beschreibung der
erscheinungsmäßigen Gegebenheit gerade einer konstitutiven Analyse des Seins­
sinnes von dinglicher und räumlicher Wirklichkeit dienen soll. Wir werden
gleich noch auf das eigentliche Motiv dieser zirkelhaften phänomenologischen
Bestimmung dinglicher Realität zurückkommen. Betrachten wir erst ihre Fol­
gen, so springt vor allem die Verräumlichung des Bewußtseins in Analogie mit
der rechtmäßig allein die physische Natur kennzeichnenden > partes extra par­
tes <-Struktur in die Augen. Nicht nur sollen sich gemäß dieser bedenklichen
114 4 . Kapitel. Wahrnehmung, Ding und Raum

Lehre Teile des Dinges und Momente des Wahrnehmungsaktes gerrau entspre­
chen, nicht nur soll der Wahrnehmungsakt in verschiedene, durch bloße Kon­
tiguität miteinander verbundene Repräsentationsformen zerfallen, sondern selbst
noch innerhalb einer selben Repräsentationsform wie z. B. im intuitiven Ge­
halt des Wahrnehmungsaktes sollen »Auffassungsmaterie<< und »Inhalt<< >>Stück
für Stück« miteinander verknüpft sein ( VI. LU, § 26; vgl. auch Hu XVI,
§§ 55, 60). Diese Zerfällung der Bewußtseinstätigkeit (Noese) in (selbständi­
ge?) >>Stücke<< ist aber nicht bloß die Folge einer intellektualistischen Konstruk­
tion bzw. einer naturalistischen Verdinglichung des Bewußtseins, sondern sie
zeugt auch von der fundamentalen Schwierigkeit der Konstitution des Raumes
durch das unräumliche, transzendentale Bewußtsein. Wir werden noch sehen,
daß Husserl sich gezwungen sieht, dem dingkonstituierenden Bewußtsein und
insbesondere den mit ihm reell verwobenen Empfindungsdaten eine >>präphäno­
menale<< bzw. »präempirische<< Räumlichkeit bzw. Extension zuzuschreiben (vgl.
Hu XVI, §§ 20 -22, 25, 46, Beil. III). Und wir werden uns in diesem neuen
Zusammenhang dann überhaupt die allgemeinere Frage vorlegen müssen, ob
Husserl in seiner Analyse der Ding- und Raumkonstitution sich nicht gezwun­
gen sieht, entweder den Begriff des konstitutierenden Bewußtseins zu erwei­
tern oder aber zumindest vermeintlich reelle Bewußtseinsinhalte als noemarische
Vermeintheiten zu bezeichnen.
Sowohl die zumindest befremdliche Aufsplitterung des schlichten sinnlichen
Wahrnehmungsaktes in ein Strahlenbündel von >>Partialintentionen<< ·(vgl. VI.
LU, § 47; Hu XVI, § 1 8 u.ö.) als auch die widersinnige Voraussetzung dingli­
cher Realität in einer phänomenologischen Konstitutionsanalyse führen uns
schließlich wieder auf das Grundproblem der phänomenologischen Wahrneh­
mungsanalyse zurück, nämlich die Bestimmung der Erscheinung als partielle
Selbstgegebenheit. Die paradoxale Schwierigkeit besteht darin, daß die Erschei­
nung als Selbstgegebenheit die erscheinende Gegenständlichkeit ist und zugleich
als partielle Selbstgegebenheit diese Gegenständlichkeit doch nicht ist, d. h. nie
mit dem in ihr Erscheinenden identisch ist. Wiederum eignet sich die Darstel­
lung des Lösungsversuchs der Logischen Untersuchungen sowie dessen Kritik vor­
züglich als Annäherung an eine befriedigende Antwort. Die Logischen Un­
tersuchungen bestimmen die Partialität der erscheinungsmäßigen Selbstgegeben­
heit des Dinges auf dem Hintergrund der vollen Selbstgegebenheit, wie sie
im Bereich innerer Wahrnehmung realisierbar ist (V LU, §§ 5 f.). Adäquate Selbst­
gegebenheit charakterisiert sich dadurch, daß >> . . . repräsentierender und reprä­
sentierter Inhalt hier identisch eines sind<< ( VI. LU, § 37). In partieller Selbst­
gegebenheit hingegen ist der intuitive Repräsentant nicht schlechthin identisch
mit dem >>Gegenstand selbst, so wie er an sich ist<<, partielle Selbstdarstellung
bzw. >>Selbst-Abschattung<< ist »Repräsentation durch A"hnlichkeit<< (§ 37; vgl.
§ 1 . Erscheinung als gemischte Repräsentation 115

auch § 29). Es mag in phänomenologischer Betrachtung zwar angehen, zwi­


schen verschiedenen Erscheinungen eines selben Dinges ein Ähnlichkeitsver­
hältnis anzusetzen (vgl. Hu XVI, § 55), nicht jedoch zwischen Erscheinung
und erscheinendem Ding. Auch abgesehen vom Umstand, daß innerhalb der
phänomenologisch reinen Betrachtung Erscheinung und Ding >> S O wie es an
sich selbst ist<< nicht miteinander verglichen werden können, ist es auch wider­
sinnig, die Partialität der dingkonstituierenden Erscheinung im Hinblick auf
das natürlich vorausgesetzte Sein des in sich vollbestimmten Ding-an-sich zu
bestimmen. Genauer besehen besteht der Widersinn jedoch nicht bloß in ei­
ner zirkelhaften Konstitutionsanalyse, die in der kritischen Seinsbestimmung
des Dinges dessen natürlichen Begriff bereits dogmatisch voraussetzt. Der tief­
ste Widerspruch besteht vielmehr darin, die partiale Selbstgegebenheit bzw. die
Perspektivität der Dingerscheinung im Hinblick auf die adäquate Gegebenheit
eines unräumlichen, psychischen Seins in der inneren Wahrnehmung zu be­
stimmen und diese perspektivenlose Gegebenheit zudem als teleologisches Adä­
quationsideal der fortschreitenden Erfahrung eines räumlichen Gegenstandes
zu bezeichnen (vgl. § 1 4b).
Aber es ist leichter, den Lösungsversuch der Logischen Untersuchungen zu kri­
tisieren, als eine Alternativlösung vorzulegen. Es genügt nicht, darauf hinzu­
weisen, daß jede dingliche Erscheinung notwendig eine bloß partiale Selbst­
gegebenheit des Dinges ist, daß die fortschreitende Kenntnisnahme vom Ding
in einer kontinuierlichen Wahrnehmung notwendigerweise ein unabschließba­
rer, unendlicher Prozess ist und daß somit die Konzeption eines adäquaten »in­
tuitus originarius<< von räumlichem Sein widersinnig ist (vgl. Hu XVI, §§ 30,
3 3 - 35, 39). Es muß nämlich erstens noch gezeigt werden, wie die Partialität
der Erscheinung ohne natürliche Voraussetzung des Ding-an-sich bestimmt wer­
den kann, zweitens, inwiefern die phänomenologische Beschreibung der kon­
tinuierlichen Dingerfahrung dennoch rechtmäßig durch einen Vorbegriff des
in seinem Seinssinn konstitutiv auszuweisenden Gegenstandes geleitet wird und
drittens, wie das im Fortschritt wahrnehmungsmäßiger Kenntnisnahme impli­
zierte erkenntnistheoretische Ideal zu bestimmen ist, wenn eine adäquate Ding­
gegebenheit eine widersinnige Idee darstellt.
Die erste Aufgabe löst Husserl bereits in der Dingvorlesung von 1907 (Hu XVI),
und zwar dadurch, daß er die Partialität der dinglichen Selbstgegebenheit als Be­
dürfnis nach ergänzender Selbstgegebenheit faßt und somit von der Struktur des
die eigentliche Erscheinung notwendig umgebenden horizontmäßigen Verwei­
ses auf verschiedene weitere mögliche Erscheinungen desselben Gegenstandes her­
leitet. Wir werden diese Dynamisierung der Scheidung von eigentlicher und
uneigentlicher Erscheinung noch näher betrachten, wenn wir zur phänomeno­
logischen Beschreibung des kontinuierlichen Wahrnehmungsprozesses übergehen.
116 4. Kapitel. Wahrnehmung, Ding und Raum

Auch die zweite Aufgabe betrifft bereits die Struktur des kontinuierlichen
Wahrnehmungsprozesses, und zwar insofern, als dessen phänomenologische Ana­
lyse bei einem regional-ontologischen Vorbegriff des Dinges anschließt. In der
Sprache der Ideen I heißt das, daß »die Region Ding als transzendentaler Leitfa­
den<< der phänomenologisch-konstitutiven Untersuchung dient (§ 1 50, auch
§ 149). Dieser in »gerader Blickrichtung« vorgegebene Dingbegriff weist der phä­
nomenologisch-reflexiven Dingerfahrung an, was sie zu untersuchen hat und
schreibt zugleich auch dem »Gang« dieser konstitutiven Dingerfahrung selbst
>>Regeln<< vor. So sind etwa die durch die Phänomenologie erforschte Perspekti­
vität der Dingerscheinung und auch die >>Grenzenlosigkeit im Fortgange ein­
stimmiger Anschauungen<< des Dinges durch den Wesensbegriff >>Ding-über­
haupt« bedingte >>Notwendigkeiten<<. Fällt Husserl damit aber nicht wieder in
die bei der Interpretation der Logischen Untersuchungen und der Dingvorlesung
gerügte widersinnige Voraussetzung zurück, welche die Bestimmung der phä­
nomenologisch-konstitutiven Erfahrung (z. B. der wahrnehmungsmäßigen Er­
scheinung) von der natürlichen Bestimmung der durch sie erst konstitutiv aus­
zuweisenden natürlichen Wirklichkeit herleitet? Nein!, denn erstens leitet nun
nicht mehr ein empirisch wirklicher Gegenstand, sondern ein material­
ontologisch erforschtes Wesen die transzendental-konstitutive Erforschung ding­
licher und räumlicher Wirklichkeit und zweitens sind die Ergebnisse dieser phä­
nomenologischen Erforschung nicht etwa vom material-ontologischen Vorbe­
griff des Dinges (als qualitativ bedeckte Raumgestalt) abzuleiten, sondern sie
mußten der >>geradehin« gerichteten regional-ontologischen Wissenschaft viel­
mehr notwendig verborgen bleiben: Mit dem in geometrischer Wesensanschau­
ung gewonnenen Wesen räumlicher Gegenstände >>wissen wir aber nichts von
den Prozessen der Anschauung selbst und den ihr zugehörigen Wesen und We­
sensunendlichkeiten . . . << (§ 1 50) Der Geometer ist kein Phänomenologe, die phä­
nomenologische Lehre von Orientierung, Tiefe und Entfernung im Erschei­
nungsfeld ist keine analytische Konsequenz, sondern eine subjektive Ergänzung
bzw. transzendentale Fundierung der geometrischen Lehre vom dreidimensio­
nalen Raum. Der ontologische Vorbegriff des Dinges impliziert zwar notwen­
dig die Unmöglichkeit einer adäquaten Dingerscheinung, sagt aber nichts aus
über die funktionale und inhaltliche Strukturierung dieser Erscheinung und
ihres Verweises auf eine geordnete Mannigfaltigkeit weiterer und ergänzender Er­
scheinungen desselben Dinges. Mehr noch: die Bedingtheit der phänomenolo­
gischen Untersuchung durch einen ontologischen Vorbegriff wird in der Durch­
führung dieser Untersuchung nicht bloß eingeholt, sondern überhaupt erst
letztlich verständlich. Die transzendental-phänomenologische Analyse des Er­
fahrungsprozesses bestimmt nämlich nicht nur den Seinssinn dinglicher Wirk­
lichkeit, sondern betrifft auch den Prozeß der Gewinnung material-ontologi-
§ 2. Das Erscheinungskontinuum und seine konstitutive Leistung 117

scher Wesen und bestimmt somit auch die erkenntnistheoretische Geltung bzw.
den Seinssinn dieser Wesen.
Die dritte Aufgabe betrifft ebenfalls den kontinuierlichen Wahrnehmungspro­
zeß, nun aber nicht mehr in seinem Bezug zum material-ontologischen Vorbe­
griff vom Wesen des Dinges, sondern in seiner Charakterisierung als kontinuier­
licher Erfüllungsprozeß bzw. als sinnlicher Erkenntnisprozeß, der teleologisch
auf die Idee maximaler Fülle bzw. letzter Gegebenheit des Dinges ausgerichtet
ist. Eine Lösung dieser Aufgabe ist deswegen so schwer, weil einerseits jede Ding­
erfahrung eine notwendigerweise unendliche ist und somit eine adäquate Selbst­
gegebenheit des Dinges ausschließt und weil andererseits ein wahrnehmungs­
mäßiger Erkenntnisfortschritt ohne teleologische Antizipation der adäquaten
Gegebenheit des Ding-an-sich unverständlich bleibt. Wiederum gelang Husserl
erst in den Ideen I (§§ 143, 149) eine Lösung dieser Aporie und zwar dadurch,
daß er die adäquate Dinggegebenheit als eine »Idee (im Kautischen Sinn)« be­
zeichnete und diese genauer als >>System endloser Prozesse kontinuierlichen Er­
scheinens« bestimmte (§ 143). Das Ding-an-sich wird nun also als eine Idee gefaßt
und zwar als eine regulative Idee, die sich aus der Idee >>der Grenzenlosigkeit
des Fortganges der einstimmigen Anschauungen« ergibt (§ 1 49). Im Gegensatz
zum realen Ding-an-sich der Logischen Untersuchungen ist die Idee der dingli­
chen Einheit im unendlichen Erfahrungsprozess eine rein phänomenologische
Idee, eine adäquate Gegebenheit und frei von der widersinnigen Voraussetzung
eines perspektivenlosen räumlichen Seins. Man kann sich aber trotzdem noch
fragen, ob die teleologisch-regulative Idee des unendlichen Erkenntnisforschrit­
tes faktisch wirklich fähig ist, das im Wahrnehmungsprozeß lebende erkennt­
nismäßige Interesse zu motivieren oder ob sie dieses Interesse nicht vielmehr
in der Verzweiflung untergehen läßt (vgl. Bernet 1978(a] und 1978[b ]).

§ 2. Das Erscheinungskontinuum und seine konstitutive Leistung

Unsere bisherige Behandlung der wahrnehmungsmäßigen Erfahrung blieb ab­


strakt. Zwar ist nicht zu leugnen, daß eine konsequente Bestimmung des Er­
scheinungsbegriffs eine notwendige und fundamentale Voraussetzung jeder
philosophischen und ganz besonders der phänomenologischen Wahrnehmungs­
theorie darstellt. Andererseits besteht jedoch die eigentliche Leistung der Phä­
nomenologie gerade darin, konkrete Phänomene wie die Bestimmung verschie­
dener Formen der kontinuierlichen Erscheinungsveränderung und deren kinäs­
thetische Motivation, wie die Ausbreitung darstellender Daten in Sinnesfeldern
und deren Bezug auf verschiedene Systeme kinästhetischer Vermöglichkeit usw.
in den Rahmen einer philosophischen Wahrnehmungsanalyse eingebracht zu
118 4 . Kapitel. Wahrnehmung, Ding und Raum

haben. Wir wollen uns im vorliegenden Paragraphen auf eine schematische Be­
schreibung des kontinuierlichen Wahrnehmungsablaufs und seiner konstituti­
ven Funktion beschränken und erst im nächsten Paragraphen die kinästhetische
Motivation dieses Erscheinungskontinuums wie auch schon jeder einzelnen Er­
scheinung behandeln.
Ein konkreter Wahrnehmungsakt ist faktisch stets ein zeitlich ausgebreiteter
Akt, aus dem wir in unserer Analyse des Erscheinungsbegriffs abstraktiv eine
einzelne, punktuelle Phase herausgeschnitten haben. Fügen wir diese Phase nun
wieder in den Zusammenhang des kontinuierlichen Erscheinungsablaufs ein,
so fragt sich zuerst, wie der Übergang von Phase zu Phase zu verstehen ist.
Und dann stellt sich die folgenreiche Frage, wie eine Einstimmigkeit dieses Er­
scheinungskontinuums möglich ist, die nicht bloß mannigfaltige Erscheinun­
gen einem selben Gegenstand zuordnet, sondern die zugleich als fortschreitende
Befriedigung eines diesen Gegenstand betreffenden Erkenntnisinteresses erfah­
ren wird.
Husserl faßt die den Ablauf des Wahrnehmungsaktes kennzeichnende Erschei­
nungskontinuität als eine synthetisch vereinheitlichte Mannigfaltigkeit ursprüng­
licher Gegebenheiten des Wahrnehmungsgegenstandes. Die die Erscheinungs­
mannigfaltigkeit synthetisierende Einheitsform ist in erster Linie die zeitliche
Form des Bewußtseinsstroms. Die Erscheinungen liegen im aktuellen Fluß prä­
empirischer Zeitlichkeit, und in diesem Fluß konstituiert sich die Kontinuität
des Erscheinungsprozesses bzw. die Dauer des darin erscheinenden Gegenstan­
des (Hu XVI, §§ 1 9 f. , 48, 56; S. 223 f. und 335). (Wir können hier davon abse­
hen, daß diese mannigfaltigen Erscheinungen ihrerseits schon zeitliche Einheiten
sind, und zwar im absoluten, unzeitliehen Bewußtsein konstituierte Einheiten.)
Das sukzessive Auftreten einer neuen Erscheinung im Bewußtseinsfluß und
der damit verbundene retentionale und protentionale Horizont sind jedoch keine
genügende Motivation für die kontinuierlich-synthetische Zuordnung der Er­
scheinungen zum selben erscheinenden Gegenstand bzw. für ihre Integration in
einen einstimmigen Wahrnehmungsablauf. Es bedarf dafür einer kontinuierli­
chen Identifikationssynthese. Als Moment des Wahrnehmungsprozesses ist diese
Identifikationssynthese in ihrem ursprünglichen Vollzug aber eine Leistung sinn­
lichen und nicht logisch-kategorialen bzw. verstandesmäßigen Bewußtseins. In
der VI. Logischen Untersuchung spricht Husserl deswegen von »Identitätsver­
schmelzung<< (§ 29), in der »Identifikation vollzogen, aber keine Identität ge­
meint<< sei (§ 47). In der Dingvorlesung orchestriert Husserl diese Scheidung
zwischen sinnlichem Vollzug der erscheinungsmäßigen >>Deckungssynthese<< (Hu
XVI, §§ 26, 30, 52) und ihrer nachträglichen logisch-kategorialen Rekonstruk­
tion (§§ 26, 29, 44) durch weiteres Eindringen in die Konkretion der Phänome­
ne. Die sinnliche Einheitsbildung ist >>eine gewisse Einheit des homogenen
§ 2. Das Erscheinungskontinuum und seine konstitutive Leistung 1 19

FlusseS<< (§ 30), die sich aus der Einordnung mannigfaltiger Erscheinungen in


einen sinnlichen Typus ergibt (§ 52). Im Vollzug dieser »die mannigfaltigen Wahr­
nehmungen kontinuierlich verknüpfenden Synthesis<< ist ein unverändertes oder
sich veränderndes einheitliches Ding bewußt, »und diese kontinuierliche Syn­
these muß zugrunde liegen, damit die logische Synthese, die der Identifizierung,
evidentes Gegebensein der Identität der in verschiedenen Wahrnehmungen er­
scheinenden Gegenstände herstellt.<< (§ 44)
Gerrauer besehen ist diese kontinuierliche sinnliche Synthesis jedoch nicht
etwa eine sozusagen von außen her an eine Mannigfaltigkeit inhaltlich homo­
gener Erscheinungen herangetragene Einheitsbildung, sie ist vielmehr schon im
Gehalt jeder einzelnen Erscheinung wesensmäßig vorgezeichnet. Das Erschei­
nungskontinuum ist die Realisierung des im Horizont uneigentlicher Erschei­
nung als motivierte Möglichkeit implizierten weiteren Wahrnehmungsablaufs
(§§ 30, 54 f.). Diese leer antizipierten Wahrnehmungs- bzw. Erscheinungsmög­
lichkeiten haben jedoch nicht alle dieselbe motivierende Kraft, sie drängen nicht
gleichermaßen zu ihrer Verwirklichung. Und diese Differenzierung des Mög­
lichkeitsfeldes ergibt sich einerseits aus dem Zusammenhang der uneigentlichen
Erscheinung mit der zugehörigen eigentlichen Erscheinung und dem retentio­
nal festgehaltenen bereits abgelaufenen Erscheinungskontinuum (vgl. § 32) und
andererseits aus dem spezifischen Interesse des Wahrnehmungssubjektes (vgl.
§ § 3 3 , 3 6). (Wir sehen vorläufig davon ab, daß die konkrete Verwirklichung
dieser beiden Motivationslinien noch durch kinästhetische Umstände bzw. durch
den kinästhetischen Ablauf vermittelt ist.) Husserl faßt das den Ablauf des Wahr­
nehmungsprozesses regelnde subjektive Interesse primär als ein auf maximale
(bzw. adäquate) Kenntnisnahme des Dinges gerichtetes, wissenschaftliches Er­
kenntnisinteresse und nicht als ein auf ästhetischen Gerruß oder praktisch­
technische Verwendung gerichtetes Interesse. Unter den durch Angrenzung und
Ähnlichkeit mit der eigentlichen Erscheinung verbundenen Erscheinungsmög­
lichkeiten werden diejenigen privilegiert, die den einheitlichen Gegenstand nä­
her bestimmen und somit der Befriedigung des auf maximale Differenzierung
und Selbstgegebenheit des Gegenstandes ausgerichteten Erkenntnisinteresses för­
derlich sind (§§ 3 6 ff.). Die kontinuierliche Wahrnehmungssynthese ist also ein
Erfüllungsprozess, in dem sich die mit einer eigentlichen Erscheinung verbun­
denen Leerintentionen im synthetischen Zusammenhang mit entsprechenden
neu auftretenden anschaulichen Selbstgegebenheiten des Gegenstandes erfüllen
und dadurch den einheitlichen Gegenstand zu umfassenderer Selbstgegebenheit
bringen (vgl. §§ 29 f. , 32 f., 54). Dieser erfüllungsmäßige Erscheinungszusam­
menhang hat notwendig die Form einer sinnlichen Synthesis der Übereinstim­
mung, jedoch nicht immer die Form >>näherer Bestimmung<< des Gegenstandes
bzw. >>fortschreitender Bekräftigung<< der Intention (§ 1 8). Der Erfüllungszu-
120 4. Kapitel. Wahrnehmung, Ding und Raum

sammenhang kann auch die Form der Umbestimmung des Gegenstandes, der
Enttäuschung der Intention, des Widerstreites von Vermeinung und Gegeben­
heit haben, wobei allerdings >>evident<< ist, »daß der Widerstreit Übereinstim­
mung bzw. daß Enttäuschung Erfüllung voraussetzt.<< (§ 29)
Wir können hier nicht näher auf die Differenzierung dieser verschiedenen
Formen erscheinungsmäßiger Erfüllungsprozesse eingehen und wollen auch die
gerrauere Analyse der Wesensstruktur der Erfüllungssynthese einem späteren
Kapitel vorbehalten (vgl. unten S. 1 67 ff.). Es ist jedoch wichtig, diese erkennt­
nismäßige Form der Erfüllung nicht mit der ebenfalls im Wahrnehmungsablauf
fungierenden Erfüllung der bloßen Erwartung des weiteren Gangs der Erfah­
rung zu verwechseln. Letzterer Zusammenhang von Intention und Erfüllung
ergibt sich unmittelbar aus der kontinuierlichen synthetischen Einheitsform,
innerhalb der jede Phase des Wahrnehmungsablaufs die Vorzeichnung der vor­
angehenden verwirklicht: Es handelt sich dabei um »beliebige Änderungsrei­
hen . . . , und zu ihnen als solchen gehörten Zusammenhänge von Intentionen,
nämlich Hinweise, die jeweils den Phasen entlang von Phase zu Phase laufen:
das Nach-vorwärts-Gezogenwerden im vertrauten Zusammenhang in der Linie
stetiger Zusammengehörigkeit. Die Bewegung mochte übrigens dahin oder dort­
hin gehen, sie mochte besser oder schlechter Gegebenheit realisieren.<< (§ 32)
Verbindet sich mit dieser synthetischen Einheitsform der kontinuierlichen Er­
scheinungsmannigfaltigkeit jedoch ein erkenntnismäßiges Interesse, so sind die
Änderungsreihen keine »beliebigen<< mehr und die zugehörigen Einheitsformen
sind »besondere<<: »In ihnen liegt das, was wir . . . Steigerung . . . der Gegebenheits·
fülle nennen, das stetig vollkommener . . . Zur-Wahrnehmungsgegebenheit­
Kommen . . . . Das Unvollkommene ist . . . schon ein Gegebenheitsbewußtsein .
. . . Aber es gilt nicht das Gegebenheitsbewußtsein als vollendetes, . . . es weist
über sich hinaus; es ist Andeutung für das eigentlich Gemeinte, . . . es trägt In­
tentionen, die in Richtung auf vollkommenere Darstellungen weisen bzw. auf
den > Gegenstand selbst <<< (§ 32). Dieses Ziel der adäquaten Selbstgegebenheit
ist jedoch keine »reale<<, sondern eine bloß »ideale<< Möglichkeit; das vollbe­
stimmte Ding-an-sich ist, wie wir schon gesehen haben, eine Karrtische Idee.
Als Gründe der Wesensunmöglichkeit, adäquate Selbstgegebenheit des Dinges
im Erscheinungsprozeß zu verwirklichen, nennt Husserl: 1) es ist unmöglich,
den unendlichen Raum auf die Endlichkeit des Gesichtsfeldes zu reduzieren;
2) räumliche Gegenstände und auch schon Dingseiten stellen sich in einem un­
endlich dehnbaren Abschattungskontinuum dar; 3) der Raumkörper qua be­
weglicher kann aus dem Erscheinungsfeld heraustreten und später wieder in
es eintreten (§ 35; vgl. auch §§ 30 und 32). Aus der wesensmäßigen Inadäquat­
heit jeder Dingerscheinung folgt also die Unendlichkeit der Dingerfahrung, und
unendliche Dingerfahrung impliziert einen ins Unendliche fortschreitenden
§ 3 . Die kinästhetische Motivation der Konstitution von Ding und Raum 1 2 1

erfüllungsmäßig einstimmigen Wahrnehmungsablauf, in dem aber plötzliches


Eintreten von erfahrungsmäßigem Widerstreit und die daraus sich ergeben­
de »Explosion<< des Gegenstandes prinzipiell nie ausgeschlossen ist (§ 84; vgl.
Ideen I, § 46 und Ms. M III 2 I 3 , S. 55 ff. ( 1 9 1 3)).
Die erfüllungsmäßigen Zusammenhänge kontinuierlicher Erscheinungsman­
nigfaltigkeiten sind >>Erkenntniseinheiten<< und als solche haben sie >>auch ihre
einheitlichen gegenständlichen Korrelate<< (Hu II, S. 1 3). Dieser wahrnehmungs­
mäßige Erfüllungsprozeß ist ein Prozeß >>schrittweiser Konstitution<<, in dem
>>das Erfahrungsobjekt kontinuierlich sich konstituiert<< (Hu II, S. 1 3 ; vgl. auch
S. 75 [erstes Stück der Dingvorlesung von 1907]). Das Wahrnehmungskontinu­
um kommt also nicht bloß im Hinblick auf einen identischen Gegenstand zur
Synthesis, und der synthetische Erfüllungszusammenhang ist nicht bloß ein
Akt fortschreitender Kenntnisnahme des Dinges, vielmehr ist das Ding in phä­
nomenologisch reiner Betrachtung überhaupt nichts anderes als das gegenständ­
liche Korrelat dieses synthetisch-einheitlichen Prozesses wahrnehmungsmäßiger
Erfahrung. In phänomenologisch-transzendentaler Einstellung gefaßt ist die
wahrnehmungsmäßige Erfahrung somit nicht eine fortschreitende Entdeckung
einer bewußtseinsunabhängigen und in sich fest bestimmten gegenständlichen
Realität, sondern fortschreitende Bestimmung und Ausweisung von individuel­
lem dinglichem Sein. Das Ding ist die sich in der Mannigfaltigkeit des Erschei­
nungskontinuums progressiv aufbauende gegenständliche Einheit bzw., genauer,
das (noematische) Korrelat der kontinuierlichen erfüllungsmäßigen (noetischen)
Identifikationssynthesis der Erscheinungen. Wir verstehen nun auch besser, wa­
rum die teleologisch fungierende Idee des Ding-an-sich phänomenologisch im
Ausgang vom (endlosen) Fortschritt dinglicher Erfahrung gefaßt werden muß­
te. Und wir verstehen, warum auch die Partialität der Dingerscheinung nicht
von der objektiv bestimmten Dingseite hergeleitet werden durfte. Dingaspekt,
Dingoberf!äche, sich fortschreitend bestimmendes visuelles Phantom sowie Ding­
an-sich sind Begriffe, deren Sinn sich phänomenologisch nur im Hinblick auf
entsprechende Strukturen der Dingerfahrung erschließt. Vermöge dieser phä­
nomenologischen Korrelation von Sehen und Gesehenem, Erscheinung und
Erscheinendem ergibt sich die Möglichkeit, sowohl einen noemarischen Erschei­
nungsbegriff zu bilden als auch eine rein noemarische Beschreibung des Pro­
zesses der Dingkonstitution zu erwägen (vgl. Gurwitsch).

§ 3. Die kinästhetische Motivation der Konstitution von Ding und Raum

Wir haben schon von der prinzipiellen Schwierigkeit gesprochen, die darin liegt,
räumlich-transzendente Gegenstände in einem unräumlichen, d. h. phänomeno-
122 4. Kapitel. Wahrnehmung, Ding und Raum

logisch reduzierten transzendentalen Bewußtsein zu konstituieren. Husserl be­


gegnet dieser Schwierigkeit dadurch, daß er erstens den darstellenden Empfin­
dungsdaten neben einer qualitativen auch eine präempirisch extensionale
Bestimmtheit zuschreibt (Hu XVI, §§ 20 f. , 46). Und zweitens stellt er diese
Empfindungsdaten in einen assoziativen Motivationszusammenhang mit einer
entsprechenden Mannigfaltigkeit von kinästhetischen Daten und damit letzt­
lich auch mit der leiblichen Verfassung des Wahrnehmungssubjektes.
Entsprechend ihrer terminologischen Einführung durch A. Bain galten die
kinästhetischen Empfindungen der Psychologie des 19. Jahrhunderts als Mus­
kelempfindungen (vgl. Hu XVI, S. XXIV). Auch bei Husserl bleiben die Kin­
ästbesen in einer noch näher zu bestimmenden Weise auf den Leib bezogen,
ohne daß jedoch dessen physiologische Struktur im Rahmen einer phänome­
nologisch reinen Betrachtung in Anspruch genommen werden dürfte. »Kinäs­
thetische Empfindungen<< gehören mit den »darstellenden Empfindungen<< zum
Inhalt »der beseelenden > Auffassung<<<, jedoch so, daß sie im Gegensatz zu den
Empfindungsdaten »Darstellung ermöglichen, ohne selbst darzustellen<< (§ 46).
Vor der Konstitution des Leibes und der Lokalisierung der Kinästbesen im Leib
läßt sich streng phänomenologisch eigentlich gar nicht mehr sagen, als daß diese
kinästhetischen Daten ein System subjektiver Vermöglichkeit bilden, das sich
»in der jeweiligen kinästhetischen Situation aktualisiert<< und damit eine Kör­
pererscheinungssituation im Wahrnehmungsfeld motiviert (Hu VI, § 28). In
vor-phänomenologisch objektivierender Sprache kann man sagen, daß die Kin­
ästbesen als Leibesempfindungen sich zu verschiedenen Systemen möglicher
Organbewegungen (Augen, Kopf, Hände usw.) zusammenschließen, denen ver­
schiedene Formen möglicher (visueller, taktueller usw.) Erscheinungsfelder so
korrespondieren, daß jede Modifikation des kinästhetischen Systems (Augen­
bewegung usw.) eine Modifikation des Erscheinungssystems (verschiedene Zen­
trierung des Gesichtsfeldes) bewirkt.
Husserl versucht, die natürlich objektivierenden Voraussetzungen einer sol­
chen Beschreibung dadurch zu unterlaufen, daß er seine Analyse bei der Be­
schreibung der als reine Bewußtseinsphänomene gefaßten darstellenden und
kinästhetischen »Empfindungen<< ansetzt, doch seine Ausführungen in der Ding­
vorlesung überschreiten diesen engen Rahmen immer wieder. Es verhält sich
hier wohl ähnlich wie im Falle der Beschreibung des ursprünglichen Zeitbe­
wußtseins, die sich mit einer ihrem Gegenstand ganz unangepaßten, natürlich
inspirierten Begrifflichkeit behelfen muß, da »Wir für all das keine Namen ha­
ben<< (Hu X, S. 371). Husserl mißt dieser Schwierigkeit jedoch kein allzu gro­
ßes Gewicht bei, denn sie bedeute keine Voraussetzung empirischer Realität.
Eigentlich handle es sich dabei bloß darum, daß die phänomenologische Ana­
lyse der konstitutiven Funktion des letzten, »absolut<< genannten Zeitbewußt-
§ 3. Die kinästhetische Motivation der Konstitution von Ding und Raum 123

seins sich mit einer Terminologie behelfen müsse, die eigentlich den durch die­
ses Bewußtsein konstituierten, immanenten Zeitgegenständen zukomme (ebd.).
Man kann diese Schwierigkeit allerdings auch als ein Zeichen dafür werten, daß
es kein »absolut<< konstituierendes und unabhängig von dem in ihm konstitu­
ierten intentionalen Korrelat bestehendes transzendentales Bewußtsein gibt. Für
eine sich als Konstitutionsanalyse verstehende Frage nach dem Ursprung ist
die intentionale Korrelationsbetrachtung eine letzte, d. h. nicht mehr weiter
zu begründende Gegebenheit. Ganz ähnlich verhält es sich auch im Fall der
phänomenologischen Bestimmung der Kinästbesen und der dabei implizit schon
immer vorausgesetzten Leiblichkeit. Auch hier liegt die Schwierigkeit nicht dar­
in, daß eine phänomenologisch reine Betrachtung der Kinästbesen nicht ohne
die widersinnige Voraussetzung empirisch-physiologischer Tatsachen auskäme.
Es stellt sich vielmehr die Frage, ob eine phänomenologische Betrachtung den
konstitutiven Zusammenhang von Kinästbesen und Leib noch hinterfragen kann
und muß. Husserl schreibt: »Also fungieren die kinästhetischen Empfindun­
gen einerseits als konstituierende für die . . . Erscheinung . . . des Leibes - und
andererseits als lokalisierte im Leib.<< (§ 83; vgl. auch § 47) Husserl will diese
Aussage so verstanden wissen: Kinästbesen sind ursprünglich-letzte Gegeben­
heiten, welche neben der Erscheinung von Dingen (>>Körpern<<) auch die Erschei­
nung des Leibes als >>Wahrnehmungsorgan<< motivieren. Der Leib wird dadurch
zum Wahrnehmungsorgan, zur >>fungierenden Leiblichkeit<< (Ms. D 2, S. 3a
( 1 933)), daß die Kinästbesen als leibliche Vermöglichkeiten erfahren werden.
Diese Einlegung der Kinästbesen in den (Eigen-) Leib geschieht nachträglich,
und zwar aufgrund besonderer Erfahrungen, wie der Überschneidung verschie­
dener kinästhetischer Systeme (z. B. Ertasten des sehenden Auges) oder der Über­
schneidung verschiedener Erfahrungen innerhalb eines selben Systems (Ertasten
der tastenden Hand). Man kann andererseits die oben zitierte Aussage natür­
lich auch so verstehen, daß zwischen Kinästhese und Leib ein gegenseitiges und
somit nicht weiter reduzierbares Abhängigkeitsverhältnis besteht. Nicht nur
sind die Kinästbesen konstitutiv für die Erfahrung des Leibes, sondern die fun­
gierende Leiblichkeit ist auch konstitutiv für die Erfahrung der verschiedenen
kinästhetischen Systeme. Daraus würde dann auch (ganz im Sinne von Merleau­
Ponty) folgen, daß das transzendental-konstitutive Wahrnehmungsbewußtsein
stets ein leibliches Bewußtsein ist.
Wir wollen uns nicht länger bei diesen allgemeinen Fragen aufhalten und viel­
mehr zur konkreten Betrachtung der konstitutiven Leistung der Kinästbesen
übergehen. Wie schon im Fall der Erscheinung hat das kinästhetische Bewußt­
sein die Form eines zeitlichen Kontinuums der Sukzession. Das Kontinuum
des kinästhetischen Ablaufs ist normalerweise ein Kontinuum der Veränderung,
und als Grundform der Veränderung gilt Husserl die Bewegung. Kinästhetische
124 4. Kapitel. Wahrnehmung, Ding und Raum

Empfindungen sind >>Bewegungsempfindungen<<, wobei die empfundene Bewe­


gung sowohl diejenige des als Wahrnehmungsorgan fungierenden Leibes als auch
diejenige des wahrgenommenen Dinges sein kann. Unter den sich auf den Leib
beziehenden kinästhetischen Bewegungsempfindungen ist noch zu scheiden zwi­
schen der rezeptiven Empfindung des Leibes und der Empfindung des sponta­
nen >>Ich kann« (mich so und so bewegen . . . ). Die >>kinästhetische Freiheit<< des
»Ich kann<< (Ms. D 13 I, S. 8a ( 192 1)) bezieht sich nicht nur auf die Möglichkeit
willentlicher Leibesbewegungen, sondern auch auf die Erzeugung der dadurch
motivierten Dingerscheinungen. Diese spezifisch sinnliche Form der »Freiheit«
ist die Bestimmung eines >>Willens<<, der sich in den Dienst eines erkenntnismä­
ßigen Interesses stellen kann. In diesem Fall strebt das >>Ich kann<< nach der Her­
stellung von kinästhetischen Umständen, welche eine optimale Gegebenheit
des Wahrnehmungsgegenstandes erlauben (a.a.O. , S. 65a ( 1 92 1)). Die kinästhe­
tische Freiheit ist tätiges Eingreifen in die phänomenale Welt, sie verknüpft leib­
liches Verhalten und dingliche Erscheinungen zu einem unauflösbaren Zu­
sammenhang. Auch »rezeptive<< und >>habituelle<< Kinästhesen unterstehen letzt­
lich dem Verfügungsbereich des >>Ich kann<<. Unwillkürliche Leibesbewegun­
gen und objektiv bedingte Erscheinungsmodifikationen können stets durch
passende Kinästhesen »redressiert, aufgehoben werden<< (a.a.O. , S. 55b (1921)).
Habituelle kinästhetische Abläufe sind vertraute Formen des freien leiblichen
Verhaltens, sie tragen dazu bei, daß ein ganzes System kinästhetischer Vermög­
lichkeit dem »Ich kann<< abrufbereit zur Verfügung steht: »durch vielfältiges . . .
Durchlaufen verschmolzen . . . z u einem vertrauten habituellen Bewegungssy­
stem . . . Durch Übung ist Herrschaft über dieses System erwachsen, jede inten­
dierte Bewegung > kann ich< also, und darin liegt, sie ist jederzeit für mich
ausführbar. . . . << (a.a.O. , S. 53a f.) Dies gilt für jedes einzelne System kinästheti­
scher Beweglichkeit und ebenso auch für »das vertraute bewußtseinsmäßig ver­
fügbare Gesamtsystem der Kinästhesen . . . << (Krisis, Hu VI, § 28). Dieses
»Gesamtsystem der Kinästhesen<< rekonstruiert Husserl als einen Stufenbau stets
umfassenderer kinästhetischer Systeme. So unterscheidet er im Rahmen der vi­
suellen Wahrnehmung zwischen dem okularnotorischen System des Einauges
und Doppelauges, dem System (kephalomotorischer) Kopfbewegungen, den Sy­
stemen des ruhenden, sich bewegenden und gehenden Leibes (Hu XVI, §§ 47,
49, 63, 73). Jedes dieser Systeme besitzt noch seine typischen Modifikationsrei­
hen, und die hierarchische Ordnung der verschiedenen Systeme bestimmt sich
unter dem Gesichtspunkt progressiver Erweiterung des Gesichtsfeldes bzw. stu­
fenweisen Aufbaus des Raumobjektes. Der spezifisch phänomenologische Cha­
rakter dieser Analyse besteht darin, daß jedes kinästhetische System nach seiner
konstitutiven Leistung beschrieben wird. Die phänomenologische Erforschung
dieser konstitutiven Leistung der Kinästhesen geschieht allerdings stets auch im
§ 3. Die kinästhetische Motivation der Konstitution von Ding und Raum 125

Hinblick auf die darin konstituierte Gegenständlichkeit, sie hat die Form einer
intentionalen Korrelationsbetrachtung. Insofern nun aber die intentionale Ge­
genständlichkeit durch die Auffassung inhaltlich-darstellender Empfindungsda­
ten mit-konstituiert ist und die Kinästhesen somit eine wesentlich unselbständige
Konstitutionsleistung erbringen, sind die Kinästhesen und die systematische Ord­
nung kinästhetischer Systeme auch nur innerhalb des Motivationszusammen­
hangs zu erforschen, welcher sie mit Abschattungen qualitativer Art und mit
inhaltlich bestimmten hyletischen Sinnesfeldern verbindet.
Wir haben gesehen, daß das räumliche Ding sich in einem geregelten Zusam­
menhang mannigfaltiger Erscheinungen konstituiert und daß diese Erscheinun­
gen (noetisch) als apperzeptive Beseelung darstellender Empfindungsdaten
bestimmt werden. Husserl führt diese Erscheinungsmannigfaltigkeit nun zu­
rück auf die letzte konstitutive Mannigfaltigkeit, nämlich diejenige der Emp­
findungsdaten. Diese mannigfaltigen Empfindungsdaten verbinden sich auch
schon vor jeder intentionalen Auffassung zu primitiven, hyletischen Einhei­
ten. Diese Einheitsbildung ist im wesentlichen eine Leistung >>passiver Synthe­
sis<<, die vor allem die Form assoziativer Einheitsbildung hat. Diese passiv
gebildeten Einheiten sind vorintentionale Empfindungskomplexe, welche jedoch
in jeder intentionalen Wahrnehmung eines Dinges notwendig impliziert sind.
Hält man sich an Husserls Bestimmung der Wahrnehmung als intentionale Auf­
fassung von vor-intentionalen Auffassungsinhalten, so können diese passiven
Einheitsbildungen somit nicht als Wahrnehmungsprozesse und die darin kon­
stitutierten hyletischen Einheiten nicht als Wahrnehmungsgegenstände bezeich­
net werden. Verschiedene Interpreten des Husserlschen Werkes schreckten jedoch
davor zurück, aller wahrnehmungsmäßigen Erfahrung dieses Schema der Auf­
fassung eines Auffassungsinhaltes zu unterlegen. Sie waren der Ansicht, dieses
Schema sei nur auf höherstufige, sprachlich elaborierte, >>explikative<< Wahrneh­
mungsakte anzuwenden. Daneben gäbe es primitivere Formen der Wahrneh­
mung, die Husserl in seinen Analysen zur passiven Synthesis und hyletischen
Einheitsbildung bereits ansatzweise beschrieben habe. Wie dem auch sei, es muß
jedenfalls deutlich zwischen zwei verschiedenen Formen hyletischer Einheit
unterschieden werden: 1) dem universal-offenen Horizont, dem sich alle einem
selben Typus zugehörigen Empfindungen einfügen; 2) den partikulären Ein­
heiten innerhalb dieses umfassenden Horizontes. Husserl nennt diesen umfas­
senden Horizont ein >>Sinnesfeld<<. Es gibt verschiedene Typen von Sinnesfeldern,
jedoch ist jedes Sinnesfeld formal gleich organisiert, und somit gehorchen auch
die Bildungen von partikulären hyletischen Einheiten innerhalb der verschie­
denen Sinnesfelder stets denselben Regeln.
Empfindungsdaten bzw. >>darstellende Daten<< kennzeichnen sich durch ihre
präempirische Ausdehnung und deren qualitative Bedeckung. Somit ist auch
126 4 . Kapitel. Wahrnehmung, Ding und Raum

das Sinnesfeld als Zusammenhang mannigfaltiger Empfindungsdaten ein prä­


empirisches Lagesystem mit qualitativ diskontinuierlicher Bedeckung (§ 48).
Lagensystem und inhaltlich-qualitative Besetzung sind dabei phänomenologisch
korrelative Begriffe: »Die Orte sind in sich unterschieden, die Qualitäten aber
nur durch die Orte. Andererseits verdanken Orte und Ortskomplexe ihre Ab­
hebung den Qualitäten, nämlich ihrer . . . Diskontinuität.<< (§ 53) Empfindungs­
mäßige Einheitsbildung, wie sie dem Erscheinungskontinuum zugrunde liegt
(§ 55), ist somit stets zugleich ein Prozeß der qualitativen Verschmelzung so­
wie der Transformation des Ortssystems: »In jeder Erscheinung bzw. Bild- [sc . :
Empfindungs-1] mannigfaltigkeit, in der sich systematisch einheitlich die Dar­
stellung einer Gegenständlichkeit . . . entfaltet, geht die Einheit durch präempi­
rische Ausdehnung und Färbung [d. h . : qualitative Bedeckung] hindurch. Die
Mannigfaltigkeit der präempirischen Ausdehnung bedeutet überall eine Trans­
formation der visuellen Ortsmannigfaltigkeit . . . ; die Färbungen . . . kommen . . .
aufgrund jener Transformation mit zur Einheit, bzw. e s kommen aufgrund je­
ner Transformation die ganzen so und so gefärbten Bilder zur Einheit.<< (§ 53)
Husserl faßt das Ergebnis unserer bisherigen Betrachtung in einem Textfrag­
ment des Spätwerkes prägnant zusammen: »Die Erscheinungen haben einen
Spielraum, einen Horizont der Vermöglichkeit . . . Die Vermöglichkeit der Er­
scheinungen, das Sie-ablaufen-lassen-Können und ihre Art, in Spielräumen zu
sein, ist eine mittelbare und nimmt ihren Sinn von der unmittelbaren der Kin­
ästhese.<< (Ms. D 12, S. l l b ( 1 93 1 )) Die Kinästbesen motivieren sowohl die ver­
schiedenen Typen von erscheinungsmäßigen >>Spielräumen<< bzw. empfindungs­
mäßigen >>Sinnesfeldern<< als auch den Ablauf der >>Erscheinungen<< bzw. >>Bil­
der<<. Diese doppelte Motivationslinie führt uns dazu, auch für die Kinästbesen
selbst einerseits zwischen verschiedenen kinästhetischen Systemen und ande­
rerseits dem kontinuierlichen A blauf kinästhetischer Daten innerhalb eines be­
stimmten Systems zu scheiden (vgl. § 5 1). Richten wir unsere Aufmerksamkeit
zuerst auf den Zusammenhang von kinästhetischen und erscheinungsmäßigen
Abläufen, so ergibt sich zugleich ein besseres Verständnis für die Eigenart des
zwischen Kinästbesen und Empfindungsdaten bzw. Erscheinungen angesetz­
ten Motivationszusammenhanges. Die Korrespondenz zwischen dem Ablauf
der Kinästbesen ( >>K<<) und der darstellenden Empfindungen bzw. Bilder
=

( >>b<<) äußert sich zuerst darin, daß K und b schon innerhalb jeder Erscheinung
=

zusammen gegeben sind: >>Die Erscheinung in jeder Phase und die Erschei-

1 Zur terminologischen Bezeichnung der darstellenden Empfindungen als »Bilder« vgl. § 57:
»Dem allgemeinsten nach bleibt auch bestehen, was wir von den Erscheinungen gesagt haben, in
denen die Bilder als darstellende Inhalte fungieren (und nur um der darstellenden Funktion willen
nennen wir sie hinsichtlich der dargestellten Objekte > Bilder<).«
§ 3. Die kinästhetische Motivation der Konstitution von Ding und Raum 127

nungseinheit in ihrer zeitlichen Extension hat zwei wesentlich verschiedene


Komponenten, die b-Komponente und die K-Komponente. Die b-Komponente
liefert die > Intention auf<, die K-Komponente die Motivation dieser Intention.«
(§ 54) Dieser Motivationszusammenhang hat gerrauer die Form des »Wenn -
SO« von kinästhetischen Umständen und dem Ablauf gewisser darstellender
Empfindungen (Hu IV, § 1 8 a). Es handelt sich dabei jedoch um »keine Fundie­
rungseinheit«, da mit einem bestimmten K nicht notwendig, d. h. wesensmä­
ßig und für immer die Gegebenheit eines bestimmten b verbunden ist: »Jede
beliebige Veränderung der K bedingt eindeutig eine Veränderung der b derart,
daß dieselbe Zeitstrecke, die mit der einen Veränderung erfüllt ist, es auch mit
der anderen ist . . . . Die Abhängigkeit ist eine wechselseitige . . . . Andererseits wis­
sen wir, daß die Verbindung zwischen K und b keine feste ist, als ob . . . diese
Verbindung eine innere und unlösliche wäre.« (§ 5 1 ; vgl. auch § 49) Es handelt
sich in der Verbindung zwischen K und b also um eine faktische, d. h. nicht
wesensmäßige Koexistenz, in welcher trotz der »Wechselseitigen Abhängigkeit<<
die K-Komponente sich insofern auszeichnet, als sie die Form und die motivie­
rende Kraft einer ichliehen Vermöglichkeit hat: »Habe ich j etzt bei der K-Lage
des Auges eine gewisse Bildverteilung im visuellen Feld und will ich eine ande­
re haben, . . . so weiß ich sofort, welche Augenbewegung ich auszuführen habe.<<
(§ 5 1) Obwohl nun aber K-Verlauf und b-Verlauf sich zeitlich decken »und ihrer
Fülle nach sich gegenseitig-eindeutig entsprechen«, entspricht der Einheitsbil­
dung der kontinuierlichen b-Mannigfaltigkeit kein durch die »Reihe der K . . .
gehendes Einheits bewußtsein<< ( § § 5 1 f.). Dies hängt damit zusammen, daß die
kinästhetischen Empfindungen keine darstellende Funktion haben und somit
als apperzeptiv aufgefaßte keine spezifisch kinästhetische Gegenständlichkeit
konstituieren. Dies schließt jedoch nicht aus, daß die (beliebigen) K-Verläufe
sich aber doch der "fest begrenzten Mannigfaltigkeit<< eines bestimmten K­
Systems, z. B. dem System der »Augenbewegungsmannigfaltigkeit<< einordnen
(§ 5 1). Der kontinuierlichen Motivationseinheit der Ablaufsmannigfaltigkei­
ten von K und b, die »keine feste ist<<, liegt zugrunde die "feste und nie zu zer­
störende Assoziation<< zwischen »>K überhaupt <<< und der »identischen Orts­
mannigfaltigkeit des präempirischen Feldes<< (§§ 5 1 f.). Diese Scheidung zwischen
festen und sich modifizierenden kinästhetischen Umständen ist die eigentliche
Motivationsgrundlage der oben erwähnten Scheidung zwischen dem festen Orts­
system der b-Mannigfaltigkeiten und den sich in dessen Modifikation durch
den Ablauf der b-Mannigfaltigkeiten konstituierenden Einheiten.
Gehen wir nun über zur Betrachtung der Stufenfolge verschiedener kinäs­
thetischer Systeme und entsprechender empfindungsmäßiger Sinnesfelder, so ist
vorerst an den Motivationszusammenhang zu erinnern, der alle kinästhetischen
Systeme und Empfindungsfelder überhaupt und strukturell miteinander ver-
128 4. Kapitel. Wahrnehmung, Ding und Raum

bindet. Der »Spielraum<< der Erscheinungen bzw. Empfindungen ist ein Ord­
nungszusammenhang, ein festes Lagensystem mit wechselnder Bedeckung. Die
mannigfaltigen Punkte dieses Lagensystems sind alle letztlich auf den Zentral­
punkt optimaler Gegebenheit hin ausgerichtet. Dabei bestimmt sich dieser Null­
punkt erscheinungsmäßiger Orientierung vom leiblich apperzipierten kinästhe­
tischen >>Ich kann<< her: » . . . ich selbst muß leiblich als Nullpunkt oder Null­
glied der Welt, irgendwelcher Dinge schon für mich dasein, um einen offenen
Horizont von unwahrgenommenen und an sich für mich daseienden Dingen
haben zu können.<< (Ms. D 3, S. lOa ( 1920)) Der als »Nullpunkt der Orientie­
rung<< gefaßte Leib ist ein > Organismus < wahrnehmungsmäßiger Vermöglich­
keit, der sich aus verschiedenen Wahrnehmungsorganen bzw. verschiedenen
kinästhetischen Systemen aufbaut. Und diesem Stufenbau kinästhetischer Funk­
tionen entspricht ein Stufenbau von Erscheinungsfeldern sowie ein Stufenbau
von erscheinenden Objektivitäten. Die primitivste Form der Bewegung des als
Sehorgan fungierenden Leibes ist die Augenbewegung. Dieses kinästhetische Ba­
sissystem zerfällt genauer besehen noch in die kinästhetischen Systeme des Ein­
auges und des Doppelauges (vgl. § 49 und Beil. IV). Das kinästhetische System
des Einauges und das entsprechende visuelle Feld weisen eine parallele Struktu­
rierung auf: »Nullpunkt . . . , Rechts-links-, Oben-unten-Richtungen<< (S. 350).
Das visuelle Feld des Einauges ist ein zweidimensionales Kontinuum möglicher
Bewegungen. Durch Hinzutreten der »Akkomodation<< im kinästhetischen Sy­
stem des Doppelauges ergibt sich im entsprechenden visuellen Feld eine paa­
rungsweise Zuordnung von Bildern, welche sich zu Doppelbildern zusammen­
schließen. Diese erlauben die erscheinungsmäßige Darstellung von dinglichen
»Reliefs<<. In der kinästhetisch motivierten Transformation des visuellen Feldes
bzw. im kontinuierlichen Ablauf mannigfaltiger Bilder oder Bildfelder konsti­
tuieren sich vor-dingliche oder vor-räumliche Einheiten. Die kontinuierliche
Mannigfaltigkeit der Kinästbesen der Augenbewegungen z.B. motiviert die Kon­
stitution eines identischen okularnotorischen Bildes (vgl. § 63) und zugleich
eines einheitlichen okularnotorischen Feldes (vgl. §§ 59 f. , 67).
Diese okularnotorischen Einheiten sind zwar Einheiten in Mannigfaltigkei­
ten, aber noch keine Dinge, noch kein Dingraum. Dasselbe gilt auch von den
kephalomotorischen Einheiten (vgl. § 57). Obwohl die Berücksichtigung ver­
schiedener Typen von Kopfbewegungen und Rumpfbewegungen und ihrer ge­
genseitigen Zuordnung eine wichtige Erweiterung des okularnotorischen Feldes
darstellt, ist das sich in einer kontinuierlichen Mannigfaltigkeit von okularno­
torischen Feldern konstituierende neue »Objektfeld<< noch nicht der Raum und
die ihm eingeordneten »Objekte . . . noch immer keine Dinge<< (§ 63 ) . Der ke­
phalomotorische Raum ist bestenfalls, d. h. wenn wir nicht bloß die »Drehung
des Kopfes um seine Grundachse<<, sondern auch eine bestimmte Reihe von
§ 3. Die kinästhetische Motivation der Konstitution von Ding und Raum 129

übrigen (keine Erscheinung von Tiefe motivierenden!) » Leibesbewegungen da­


zunehmen<<, »ein kugelartig geschlossener Raum<< bzw. >>ein homogener Rie­
mannscher Raum konstituiert von zwei Dimensionen<< (S. 309 ff.). Es fehlt
diesem > Raum < bzw. Objektfeld aber noch an Tiefe. Die kontinuierliche Man­
nigfaltigkeit von kephalomotorischen Objektfeldern konstituiert erst dann den
Euklidischen Tiefenraum, wenn diejenigen kinästhetischen Systeme berücksich­
tigt werden, die (wie z. B. das >>Gehen<<: S. 3 1 8 ff. und Beil. IV) im Objektfeld
Phänomene der Verdeckung, Wendung und insbesondere Dehnung motivie­
ren (vgl. §§ 63, 67, 73; S. 3 1 1 ff.). Mit dem unendlichen Tiefenraum konstitu­
iert sich dann auch die geschlossene Einheit der dreidimensionalen dinglichen
Objektivität.
Wir können den Gehalt der äußerst sorgfältigen Analysen, die Husserl die­
sen Phänomenen widmet, hier nicht wiedergeben. Es fällt auf, daß es sich da­
bei um eine stufenweise Konstitutionsanalyse handelt, in der die bereits in einer
kontinuierlichen Mannigfaltigkeit konstituierten Einheiten ihrerseits als kon­
stituierende Mannigfaltigkeiteil einer höheren Einheit fungieren. Die Stufen­
folge der Ding- und Raumkonstitution ist dabei motiviert durch die Stufenfolge
der kinästhetischen Systeme. Die letzten, d. h. primitivsten Mannigfaltigkei­
ten, welche den visuellen Raum konstituieren, sind die visuellen Felder des Ein­
auges. Diese visuellen Felder sind mit mannigfaltigen > Bildern < bzw. darstellenden
Empfindungsdaten bedeckte Lagensysteme. Husserl wird nicht müde, immer
wieder darauf hinzuweisen, daß die in der Beschreibung des Empfindungsfeldes
implizierten >>Termini wie Linie, Punkt, Lage, Figur, Größe usw. . . . niemals im
dinglichen und empirisch-räumlichen Sinn<< zu verstehen seien (§ 48). Husserl
geht aber noch weiter und bezeichnet diese präempirisch ausgebreiteten Emp­
findungsdaten als reelle Bewußtseinsinhalte. Manchem Interpreten schien es nun
aber höchst problematisch, reellen Bewußtseinsinhalten Ausbreitung und qua­
litative Färbung zuzuschreiben. Aus dieser kritischen Haltung erwuchs dann
der Vorschlag, die darstellenden Empfindungsdaten bzw. dinglichen Abschattun­
gen als noemarische Ko rrel ate der Bewußtseinstätigkeit zu bestimmen. 2 Damit
ergibt sich aber auch die Möglichkeit einer spezifisch noemarischen Wahrneh­
mungsanalyse. Dieser dient dann nicht die einer apperzeptiven Auffassung zu­
grundeliegende Empfindung, sondern die noemarische Erscheinung und deren
horizontmäßige Verweisung auf weitere mögliche Erscheinungen als letzte kon­
stitutive Mannigfaltigkeit. Diese noemarische Erscheinung bzw. das Ding im
Wie jeweiligen Erscheinens ist Glied eines sozusagen monadologischen Systems

' Vgl. Asemissen, Hans Ulrich, Strukturanalytische Probleme der Wahrnehmung in der Phäno·
menologie Husserls: Kantstudien. Ergänzungshefte 73, Köln, 1957. - Claesges, Ulrich, Edmund Hus·
serls Theorie der Raumkonstitution, Den Haag, 1964.
130 4. Kapitel. Wahrnehmung, Ding und Raum

interdependenter Wahrnehmungsmöglichkeiten, und dieses System kann als vor­


räumlich ausgedehntes Bewußtseinfeld gefaßt werden. 3 Husserls friihe, noetisch
ausgerichtete Analysen zur Struktur des Sinnesfeldes lassen sich relativ problem­
los auf die Charakteristik dieses noemarischen Erscheinungsfeldes übertragen,
und Husserl hat diesen Weg in späteren, gegenwärtig noch unveröffentlich­
ten Nachlaßmanuskripten (vgl. Quellenangabe in Bernet, S. 264, Anm.)4 selbst
eingeschlagen.

3 Vgl. Gurwitsch, Aron, »Beitrag zur phänomenologischen Theorie der Wahrnehmung«, Zeit·
schrift für philosophische Forschung, 13, 1959, S. 4 19-437.
4 Bernet, Rudolf, >>Endlichkeit und Unendlichkeit in Husserls Phänomenologie der Wahrneh­
mung«, Tijdschrift voor Filosofie, 40, 1978[a], S. 25 1 - 269.
5 . Kapite l
Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen

§ 1 . Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung

Seit den neunziger Jahren und insbesondere im Zusammenhang der Vorberei­


tung seiner Logischen Untersuchungen (1900/0 1) beschäftigte Husserl sich schon
mit dem Gebiet der anschaulichen Akte, die er von dem in den veröffentlichten
sechs Logischen Untersuchungen des zweiten Teils vor allem erörterten Bedeu·
tu ngsgebiet, den begrifflichen Vorstellungen (vgl. 6. Kapitel), abhebt. Bereits
in Texten der neunziger Jahre erörterte Husserl den Unterschied zwischen >>an­
schaulichen und begrifflichen Vorstellungen<<. Zu den anschaulichen Vorstel­
lungen rechnete er >>die Wahrnehmungsvorstellungen, die physisch-bildliehen
Vorstellungen, die Phantasievorstellungen (Erinnerungsvorstellungen, Erwar­
tungsvorstellungen)<<. Gegenüber dem Bedeutungsbewußtsein, in dem ein Ge­
genstand bzw. Sachverhalt gemeint ist, ist es für die anschaulichen Vorstellungen
allgemein kennzeichnend, daß in ihnen >>ein Gegenstand erscheint, und dieser
ist entweder der vorgestellte Gegenstand selbst, oder ein Bild desselben<< (vgl.
Ms. F I 19, S. 1 74, wohl aus 1 894) . 1
Bekanntlich lautet der Untertitel des Zweiten Teils der Logischen Untersuchun·
gen >>Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis<<. Es
ist Husserls Auffassung, daß die höherstufigen, begrifflichen und kategorialen
Akte des Bedeutens, in denen Erkenntnis zu prägnantem Ausdruck kommt,
in den sinnlichen anschaulichen Akten der Wahrnehmung und deren Modifi­
kationen fundiert sind. Die phänomenologische Aufklärung des Bedeutungs­
bewußtseins, des begrifflichen Denkens und Erkennens muß daher auch die
Formen anschaulichen Bewußtseins in ihrer Erkenntnisleistung bestimmen. Die
Analyse der verschiedenen Arten anschaulichen Bewußtseins erweist sich in
Husserls Sicht als für die phänomenologische Aufklärung der Erkenntnis oder,
wie Husserl einige Jahre nach den Logischen Untersuchungen vornehmlich sagen
wird, für die >>Phänomenologie der Vernunft<< strengen Sinnes fundamental, da
es sich bei ihnen um die »zuunterst liegenden intellektiven Akte<< handelt.2
1 Vgl. auch z. B. »Psychologische Studien zur elementaren Logik«, 1894, neu herausgegeben von
B. Rang in Hu XXII, S. 92 ff. sowie die ebendort aus dem Nachlaß stammenden Texte aus den
neunziger Jahren, bes. »Anschauung und Repräsentation, Intention und Erfüllung<< ( 1 893), S. 269 ff.
2 Vgl. für diese Zusammenhänge z. B. Einleitung zur VL LU; den Anfang seiner Vorlesungen
von 1904/05 mit dem an die LU anklingenden Titel »Hauptstücke aus der Phänomenologie und
Theorie der Erkenntnis<<, zitiert in der Einl.d.Hrsg. R. Boehm, in Hu X, S. XV; ferner die eben­
falls in dieser Einleitung zitierte Tagebucheintragung vom September 1906, Hu X, S. XIII f.
1 32 5. Kapitel. Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen

Eine der Hauptaufgaben der Analyse des Gebietes der anschaulichen Akte
besteht dann darin, die verschiedenen Formen des Vergegenwärtigens von der
Grundform anschaulichen Bewußtseins, der Wahrnehmung (vgl. 4. Kapitel),
in ihren intentionalen Eigentümlichkeiten abzuheben. Die zunächst recht spe­
ziell anmutende Aufgabe, auf deren Lösung Husserl jahrelang immer wieder
seine Bemühungen wandte, ließ ihn schließlich unvermutete Tiefendimensio­
nen und Zusammenhänge des intentionalen Bewußtseinslebens erschauen, die
in ihrer Bedeutung für seine spätere Lehre von der konstituierenden, transzen­
dentalen Subjektivität kaum überschätzt werden können.
Die ersten Anregungen zur Beschäftigung mit den anschaulichen Akten emp­
fing Husserl von Brentano.3 Mehrfach erwähnt er dessen »unvergeßliches Kol­
leg über > Ausgewählte psychologische und ästhetische Fragen<<<, in welchem
Brentano sich »nahezu ausschließlich um die analytische Klärung der Phanta­
sievorstellungen im Vergleich mit den Wahrnehmungsvorstellungen mühte<<.4
Brentano gelangte in jenem Kolleg nach ausführlicher Diskussion der philoso­
phischen Tradition von Aristoteles bis in seine Gegenwart zu folgender Bestim­
mung: »Phantasievorstellungen sind unanschauliche oder uneigentliche
Vorstellungen, die sich anschaulichen Vorstellungen annähern. [ . . ] Die Grenze .

ist freilich verschwommen<< (G. d. Asth. , S. 86). Die Annäherung an die anschau­
lichen Wahrnehmungsvorstellungen gründet nach Brentano darin, daß »die
Phantasievorstellungen sozusagen einen anschaulichen Kern enthalten<< (vgl.
S. 84), die meisten Phantasievorstellungen seien aber tatsächlich nicht Anschau­
ungen, sondern Begriffe mit anschaulichem Kern (vgl. S. 83). Die von Erenta­
no zur Geltung gebrachte Uneigentlichkeit der Phantasievorstellungen wie
übrigens auch der Vorstellungen von fremden psychischen Phänomenen sowie
der eigenen vergangenen und zukünftigen psychischen Phänomene (vgl. G. d.
Asth. , S. 83 f.) gegenüber der Eigentlichkeit der Wahrnehmungsvorstellungen
bestimmte Husserl zur Zeit der Logischen Untersuchungen durch den Aktcha­
rakter der Bildlichkeit, durch die »Verbildlichende Auffassung<<, gegenüber dem
Aktcharakter der Selbstgebung des Gegenstandes in der Wahrnehmung.5

3 Zum Historischen vgl. die Einleitung des Hrsg., E. Marbach, in Hu XXIII, S. XLIII ff.
4 Vgl. Zitat in Hu X, S. XV f. bzw. Hu XXIII, S. XLIV - Vgl. z. B. auch E. Husserl, »Erinne­
rungen an Franz Brentano«, München 19 19, S. 153 u. 157. - Große Teile aus Brentanos Vorlesun­
gen »Ausgewählte Fragen aus Psychologie und Ä sthetik« wurden in einer von Frau F.
Mayer-Hillebrand redigierten Form als erstes Stück in den Band: F. Brentano, Grundzüge der Asthe·
tik, Bern 1959, aufgenommen; vgl. die Anmerkungen der Herausgeberin, S. 225 und ihr Vorwort,
bes. S. XIV.
; Vgl. z. B. V LU, § 14, S. 364. Diese frühe Lehre Husserls steht auf dem Boden der empiristisch
beeinflußten Theorie des Bewußtseins, die im Bewußtsein (übrigens wie auch immer entstandene)
präsente, erlebte Inhalte - Empfindungen und Phantasmen - annimmt, die je nach Aktcharakter
oder »Weise des Bewußtseins« verschiedenartige A uffassung, Deutung, Apperzeption erfahren, der-
§ 1 . Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung 133

Rein vom Gesichtspunkt des Bewußtseins her betrachtet würde sich so ein
Gegenstand der Phantasie, der Erinnerung oder Erwartung im Gegensatz zu
einem Gegenstand der Wahrnehmung in seiner Gegebenheit dadurch kennzeich­
nen, daß er nicht als >>selbst gegenwärtig<<, >>leibhaft« oder sozusagen >>in eige­
ner Person« erscheint (vgl. oben, S. 1 1 0), sondern daß er mir bloß vorschwebt,
daß es nur gleichsam so ist, als wäre er da, daß er mir >>im Bilde« (Phantasiebild,
Erinnerungsbild) erscheint. Das Gegensatzpaar von >>leibhaft« etc. und >>gleich­
sam«, >>als ob« bezüglich der Erscheinungsweisen von Wahrnehmungs- bzw. Ver­
gegenwärtigungsbewußtsein wird Husserl stets beibehalten. Sein Denkweg nach
den Logischen Untersuchungen führte ihn aber von der anfänglichen Theorie
der Bildlichkeit anschaulichen Vergegenwärtigens über eine konkret durchge­
führte Analyse der tiefliegenden Unterschiede zwischen Bildbewußtsein und
reiner Phantasie bzw. Erinnerung und die Einbeziehung des inneren Zeitbe­
wußtseins ( 1904/05) zur Lehre von der Reproduktion von Akten, d.i. zur Ein­
sicht in das Wesen der intentionalen Implikation anderen (eigenen und dann
auch fremden) Bewußtseins im aktuell vollzogenen Bewußtsein.
In der konkreten Analyse ging Husserl gewöhnlich so vor, daß er durch mei­
stens vom gewöhnlichen Sprachgebrauch geleitete erste Beobachtungen an ver­
schiedenen verwandten Bewußtseinsarten einen >>Yergleichshorizont« schuf,
>>über den wir von vornherein verfügen müssen, um schrittweise jede dieser
Anschauungsarten [Wahrnehmung, Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung) (die
nur im Kontrast gegen die parallelen ihre eigentümlichen Wesenseigentümlich­
keiten enthüllt) einer Wesenserkenntnis unterziehen zu können« (Ms. A VI 1 1
I , S . 67b, 1 9 1 1 / 12). Ohne i n unserem Rahmen auf die einzelnen Denkschritte
und häufigen Aporien eingehen zu können, sei versucht, wesentliche Ergebnis­
se, die oft Jahre auseinanderliegen, als Glieder einer phänomenologischen Theo­
rie der anschaulichen Vergegenwärtigungen zusammenzufassen. 6
Ganz allgemein betrachtet ist in der Analyse zu unterscheiden zwischen dem
Moment der Anschaulichkeit (mit ihren möglichen Graden der Lebendigkeit,
Angemessenheit, Klarheit, Dunkelheit, Leere) und dem Moment der Setzung

gemäß wir Wahrnehmungserscheinung oder Phantasieerscheinung, Bilderscheinung etc. haben (vgl.


v.a. V. Lu, § 14). Eine angemessene Erörterung dieses Inhalts-Auffassungs-Schematismus würde
hier viel zu weit führen. (Zur Diskussion vgl. Hu X, die Einl.d.Hrsg.; R. Sokolowski, The forma­
tion o/Husserl's concept of constitution, The Hague 1970.) Es sei aber vermerkt, daß Husserl insbe­
sondere durch die vertiefte Analyse des Bewußtseins anschaulicher Vergegenwärtigung zu einer
entscheidenden Revision dieser Apperzeptionslehre durchdrang, deren Ergebnis in unserer weite­
ren Darstellung zur Geltung kommen wird (vgl. Hu XXIII, Einl.d.Hrsg. und bes. Nr. 8 und
Nr. 9).
6 Die in Husserls Manuskripten häufigen terminologischen Schwankungen können hier auch

nicht diskutiert werden; es wird versucht, möglichst die schließlich von Husserl bevorzugten Be­
zeichnungen zur Geltung zu bringen.
134 5. Kapitel. Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen

(der doxischen Modalitäten) der hier fraglichen Akte.7 Entscheidend für Bus­
serls Lehre wurde der seit den Vorlesungen vom Wintersemester 1904/05 er­
kannte »innige Zusammenhang zwischen intuitiven Akten und Zeitbewußtsein<<
(vgl. Hu X, S. 394). Denn erst durch den Rückgang auf den grundlegenden,
temporal interpretierten Unterschied von Impression (Gegenwärtigung) und Re­
produktion (Vergegenwärtigung) gelang es Husserl, den Unterschied zwischen
der unmittelbaren Anschaulichkeit des Leibhaften (in der Wahrnehmung) und
der des Nichtleibhaften (in Phantasie, Erinnerung, Erwartung) verständlich zu
machen (vgl. Ms. A VI 11 I, S. 6 1 -95; Hu XXIII, v.a. Nr. 12, 1 3 , 14). Auf seiten
der Setzung ist zu scheiden zwischen Aktualität (Positionalität) und Inaktuali­
tät (Neutralität). Die beiden Unterscheidungspaare: Gegenwärtigung - Verge­
genwärtigung, Aktualität - Inaktualität werden von Husserl als sich kreuzende
bestimmt (vgl. Hu XXIII, Nr. 13 ( 1 9 10) und Nr. 16 ( 1 9 1 2)). So spricht er be­
züglich des uns hier interessierenden Gebiets der anschaulichen Vergegenwärti­
gungeil von setzenden Vergegenwärtigungeil (Erinnerung, Mitvergegenwärtigung,
Erwartung) und nichtsetzender Vergegenwärtigung (purer Phantasie) (vgl. Hu
XXIII, Nr. 12, wohl 19 1 0).8 Und der zur Zeit der Logischen Untersuchungen
Schwierigkeiten bereitende Unterschied zwischen purer Phantasie und dem nor­
malen Bildbewußtsein wird schließlich terminologisch verallgemeinert als Un­
terschied zwischen reproduktiver Phantasie (oder Vergegenwärtigung) und
perzeptiver, d. h. Vergegenwärtigung im Bilde, in bildlieber Darstellung (vgl.
z. B. Hu XXIII, Nr. 1 6 und Nr. 1 8a ( 1 9 1 8)).
Versuchen wir nun nacheinander eine etwas genauere Vorstellung zu gewin­
nen a) von der im inneren Zeitbewußtsein begründeten Unterscheidung zwi­
schen Impression und Reproduktion, d. h. von der reproduktiven Modifikation,
b) vom Aspekt der Setzung bzw. Neutralisierung, d. h. von der qualitativen
Modifikation, und c) von der Eigenart des Bildbewußtseins in Abhebung von
den reproduktiven Vergegenwärtigungen.
a) In seinen Vorlesungen von 1 904/05 kam Husserl zum Ergebnis, daß pure
Phantasie bzw. Erinnerung als reines, schlichtes Vergegenwärtigungsbewußtsein
scharf von der Wahrnehmung als dem Gegenwärtigungsbewußtsein, aber auch

7 Diese beiden Momente kommen übrigens auch im gewöhnlichen Sprachgebrauch mehr oder
weniger ausdrücklich zur Geltung. Im deutschen Worte Einbildung (ebenso in »i maginatio« und
Abwandlungen in den lateinischen Sprachen) steckt einerseits das Moment der Anschaulichkeit
im Sinne der Verbildlichung (Einbildung; imago); andererseits zeigt die geläufige Rede von »bloßer
Einbildung<<, »bloßem Schein« an, daß wir ein Bewußtsein der Unwirklichkeit bezüglich des Vor·
gestellten haben, daß wir, was wir uns so »einbilden«, nicht als Wirklichkeit setzen, daran nicht
»glauben« (vgl. Hu XXIII, z. B. Nr. 1 , § 8.).
8 Husserl versucht bisweilen auch neben der setzenden Gegenwärtigung (Wahrnehmung) von
nichtsetzender Gegenwärtigung zu sprechen und führt als angebliches Beispiel dafür das Bildob­
jektbewußtsein an (vgl. z. B. Ideen I, § 1 1 1 ; Hu XXIII, z. B. Nr. 13 u.a.).
§ 1 . Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung 135

vom gewöhnlichen Bildbewußtsein, das der Vermittlung eines in der Gegen­


wart perzeptiv Erscheinenden bedarf (vgl. weiter unten S. 1 40 ff.), zu scheiden
sei. Für die vertiefte Aufklärung dieses Gegensatzpaares Gegenwärtigung - Ver­
gegenwärtigung begann Husserl im letzten Teil der Vorlesungen die Analyse
des inneren Zeitbewußtseins. Es handelt sich im Zusammenhang mit den in­
tuitiven Akten darum, den fundamentalen Unterschied zwischen »Zeitwahr­
nehmung« als dem für das »Gegenwärtigsein<< konstitutiven originären Zeitbe­
wußtsein und »Zeitphantasie«, die konstitutiv ist für das »Nichtgegenwärtig­
sein<< (Vergangen-, Künftig-, allgemein: Vergegenwärtigtsein), auf den Begriff zu
bringen (vgl. Hu X, § 6, S. 1 6).9
In den Jahren nach den Wintervorlesungen von 1904/05 arbeitete Husserl
immer deutlicher die gegenüber der impressionalen Gegenwärtigung komple­
xere intentionale Struktur der Vergegenwärtigung heraus. Er erkannte, daß die
Vergegenwärtigungen >>eine zweite, andersartige Intentionalität haben, eine sol­
che, die ihnen allein und nicht allen Erlebnissen eigen ist<< (Hu X, S. 52). Es
handelt sich darum, daß eine Vergegenwärtigung nicht bloß Bewußtsein von
einem Gegenstand ist, sondern daß sie in sich selbst, im »inneren Bewußtsein«
oder Zeitbewußtsein, auch reproduktives Bewußtsein von der entsprechenden
Impression, vom entsprechenden originären Ablauf ist, in welchem sich ur­
sprünglich das Bewußtsein vom jetzt vergegenwärtigten Gegenstand konstitu­
iert (in der Vergangenheit, Zukunft oder als reine Möglichkeit in der Phanta­
sie). In einer Aufzeichnung wohl von 1 9 1 1/ 1 2 faßt Husserl diese allgemeine
Struktur oder dieses »Wesensgesetz« intentionaler Modifikation oder Implikation
bei den anschaulichen Vergegenwärtigungen in einer übersichtlichen »Formel<<
zusammen. Es gilt »R(W a) =V a · Die Vergegenwärtigung eines Hauses z. B. [V aJ
und die Reproduktion der Wahrnehmung dieses Hauses [R(W a)J zeigen diesel­
ben Phänomene<< (Hu X, S. 128; bzw. Hu XXIII, Nr. 14, S. 3 1 1). Meine Inten­
tionalität ist dabei normalerweise, d. h. wenn ich nicht »Reflexion in der
Phantasie oder Erinnerung« vollziehe, auf die vergegenwärtigte Gegenständlich­
keit gerichtet, indessen handelt es sich nicht um eine »schlichte« Intentionali­
tät, sondern eine »eigentümliche Mittelbarkeit<< (Hu VIII, S. 1 1 6), die nicht mehr
als »Bildlichkeit<< ausgelegt wird, sondern eben zur Geltung bringt, daß z. B.
Vergangenheit mir nicht >>direkt<< , sondern nur vermittelt über ein reprodukti­
ves Bewußtsein meiner vergangenen Erfahrung, die für das erinnerte Ereignis
konstitutiv war, wieder zur Gegebenheit kommen kann.
Die Einsicht in diese Struktur intentionaler Implikation von anderem Be­
wußtsein im aktuellen Bewußtsein dürfte entscheidend gewesen sein für Bus­
serls Revision des ursprünglichen Inhalts-Auffassungs-Schemas, mit dessen Hilfe

9 Vgl. oben Kapitel 3, § 2, bes. S. 97 - 1 0 1 .


136 5. Kapitel. Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen

er zuvor den Unterschied zwischen Wahrnehmung und Phantasie (Vergegen­


wärtigung) etablieren wollte. Etwa um 1 909 kann er festhalten: »Ich hatte das
Schema Auffassungsinhalt und Auffassung, und gewiß hat das einen guten Sinn.
Aber nicht haben wir, zunächst im Fall der Wahrnehmung, in ihr als dem kon­
kreten Erlebnis, eine Farbe als Auffassungsinhalt und dann den Charakter der
Auffassung, der die Erscheinung macht. Und ebenso haben wir im Fall der Phan­
tasie nicht wieder eine Farbe als Auffassungsinhalt und dann eine geänderte
Auffassung, diejenige, die die Phantasieerscheinung macht. Vielmehr: >Bewußt­
sein < besteht durch und durch aus Bewußtsein, und schon Empfindung so wie
Phantasma ist > Bewußtsein <. Da haben wir zunächst Wahrnehmung als impres­
sionales (originäres) Gegenwartsbewußtsein, Selbstda-Bewußtsein und dgl. und
Phantasie (in dem Sinn, in dem Wahrnehmung der Gegensatz ist) als das repro­
duktiv modifizierte Gegenwartsbewußtsein, Bewußtsein des gleichsam Selbstda,
des gleichsam Gegenwärtig, der Gegenwartsphantasie<< (Bu XXIII, Nr. 8 ,
S . 265 f.). Allgemein können wir sagen, daß Busserl die reproduktive Struktur
des Vergegenwärtigens so faßte, daß in ihr stets eine >>vergegenwärtigte Gegen­
wart« mit all ihren Modis des Bewußtseinsflusses intentional impliziert ist, sei
es eine vergangene, künftige, mögliche, bloß phantasierte oder fremde.
b) Zur konkreteren Aufklärung dieser verschiedenen Arten anschaulichen Ver­
gegenwärtigens muß nun der Aspekt der Setzung, der >>qualitativen Modifika­
tion<<, mit in die Analyse gezogen werden. Innerhalb des Gebietes der repro­
duktiven Modifikation gelangt Busserl zur Unterscheidung von setzenden Ver­
gegenwärtigungen und nichtsetzender, inaktueller oder neutralisierter Vergegen­
wärtigung (in der puren Phantasie) . Im § 1 1 1 der Ideen I ( 1 9 13) ist folgende
knappe Kennzeichnung der Phantasie zu lesen: >>Näher ausgeführt, ist das Phan­
tasieren überhaupt die Neutralitätsmodifikation der > Setzenden < Vergegenwär­
tigung, also der Erinnerung im denkbar weitesten Sinne<< Qahrb. , S. 224). Um
diese Beziehung zwischen Phantasie, Erinnerung und Neutralitätsmodifikation
angemessen zu verstehen, muß vor Augen gehalten werden, daß Phantasie als
Akt der Vergegenwärtigung, d. h. als Reproduktion von Bewußtsein im aktuell
vollzogenen Phantasiebewußtsein bestimmt wurde.
Die Lehre von der Neutralitätsmodifikation bildet eine Verallgemeinerung
der Lehre von der >>qualitativen Modifikation<< der Logischen Untersuchungen
(vgl. V LU, §§ 39 f.). Die qualitative Modifikation wird in den Logischen Unter­
suchungen für die Klasse der objektivierenden Akte (vgl. oben, S. 88 ff.), d. h. als
eine innerhalb der Akte von der >>Qualität<< > Vorstellung< (vgl. oben S. 89 ff.)
stattfindende Modifikation eingeführt. 10 Bezüglich dieser objektivierenden
10 Andere Aktqualitäten wären z. B. Wunsch, Wille, Gefühl - die ganze Problematik hängt eng­
stens mit der Klassifikation der »psychischen Phänomene« bei Brentano zusammen. Vgl. zu dieser
Diskussion z. B. E. Tugendhat (1967), S. 4 1 f.
§ 1 . Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung 137

Akte stellt Husserl die Möglichkeit des Übergangs vom setzenden Vorstellungs­
akt zu einem Akt bloßer Vorstellung derselben Aktmaterie (vgl. oben, S. 88 f.),
und umgekehrt, heraus (vgl. V. LU, S. 435, 448). Es handelt sich also nicht um
einen Übergang von einer Aktqualität (Klasse) in eine andere - nicht z. B. um
den Übergang von einer Wahrnehmungsvorstellung zu dem komplexen Akt der
Freude, der einer neuen, fundierten Aktqualität (Klasse) angehört. Es handelt sich
um eine »qualitative Modifikation<<, d. h. eben um eine innerhalb derselben Akt­
qualität mögliche Modifikation der Qualität >Vorstellung<: statt eine Vorstellung
ursprünglich, aktuell, zu vollziehen als setzenden, glaubenden Akt, ist es mög­
lich, sie als bloße Vorstellung zu vollziehen, als nichtsetzenden Akt, den >>Glau­
ben<< (belief) dahingestelltseinlassend. Diese qualitative Modifikation ist nicht
iterierbar. >>Hat sich das > Glauben< in > bloßes Vorstellen < verwandelt, so kön­
nen wir höchstens zum Glauben zurückkehren; aber eine sich in gleichem Sin­
ne wiederholende und fortführende Modifikation gibt es nicht<< ( V. LU, S. 452).
Die Ideen I führen die Neutralitätsmodifikation als universale Modifikation
von Bewußtsein überhaupt ein. Zuunterst liegt die Urdoxa (der Urglaube) des
wahrnehmenden Bewußtseins, auf die alle Glaubensmodifikationen (Anmutung,
Vermutung, Zweifel, Frage etc.) eben als doxische Modalitäten des Urglaubens
zurückbezogen sind. Auch die nichtdoxischen Akte (die nichtobjektivierenden
im Sinne der Logischen Untersuchungen: z. B. Wünschen, Begehren, Sich-freuen
etc.) weisen intentional auf die Urdoxa zurück. Die Verallgemeinerung liegt dar­
in, daß Husserl alle Akte als setzende (thetische) Akte versteht (worunter die
doxischen Akte die spezielle Klasse der seinssetzenden Akte bilden), die ihr mög­
liches Gegenstück in neutralen Akten als Gegenstücken alles >>Leistens<< haben
(vgl. v.a. § 1 09 und § 1 1 7) _ 11
Die pure Phantasie nun faßt Husserl als Neutralitätsmodifikation einer spe­
ziellen Art von Setzungen, nämlich der setzenden Vergegenwärtigungen. Der
Terminus > Erinnerung< dient ihm in den Manuskripten (vgl. z. B. Hu XXIII,
S. 246, S. 396) und so auch im § 1 1 1 der Ideen zur Bezeichnung der setzenden
Vergegenwärtigungen als Vorvergegenwärtigung, Mitvergegenwärtigung, Wie­
dervergegenwärtigung in ihrer reproduktiven Struktur. Insofern in Husserls Sicht
allem Erleben als originärem Bewußtsein vom Erlebnis Erinnerungen von ihm
als mögliche Parallelen entsprechen (Ideen, § 1 1 1 , S. 225), erweist sich auch die
Phantasiemodifikation als Neutralitätsmodifikation der Erinnerung von univer­
saler Bedeutung (S. 224). Ganz allgemein gesagt verhält es sich beim Phanta-

11
Eine kritische Diskussion dieser Verallgemeinerung der Neutralisierung findet sich in I. Kern
( 1 975), S. 146 ff. Bemerkenswerterweise scheint Husserl selbst zeitweise auch im Falle der Wahr­
nehmung, der Urdoxa, die Neutralisierung für unmöglich erachtet zu haben; vgl. Hu XXIII, z. B.
Nr. 1 5j ( 1 9 1 2); vgl. auch Logische Untersuchungen, S. 455 f.
138 5. Kapitel. Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen

sieren danach so, daß ich, welche Erlebnisse auch immer, nicht wirklich erfah­
re, sondern in neutralisierender Weise, d. h. ohne Glaubenssetzung, unter Ein­
klammerung oder Dahinstellen jeder Bewußtseinsleistung, mir all die Erlebnisse
nur (einbildend) vergegenwärtige, nur irraktuell vollziehe. Ich phantasiere mich
selbst in ein Erfahren hinein (mich selbst dabei in die Phantasiewelt hineinzie­
hend oder nicht), ich fühle, als ob ich erfahren, sehen, hören, sprechen, zwei­
feln, fragen, wollen, begehren etc. würde. Die ganze, sei es zusammenhängende
Phantasiewelt, sei es zusammenhangslose Abfolge einzelner Phantasiesituatio­
nen ist gegeben in der Modifikation des Als-ob, ohne Vollzug von Glaubens­
oder Setzungsbewußtsein, als Unwirklichkeit (vgl. z. B. Hu XXIII, v.a. Nr. 1 5 ,
Nr. 1 8 a).
Demgegenüber ist es für die setzenden Vergegenwärtigungen wesentlich, daß
ich sie im Bewußtsein der Aktualität des Glaubens vollziehe. Es ist zum Bei­
spiel im Falle einer Erinnerung nicht einfach irgendeine eingebildete Erlebnis­
abfolge setzungslos vergegenwärtigt, sondern die reproduktiv vollzogenen
Erlebnisse sind im >>Wieder<<-Bewußtsein, das ein >>Glaubensbewußtsein« ist, ge­
geben (vgl. z. B. Hu XXIII, Nr. 1 1 , 12, 1 3). Das heißt vor allem auch, daß ih­
nen vorwärts- und rückwärtsweisende Intentionen unabtrennbar anhaften, die
ihnen Einordnung in den Gesamtzusammenhang meines vergangenen Bewußt­
seinsstromes verleihen (vgl. z. B. Hu XXIII, Beilage XXIX, wohl 1 9 1 0). Analo­
ge Verhältnisse würden für Vorvergegenwärtigungen bezüglich künftiger Er­
fahrung gelten (vgl. z. B. Hu XXIII, Nr. 1 3 , 1 9 1 0). Dieses setzende, glaubende
Bewußtsein bedeutet selbstverständlich nicht, daß ich mich bezüglich verge­
genwärtigter Situationen nicht täuschen, irren könnte. Täuschung ist vielmehr
allgemein gesagt in zweifacher Hinsicht möglich: bezüglich des reproduzierten
Aktes (ich hatte es nicht gelesen, sondern es wurde mir erzählt) oder bezüglich
des vergegenwärtigten Gegenstandes (es war nicht x, sondern y). Es ist indessen
für die setzenden Vergegenwärtigungen charakteristisch, daß ich eben sozusa­
gen Setzung gegen Setzung ausspiele, mich auf dem Boden der Doxa und
all der möglichen doxischen Modalitäten bewege und, solange ich der Erinne­
rungstäuschung nicht gewahr werde, eben glaube, setze: es war so oder, es be­
zweifelnd, mich frage: war es so oder war es nicht vielmehr so? (vgl. Hu XXIII,
Nr. 1 5 , bes. auch Beil. XXXVII, 1 9 1 2). Idealiter wäre es möglich, von der erin­
nerten Vergangenheit oder der antizipierten Zukunft kontinuierlich bis zum
aktuellen Jetzt die Erlebnisabfolge zu reproduzieren, während eine derartige
Kontinuität im Falle der reinen (ohne Mischung mit jetzt oder einst aktueller
Erfahrung bewußter) Phantasie keinen Sinn gibt. Denn die Phantasiewelt ist
ganz und gar eine Welt-im-als-ob, ohne absolute Raum- und Zeitlage in der ob­
jektiven Raum-Zeitlichkeit (vgl. z. B. EU, v.a. §§ 3 8 -42; Hu XXIII, v.a. Beilage
LVI; Nr. 19a).
§ 1 . Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung 139

Ein alle reproduktiven anschaulichen Vergegenwärtigungen betreffendes Phä­


nomen ist nun noch anzuzeigen, das Husserl seit den Vorlesungen über »Phan­
tasie und Bildbewußtsein« im Winter 1904/05 ausführlichen Betrachtungen
unterzog (vgl. Hu XXIII, Nr. 1, §§ 24, 32 und 7. Kapitel; ferner z. B. Beilage
IX, 1 905; Beil. XLIV (wohl 1 908), L und LI, wohl 1 9 1 2 oder etwas später). Wir
meinen das Phänomen der Verdeckung oder des Widerstreits von A nschauun·
gen, das damit zusammenhängt, daß im Bewußtseinsstrom nichts Isoliertes denk­
bar ist. Husserl spricht vom >>Strom aktueller Setzung<<, >>aktueller Auffas­
sungsintentionen, die sich immer wieder zu neuen organisieren, allem Zusam­
menhangskraft erteilen, was sich in sie einfügt, und freilich nichts außer sich
lassen<<. Was sich nun isoliert gibt wie eine Phantasie, >>verdeckt doch in Wahr­
heit etwas in der Wirklichkeit<< (vgl. Beil. LI, S. 485). Husserl stellt heraus, daß
»Raum nur einmal anschaubar ist<<. >>Raumanschauung > Verdeckt < Raumanschau­
ung<<. Im Beispiel der Phantasie bin ich einer Phantasiegegenständlichkeit zu­
gewendet, ich schaue eine Raumwelt in bestimmter Orientierung an. >>Ich kann
aber gleichzeitig den Blick richten auf die wahrgenommene Raumwelt mit ih­
rer Orientierung. Tue ich das eine, so verschwindet das andere: Und das Ver­
schwinden ist nicht ein bloßes Dunklerwerden, sondern ein Herabgedrückt­
werden zu einer > leeren < Vorstellung<< (ebd., S. 48 5). Ein anschauliches Zugleich
von Gegenwart und Nichtgegenwart (gesetzter in Vergangenheit oder Zukunft
oder bloß phantasierter) ist unmöglich. Die Zuwendung zum einen streitet mit
gleichzeitiger Zuwendung zum anderen (vgl. Nr. 1, § 32; Beil. IX). Mein ak­
tueller Gesichtspunkt im Hier und Jetzt, der mir das Blickfeld der Wahrneh­
mung eröffnet, kann nicht zugleich der Gesichtspunkt der Nichtgegenwart sein;
vielmehr ist dieser Gesichtspunkt ein in der Vergegenwärtigung reproduzierter
vergangener, künftiger oder bloß eingebildeter, der mir ein vergegenwärtigtes,
das aktuell gegenwärtige Blickfeld im Maße meiner Zuwendung zur Nichtge­
genwart verdeckendes Blickfeld eröffnet. Sehr wichtig ist es zu beachten, daß
bei diesen Verhältnissen die Wahrnehmungswelt, »wie sehr sie auch ihre > Ak­
tualität < verlieren, sich > Von mir entfernen < mag<<, wenn ich eine Vergegenwär­
tigung vollziehe, für mich bewußtseinsmäßig nicht verschwindet, daß sie
»perzeptiv immerfort da ist<< (vgl. EU, § 42, S. 205). Würde ich das Bewußtsein
von der Wahrnehmungswelt im Vollzuge einer Vergegenwärtigung ganz verlie­
ren, würde ich nicht mehr vergegenwärtigen, sondern gegenwärtigend träumen,
hätte eine Halluzination, wäre in Trance oder Vision, und das so Veranschau­
lichte hätte dann den Charakter des Selbstda, der leibhaften Wirklichkeit wie
in Wahrnehmungen, »auch ausgestattet mit dem Charakter des , belief«<, und
nicht mehr bloß des »gleichsam wieder<< oder des »als ob<< im Bewußtsein des
Scheines (vgl. Hu XXIII, Nr. 1, § 20; Beil. IX, S. 1 50 f.). Eine Einheit gleichzei­
tiger Anschauung bezüglich wahrgenommener und erinnerter oder phanta-
140 5. Kapitel. Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen

sierter Gegenständlichkeiten ist also nicht möglich, ich bin anschaulich entwe­
der der Gegenwart oder einer Nichtgegenwart zugewendet. Es besteht aber »Zwi­
schen allen Erlebnissen eines Ich eine zeitliche Einheit<<, und so »besteht aufgrund
des Zusammen-konstituiert-seins im Fluß eines inneren Zeitbewußtseins die Mög­
lichkeit der Herstellung eines anschaulichen Zusammenhanges zwischen allen
darin konstituierten Gegenständlichkeiten« (EU, § 42a, S. 206 f.). Dieser von
Husserl im Zusammenhang der Analyse der anschaulichen Vergegenwärtigun­
gen herausgearbeitete vereinheitlichende Ichbezug wird im Kapitel »Ich und Per­
son« etwas näher zur Sprache kommen; er gehört durchaus zur Analyse der
Wesensmomente anschaulicher Vergegenwärtigungen mit.
c) Ein gegenüber der Verdeckung andersartiges, wenn auch verwandtes Phä­
nomen stellt Husserl unter den Titel der >>Durchsetzung« oder >>Durchdringung
mit Widerstreit« von Anschauungen. Dieses Phänomen sieht er beim gewöhn­
lichen Bildbewußtsein, d. h. bei der nicht mehr rein reproduktiven, sondern
bei der perzeptiv fundierten Vergegenwärtigung verwirklicht (vgl. v.a. Nr. 1, Nr.
16, Nr. 17, Beil. IX, Beil. L sowie die meisten mit dem Bildbewußtsein sich
befassenden Texte in Hu XXIII). Es ist nicht leicht, Husserls Lehre vom Bild­
bewußtsein in Kürze zusammenzufassen, da er oft recht schwankend ist. Ei­
nen wesentlichen Punkt bildet die Abgrenzung vom Pikturnbewußtsein (Illusion),
von welchem Husserls frühe Analyse mit ihrem Akzent auf den widerstreiten­
den Intentionen das Bildbewußtsein wohl zu wenig klar differenziert. Zunächst
orientierte Husserl seine Analyse auch zu stark am Gedanken der Abbildlich·
keit, wie er im Porträt vorliegt, während er später bei der Erörterung der
ästhetisch·künstlerischen Darstellung >>Bildlichkeit im Sinn der perzeptiven Phan­
tasie als unmittelbare Imagination« ohne Abbildlichkeitsfunktion zu fassen ver­
sucht (vgl. Hu XXIII, Nr. 1 8 b, S. 5 1 4 ff. , 1 9 1 8).
Was ist das, Vergegenwärtigen im Bilde, zunächst verstanden als Abbildbe­
wußtsein (Fotos, Porträt- oder Landschaftsmalerei, Plastik)? Husserl unterschei­
det drei Typen von Obj ekten, die im Bildbewußtsein impliziert sind: 1) Das
Bild als physisches Ding an der Wand, die Leinwand oder das Fotobildehen aus
Papier, das da hängt, zerrissen sein kann etc. wie irgendein physisches Objekt.
Dieses ist wahrnehmungsmäßig gegeben. 2) Das geistige Bildobjekt, das so und
so in seinen Farben und Formen >>wahrnehmungsmäßig<<, >>perzeptiv«, jedoch
nicht als Realität aufgefaßt erscheint. Im Bildbewußtsein lebend ist mir dieses
Bildobjekt anschaulich gegeben: In ihm fasse ich die verähnlichenden Züge als
solche auf, d. h. als darstellend für 3) das Bildsujet, z. B. die lebendige Person
oder die Landschaft selbst. Fundamental ist die Ahnlichkeitsbeziehung zwischen
dem Erscheinenden und dem Abgebildeten. Das nichtgegenwärtige Sujet er­
scheint dabei nicht noch ein zweites Mal neben der Bildobjekterscheinung (außer
wenn das Sujet zufällig außerhalb des Bildraumes auch noch präsent ist), vielmehr
§ 1 . Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung 141

erscheint es, bildet es sich ab oder stellt sich dar im gegenwärtigen Bildobjekt
selbst. Im erscheinenden Bildobjekt schaue ich immanent das Sujet: im photo­
graphischen Bild den Freund. Die doppelte Gegenständlichkeit: erscheinendes
Bild, abgebildete Sache stammt im Bildbewußtsein also nicht etwa aus zwei ge·
trennten, bloß vergleichend in Ähnlichkeitsbeziehung tretenden Auffassungen,
vielmehr durchdringen sich in der bildliehen Vorstellung nach Husserl zwei Auf­
fassungen in einem Fundierungsverhältnis derart, daß die für das Bildobjekt
konstitutive objektivierende Auffassung gleichzeitig die Grundlage abgibt für
diejenige Vorstellung, die mittels des Bildobjekts die andere, nichtgegenwärtige
Gegenständlichkeit (das Sujet) konstituiert, nämlich für die in sich selbst un­
selbständige bzw. eben fundierte Ahnlichkeitsrepräsentation, die die Beziehung
auf das Sujet herstellt (vgl. Hu XXIII, Nr. 1, bes. § 14). Die bewußte Beziehung
auf das Sujet ist Bewußtsein der Vergegenwärtigung eines Nichterscheinenden im
Erscheinenden aufgrund der Ähnlichkeit (ebd.).
In den Vorlesungen von 1904/05 analysiert Husserl vor allem das Widerstreits­
verhältnis zwischen der Bildobjekterscheinung und dem physischen Bildding.
Auf dem Boden des Inhalts-Auffassungs-Schemas stellt er heraus, daß die sinn­
lichen Inhalte für das Bildding wie für die Bildobjekterscheinung dieselben zu
sein scheinen, während es ausgeschlossen ist, daß aufgrund derselben Inhalte
gleichzeitig zwei Erscheinungen auftreten können. Weil die auch während des
im Bildbewußtsein-Lebens wahrnehmungsmäßig konstituierte Welt fortdauernd
mitbewußt ist und das Bildding als physisches Ding ja selbst in diesen einheitli­
chen Wahrnehmungszusammenhang hineingehört, tritt nun, insofern dem Bild­
ding durch die bildliehe Auffassung die sinnlichen Inhalte sozusagen geraubt,
nämlich für die Konstitution des Bildobjekts in Anspruch genommen werden,
ein Widerstreit oder Konflikt zwischen Bildding und Bildobjekt auf, die Bild­
objekterscheinung mit ihrer vergegenwärtigenden Beziehung auf das Sujet
»siegt<<, aber sozusagen um den Preis der Wirklichkeit: Das Bildobjekt hat den
Charakter der Irrealität, des bloßen Scheines inmitten der wahrnehmungsmäßig
erscheinenden Bildumgebung (vgl. Hu XXIII, Nr. 1, v.a. die zusammenfassen­
de Darstellung in § 14 und § 25). Andererseits betont er in diesen Vorlesungen
auch stark das Widerstreitsverhältnis >>zwischen der Bildobjekterscheinung und
der sich damit verschlingenden oder vielmehr sich mit ihr überschiebenden
Vorstellung des Sujets« (§ 25, u.a.), das eben auf dem Verhältnis geringerer oder
größerer Ähnlichkeit zwischen Darstellung und Dargestelltem beruht. In an­
deren Aufzeichnungen (vgl. Hu XXIII, z. B. Beil. I, § 1 3 ; Beil. VII, VIII) weist
Husserl auch auf den >>empirischen Widerstreit« zwischen dem Erscheinenden
und dem durch die empirische Erfahrung Geforderten hin (>>Menschen in pho­
tographischen Farben gibt es nicht«).
Daß es sich beim Schein- oder Unwirklichkeitsbewußtsein im Falle eines
142 5. Kapitel. Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen

Bildes nicht um ein eigentliches Pikturnbewußtsein im Sinne einer Illusion han­


deln kann, stellt Husserl in manchen Texten heraus. Das Entscheidende ist dies:
Das eigentliche Fiktum einer Illusion erscheint direkt in der Einheit einer Wirk­
lichkeit (z.B. eine Wachsfigur, die ich als die und die Person wahrnehme), es
ist eine Erscheinung mit dem Charakter der Setzung, der nun in Widerstreit
gerät mit anderen Setzungen, so daß das Fiktum sich im Widerstreit der Set­
zungen als Illusion, als bloßen Schein herausstellt: Es war gar nicht die und
die Person, sondern bloß eine Wachspuppe. Demgegenüber ist der Charakter
der Unwirklichkeit beim Bilde nicht das Resultat eines Streites verschiedener
Glaubenstendenzen, sondern beruht darauf, daß ich in ein perzeptiv Erschei­
nendes etwas hineinphantasiere, das unmittelbar gar nicht gegenwärtig ist: Das
Bild > erscheint < eigentlich nicht in der Einheit der Wirklichkeit, »sondern in
einem eigenen Raum, der an sich keine direkte Beziehung hat zum wirklichen<<.
>>Beim normalen Bild habe ich . . . schon beim Bildobjekt, wo es sich entschie­
den vom Bildsujet abhebt, gar kein Wirklichkeitsbewußtsein, und auch kein
> gehemmtes < . Ich habe gar keine Neigung, das für wirklich zu nehmen, ich
nehme es ähnlich wie ein reproduktives Phantasiebild, das ich mir evtl. ziem­
lich lebendig hineinphantasiere in die Wirklichkeit, wodurch es auch wirkli­
che Dinge, wenn auch in eigentümlicher Weise, verdeckt. Das > erscheint < dann
auch zwischen den Dingen und im selben Raum und doch nicht in der Weise
einer Wirklichkeit. So erscheint das Fiktum [beim Bildbewußtsein], ohne den
Charakter einer Wirklichkeit zu haben, ohne > Anspruch < auf Wirklichkeit zu
erheben, ein Anspruch, der erst vernichtet werden müßte.<< (Vgl. Hu XXIII,
Beil. L, S. 480 f. ; vgl. auch Nr. 1 7). Bildbewußtsein ist Vergegenwärtigung, aber
nicht rein reproduktive wie die Phantasie, sondern perzeptive, ein fundieren­
des perzeptives Bewußtsein durchdringend, >>ganz ähnlich wie im Fall der sig­
nierenden bzw. symbolisierenden Funktion: Das Symbol erscheint für sich, ist
aber Träger einer Beziehung auf ein anderes, darin Bezeichnetes. So ist auch
bei der eigentlichen Bildfunktion das > Bild < in einer eigenen gegenständlichen
Auffassung konstituiert und Träger einer Beziehung auf das Abgebildete<< (Hu
XXIII, Nr. 1, § 40, S. 82).
Ein wesentliches Phänomen muß noch erwähnt werden: Alle die erörterten
anschaulichen Vergegenwärtigungen können iteriert werden, können vielfältig
ineinander impliziert sein, z.B. als Erinnerung an eine Phantasie von einem
Bild oder, Husserls gerne angeführtes Beispiel, als kompliziertere bildliehe Vor­
stellungen (vgl. z. B. Hu XXIII, Beil. XVIII, wohl 1 898; Ideen I, § 1 0 1 , u. a.;
vgl. auch Ideen I, § 1 12). >>Wer in Bewußtseinsreflexionen geübt ist (und vor­
dem überhaupt die Gegebenheiten der Intentionalität zu sehen gelernt hat),
wird die Bewußtseinsstufen, welche bei den Phantasien in Phantasien, bzw. den
Erinnerungen in Erinnerungen oder in Phantasien, vorliegen, eben ohne wei-
§ 2. Fremderfahrung 143

teres sehen<< (§ 1 12). Husserl schreibt in den Ideen so insbesondere auch im


Zusammenhang einer Kritik an der >>empiristischen<< Bewußtseinsauffassung,
der er selbst früher nicht ganz entgangen war: >>Unsere Behauptung der Mög­
lichkeit iterierter reproduktiver (sowie abbildender) Modifikationen dürfte auf
ziemlich allgemeinen Widerspruch stoßen. Das wird sich erst ändern, wenn
Übung in der echten phänomenologischen Analyse verbreiteter sein wird . . . So
lange man Erlebnisse als > Inhalte < behandelt oder als psychische > Elemente <,
die . . . als eine Art Sächelchen angesehen werden; solange man demgemäß den
Unterschied zwischen > Empfindungsinhalten < und entsprechenden > Phantasie­
inhalten < nur in sachlichen Merkmalen der > Intensität <, > Fülle < u.dgl. finden
zu können glaubt, kann es nicht besser werden<< (§ 1 12).
Abschließend können wir sagen, daß Husserls Einsicht in die intentionalen
Modifikationen oder Implikationen von Bewußtsein in Bewußtsein in den ver­
schiedenen Formen, die uns in den Analysen der anschaulichen Vergegenwär­
tigungen entgegentreten, für seine konkrete Theorie der intentional leistenden,
weltkonstituierenden Subjektivität von ganz fundamentaler Bedeutung wurde,
da in jedem Typus solcher Akte >>die wundersam ineinandergeflochtene Inten­
tionalität aufzuweisen und so zugleich die Eigenart subjektiven Seins und sub­
jektiver Leistung . . . zum ersten Verständnis zu bringen<< ist (vgl. Hu VIII,
S. 128). >>Beachten wir doch<<, sagt Husserl im selben Vorlesungstext von 1923/24,
>>Wie transzendentale Subjektivität überhaupt in Stufen der relativen Unmittel­
barkeit und Mittelbarkeit gegeben ist und nur ist, indem sie in solchen Stufen,
Stufen einer intentionalen Implikation gegeben ist<< (ebd. S. 1 75).

§ 2. Fremderfahrung

Überblick über Husserls Beschäftigung mit dem Problem der Intersubjektivität

Da Husserl in den von ihm veröffentlichten Schriften erst in der Formalen und
transzendentalen Logik ( 1929) und den Meditations Cartesiennes ( 193 1) ausführ­
licher von der Fremderfahrung (Erfahrung des Andern) und Intersubjektivität
spricht, konnte man lange glauben, daß er sich erst im hohen Alter diesen Pro­
blemen widmete. Die Nachlaßveröffentlichungen der Husserliana, besonders
der Bände XIII, XIV und XV Zur Phänomenologie der Intersubjektivität,
machten aber offenkundig, daß er sich schon von recht früh an, nämlich etwa
ab 1905, immer wieder mit diesen Fragen auseinandersetzte. In den Logischen
Untersuchungen ( 1901) hatte er in der Erörterung des sprachlichen Ausdrucks
und seiner Bedeutung von der kommunikativen Funktion der Sprache ausdrück­
lich abgesehen und so die hier in Frage kommende Problematik der Intersub-
144 5 . Kapitel. Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen

jektivität ausgeschaltet.12 Als er aber um 1905 seinem Philosophieren durch die


phänomenologische Reduktion eine methodologisch reflektierte eigene For­
schungsebene gab, mußte er von diesem prinzipiellen Standpunkt aus auch zum
Problem der Fremderfahrung und Intersubjektivität Stellung nehmen: Er mußte
die Frage verfolgen, wie vom Standpunkt des reinen, transzendentalen Bewußt­
seins der Fremderfahrung und einer Vielheit von Subjekten Rechnung getra­
gen werden kann. Er tat dies einerseits methodologisch durch die »Ausdehnung
der transzendentalen Reduktion auf die Intersubjektivität<<13, einen Schritt, den
er 1910 in der Vorlesung ,,Grundprobleme der Phänomenologie«14 vollzog, an­
dererseits durch die intentionale Analyse des Bewußtseins vom Anderen (des
Bewußtseins, das der Reflektierende von anderen Subjekten hat). Husserl hat
sich nicht eingehend mit der Frage beschäftigt, wie diese beiden Problemkreise
systematisch miteinander zu verbinden sind. 15
Husserl ist in seiner Analyse der Erfahrung anderer psychischer Wesen vom
Dilemma ausgegangen, daß diese Erfahrung weder als eine eigentliche Wahr­
nehmung (die fremden psychischen Erlebnisse sind nicht eigentlich wahrgenom­
men), noch auch als ein eigentlicher logischer Schluß aufgefaßt werden kann.
Er hat diese Analyse in großem Ausmaß in Auseinandersetzung mit Theodor
Lipps' Theorie der Einfühlung und seiner Kritik an der sog. »Analogieschluß­
theorie« der Fremderfahrung geführt.16 Er übernahm von Lipps den Terminus
der Einfühlung, hat ihn aber nie in der Lippsschen Bedeutung einer instinkti­
ven Projektion eigener Erlebnisse in äußere Körper akzeptiert. 17 Auch sein ur­
sprünglicher Problemansatz, den er schon vor 1910 entwickelte, lehnt sich nicht
an Lipps' Ausgang von den sog. Ausdrucksbewegungen (von Freude, Zorn etc.)
an, sondern setzt bei der Auffassung eines äußeren Körpers als eines empfin­
denden bzw. der Empfindung fähigen ein. 18 Diesen Problemansatz hat Husserl
allerdings spätestens um 1914 aufgegeben, als er die Einsicht gewann, daß einem
äußerlich wahrgenommenen Körper unmittelbar gar keine Empfindungsfelder
eingefühlt werden, sondern daß dies nur mittels der Vergegenwärtigung des frem­
den »Gesichtspunktes«, von dem aus der diesem Gesichtspunkt eigene Leib kein
bloß äußerlich wahrgenommener Körper ist, möglich sein kann. 19 In dieser
1 2 LU, 2. Teil (2. Auf!.: 2. Bd., 1 . Teil), 1 . Untersuchung, §§ 7-9.
13 Vgl. oben S. 66 und S. 68.
14
Veröffentlicht in Hu XIII, Text Nr. 6.
15 Ein gewisses intentionalanalytisches Verständnis der Fremderfahrung ist bei der »Ausdeh­
nung der Reduktion auf die Intersubjektivität« schon vorausgesetzt. Andererseits ist wohl nach
Husserl ein wirkliches intentionales Verständnis der Fremderfahrung nur auf dem methodologi­
schen Boden der phänomenologischen Reduktion zu gewinnen.
16
Vgl. Hu XIII, Texte Nr. 2, 13 und Beilagen X, XVI; Hu XIV, Text Nr. 1 .
17 Siehe H u XII, S . 3 3 5 ff.; H u VIII, S . 6 3 Anm.
1 8 Vgl. Hu XIII, Texte Nr. 3 und 4.
19 Siehe a.a.O., S. 329.
§ 2. Fremderfahrung 145

Zeit um 1 9 1 4, in der er sich eingehend mit dem Problem der Fremderfahrung


befaßte,20 ging er vor allem der Frage nach, wie es überhaupt zum Bewußtsein
des Unterschiedes von eigenen und fremden Erlebnissen kommen kann, und
versuchte aufgrund der äußeren Vorstellung von sich selbst (sich selbst als im
äußeren Raum befindlich vorstellen) die Möglichkeit der Erfahrung Anderer
schon vor ihrer Wirklichkeit zu erweisen.21 Später hat er diesen Versuch als
>>ZU konstruktiv<< abgelehnt22 und löste das Problem des Bewußtseins Anderer
durch eine konstitutive Intentionalanalyse im direkten Ausgang vom Faktum
der Fremderfahrung. Husserl hat sich mit diesem Problem noch hauptsächlich
192 1/22 bei der Vorbereitung eines (nie zu Ende geführten) systematischen
Werkes23, in seiner Vorlesung >>Einführung in die Phänomenologie<< vom Win­
ter 1926/724 und dann in der letzten der fünf Cartesianischen Meditationen (ge­
schrieben 1929) befaßt. 25 In dieser fünften Cartesianischen Meditation hat er
dem Problem eine systematische, z.T. allerdings summarische Darstellung ge­
geben. Doch war er damit nicht voll befriedigt, sondern hat es in den dreißiger
Jahren immer wieder von neuem aufgegriffen. 26

Die Eigenheilssphäre oder die primordinale Sphäre

Für Husserl besteht das phänomenologische Problem der Fremderfahrung darin,


zu verstehen, in welchen expliziten und impliziten intentionalen Synthesen und
Motivationen der Andere sich in meinem (transzendental aufgefaßten) Bewußt­
sein bekundet und als seiend bewährt.U Um ein Verständnis der so befragten
Fremderfahrung zu gewinnen, geht Husserl in den Cartesianischen Meditatio­
nen, aber ausdrücklich oder unausdrücklich auch in andern der Fremderfah­
rung gewidmeten Texten, so vor, daß er durch >>eine eigentümliche Art thema­
tischer Epoche<< zuerst >>Von allen konstitutiven Leistungen der auf fremde Sub­
jektivität unmittelbar oder mittelbar bezogenen Intentionalität absehen<<29 und
sich auf den Boden einer rein dem transzendentalen Ich eigenen Sphäre stellen
will. Im Ausgang von dieser von ihm sog. »Eigenheitssphäre<< oder »primordi­
nalen Sphäre<< muß die Konstitution des Fremden verstanden werden.

20
Siehe a.a.O., Texte Nr. 8 bis 1 3 .
21
A.a.O. , Text Nr. 8 .
22
A.a.O. , S. 254 Anm. 3.
23 Siehe H u XIV, S. 1 ff.
24 A.a.O., S. 393 ff.
25 Veröffentlicht in Hu I.
16
Vgl. Hu XV.
27
Vgl. etwa Hu XIII, Text Nr. 8 .
28
Hu I, S. 124.
146 5. Kapitel. Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen

Es ist nicht leicht zu fassen, was diese Eigenheits- oder primordinale Sphäre
ist, und in Busserls diesbezüglichen Überlegungen sind oft zwei Begriffe mit­
einander vermischt, die eigentlich systematisch aus verschiedenen Kontexten
stammen. Diese zwei verschiedenen Begriffe haben dies gemeinsam, daß beide
eine Sphäre des Ich bezeichnen, die negativ durch die Ausschaltung alles Frem­
den, alles fremden Bewußtseins bestimmt ist. Die Eigenheits- oder Primordi­
nalsphäre bedeutet nun aber für Busserl einmal in einer positiven Bestimmung
die Sphäre der denkbar ursprünglichsten Selbstgegebenheit29, die Sphäre der
>>bestdenkbaren Originalität«30; und >>Primordinalität<< scheint bei ihm ur­
sprünglich für >>primordinale Originalität<< zu stehen.31 Der Andere, verstan­
den als fremdes Bewußtsein und das darin Bewußte, ist nicht in dieser
Originalität gegeben: >>Wäre das der Fall, wäre das Eigenwesentliche des An­
dem in direkter Weise zugänglich, so wäre es bloß Moment meines Eigenwe­
sens, und schließlich er und ich selbst einerlei.<<32 Was diesen durch die Origi­
nalität bestimmten Begriff der Primordinalität besonders charakterisiert, ist dies,
daß meine Erfahrungen vom Andern, die sog. Einfühlungen des Ich, mit in
diese so bestimmte primordinale Sphäre hineingehören3l, denn die Einfühlun­
gen des Ich sind ja dessen eigene Erlebnisse und ihm, im Gegensatz zu fremden
Erlebnissen, in der bestdenkbaren Originalität selbstgegeben.
Die so bestimmte Primordinalsphäre oder Eigenheitssphäre ist also keines­
wegs eine solipsistische Sphäre, denn sie umschließt auch die Erlebnisse des ego
von den Andern; was ausgeschaltet ist, sind nur die intentionalen Korrelate (Noe­
mata) dieser Erlebnisse. Diese Sphäre umspannt überhaupt alle Erlebnisse des
Ich: >>Die primordinale konkrete Subjektivität umgreift alle Bewußtseinswei­
sen, also auch die einfühlenden und die den Ausdruck von Personen in Sachen
verstehenden. Sie umfaßt sie als original erfahren und erfahrbar. Sie umfaßt
die Bewußtseinsweisen, in denen Natur, Geist in jedem Sinn, menschlicher und
tierischer Geist, objektiver Geist als Kultur, geistiges Sein als Familie, Verein,
Staat, Volk, Menschheit, in Geltung ist ... <<34 Diese >>Originalsphäre<<, wie Bus­
serl auch sagt, bezeichnet also das dem Ich in seiner Gesamterfahrung direkt
Zugängliche, sie ist der Inbegriff dessen, was in allen Erfahrungen des Ich im
Original selbstgegeben und nicht bloß indirekt vermeint ist. Aber sie kann kei­
nen konkreten, d. h. selbständig möglichen Teil, keine selbständige Stufe im
konstitutiven Aufbau der Erfahrung ausmachen. Sie ist vielmehr etwas in mei-

29 A.a.O., S. 133.
3 0 Hu XV, S. 10.
3 1 Vgl. Hu XIV, S. 389 f.
" Hu I, S. 139.
" A.a.O. , S. 125, 1 3 1 ; vgl. Hu XV, S. 6/7, 8 , 11, 12.
34 Hu XV, S. 559.
§ 2. Fremderfahrung 1 47

ner Erfahrung »überall durch sie Bindurchgehendes«.35 Diese Originalsphäre


kann schon deshalb nicht als eine selbständige, fundierende Schicht gedacht wer­
den, weil nach Busserl selbst die Erlebnisse nicht von ihren intentionalen Kor­
relaten (Noemata) abtrennbar sind.
Dieser Inbegriff des >>im Original« Selbstgegebenen, zu dem auch die >>Na­
tur<< gehört, aber nicht in ihrem intersubjektiven Sinn, sondern nur, sofern sie
vom Ich originaliter erfahren ist, ist nach Busserl der Inbegriff des dem Ich
Eigenen und macht das aus, >>Was ich in mir selbst in voller Konkretion bin,
oder wie wir auch sagen, in meiner Monade<<36• Wenn Busserls Begriff der Mo­
nade in dieser Weise durch die originale Selbstgegebenheit bestimmt ist, dann
kann für ihn die einzelne Monade nichts Selbständiges und in diesem Sinn nichts
Konkretes sein. Busserl sagt denn auch, daß es sich bei der Monade nur um
eine »relative Konkretion<< handle, daß diese »ist, was sie ist, nur als socius einer
Sozialität<Y: »Es ist ja nicht so, als ob jede Monade für sich wäre . . . und nun
so Sein hätte ohne die anderen Monaden, sondern jede, sofern sie in ihrem Sein
die anderen intentional > konstituiert < hat3 8 (so wie jede in ihrer Gegenwart ihre
Vergangenheit konstituiert hat), kann ohne die anderen nicht sein.<<39 Die Mo­
nade ist nach diesem Begriff der Eigenheitssphäre oder der Primordinalität die
Dimension des dem Ich »Uroriginal Selbstgegebenen<<40, in der sich Andere
»spiegeln<<.
Das ist der eine Begriff von Primordinal- oder Eigenheitssphäre, der bei Bus­
serls Bestimmung des Ausgangspunktes seiner intentionalen Analyse der Fremd­
erfahrung eine Rolle spielt. Aber es ist hier zugleich noch ein anderer Begriff
wirksam, den man im Gegensatz zum ersten, der als »Üriginalsphäre<< gekenn­
zeichnet ist, als »solipsistische Sphäre<< umschreiben könnte. In genau demselben
Text der Cartesianischen Meditationen, in dem Busserl sagt, daß die Erfahrun­
gen von Andern (die Einfühlungen) zur Eigenheitssphäre gehören41, erklärt er
auch im Widerspruch dazu, daß für die Gewinnung der Eigenheitssphäre »die
konstitutiven Leistungen der Fremderfahrung<<, d. h. die intentionalen Korre­
late der Fremderfahrung, »und mit ihr alle auf Fremdes bezüglichen Bewußtseins­
weisen<<, d. h. die Erlebnisse der Fremderfahrung, ausgeschaltet werden müs­
sen.42 Die Eigenheits- oder Primordinalsphäre gewinnt dadurch für Busserl
den Sinn einer Erfahrungsschicht vor der Fremderfahrung, einer Erfahrungs-

35 Cart. Medit. , S. 129.


36 A.a.O., S. 135, ebenso S. 125.
37 Hu XV, S. 193.
38 D. h., sofern sie Erfahrung von Andern hat.
39 Hu XV, S. 194, vgl. S. 370 f.
40 Vgl. a.a.O. , Beilage XXVII.
41 Cart. Medit. , S. 125, 1 3 1 ; vgl. Hu XV, S. 6 f., 8, 1 1 , 12.
42 Cart. Medit. , S. 125 (unsere Hervorhebung); vgl. Hu XV, S. 7, 8.
148 5. Kapitel. Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen

schiebt des Ich, die der höheren Schicht der Fremderfahrung als Fundament zu­
grundeliegen soll. Unter der Leitung eines solchen Begriffs der Primordinal- oder
Eigenheitssphäre kann Husserl auch die Selbständigkeit dieser Sphäre behaup­
ten43 und diese Sphäre durch ihre Unabtrennbarkeit vom Ich definieren4\ wäh­
rend dies nach dem ersten Begriff (Originalsphäre) nicht anginge, da die Andern
als intentionale Korrelate der zur Originalsphäre gehörigen Einfühlungen unab­
trennbar sind. 45 Während die Eigenheits- oder Primordinalssphäre im Sinn der
Originalität ein durch alle Erfahrungen des ego hindurchgehendes unselbständi­
ges Moment ist46, ist sie im Sinn der solipsistischen Sphäre ein selbständiges
Fundament, eine »Unterschicht<< der Erfahrung47, die nur eine bloße »Natur«
unter Ausschluß aller geistigen oder Kulturprädikate zur Gegebenheit bringt.48
Husserl ist sich dieser Doppeldeutigkeit der »Eigenheits- oder Primordinal­
sphäre« bewußt geworden, aber wohl erst nach der Niederschrift der Cartesia­
nischen Meditationen. In einem Text, den er nur wenige Monate nach diesem
Werk verfaßte, schreibt er: »Die solipsistisch reduzierte Welt ist nicht zu verwech­
seln mit der primordinalen Welt, oder die solipsistische Reduktion nicht mit der
primordinalen Reduktion. Denn diese ist die Reduktion dessen von der Welt,
die ich erfahrungsmäßig in Geltung habe, auf das von ihr, was ich originaliter
erfahre und je erfahren kann. Damit reduziere ich mich auf mein primordina­
les Ich als Schichte meines konkreten Ich. Zum Primordinalen gehören alle meine
einfühlenden Erfahrungserlebnisse, nicht aber die darin wenn auch rechtmä­
ßig erfahrenen Andern. Und ähnlich mit allen Bestimmungen der intersubjek­
tiven Kultur.«49 In einem Text von 1 934 spricht Husserl von einer >>Wesens­
mäßig begründeten Doppeldeutigkeit der Rede von der Primordinalität«: >>Im
ursprünglich methodischen Sinn bedeutet es die Abstraktion, die ich, das ego
der reduktiven Einstellung, phänomenologisierend vollziehe, indem ich abstrak­
tiv ausscheide alle > Einfühlungen<. Sage ich nachher >primordinales ego <, so
nimmt es die Bedeutung der urmodalen Monade an, in welche die urmodale
Einfühlung mitaufgenommen ist . . . «50. Nach diesem Text wäre also der ur­
sprüngliche Sinn der Primordinalität der solipsistische. Aber in den Cartesiani­
schen Meditationen wird davon ungeschieden auch zugleich der durch die
Originalität bestimmte eingeführt. 51

43 Cart. Medit. , S. 127.


44 A.a.O., S. 124 f., 134 f. ; Hu XV, S. 6.
45 Siehe Hu XV, S. 1 9 1 .
4 6 Cart. Medit. , S . 129.
47 A.a.O. , S. 127, 136.
48 A.a.O. , S. 127; Hu XV, S. 8 .
4 9 H u XV, S . 5 1 .
s o A.a.O. , S . 635 .

5 1 Cart. Medit. , S . 1 2 5 .
§ 2. Fremderfahrung 149

Tatsächlich spielt für den Ausgangspunkt von Husserls Analyse der Fremd­
erfahrung der solipsistische Begriff die dominierende Rolle: Husserl geht aus
von einer bloßen Unterschicht der Erfahrung, nämlich von einer (abgesehen
von der >>psychophysischen<< Selbsterfahrung) bloßen »Natur-<< oder »Körper<<­
Erfahrung (wobei »Natur<< und »Körper<< hier gemäß der primordinalen Epo­
che keinen intersubjektiven Sinn, nicht den Sinn »Natur für jedermann<< hat),
und er fragt, wie auf dieser Unterschicht die Erfahrung von andern psychischen
Wesen als höhere Erfahrungsstufe motiviert ist.52 Auf diese Unterschicht ist al­
lerdings auch der durch die Originalität bestimmte Primordinalitätsbegriff an­
wendbar, so daß unter dem Gesichtspunkt dieses Begriffs für Husserl das
Problem der Fremderfahrung darin besteht, wie deren Intentionalität »ein Mit-da
vorstellig macht, das selbst nicht da ist, nie ein Selbst-da werden kann<<, m.a.W.,
wie die Fremderfahrung als eine nie in eine Präsentation überzuführende »Ap­
präsentation<<53 möglich ist. 54

Fremderfahrung als mittelbare apperzeptive Übertragung

Die Appräsentation anderer psychischer Wesen ist nach Husserl in folgender


Weise durch die primordinale Unterschicht motiviert. Grundlegend für diese
Motivation ist die Ahnlichkeit, die ein wahrgenommener äußerer Körper mit
meinem Leib aufweist.55 Motiviert durch diese Ähnlichkeit vollziehe ich eine
apperzeptive Übertragung, in der ich den äußeren Körper in Analogie zum
eigenen Leib als Leib, d. h. als empfindenden und wahrnehmenden Körper auf­
fasse: »Es ist von vornherein klar, daß nur eine innerhalb meiner Primordinal­
sphäre jenen Körper dort mit meinem Körper verbindende Ähnlichkeit das
Motivationsfundament für die analogisierende Auffassung des ersteren als an­
deren Leib abgeben kann.<<56 Diese analogisierende Apperzeption aufgrund der
Ä hnlichkeit ist »kein Schluß, kein Denkakt<<, sondern geschieht »mit einem
Blieb, 57 so wie wir ohne weiteres, ohne Wiedererinnerung und Vergleich, auf
die Gegenstände unserer Alltagswahrnehmung apperzeptiv den Sinn übertra­
gen, den entsprechende Gegenstände, denen jene ähnlich sind, in früheren Er­
fahrungen für uns gewonnen haben: Wir sehen z. B. ohne weiteres etwas als

52 Vgl. a.a.O., S. 122, 136; Hu XV, S. 13, 14, 15.


53 Appräsentation >>eine Mitgegenwärtigung, von ursprünglich nicht zu Gegenwärtigendem<<
=

(Hu XIV, S. 5 1 3).


54 Cart. Medit. , S. 139.
55 In manchen Texten problematisiert Husserl diese Ä hnlichkeit: vgl. Hu XIII, Text Nr. 9; Hu
XIV, Text Nr. 33, Beilagen LXX, LXXI, LXXII etc.
5 6 Cart. Medit. , S. 140.
57 A.a.O., S. 1 4 1 .
150 5. Kapitel. Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen

Schere zum Schneiden, wenn wir früher an entsprechenden Gegenständen die­


sen Zwecksinn erfahren haben. Gegenüber der Sinnesübertragung in der Wahr­
nehmung von Dingen hat die Sinnesübertragung in der Wahrnehmung eines
äußeren meinem Leib ähnlichen Körpers als Leib das Eigentümliche, >>daß hier
das urstiftende Original immerfort lebendig gegenwärtig ist.<<;' Mein eigener
Leib ist immer mit dabei, eigener und fremder Leib treten in der Wahrneh­
mung immer als >>Paar<< auf, so daß die Sinnesübertragung in der besonderen
Form der >>Paarungsassoziation<< sich vollzieht.59 Eine >>Paarungsassoziation<< ist
nach Husserl eine »assoziative Deckung par distance<< im Wahrnehmungsfeld,
indem zwei perzeptiv abgehobene Einheiten sich durch Ähnlichkeit phänomenal
verbinden.60 Die Erfahrung des fremden Leibes kommt also so zustande: ,,Tritt
ein Körper in meiner primordinalen Sphäre abgehoben auf, der dem meinen
ähnlich ist, d. h. so beschaffen ist, daß er mit dem meinen eine phänomenale
Paarung eingehen muß, so scheint nun ohne weiteres klar, daß er in der Sin­
nesüberschiebung alsbald den Sinn Leib von dem meinen her übernehmen
muß.<<61
Doch was hier >>ohne weiteres klar scheint<<, problematisiert Husserl durch
zwei Einwände, die ursprünglich von Theodor Lipps stammen. 62 Der erste Ein­
wand: >>Aber ist die Apperzeption wirklich so durchsichtig, eine schlichte Ap­
perzeption durch Übertragung wie irgend eine andere? Was macht den Leib
zum fremden und nicht zum zweiten eigenen Leib?<< Husserl gibt als vorläufige
Antwort: ,,offenbar kommt hier in Betracht . . . , daß vom übernommenen Sinn
der spezifischen Leiblichkeit [des fremden Körpers] nichts in meiner primordi­
nalen Sphäre original verwirklicht werden kann.<<63 Darauf ist noch zurückzu­
kommen. Der zweite Einwand: >>Aber nun erwächst uns das schwierige Problem,
verständlich zu machen, wie eine solche Apperzeption möglich ist und nicht
vielmehr sofort aufgehoben sein kann? Wie kommt es, daß, wie die Tatsache
lehrt, der überschobene Sinn in Seinsgeltung übernommen ist als an dem Kör­
per dort seiender Gehalt psychischer Bestimmungen, während sie doch im Ori­
ginalitätsbereich der (allein zur Verfügung stehenden) primordinalen Sphäre nie
als sie selbst sich zeigen können?<<64 Das Problem besteht also darin zu zeigen,
wie die aus der Sinnesübertragung stammende psychische Seite des fremden Lei­
bes als seiend gesetzt bleibt und nicht wieder aufgehoben wird, obschon sie

58 Ebenda.
59 A.a.O., S. 142.
60 Ms. F I 32, S. 168a ( 1 927); z. B. zwei ähnliche rote Flecken auf einem Bilde.
61 Cart. Medit. , S. 143.
62
Vgl. Hu XIII, Beilage XVI.
63 Cart. Medit. , S. 143.
64 Ebenda.
§ 2. Fremderfahrung 151

nie zur originalen Gegebenheit kommen kann. Die fremden psychischen Be­
stimmungen bewähren oder bestätigen sich nach Husserl dadurch, daß sie mit
der original wahrgenommenen Körperlichkeit in einem fortgesetzten gegensei·
tigen Motivationszusammenhang stehen: >>Wenn ich einen meinem Leibkörper
ähnlichen äußeren Körper als Leib auffasse, so übt dieser fremde Leibkörper
vermöge dieser Ähnlichkeit die Funktionen der Appräsentation in der Mise des
>A usdrucks<. Dazu gehört, daß eine mannigfaltige und sich in typischer Weise
fortentwickelnde Innerlichkeit mitgesetzt ist, die ihrerseits dann fordert eine
entsprechende Äußerlichkeit, die dann der Vorerwartung von innen her gemäß
auch wirklich eintritt. Wo die appräsentierende Auffassung so erfolgt und sich
in dieser Weise in sich selbst durch Fortgehen entsprechender Ausdrücke bestä­
tigt, da hält sich die Appräsentation aufrecht.<<65 Husserl mag hier etwa an Bei­
spiele folgender Art denken: Ich fasse einen äußeren Körper aufgrund seiner
Ähnlichkeit mit meinem Leib als wahrnehmenden, auch sehenden Leib auf.
Ich sehe nun, daß dieser Leib sich auf einen Graben zubewegt und fasse ap­
präsentativ mit auf, daß er diesen Graben sieht. Ich erwarte als Motivationsfol­
ge, daß er vor dem Graben anhält oder über ihn springt, also sich irgendwie
zu ihm verhält und nicht wie ein toter Gegenstand einfach hinunterrollt - und
tatsächlich hält er etwa, für mich original wahrnehmbar, vor dem Graben an.
Also nicht nur motiviert das original wahrnehmbare Außen ein original nicht
wahrnehmbares Innen, sondern auch das nicht original wahrnehmbare Innen
motiviert ein original wahrnehmbares Außen, und indem dieses für mich wahr­
nehmbar eintritt, bestätigt es das nicht zugängliche motivierende Innen. Hus­
serl denkt aber auch an andere Arten von Beispielen: >>Evtl. erzeugen wir, in
unsere Umwelt eingreifend, Vorkommnisse, die sich dem Sinn der Einfühlung
gemäß auch in der fremden Innen-Umwelt in entsprechenden Erscheinungs­
weisen zeigen müssen und dann gemäß der wirksamen Analogie Motive für
das Verhalten des Anderen ergeben, die sich ausdrücken muß, sei es in seiner
Leiblichkeit, sei es in weiteren Äußerungen, in seinen Handlungen, in lautli­
chen etc.<<66 Weiter bestätigt sich der >>Gehalt psychischer Bestimmungen« des
Andern, sofern er zweckmäßig ein von mir original wahrnehmbares Werk her­
vorbringt, wie ich dergleichen als von mir selbst zwecktätig erzeugte kenneY
Oder: >>Ein ausgezeichneter Fall ist der, wo der Andere als auf mein Ich und
mein Ichliches bezogen interpretiert wird und ich dies nun wirklich erlebe. Die

65 Hu XIV, S. 249; vgl. S. 284, 493. Die entsprechende Stelle in den . . scheint mir ver·
darben zu sein (S. 144, Zeilen 1 3 - 20). Das Busserlsehe Originalmanuskript dieses Textes ist nicht
mehr vorhanden, sondern nur eine Abschrift und teilweise Bearbeitung seines damaligen Assisten·
ten E. Fink.
66 Hu XIV, S. 249.

E A.a.O. , S. 503/4.


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Einheit in der Mannigfaltigkeit interpretatorischer Erfahrung hat hier also in


meiner spezifischen Selbsterfahrung einen Erfüllungspunkt . . . . Jedenfalls spielt
diese Erfüllungsart, wenn wir an die ursprünglichste genetische Kontinuität von
Kind und Mutter denken und an die Bedeutung sozialen Ich-Du-Lebens, eine
besondere Rolle.<<68 Die Bestätigung des Anderen als eines erlebenden Wesens
hat nach Husserl also gesamthaft den Charakter eines Zusammenstimmens von
Interpretationen, die sich zur »Einheit einer interpretatorischen > Gesamtwahr­
nehmung<<< verbinden.69 »In dieser Art bewährbarer Zugänglichkeit des origi­
nal Unzugänglichen gründet der Charakter des seienden Fremden. Was je
original präsentierbar und ausweisbar ist, das bin ich selbst. bzw. gehört zu mir
selbst als Eigenes. Was dadurch in jener fundierten Weise einer primordinal un­
erfüllbaren Erfahrung, einer nicht original selbstgebenden, aber Indiziertes kon­
sequent bewährenden, erfahren ist, ist Fremdes.<<70
Aber damit ist Husserls Analyse der Fremderfahrung noch nicht am Ende.
Eine wesentliche Vertiefung erwächst ihr durch die Einsicht, daß die fremden
Erlebnisse nicht bloß dadurch fremde sind, daß sie von mir nicht original wahr­
genommen werden können: »Ich apperzipiere den Anderen doch nicht einfach
als Duplikat meiner selbst, also mit meiner und einer gleichen Originalsphäre,
darunter mit den räumlichen Erscheinungsweisen, die mir von meinem Hier
aus eigen sind, sondern, näher besehen, mit solchen, wie ich sie selbst in Gleich­
heit haben würde, wenn ich dorthin ginge und dort wäre. Ferner, der Andere
ist appräsentativ apperzipiert als Ich einer primordinalen Welt bzw. einer Mo­
nade, in der sein Leib im Modus des absoluten Hier, eben als Funktionszen­
trum für sein Walten ursprünglich konstituiert und erfahren ist. Also indiziert
in dieser Appräsentation der in meiner monadischen Sphäre auftretende Kör­
per im Modus Dort, der ... als Leib des alter ego apperzipiert ist, denselben Körper
im Modus Hier als den, den der Andere in seiner monadischen Sphäre erfährt.
Das aber konkret, mit der ganzen konstitutiven Intentionalität , die diese Gege­
benheitsweise in ihm leistet. Das soeben aufgewiesene deutet offenbar auf den
Gang der den Modus Anderer konstituierenden Assoziation. Sie ist keine un­
mittelbare.</1 Die Assoziation in der Fremderfahrung ist keine unmittelbare,
d. h., es werden nicht unmittelbar eigene Erlebnisse auf den fremden Körper
übertragen. Dieser Körper im Modus Dort weckt Erlebnisse »wie wenn ich dort
wäre<<. In dieser mittelbaren Weise kann er aber nicht mein Psychisches, über­
haupt nichts aus meiner Eigenheitssphäre appräsentieren, denn »meine gesamte

68 A.a.O. , S. 504.
69 A.a.O. , S. 503 .
7° Cart. Medit. , S. 144.
71 A.a.O., S. 146 f.
§ 2. Fremderfahrung 153

primordinale Eigenheit als Monade hat den Gehalt des Hier und nicht den ir­
gendeines und so auch jenes bestimmten Dort . . . Eines und das andere schließt
sich aus, es kann nicht zugleich sein.<<72 Der Körper dort assoziiert Erlebnisse
»wie wenn ich dort wäre<<, die aber nicht meine wirklichen Erlebnisse sein kön­
nen, da ich hier bin. Es ist also die primordinale Unverträglichkeit der durch
den dortigen Körper appräsentierten subjektiven Situation mit der eigenen Si­
tuation, die jene als fremde konstituiert. Der Andere ist also nicht nur dadurch
Anderer, daß seine Erlebnisse mir nicht original gegeben sein können, sondern
primär dadurch, daß er in einer subjektiven Situation erfahren wird, die prin­
zipiell nicht die eigene sein kann: Er ist ein anderer >>Gesichtspunkt«.
Das ist die Hauptlinie von Husserls Gedanken über die Fremderfahrung auf
der Entwicklungsstufe der Cartesianischen Meditationen. Seine aus dem Nach­
laß veröffentlichen Analysen73 sind aber weit differenzierter. So unterscheidet
er z. B. zwischen eigentlicher und uneigentlicher Einfühlung: In der uneigentli­
chen Fremderfahrung ist nur das Körperliche des Andern wirklich anschau­
lich vorgestellt, während das Seelische bloß assoziativ leer mitgeweckt ist (leere
Appräsentation). Diese uneigentliche Fremderfahrung ist die Grundlage einer
naturwissenschaftlichen Betrachtung des Menschen und der Lebewesen über­
haupt. Demgegenüber lebt das Subjekt in der eigentlichen Fremderfahrung,
die Husserl auch als >>absolut einfühlende Kenntnisnahme« bezeichnerl\ gleich­
sam im Andern, indem es sich anschaulich in die Motivationen seiner Situa­
tion hineinversetzt (erfüllte Appräsentation). Diese eigentliche Fremderfahrung
ist Grundlage einer geisteswissenschaftlichen Betrachtung des Menschen.75
Auf der Grundlage dieser Analyse der Fremderfahrung oder Einfühlung er­
örtert Husserl im weiteren auch das Problem der Intersubjektivität der Welrl6
wie auch die eigentlichen sozialen Akte, die Husserl als Akte des Sich-an-den­
Andern-Wendens von der bloßen Einfühlung unterscheidet. 77 78 u.

72 A.a.O., S. 148.
73 In Hu XIII, XIV und XV.
74 Hu XIII, S. 445.
75 A.a.O., Text Nr. 16, §§ 9 - 13; Beilagen LV, LVI
76 Hu XIII, Text Nr. 14, Cart. Medit. , § 55
77 Hu XIV, Texte Nr. 9 und 10, Beilagen XXIII, XIV u.a.
78 Ausgewählte Literatur
zum 5. Kapitel, § 1: E. Fink ( 1966): S. 1 - 78; Th. Conrad ( 1 968); H. Kunz (1946); R. Sokolowski
( 1 978);
zum 5. Kapitel, § 2: D. Franck ( 198 1); A. Schütz ( 1971): S. 86- 1 1 8 ; M. Theunissen ( 1 965); B. Wal­
denfels ( 1971).
6. Kapitel
Urteil und Wahrheit

Husserls ganzes frühes Werk ist deutlich auf die Lösung der hier anstehenden
Frage nach der Urteilswahrheit hin angelegt. Die Erarbeitung eines spezifisch
phänomenologischen Zugangs zum Bewußtsein und die sich darauf aufbauen­
de intentionale Strukturanalyse der Wesensverfassung des Bewußtseins und der
Typen von Bewußtseinsleistungen findet ihre Krönung in der phänomenologi­
schen Untersuchung der Erkenntnisakte im prägnanten Sinn. Zwar haben wir
in der Analyse der sinnlichen Wahrnehmung und ihrer konstitutiven Funk­
tion bereits eine erste Form kognitiver Leistung kennengelernt, doch erst die
höherstufigen Urteilsakte und die mit ihnen assoziierten Akte eigentlichen Den­
kens sind Erkenntnisakte im prägnanten Sinn. Und erst die erkenntnistheore­
tische Untersuchung des Zusammenhangs von bedeutungsvollem Sprechen und
eigentlichem Denken vermag der eingangs skizzierten, objektiv gerichteten rei­
nen Logik ihr phänomenologisches Fundament zu liefern. Die Einsicht, daß
die idealen Begriffe und Gegenstände der reinen Logik in diesen prägnanten,
kategorialen Erkenntnisakten kein letztes Fundament haben, sondern durch diese
Akte kategorialer > Anschauung< hindurch auf die sinnliche Anschauung sach­
haltiger Individuen bezogen bleiben, bildet wohl das originellste Ergebnis die­
ser durch die Frage der Fundierung geleiteten erkenntnistheoretischen Betrach­
tung. Wir können jedoch erst dann in die genauere Untersuchung dieses er­
kenntnistheoretischen Fragenkomplexes eintreten, wenn wir uns zuvor ein nä­
heres Verständnis für Husserls Sprachtheorie und insbesondere seinen Begriff
des bedeutungsvollen, intentionalen Sprechaktes erarbeitet haben.

§ 1. Sprachlicher Ausdruck, Bedeutung und intentionales Bewußtsein

Die Lehre der Logischen Untersuchungen vom (prädikativen) Urteil sowie von
den sprachlichen Aussagen überhaupt ruht auf einer Reihe von Vorentschei­
dungen, die für den heutigen Leser nichts weniger als selbstverständlich sind.
Diese , Basissätze < der Busserlsehen Bedeutungs- und Urteilstheorie betreffen
einerseits die Natur sprachlicher Aussagen und andererseits die Natur des Be­
deutungsgehaltes dieser Aussagen. Sprachliche Aussagen sind für Husserl A us·
drücke, d. h. äußerliche, zeichenhaft vermittelte Darstellungen eines innerlichen
Vermeinungs- bzw. Denkprozesses. Ihre Bedeutung verdanken diese sprachli­
chen Zeichen im wesentlichen dem (subjektiven) Vollzug intentionaler Akte,
§ 1 . Ausdruck, Bedeutung und intentionales Bewußtsein 155

welche diese Zeichen auf den bedeuteten Referenzgegenstand, den Gegenstand­


worüber der Aussage beziehen. Diese beiden Vorentscheidungen prägen nicht
nur den positiven Gehalt von Husserls Sprach- und Bedeutungstheorie, sie mar­
kieren auch deutlich die Schwierigkeiten, mit denen diese Theorie zu kämpfen
hat. Wird nämlich das Verstehen einer Aussagebedeutung als ein intentionaler
Akt gefaßt, so droht einerseits eine psychologistische Vermengung von Bedeu­
tung und psychologischem Vollzug des >>bedeutungsverleihenden<< Aktes und
andererseits eine ebenso verhängnisvolle Identifizierung der Bedeutung eines
sprachlichen Ausdrucks mit dessen Referenzgegenstand. Auch die Bestimmung
sprachlicher Zeichenstrukturen als Aus-drücke von Bedeutungen verwickelt sich
in Schwierigkeiten, sobald man zur Betrachtung solcher sprachlichen Aussa­
gen übergeht (z. B. der metaphorischen Ausdrücke), die zwar bedeutungsvoll
sind, für die aber keine eindeutige (bzw. isomorphe) Entsprechung von sprach­
licher Zeichenstruktur und anschaulicher bzw. vernünftiger Denkbedeutung
angesetzt werden kann.

A usdruck und Bedeutung

Der Theorie der logischen Bedeutung im allgemeinen und der (prädikativen)


Urteilsbedeutung im besonderen gilt das zentrale Interesse der Logischen Unter­
suchungen. Neuere Interpreten haben die Ergebnisse dieser phänomenologischen
Bedeutungstheorie unter Hinweis auf die damit verknüpfte Sprachtheorie in
Frage gestellt oder gar als metaphysische Konstruktion verworfen. Wir tun al­
so gut daran, die Eigenheit und insbesondere die Grenzen von Husserls Sprach­
theorie kurz darzustellen, bevor wir die Fragen der Idealität der (Aussagen-)
Bedeutung, ihren referentialen Bezug und ihren Wahrheitswert behandeln.
Im Gegensatz zu den späteren Denkern der phänomenologischen Bewegung
orientiert Husserl seine Analyse der Sprache noch ganz am Phänomen des spre­
chenden Subjektes, das seine immanenten Bewußtseinsinhalte sprachlich aus­
drückt. Sprechen ist für Husserl kein anonymes Geschehen und auch keine bloße
Funktion des Diskurses (d. h. eines durch quasi-ökonomische Gesetze geregel­
ten, materialistischen Relationssystems von sprachlichen Zeichen). Im Prinzip
weiß der Sprecher nach Husserls Auffassung genau, was er sagt, und seine haupt­
sächliche Sorge ist es, dieses (innere) Wissen eindeutig auszudrücken, seine Denk­
und Erkenntnisleistungen unmißverständlich zu >>Ver-worten<<. Daraus ergibt sich
für Husserl die doppelte Konsequenz, daß erstens die Erforschung derjenigen
Zeichen(-systeme) privilegiert wird, welche als idealsprachlich eindeutige Aus­
drücke oder als (z. B. arithmetische) Surrogate denkmäßiger Bedeutungen fun­
gieren (vgl. insbes. Hu XII, S. 340 ff.) . Und zweitens ist diese idealsprachliche
156 6. Kapitel. Urteil und Wahrheit

Isomorphie von Denken und Sprechen als ein Repräsentations- bzw. Darstel­
lungsverhältnis zu verstehen, d. h. die sprachlichen Zeichen haben eine bloß
sekundäre Funktion, sie dienen eigentlich bloß der äußeren Dokumentation
innerer Denkprozesse. Der äußerlich-öffentlichen Verwendung der Zeichen kann
diesem Ansatz zufolge somit keine sinnstiftende Funktion zugemessen werden.
In der I Logischen Untersuchung, die den Titel »Ausdruck und Bedeutung<<
trägt, ist die Busserlsehe Reduktion sprachlicher Aussagen auf ideal-sprachliche
Repräsentationsverhältnisse und dieser wiederum auf die zum sprachlichen Aus­
druck kommenden denkmäßigen Bedeutungsintentionen besonders deutlich faß­
bar. Charakteristisch für diese Tendenz ist insbesondere Husserls Behandlung
sowohl der okkasionellen Ausdrücke (der sog. >>shifters«) als auch der sprachli­
chen Kommunikation. Beschränken wir uns hier auf den letzteren Problem­
kreis, so gipfeln Husserls einschlägige Untersuchungen in der Behauptung, nicht
der kommunikative Informationsaustausch zwischen Sprecher und Hörer sei
die wesentliche sprachliche Leistung, sondern vielmehr die >>einsame Rede<<, der
Monolog des einsamen Denkers (§ 8). Diese überraschende Behauptung ist nur
dann zu verstehen, wenn man beachtet, 1) daß Husserl sich an einem ideal­
sprachlichen Repräsentationsverhältnis von Bedeutung und sprachlichem Aus­
druckszeichen orientiert; 2) daß Husserl die Tätigkeit des Zuhörers in der Kom­
munikation als Verstehen der Bedeutung vermittels einer >>Kundnahme<< der
Bedeutungs- bzw. signitiven Denkakte der sprechenden Person faßt (§ 7); 3)
daß dieses Verhältnis kommunikativer Kundgabe und Kundnahme die physi­
sche Realität des sprachlichen Zeichens, die >>Existenz des Wortes« (S. 36) vor­
aussetzt. Für die >>Ausdrücke im einsamen Seelenleben<< hingegen >>begnügen
wir uns . . . mit vorgestellten, anstatt mit wirklichen Worten<<. Die Behauptung,
daß das Wesen des bedeutsamen Sprechens in der >>einsamen Rede« am reinsten
zum Ausdruck komme, stützt sich somit auf die Überzeugung, das sprachliche
Zeichen sei ein bloß sekundär mit der Bedeutung verknüpftes, äußerliches Kleid,
die ideale Bedeutung hingegen der Wesenskern eines sprachlichen Ausdrucks.
Das Wesen der Sprache besteht dieser Auffassung zufolge also darin, sich mit
solcher Wirksamkeit in den Dienst des Denkens zu stellen, daß man sie gar nicht
bemerkt bzw. ihre vermittelnde Funktion vergißt (vgl. § 10). In ihrer reinsten
Form begegnen wir der Sprache somit da, wo sie sich nicht mehr als >>Appell«
(K. Bühler) an einen Hörer richtet, sondern in Form bloß innerlicher Vorstel­
lung von sprachlichen Zeichen dem Denken als >>Stütze<< (49; vgl. auch LU II/2,
S. 89) bzw. >>Anhalt« (LU IJ/2, S. 53) dient. Doch was sind nun diese denkmäßi·
gen Bedeutungen, an denen innerhalb der (idealen) Sprache alles hängen soll? Die
Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks ist das, was der Sprecher mittels der
Verwendung sprachlicher Zeichen (Laute, Buchstaben usw.) sagen will, sowie das,
was der Hörer mittels der (akustischen, visuellen usw.) sinnlichen Wahrnehmung
§ 1 . Ausdruck, Bedeutung und intentionales Bewußtsein 157

der sprachlichen Zeichen »Versteht<<. Wir werden gleich noch auf die Frage zu­
rückkommen, wie Husserl diesen Zusammenhang von Akt des Verstehens
und verstandener Bedeutung genauer charakterisiert und auch, worin die Lei­
stung bzw. das Resultat dieses bedeutungsmäßigen Verstehens besteht. Zuvor
muß aber deutlich bestimmt werden, inwiefern die Bedeutung wirklich und
wesentlich als eine eigenständige sprachliche Funktion zu bezeichnen ist und
somit von der sprachlichen Äußerung (Sprechakt) geschieden werden muß. Diese
Scheidung zwischen Bedeutung und Ausdruck ergibt sich nicht allein aus der
Ansetzung eines sie beide verknüpfenden Repräsentationsverhältnisses, d. h.
nicht allein aus der Bestimmung des Ausdrucks als Darstellung, Stellvertreter
der Bedeutung. Bedeutung und Ausdruck scheiden sich auch in unmittelbar
sprachlicher Betrachtung dadurch, daß eine selbe Bedeutung meist verschiede­
ne sprachliche Formulierungen als ihre Ausdrücke zuläßt und daß umgekehrt
verschiedene sprachliche Aussagen als Aussagen desselben Bedeutungsgehaltes
verstanden werden. So beruht z. B. jede sprachliche Übersetzung auf dieser we­
sentlichen Differenz von (einheitlicher) Bedeutung und (mannigfaltigem)
Ausdruck. Nicht nur Husserl, sondern die neuzeitliche Sprachphilosophie über­
haupt hat diesen Zusammenhang von Identität (der Bedeutung) und Differenz
(des sprachlichen Ausdrucks) meist auf dem Hintergrund einer Philosophie der
Präsenz gedacht: verschiedene sprachliche Zeichen bringen dieselbe Bedeutung
zur anwesenden Gegebenheit. Erst neuerdings sind Denker wie Derrida dazu
übergegangen, den 'Vorzug der Identität vor der Differenz und der Anwesen­
heit vor der Abwesenheit in Frage zu stellen. Diese Denker vermochten damit
der sinnstiftenden Funktion der Differenz sprachlicher Zeichen sowie der mög­
lichen Abwesenheit des Referenzgegenstandes besser Rechnung zu tragen.

Identische Bedeutung und individuelle Bedeutungsintention

Die Differenz, von der sich die identische Bedeutung abhebt, betrifft jedoch
nicht bloß eine Mannigfaltigkeit sprachlicher Zeichen, sondern auch eine Man­
nigfaltigkeit von individuellen Gegebenheiten der identischen Bedeutung, d. h.
eine Mannigfaltigkeit von zeitlich verfließenden Akten des Verstehens einer
einheitlichen Bedeutung. Jede Aussage impliziert die prinzipielle Möglichkeit
der späteren Reaktivierung ihres Bedeutungsgehaltes, und in dieser rekogniti­
ven Wiederholung konstituiert sich die Identität der Bedeutung. Die intersub­
jektive Kommunikation eines identischen Bedeutungsgehaltes ist dann in
Analogie mit der innersubjektiven Rekognition zu begreifen, nämlich als Ver­
gegenwärtigung des Bedeutungsgehaltes der sprachlichen Aussage einer frem­
den Person. Die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks hat somit stets die
158 6. Kapitel. Urteil und Wahrheit

Struktur einer Identität in der Differenz. Und mit den verschiedenen Bestim­
mungen der Differenz ändert sich auch die jeweilige Charakterisierung der be­
deutungsmäßigen Identität als übersetzbar, wiederholbar und kommunizier­
bar. Ü bersetzbar ist der Bedeutungsgehalt eines Ausdrucks, weil er nicht
ausschließlich an seine materiale Realisierung in einem jeweiligen phonetischen
oder graphischen System gebunden ist. Und der Bedeutungsgehalt ist wieder­
holbar, weil er ȟberzeitlich<< ist, d. h. in zeitlich verschieden individuierten
Bedeutungsintentionen vollzogen werden kann. Und der Bedeutungsgehalt ist
schließlich auch kommunizierbar, weil er als logischer > Gedanke < prinzipiell
von einer unendlichen Mannigfaltigkeit verschiedener, vernünftig denkender
Subjekte identisch vollzogen werden kann. Die eingehendsten Analysen wid­
met Husserl jedoch der innersubjektiven Identität und Differenz, d. h. dem
synthetischen Zusammenhang von überzeitlicher, identischer Bedeutung und
zeitlich individuierten, mannigfaltigen Bedeutungsintentionen. Bevor wir uns
mit diesen Analysen genauer befassen, müssen wir jedoch noch ein Versäum­
nis nachholen, nämlich die genauere Bestimmung dessen, was Husserl »Bedeu­
tungsmtentiOn<< nennt.
Eine »Bedeutungsintention<< ist für Husserl ein intentionaler Akt (vgl. oben
S. 8 8 ff.), der, schematisch gesprochen, die Funktion hat, sprachliche Zeichen
und Bedeutung miteinander in Verbindung zu bringen, und zwar so, daß das
sprachliche Zeichen primär nicht als Repräsentant der Bedeutung, sondern des
intentionalen Referenzgegenstandes verstanden wird. In Husserls Worten: Die
Bedeutungsintention ist »das Verständnis . . . , dieses eigentümliche, auf den Aus­
druck bezogene, ihn durchleuchtende, ihm Bedeutung und damit gegenständli·
ehe Beziehung verleihende Akterlebnis.<< (§ 1 8) Dieses Zitat impliziert zugleich
auch den Kern der ganzen Busserlsehen Bedeutungstheorie, nämlich die bei­
den Vorentscheidungen: 1) daß das Verstehen ein mentaler (bzw. phänomeno­
logischer), mit der physischen Realität der Zeichen assoziierter Denkprozeß ist
und 2) daß, wer die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens versteht, versteht
worüber gesprochen wird, d. h. auf welchen intentionalen Gegenstand der Spre­
cher sich bezieht. Die zweite dieser beiden Vorentscheidungen ist nicht min­
der problematisch als die erste. Denn wie sind unter dieser Voraussetzung dann
bedeutungsvolle Ausdrücke zu verstehen, denen in der Wirklichkeit gar kein
intentionaler Gegenstand entspricht? Und ist das sprachliche Zeichen nun nicht
ein Repräsentant sowohl der Bedeutung als auch des Gegenstandes, d. h. hat
ein Ausdruck nun nicht zwei referentiale Gegenstände, nämlich seine (menta­
le) Bedeutung und seinen (extramentalen) Gegenstand? Und überhaupt: Ist es
zulässig, aus der Analyse gewisser sprachlicher Ausdrücke (Kennzeichnungen
und insbesondere Namen) und einer gewissen sprachlichen Funktion (Ausdruck
intentionaler Erlebnisse) zu schließen, daß jeder sprachliche Ausdruck dann
§ 1 . Ausdruck, Bedeutung und intentionales Bewußtsein 159

und nur dann bedeutungsvoll ist, wenn er mit der intentionalen Vorstellung
eines Gegenstandes-worüber assoziiert werden kann? Wir werden auf einige dieser
Fragen, deren befriedigende Beantwortung seit Husserls Zeiten nicht durchwegs
entscheidende Fortschritte gemacht hat, noch zurückkommen. Vorerst wollen
wir uns jedoch der phänomenologischen Analyse des Zusammenhangs von man­
nigfaltigen Bedeutungsintentionen und einheitlich-identischer Bedeutung zu­
wenden.
In den Logischen Untersuchungen wird der Zusammenhang von einheitlich­
identischer Bedeutung und mannigfaltig-individuellen Bedeutungsintentionen
durchgehend als Verhältnis von Wesensallgemeinheit und deren spezifischer Ver­
einzelung gefaßt. Diese spezifischen Einzelheiten, in denen sich die ideale Be­
deutung vereinzelt, sind die individuellen Bedeutungsintentionen (bzw., genauer,
das >>intentionale Wesen<< dieser individuellen Akte): Die Identität der Bedeu­
tung ist >>Identität der Spezies . . . Die mannigfaltigen Einzelheiten zur ideal-einen
Bedeutung sind natürlich die entsprechenden Aktmomente des Bedeutens, die
Bedeutungsintentionen. Die Bedeutung verhält sich also zu den jeweiligen Ak­
ten des Bedeutens . . . wie etwa die Röte in specie zu den hier liegenden Papier­
streifen, die alle diese selbe Röte > haben <.« (§ 3 1) Als Spezies von Bedeutungs­
intentionen ist die identische Bedeutung also eine Aktspezies, d. h. ihre Identi­
tät betrifft den Vollzug der bedeutungsvollen Sprechakte. Mannigfaltige Aussa­
gen haben demzufolge dann eine identische, einheitliche Bedeutung, wenn sie
sich in derselben Weise, d. h. in identischer Bestimmung auf denselben Gegen­
stand beziehen. Doch kann man wirklich sagen, daß sich die identische Bedeu­
tung in der Weise einer Wesensallgemeinheit im reellen Gehalt der mannig­
faltigen, bedeutungsvollen Sprechakte vereinzelt? Und umgekehrt: Ist der Ver­
weis eines individuellen Sprechaktes auf seinen identischen Bedeutungsgehalt
wirklich an den Vollzug der logischen Operation einer wesensmäßigen Verall­
gemeinerung bzw. Ideation gebunden? Beides scheint unplausibel, und doch
beantwortet Husserl diese beiden Fragen in den Logischen Untersuchungen po­
sitiv. Ein erster Grund dafür ist sicher die Angleichung der identischen Bedeu­
tung einer A ussage an den Status eines Bedeutungswesens bzw. einer Bedeu­
tung-an-sich, wie sie die logische Apophantik zum Gegenstand ihrer Untersu­
chungen macht (vgl. oben S. 42 ff.). Der Vollzug eines identischen Bedeutungs­
gehaltes in einer individuellen Aussage wird analog zur »A nwendung« z. B. eines
logischen Gesetzes in einem psychologischen Denkprozeß gedacht. Und der
identische Bedeutungsgehalt einer jeweiligen Aussage soll so zur bewußtseins­
mäßigen »Erfassung« kommen, wie das ideale Sein bzw. die unbedingte Gültig­
keit eines logischen Gesetzes, nämlich durch eine sich auf einen synthetischen
Zusammenhang miteinander verglichener Akte stützende Ideation bzw. Wesens­
schau. Gegen diese Lehre vom Zusammenhang von identischer Bedeutung und
160 6. Kapitel. Urteil und Wahrheit

individuellen Bedeutungsintentionen sind zumindest drei verschiedene kriti­


sche Argumente geltend zu machen, die z. T. Husserls späteren Texten selbst
zu entnehmen sind (vgl. Bernet, 1 979):
1) Die Identifizierung von Aussagebedeutung und apophantischem Bedeutungs­
wesen ist sprachphilosophisch bedenklich, weil selbst in einer idealen Sprache,
wie z. B. der Sprache der logischen Apophantik, aus der Bestimmung des Refe­
renzgegenstandes als Wesen (apophantisches Bedeutungswesen) nicht folgt, daß
der identische Bedeutungsgehalt einer jeweiligen Aussage über dieses Wesen auch
ein Wesen ist. Da zumindest dem frühen Husserl weder die Scheidung von idea­
ler und gewöhnlicher Sprache noch die Scheidung von Aussagebedeutung und
logisch-apophantischer Bedeutung geläufig war, ist es nicht erstaunlich, daß die­
ser erste Punkt der Kritik in Husserls Werk kaum erwähnt wird.
2 ) Es ist zwar möglich, eine Aussagebedeutung zu einem Gattungswesen zu ver­
allgemeinern, doch dieses Wesen ist nicht die identische Aussagebedeutung, son­
dern setzt diese bereits voraus. Gleichlautende Wahrnehmungs- und Phantasie­
urteile (z.B. »Der Bleistift ist rot«) haben keine gemeinsame ideale Bedeutung,
die sich dann in den beiden verschiedenen Urteilsbedeutungen spezifisch ver­
einzelt. Vielmehr hat jeder der beiden verschiedenen Urteilsakte eine verschie­
dene, jedoch identische Urteilsbedeutung. Beiden Urteilsbedeutungen ist ein
gemeinsamer Kern zu entnehmen, und dieser kann gattungsmäßig verallgemei­
nert werden, doch dieses Wesen (»Rotsein<< bzw. »Röte des Bleistiftes<<) ist keine
Urteilsbedeutung mehr. Diese Einsichten erarbeitete sich Husserl bereits in ei­
nem Text aus 1908 : >>Empirische Bedeutung [sc.: eine Aussagebedeutung, deren
Referenzgegenstand kein Wesen, sondern eine Tatsache ist] ist keine Idee im
Sinne eines Eidos, die entnommen werden könnte aus einem aktuellen Bedeu­
ten und einem Phantasiebedeuten so, wie Rot eine Idee ist, die zu entnehmen
ist aus einem faktischen Rot-Wahrnehmen und einem Quasi-Rot-Wahrnehmen,
nämlich Rot-Phantasieren.<< (Hu XXVI, S. 2 14) Apriorische Bedeutungen, d. h.
Aussagebedeutungen, die sich auf Wesen bzw. Wesenswahrheiten beziehen,
hingegen behandelt Husserl weiterhin als Wesen, da ihre Geltung von der Schei­
dung zwischen wirklichem und phantasiemäßigem Urteilsvollzug nicht betrof­
fen wird. Erst nach 1 9 1 8 , als sich Husserl in den sog. >>Bernauer Zeitmanu­
skripten<< ein genaueres Verständnis der zeitlichen Individuation erworben hat­
te, geriet die Identifizierung von apriorischen Bedeutungen mit Wesensallge­
meinheiten und insbesondere natürlich die Identifizierung der Individuation
der identischen Bedeutung in mannigfaltigen Bedeutungsintentionen mit dem
Prozeß spezifischer Vereinzelung ins Wanken (vgl. Husserl, 1968, S. 9 f.). Und
in einem Text aus 1 920, der in Erfahrung und Urteil aufgenommen wurde, wen­
det sich Husserl dann ganz entschieden gegen die Bezeichnung der Aussagebe­
deutung als Wesen und spricht nun deutlicher von der »Irrealität<< statt von der
§ 1 . Ausdruck, Bedeutung und intentionales Bewußtsein 161

»Idealität<< der Bedeutung: »Um den Satz [sc : die Urteilsbedeutung] 2 /^ !^zu
erfassen , haben wir nicht Urteilsakte, die urteilen, es sei 2 /^ !^ vergleichend
zu behandeln; wir haben keine generalisierende Abstraktion zu vollziehen, und
demnach finden wir auch nie und nimmer den Satz als ein Gattungsmäßiges,
als ob dementsprechend in jedem Urteilsakt ein eigenes Moment, ein indivi­
dueller Satz vorfindlieh wäre Jedes Urteil für sich meint den Satz: Ƙ Satz
und dieser gemeinte ist von vornherein der irreale. . . Das Meinen ist indivi­
duelles Moment jedes Setzens, aber das Gemeinte ist nicht individuell und nicht
mehr zu vereinzeln « "$Ƙ S 3 1 5n
!^Wenn nun aber jeder individuelle, bedeutsame Sprechakt die identische Be­
deutung (zumindest implizitn vermeint, so ist diese irreale Bedeutung nicht bloß
kein bƘ sondern auch kein Wesen eines  ;Ƙ Die irreale Bedeutung ist
also nicht mehr als eine identische Weise des Aussagens und Verstehens zu fas­
sen, sondern vielmehr als das,  Ƙgesagt und verstanden wird, als das Gesagte
bzw als der Gedanke. Husserl trug diesem Befund Rechnung und führte in
einer Vorlesung aus 1908 (>>Über Grundprobleme der Bedeutungs- und Urteils­
lehre«n erstmals den noemarischen Bedeutungsbegriff ein Es fällt auf, daß die­
ser neue Bedeutungsbegriff sich vorzugsweise an der Situation des wIƘ
orientiert, der versteht,  Ƙder Sprecher sagt und damit auch,  JƘer spricht
Der noetische Bedeutungsbegriff dagegen ging primär von der Situation des
0Ƙ aus, d h von der Weise, wie er sich im Vollzug seiner Aussagen auf
einen Gegenstand richtet. Der noemarische Bedeutungsbegriff hat dem noeti­
schen gegenüber den entscheidenden Vorzug, sich zur Erklärung der Möglich­
keit kommunikativer Verständigung nicht auf die Intentionen des Sprechers,
sondern auf eine Q닫⎚uasi-gegenständliche Gegebenheit der Bedeutung zu beru­
fen. Der noemarische Bedeutungsbegriff zeigt somit deutliche Verwandtschaft
mit dem, was Frege den »Gedanken« genannt hat Der vorsichtige Interpret
wird sich von dieser Feststellung jedoch nicht so schnell zur Proklamation der
Grenzaufhebung zwischen phänomenologischer und sprachanalytischer Bedeu­
Y\M=UY?8ORB8i?BMR8Bd8MiI0UU8MiRi_BR5iUB3?i^B8IK8?Ri28UOR=Xi:R0=8Mi_B8i Hus­
serl nach Einführung des noemarischen Bedeutungsbegriffs die Scheidung
zwischen Bedeutung und Gegenstand noch zu bestimmen vermag, wenn er den
Referenzgegenstand nicht, wie Frege, als Wahrheitswert der Bedeutung (des Fre­
geschen »Sinnes«n, sondern als intentionalen Gegenstand fassen will Jede Aus­
sage scheint sich nun plötzlich auf zwei verschiedene Gegenständlichkeiteil zu
beziehen, nämlich die Bedeutung und den Gegenstand, und Husserl droht nun
selbst der (bildlichenn Verdoppelung der Struktur des intentionalen Gegenstandes
zu verfallen, die er in seiner Kritik an ΂wardowski (vgl insbes x‡Ƙ  *Ƙ 13 und
!I Ƙ *Ƙ 45; Ƙx%Ƙ *Ƙ 129n so überzeugend widerlegt hatte.
1 62 6. api el. Ur eil und Wahrhei

4  
Ƙ Ƙ  Ƙ/W

 Ƙ

Bevor wir diese Frage nach dem Bezug von noemarischer Bedeutung und in­
tentionalem Gegenstand weiter verfolgen, tun wir gut daran, uns überhaupt
auf die allgemeinen Grundlagen von Husserls Bestimmung des referentialen Be­
zugs von Sprechakten auf Gegenstände-worüber zu besinnen. Dieser referentia­
le Bezug ist nach Husserls Auffassung im wesentlichen eine Leistung der
Bedeutungsintention. Und die Bedeutungsintention ist ein Vermeinungs- bzw.
Denkakt, der sich intentional auf einen Gegenstand richtet und zugleich das
sprachliche Zeichen als Repräsentant dieses intentionalen Gegenstandes deutet
bzw. apperzipiert. Der gegenständliche Bezug eines sprachlichen Ausdrucks ist
also wesentlich vermittelt durch einen mit dem sprachlichen Ausdruck (apper­
zeptiv) assoziierten intentionalen Vorstellungsakt. Diese Bestimmung des refe­
rentialen Bezugs impliziert jedoch insofern keinen Rückfall in eine psycho­
logistische Bedeutungstheorie, als Husserl die Bedeutungsintention als indivi­
duellen Vollzug einer  ”ŁƘBedeutung begreift. Husserls Bestimmung
der Bedeutungsintention (und somit auch die intentionale Bedeutungstheorie
schlechthin) ist jedoch insofern noch psychologisch zu nennen, als Denotation
und Konnotation des Referenzgegenstandes des Sprechaktes sich letztlich von
der intentionalen Vorstellung des Gegenstandes durch den Sprecher herleiten.
Dies zeigt sich besonders deutlich in Husserls Behandlung der sog. gegenstands­
losen Ausdrücke wie >>goldener Berg<<, »viereckiger Kreis<<, »2 + 2 = 5<< usw. Twar­
dowski meinte, solche Ausdrücke bezögen sich bloß auf einen mentalen Inhalt,
dem in der Wirklichkeit kein Gegenstand entspräche. Husserls Lösung ist dem­
gegenüber bestechend einfach: Jeder intentionale Akt hat als seinen Zielpunkt
einen intentionalen Gegenstand (vgl. insbes. 'LU, § l l a), und der Gegenstand
einer Halluzination ist ein unwirklicher, fiktiver intentionaler Gegenstand, wäh­
rend der Gegenstand einer Wahrnehmung ein wirklicher intentionaler Gegen­
stand ist: ''· · · jedermann muß es anerkennen: daß der intentionale Gegenstand
der Vorstellung derselbe ist wie ihr wirklicher und gegebenenfalls ihr äußerer
Gegenstand, und daß es widersinnig ist, zwischen beiden zu unterscheiden . . . .
Stelle ich . . . ein rundes Viereck usw. vor, s o ist dieses hier Genannte und Tran­
szendente eben gemeint, also (nur mit anderem Worte) intentionales Objekt;
dabei ist es gleichgültig, ob dieses Objekt existiert, ob es fingiert oder absurd
ist.<<   'L U, S. 425) Die These, daß jeder intentionale Akt sich auf einen Ge­
genstand richtet, präjudiziert also nichts über die wirkliche Existenz dieses in­
tentionalen Gegenstandes, denn der intentionale Gegenstand ist ganz einfach
Gegenstand qua intendierter. Und es liegt ganz in der Konsequenz dieser Be­
stimmung des intentionalen Gegenstandes, wenn Husserl, wie wir noch sehen
werden, den wirklich existierenden intentionalen Gegenstand phänomenolo-
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1 64 6. Kapitel. Urteil und Wahrheit

Husserls Bestimmung des >>leeren<< Sprechens beschränkt, gilt auch für Husserl
(wie für Derrida), daß der Gegenstand des Sprechens sich auf dem Hintergrund
seiner möglichen Abwesenheit und im differentiellen Kontext von bedeutungs­
vollen Sprechakten konstituiert.
Der sprachliche Ausdruck bezieht sich nach Husserl insofern wesentlich auf
einen Referenzgegenstand, als das physische Ausdrucksphänomen bzw. der
Sprechakt durch eine Bedeutungsintention belebt ist, welche diesen Gegenstand
intentional vermeint. Die Bestimmung des intentionalen Gegenstandes wird
dergestalt ganz von der Bestimmung des intentionalen Aktes, d. h. der Bedeu­
tungsintention hergeleitet. Und daraus folgt, daß der Unterschied zwischen wirk­
lichem oder bloß fiktiv existierendem Gegenstand für die (phänomenologische)
Analyse seiner Funktion als intendierter Gegenstand irrelevant ist. Die sich
auf den intentionalen Gegenstand beziehende Bedeutungsintention ist nun aber,
wie wir bereits gesehen haben, keine selbständige phänomenologische Gege­
benheit, denn sie verweist notwendig auf eine ideal-identische Bedeutung. Heißt
das nun aber nicht, daß die Bedeutungsintention ein intentionaler Akt mit zwei
verschiedenen intentionalen Gegenständen ist, daß die Bedeutungsintention sich
intentional sowohl auf die (noematische) Bedeutung als auch auf den Referenz­
gegenstand bezieht? Oder kann man diese ungewöhnliche Verdoppelung der
Struktur des intentionalen Gegenstandes evtl. dadurch vermeiden, daß man Be­
deutung und Referenzgegenstand miteinander identifiziert? Aber ist diese Iden­
tifikation statthaft, darf man wirklich sagen, daß das Verstehen eines bedeu­
tungsvollen Ausdrucks sich im Hinblicken auf seinen intentionalen Referenz­
gegenstand erschöpft? Husserl weist diese Verschmelzung von Bedeutung und
Gegenstand und die daraus folgende referentiale Bedeutungstheorie entschie­
den ab: »Niemals fällt aber der Gegenstand mit der Bedeutung zusammen.<<
(§ 12) Diese Behauptung begründet Husserl in der I. Logischen Untersuchung
nicht etwa in Form einer phänomenologischen Intentionalanalyse der bewußt­
seinsmäßigen Gegebenheit von Bedeutung und Gegenstand in der Bedeutungs­
intention, sondern sozusagen > Sprachanalytisch < durch den Hinweis auf solche
sprachlichen Ausdrücke, für deren Verständnis die Scheidung von Bedeutung
und Gegenstand eine notwendige Voraussetzung bildet. Es gibt Ausdrücke, die
trotz verschiedener Bedeutung sich auf einen selben Gegenstand beziehen und
andere Ausdrücke, die zwar eine selbe Bedeutung haben, sich jedoch auf ver­
schiedene Gegenstände beziehen. Beispiele letzterer Klasse bilden die Indexaus­
drücke (wie »dies<<, »hier<< usw.) und Beispiele ersterer Klasse bilden äquivalente
Ausdrück wie »Der Sieger von Jena<< und »Der Besiegte von Waterloo<<. Wir
können hier nicht in eine gerrauere Analyse dieser > sprachanalytischen < Beweis­
führung eintreten, müssen aber doch darauf hinweisen, daß sich Husserl vor­
nehmlich an einer beschränkten Klasse von Ausdrücken orientiert, nämlich den
§ 1 . Ausdruck, Bedeutung und intentionales Bewußtsein 165

Namen bzw. Kennzeichnungen. Und auch darauf ist hinzuweisen, daß der Ge­
genstand äquivalenter Ausdrücke sich nicht unabhängig vom Wahrheitswert die­
ser Ausdrücke bzw. der wirklichen (ob realen oder idealen) Existenz des Ge­
genstandes bestimmen läßt und daß Husserl das Verstehen des Ausdrucks »Der
Sieger von Jena« in der Analyse des obigen Beispiels vom historischen Wissen
um das Leben von Napoleon, d. h. von der vorgängigen Kenntnis des Gegen­
standes herzuleiten scheint (vgl. Tugendhat ( 1976) und Atwell).
Aus den Inkonsequenzen bzw. Mängeln in Husserls > sprachanalytischen < Aus­
führungen zur Scheidung von Bedeutung und Gegenstand folgt jedoch nicht,
daß Husserl eo ipso unfähig war, Bedeutung und Gegenstand auseinanderzu­
halten, und auch nicht, daß die Busserlsehe Bedeutungstheorie letztlich doch
der als primitiv geltenden Klasse realistischer bzw. referentialer Bedeutungs­
theorien einzuordnen ist. Der spezifisch phänomenologische Gesichtspunkt in
der Erörterung der Frage bedeutungsmäßiger Referenz orientiert sich nämlich
weniger am Sprachgebrauch als an der Intentionalanalyse des bedeutungsver­
leihenden Bewußtseins. Solange man am noetischen Bedeutungsbegriff festhält,
ist mit der Scheidung von Bedeutung und Gegenstand keine wesentliche Schwie­
rigkeit verbunden: die individuelle Bedeutungsintention ist eine spezifische Ver­
einzelung der idealen Bedeutung, die ihrerseits als eine identische Weise des
intentionalen Bezugs auf den Gegenstand bestimmt wird. Innerhalb dieses Mo­
dells ist die Scheidung von Bedeutung und Gegenstand die wesentliche Voraus­
setzung, um >>mit Recht« sagen zu können, >>der Ausdruck bezeichne (nenne)
den Gegenstand mittels seiner Bedeutung bzw. es sei der Akt des Bedeutens
die bestimmte Weise des den jeweiligen Gegenstand Meinens.« (§ 1 3) Wie steht
es nun aber mit der Scheidung zwischen Bedeutung und Gegenstand, wenn
die identische Bedeutung selbst als eine intentionale Vermeintheit bzw. (noe­
matische) >>Gegenständlichkeit« bezeichnet wird? Man ist versucht, eine mögli­
che Antwort auf der Beobachtung aufzubauen, daß im ursprünglichen Vollzug
eines bedeutungsvollen Sprechaktes die Bedeutungsintention sich nicht auf die
Bedeutung richte, sondern sich vielmehr durch die unthematisch bewußte Be­
deutung hindurch thematisch auf den intentionalen Referenzgegenstand bezie­
he. Der Referenzgegenstand wäre demnach also der Gegenstand-geradehin eines
Ausdrucks, während die ungegenständliche Bedeutung der intentionale Gegen­
stand einer Reflexion wäre, welche das implizite Bedeutungsbewußtsein des ur­
sprünglich vollzogenen Sprechaktes nachträglich thematisiert. Diese Antwort
kann jedoch nicht befriedigen, da die phänomenologische Reflexion auf das
Bedeutungsbewußtsein zugleich thematisch aufzeigen muß, wie der gegenständ­
liche Bezug des ursprünglichen Sprechaktes durch das unthematische Bewußt­
sein der noemarischen Bedeutung vermittelt war. Wir finden uns also in der
phänomenologischen Reflexion auf die Bedeutungsintention erneut vor das Pro-
166 6. Kapitel. Urteil und Wahrheit

blem gestellt, daß sich diese Bedeutungsintention auf zwei verschiedene Arten
gegenständlicher Vermeintheit bezieht. Ein erster Ansatz zur Lösung dieser Frage
findet sich bereits im Text, der den noemarischen Bedeutungsbegriff erstmals
entwickelt, nämlich in der Vorlesung von 1 908 >> Ü ber Grundprobleme der
Bedeutungs- und Urteilslehre<<. Der Gegenstand wird da als Pol einer mannig­
faltige Bedeutungen umspannenden >>Identitätsprädikation<< bestimmt (Hu
XXVI, S. 61 f. ; vgl. auch S. 80). Zu der daraus folgenden Einsicht, daß der Ge­
genstand, so wie ihn diese phänomenologische Reflexion thematisiert, eine be­
sondere Bedeutungsstruktur darstellt, bekannte sich Husserl jedoch erst später:
»Vermeinter Gegenstand ist ein dem Satz selbst angehöriges Sinnesmoment und
nichts ihm TranszendenteS.<< (Ms. B III 12, S. 53b (192 1)) Husserl hat diese Theo­
rie der noemarischen Referenz jedoch nicht konsequent ausgearbeitet. Sowohl
in der Frage der noemarischen Bestimmung des Gegenstandes prädikativer Sät­
ze (Subjektgegenstand oder >>Sachlage<<?) als auch in der Frage des Zusammen­
hangs von phänomenologischer und ontologischer Bestimmung des Referenz­
gegenstandes (des Zusammenhangs zwischen dem Gegenstand qua >>Sinnesmo­
ment<< bzw. bedeutungsmäßiger Objektpol (=X) und qua wirklicher, transzen­
denter Gegenstand) blieb Husserl uns eine eindeutige Antwort schuldig.

§ 2. Wahres Urteilen, vernünftiges Denken und anschauliche


Gegebenheit des Erkenntnisgegenstandes

Mehrere phänomenologische Denker und unter ihnen insbesondere Heideg­


ger haben Husserls Werk den Vorwurf gemacht, sich durch stets neu aufgenom­
mene erkenntnistheoretische Detailanalysen die Sicht auf die ontologischen
Grundfragen versperrt zu haben. Die Debatte zwischen Husserls und Heideg­
gers Auffassung der Phänomenologie interessiert uns jedoch im gegenwärtigen
Zusammenhang nur insofern, als sie deutlich zum Ausdruck bringt, daß nach
Husserls Auffassung die Frage nach gerechtfertigter Erkenntnis der Frage nach
dem Sein des Seienden gegenüber einen zumindest methodologisch bedingten
Vorzug hat. Sein ist für Husserl zuerst erkanntes Sein, und erkanntes Sein ver­
weist als intentionales Korrelat notwendig zurück auf die bewußtseinsmäßige
Tätigkeit des Erkenntnissubjekts. Neben der erkenntnistheoretisch motivier­
ten Seinsvergessenheit warf man Husserl auch oft vor, seine erkenntnistheore­
tische Frage auf der dogmatisch vorausgesetzten Scheidung von Subjekt und
Objekt aufzubauen sowie die Erkenntnisfrage auf dem Boden eines naiven, weil
sich ganz am Prozess des Sehens orientierenden Intuitionismus lösen zu wol­
len. Wir werden in der folgenden Erörterung von Husserls Frage nach der Ur­
teilswahrheit sehen, daß diese beiden letzteren Vorwürfe gegen Husserls er-
§ 2. Wahres Urteilen und vernünftiges Denken 167

kenntnistheoretischen Problemansatz nur beschränkt berechtigt sind. Daß wir


unsere Ausführungen zur Wahrheitsfrage an der Problematik der Urteilswahr­
heit orientieren, darf aber nicht so aufgefaßt werden, als ob Husserl in der ihm
nachgesagten Blindheit für die Frage der ontologischen Wahrheit die Wahrheits­
frage auch zwangsläufig auf den logischen bzw. erkenntnistheoretischen Be­
griff der Urteilswahrheit reduziere. Wir werden vielmehr sehen, daß die Aussagen
bzw. das in ihr zum Ausdruck kommende vernünftige Denken für Husserl zwar
das Feld ausgezeichneter Erkenntnisleistungen darstellen, daß diese ausgezeich­
neten Erkenntnisakte jedoch notwendig in Akten sinnlicher Anschauung bzw.
im Erscheinen sinnlicher Gegenstände fundiert sind.
Husserl orientiert seine Bestimmung sowohl des Vcrstehens der Bedeutung
eines sprachlichen Ausdrucks als auch des referentialen Bezugs dieser Bedeu­
tung auf einen Gegenstand an der phänomenologischen Analyse des intentio­
nalen Bewußtseins. Die phänomenologische Bedeutungstheorie sieht sich von
diesem Ansatz bei der phänomenologischen Intentionalanalyse her gezwungen,
mit einigen Dogmen der traditionellen, realistisch inspirierten Bedeutungstheo­
rie zu brechen. Wir haben bereits gesehen, daß die phänomenologische Be­
stimmung der intentionalen Referenz mit der extensionalen Beschreibung des
Referenzgegenstandes bricht, d. h. daß ihr sinnvolles Sprechen und Sprechen
über wirklich existierende Gegenstände, die unter die entsprechenden Bedeu­
tungen fallen, nicht einerlei sind. Die Bestimmung der Bedeutung leitet sich
für Husserl nicht von der Bestimmung des Referenzgegenstandes her, sondern:
die Bestimmung des Referenzgegenstandes einer sprachlichen Äußerung leitet
sich ausschließlich von der Bestimmung des bedeutungsmäßigen Bezugs auf den
Gegenstand her. Und diese bedeutungsmäßige Referenz einer Aussage bzw. ei­
nes Sprechaktes versteht Husserl zudem als jeweiligen bewußtseinsmäßigen Voll­
zug der Bedeutung, als einen individuellen intentionalen Akt mit einem idealen
Bedeutungsinhalt. Unsere Frage lautet nun, wie Husserl innerhalb dieses Rah­
mens dem für die philosophische Erkenntnistheorie so wichtigen Unterschied
zwischen Sprechen über wirkliche und nicht wirkliche Gegenstände bzw. dem
Unterschied zwischen wahrem und falschem Sprechen dennoch Rechnung zu
tragen vermag.

A nschaulich erfüllte kategoriale Akte als Erkenntnisakte im prägnanten Sinn

Der Schlüsselbegriff von Husserls Wahrheitslehre ist deutlich der Begriff der
anschaulichen Erfüllung, wie ihn insbes. die VI. Logische Untersuchung einge­
hend darstellt. Nur in bezug auf diesen phänomenologischen Prozeß der Er­
füllung lassen sich Stellenwert und Funktion der Begriffe Erkenntnis, Evidenz
168 6. Kapitel. Urteil und Wahrheit

und Wahrheit gerrauer bestimmen. Eine Erfüllung ist ein kognitiver Akt, in dem
eine leere Vermeinung bzw. Behauptung in synthetischen Zusammenhang mit
einer entsprechenden anschaulichen Gegebenheit gebracht und dadurch bestä­
tigt und bekräftigt bzw. enttäuscht wird (vgl. insbes. §§ 6, 8, 1 1). Dieser kom­
plexe Erlebniszusammenhang läßt sich schematisch in drei Elemente zerlegen:
a) den zu erfüllenden bzw. (partiell) leeren Akt, b) den erfüllenden Akt und
c) den diese beiden Akte synthetisch verbindenden Akt. Bei diesen drei Ele­
menten handelt es sich um relativ selbständig abgegrenzte Erlebnisse bzw. psy­
chische Tätigkeiten, in denen sich das Bewußtsein intentional auf Gegenstände
bezieht. Der synthetische Zusammenhang (c), der den erfüllenden Akt mit dem
zu erfüllenden Akt verbindet, hat die Form einer Synthesis der Identifikation
(§ 8). Die darin konstituierte Identität betrifft die beiden Akte (a und b) nach
denjenigen Momenten, welche wesentlich für die intentionale Funktion dieser
Akte verantwortlich sind (ihr >>intentionales Wesen<<). Die beiden Akte decken
sich (zumindest partiell) bezüglich ihres intentionalen Bezugs, sie beziehen sich
auf denselben Gegenstand. Die Identitätssynthese von zwei Akten wird jedoch
erst dann erkenntnistheoretisch relevant, wenn die beiden Akte einen verschie­
denen kognitiven Wert haben (vgl. §§ 1 3 , 1 6). Diese Differenz zwischen den
zwei Akten betrifft ihr »erkenntnismäßiges Wesen<< (§ 28), d. h. die Weise, in
der jeder dieser Akte seinen (bzw. den identischen) intentionalen Gegenstand
anschaulich (bzw. unanschaulich) vorstellt, ihn zu intuitiver (bzw. partiell in­
tuitiver oder nicht-intuitiver) Gegebenheit bringt . Diese intuitive Gegebenheit
des Gegenstandes im intentionalen Akt begreift Husserl in den Logischen Un­
tersuchungen als einen Akt, der primitive, d. h. vor-intentionale Bewußtseins­
inhalte intentional auf den Gegenstand bezieht und ihnen durch diese Apper­
zeptionsweise die Funktion von anschaulich darstellenden Inhalten bzw. Er­
scheinungen des Gegenstandes zumißt (§§ 14b, 22). Husserl sagt auch, daß der
intentionale Akt seinen Gegenstand vermöge dieser Apperzeption von primi­
tiven Empfindungsdaten anschaulich »repräsentiere<< (vgl. oben S. 1 1 0 f.). Die
erkenntnismäßige Differenz von erfüllendem und zu erfüllendem Akt, die Diffe­
renz somit von zwei intentionalen Akten, die denselben Gegenstand vermei­
nen, leitet sich also von ihrer anschaulichen Repräsentationsweise bzw. dem
Umfang und Reichtum des in den beiden Akten jeweils apperzipierten Emp­
findungsmaterials her. Formal gefaßt ist der Erfüllungsprozeß somit ein kom­
plexer Akt, der zwei Akte in Hinsicht auf die Identität ihres intentionalen
Gegenstandes und auf die Differenz von dessen anschaulich repräsentativen Ge­
gebenheiten zur Synthesis bringt.
Betrachten wir nun denjenigen Fall der Erfüllungssynthese etwas näher, in
dem eine leere Behauptung sich durch die anschauliche Selbstgegebenheit ihres
Gegenstandes erkenntnistheoretisch ausweist! Die Aussage »Der schwarze Vo-
2 a res r ei en und ern n iges en en 1 9

gÄl fläÄgt auf Ärfüllt sä h also äm synthÄtäs hÄn ZusammÄnhang mät dÄm Wahr­
nÄhmÄn dÄs bÄhauptÄtÄn Sa hvÄrhaltÄs. AbÄr kann man das S hwarz e dÄs
VogÄls, sÄänÄ BÄstämmung als VogÄl und als der VogÄl dur h das sä h unsÄrÄn
AugÄn darbäÄtÄndÄ S hauspäÄl vÄrantwortÄn? Und au h läÄßÄ sä h das, was wär
sÄhÄn, nä ht au h spra hlä h andÄrs ausdrü kÄn? BÄädÄ FragÄn führÄn uns zur
Eänsä ht, daß ÄrstÄns ÄänÄ sännlä hÄ WahrnÄhmung ÄänÄ (prädäkatävÄ) AussagÄ
nur bÄgrÄnzt zu ÄrfüllÄn vÄrmag und daß zwÄätÄns ÄänÄ AussagÄ ährÄn BÄdÄu­
tungsgÄhalt nur tÄälwÄäsÄ und ändärÄkt dÄr spra hlä h ausgÄdrü ktÄn WahrnÄh
mung vÄrdankt. In HussÄrls TÄrmänologäÄ hÄäßt das, daß än ÄänÄm WahrnÄh­
mungsurtÄäl däÄ spra hlä hÄn ZÄä hÄn äm ÄägÄntlä hÄn SännÄ nä ht däÄ Wahr­
nÄhmung, sondÄrn däÄ än ÄänÄr katÄgoräalÄn BÄdÄutungsäntÄntäon vollzogÄnÄ
UrtÄälsbÄdÄutung (dur h wÄl hÄ däÄ AussagÄ sä h auf dÄn WahrnÄhmungsgÄ
gÄnstand bÄzäÄht) ausdrü kÄn (§ 4). Und darän läÄgt wäÄdÄrum däÄ KonsÄq籘uÄnz,
daß däÄsÄ BÄdÄutungsäntÄntäon nä ht dur h ÄänÄ rÄän sännlä hÄ, sondÄrn (sänn­
lä h vÄrmäs htÄ) katÄgoräalÄ Ans hauung zu ÄrfüllÄn äst. Do h bÄvor wär däÄ­
sÄn synthÄtäs hÄn ErfüllungszusammÄnhang von katÄgoräalÄr BÄdÄutungsän­
tÄntäon und katÄgoräalÄr Ans hauung nähÄr untÄrsu hÄn, müssÄn wär uns zu­
mändÄst än dÄn großÄn LänäÄn vÄrgÄgÄnwärtägÄn, was das WÄsÄn ÄänÄs kategoria·
len Aktes übÄrhaupt ausma ht. KatÄgoräalÄ AktÄ sänd na h HussÄrl äntÄntäonalÄ
AktÄ dÄs VÄrbändÄns, BÄzäÄhÄns, UntÄrs hÄädÄns usw. SäÄ sänd also komplÄxÄ
AktÄ bzw. äntÄntäonalÄ AktÄ mät komplÄxÄr MatÄräÄ (vgl. obÄn S. 8 8 f.), däÄ vÄr­
s häÄdÄnÄ, vorgÄgÄbÄnÄ äntÄntäonalÄ GÄgÄnständÄ aufÄänandÄr bÄzäÄhÄn und säÄ
untÄr ÄänÄm katÄgoräalÄn GÄsä htspunkt, z. B. dÄm VÄrhältnäs TÄäl - GanzÄs, zu
synthÄtäs hÄr EänhÄät brängÄn. Als komplÄxÄr bzw. synthÄtäs hÄr Akt sÄtzt däÄ
katÄgoräalÄ IntÄntäon däÄ zur synthÄtäs hÄn EänhÄät gÄbra htÄn AktÄ und ährÄ
äntÄntäonalÄn GÄgÄnständÄ voraus, dÄr Vollzug dÄs synthÄtäs hÄn AktÄs äst äm
Vollzug dÄr synthÄtäsäÄrtÄn AktÄ fundäÄrt« (§§ 46, 48). Und als fundäÄrtÄr än­
tÄntäonalÄr Akt vÄrwÄäst dÄr katÄgoräalÄ Akt auf ÄänÄ dur h ähn Ärst gÄs haffÄ­
nÄ höhÄrstufägÄ äntÄntäonalÄ GÄgÄnständlä hkÄät (§ 43). Es äst nun abÄr äußÄrst
ht g, dÄn Voll ug dÄs katÄg r alÄn AktÄs n ht als Ä nÄ andlung u bÄgrÄ ­
fÄn, wÄl hÄ rÄalÄ GÄgÄnständÄ dur h physäs hÄ Manäpulatäon modäfäzäÄrt (§ 6 1).
VäÄlmÄhr bÄstÄht däÄ LÄästung dÄs katÄgoräalÄn AktÄs än ÄänÄr bloß dÄnkmäßä­
gÄn Formung und Artäkulatäon vorgÄgÄbÄnÄr StoffÄ bzw. än ÄänÄr bloß logä­
s hÄn Umformung bÄrÄäts katÄgoräal gÄformtÄr StoffÄ. WÄnn nun abÄr dÄr
katÄgoräalÄ Akt kÄänÄ sännlä h physäs hÄ TätägkÄät ist, so äst au h sÄän äntÄntäo­
nalÄr GÄgÄnstand kÄän sännlä h physäs hÄr GÄgÄnstand, kÄän GÄgÄnstand somät,
dÄn man mät dÄn AugÄn sÄhÄn, auf dÄn man sä h sÄtzÄn kann. HussÄrl nÄnnt
däÄ katÄgoräalÄn GÄgÄnständÄ äm GÄgÄnsatz zu dÄn Ämpäris h-rÄalÄn bzw. sänn
lä hÄn GÄgÄnständÄn >>höhÄrstufägÄ« odÄr »ädÄalÄ« GÄgÄnständÄ (§ 46). Man darf
sä h abÄr dur h däÄsÄ TÄrmänologäÄ nä ht dazu vÄrlÄätÄn lassÄn, allÄ katÄgoräa-
170 6. Kapitel. Urteil und Wahrheit

len Gegenstände als Wesensallgemeinheiten zu verstehen. In Wirklichkeit ist


der von mir ausgesagte Sachverhalt, daß jetzt eine Taube sich auf mein Fenster­
brett setzt, ebenso ein idealer kategorialer Gegenstand wie ein bestimmter Zahl­
begriff oder der formal-logische Begriff »Gegenstand-überhaupt«. Nennt man
mit Husserl alle kategorialen Gegenstände >>ideal<<, so muß man also zwischen
empirisch-idealen (bzw. >>Sinnlich gemischten<<) und apriorisch-idealen (bzw. >>rei­
nen<<) kategorialen Gegenständen unterscheiden (vgl. § 60).
Je nachdem, ob der intentionale Gegenstand eines kategorialen Aktes anschau­
lich gegeben oder bloß durch ein Zeichen vertreten wird, unterscheidet man
anschauliche und signitive bzw. leere kategoriale Akte. Signitive kategoriale Akte
sind die mit leer behauptenden Sprechakten verbundenen Bedeutungsintentio­
nen, aber auch die gemäß einem arithmetischen Kalkül ausgeführten Rechen­
operationen. Leer behauptende Sprechakte unterscheiden sich jedoch vom
technischen Rechnen dadurch, daß sie kein Surrogat für anschaulich nicht voll­
ziehbare Denkoperationen sind, sondern vielmehr erst dann erkenntnismäßi­
ge Relevanz gewinnen, wenn sie durch eine entsprechende kategoriale Anschau­
ung erfüllt werden. In dieser kategorialen Anschauung ist der (kategoriale) Re­
ferenzgegenstand des Sprechaktes nicht mehr bloß vermeint bzw. leer behaup­
tet, sondern anschaulich selbstgegeben. In der VI. Logischen Untersuchung faßt
Husserl diese anschauliche Selbstgegebenheit eines kategorialen Gegenstandes
weitgehend in Analogie mit der Selbstgegebenheit eines sinnlichen Gegenstan­
des und postuliert eine kategoriale Form der intuitiven Repräsentation. Im »Vor­
wort<< zur 2. Auflage von 1920 bemerkt Husserl jedoch ausdrücklich, daß er
>>die Lehre von der kategorialen Repräsentation nicht mehr billige<< (S. V). Der
verhängnisvolle Fehler dieser Lehre war es, die kategoriale Repräsentation als
kategoriale Auffassung eines sinnlichen Auffassungsinhaltes zu bestimmen. Ab­
gesehen von dem in dieser Lehre beschlossenen logischen Widersinn ist auch,
jedenfalls für die rein kategorialen Gegenstände bzw. formalen Kategorien, phä­
nomenologisch nicht einzusehen, was ihnen als anschaulicher Repräsentant (im
Sinne sinnlicher Selbstgegebenheit) dienen könnte. Husserls gültige Antwort
auf die Frage der anschaulichen Gegebenheit kategorialer Wesen muß in sei­
ner Lehre von der eidetischen Variation gesucht werden (vgl. oben S. 76 f.)
- auch wenn diese Lehre der Scheidung zwischen >>sinnlich-gemischten<< und
>>reinen<< Wesen sowie auch der Scheidung zwischen generalisierender und for­
malisierender Wesenserfassung (vgl. Ideen I, § 1 3) nicht genügend Rechnung
trägt. Immerhin widersteht Husserl bereits in den Logischen Untersuchungen
der verführerischen Analogisierung von sinnlicher und kategorialer Anschau­
ung insofern, als die kategoriale Anschauung als wesentlich synthetischer Akt
von der Unmittelbarkeit sinnlichen Sehens prinzipiell geschieden wird. Ein
synthetischer, d. h. fundierter Akt ist die kategoriale Anschauung schon qua
§ 2. Wahres Urteilen und vernünftiges Denken 171

kategorialer Akt. Zudem ist die kategoriale Anschauung auch insofern ein fun­
dierter Akt, als sie, qua Erkenntnisakt, ein unselbständiges Moment der Erfül­
lungssynthese ist. Und als Erkenntnisakt ist die kategoriale Anschauung
schließlich auch nicht etwa ein »intuitus originarius<<, sondern mögliches Mo­
ment eines in sinnlicher Erfahrung fundierten komplexen Prozesses >>kontinu­
ierlicher Steigerung der Erfüllung<< (§ 24).
Doch was ist eigentlich damit gemeint, wenn man sagt, erst als Moment der
Erfüllungssynthese, d. h. erst im synthetischen Zusammenhang mit einem er­
füllungsbedürftigen Akt sei die kategoriale Anschauung als Erkenntnisakt zu
bezeichnen? Dies heißt in erster Linie, daß bloßes Anschaulich-gegeben-Haben
des Gegenstandes noch kein Erkenntnisakt ist. Die anschauliche Gegebenheit
des Gegenstandes wird erst dann erkenntnistheoretisch relevant, wenn sie eine
Erkenntnisprätention rechtfertigt bzw. ein Erkenntnisinteresse befriedigt. Erst
in synthetischer Übereinstimmung mit einer entsprechenden Leervorstellung,
einem >>Manko<< (§ 2 1 ) wird der intuitive Akt zu einem Erkenntnisakt. Ähn­
lich wie für Kant ist also auch für Husserl die bloße Anschauung erkenntnis­
theoretisch irrelevant bzw. >>blind<<, wenn sie nicht unter eine entsprechende
Leerintention subsumiert und dadurch »klassifiziert<< wird. Korrelativ ist aber
auch die Leerintention eine bloß >>leere<< Vermeinung, wenn sie der anschauli­
chen Bestätigung, Differenzierung und >>Annäherung<< an den vermeinten Ge­
genstand >>selbst<< entbehrt. Die Tatsache, daß diese anschaulich zu erfüllende
Leerintention im allgemeinen bloß partiell leer (bzw. partiell bereits erfüllt) ist,
ändert nichts an der allgemeinen Charakterisierung des synthetischen Erkennt­
niszusammenhangs von Leere und Fülle und kann hier somit außer Betracht
bleiben. Von entscheidender Bedeutung ist es hingegen, daß erst die Erfüllungs­
synthese von kategorialen Akten den prägnanten Erkenntnisbegriff des Erken­
nens von etwas als etwas phänomenologisch zu fundieren vermag. Bestimmt
man mit Husserl die kategoriale Leerintention als signitive Intention und diese
wiederum vorzüglich als kategoriale Bedeutungsintention, so erweist sich der
anschaulich erfüllte Sprechakt, d. h. die durch die anschauliche Gegebenheit
des Gegenstandes gerechtfertigte Behauptung als das eigentliche Paradigma des
Erkenntnisaktes im prägnanten Sinn. Der synthetische Erfüllungszusammen­
hang von Bedeutungsintention und kategorialer Anschauung läßt sich übrigens
auch statt als Synthesis von zwei Akten als Synthesis ihrer intentionalen Ge­
genstände beschreiben. Die Rede vom Erkennen eines Gegenstandes als etwas
paßt vorzüglich auf diese gegenständlich gerichtete Beschreibung der Erfüllungs­
synthese, die man mit Kant auch >>Rekognition des Gegenstandes im Begriffe<<
nennen kann (vgl. § 8). Es fällt auf, daß dieser Erkenntnisbegriff phänomeno­
logisch gar nicht zu formulieren wäre, würde Husserl nicht über die Struktur
eines bloß leer vermeinten, d. h. möglicherweise nicht existierenden intentio-
172 6. Kapitel. Urteil und Wahrheit

nalen Gegenstandes verfügen. Die erkenntnistheoretische Wirklichkeit des Re­


ferenten läßt sich also, wie wir schon früher bemerkt haben, nur auf dem Hin­
tergrund der möglichen Abwesenheit bzw. der Unwirklichkeit dieses Referenten
denken und ausweisen. Wir werden noch sehen, daß diese These nicht der ein­
zige Punkt ist, in dem Busserls Lehre von der Urteilswahrheit vom Standpunkt
einer extensionalen bzw. realistischen Bedeutungstheorie abweicht.

Wahrheit des Urteils und die Gesetze eigentlichen Denkens

Erkenntnis - und das heißt für Busserl im wesentlichen wissenschaftliche Er­


kenntnis - ist ein komplexer Akt befriedigten Erkenntnisinteresses bzw. ge­
rechtfertigter Erkenntnisprätention. Doch worauf richtet sich dieses Interesse,
was prätendiert bzw. setzt die Erkenntnisintention? Beschränken wir uns wei­
terhin auf den Fall sprachlich vermittelter Erkenntnisakte, so liegt ihre Prä­
tention darin, daß die Sachen sich wirklich so verhalten, wie wir es behaup­
ten. Gerrauer besehen kann diese Prätention aber verschieden verstanden
werden:
1) als Behauptung über die wirkliche Existenz des Referenzgegenstandes;
2) als Behauptung darüber, daß dem als so und so seiend behaupteten Gegen­
stand die jeweiligen Eigenschaften wirklich zukommen;
3) als Behauptung darüber, daß der Gegenstand nicht bloß so und so ist, son­
dern nur so und so und nicht auch noch anders ist.
Da Busserl, wie wir schon gesehen haben, die Referenz auf dem Hintergrund
der intentionalen Bedeutungsintention faßt und da jeder intentionale Akt sei­
nen Gegenstand nicht nur bezeichnet (denoting), sondern zugleich auch be­
stimmt (connoting), sind die Prätentionen 1) und 2) voneinander nicht zu
trennen. Ein gültiger Erkenntnisakt ist also entweder eine Aussage, die nicht
mehr sagt, als was zugleich anschaulich selbstgegeben ist - oder aber eine an­
schaulich erfüllte Aussage, die alles sagt, was über den Sachverhalt überhaupt
positiv gesagt werden kann. Beide Aussagen sind nach Husserl als anschaulich
voll erfüllte Aussagen evidente Erkenntnisakte; für die erste Aussage bedeutet
Evidenz jedoch anschauliche »Bestätigung durch eine korrespondierende und
vollaugepaßte Wahrnehmung<<, während die zweite Aussage evident im Sinne
der »vollkommensten [bzw. »letzten<< (§ 39)] Erfüllungssynthesis<< ist (§ 38).
Es gibt also Stufen der Vollkommenheit der Evidenz, und auch schon das Evi­
denzerlebnis im Sinne anschaulich voll befriedigter Intention ist im allgemei­
nen das Ergebnis eines komplexen, d. h. schrittweise fortschreitenden Erfül­
lungsprozesses. Das Ziel, welches diesen Prozeß stetiger Erfüllungssteigerung
regelt, bestimmt Busserl in den Logischen Untersuchungen als letzte bzw. adä-
§ 2. Wahres Urteilen und vernünftiges Denken 173

quate Evidenz. Das in unserem Erkenntnisinteresse implizierte Telos ist also


die vollkommene "Übereinstimmung zwischen Gemeintem und Gegebenem
als solchem<< (§ 39), die »Adäquation an die > Sache selbst «< (§ 37). Dieser Voll­
zug der >>letzten Erfüllungssynthese<< ist der (synthetische) phänomenologische
Erlebniszusammenhang, der den rechtmäßigen Ursprung der Begriffe >>Evidenz
im strengen Sinne<<, >>Wahrheit<< und >>Sein<< bildet. >>Sein<< heißt also in diesem
sich ganz am Vollzug des Erfüllungsprozesses bzw. des Erkenntnisaktes orien­
tierenden Zusammenhang nichts anderes als >>Wahrhaft-sein<< bzw. wirklich >>Be­
stehen<< des Gegenstandes (§ 39). Bestimmt man Wahrheit (in einem ersten Sinn)
als gegenständliches Korrelat der letzten Erfüllungssynthese und den Vollzug
dieser Erfüllungssynthese als Evidenz, so ist also Evidenz das synthetische Er­
lebnis der >>Vollen Übereinstimmung zwischen Gemeintem und Gegebenem als
solchem<<, d. h. >>Erlebnis der Wahrheit<< im Sinne des anschaulich ausgewiese­
nen Wahrhaft-seins eines Erkenntnisgegenstandes. Orientiert man hingegen
Wahrheit (in einem zweiten Sinn) nicht an der erfüllungsmäßigen Überein­
stimmung von Gemeintem und Gegebenem, sondern an der Übereinstimmung
zwischen den Akten des Vermeinens und Anschauens, so ist Wahrheit nicht
mehr synonym mit Wirklich-sein, sondern mit der Idee der Evidenz, d. h. der
Wesensstruktur des Erlebnisses letzter Erfüllungssynthese. Diese zweite Bestim­
mung des Zusammenhangs von Wahrheit und Evidenz entspricht also den Aus­
führungen der Prolegomena (vgl. oben S. 3 5 ff.), nur daß nun, im erkenntnis­
theoretisch bestimmten Zusammenhang der VI. Logischen Untersuchung, das
Evidenzerlebnis nicht (als >>Anwendung<<) vom Begriff idealer Wahrheit her be­
stimmt wird, sondern vielmehr der Wahrheitsbegriff in der phänomenologi­
schen Beschreibung des Evidenz- bzw. Erfüllungserlebnisses fundiert wird.
Diese Ausführungen der VI. Logischen Untersuchung sind nicht unproblema­
tisch und auch nicht Husserls letztes Wort zum Problemkreis Evidenz und Wahr­
heit. Fraglich erscheint insbesondere die Orientierung des strengen Evidenz­
begriffs am Begriff der adäquaten Erfüllungssynthese. Da die Forderung adä­
quater Selbstgegebenheit des Gegenstandes in weiten Gebieten wissenschaftli­
cher Erkenntnis und gerade auch im Gebiete logisch-apriorischer Erkenntnis
gar nicht eingelöst werden kann, muß man sich fragen, ob dadurch die Funk­
tion des Evidenzprinzips als methodischer Norm der phänomenologischen Wis­
senschaft nicht untergraben wird (vgl. Ströker). Und man kann sich überhaupt
fragen, ob die Ausrichtung wissenschaftlicher Erkenntnis auf das Telos der Adä­
quation die Idee eines vernünftigen Erkenntnisfortschrittes nicht eher zerstört
als fundiert (vgl. Bernet, 1978[b]). Wir können auf diese Fragen hier nicht weiter
eingehen und wollen uns statt dessen kurz auf die positiven und zukunftsträch­
tigen Aspekte der Husserlschen Wahrheitstheorie besinnen. Ein erstes Merk­
mal von Husserls Erkenntnis- und Wahrheitsbegriff ist es, daß die intuitioni-
174 6. Kapitel. Urteil und Wahrheit

stische Forderung nach der Selbstgegebenheit des Gegenstandes nicht sensuali­


stisch verstanden wird. Die für die Erkenntnistheorie relevante Form gegen­
ständlicher Selbstgegebenheit versteht Husserl als eine subjektive, synthetische
Tätigkeit und nicht etwa als bloßes Haben von »Dingelchen<<, welche als kau­
sal bedingte Vertreter des Ding-an-sich im Bewußtsein fungieren. Anschauliche
Repräsentation des Dinges ist wesentlich Apperzeption eines hyletischen Stof­
fes (vgl. oben S. 1 1 1 ff.) und wahrheitsstiftend ist diese anschauliche Repräsenta­
tion erst im synthetischen und erfüllungsmäßigen Zusammenhang mit einer
Erkenntnisintention. Die >>Adäquation an die Sache selbst<< (§ 37) bedeutet also
sinngemäß nicht Übereinstimmung von bewußtseinsmäßigem Repräsentanten
mit dem repräsentierten, in sich selbst vollbestimmten Ding-an-sich, sondern
Übereinstimmung von letzt-differenzierter Vermeinung u nd Gegebenheit des
Gegenstandes. Es soll hier nicht bestritten werden, daß Husserl sich in der VI.
Logischen Untersuchung vom Banne des alten Adäquationsbegriffs (adaequatio
rei et intellectus) noch nicht voll zu lösen vermag, doch der eigentliche Sinn seiner
Ausführungen weist deutlich in die Richtung der erfüllungsmäßigen Überein­
stimmung verschiedener subjektiver Akte und somit wohl auch in die Richtung
eines sich primär an der Kohärenz des Erkenntnislebens orientierenden Wahr­
heitsbegriffs. Jedenfalls ist überdeutlich, daß sich für Husserl das alte Problem
der »Brücke<< zwischen subjektiver Erkenntnistätigkeit und objektiver Sache
nicht mehr stellt und daß auch »Verifikation<< im Sinne des Vergleichs sprachli­
cher Behauptungen mit der >>wirklichen<< Beschaffenheit des Dinges, so wie es
»an sich selbst<< ist, für ihn nicht als ein Wahrheitskriterium gelten kann. Wahr­
heit betrifft vielmehr die Übereinstimmung verschiedener intentionaler Akte
bzw. ihrer Gegenstände, und die phänomenologische Wahrheitsanalyse widmet
sich vorzüglich der Formulierung der idealen Bedingungen der Möglichkeit die­
ser Übereinstimmung. Wenn wir nun die allgemeinen Bedingungen dieser Über­
einstimmung am Falle der Urteilswahrheit näher untersuchen, so darf dies nicht
so verstanden werden, als ob für Husserl das Urteilen der ursprünglichste Ort
des wahrhaften Erkennens wäre. Richtig ist zwar, daß kategoriale Akte Erkennt­
nisakte im ausgezeichneten Sinne sind, doch nicht alle kategorialen Akte sind
Sprechakte. Und in der Bestimmung der Wahrheit als »Übereinstimmung zwi­
schen Gemeintem und Gegebenem als solchem<< (erster Wahrheitsbegriff) ist
»Wahrsein<< nicht ein Urteils-, sondern ein Sachverhaltsprädikat.
Husserl bestimmt den Begriff der Urteilswahrheit im Ausgang vom Erlebnis
der Übereinstimmung des durch ein Erkenntnisinteresse animierten bedeutungs­
vollen Sprechaktes mit einem entsprechenden Akt kategorialer Anschauung des
Referenzgegenstandes. Die phänomenologische Erforschung der idealen Bedin­
gungen möglicher Urteilswahrheit hat also die Form einer Erforschung der
Bedingungen möglicher anschaulicher Erfüllung von Sprechakten, und dies heißt
§ 2. Wahres Urteilen und vernünftiges Denken 175

wiederum nichts anderes als Erforschung der Bedingungen des Vollzugs von
kategorialen Anschauungen (§§ 62 f.). Letztere Bedingungen zerfallen in zwei
Typen, je nachdem ob man die Kompossibilität kategorialer Formen oder ihre
Anwendbarkeit auf bestimmte sinnliche Stoffe im Auge hat. Es sind also analy­
tische und synthetische Bedingungen kategorialer Anschauung bzw. >>Wirkli­
cher oder möglicher Bedeutungserfüllungen<< zu unterscheiden. Die synthe­
tischen Bedingungen bestimmen - unter Voraussetzung der analytischen Be­
dingungen - aufgrund der anschaulichen Gegebenheit des sinnlichen Stoffes,
ob angesichts der >>jeweiligen Besonderheit« dieses Stoffes eine bestimmte >>ka­
tegoriale Formung« dieses Stoffes >>wirklich vollziehbar« ist (S. 190). Die analy­
tischen Bedingungen hingegen abstrahieren von der inhaltlichen Bestimmung
der sinnlichen Stoffe, d. h. sie behandeln diese sinnlichen Stoffe als >>bestimm­
te, aber beliebige« und >>in Identität mit sich selbst festgehaltene« (S. 1 89) »Va­
riabeln« (S. 195) in kategorialer Formung und Umformung. Die positive Aufgabe
der Erforschung dieser analytischen Bedingungen betrifft die Formulierung der
Idealgesetze, welche den >>ideal geschlossenen Kreis von möglichen Umgestal­
tungen der jeweils statthabenden Form in immer neue Formen« regeln (S. 190).
So ist z. B. diesen analytischen Gesetzen gemäß die Umformung des Satzes >>g
ist Teil von G« in >>G ist Ganzes von g« gültig, die Umformung in >>G ist Teil
von g« hingegen ungültig. Den synthetischen Gesetzen möglicher kategorialer
Anschauung genügt die Aussage >>g ist Teil von G und G ist Ganzes von g«
nur dann, wenn die mit g und G bezeichneten sinnlichen Gegenstände wirk­
lich, d. h. empirisch, in das Verhältnis von Teil und Ganzem zu bringen sind.
Wir werden jedoch noch sehen, daß die Verwirklichung nicht nur dieser syn­
thetischen Gesetze, sondern auch der universal-gültigen analytischen Gesetze
notwendig die Möglichkeit anschaulicher Gegebenheit individuell bestimmter
sinnlicher Gegenstände voraussetzt.
Kategoriale Akte, welche den analytischen und synthetischen Bedingungen
möglichen anschaulichen Vollzugs widersprechen, können nicht wahr sein. Aber
diese notwendigerweise bloß signitiv vollziehbaren kategorialen Akte brauchen
deswegen nicht sinnlos im Sinn des Unsinnes zu sein. Signitive kategoriale Ak­
te von der Art sprachlicher Ausdrücke sind sinnvoll, wenn sie den grammati­
schen Gesetzen gehorchen, aber erst dann möglicherweise wahr, wenn sie zudem
auch den Gesetzen möglicher kategorialer Anschauung gehorchen (vgl. auch
oben S. 44 ff.). Nennt man die signitiven kategorialen Akte >>uneigentliche Denk­
akte« und die anschaulichen kategorialen Akte >>eigentliche Denkakte« (S. 193),
so unterstehen die eigentlichen Denkakte notwendig auch den Gesetzen mög­
licher uneigentlicher Denkakte, aber diese uneigentlichen Denkakte unterste­
hen nicht notwendig den Gesetzen möglicher eigentlicher Denkakte: >>Aber
das Gebiet der Bedeutungen ist sehr viel umfassender als das der Anschauung«,
1 76 6. Kapitel. Urteil und Wahrheit

denn es gibt eine »unbegrenzte Mannigfaltigkeit von komplexen Bedeutungen


. . . , die sich zwar zu einheitlichen Bedeutungen zusammenschließen, aber zu
solchen, denen kein mögliches einheitliches Erfüllungskorrelat entsprechen
kann.<< (S. 192) Wahr ist also bloß diejenige Aussage, deren Bedeutungsinten­
tion bzw. uneigentlicher Denkakt (S. 1 93) durch eine entsprechende kategoria­
le Anschauung bzw. einen entsprechenden eigentlichen Denkakt anschaulich
erfüllt werden kann. Die Wahrheit einer sprachlichen Äußerung bzw. eines
Sprechaktes leitet sich also von der Möglichkeit des Vollzugs eines entsprechen­
den eigentlichen Denkaktes her und zwar so, daß erstens die Bedeutungsinten­
tion (in der Erfüllungseinheit) diesem eigentlichen Denkakt eindeutig entspricht
und zweitens die als uneigentlicher Denkakt gefaßte Bedeutungsintention sich
im sprachlichen Zeichen bzw. >>Wort<< »eindeutigen Ausdruck<< verschafft (vgl.
S. 1 9 1 ). Diese im eigentlichen Denkakt zentrierte Stufenfolge eindeutiger Ent­
sprechung bzw. Isomorphie von >>Wort<<, »Bedeutung<< und »Anschauung<< im­
pliziert zudem eine eindeutige Entsprechung von eigentlichem Denken und
seinen Gegenständen: »Die idealen Bedingungen der Möglichkeit kategorialer
Anschauung überhaupt sind korrelativ die Bedingungen der Möglichkeit der
Gegenstände kategorialer Anschauung, und der Möglichkeit von kategorialen
Gegenständen schlechthin.<< (S. 1 89)
Fügt sich Husserl mit diesen Ausführungen nicht vorbehaltlos dem Kanon
einer realistischen Bedeutungstheorie, die sich seit Aristoteles (vgl. De Interpret.,
S. 1 6a) an der eindeutigen Repräsentation des »Dinges<< in »Seelenzuständen<<
und dieser wiederum im sprachlichen »Wort<< orientiert? Diese Frage ist sicher
nur bedingt zu bejahen, denn in Husserls System bildet nicht das Ding, son­
dern das eigentliche Denken den Grundpfeiler des mehrstufigen sprachlichen
Repräsentationszusammenhangs. Der Akzent verschiebt sich also bei Husserl
von der bedeutungsmäßigen Verinnerlichung der Äußerlichkeit des Dings auf
die sprachliche Veräußerlichung des innerlichen Denkens. Der Wahrheitswert
eines Sprechaktes leitet sich her von einem entsprechenden Akt eigentlichen
Denkens. Angesichts der Äquivalenz von Bedingungen möglicher kategorialer
Anschauung und Bedingungen möglicher kategorialer Gegenstände ist auch die
Adäquation der Bedeutung an den Gegenstand nur eine korrelative Formulie­
rung des Erfüllungszusammenhangs von signitiver Bedeutungsintention und
kategorialer Anschauung. Ohne hier weiter in die Diskussion dieser Fragen ein­
treten zu können, wollen wir doch einige Konsequenzen dieses Busserlsehen
Systems isomorpher Entsprechung bzw. Repräsentation von Ausdruck - Be­
deutung - Anschauung - Erkenntnisgegenstand erwägen (vgl. Bernet, 198 1).
Eine erste Konsequenz dieses im Begriff der kategorialen Anschauung bzw. des
eigentlichen Denkens zentrierten Repräsentationszusammenhangs betrifft das
Verhältnis von Sprache und Denken. Eigentliche Denkakte erfüllen zwar mög-
§ 2. Wahres Urteilen und vernünftiges Denken 1 77

lieherweise Bedeutungsintentionen, eigentliche Denkakte und erfüllte Bedeu­


tungsintentionen sind »parallel<<, doch »nicht identisch<<: letztere folgen erste­
ren »getreulich nach<< (§ 63). Die eigentlichen Denkakte, von denen der
Wahrheitswert der Erkenntnis wesentlich abhängt, sind vorsprachlich, und
sprachliche Erkenntnisakte sind nur insofern möglicherweise gültig, als sie die­
sen vorsprachliehen anschaulichen Denkakten >>getreulich nachfolgen<< bzw. sie
zu >>eindeutigem Ausdruck<< bringen (ebenda). Diese Forderung eines Verhält­
nisses eindeutiger Repräsentation der Akte vorsprachliehen Denkens durch das
>>System der sie . . . ausdrückenden . . . Bedeutungen<< (ebenda) ist sprachphiloso­
phisch insofern bedenklich, als es höchstens für die als »Kleid<< des Denkens
fungierende ideale Sprache zutrifft und dem bedeutungsstiftenden normalsprach­
lichen Umgang mit sprachlichen Zeichen somit nicht Rechnung zu tragen ver­
mag. Die Ansetzung eines vorsprachliehen Wahrheitskriteriums hat auch eine
gewisse Privatisierung dieses Kriteriums zur Folge und zwar insofern, als der
Vollzug eines eigentlichen Denkaktes bzw. einer Erfüllungssynthese ein inner­
subjektives Ereignis ist, das der intersubjektiven Sprachgemeinschaft der wis­
senschaftlich Forschenden erst sekundär zugänglich gemacht werden kann. In
der Nachfolge von Heidegger hat man auch oft darauf aufmerksam gemacht,
daß Husserls Herleitung der Bestimmungen und des Seins wirklicher Gegen­
stände vom Vollzug eigentlicher Denkakte eine problematische Vorentschei­
dung der ontologischen Frage impliziert. Ähnlich wie bei den sprachlichen
Ausdrücken sind auch hier die Formen und das Sein der Gegenstände bloße
Spiegelungen der Bestimmungen des entsprechenden Erkenntnisaktes. Auch die­
ses Repräsentationsverhältnis ist ein einseitiges, das Sein des gegenständlich Sei­
enden bestimmt sich unter Hinsicht auf das rein theoretisch bestimmte Er­
kenntnissubjekt, nämlich als Erkannt-sein. Und wie schon im Falle der idealen
Sprache kann man sich auch hier fragen, ob diese erkenntnistheoretisch moti­
vierte Einschränkung der Seinsfrage eine bloß vorläufige Beschränkung oder
schon eine vorgreifende Entscheidung der Seinsfrage darstellt.

Sinnliche Erfahrung als Fundament wahren Urteils

Urteilen, aber auch Denken bestimmt Husserl als kategoriale Akte. Kategoria­
le Akte sind synthetische Akte der logischen Formung bzw. Umformung vor­
gegebener Stoffe. Diese formende Tätigkeit ist jedoch keine absolut selbständige
und spontane Verstandestätigkeit, denn sie setzt die notwendige Vorgegeben­
heit letztlich sinnlicher Stoffe voraus: »Es liegt in der Natur der Sache, daß letzt­
lich alles Kategoriale auf sinnlicher Anschauung beruht, ja daß . . . ein Denken
. . . ohne fundierende Sinnlichkeit ein Widersinn ist.<< (§ 60) Erinnern wir uns
178 6. Kapitel. Urteil und Wahrheit

daran, daß wir anschaulich erfüllte kategoriale Akte als Erkenntnisakte im präg­
nanten Sinn bezeichnet haben, so stellt sich die Frage, inwiefern die Vorgege­
benheit sinnlicher Stoffe nicht bloß deren Wesensbestimmung als kategoriale
Akte, sondern auch deren Wahrheitswert fundiert.
Die Rede von der Fundiertheit aller, ob signitiver oder anschaulicher katego­
rialer Akte hat einen doppelten Sinn je nachdem, ob man den Begriff der Fun­
dierung logisch oder phänomenologisch-genetisch faßt. In seinem logischen Sinn
genommen bedeutet die Fundiertheit kategorialer Akte, daß diese Akte qua syn­
thetische Akte den Vollzug der durch sie vereinheitlichten Partialakte implizie­
ren. Kategoriale Akte sind somit als synthetisierende Akte so in den Akten
schlichten Bezugs auf die synthetisierten Glieder fundiert, wie das einheitliche
Ganze in seinen mannigfaltigen Teilen. Dabei ist zu beachten, daß zwar diese
synthetisierten Glieder möglicherweise bereits (nominalisierte) kategoriale Ge­
genstände sein können, daß aber die kategoriale Komplikation einen absoluten
Anfang hat und daß also alle kategorialen Gegenstände letztlich in sinnlichen
Stoffen (logisch) fundiert sind. Betrachten wir den phänomenologischen Pro­
zeß des erlebnismäßigen Vollzugs des synthetischen Aktes, so fällt auf, daß den
synthetisierten Gliedern auch eine chronologische Priorität vor dem Vollzug
des synthetisierenden Aktes zukommt. In diesem zweiten Sinn genommen be­
deutet die Rede von der Fundiertheit kategorialer Akte also, daß die kategoria­
len Akte erst dann zu vollziehen sind, wenn die zugehörigen Partialakte bereits
vollzogen wurden.
Gehen wir nun über zur besonderen Klasse derjenigen kategorialen Akte, wel­
che signitive Akte wie die Bedeutungsintentionen anschaulich zu erfüllen ver­
mögen. Die Rede von der Fundierung kategorialer Akte in der Vor-Gegebenheit
der sinnlichen Stoffe erhält in diesem Fall einen neuen und engeren Sinn. Zum
anschaulichen (d. h. wirklich möglichen) Vollzug eines kategorialen und ins­
besondere eines synthetisch-kategorialen Aktes gehört nämlich neben der lo­
gischen Verträglichkeit der darin eingesetzten kategorialen Formen auch die
Anpassung dieser Formen an die Besonderheit ihres jeweiligen Stoffes. Erst wenn
dieser Stoff in seiner jeweiligen inhaltlichen Besonderheit anschaulich bzw. wahr­
nehmungsmäßig gegeben ist, ist auch gesichert, daß man ihn nicht in einen
unpassenden kategorialen Zusammenhang einbezieht. Der mögliche Vollzug
einer kategorialen Anschauung und auch die mögliche Wahrheit eines katego­
rialen Sprechaktes sind somit fundiert in der wahrnehmungsmäßigen Gegeben­
heit der als Stoffe fungierenden sinnlichen Gegenstände. So ist z. B. die Wahrheit
des Wahrnehmungsurteils »Der Bleistift ist rot<< in der Wahrnehmung eines ro­
ten Bleistifts fundiert. (Aber das Wahrnehmungsurteil bzw. seine Bedeutung ist
in der Wahrnehmung nicht enthalten, da der kategorialen Form der prädikati­
ven Identifikationssynthese keine wahrnehmungsmäßi ge Gegebenheit ent-
§ 2. Wahres Urteilen und vernünftiges Denken 179

spricht.) Wie steht es nun aber mit dieser notwendigen Fundiertheit in der sinn­
lichen Wahrnehmung der Stoffe, wenn wir von den synthetisch wahren Urtei­
len zu den analytisch wahren Urteilen (wie etwa »G ist Ganzes von g und g
ist Teil von G<<) ü bergehen? Als Stoffe fungieren hier doch bloße Variabeln und
variable, d. h. unabhängig von ihrer inhaltlichen Besonderheit betrachtete, >>be­
liebige<< Stoffe fallen jedenfalls nicht in den Bereich sinnlichen Sehens. Ande­
rerseits sind Stoffe, die als beliebig variable, jedoch mit sich selbst durchgehend
identische Stoffe kategorialer Formung fungieren, aber doch auch nicht not­
wendig schon als (materiale oder formale) Wesensallgemeinheiten zu bezeich­
nen. (Als Wesen im Sinne von >>Modis des Etwas-überhaupt<< fungieren diese
>>beliebigen, nur als identisch festzuhaltend gedachten Kerne<< (vgl. FTL, § 55)
wohl erst dann, wenn analytisch wahre Aussagen zu gesetzesmäßigen Aussagen
verallgemeinert werden.) Husserl scheint in den Logischen Untersuchungen deut­
lich die Ansicht zu vertreten, daß auch der wirklich mögliche, d. h. anschauli­
che Vollzug eines analytischen kategorialen Aktes in der anschaulichen
Gegebenheit der sinnlichen Stoffe fundiert ist, und zwar so, daß im wirklichen
Vollzug des kategorialen Aktes eine zumindest phantasiemäßige Vorstellung ir­
gendeines in die eingesetzte kategoriale Form passenden sinnlichen Gegenstan­
des vorausgesetzt ist (vgl. § 62, S. 189 f.). In der Formalen und transzendentalen
Logik ergänzt Husserl diese frühen Untersuchungen durch den Nachweis, daß
analytisch wahre Aussagen und insbesondere formal-logische Gesetze sich nicht
bloß in ihrer Erfassung bzw. ihrem erkenntnistheoretisch verantworteten Voll­
zug auf die anschauliche Gegebenheit sinnlicher Gegenstände beziehen, son­
dern daß diese Gesetze sich auch in ihrer Anwendung letztlich notwendig auf
sachhaltige Individuen beziehen (§ 82). Werden die rein logischen Gesetze als
Gesetze möglicher Wahrheit verstanden (vgl. oben S. 44 f.) , so bedürfen ihre
>>idealisierenden Voraussetzungen<< (§§ 73 ff.) bezüglich ihrer möglichen Anwen­
dung in wirklicher Erfahrung der kritischen Aufklärung. Die formal-logische
Wahrheitslogik impliziert also Behauptungen, die sich sowohl auf sachhaltiges,
individuelles Sein als auch auf dessen anschaulich-sinnliche Erfahrung bezie­
hen. Die kritische Rechtfertigung dieser (impliziten) Behauptungen ist eine Auf­
gabe, die nicht durch die formale Logik selbst, sondern nur durch eine tran­
szendentale Logik des welterfahrenden Lebens zu bewältigen ist. Husserl ging
in dieser phänomenologisch-genetischen Fundierung der formalen Logik so­
weit, eine >>Vorprädikative<< »syntaktische Leistung<< dieser ,,fundierenden Er­
fahrung<< zu postulieren (vgl. § 86), doch wir können hier auf diese spätere
Entwicklung der Problematik der Fundierung des Urteils in der Erfahrung nicht
mehr eingehen.
Der wichtigste Ertrag von Husserls frühen Analysen der Urteilswahrheit ist
wohl der Hinweis auf die notwendige Fundierung sprachlicher Erkenntnisakte
1 80 6. Kapitel. Urteil und Wahrheit

durch nicht-sprachliche kognitive Leistungen. Wahre Urteilsakte sind im we­


sentlichen bloß sprachliche Realisierungen bzw. Ausdrücke von Akten »eigent­
lichen Denkens<<, und diese eigentlichen Denkakte sind die Erkenntnisakte im
prägnanten Sinn. Eigentliches Denken ist nun aber nach Husserls Auffassung
notwendig fundiert in sinnlicher Anschauung, und Husserl zögert deswegen
nicht, auch diese sinnlichen Akte bereits als kognitive Akte zu bezeichnen. Es
ist zwar richtig, daß diese vor-sprachlichen Akte nur im Medium der Sprache
wissenschaftlich erforscht werden können, doch Husserl weigert sich (im Ge­
gensatz zu einer breiten Strömung des heutigen philosophischen Denkens), dar­
aus zu folgern, daß alle kognitiven Leistungen wesensmäßig die Sprache bereits
voraussetzen und somit als sprachliche Leistungen zu bezeichnen sind. Eine
Überprüfung dieser Hypothese unter Berücksichtigung der neueren Ergebnis­
se der kognitiven Psychologie ist ein wichtiges Desiderat der Aktualisierung
von Husserls erkenntnistheoretischer Problemstellung. 1

1 Ausgewählte Literatur zum 6. Kapitel: J. E. Atwell (1977): S. 83 -93; R. Bernet (1979): S. 3 1-64;
J. Derrida ( 1967[a] und [bl); J. Derrida ( 1972); E. Husserl Phaenomenologica 25 (1968); E. Ströker
(1978): S. 3 - 30; E. Tugendhat ( 1967); E. Tugendhat (1976); K. Twardowski ( 1 894).
7. Kapitel
Statische und genetische Konstitution

Husserls Unterscheidung von statischer und genetischer Phänomenologie ge­


hört einer relativ späten Phase seiner Entwicklung an. Vor der Etablierung dieses
Unterschiedes war das Verhältnis seines Philosophierens zu genetischen Pro­
blemen der Subjektivität ein wechselvolles. Während er in seinem ersten Werk,
in der Philosophie der Arithmetik ( 1 89 1), die psychologische Entstehung oder
Genesis der arithmetischen Grundbegriffe (Einheit, Vielheit und Anzahl) auf­
zuklären versucht (vgl. oben, 1 . Kap. § 1), will er in seiner Phänomenologie
(»deskriptiven Psychologie<<) der Logischen Untersuchungen ( 1 900/0 1) alle ge­
netischen Betrachtungen ausgeschlossen wissen. Angeregt durch Freges Kritik,
hat er die logischen und mathematischen Begriffe als objektive, gegenüber dem
Psychischen an sich seiende ideale Gegenstände aufzufassen gelernt; ihre phä­
nomenologische Aufklärung kann für ihn nicht in einer Untersuchung ihrer
subjektiven Genesis, sondern nur in der Analyse ihrer ursprünglichen,, d. h.
anschaulichen Gegebenheitsweise im Bewußtsein bestehen. In den Logischen Un­
tersuchungen unterscheidet Husserl Phänomenologie (>>deskriptive Psychologie<<)
und (empirische) Psychologie geradezu durch den Begriff der Genesis: die rei­
ne Phänomenologie beschreibt die Erlebnisse, während die Psychologie ihre
genetische Erklärung gibt ( 1 . Aufl., 2. Band, S. 4, 8). Doch schon in den Ideen
( 1 9 13) und in der zweiten Auflage ( 1 9 13) der Logischen Untersuchungen läßt er
diesen Begriff als Unterscheidungskriterium von Phänomenologie und Psycho­
logie fallen und verwendet ihn, allerdings noch selten, auch innerhalb der rei­
nen Phänomenologie. Doch hat dieser Begriff hier noch nicht seine eigentliche
Bedeutung, in der er ein zeitliches Entstehen und Werden bezeichnet. Erst in
den Jahren 1 9 1 7 - 192 1 entwirft Husserl die Idee einer eigentlich genetischen
Phänomenologie. Allerdings hat es diese Phänomenologie auch nicht mit ei­
ner empirischen Kausalerklärung zu tun, sondern mit einer apriorischen Ec
fassung von Motivationszusammenhängen des transzendentalen Bewußtseins. '
Die Phänomenologie Husserls ist aber von nun an nicht einfach genetisch, son­
dern ihre erste Aufgabe verbleibt weiterhin eine >>Statische<< Analyse der Erleb­
nisse und der Gegenstandskonstitution im Bewußtsein; doch dieser >>statischen<<
Phänomenologie hat nun als ein zweiter Schritt eine genetische Analyse der

1 Vom Gesichtspunkt dieser genetischen Phänomenologie kann Husserl den psychologisch­


genetischen Überlegungen seiner Philosophie der Arithmetik wiederum eine gültige Seite abgewin­
nen.
1 82 7. Kapitel. Statische und genetische Konstitution

Konstitution zu folgen.2 Die Zweiteilung der reinen oder transzendentalen


Phänomenologie in eine statische und genetische, bzw. die Unterscheidung von
statischer und genetischer Konstitution hat Husserl vo n nun an immer auf­
recht zu halten versucht, obschon ihm eine konsequente und konsistente Aus­
arbeitung dieser Differenz nie völlig gelungen zu sein scheint. Die Ansätze für
eine solche Unterscheidung sind zwar bei Husserl deutlich und einleuchtend,
aber die Grenzen sind dann doch nicht immer klar. Der Grund für diese Un­
klarheit scheint uns darin zu liegen, daß Husserl die Methodologie der geneti­
schen Konstitutionsanalyse nicht klar genug ausarbeitete.
Was Husserl unter >>genetischer Phänomenologie<< versteht, ist am besten in
Abhebung von ihrem Gegenbegriff, der statischen, zu fassen: Die statische Phä­
nomenologie geht von festen Gegenstandsarten aus, von realen (z.B. Naturdin­
gen) und idealen (z.B. mathematischen Sätzen), und untersucht noetisch und
noemarisch die Erlebniszusammenhänge, in denen diese Gegenstandsarten te­
leologisch zur Gegebenheit kommen. Dabei werden diese Gegenstände in >>phä­
nomenologischer Reduktion« rein als gegenständliche Korrelate von Bewußt­
seinsweisen betrachtet. Die Absicht ist dabei, Sinn und Geltung dieser Gegen­
stände im Rückgang auf ihre Bekundungs- oder Ausweisungssysteme im ur­
sprünglich gebenden Bewußtsein aufzuklären (vgl. Hu XIV, S. 40/4 1 ). Cha­
rakteristisch für die statische Konstitutionsanalyse ist ein Zweifaches: Sie hat,
erstens, feste Gegenstände, eine feste >>Ontologie«, zu ihrem Leitfaden und sie
geht, zweitens, Erlebnissen nach.
Wie schon angedeutet, gebraucht Husserl schon zur Zeit seiner Ideen ( 1 9 1 3)
den Ausdruck >>Genesis«, aber der Begriff in seiner damaligen Fassung führt
noch nicht über die soeben umrissene >>Phänomenologie der ontologischen Leit­
fäden und der Erlebnisse« hinaus. Er verwendet damals dieses Wort etwa, um
die konstitutive Phänomenologie (die >>statische«, wie er später sagen würde)
gegenüber der Ontologie zu charakterisieren: Während die Ontologie die ge­
genständlichen Einheiten als feste Identitäten nimmt, betrachtet die Phänome­
nologie >>die Einheit im Fluß, nämlich als Einheit eines konstituierenden Flusses,
sie verfolgt die Bewegungen, die Abläufe, in denen solche Einheit und jede Kom­
ponente, Seite, reale Eigenschaft solcher Einheit das Identitätskorrelat ist. Die­
se Betrachtung ist gewissermaßen kinetisch oder > genetisch < . . . Jede Erkennt­
niseinheit . . . hat ihre > Geschichte <, oder auch, korrelativ gesprochen, das Be­
wußtsein von diesem Realen hat seine > Geschichte <, seine immanente Teleolo­
gie in Form eines geregelten Systems wesenhaft zugehöriger Bekundungs- und
Beurkundungsweisen, die sich aus ihm herausholen, ihm abfragen lassen« (Hu V,

1 Für Husserls Konzeption einer genetischen Phänomenologie scheint der Einfluß des Marburger
Neukantianers, Paul Natorp, nicht unbedeutend gewesen zu sein.
7. Kapitel. Statische und genetische Konstitution 1 83

S. 129). Aber nach Husserls späterer Auffassung ist die Analyse dieser teleolo­
gisch auf ursprüngliche Gegebenheit eines Gegenstandes, bzw. auf Erfüllung
der Intentionen ausgerichteten »Bekundungs- und Beurkundungssysteme<< noch
nicht im eigentlichen Sinn genetisch. Diese Systeme sind zwar Regeln zeitli­
cher Abläufe von Bewußtseinsmannigfaltigkeiten, aber diese Abläufe sind nur
die subjektiven Korrelate einer festen Identität, nämlich des in ihnen zur Gege­
benheit kommenden Gegenstandes. In der eigentlich genetischen Phänomeno­
logie wird es nicht mehr darum gehen, diese fertigen Korrelationssysteme zu
analysieren, sondern nach ihrer Genesis zu fragen: »Der Konstitution nachge­
hen ist nicht der Genesis nachgehen, die eben Genesis der Konstitution ist . . . <<
(Hu XIV, S. 41).
Noch in einem anderen uneigentlichen Sinn spricht Husserl zur Zeit der Ideen
( 1 9 1 3) von »Genesis<<: Die Phänomenologie betrachtet nicht nur vereinzelt oder
rhapsodisch die konstituierenden Bewußtseinsmannigfaltigkeiteil dieser oder je­
ner Gegenständlichkeit, sondern sie bringt diese konstitutiven Systeme in ei­
nen Zusammenhang. Dieser Zusammenhang ist ein »Stufenbau<< nach dem
Prinzip der Fundierung: Die Konstitution gewisser Gegenständlichkeiten setzt
diejenige anderer voraus: so setzt etwa die Konstitution kategorialer Sachver­
halte die Konstitution von sinnlichen Wahrnehmungsgegenständen voraus, oder
die Konstitution fremder psychischer Wesen diejenige von Raumdingen. Von
dieser Stufenordnung, in der das >>Obere<< das >>Untere<< als seine Bedingung der
Möglichkeit voraussetzt, sagt Husserl: >>Man kann sich die Stufenbildung der
Konstitution am Bilde einer Genesis vorstellig machen, indem man sich fin­
giert, Erfahrung vollzöge sich wirklich erst in den Gegebenheiten der unter­
sten Stufe allein, es trete dann das Neue in der neuen Stufe auf, womit neue
Einheiten sich konstituieren usw.<< (Hu V, S. 125) Aber nach Husserls eigener
Rede ist >>Genesis<< hier nur ein fiktives Bild. Denn in dieser Stufenordnung
>>Wird nicht das Bedingte aus dem Bedingenden<< erklärt (Hu XIV, S. 41), ja es
wird nicht einmal eine zeitliche Priorität des Bedingenden behauptet.
Schließlich spricht Husserl noch in einem dritten Zusammenhang, der be­
reits in seiner früheren Phänomenologie auftritt, von Genesis: bei der Konsti­
tution der Zeit. Die Zeitlichkeit ist nicht nur die universale Form der Genesis,
sondern diese selbst baut sich in einer >>beständigen passiven und völlig univer­
salen Genesis<< auf (Hu I, S. 1 1 4; vgl. Hu XIV, S. 39, 41). In den Cartesianischen
Meditationen wird die Konstitution des inneren Zeitbewußtseins zu den >>gene­
tischen Problemen der ersten und fundamentalsten Stufe<< gerechnet (S. 1 69,
vgl. S. 1 09). Dieser Konstitution hatte sich Husserl bereits in Vorlesungen von
1 904/05 gewidmet (vgl. Hu X) und er dürfte sich auf diese Problematik bezie­
hen, wenn er 1 9 1 8 an Paul Natorp schreibt, daß er seit mehr als einem Jahr­
zehnt die Stufe des statischen Platonismus überwunden und der Phänomeno-
184 7. Kapitel. Statische und genetische Konstitution

logie als Hauptthema die Idee der transzendentalen Genesis gestellt habe.3 Hus­
serl gebraucht hier das Wort, nachdem er eine genetische Phänomenologie kon­
zipiert hat, und er scheint es auch in einem eigentlichen Sinne zu gebrauchen.
Doch ist die Lage nicht eindeutig, denn er hält die Bezeichnung der ursprüng­
lichen Zeitkonstitution als eine Genesis nicht konsequent fest. So kann er etwa
anfangs der zwanziger Jahre erklären, daß es keine Frage nach einer Genesis
sei, wenn wir »Von den originalen Impressionen . . . übergehen in den Beschrei­
bungen zu all den modalen Abwandlungen in Retentionen, Widererinnerun­
gen, Erwartungen usw. und damit ein Prinzip systematischer Ordnung der
Apperzeptionen verfolgen . . . << (Hu XI, S. 340). Auch eine Stelle der Cartesiani­
schen Meditationen scheint erst über die Zeitformung hinausgehende Fragen zur
genetischen Phänomenologie zu rechnen (S. 1 1 0). Diese Schwierigkeit in der
Auffassung des ursprünglichen Zeitbewußtseins unter dem Gesichtspunkt der
Genesis scheint daher zu rühren, daß dieses Bewußtsein als stetiger Wandel (»Mo­
difikation<<) von Urimpression in Retention nicht nur notwendig die Form ei­
ner Genesis, sondern als Form ein "fluß,, ist, aber doch etwas Beständiges, sich
nicht Veränderndes (vgl. oben, 3. Kapitel, § 2). Solange das Zeitbewußtsein
nur in seiner Form betrachtet wird, hat es jedenfalls nicht ein Werden wie sei­
ne verschiedenen Inhalte (seine Apperzeptionen). So ist die Phänomenologie
des Zeitbewußtseins, sofern sie der bloßen Zeitform nachgeht, nicht im sonst
bei Husserl üblichen Sinne genetische Phänomenologie, sondern deren Grund­
lage, indem sie die Grundlage der Genesis herausstellt. Doch wäre sie anderer­
seits insofern wiederum genetische Phänomenologie, als sie sich nicht auf die
bloße Zeitform beschränkt, sondern Inhalte mit in Rechnung zieht (und bei
Husserls Begriff der Protention auch ziehen muß) . »Bloße Form ist freilich ei­
ne Abstraktion, und so ist die intentionale Analyse des Zeitbewußtseins und
seiner Leistung von vornherein eine abstraktive. Sie erfaßt, interessiert sich nur
für die notwendige Zeitform aller einzelnen Gegenstände und Gegenstandsviel­
heiten, bzw. korrelativ für die Form der Zeitliches konstituierenden Mannig­
faltigkeiteil . . . Aber was dem jeweiligen Gegenstand inhaltliche Einheit gibt,
was Unterschiede des einen und anderen inhaltlich ausmacht, und zwar für das
Bewußtsein und aus seiner eigenen konstitutiven Leistung, was Teilung und Teil­
verhältnis bewußtseinsmäßig möglich macht u. dgl. - das sagt uns die Zeitana­
lyse allein nicht, da sie ja eben von dem Inhaltlichen abstrahiert. So gibt sie
auch keine Vorstellung der notwendigen synthetischen Strukturen der strömen­
den Gegenwart und des Einheitsstromes der Gegenwart, die irgendwie die Be­
sonderheit des Inhalts betreffen<< (Hu XI, S. 128). Der Begriff, der solchen
inhaltlichen Zusammenhängen, sofern sie die fundamentalen, bloß passiven Ein-

3 Brief vom 29.6. 1 9 1 8, zitiert bei Kern, Husserl u. Kant, S. 346 f.


7. Kapitel. Statische und genetische Konstitution 185

heitsbildungen des Bewußtseins betreffen, Rechnung zu tragen vermag, ist nach


Husserl der Begriff der Assoziation, die das »universale Prinzip der passiven
Genesis<< darstellt (Hu I, S. 1 1 3).
Aber fragen wir nun, was nach Husserl die Idee der genetischen Phänome­
nologie eigentlich ausmacht! Ihre Grundeinsicht ist wohl die folgende: Das Ich
ist kein leerer >>Identitätspol<<, keine bloße Form in aufeinanderfolgenden Ak­
ten oder intentionalen Erlebnissen (wie dies in den Ideen I (19 13) dargestellt wur­
de), sondern ein Ich, das seine Vermögen (im Bewußtsein des >>ich kann das
und das tun<<), seine Stellungnahmen und Überzeugungen besitzt. Nur in sol­
chen Vermögen und Überzeugungen ist für das Ich eine Welt als >>Könnensho­
rizont<< vorgegeben, aus der es sich auf verfügbaren Wegen der Bekundung und
der Ausweisung irgendwelche Objekte zur Gegebenheit bringen kann. Diese
Vermögen und Überzeugungen weisen auf frühere Erfahrungen und Setzun­
gen zurück, sie sind vom Ich erworbene Habitualitäten: >>Daß für mich eine Natur
ist, eine Kulturwelt, eine Menschenwelt mit ihren sozialen Formen usw. , be­
sagt, daß Möglichkeiten entsprechender Erfahrungen für mich bestehen - als
für mich jederzeit ins Spiel zu setzende, ob ich gerade solche Gegenstände wirk­
lich erfahre oder nicht; in weiterer Folge, daß ihnen entsprechende andere Be­
wußtseinsmodi, vage Meinungen u. dgl. als Möglichkeiten für mich sind und
daß ihnen auch Möglichkeiten zugehören, sie durch Erfahrungen vorgezeich­
neter Typik zu erfüllen oder zu enttäuschen. Darin liegt eine fest ausgebildete
Habitualität - eine ausgebildete, aus einer gewissen, unter Wesensgesetzen ste­
henden Genesis erworbene.<< (Hu I, S. 109/ 1 0). Schon z. B. darin, daß ich et­
was als ein Raumding apperzipieren kann, das in einer Ordnung von Erschei­
nungen zur Gegebenheit zu bringen ist, liegt ein erworbenes Vermögen, eine
Habitualität, die ihren genetischen Ursprung und ihre Geschichte hat. Diese
Geschichte ist zugleich Geschichte des Ich und Geschichte seiner Gegenstände
als für es seiender, ihm mit diesem oder jenem Sinn geltender. >> . . . Leben ist,
wo immer es zur Fassung kommt, schon Fortleben, das Leben hinter sich wie
neben sich hat, aber nicht in einer bloß natur.tlen Äußerlichkeit, vielmehr in
der Innerlichkeit einer intentionalen Tradition. Leben ist durch und durch, kön­
nen wir auch sagen, historisch, das Fortleben ist hervorgehend aus einem Le­
ben, aus dem es seine Sinnes- und Seinsvorzeichnung hat, eine Vorzeichnung,
in der aber als historische ihre historische Abkunft selbst beschlossen ist, als
etwas also, das aus ihr wieder zu erschließen, das zu enthüllen, das ihr abzufra­
gen ist<< (Vorlesung >>Natur und Geist<< vom SS 1927; Ms. F I 32, S. 1 63a).
Wohl schon um 1 9 1 5 ist Husserl eine solche Genesis bewußt geworden\ und
4 Vgl. Ms. B IV 6, S. Sa; gewisse Ansätze zu genetischen Betrachtungen reichen sogar bis zum
ersten Entwurf von Ideen II ( 1 9 12) zurück: vgl. Ms. F III 1, S. l l a/b (zitiert bei E. Marbach, Das
Problem des Ich ... S. 306). Damals sind diese Ansätze aber wohl noch bloß psychologisch verstanden.
186 7. Kapitel. Statische und genetische Konstitution

in den Jahren 1 9 1 7 - 1921 arbeitet er unter dem Titel einer genetischen Phäno­
menologie die Aufgabe aus, solcher Geschichte nachzugehen. Während also die
statische Phänomenologie bloß bereits ausgebildete, "fertige<< konstitutive Sy­
steme durchleuchtet, indem sie nach Wesensgesetzen geregelte Abläufe von in­
tentionalen Erlebnissen beschreibt, in denen Gegenstände einer gewissen Art
zur Gegebenheit kommen, fragt die genetische Phänomenologie nach dem Ur­
sprung solcher Systeme selbst, in ihr geht es um die Genesis dieser Konstitu­
tion und damit zugleich um die Genesis der darin konstituierten Gegenstandsart;
der Gegenstand ist nicht mehr fixer Leitfaden wie in der statischen Phänome­
nologie, sondern ein Gewordenes: Die Phänomenologie der Genesis »Verfolgt
die Geschichte . . . dieser Objektivierung und damit die Geschichte des Objekts
selbst als Objektes einer möglichen Erkenntnis<< (Hu XI, S. 345). Dabei ist aber
nicht die faktische Geschichte einzelner Apperzeptionen in Frage, sondern die
allgemeine Form oder Typik dieser Geschichte, die Husserl als ein Apriori oder
Wesen betrachtet.5 Es handelt sich um Wesensgesetze der Kompossibilität und
Sukzession, die den Grundcharakter eines Motivationszusammenhanges haben
(vgl. Hu XI, S. 3 3 6 ff. und Hu I, §§ 36 f.).
Innerhalb der genetischen Phänomenologie unterscheidet Husserl zwei Grund­
formen der Genesis: aktive und passive Genesis (vgl. Hu XI, S. 342 f. und Hu I,
S. 1 1 1 ff.). Zur aktiven Genesis gehören die Leistungen der erzeugenden Ver­
nunft: die Leistung von realen Kulturerzeugnissen (wie Kunstwerke, Werkzeu­
ge) und von idealen Gegenständen (wie Prädikate und prädikative Sachverhalte,
Schlüsse und Theorien, Mengen und Zahlen). Das Programm für die geneti­
sche Analyse der logischen Gebilde hat Husserl in Formale und transzendenta·
le Logik entworfen: Urteile enthalten in Form von »verborgenen intentionalen
Implikationen<< eine sedimentierte Sinnesgenesis; soll Klarheit über die verbor­
genen Voraussetzungen der verschiedenen Urteilsgestalten geschaffen werden,
ist diese Sinnesgeschichte zu enthüllen. So weisen etwa nominalisierte Sinnge­
stalten (»das Rot<<, >>dies, daß S p ist<<) in sich genetisch zurück auf die entspre­
chende ursprünglichere Gestalt (>>fOt<<, >>S ist p<<). Genetisch ursprünglich ist nach
Husserl in diesem Zusammenhang ein Doppeltes: einmal die jeweils ursprün­
glichere Gestalt, weiter aber auch die ursprünglich erwerbende Aktivität, in

5 »Diese > Geschichte < des Bewußtseins (die Geschichte aller möglichen Apperzeptionen) betrifft
nicht die Aufwe isung faktischer Genesis für faktische Apperzeptionen oder faktische Typen in ei­
nem faktischen Bewußtseinsstro m oder auch in dem aller faktischen Menschen . . . , vielmehr jede
Gestalt von Apperzeptionen ist eine Wesensgestalt und hat ihre Genesis nach Wesensgesetzen, und
somit liegt in der Idee solcher Apperzeption beschlossen, daß sie einer > genetischen Analyse < zu
unterziehen ist. Und nicht das notwendige Werden der jeweiligen einzelnen Apperzeption (wenn
sie als Faktum gedacht ist) wird gegeben, sondern es ist mit der Wesensgenesis nur gegeben der
Modus der Genesis, in dem irgendeine Apperzeption dieses Typus in einem individuellen Bewußt­
seinsstrome ursprünglich entstanden sein mußte . ( Hu XI, 5. 339).
..«
7. Kapitel. Statische und genetische Konstitution 187

der das neue logische Gebilde auf der Grundlage der ursprünglicheren Gestalt
erzeugt wird; >>die ursprünglich erwerbende Aktivität ist die > Evidenz< für die­
se Idealitäten<< (a.a.O. , S. 1 50). Die unterste Stufe, auf die die genetische Analyse
des Logischen zurückführt, bilden die Individualurteile, und diese weisen ih­
rerseits genetisch zurück auf die vorprädikative Erfahrung (vgl. a.a.O. , §§ 85,
86). Die in passiven Synthesen verlaufende Erfahrung ist der passive Untergrund
für die aktive Urteilserzeugung, wie denn überhaupt jede aktive Genesis als
ihre Grundlage eine vorgebende Passivität voraussetzt. Diese Fundiertheit ist
bei Husserl geradezu die Definition der Aktivität.
Die Passivität hat nun aber ihrerseits ihre Genesis, die passive Genesis, deren
universales Prinzip die Assoziation ist. Husserl sagt 1929, daß die Phänomeno­
logie erst »sehr spät Zugänge zur Erforschung der Assoziation gefunden hat<<
(Hu I, S. 1 14). Dies entspricht der Tatsache, daß Husserl in der Assoziation
ein wesentlich genetisches Prinzip sah, mit dem er sich erst in seiner spät kon­
zipierten genetischen Phänomenologie wirklich befassen konnte (vgl. die Er­
örterung des Assoziationsbegriffs in der 1 . Auflage der Logischen Untersuchungen,
2. Band, S. 29). »Assoziation<< bezeichnet für Husserl nicht bloß eine empiri­
sche Gesetzlichkeit der Komplexion von psychischen Daten, sondern sie ist ein
»höchst umfassender Titel für eine intentionale Wesensgesetzlichkeit der Kon­
stitution des ego<< (Hu I, S. 1 14).5 Er macht vor allen zwei Assoziationsformen
geltend: 1. Assoziation als Prinzip der Einheitsbildung, der Integration und Kon­
figuration, verschiedener Momente in der Koexistenz und Sukzession inner­
halb des unmittelbaren Gegenwartsbewußtseins (z. B. Gruppen von Farbflecken,
Tonfolgen) durch gegenseitige affektive Weckung oder Verstärkung der auf die­
se Momente gerichteten Intentionen aufgrund von Kontiguität, Ä hnlichkeit und
Kontrast; 2. als Prinzip der Apperzeption von Gegenständen als Gegenstände
eines bestimmten Sinnes aufgrund der assoziativen Weckung früherer Erfah­
rung und der davon ausgehenden analogisierenden Sinnesübertragung. Diese
Sinnesübertragung ist eine assoziative »Induktion<< oder induktive Assoziation,
indem der bisherigen Erfahrungstypik Entsprechendes erwartet wird. Das Ge­
genwärtige wird aufgrund von Ä hnlichkeiten passiv aufgefaßt in einem in frü­
herer Erfahrung »ursprünglich gestifteten<< und habituell gewordenen Sinn.
»Durch die Assoziation erweitert sich die konstitutive Leistung um alle Stufen
der Apperzeption<< (Hu XI, S. 1 1 8). Nicht nur passive Einheitsbildungen, son­
dern auch aktiv erzeugte Sinngestalten werden zu einem habituellen Erwerb
des Subjekts und können durch Assoziation in einer »sekundären Sinnlichkeit<<
passiv geweckt und auf Gegenwärtiges übertragen werden. Solches vor Augen

6 Noch 1910 betrachtete Husserl die Assoziationsgesetze nur als »ungefähre Regeln«, nicht als
Wesensgesetze (vgl. Hu XIII, S. 83).
188 7. Kapitel. Statische und genetische Konstitution

sagt Husserl: >>Gewohnheit ist, wie Hume richtig lehrt, unsere Amme nicht
nur, sondern die die Welt - ja alle Objektivität gestaltende und beständig fort­
gestaltende Bewußtseinsfunktion. > Gewohnheit < ist die Urquelle aller objekti­
ven Sinngebung, Gewohnheit als Induktion, aber freilich in Begleitung mit
entsprechender Erfüllung, die beständig die ursprünglich daseinskonstitutierende
Kraft ist<< (Vorlesung >>Natur und Geist« vom SS 1927, Ms. F I 32, S. 1 62a).
Mit dieser Skizze der passiven und aktiven Genesis verschiedener Arten von
Bewußtseinsgegenständlichkeiteil ist aber Husserls Idee einer genetischen Phä­
nomenologie noch nicht umrissen. Solche Gegenstände sind für das Ich in er­
worbenen Apperzeptionen, Vermögen, Dispositionen, Überzeugungen, und in
diesen Habitualitäten wird das Ich selbst als bestimmte Persönlichkeit, als eige­
ne Individualität. Die konkrete Subjektivität, die Monade, hat »notwendig die
Form einer Werdenseinheit, einer Einheit unaufhörlicher Genesis« (Hu XIV,
S. 34). Im Hinblick darauf ergibt sich in einer >>Phänomenologie der monadi­
schen Individualität« die Aufgabe, universal den apriorischen Wesensgesetzen
nachzugehen, »welche zu den Erlebnisgesetzen hinzutreten und festlegen, was
die individuelle Einheit und Abgeschlossenheit einer Monade fordert . . . « (eben­
da). Da aber die einzelne Monade in ihren Akten und ihrer Welthabe mit ande­
ren Monaden intentional verbunden ist, impliziert die Genesis der Monade die
Genesis ihrer Vergemeinschaftung mit anderen Monaden: »Aber die mir gel­
tende Welt in ihre Geltungsstrukturen zurückverfolgen, das ist, meine, des Gel­
tungsträgers Genesis und darin die Genesis seiner Mitträger, der selbst für mich
in einer Genesis Seinssinn gewinnenden, aufklären; und sowie dieser letzteren
Genesis anhebt, hebt auch die Genesis der Vergemeinschaftung der Genossen
und die vergemeinschaftete Genesis in ihrer umgreifenden Bewegung an, die
von meiner ersten, > solipsistischen< Genesis ausläuft und sich verbreitet« (Ms.
B I 14, Tr. X, S. 25). Die genetische Phänomenologie führt schließlich auch
zu den generativen Problemen von Geburt und Tod und Generationszusam­
menhang, von denen aber die Cartesianischen Meditationen erklären, daß sie
>>offenbar einer höheren Dimension angehören und eine so ungeheure ausle­
gende Arbeit der unteren Sphären voraussetzen, daß sie noch lange nicht zu
Arbeitsproblemen werden können« (S. 1 69).
Husserls Idee der Genesis ist wohl bedeutend für sein Verständnis seiner Phi­
losophie als phänomenologischen oder transzendentalen Idealismus. Erst seit den
zwanziger Jahren, also erst seit der Konzeption einer gen etischen Phänomeno­
logie, nimmt Husserl diesen Titel für seine Philosophie in Anspruch (siehe For·
male und transzendentale I.ngik, Cartesianische Meditationen). Allerdings sprachen
schon Überlegungen innerhalb der »statischen« Phänomenologie für eine
>>transzendental-idealistische« Position: Diese Phänomenologie ist vom Gedan­
ken geleitet, daß die Entscheidung darüber, was und in welchem Sinn ein Ge-
7. Kapitel. Statische und genetische Konstitution 1 89

genstand irgendwelcher Art letztlich ist, nur durch die Analyse semer
Gegebenheits- oder Bekundungsweise im Bewußtsein zu fällen ist. Schon um
1 907 gelangte Husserl zur Einsicht, daß Naturdinge prinzipiell (selbst "für ei­
nen göttlichen Verstand«) nur in subjektiven Erscheinungen (Abschattungen,
Aspekten, Perspektiven) gegeben werden können: In ursprünglicher Gegeben­
heit ist ein Naturding nichts anderes als ein Identisches einer prinzipiell unab­
schließbaren Erscheinungsmannigfaltigkeit (vgl. oben Kapitel 4). Als ein solches
Identisches ist es Korrelat dieser subjektiven Mannigfaltigkeit, d. h. ohne diese
hat es keinen Sinn. Husserl schreibt 1 9 1 4 oder 1 9 1 5 : »Der transzendentale Ide­
alismus besagt: Eine Natur ist nicht denkbar ohne mitexistierende Subjekte mög­
licher Erfahrung von ihr<< (Ms. B IV 6, Tr. S. 45).7 Die statische Phänomeno­
logie kann aber nicht von einem >>Erzeugen<< oder >>Hervorbringen<< von Ge­
genständen sprechen, da sie nur die Gegebenheit >>fertiger<< Gegenstände in den
ihnen entsprechenden subjektiven Bekundungssystemen analysiert. Indem nun
Husserl aber in der genetischen Phänomenologie diese Bekundungssysteme als
gewordene betrachtet, betrachtet er auch die darin sich bekundenden Gegen­
stände, sofern sich ihr Sinn in dieser Gegebenheit verwirklicht (zur ursprüngli­
chen Selbstgegebenheit kommt), als korrelativ damit geworden, als damit
entstandene >>Leistungsgebilde<<: >>Eben damit wird jede Art Seiendes selbst, rea­
les und ideales, verständlich als eben in dieser Leistung konstituiertes Gebilde
der transzendentalen Subjektivität<< (Hu I, S. 1 1 8). Sofern der Sinn eines Seien­
den sich aber nicht m den Gegebenheitsweisen des Ich verwirklicht, kann die­
ses Seiende nicht in das Werden des subjektiven Bekundungssystemes aufgelöst
werden. Husserl hat diesem Gedanken in seiner Idee der >>Konstitution des An­
deren<< Rechnung getragen: Der Andere ist seinem Sinn gemäß für sich und ist
mir als das nie selbst (>>im Original<<) gegeben, sondern nur >>indiziert<< : er ist
eine >>wahre TranszendenZ<< (vgl. Hu XIV, S. 8 f. , 256 ff. und oben Kap. 5, § 2).
Von dieser ersten wahren Transzendenz her hat auch die Natur als intersubjek­
tive gegenüber dem einzelnen Ich ihre Transzendenz. s 9 u.

7 Analoges könnte Husserl kaum von idealen Gegenständen, etwa mathematischen Begriffen,
behaupten, sofern diese »adäquat« (nicht in Erscheinungen) gegeben werden können, so daß die
statische Phänomenologie gegenüber idealen Gegenständen >>realistischer<< wäre als gegenüber der
Natur.
8 Wichtige Texte zur genetischen Phänomenologie: Hu XIII, Beilage XLV; Hu XI, S. 336 ff.; Hu
XIV, Beilage I; FTL, §§ 8S ff., Beilage II; Cart. Medit. §§ 3 7 - 39; Hu XV, Text Nr. 35; Hu VI, Bei­
lage III.
9 Ausgewählte Literatur zum 7. Kapitel: K. Held ( 1972): 5. 3 - 60; E. Holenstein ( 1972); D. Wel­
ton ( 1983).
8 . Kapitel
Ich und Person

Die Titel Ich (reines Ich) und Person (personales Ich) zeigen zwei Aspekte ei­
ner einheitlichen Problematik an, die in Husserls Phänomenologie erst nach
den Logischen Untersuchungen, dann aber zunehmend von Bedeutung wurde
und eine sich fortschreitend differenzierende Analyse erfuhr. Zur Zeit der Lo­
gischen Untersuchungen selbst verwarf Husserl den Begriff eines reinen Ich als
Fiktion, und eine Behandlung des Begriffs der Person fehlte völlig innerhalb
seiner Erlebnis-Phänomenologie. Nach Jahren der Verlegenheit darüber, »was
das Phänomenologische des > Ic h < ausmacht« (Hu X, Nr. 35, 1905, S. 253), war
Husserl in den Ideen I ( 1 9 1 3) zu einer positiven Stellungnahme zur Frage des
reinen Ich durchgedrungen, er anerkannte - aus weiter unten zu diskutieren­
den Motiven - die phänomenologische Evidenz des reinen Ich innerhalb des
Forschungsgebietes der phänomenologisch reduzierten, reinen Erlebnisse, und
in dem als Fortsetzung zum Ersten Buch der Ideen geplanten Werk legte er in
den Entwürfen der letzten Göttinger Jahre auch schon einige Wesenszüge des
personalen Ich frei (vgl. Hu IV, S. 1 72 ff.). Eine vertiefte Erörterung der Frage
nach dem, »Was wir im eigentlichen Sinn Ich nennen<< (vgl. Hu IX, § 42, S. 2 1 5),
und dabei insbesondere eine Aufklärung des Verhältnisses der Begriffe vom rei­
nen und vom personalen Ich zueinander finden wir vornehmlich in der Frei­
burger Zeit, also ab 19 16.
Auf dem Boden der um 1905 - 07 eingeführten phänomenologischen Reduk­
tion (vgl. Kapitel 2, bes. S. 57- 59) sieht es zunächst so aus, als ob die phäno­
menologis�he Analyse es mit Erlebnissen >>in einem Nirgendheim<< (vgl. Hu
VII, S. 1 66) oder eben mit >>niemandes<< reinen Erlebnissen (vgl. Hu XVI, S.
40 f.) zu tun hätte. Husserl scheint der Frage, wie es sich denn mit »mir«, dem
Ich, verhalte, der ich die und die Erlebnisse habe, welche ich als Phänomenolo­
ge in der Reduktion auf ihre Wesensverfassung hin untersuche, anfänglich auf
dem phänomenologischen Boden selbst keinen Sinn abgewinnen zu können,
es sei denn als Problem der Konstitution des empirisch-dinglichen, transzen­
denten Ich, des Menschen, in den reinen Erlebnissen (vgl. Hu XVI, S. 40 f.).
Zwei ganz verschiedene Zusammenhänge der statischen Erlebnisanalyse mo­
tivierten Husserl in den Jahren vor den Ideen I jedoch dazu, auch die subjekti­
ve Richtung auf ein Ichsubjekt dieser reinen Erlebnisse innerhalb der phäno­
menologischen Reduktion mit in Betracht zu ziehen: 1 ) als Prinzip der Einheit
eines Bewußtseinsstromes in Abgrenzung gegen andere Bewußtseinsströme, 2)
zur Bestimmung des prägnanten Begriffs des cogito als Akt des Ich. Während
8. Kapitel. Ich und Person 191

der an den ersten, intersubjektiven Motivationszusammenhang gebundene Be­


griff des reinen Ich sich immer schon in >>Ich<< und >>DU<< differenzieren ließe,
liegt der als Form des cogito angesetzte Begriff des reinen Ich vor jeder solchen
Differenzierung. Es treten bei diesem als universale Bewußtseinsform bestimmten
Ichbegriff mannigfaltige Schwierigkeiten auf. Innerhalb von Husserls Gesamt­
werk ergibt sich auch eine tiefliegende Zweideutigkeit im Begriff des reinen Ich,
da Husserl dessen Gehalt aus diesen zwei ganz verschiedenen Sachbereichen
schöpft.
1) Was den ersten Motivationszusammenhang betrifft, erwies sich die Bezug­
nahme auf das Ich als unumgänglich, sobald über das absolut gegebene >>eine«
(phänomenologisch noch unaufgeklärt >>eigene<<) Bewußtsein hinaus andere Be­
wußtsein in die Fundamentalproblematik der bewußtseinsmäßigen Konstitu­
tion von Gegenständlichkeiteil als >>intersubjektiven Einheiten« (vgl. Hu XIII,
Nr. 6, 1 9 1 0/ 1 1 , S. 1 3 5) - wie Dinge, Natur überhaupt, Wissenschaften - mit­
einbezogen werden mußten. Es stellte sich hier das Problem der Bestimmung
nicht mehr nur der Einheit eines Bewußtseinsstromes als kontinuierlich zeitli­
chen Zusammenhang von Erlebnissen, sondern das Problem einer prinzipiel­
len Bestimmung der phänomenologischen A bgeschlossenheit einer (meiner)
Bewußtseinseinheit gegenüber in der >>Einfühlung<< (vgl. oben, S. 144 ff.) gegebe­
nen anderen Bewußtseinseinheiten. >>Die immer und a priori mögliche Frage«
(vgl. Ms. B II 19, 19 12, S. 29b), >>wessen cogitatio, wessen reines Bewußtsein«
(Hu XIII, Nr. 6, S. 1 55) denn das in der phänomenologischen Reduktion the­
matisierte >>reine Bewußtsein<< sei, erhielt, sobald solche Vergegenwärtigungeil
von der Art der Einfühlung in das phänomenologische Feld miteinbezogen wur­
den, ihre volle Schärfe; denn >>Einfühlung gehört nicht zu solchen Bewußtseins­
weisen, die > eigene < cogitationes vergegenwärtigen<< (Hu XIII, S. 22 1). Es stellte
sich die Aufgabe, rein phänomenologisch zu zeigen, daß die zeitlich vereinheit­
lichten Erlebnisse ausschließlich die Erlebnisse eines einzigen Erlebenden sind.
>>Wie charakterisiert sich dies reine Bewußtsein, das reine Ichbewußtsein?<<, fragt
Husserl in diesem Zusammenhang. Zur Beantwortung der Frage geht er daran,
>>das einzig entscheidende Prinzip . . . , das die Einheit des Bewußtseinsstromes
konstruiert<< (Hu XIII, Nr. 6, S. 1 8 6), zu etablieren. Dabei erkennt er zwin­
gend die Einheits-Funktion des reinen Ich (vgl. Hu XIII, Nr. 6, §§ 3 6 ff. , Beila­
ge XXVI, Nr. 1 0 und Nr. 1 1). Husserls Gedankengang können wir wie folgt
zusammenfassen: Der Bewußtseinsstrom als ganzer ist nicht gegeben, vielmehr
ist er >>nur zur Gegebenheit zu bringen in Form von Wiedererinnerungen und
nachträglichen Reflexionen in der Wiedererinnerung« (vgl. Hu XIII, S. 2 1 9).
Als wesentlich für die Bestimmung der Einheit eines Stromes stellt Husserl nun
das Phänomen möglicher Ich-Identifikation (möglichen Dabeiseins desselben Ich)
im aktuell vollziehenden und im vergegenwärtigten Bewußtsein heraus; dieses
192 8. Kapitel. Ich und Person

entscheidet über die Zugehörigkeit (Bezüglichkeit) der Bewußtseinsgegebenhei­


ten zu meinem bzw. zu einem anderen Bewußtseinsstrom. Bei den Vergegen­
wärtigungen von der Art der Einfühlung ist dieses Dabeisein des Ich im
vergegenwärtigten Erlebnis >>nicht verbunden mit der Forderung der Identifi­
kation«. »Eine identifizierende Erstreckung des Ich durch Hinzunahme von
Ichvergegenwärtigungen mit Vergegenwärtigungen von cogitationes ist nur mög­
lich in Form der Erinnerung und Erwartung oder allenfalls der leeren Mög­
lichkeiten<< (Hu XIII, S. 3 19 - vgl. zu diesen verschiedenen Formen der
Vergegenwärtigung oben Kapitel 5, S. 133 ff.). Es ist einzusehen, daß das in diesen
Analysen in den Blick tretende »oberste Subjekt, das die Deckung als Identifi­
zierung vollzieht<< (Hu XIII, S. 303), nicht das »empirische, mit dem und dem
Leib und der und der Gruppe bestimmter Persönlichkeitseigenschaften begab­
te Subjekt (der Mensch)<< (vgl. Hu XIII, S. 296) sein kann, sondern nur ein als
reines Ich »in unbestimmter Leiblichkeit (oder gar keiner) und in unbestimm­
ter Persönlichkeit<< (Hu XIII, S. 296) zu bezeichnendes Subjekt. Gegenüber der
Einheit der zeitlichen Kontinuität rückt somit der neuartige Gesichtspunkt der
Einheit eines phänomenologisch gegenüber anderen abgeschlossenen Bewußt­
seinsstromes in den Blick, die in der reinen Ich-Identität begründet ist. In ei­
nem Manuskript um 1 9 1 4 schreibt Husserl: »Es ist nicht nur ein Bewußt­
seins-Zeit-Feld als Erlebnisstrom . . . , sondern: eine evidente Identität ist bewußt
. . . Beziehung auf einen Einheitspunkt<<, eben das reine Ich (vgl. Ms. A III 4,
s_ ssb).
Blicken wir kurz auf Busserls späteres Werk, so finden wir sein Denken stets
wieder mit dem erörterten intersubjektiven Problembestand des in phänome­
nologischer Reduktion und Reflexion in Originalität vorfindliehen und ande­
rerseits des darin sich bekundenden fremden Bewußtseins konfrontiert. Husserl
ist stets um die phänomenologische Abgrenzung des »mir Eigenen<<, der »Üri­
ginalitätssphäre<< (oder »Eigenheitssphäre<<, »Primordi(n)alitätssphäre)<< vom »Sein
und Leben aller Anderen<< bemüht (vgl. z. B. Hu VIII, S. 432; vgl. zu Fremder­
fahrung, S. 143 ff.), und in diesem Zusammenhang stellt er immer wieder die
Funktion des reinen Ich heraus, begründet er die »Meinheit in dieser Ichzen­
trierung durch ständig sich aktualisierende Deckung in jeder eintretenden Ver­
gegenwärtigung<< (vgl. Hu XV, S. 3 5 1 , 193.).
Bezüglich dieses ichliehen Einheitsprinzips gilt, was Husserl schon in den
Ideen I herausstellte, daß es eine »Transzendenz in der ImmanenZ<< des reinen
Erlebnisstromes bildet (§ 57) ; denn das reine Ich ist unter den vorüberfließenden
reinen Erlebnissen nicht reell vorfindlich, vielmehr bewahrt es eine »numerische
Identität<< gegenüber den kommenden und gehenden cogitationes. In den Jah­
ren nach den Ideen I bestimmte Husserl das reine Ich immer entschiedener als
eine nicht in den immanenten zeitlichen Fluß selbst gehörige Einheit, viel-
8. Kapitel. Ich und Person 193

mehr als eine >>unzeitliche<<, >>überzeitliche, aber auf immanente Zeitlichkeit [der
Erlebnisse] bezogene > ideale < [d. h. nicht-reelle] Einheit<< (vgl. etwa Ms. E III
2, S. 35, Ms. L I 20, S. 4a, 1 9 1 7 - 1 8 ; Ms. A IV 5, S. 42a/b, 1925). Nur als im
vergegenwärtigenden und vergegenwärtigten Akt identifiziertes Ich hat es zeit­
liche Dauer (vgl. z. B. Hu IV, § 23, S. 1 0 1).
2) Was den an den universalen Begriff des Bewußtseinsaktes im prägnanten
Sinn des cogito geknüpften Begriff des reinen Ich betrifft, ist in den Ideen I die
These zu lesen: >>Unter den allgemeinen Wesenseigentümlichkeiten des tran­
szendental gereinigten Erlebnisgebietes gebührt eigentlich die erste Stelle der Be­
ziehung jedes Erlebnisses auf das > reine < Ich. Jedes > cogito <, j eder Akt in einem
ausgezeichneten Sinne ist charakterisiert als Akt des Ich, er > geht aus dem Ich
hervor<, es > lebt < in ihm > aktuell <<< (§ 80). Diesen Ichbegriff führte Husserl in
den Jahren unmittelbar vor den Ideen I in Verknüpfung mit dem für den Be­
griff des Aktes im prägnanten Sinn konstitutiven Phänomen der A ufmerksam­
keit ein. Aufmerksamkeit stellte er seit den Logischen Untersuchungen in einen
Wesenszusammenhang mit der Intentionalität überhaupt, er begriff sie >>als ei­
ne Grundart intentionaler Modifikation<< (vgl. Ideen I, § 92, Anm. S. 192 f.).
In einer im Frühjahr 1 9 1 2 entstandenen Aufzeichnung schreibt Husserl: >> . . .
bei jedem intentionalen Erlebnis ist der Modus des Darinlebens ausgezeichnet,
und er besagt aktuelle Aufmerksamkeit auf das Gegenständliche dieses Erleb­
nisses<<. >>Dieses Aufmerken, als Gerichtetsein, Zugewendetsein<<, ist >>gar nichts
anderes als ein Ausdruck für > Vollzug< eines intentionalen ErlebnisseS<< (vgl. Hu
XXIII, S. 344). Das Gerichtetsein-auf bzw. Vollziehen weist nun für Husserl,
vermutlich beeinflußt von den psychologischen Lehren Th. Lipps' und A. Pfän­
ders vom Ich als Zentralpunkt des psychischen Lebens (vgl. Ideen I, § 92, Anm.
S. 192 f.), zurück auf ein Ausstrahlungszentrum bzw. ein Vollzugssubjekt, ei­
nen Quellpunkt des Bewußtseinslebens. Wiederum Anfang 1 9 1 2 schrieb Hus­
serl: >>Bei diesem Wechsel des sich-richtenden Aufmerkens . . . ist es so, als ob
das Sich-Richten ein ausgesandter Strahl wäre und als ob alle diese Strahlen Zu­
sammenhang hätten als Emanationen aus einem zentralen > Ich < . . . . > Ich<, das
ist aber in der Regel das empirische Ich. Ob es etwas anderes noch enthalten
oder besagen kann, und überhaupt, was diese Beziehung zum Ich phänomeno­
logisch weiter enthält, . . . das schalten wir hier aus<< (Ms. A VI 8 I, S. 1 8a). We­
nige Monate später, in den Ideen I, setzte Husserl dann fraglos das Ich in der
Funktion des Quellpunktes der Aufmerksamkeitsstrahlen ein: >>Das > Gerich­
tetsein auf,, > Beschäftigtsein mit <, > Stellungnehmen zu <, > Erfahren, Leiden von <
birgt notwendig i n seinem Wesen dies, daß e s eben ein > von dem Ich dahin <
oder im umgekehrten Richtungsstrahl > ZUm Ich hin < ist - und dieses Ich ist
das reine, ihm kann keine Reduktion etwas anhabe � (§ 80, S. 1 60).
Husserl war sich zwar in selbstkritischen Texten durchaus bewußt, daß die
194 8 . Kapitel. Ich und Person

Rede vom >>Ichzentrum<< eine bildliehe oder analoge, der Orientierungszentrie­


rung im Leibe nachgebildete sei. In einer Aufzeichnung wohl aus 1 9 1 4 z. B.
fragt er: >> . . . ist, wenn wir vom Leib und leiblich bestimmten Subjekt abstrahie­
ren, wenn wir, was diese besonderen Apperzeptionen hineinbringen, außer Ak­
tion lassen, etwas übrig, was das Bild vom Ichzentrum, Strahl und Gegenstrahl
etc. ermöglicht?« (Hu XIII, S. 248). Daß es aber, wenn eigentlich das leiblich
bestimmte Subjekt die Funktion des Zentrums des sinnlichen Bewußtseinsver­
laufes erfüllt, gerade nicht das reine Ich >>in unbestimmter Leiblichkeit (oder gar
keiner)« (vgl. oben, S. 1 92) sein kann, dem die Leistung der Zentrierung im
Hier und Jetzt zufällt, hat Husserl nie ganz klar herausgestellt.
Werfen wir auch für diesen an die Form des cogito gebundenen Ichbegriff
einen Blick auf Husserls späteren Denkweg. Ganz entsprechend seiner Lehre
vom Ich als Ausstrahlungszentrum oder, wie er nach den Ideen I vermehrt sa­
gen wird, als Pol der Aktionen, der intentionalen Erlebnisse der spezifischen
Form des cogito, tritt, sobald Husserl seine transzendentale Theorie der Kon­
stitution durch die systematische Analyse der passiv-assoziativ konstituierten
Vorgegebenheiten vertieft, der Gedanke des Ich auch als Pol der Affektionen,
als Einstrahlungszentrum in Kraft (vgl. z. B. Hu XIV, S. 30). Die Affektion wird
als eine Nollzugsform der intentionalen Erlebnisse bzw. als Art der Beteiligung
des Ich an der Intentionalität« (Ms. M III 3 III 1 II, § 45, S. 1 65; 192 1 - 1923)
bestimmt. Dem aktiven Ich steht das passive Ich gegenüber, das Ich ist >>immer­
fort, wo es aktiv ist, zugleich passiv, sowohl im Sinn von affektiv als rezeptiv«
(Hu IV, S. 2 1 3 , um 1 9 1 6). In den dreißiger Jahren erwägt Husserl, über die not­
wendige >>Ichbezogenheit« im Sinne des >>Einstrahlens« auf der niedersten, der
passiven Stufe der Konstitution hinaus auch, diese niedersten Intentionalitäteil
als vom Ich auslaufende zu fassen; er spricht von »universaler Triebintentiona­
lität«, die von dem sich selbst zeitigenden Ich als Pol ausgeht (vgl. Hu XV, Nr.
34, September 1933, S. 595).
Das in den bisher diskutierten statischen Analysen erfaßte reine Ich zeichnet
sich wesentlich aus durch seine Unwandelbarkeit und die damit zusammenhän­
gende Möglichkeit, es in einem reflektiv erfahrenden Akt >>aus jedem cogito
vollkommen zu entnehmen . . . als adäquate Gegebenheit« (Ms. F III 1, S. 6a; Hu
IV, S. 97, S. 1 1 1 ; Ideen I, S. 86). >>Um zu wissen, daß das reine Ich ist und was
es ist, kann mich keine noch so große Häufung von Selbsterfahrungen eines
besseren belehren als die einzelne Erfahrung an einem einzigen schlichten co­
gito. Es wäre ein Widersinn zu meinen, ich, das reine Ich, sei vielleicht nicht
oder sei etwas ganz anderes als das in diesem cogito fungierende« (Ms. F III
1, S. 240b; Hu IV, S. 1 04).
Diesem statischen, sozusagen leeren Ich gegenüber konzipierte Husserl in den
Jahren nach den Ideen I den wesentlich konkreteren Begriff des personalen Ich
8. Kapitel. Ich und Person 195

in Korrelation mit seiner Umwelt und den Begriff der Monade (vgl. Kapitel S,
§ 2, über >>Fremderfahrung<<, bes. 147). Der Begriff des personalen Ich hängt of­
fenbar engstens mit Husserls Hinwendung zu einem genetischen Verständnis der
Konstitutionsproblematik selbst zusammen (vgl. oben Kapitel 7). Die sich ent­
wickelnde Korrelation personales Ich - Umwelt thematisierte Husserl in der Frei­
burger Zeit stets aufs neue. Er erreichte solcherart Prinzipien einer an Kant
anknüpfenden, in ihrer Konkretheit aber wohl über ihn hinausführenden Theo­
rie der im >>Stehenden und bleibenden personalen Ich<< bzw. in der personalen
Ichgemeinschaft verwurzelten transzendentalen Subjektivität und Intersubjek­
tivität in Korrelation zur objektiven Welt der Erfahrung (vgl. Hu I, § 32,
S. 1 0 1 ) . 1
Husserl stellt bezüglich der »Selbstkonstitution<< des Ich in der Genesis der
Apperzeptionen heraus, daß das Subjekt als Subjekt der Apperzeptionen >>selbst
konkret bestimmtes<< ist. >>Es ist nicht nur überhaupt abstrakter Ichpunkt und
bezogen auf eine dingliche Umwelt, sondern es ist als Subjekt, das diese Um­
welt hat, Subjekt von Vermögen (ein Subjekt, das ein bestimmtes > ich kann<
hat)<< (Ms. A VI 30, S. 39 f.). >>Die Vermögen weisen zurück auf Felder der Habe,
und damit drückt sich eine ursprüngliche und erworbene seelische Habe aus,
von der Reize auf mich, das Subjekt der Freiheit ausgehen, über die ich, ihnen
folgend, Verfügung habe<< (Ms. A VI 9, S. 2a, wohl 1 9 1 6). >>Was wir im eigentli­
chen Sinn Ich nennen (abgesehen von der kommunikativen Beziehung auf ein
Du oder Wir)<<, bestimmt Husserl stets prägnanter als eine »personale Indivi­
dualität<<, als >>Subjekt personaler Motivationen<< (vgl. Hu IX, S. 2 1 5; Ms. A VI
9, S. 2a). In diesem Sinne typisch sind folgende Kennzeichnungen aus den zwan­
ziger Jahren: »Im eigentlichen Sinn ist das > Ich < der Ichpol mit den ihm aus
seinem Leben und Stellungnehmen zuwachsenden Habitualitäten, Vermögen<<
(Hu XIV, S. 275), oder: >>Das Ich ist doch immerzu konstituiert (in völlig eigen­
artiger Weise konstituiert) als personales Ich, Ich seiner Habitualitäten, seiner
Vermögen, seines Charakters<< (Hu XIV, S. 44, Anm. 1).
Husserl bemüht sich darum, einen phänomenologischen >> Wesensbegriff von
Person« (Hu XIV, S. 2 1) auszubilden. Obschon >>das personale Ich individuelles
ist«, ist nach allgemeinen Wesensgesetzen zu bestimmen, >>Was dieses nur im Ein­
leben in ein aktuelles cogito und den Zusammenhang der rückliegenden (habi­
tuell gewordenen) Stellungnahmen und die Motivationszusammenhänge zu
erfassende Ich ist, was ich als identisch durchgehende Person Ich eigentlich fin­
de<< (Hu XIV, S. 2 1 , S. 1 7). Husserls vielfältige Beschreibungen zum Begriff des

1 Wesentliches, was Husserl zum Begriff des personalen Ich gedacht hat, kommt vornehmlich
im Zusammenhang oder Hinblick auf seine Intersubjektivitätsproblematik zur Sprache; vgl. Hu XIII
bis XV.
196 8. Kapitel. Ich und Person

personalen Ich können hier nur nach einigen Hauptthemen angezeigt werden.
Ein wesentlicher Gedanke, der immer wieder zum Zuge kommt, ist der, daß
Husserl die Person als ein >>Prinzip der Verständlichkeit, also Rationalität<<
faßt.2 Die Person ist nicht einfach eine >>assoziativ-induktiv konstituierte Ein­
heit<<, in der sich >>nichts von der Individualität<< bekundet (Hu XIV, S. 1 9 ff.,
Hu XIII, S. 434 f.). Vielmehr konstituiert sich die Person mit einer >>individuel­
len Eigenart<<, einem >>bleibenden Stil<< mit durchgehender Identitätseinheit,
einem »personalen Charakter<<. 3 Diese Begriffe Personalität, Individualität,
Charakter beziehen sich nach Husserl auf >>das Feld der sich vom Ich her bil­
denden und es ichlieh bestimmenden Überzeugungen<< (Hu IX, S. 2 1 4), auf die
habituellen Eigenheiten. Die individuelle Eigenart, die das Ich auszeichnet, be­
kundet sich in seinen Stellungnahmen, seinen Interessen, seinen Motivationen,
festen Meinungen, Entscheidungen, Überzeugungen. Husserl versucht, das We­
sen des sich wandelnden personalen Ich in Korrelation mit seiner Umwelt als
>>Einheit der KonsequenZ<< zu fassen. Gibt das Ich eine Überzeugung preis, so
>>ändert es seine > Richtung auf<<<, es ist indessen >>Wieder und notwendig gerich­
tetes (und im Modus des bleibenden Ich gerichtetes), aber es hat sich gegenüber
eine > andere < Umwelt . . . , es ist dasselbe Subjekt der neuen Welt, aber anderer­
seits, es ist dasjenige, das sich nach seinen Überzeugungen, Wünschen etc. ge­
ändert hat<< (Ms. A VI 30, S. 45b; zwischen 1 9 1 8 und 1921). >>Meine Umwelt
ist so ein beständig wechselndes Reich von bleibenden Gesetztheiten, und kor­
relativ ändere ich mich selbst beständig als ihr sie konsequent setzendes Sub­
jekt. Ich ändere mich in Form der InkonsequenZ<<. Es gilt aber: >>Durch alle
durch Inkonsequenz sich wandelnden und immer neuen habituellen Ich geht
hindurch, oder es konstituiert sich in ihnen, ein konsequent bleibendes Ich und
als sein Korrelat: eine und dieselbe Umwelt (Universum des aus meiner Setzung
her Geltenden)<< (Ms. A VI 30, S. 46b).
Diese Korrelativität zwischen personalem Ich und Umwelt thematisierte er
in den zwanziger und dreißiger Jahren nach verschiedenen >>Möglichkeiten<<:
1) In Hinsicht auf Kants Problem des >>Ich der transzendentalen Apperzeption<<
und der dazugehörigen >>transzendentalen Deduktion<<. Die Idee eines konse­
quenten Ich erscheint Husserl schließlich >>Zu formal<< (Ms. A VI 30, S. 37a),
ungenügend zur vollen, konkreten Bestimmung der Selbsterhaltung, der Ein­
heit des Ich, die zum echten Sinn des Ich der transzendentalen Apperzeption
gehöre (vgl. Ms. A VI 30, S. 37a; S. 43 f.; vgl. auch Ms. A V 2 1 , S. 1 0 1 a). Das
Ich der Selbsterhaltung muß konkret im Verband mit der >>Frage der universa­
len Erfahrungsstruktur, bzw. der Konstitution einer standhaltenden Welt<< be-

2 Vgl. etwa Hu XIV, S. 17; Hu IX, S. 2 1 5 ; Ms. E III 2, S. 2 1 b; Ms. A VI 25, S. 1 0 ff.
3 Vgl. Hu XIV, S. 23 , Hu IX, S. 2 1 5 , Hu I, S. 1 0 1 .
8. Kapitel. Ich und Person 197

stimmt werden: Busserl sucht nachzuweisen, daß <<Ich als Ich Einheit durch die
Welt habe, wenn sie wirkliche Welt ist, wenn sie Titel für ein Reich der Wahr­
heiten an sich ist<< (Ms. A VI 30, S. 38b). Die Welt muß eine gewisse Struktur
haben, und andererseits muß das Ich in sich »potentiell die Möglichkeit einer
zu erwerbenden festen Habitualität<< tragen, denn >>alles für mich Seiende unter
dem Titel Welt ist für mich selbstverständlich nur aus meiner Intentionalität<<
(Ms. A VI, 30, S. 3 8). In einer kurzen Aufzeichnung mit dem Titel »Ich der
transzendentalen Apperzeption<< schreibt Busserl: » Ichpol ist nicht Ich. Ich bin
in meinen Überzeugungen. Ich erhalte mein eines und selbes Ich - mein idea­
les Verstandes-Ich -, wenn ich immerzu und gesichert fortstreben kann zur
Einsicht einer Gesamtüberzeugung, wenn eine Objektwelt für mich beständig
erhalten bleibt, und mit der offenen Möglichkeit, sie immer näher in Einstim­
migkeit zu bestimmen<< (Ms. A VI 30, S. 54b, wohl 1926).
2) In Hinsicht auf die Möglichkeit der Auflösung der Welt in ein Gewühl
in Korrelation mit der Auflösung des Ich der transzendentalen Apperzeption:
Unter Einbeziehung seiner Lehre von der Faktizität der Weltkonstitution (vgl.
Kapitel 10, bes. S. 2 1 1 f.) konzipiert Busserl die Möglichkeit einer Zersetzung
des personalen Ich. In einem der zahlreichen diesen Problemen nachgehenden
Texte ist zu lesen: »Muß es stehende und bleibende Ich als Personen oder zum
mindesten eine stehende und bleibende personale Allheit in möglicher Gemein­
schaft geben . . . muß ich, muß jede Person sein? Liegt in der Evidenz des Ich­
bin mehr als die Evidenz der Person in Beziehung auf eine präsumptive Welt,
und warum soll es nicht ein > vielfärbiges < Selbst geben können? Ist das Gegen­
teil nicht in der Tat denkmöglich, kann ich nicht durch Abbau der assoziati­
ven Erfahrungskonstitution sozusagen einen personalen Selbstmord begehen,
während doch als Unterlage für diese Möglichkeit mein Leben, wenn auch als
objektiv sinnloses, verbleibt mitsamt der Ich-Polarisierung, wennschon dieser
Ichpol keinen personalen habituellen Sinn hat<< (Ms. A VI 30, S. 52b, wohl zwan­
ziger Jahre).
3) Schließlich geht Busserl auch der Frage n ac h de r ap ri o r is c h e n Begründung
der Möglichkeit verschiedenartiger einheitlicher Umwehen in Korrelation mit
verschiedenartigen »personalen<< Subjekten nach: Ganz allgemein gesprochen un­
tersucht er menschliche Umwelten, darunter die frühkindliche, die Umwelt der
»reifen<< Person als »normalen<<, die Umwelt der »Primitiven<<, der Anomalen,
der Kranken, gegenüber der tierischen Umwelt. Insbesondere aus den dreißiger
Jahren finden sich Aufzeichnungen, in denen Busserl das Spezifische der mensch­
lichen Umwelt bzw. der Person gegenüber der Tierwelt auf den Begriff zu brin­
gen versucht. Er hebt vor allem die Selbstbezogenheit auf die Universalität des
Lebens und die individuelle und soziale Historie gegenüber dem »Gegenwarts­
Ich<< des Tieres hervor. Die »menschliche Person lebt nicht in der bloßen Ge-
198 8. Kapitel. Ich und Person

genwart, sie lebt in ihrem ganzen Leben, ihr ganzes Leben, ihr personales Sein
als gewesenes personales Sein und wieder als künftiges personales Sein, die gan­
ze vergangene Personalität in der ganzen personalen Zeitlichkeit, der persona­
len strömenden Lebensdauer ist für die Person thematisch, ist Motivationsfeld,
Feld spezifisch menschlicher Stellungnahmen, Wertungen und Wallungen<< (vgl.
Ms. A V 5, S. 12a/b). Er fragt, ob dagegen beim Tiere nicht eine »rein triebmä­
ßige, triebmäßig auf Einstimmigkeit gerichtete Intentionalität<< für die Konsti­
tution der tierischen Umwelt angenommen werden müsse, derart, daß die Tiere
von dieser, >>die wir ihnen in naiver Einfühlung zuschreiben<<, nichts wüßten
(Hu XV, S. 1 84). »Vergangenheit haben sie nur als Retentionalität und haben
Selbigkeit von Dingen nur in der Form des primären Wiedererkennens, das
noch kein Zurückgehen auf die Vergangenheit im Wiedererinnern (als quasi­
Wiederwahrnehmen) kennt und kein Identifizieren der Zeit- und Ortsstellen,
das Individualität der Dinge als seiender ermöglicht<< (ebd.). Was den Menschen
und menschliche Umwelt dagegen auszeichnen würde, versucht Husserl wie folgt
anzusetzen: >>Beim Menschen vollzieht sich eben eine ständige Umwandlung
der passiven Intentionalität in eine Aktivität aus Vermögen der Wiederholung.
Ist das so als schroffe Scheidung richtig?<< (S. 1 84).
Abschließend sei ein Hinweis auf Husserls Bestimmung des Verhältnisses zwi­
schen dem reinen, unwandelbaren, numerisch identischen Ich und dem perso­
nalen Ich gegeben! Einerseits besteht zwischen dem in beiden Begriffen An­
gesprochenen ein scharfer Unterschied, der sich in der phänomenologischen
Gegebenheitsweise niederschlägt: >>Das reine Ich ist nicht die Person . . . . Die
Person Ich ist das Identische im Wandel meines Ichlebens, meines Aktiv- und
Affiziertseins, es ist in keiner Reflexion adäquat gegeben« (Ms. A VI 2 1 , S. 21 ).
Andererseits besteht doch, und es muß bestehen, eine Identität des >>Ich<<: Das
>>reine Ich liegt aber auch im personalen Ich beschlossen, jeder Akt cogito des
personalen Ich ist ein Akt des reinen Ich<< (Ms. A VI 2 1 , S. 2 1). Die Identität
im Wandel, die für das personale Ich konstitutiv ist, bleibt letztlich begründet
im reinen Ich: >>Das [personale] Ich bleibt solange unverändert als es > bei seiner
Überzeugung, Meinung bleibt <; die Überzeugung ändern ist > Sich < ändern. Aber
in der Änderung und Unveränderung ist das Ich identisch dasselbe eben als
Pol,, (Hu IV, S. 3 1 1).4

4 Ausgewählte Literatur zum 8 . Kapitel: A. Gurwitsch ( 1 929); G. Brand ( 1 955); K. Held ( 1966);

J.·P. Sartre (1965); E. Marbach (1974).


9. Kapitel
Die Lebenswelt als Grundlagenproblem der obj ektiven Wissenschaften
und als universales Wahrheits- und Seinsprob lem

Bemerkung über Husserls Gebrauch des Wortes »Lebenswelt«

Den Ausdruck >>Lebenswelt<< gebraucht Husserl sporadisch schon vor 19201,


aber erst in den zwanziger Jahren wird er in seiner Philosophie zu einem Titel
für eine grundlegende Problematik. ••Lebenswelt« wird von ihm anfangs aus­
wechselbar gebraucht mit »natürlicher Weltbegriff«2, »natürliche« oder
»schlichte Erfahrungswe!t«, gewinnt aber diesen Ausdrücken gegenüber im Laufe
der zwanziger Jahre eine besondere Bedeutung. Großes systematisches Gewicht
erhält die durch diese Titel bezeichnete Problematik in den Vorlesungen >>Phä­
nomenologische Psychologie« von 1925 und 1928 (Hu IX), >>Einleitung in die
phänomenologische Philosophie« von 1926/27 (vgl. Hu IX und Hu XIV), ••Na­
tur und Geist« von 1927 (unveröffentlicht) und schließlich in seinen Werken
Formale und transzendentale Logik und Krisis.

Das Grundlagenproblem der objektiven Wissenschaften,


insbesondere das Problem »Natur und Geist«

Husserls Philosophieren ist weitgehend durch Grundlagenfragen der Wissen­


schaften motiviert. Ursprünglich war es durch Grundlagenprobleme der Mathe­
matik und Logik angetrieben und erweiterte sich von da zu einer allgemeinen
Theorie der Erkenntnis. Methodisch verstand es sich letztlich als »reine Bewußt­
seinsanalyse« und wurde in der Klärung dieses methodologischen Selbstverständ­
nisses schon bald zu Fragen nach seinem Verhältnis zur Psychologie und damit
auch zu Fra gen nach deren methodischen Grundla gen geführt3• Bei aller dif­
ferenzierenden Abhebung der phänomenologischen Philosophie von der Psy­
chologie beansprucht Husserls Phänomenologie, auch für die Psychologie die
begrifflichen Fundamente beibringen zu können. Auch schon vor den Ideen
und besonders im (erst posthum erschienenen) zweiten Band dieses Werkes ver­
suchte Husserl, angeregt durch Erörterungen vor allem Diltheys, Windelbands

1 Siehe Hu IV, S. 375; Ms. D 13 I, S. 173a (um 1 9 1 8); Ms. A IV 22, Transkription S. 70 (1920)
2 Diesen Begriff, den er von Richard Avenarius übernommen hat, gebraucht er schon in der
Vorlesung »Grundprobleme der Phänomenologie« von 1910/ 1 1 (Hu XIII, S. 125).
3 Etwa im Aufsatz Philosophie als strenge Wissenschaft von 19 1 1 und in den Ideen von 1 9 1 3 .
200 9. Kapitel. Die Lebenswelt als Grundlagenproblem

und Rickerts, in konstitutiven Analysen der Natur, bzw. der naturwissenschaft­


lichen (naturalistischen) Einstellung, und der geistigen Welt, bzw. der geistes­
wissenschaftlichen (personalistischen) Einstellung, die Grundbegriffe der be­
treffenden Wissenschaften zu klären. Aber erst in den zwanziger Jahren trat
für ihn in diesen zunächst an der Vielzahl der faktischen empirischen Wissen­
schaften orientierten philosophischen Erörterungen die Frage der Einheit und
prinzipiellen Gliederung dieser Wissenschaften in den Vordergrund: die Frage
der Einheit und inneren Struktur der Welt, auf die sich all diese verschiedenen
Wissenschaften beziehen. Erst durch die prinzipielle Zentrierung in diesem Be­
griff gewannen auch die reflexiv auf die empirischen Wissenschaften bezoge­
nen philosophischen Untersuchungen eine systematische Einheit und näherten
sich damit dem Husserl schon lange leitenden Ideal einer universalen, alle posi­
tiven Wissenschaften umschließenden, philosophisch letzt begründeten Wis­
senschaft: >>Das Ideal: Es gibt nur eine einzige echte Wissenschaft im höchsten
Wortsinn, mag man sie nun Philosophie nennen oder universale Wissenschaft.
Sonderwissenschaften, das wird es natürlich immer geben, mit besonderen Ge­
bieten, besonderen Methoden, einer besonderen theoretischen Technik, beson­
dere persönliche Begabung voraussetzend. Die Austeilung der Sonderwissen­
schaften wird nicht willkürlich, nicht praktisch zufällig sein, mindestens nicht,
wenn sich herausstellen sollte, wie wir es vorausgesagt, daß die Welt der Erfah­
rung ihre wesentlichen Universalstrukturen hat als abstraktive Teilungen nach
Gebieten, wie vielleicht nach Natur und Geist. Aber alle Wissenschaften wer­
den nun Organe, wenn auch wesentlich einheitliche, lebendige Zweige an dem
einen Baum der universalen Wissenschaft sein.<<4
Was Husserl in erster Linie zur Entfaltung der Problematik des »natürlichen
Weltbegriffs<< oder der >>Lebenswelt<< antrieb, war die Frage des Verhältnisses
von Natur und Geist bzw. des Verhältnisses von Natur- und Geisteswissen­
schaften5; gerrauer war es die Auseinandersetzung mit dem Dualismus Carte­
sianischer Tradition, der Körper (Natur) und Geist (Seele) als zwei gesonderte,
aber methodisch analog zu erkennende Realitäten auffaßte. Husserl war schon
früh überzeugt, daß eine nach naturwissenschaftlichem Vorbild aufgezogene
Psychologie am Eigenwesentlichen des Seelischen vorbeiging, und im Laufe der
Jahre hat sich in ihm die Einsicht vertieft, daß eine wirkliche Klärung des Ver­
hältnisses von Natur und Geist nur im Rückgang von den faktischen wissen­
schaftlichen Leitbegriffen als methodischen Kunstprodukten auf die Welt
ursprünglicher Erfahrung, in der Natur und Geist >>in e inem ursprünglich an-

4 Ms. F I 32, S. 4 1 a (Vorlesung ,,Natur und Geist<< von 1927 ) ; paralleler Text: Ms. A IV 5,
S. lOb.
5 Vgl. Hu IX, S. 54 ff.; Ms. F I 32, S. 40a, 86a, 99a, 1 1 7a ff.
Wissenschaftliche Welt und Lebenswelt 20 1

schauliehen Ineinander<< gegeben sind6, zu leisten sei. Nur die ursprungliehe


Erfahrungswelt kann die methodischen Richtlinien für sachgemäße wissenschaft­
liche Interessen abgeben. >>Wäre man auf die volle Ursprungskonkretion der
Welt, so wie sie jederzeit in naiver Ursprunglichkeit erfahren ist, zuruckgegan­
gen und hätte man im Vollzug der methodischen Abstraktionen diese konkret
anschauliche Welt als Ursprungsfeld nie vergessen, dann wären die Verkehrt­
heiten der naturalistischen Psychologie und Geisteswissenschaften nicht mög­
lich gewesen, man hätte nie darauf verfallen können, den Geist als einen bloß
kausalen Annex der materiellen Leiber oder als eine parallelistische Kausalrei­
he zur physischen Materialität zu deuten. Man hätte nie Menschen und Tiere
als psychophysische Maschinen oder gar als parallelistische Doppelmaschinen
ansehen können.« (Hu IX, s. 56 f.)
Dieser Rückgang Husserls auf die natürliche Erfahrungswelt erinnert nicht
nur (bei aller Verschiedenheit) an die neueren Versuche der Philosophie der
natürlichen Sprache (Wittgenstein, Austin, Ryle), sondern vor allem an Richard
Avenarius' Idee der >>Restitution des natürlichen Weltbegriffs« gegenüber den
Verfälschungen der dualistischen Metaphysik/ Husserls Abzweckung geht aber
vorerst nicht auf die Restitution dieses ursprungliehen Weltbegriffs, sondern
auf die Fundierung der auf diese Welt bezogenen Wissenschaften: >>Liegt hier
der Ursprungquell aller weltbezogenen Wissenschaft, so muß sich . . . jede ur­
sprungsklare Scheidung der Wissenschaft vollziehen durch Rückgang auf die
Erfahrungswelt . . . , jedes besondere Wissenschaftsgebiet muß uns zuruckfüh­
ren auf ein Gebiet der ursprungliehen Erfahrungswelt. Hier erschauen wir den
Ursprungsort einer radikal begrundeten Austeilung bzw. Einteilung möglicher
Weltwissenschaften.« (Hu IX, S. 64)

Wissenschaftliche Welt und Lebenswelt

Was aber für Husserl vorerst nur ein wissenschaftstheoretisches Grundlagen­


problem war, entwickelte sich in seinen Ü berlegungen zu einem »universalen
Seins- und Wahrheitsproblem«: In seinem letzten Werk ist die >>Lebenswelt«
zum Titel einer »universalen Problematik« geworden. (Vgl. Hu VI, § 34 f.) Die­
se Umwertung vollzog sich in einer durch sachliche Schwierigkeiten bedingten
tieferen Besinnung auf das, was die erfahrungsmäßige Grundlage der wissen­
schaftlichen Praxis ist, und dadurch durch eine Umwertung des Begriffs der
Lebenswelt selbst.
6 Hu IX, S. 55; Ms. F I 32, S. 40a.
7 Vgl. oben Fußnote 2. Vgl. auch Husserls Urteile über Avenarius in den Prolegomena, S. 192,
und in der Krisis, S. 198.
202 9. Kapitel. Die Lebenswelt als Grundlagenproblem

In den zwanziger Jahren bedeutet für Husserl der Rückgang von den Wis­
senschaften auf ihre Erfahrungsgrundlage den Rückgang auf die »schlichte<< oder
»pure<< Erfahrung, und das heißt für ihn damals auf die vorbegriffliche (vorsprach­
liehe, anteprädikative) Erfahrung. Die Welt schlichter Erfahrung, in der alle
Weltwissenschaften letzlieh gründen, >>geht allem Erfahrungsdenken voraus<< (Hu
IX, S. 69), in ihr »bleibt jede prädizierende, theoretisierende Tätigkeit, wie jede
andere, die den Erfahrungsgegenstand mit irgendeinem neuartigen Sinn behaf­
tet, außer Spiel.<< (S. 59) »In der Einheit der Erfahrung selbst ist allem Bereden,
Bedenken, Begründen, Theoretisieren voran eine durchaus einheitliche, unge­
brochene, in sich zusammenhängende Welt erfahren.<<8 Es ist die Welt der blo­
ßen, vorbegrifflichen Wahrnehmung und Erinnerung (vgl. Hu IX, S. 58 ff.), die
Welt der bloßen Anschauung; es ist, was Husserl in den Cartesianischen Medi­
tationen die »primordinale Welt<< oder »Eigenheitssphäre<< nennt, nämlich die
vom einzelnen Subjekt, in Abstraktion vom intersubjektiven traditionalen Kom­
munikationszusammenhang, ursprünglich selbst erfahrene und erfahrbare Welt.
In dieser Perspektive (vgl. Hu I, § 44; vgl. oben Kapitel 5, § 2) ist die Aufgabe
der Grundlagenforschung die folgende: »Den Weg zu durchmessen, der von der
stummen, begrifflosen Erfahrung und ihren universalen Verflechtungen über­
führt zunächst zur typischen, vagen, ersten Allgemeinheit, die im Alltag genü­
gend ist, und von da zu den echten und wahren Begriffen, wie sie echte Wis­
senschaft voraussetzen muß.<< (Ms. F I 32, S. 39b/40a)
In den zwanziger Jahren nennt Husserl diese unhistarische »Welt der Anschau­
ung<< auch »Lebenswelt<< (Ms. F I 32, S. 1 1 0b). Es scheint, daß hier der Begriff
des Lebens, wie in gewissen Richtungen der sog. Lebensphilosophie, einen Ge­
gensatz zum intellektuellen begrifflichen Denken bildet. Aber im Laufe der
Jahre wandelt sich Busserls Bestimmung der für die Wissenschaften grundle­
genden Erfahrung, und mit dieser Wandlung verändert sich auch der Begriff
der »Lebenswelt<<. In der Vorlesung »Phänomenologische Psychologie<< von 1925
führte Husserl aus: »Wir gehen von den für uns fraglichen Begriffen Natur und
Geist, als Gebietsbegriffen von Wissenschaften, zurück auf die vor allen Wis­
senschaften und ihren theoretischen Intentionen liegende Welt als Welt vor­
theoretischer Anschauung<<, aber später fügt er in seinem Vorlesungsmanuskript
noch hinzu: »ja als Welt des aktuellen Lebens, in welchem das welterfahrende
und welttheoretisierende Leben beschlossen ist.<< (Hu IX, S. 56) Und in der Vor­
lesung »Einführung in die Phänomenologie<< von 1926/27 sagt er, nachdem er
zur Grundlegung der Wissenschaften eine »radikale Selbstbesinnung über das,
was allen Wissenschaften voranliegt als der universale Erfahrungsboden, auf dem
sie baut<<, sowie eine »Epoche hinsichtlich aller Wissenschaft<< (Hu XIV, s. 396)

8 Ms. F. I 32 (»Natur und Geist<<, Sommersemester 1927), S. 39b/40a.


Wissenschaftliche Welt und Lebenswelt 203

gefordert hat: »Andererseits sind für uns europäische Kulturmenschen die Wis­
senschaften doch da, Bestandstück unserer vielgestaltigen Kulturwelt, so wie
unsere Kunst, unsere wissenschaftliche Technik usw. Mögen wir ihre Geltung
auch unbetätigt lassen, mögen wir sie auch in Frage stellen, sie sind für uns
MitTatsachen in der Erfahrungswelt, in der wir leben. Ob klare oder unklare,
vollgültige oder ungültige Wissenschaften, wie alle guten oder schlechten Werk­
gebilde der Menschheit gehören sie zum Bestand der Welt als Welt reiner Er­
fahrung.<<9 Die die Wissenschaften letztlich tragende Erfahrung ist also nicht
mehr eine stumme, vorbegriffliche Anschauung, sondern die Erfahrung der ak­
tuellen, konkreten historischen Welt mit ihren Kulturgebilden, und das heißt
auch mit ihren Begriffen und Wissenschaften. Dieser von Husserl in den zwan­
ziger Jahren erst zögernd ausgedrückte Gedanke wird in der Krisis klar durch­
geführt: Die objektive Wissenschaft hat in der Lebenswelt ihre Grundlage und
als menschliche Leistung gehört sie wie alle andern menschlichen Leistungen
zugleich in die konkrete Lebenswelt hinein. (Hu VI, S. 1 07, 127, 1 32 f. , 1 3 6,
1 39, 1 4 1 , 460) War zunächst Husserls Problem der Grundlegung der objekti­
ven Wissenschaft als ein Problem des Begründungsverhältnisses von wissenschaft­
lichem Begriff und vorbegrifflicher Anschauung formuliert, so verwandelte es
sich in seinen Ü berlegungen zum Problem der grundsätzlichen Beziehung von
abstrakter Welt der objektiven Theorie und von konkreter geschichtlicher Welt
des subjektiven Lebens, in das die »theoretische Praxis<< als eine menschliche
Praxis unter andern (>>und zwar eine eigenartige und historisch späte<<) hinein­
gehört. (Hu VI, S. 1 1 3, 135, 1 45)
Was Husserl zu dieser Umwandlung der Problematik führte, war wohl einer­
seits schon rein wissenschaftstheoretisch bedingt : Die Grundlage der Geistes­
wissenschaften jedenfalls kann keine stumme, vorbegriffliche Erfahrung sein,
sondern nur die lebendige Teilhabe an der kulturellen Welt. Andererseits wur­
de Husserl in Laufe der zwanziger Jahre das Problem der objektiven Wissen­
schaft nicht nur als ein bloß wissenschaftstheoretisches fühlbar, sondern immer
mehr auch als ein Problem ihrer Relevanz, ihres Sinnes für das konkrete ge­
schichtliche Leben. Wie auch vielen seiner Zeitgenossen wurde ihm die »Le­
bensentfremdung<< der objektiven Wissenschaften empfindlich, nämlich die
Tatsache, daß sie zu den wichtigsten Fragen des menschlichen Lebens, den Sinn­
fragen, nichts zu sagen hatten. Darin sah er ihre tiefste »Krisis<< im wörtlichen
Sinn, nämlich ihre Abspaltung vom konkreten subjektiven Leben. Daher trat

9 Hu XIV, S. 396f.; im selben Sinne auch in »Natur und Geist« von 1927: »Ist denn nicht Wis·

senschaft selbst eine Funktion des Lebens, und nicht eines zufälligen Einzellebens und einer zu.
fälligen Gegenwan, sondern eines der größten Produkte historischer Intentionen und getaner Ar·
beit in Jahrtausenden? Ist sie nicht ein Stück selbst der einheitlichen Lebenswelt?• (Ms. F I 32,
s. 108b)
204 9. Kapitel. Die Lebenswelt als Grundlagenproblem

das Problem des Verhältnisses von objektiven Wissenschaften und konkretem


geschichtlichem Leben, bzw. von objektiv-wissenschaftlich konstruierter Rea­
lität und lebensweltlich-subjektiver Realität ins Zentrum seines Interesses. (Vgl.
Ms. F I 32, S. 1 09a ff. ; Krisis, § 2)
Über dieses Verhältnis entwickelte Husserl folgende Hauptgedanken: Das ob­
jektive Sein der Wissenschaften, wie sich diese seit der griechischen Antike und
der Renaissance (besonders Galilei) ausgebildet haben, ist das Korrelat einer ganz
besonderen Zweckidee, nämlich der Idee »der an sich fest bestimmt seienden
Welt und der sie prädikativ auslegenden, der idealiter wissenschaftlichen Wahr­
heiten (> Wahrheiten an sich <)«. (Hu VI, S. 1 1 3 ; vgl. S. 124) Es ist die Idee eines
wahrhaften Seins, das von allem bloß Subjektiv-Relativen unabhängig an sich
ist. Dieser Platonische Gedanke wurde von Galilei auf die Natur übertragen,
indem er dieser ein ideales mathematisches Sein supponierte. Husserl bezeich­
net diese Leitidee auch als »Hypothese des An-sich-seins<< (Hu VI, S. 1 1 3 ; vgl.
S. 129). Unter ihrer Leitung ist die objektiv konstruierte Welt der Wissenschaf­
ten das Produkt einer Idealisierung. Der objektive Wissenschaftler lebt in sei­
ner Berufstätigkeit unter dieser Zweckidee, sie ist sein lnteressenhorizont, in
dem er seine Ergebnisse (objektive Wahrheiten) erzeugt. Diese besondere Zweck­
idee bestimmt seine »Welt<<, d. h. sie bestimmt, was für ihn wirklich (in dieser
Abzielung richtig) und unwirklich (in dieser Abzielung verfehlt) ist. (Vgl. Hu
VI, Beilage XVII) Sie ist aber nur »eine der praktischen Hypothesen und Vor­
haben unter vielen<< innerhalb des umfassenden intersubjektiven Lebenszusam­
menhanges (Hu VI, S. 1 33): »Die wissenschaftliche Welt . . . gleich allen
Zweckwelten > gehört < nun selbst zur Lebenswelt, so wie alle Menschen und
menschlichen Gemeinschaften überhaupt und ihre menschlichen Zwecke . . . mit
allen Werkgebilden zu ihr gehören . . . Jede jener > Welten< hat ihre durch den
Berufszweck bestimmte besondere Universalität, jede den unendlichen Hori­
zont einer gewissen > Allheit <. Aber all diese Allheiten fügen sich der Welt ein,
die alles Seiende und alle seienden Allheiten wie alle ihre Zwecke und bezwecken­
den Menschen und Menschheiten umspannt. Alle fügen sich ein und - alle
setzen sie voraus<< (Hu VI, S. 460). Die wissenschaftliche Welt als »ein ins Un­
endliche fortlaufendes Zweckgebilde<< (Hu VI, S. 461) gründet in einem »aller
Absicht vorangehenden Sein<< (Hu VI, S. 462): »Die Lebenswelt ist die ständig
vorgegebene, ständig im voraus seiend geltende, aber nicht geltend aus irgend­
einer Absicht, Thematik, nach irgendwelchem universalen Zweck. Jeder Zweck
setzt sie voraus . . . (Hu VI, S. 461) Aber obschon die objektive Wissenschaft die
jeweils vorgegebene und ihr Werk hinterher aufnehmende Lebenswelt voraus­
setzt, ist diese nicht ihr Thema. (Hu VI, S. 462)
Die Lebenswelt ist die »Wirklich konkrete Umwelt<< (Ms. F I 32, s. l l Oa; vgl.
Hu IX, S. 55), die eigentliche Realität, in der wir leben, der für uns immer
Wissenschaftliche Welt und Lebenswelt 205

schon vorgegebene, im voraus daseiende Boden und Horizont für alle, theore­
tische und außertheoretische, Praxis. (Hu VI, S. 145) Als solcher Horizont und
Boden ist sie zwar immer bewußt, aber auch in der vor- und außerwissenschaft­
lichen Praxis ist sie als solche nicht Gegenstand unserer Aufmerksamkeit und
Besinnung. Denn wir leben thematisch befangen in unseren jeweiligen, mo­
mentanen oder dauernden, Zwecken, die innerhalb der Lebenswelt ihre eige­
nen abstrakten »Welten<< konstituieren; »normalerweise ist kein Anlaß, uns die
Lebenswelt universal ausdrücklich thematisch zu machen« (Hu VI, S. 459).
Gegenüber der objektiven Welt der Wissenschaft ist die Lebenswelt »das Uni­
versum von Seiendem, das ständig in unaufhörlicher Bewegung der Relativität
für uns ist<< (Hu VI, S. 462). Es ist die Welt des anschaulich Erfahrenen, das
relativ ist auf die erfahrende Subjektivität (Hu VI, S. 1 27) und auch im gewöhn­
lichen Leben auf unsere Menschengemeinschaft als eine Gemeinschaft von Men­
schen normaler Sinnlichkeit und normaler Wechselverständigung bezogen wird.
(Ms. F I 32, S. 6a, 25b) »Die Voraussetzung, die das Leben immer leitet, daß
die Erfahrungswelt sei, wobei das Sein in naiver Weise auf eine vorausgesetzte
empirische Normalität bezogen wird, wird nun in der Wissenschaft fast unwill­
kürlich unbedingt gefaßt, d. h. man setzt voraus eine Wahrheit und ein wahres
Sein, das über alle Unterschiede der Normalität und Anomalität hinausreicht.
Aber da jede wirkliche Einzelerfahrung und Gemeinschaftserfahrung relativ
ist, so ist die Voraussetzung eines wahren Seins und zugehöriger an sich wah­
rer, überrelativer Bestimmungen des Seienden von vornherein eine ideale, eine
jede wirkliche und mögliche Erfahrung transzendierende.<< (Ms. F I 32, S. 6b)
Der Kontrast zwischen der Subj ektivität der Lebenswelt und der Objektivität
der wissenschaftlichen Welt liegt also darin, »daß die letztere eine theoretisch­
logische Substruktion ist, die eines prinzipiell nicht Wahrnehmbaren, prinzi­
piell in seinem eigenen Selbstsein nicht Erfahrbaren, während das lebenswelt­
lich Subjektive in allem und jedem eben durch seine wirkliche Erfahrbarkeit
ausgezeichnet ist. Die Lebenswelt ist ein Reich ursprünglicher Evidenzen.<< (Hu
VI, S. 1 30)
Obschon die logische Substruktion der objektiven Wissenschaft die anschau­
liche subjektive Lebenswelt transzendiert, kann sie doch nur in Rückbeziehung
auf lebensweltliche Evidenzen ihre Wahrheit haben. Die lebensweltlich erfah­
rene theoretische Praxis der Wissenschaftler und ihre Instrumente bleiben der
beständige Geltungsboden: >>das Subjektiv-Relative fungiert nicht etwa als ein
irrelevanter Durchgang, sondern als das für alle objektive Bewährung die
theoretisch-logische Seinsgeltung letztlich Begründende, also als Evidenzquel­
le, Bewährungsquelle. Die gesehenen Maßstäbe, Teilstriche usw. sind benützt
als wirklich seiend und nicht als Illusionen; also das wirklich lebensweltlich
Seiende als gültiges ist eine Prämisse.<< (Hu VI, S. 129) Als >>UrevidenZ<< für die
206 9. Kapitel. Die Lebenswelt als Grundlagenproblem

Wissenschaft hat die Evidenz des Subjektiv-Lebensweltlichen in der Erkennt­


nisbegründung die >>höhere Dignität<< als die objektiv-logischen Evidenzen. (Hu
VI, S. 1 3 1) Die Lebenswelt ist aber nicht nur der gründende Boden für die wis­
senschaftlich wahre Welt, sondern befaßt sie zugleich in ihrer eigenen univer­
salen Konkretion: >>Hören wir auf, in unser wissenschaftliches Denken versunken
zu sein, werden wir dessen inne, daß wir Wissenschaftler doch Menschen und
als das Mitbestände der Lebenswelt sind, so rückt mit uns die ganze Wissen­
schaft in die - bloß >>subjektiv-relative<< - Lebenswelt ein.<< (Hu VI, S. 1 3 3)
Husserl übt also gegenüber der objektivistischen Einstellung der empirischen
Wissenschaften eine analoge Kritik wie Kant gegenüber dem reinen Denken
der Metaphysik: Während Kant dem apriorischen Denken keinen Erkenntnis­
wert in sich (als Metaphysik), sondern nur eine Funktion innerhalb der empi­
rischen Erkenntnis zuerkannte, wies Husserl das Denken eines objektiven
An-sich noch eine Stufe tiefer, indem er ihm als objektive Theorie keinen Wert
in sich, sondern nur eine abstrakte praktische Funktion innerhalb der subjektiv­
relativen Lebenswelt zusprach. Mit anderen Worten, er wies darauf hin, daß
auch im objektiven An-sich der empirischen Theorie in seiner Verabsolutie­
rung noch eine falsche Metaphysik steckt. Die empirischen Wissenschaften, die
Husserl in diesen Ü berlegungen im Auge hatte, waren natürlich primär die Na­
turwissenschaften, aber nicht nur diese, insofern nach ihm die »Hypothese des
An-sich<< »die ganze Universitas der positiven Wissenschaften der Neuzeit be­
herrschte« und die Galileische Physik als Leitbild der objektiven Wissenschaf­
ten diente. (Hu VI, S. 1 30)

Die Idee einer Ontologie der Lebenswelt

Husserl entwirft nun die Idee, die subjektiv-relative Lebenswelt als solche zum
Thema einer neuartigen Wissenschaft zu machen, nicht nur zur Aufklärung
des Geltungsfundamentes der objektiven Wissenschaften, sondern zur Erkennt­
nis des Sinnes weltlichen Seins und Wahrheit überhaupt. »Kann man nicht die
Lebenswelt, die, deren wir alle im Leben als unser aller Welt bewußt sind, oh­
ne sie irgendwie zum universalen Thema zu machen, vielmehr immer nur un­
sern alltäglichen, momentanen, unseren einzelnen oder universalen Berufs­
zwecken und -interessen hingegeben - kann man sie nicht in geänderter Ein­
stellung universal überschauen und kann man nicht, als was und wie sie ist,
kennenlernen wollen in ihrer eigenen Beweglichkeit, Relativität, sie zum The­
ma einer universalen Wissenschaft machen, die aber keineswegs das Ziel hat
der universalen Theorie, in dem Sinne wie die historische Philosophie und die
Wissenschaften es erstrebten?« (Hu VI, S. 462) Als ersten Schrittes dieser neuar-
Die Idee einer Ontologie der Lebenswelt 207

tigen Wissenschaft bedarf es >>einer Epoche hinsichtlich aller objektiven Wis­


senschaften«, d. h. einer Enthaltung >>hinsichtlich der ganzen objektiven theo­
retischen Interessen, der gesamten Bezweckungen und Handlungen, die uns als
objektiven Wissenschaftlern oder auch nur als Wißbegierigen eigen sind<< (Hu
VI, S. 1 3 8 f.). Die Ergebnisse der objektiven Wissenschaften haben Geltung in
der Lebenswelt und schlagen sich ihrem Bestand immerfort als Geltungsaufla­
gen zu. (Hu VI, S. 1 34, 136) Die von Husserl hier geforderte Epoche meint
offenbar eine Enthaltung vom Mitvollzug solcher Geltungen, ja von jeder dies­
bezüglichen an Wahrheit oder Falschheit interessierten Stellungnahme. (Hu VI,
S. 1 3 8) Dadurch sind aber diese Geltungen, die objektiven Wissenschaften und
die Wissenschaftler, für den die Epoche Übenden nicht verschwunden: >>Sie sind
weiter, was sie früher auch waren: Tatsachen im Einheitszusammenhang der
vorgegebenen Lebenswelt, nur daß wir, vermöge der Epoche, nicht als Mitin­
teressenten, als Mitarbeiter usw. fungieren.« (Hu VI, S. 139) Diese Geltungen
sind für ihn neutralisiert, nicht mehr mitvollzogen, sondern nur noch als Mei­
nungen der Wissenschaftler vorhanden. Zur thematischen Betrachtung der Le­
benswelt bedarf es aber nicht nur der Epoche gegenüber den objektiven Wis­
senschaften, sondern gegenüber allen zweckgerichteten Interessen, die uns im­
mer in einen Sonderhorizont eingeschlossen halten. (Hu VI, S. 1 4 1 ; vgl. Beila­
ge XVII) Die Lebenswelt ist allen praktischen Zwecken vorgegeben und kann
nach Husserl nur in einer zweckfreien Einstellung konkret und universal in
den Blick kommen. Vielleicht hat Husserl die von ihm hier geforderte Einstel­
lung in enger Nähe zur ästhetischen Zweck- und Interessenfreiheit gesehen;10
wohl ist nach ihm das zweckfreie Verhältnis zur Welt durch das ausschließliche
Interesse an der Subjektivität ermöglicht. Sie blendet diese Zwecke nicht ab,
sondern dadurch, daß sie sich keinem einzelnen Zweck hingibt, vermag sie alle
universal zu spiegeln.
Diese für die neuartige Wissenschaft der Lebenswelt geforderte Einstellung
scheint nicht identisch zu sein mit der von Husserl sog. >>personalistischen
Einstellung«: >>in der wir allzeit sind, wenn wir miteinander leben, zueinander
sprechen, einander im Gruße die Hände reichen, in Liebe und Abneigung, in
Gesinnung und Tat, in Rede und Gegenrede aufeinander bezogen sind; desglei­
chen in der wir sind, wenn wir die uns umgebenden Dinge eben als unsere
Umgebung und nicht wie in der Naturwissenschaft als > objektive < Natur anse­
hen.« (Hu IV, S. 1 83) Die personalistische Einstellung bezeichnet zwar für Hus­
serl einen universaleren Weltbezug als die naturalistische oder objektivistische,
da diese >>durch eine Abstraktion oder vielmehr durch eine Art Selbstverges-

10
Vgl. Husserls Brief an Hugo von Hoffmannstal, veröffentlicht in Sprache und Politik. Fest·
gabe für Dolf Sternberger, hrsg. von C. ]. Friedrich, Heidelberg, 1968, S. 1 1 1 - 1 14.
208 9. Kapitel. Die Lebenswelt als Grundlagenproblem

senheit des personalen Ich eine gewisse Selbständigkeit gewinnt, dadurch zu­
gleich ihre Welt, die Natur, unrechtmäßig verabsolutierend<< (Hu IV, S. 1 8 3 f.);
aber auch im alltäglichen, personalistisch eingestellten Leben sind wir nach Hus­
serl auf einzelne Zwecke gerichtet, die die Lebenswelt in ihrer Konkretion und
Universalität unthematisch belassen.
Die Lebensumwehen sind relativ zu den verschiedenen Kulturkreisen, haben
aber eine allgemeine Struktur, die zwar eine subjektive Relativität ein beschließt,
aber den verschiedenen faktischen Kulturkreisen allgemein ist. So gibt es eine
lebensweltliche Zeitlichkeit, Räumlichkeit, Kausalität, die nicht identisch sind
mit den entsprechenden Idealisierungen der objektiven Wissenschaft. Husserl
sah in einer solchen allgemeinen Struktur oder Typik ein >>lebensweltliches
Apriori<<, das in einer apriorischen Wissenschaft, in einer >>Ontologie der Le­
benswelt<< zu erfassen ist. (Hu VI, S. 1 76; vgl. Hu IX, S. 64 f.) Eine solche Onto­
logie hätte auch allgemeine Strukturen der subjektiven Relativität und inter­
subjektiven Praxis (etwa die Struktur >>Heimwelt-Fernwelt<<11) zu erfassen. Hus­
serl hat eine solche Ontologie nie systematisch ausgearbeitet.
Eine solche apriorische Wissenschaft lebensweltlicher Strukturen ist nach Hus­
serl noch unabhänig von transzendental-subjektiven Interessen, d. h. noch auf
dem Boden der Lebenswelt und noch nicht in der transzendental-reflexiven Ein­
stellung möglich. (Hu VI, S. 1 76 f.) Aber eine solche >>naive<< Ontologie der Le­
benswelt vermag nach ihm noch nicht den Seinssinn der wesentlich auf Sub­
jektivität relativen Lebenswelt letztlich zu verstehen. Letzte Klärung ist nur mög­
lich in einer Reflexion auf die transzendentale Subjektivität, auf das >>universa­
le leistende Leben, in welchem die Welt als die für uns ständig in strömender
Jeweiligkeit seiende, die uns ständig > Vorgegebene < zustande kommt<< (Hu VI,
S. 148). >>So nur können wir studieren, was Welt als Bodengeltung natürlichen
Lebens, in allen seinen Vorhaben und Gehaben, ist, und korrelativ, was natür­
liches Leben und seine Subjektivität letztlich ist, d. h. rein als die Subjektivität,
die da als Geltung vollziehende fungiert.<< (Hu VI, S. 1 5 1) Zum Studium dieses
Lebens bedarf es methodisch der transzendentalen Epoche und Reduktion. So
sah Husserl methodisch in der Problematik der Lebenswelt einen Weg zur
transzendentalen Reduktion. (Vgl. oben, Kapitel 2, § 1) 1 2

11Vgl. Hu XV, Beilagen XI, XII, XIII, XLVIII, Text Nr. 27


12Ausgewählte Literatur zum 9. Kapitel: P. Janssen (1970); U. Claesges (1972): S. 85-101; D. Carr
(1977): S. 202-2 12; E. Ströker ( 1979); D. Carr ( 1987): S. 227- 246.
10. Kapitel
Erste und Zweite Philosophie
(transzendentale Phänomenologie und Metaphysik)

Husserl präsentiert seine transzendentale Phänomenologie als eine Wesenswis­


senschaft (eidetische oder apriorische Wissenschaft) im Gegensatz zu den Tat­
sachenwissenschafteil (siehe Ideen I, S. 4 und oben Kapitel 2, § 2). Aber schon
zur Zeit der Ideen ( 1 9 13) beschränkt sich für ihn die phänomenologische Philo­
sophie nicht einfach auf das Wesen oder Apriori. Er schreibt 1914: »Ich redu­
ziere keineswegs die Philosophie auf Erkenntnistheorie und Vernunftkritik über­
haupt, geschweige denn auf transzendentale Phänomenologie. Diese ist in meinen
Augen eine eigene Wissenschaft, die eidetische Wissenschaft vom transzenden­
tal reinen Bewußtsein und seinen Korrelaten, die in gewisser Weise alle anderen
eidetischen Wissenschaften (das System der formalen und materialen Ontolo­
gien) umspannt, und doch nicht in sich schließt. Der vollständige Entwurf der
Ontologien und die systematische Ausführung der ihnen entsprechenden und
zur höchsten Einheit zurückführenden transzendentalen Phänomenologie ist
m.E. die kardinale Bedingung der Möglichkeit einer wissenschaftlichen Philo­
sophie, ist ihr vollständiges eidetisches Fundament. Des näheren ermöglicht sie
allein eine wissenschaftliche Metaphysik, die es nicht mehr [wie die transzen­
dentale Phänomenologie] mit bloßen idealen Möglichkeiten, sondern mit der
Wirklichkeit zu tun hat . . . . Die Metaphysik ist die eigentliche Wissenschaft
von der Realität. Also auch ich will eine Metaphysik, und eine im ernstlichen
Sinn wissenschaftliche, nur daß ich, um die Grenzen strenger Wissenschaft rein
zu halten, mich vorläufig in meinen Publikationen bescheide und meine Kraft
auf die eidetische Grundlegung konzentriere<< (Brief an K. Joel vom 1 1 .3 . 1 9 14:
Ms. F III 1, S. 1 40a/b).
Daß die transzendentale Phänomenologie als Eidetik der >>Metaphysik<< als
der >>absoluten Wissenschaft der faktischen Wirklichkeit<< (Ms. F I 14, S. 24a
( 1 9 1 1)) als ihr wissenschaftliches Fundament voranzugehen hat, ist für Husserl
einerseits im besonderen Wesen des Bewußtseins begründet: Das Bewußtsein
als »Heraklitischer Fluß,, ist überhaupt nur aufgrund von Wesen wissenschaft­
lich erfaßbar (siehe oben Kapitel 2, S. 82). Andererseits aber macht er dafür
als ein allgemeines wissenschaftstheoretisches Prinzip geltend, daß alles Tatsäch­
liche letztlich nur im Eidetischen (Apriorischen) seine volle Rationalität finde:
»Alle Vernunft im Aposteriori hat ihre Prinzipien a priori, und diese Prinzi­
pien sind die Rechtsgründe der objektiven und unbedingten Gültigkeit<< (Ms.
F I 10, S. 95a ( 1906)). >>Die alte ontologische Lehre, daß die Erkenntnis der > Mög­
lichkeiten< der der Wirklichkeiten vorhergehen müsse, ist m.E., sofern sie recht
210 10. Kapitel. Erste und Zweite Philosophie

verstanden und in rechter Weise nutzbar gemacht wird, eine große Wahrheit«
(Ideen I ( 1 9 1 3), S. 1 59). »Alle Rationalität des Faktischen liegt ja im Apriori.
Apriorische Wissenschaft ist Wissenschaft von dem Prinzipiellen, auf das Tat­
sachenwissenschaft rekurrieren muß, um letztlich eben prinzipiell begründet
zu werden . . . « (Hu I, S. 1 8 1). »Ist auch mein eigentliches Interesse, nach der tran­
szendentalen Reduktion auf mein reines ego, seine, dieses faktischen ego, Ent­
hüllung, so kann die Enthüllung zu einer echt wissenschaftlichen nur werden
unter Rekurs auf die ihr, das ist dem ego als einem ego überhaupt, zugrundelie­
genden apodiktischen Prinzipien, auf die Wesensallgemeinheiten und Notwen­
digkeiten, mittels deren das Faktum auf seine rationalen Gründe, auf die seiner
reinen Möglichkeiten zurückbezogen und dadurch verwissenschaftlicht (logifi­
ziert) wird. So geht > an sich < die Wissenschaft der reinen Möglichkeiten derje­
nigen von den Wirklichkeiten vorher und macht sie als Wissenschaft überhaupt
erst möglich<< (a.a.O., S. 1 06).
Die transzendentale Phänomenologie als Wissenschaft reiner Möglichkeiten
ist, indem sie das in einer transzendentalen Subjektivität und darin konstitui­
erten Intersubjektivität beschlossene Apriori entfaltet, aufgrund der Bezogen­
heit alles erdenklichen Seins auf die transzendentale Subjektivität und Inter­
subjektivität letztlich »universale Ontologie<< als Lehre vom möglichen Sein.
»Diese universale konkrete Ontologie (oder auch universale und konkrete Wis­
senschaftslehre, diese konkrete Logik des Seins) wäre also das an sich erste Wis­
senschaftsuniversum aus absoluter Begründung . . . Diese totale Wissenschaft vom
Apriori wäre dann das Fundament für echte Tatsachenwissenschaften und für
eine echte Universalphilosophie im Cartesianischen Sinne, eine universale Wis­
senschaft vom tatsächlichen Seienden aus absoluter Begründung<< (a.a.O., S. 1 8 1).
Nach dieser Begründungsordnung nennt Husserl - dem Platonischen Ursprung
dieser Konzeption entsprechend - die eidetische, transzendentale Phänome­
nologie (die universale Ontologie oder Logik des Seins) Erste Philosophie und
bezeichnet die empirische Philosophie des Faktischen als Zweite Philosophie:
»Die streng systematisch durchgeführte Phänomenologie des vorhin erweiter­
ten Sinnes [nämlich erweitert zur empirischen Phänomenologie] ist identisch
mit dieser alle echten Erkenntnisse umspannenden Philosophie [der universa­
len Wissenschaft aus radikaler Selbstrechtfertigung]. Sie zerfällt in die eideti­
sche Phänomenologie (oder universale Ontologie) als Erste Philosophie und in
die Zweite Philosophie, die Wissenschaft vom Universum der Fakta oder der
sie alle synthetisch beschließenden Intersubjektivität<< (Hu IX, S. 298 f.).
Die Zweite Philosophie oder Metaphysik scheint nach Husserl vorerst nichts
anderes zu sein als eine letzte Begründung oder Aufklärung aller Tatsachenwis­
senschaften aus den transzendental-apriorischen Prinzipien. Im Sinne dieses Karr­
tischen Gedankens schreibt Husserl auf einem Beiblatt zu seiner Vorlesung
10. Kapitel. Erste und Zweite Philosophie 211

»Erste Philosophie<< von 1923/24: »In der phänomenologischen Interpretation


der positiven Tatsachenwissenschaften erwachsen die letztwissenschaftlichen Tat­
sachenwissenschaften, die in sich selbst philosophischen, die neben sich keine
anzuhängenden Sonderphilosophien mehr dulden. Durch die ihnen in Anwen­
dung der eidetischen Phänomenologie zuwachsende letzte Interpretation des
in ihnen als Faktum erforschten objektiven Seins durch die in dieser Phänome­
nologie mitgeforderte universale Betrachtung aller Regionen der Objektivität
in bezug auf die universale Gemeinschaft transzendentaler Subjekte gewinnt
das Weltall, das universale Thema der positiven Wissenschaften, > metaphysi­
sche < Interpretation, was nichts anderes heißt als eine Interpretation, hinter der
eine andere zu suchen keinen wissenschaftlichen Sinn gibt<< (Hu VII, S. 1 8 8
Anm.). Oder einige Jahre später ( 1 928): >>Die empirische, der eidetischen nach­
kommende Phänomenologie ist identisch mit dem vollständigen systematischen
Universum der positiven Wissenschaften, sofern wir sie nur von vornherein
methodisch absolut begründet denken durch die eidetische Phänomenologie.<<1
Aber letztlich geht Husserls Philosophie der Wirklichkeit (seine >>Meta­
physik<<) doch nicht in dieser eidetisch-phänomenologischen Interpretation der
Tatsachenwissenschaften auf. In den Ideen schreibt er, nachdem von der
>>durch die eidetische Phänomenologie ermöglichten > phänomenologischen Um­
wendung< der gewöhnlichen Tatsachenwissenschaften<< die Rede war: >> . . . es
bleibt nur die Frage übrig, inwiefern von da aus ein Weiteres zu leisten wäre<<
(Ideen I, S. 1 1 9) und im oben erwähnten Beiblatt zur >>Ersten Philosophie<<
( 1 923/24) folgt den zitierten Sätzen die Bemerkung: >>Aber dahinter eröffnet
sich auf phänomenologischem Boden eine weiter nicht mehr zu interpretie­
rende Problematik [gemeint wohl: eine auf phänomenologischem Boden wei­
ter nicht mehr zu interpretierende Problematik]: die der Irrationalität des
transzendentalen Faktums, das sich in der Konstitution der faktischen Welt und
des faktischen Geisteslebens ausspricht: also Metaphysik in einem neuen Sinn<<
(Hu VII, S. 1 8 8). Im selben Sinn betrachtet Husserl schon in sehr frühen Tex­
ten das Faktum, daß die Wirklichkeit theoretischen und p raktischen Vernunft­
idealen entspricht (das irrationale Faktum der Rationalität der Welt), bzw. das
Problem, inwiefern sie diesen Idealen entspricht und entsprechen kann, als Ge­
genstand der Metaphysik. 2 Die Cartesianischen Meditationen charakterisieren

1 Hu IX, S. 298. In ähnlichem Sinne schon in der Vorlesung >>Grundprobleme der Ethik und

Wertlehre« vom SS 1 9 1 1 : »Nennen wir die auf das faktische Sein bezogene Wissenschaft, sofern
sie absolute Wissenschaft, höchsten Interessen genügend sein will, Metaphysik, so ist es klar, daß
Metaphysik nichts anderes ist als Fortführung aller aktuellen Natur- und Geisteswissenschaften
als ihre Vollendung, Vervollkommung, Philosophierung, nämlich nach den in den reinen [ aprio­
=

rischen] philosophischen Disziplinen ausgebildeten Prinzipien, nach den in ihnen rein ausgestalte­
ten Ideen und Idealen« (Ms. F I 14).
2 Vgl. Hu VIII, S. 385, 394.
212 1 0 . Kapitel. Erste u n d Zweite Philosophie

den Gehalt dieser Metaphysik folgendermaßen: >> . . . innerhalb der faktischen


monadischen Sphäre, und als ideale Wesensmöglichkeit in jeder erdenklichen,
treten alle die Probleme der zufälligen Faktizität, des Todes, des Schicksals auf,
der in einem besonderen Sinne als > Sinnvoll < geforderten Möglichkeit eines > ech­
ten < menschlichen Lebens, darunter also auch die Probleme des > Sinnes < der
Geschichte und so weiter aufsteigend. Wir können auch sagen, es sind die ethisch­
religiösen Probleme, aber gestellt auf den Boden, auf den alles, was für uns soll
möglichen Sinn haben können, eben gestellt sein muß.<<3
Die >>Metaphysik in einem neuen Sinn<< - und wir dürfen im Sinne Husserls
wohl auch sagen: die Zweite Philosophie in einem neuen Sinn - kann also nicht
mehr eine bloß transzendental-eidetische Interpretation des empirisch Tatsäch­
lichen sein. Für die philosophische Erörterung dieser letzten Sinnfragen des fak­
tischen menschlichen Lebens scheint Husserl an ein ganz andersartiges metho­
disches Vorgehen zu denken: Er weist auf die >>Postulate der praktischen Ver­
nunft<< als >>die vielleicht größte der Kamischen Entdeckungen<<.4
In seinen letzten Jahren stellt Husserl allerdings seine an der Priorität der
eidetischen Möglichkeit vor der Wirklichkeit orientierte Unterscheidung von
Erster und Zweiter Philosophie in Frage. Ein Text aus dem Jahre 193 1 erklärt
vom Eidos transzendentales Ich: >>Wir haben hier einen merkwürdigen und ein­
zigartigen Fall, nämlich für das Verhältnis von Faktum und Eidos. Das Sein
eines Eidos, das Sein der eidetischen Möglichkeiten und das Universum dieser
Möglichkeiten ist frei vom Sein oder Nichtsein irgendeiner Verwirklichung sol­
cher Möglichkeiten, es ist seinsunabhängig von aller Wirklichkeit, nämlich ent­
sprechender. Aber das Eidos transzendentales Ich ist undenkbar ohne transzen­
dentales Ich als faktisches. << Nachdem von der vollen Ontologie als Teleologie
und von der durch diese vorausgesetzten Faktizität die Rede war, geht der Text
weiter: >>Wir kommen auf letzte > Tatsachen < - Urtatsachen, auf letzte Notwen­
digkeiten, die Urnotwendigkeiten. Aber ich denke sie, ich frage zurück und kom­
me auf sie schließlich von der Welt her, die ich schon > habe <. Ich denke, ich
übe Reduktion, ich, der ich bin, für mich in dieser Horizonthaftigkeit bin. Ich
bin das Urfaktum in diesem Gang, ich erkenne, daß zu meinem faktischen Ver­
mögen der Wesensvariation etc. in meinem faktischen Rückfragen sich die und
die mir eigenen Urbestände ergeben, als Urstrukturen meiner Faktizität. Und
daß ich in mir einen Kern von > U rzufälligem < trage in Wesensformen, in For­
men vermöglichen Funktionierens, in denen dann die weltlichen Wesensnot-

3 Hu I, S. 182; so fast wörtlich auch in den »Pariser Vorträgen«, a.a.O. , S. 39. Vgl. Hu VIII, S.
506: »Die Geschichte ist das große Faktum des absoluten Seins; und die letzten Fragen, die letztme­
taphysischen und -teleologischen, sind eins mit den nach dem absoluten Sinn der Geschichte.<<
4 Vgl. I. Kern, Husserl und Kant, 1964, S. 300- 303.
10. Kapitel. Erste und Zweite Philosophie 213

wendigkeiten fundiert sind. Mein faktisches Sein kann ich nicht überschreiten
und darin nicht das intentional beschlossene Mitsein Anderer etc., also die ab­
solute Wirklichkeit. Das Absolute hat in sich selbst seinen Grund und in sei­
nem grundlosen Sein seine absolute Notwendigkeit als die eine > absolute
Substanz<. Seine Notwendigkeit ist nicht Wesensnotwendigkeit, die ein Zufäl­
liges offen ließe. Alle Wesensnotwendigkeiten sind Momente seines Faktums,
sind Weisen seines in bezug auf sich selbst Funktionierens - seine Weisen, sich
selbst zu verstehen oder verstehen zu können.<<5 Diese Überlegung steht in ei­
nem Kontext, der vom Faktum der teleologischen Ausrichtung der vom göttli­
chen Willen getragenen transzendentalen Intersubjektivität auf Vollkommenheit
(>>wahres Sein<<) ausgeht. Nicht nur das >>Urfaktum<< des Ich, sondern auch das
Faktum seiner historischen Welt überhaupt scheint hier den Ausgangspunkt
des Philosophierens zu bilden, so daß hier manches an Heideggers Hermeneu­
tik der Faktizität erinnert (vgl. auch Hu XV, S. 666 ff.). Jedoch ist es nach die­
sem Neuansatz bei Husserl nicht mehr zu einer systematischen und prinzipiellen
Ausarbeitung des Verhältnisses zwischen Eidetik (an der er als Bedingung der
Möglichkeit transzendentaler Erkenntnis unerschüttert festhält), Wirklichkeit
und empirischem Faktum gekommen.6

5 Hu XV, S. 3 8 5 f. Vgl. den Text in Ms. D 17, S. 2 1 a (Mai 1 934), der veröffentlicht ist in Philo­
sophical Essays in Memory ofE. Husserl, ed. M. Farber, Cambridge, Mass., Harvard University Press,
1940 (2. Auf!. 1970), S. 323: >>Das ego lebt und geht allem wirklichen und möglichen Seienden vor­
an, und Seiendes jedes, ob realen oder irrealen Sinnes.<<
6 Eine etwas ausführlichere Darstellung von Husserls Sicht des Verhältnisses von Erster und Zwei­
ter Philosophie findet sich in L Kern, Idee und Methode der Philosophie -·-1975, S. 333 ff.
Anhang
Daten zu Leben, Werk und Lehrtätigkeit

1 859 Edmund Husserl wird als zweites von vier Kindern in Prossnitz (Prostejov,
Mähren) geboren.

1 8 76 - 1 887 Studienjahre.
WS 1 8 76/77-WS 1 8 77/78: Universität Leipzig.
Astronomie; Vorlesungen in Mathematik, Physik, Astronomie und Philo­
sophie. Erste philosophische Lektüre: Berkeley. Begegnung mit Thomas
Masaryk, dem späteren Staatspräsidenten der Tschechoslowakei, der ihn nach
Wien zu Franz Brentano wies.
1 878 - 1 880/8 1 : Universität Berlin.
Studium der Mathematik (u.a. bei L. Kronecker und C. Weierstraß, dessen
Privatassistent er im SS 1883 war und von dem er »das Ethos seines wissen­
schaftlichen Strebens<< habe) und der Philosophie (F. Paulsen).
1 88 1 - 1 8 8 1/82: Universität Wien.
Studium der Mathematik
1 882, 8. Oktober: Approbation der Dissertation >>Beiträge zur Theorie der
Variationsrechnung<<;
1883, 23. Januar: Promotion zum Dr. phil.
1 884 Tod des Vaters (24. April)
WS 1 884/85-SS 1 886: Universität Wien.
Philosophische Vorlesungen bei Franz Brentano.
W/S 1 8 86/87-SS 1887: Universität Halle a.S.
Vorlesungen bei C. Stumpf, zu dem Husserl zwecks Habilitation auf Emp­
fehlung von Brentano kam.
1 8 86 - 1 895 Studien vorzugsweise in den Gebieten der formalen Mathematik und for­
malen Logik.
1 887 Heirat mit Malvine, geh. Steinschneider (6. August)
1 8 87 Herbst: Druck der Habilitationsschrift Über den Begriff der Zahl, Psycholo·
gisehe A nalysen
Bücherbeschaffungen auf dem Gebiet der Philosophie während der Studien­
zeit (in Auswahl):
1 880: Schopenhauer, Spinoza; 1 884: Hege!, Phänomenologie des Geistes;
H. Spencer, Grundlagen der Philosophie; 1 886: E. Mach, Beiträge zur A naly·
se der Empfindungen; 1 887: G. Frege, Die Grundlagen der A rithmetik.

1887- 1901 Hallenser Privatdozentenzeit


1 887 Antrittsvorlesung >>Die Ziele und Aufgaben der Metaphysik<< (24. Oktober)
1891 Philosophie der Arithmetik, Psychologische und logische Untersuchungen; Re­
zension zu Schröders Vorlesungen über die Algebra der Logik.
1900 Logische Untersuchungen, Erster Teil: Prolegomena zur reinen Logik
190 1 Logische Untersuchungen, Zweiter Teil: Untersuchungen zur Phänomenologie
und Theorie der Erkenntnis
218 Daten zu Leben, Werk und Lehrtätigkeit

1901 Erste Begegnung M. Schelers mit Husserl


1901 Anfang September erfolgt die seit einem Jahr schwebende Berufung nach
Göttingen.

In seinen Lehrveranstaltungen in Halle behandelte Husserl folgende Gebiete:


Einleitung in die Erkenntnistheorie und Metaphysik (Vorlesung, WS 1887/88)
Grundprobleme der Psychologie (Vorlesung, SS 1 88 8)
Enzyklopädie der Philosophie (Vorlesung, WS 1 8 8 8/89)
Logik (Vorlesung, SS 1 889, SS 1 890, SS 1 896)
Ethik (Vorlesung, WS 1 889/90)
Ausgewählte Fragen aus der Philosophie der Mathematik (Vorlesung, WS 1 889/90,
WS 1 890/9 1)
Geschichte der neueren Philosophie (Vorlesung, WS 1 890/9 1)
Grundprobleme der Ethik (Vorlesung, SS 1 8 9 1 , SS 1 893)
Psychologie (Vorlesung, WS 1 8 9 1 /92, WS 1 894/95)
Philosophische Ü bungen im Anschluß an Lackes Versuch über den menschlichen
Verstand (Seminar, WS 1 8 9 1 /92, WS 1 898/99)
Einleitung in die Philosophie (Vorlesung, SS 1 892, SS 1 893, SS 1 894, SS 1 896, WS
1 897/98, WS 1898/99)
Philosophische Ü bungen im Anschluß an Descartes' Meditationes de prima philoso·
phia (Seminar, SS 1 892, WS 1 896/97)
Ü ber die Freiheit des Willens (Vorlesung, WS 1 892/93, WS 1 893/94, WS 1 894/95,
ss 1 896, ss 1 897, ss 1 899, ss 1900, ss 190 1 )
Die Beweise für das Dasein Gottes (Vorlesung, WS 1892/93)
Philosophische Ü bung im Anschluß an Schopenhauers Welt als Wille und Vorstel·
lung (Seminar, WS 1 892/93)
Der Theismus und die moderne Wissenschaft (Vorlesung, WS 1 893/94)
Ethik und Rechtsphilosophie (Vorlesung, SS 1 894, SS 1 897)
Ü ber die neueren Forschungen zur deduktiven Logik (Vorlesung, SS 1 895)
Philosophische Ü bungen im Anschluß an Mills Logik (Seminar, SS 1 895)
Geschichte der Religionsphilosophie seit Spinoza (Vorlesung, WS 1 895/96)
Philosophische Ü bungen im Anschluß an Humes Dialoge über natürliche Religion
(Seminar, WS 1 895/96)
Einführung in die Erkenntnistheorie (Vorlesung, WS 1 896/97)
Philosophische Ü bungen im Anschluß an eine auszuwählende Schrift Schopenhau­
ers (Seminar, SS 1 897)
Philosophische Ü bungen über Kants Prolegomena (Seminar, WS 1 897/98)
Kam und die nachkantische Philosophie (Vorlesung, SS 1 898)
Philosophische Ü bungen im Anschluß an Kants Kritik der reinen Vernunft (Semi­
nar, SS 1 898, WS 1900/0 1)
Erkenntnistheorie und Hauptpunkte der Metaphysik (Vorlesung, WS 1 898/99)
Geschichte der Philosophie (Vorlesung, SS 1 899, SS 1900, SS 1901)
Philosophische Ü bungen über David Humes Traktat über die menschliche Natur
(Seminar, SS 1 899)
Philosophische Ü bungen im Anschluß an Spinozas Ethica (Seminar, SS 1900)
Kants Philosophie (WS 1900/0 1)
Daten zu Leben, Werk und Lehrtätigkeit 219

190 1 - 19 1 6 Göttinger Jahre


190 1 (September) Ernennung zum außerordentlichen Professor
1902 Erster Besuch J. Dauberts bei Husserl in Göttingen: Diskussion über die
Logischen Untersuchungen. Aufgrund dieses Zusammentreffens Beginn der
Verbindung von Schülern Th. Lipps' in München mit Husserl.
1904 (Mai) Besuch in München: Zusammentreffen mit Th. Lipps und seinen Schü­
lern Q. Daubert, A. Pfänder, etc.)
1905 (März) Reise nach Berlin zu W. Dilthey. In einem Brief an G. Misch aus
dem Jahre 1929 schrieb Husserl, »daß wenige Gespräche 1905 mit Dilthey
in Berlin (nicht seine Schriften) einen Impuls bedeuteten, der vom Husserl
der Logischen Untersuchungen zu dem der Ideen führte . . . <<.
1906 Ernennung zum ordentlichen Professor.
1906 (Dezember) Besuch des Dichters Hugo von Hofmannsthai bei Husserl.
1907 Besuch bei Franz Brentano in Florenz.
1907 (Sommersemester) Gründung der ,,Göttinger Philosophischen Gesellschaft<<
durch Th. Conrad .
1909 (Oktober) Besuch P. Natorps bei Husserl.
1910 Qanuar) Husserl sagt Rickert seine Mitwirkung bei der Herausgabe der neuen
Zeitschrift Logos zu.
1911 ,,Philosophie als strenge Wissenschaft« i n Logos, Bd. I , 1 9 1 0/ 1 1 .
1911 Briefwechsel Dilthey - Husserl i m Anschluß a n Logos-Artikel.
1913 Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie.
Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie.
Das Werk erschien im Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische For·
schung, Bd. I, das von Husserl als verantwortlichem Herausgeber zusammen
mit Moritz Geiger, Alexander Pfänder, Adolf Reinach und Max Scheler im
Jahre 1912 begründet worden war.
1913 Besuch K. Jaspers bei Husserl.
1914 Teilnahme a m VI. Kongreß für experimentelle Psychologie i n Göttingen
(15. - 1 8 . April).
1916 ( 5 . Januar) Berufung nach Freiburg als Nachfolger und auf Empfehlung von
Heinrich Rickert, mit Wirkung vom 1 . April.
1916 (8. März) Sohn Wolfgang fällt vor Verdun.

In seinen Göttinger Lehrveranstaltungen behandelte Husserl folgende Gebiete:


Ü ber die Freiheit des Willens (Vorlesung, WS 190 1 /02, SS 1903, WS 1904/05)
Logik und Erkenntnistheorie (Vorlesung, WS 190 1 /02)
Erkenntnistheoretische Ü bungen im Anschluß an Berkeleys Principles of Human
Knowledge (Seminar, WS 190 1 /02, SS 1907)
Allgemeine Geschichte der Philosophie von den ältesten Zeiten bis in das 19. Jahr­
hundert (Vorlesung, zwischen 1902 und 1 9 1 5 jedes SS)
Grundfragen der Ethik (Vorlesung, SS 1902, WS 1908/09)
Philosophische Ü bungen über Kants Kritik der reinen Vernunft (Seminar, SS 1902,
WS 1909/ 10, WS 1 9 1 1 / 12)
Logik (Vorlesung, WS 1902/03)
Allgemeine Erkenntnistheorie (Vorlesung, WS 1902/03)
220 Daten zu Leben, Werk und Lehrtätigkeit

Philosophische Ü bungen im Anschluß an David Humes Traktat über die menschli­


che Natur (Seminar, WS 1902/03, WS 1904/05, WS 1907/08, WS 1 9 1 0/ 1 1)
Die Philosophie der Renaissance (Vorlesung, SS 1903)
Philosophische Ü bungen über Fichtes Bestimmung des Menschen (Seminar, SS
1903)
Geschichte der neueren Philosophie von Kant einschließlich bis zur Gegenwart (Vor­
lesung, WS 1903/04)
Geschichte der Pädagogik (Vorlesung, WS 1903/04, WS 1909/ 10, WS 1 9 1 3/ 14, WS
19 15 /16)
Philosophische Ü bungen über Kants Kritik der praktischen Vernunft (Seminar, WS
1903/04)
Philosophische Ü bungen über neuere naturphilosophische Schriften naturwissen­
schaftlicher Forscher (zunächst über E. Machs A nalyse der Empfindungen) (Seminar,
WS 1903/04, SS 1 9 1 1)
Hauptstücke der deskriptiven Psychologie der Erkenntnis (Vorlesung, SS 1904)
Ö ffentliche philosophische Ü bungen im Anschluß an I.ockes und Leibnizens Ver­
such über den menschlichen Verstand (Seminar, SS 1904)
Hauptstücke aus der Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis (Vorlesungen und
Ü bungen, WS 1904/05)
Urteilstheorie (Vorlesung, SS 1905, SS 19 12)
Geschichtsphilosophische Übungen in Anknüpfung an neuere Literatur (Seminar,
ss 1 905)
Philosophische Übungen zur Einführung in die Hauptprobleme der Philosophie der
Mathematik (Seminar, SS 1905)
Kant und die nachkantische Philosophie (Vorlesung, WS 1905/06, WS 1907/08, WS
1909/ 10, WS 1 9 1 1 / 12)
Philosophische Ü bungen über Kants Theorie der Erfahrung, nach der Kritik der
reinen Vernunft und den Prolegomena (Seminar, WS 1905/06)
Philosophische Ü bungen über Kants Prinzipienlehre nach der Grundlegung zur Me·
taphysik der Sitten und der Kritik der praktischen Vernunft (Seminar, SS 1906, SS 1909,
ss 19 14)
Einführung in die Logik und Erkenntniskritik (Vorlesung, WS 1906/07)
Philosophische Ü bungen über ausgewählte Probleme der Phänomenologie und Er­
kenntniskritik (Seminar, WS 1906/07)
Hauptstücke aus der Phänomenologie und Kritik der Vernunft (Vorlesung, SS 1907)
Diskussionen über Grundfragen der Logik und Kritik der Vernunft (Seminar, WS
1907/08)
Zur Einleitung in die Wissenschaftslehre (Vorlesung, SS 1908)
Philosophische Übungen über Grundprobleme der Bedeutungs- und Urteilslehre (Se­
minar, SS 1908)
Alte und neue Logik (Vorlesung, WS 1908/09)
Philosophische Ü bungen im Anschluß an D. Humes Essay über die Prinzipien der
Moral (Seminar, WS 1 908/09)
Einführung in die Phänomenologie der Erkenntnis (Vorlesung, SS 1909)
Logik als Theorie der Erkenntnis (Vorlesung, WS 1 9 1 0/ 1 1 )
Grundprobleme der Phänomenologie (Vorlesung, WS 1910/ 1 1)
Grundprobleme der Ethik und Wertlehre (Vorlesung, SS 1 9 1 1)
Daten zu Leben, Werk und Lehrtätigkeit 22 1

Grundlinien der allgemeinen Theorie des Bewußtseins (Vorlesungen und Ü bungen,


WS 1 9 1 1 1 12)
Philosophische Übungen über Lotzes Erkenntnistheorie (im Anschluß an das 3. Buch
der Logik Lotzes) (Seminar, SS 1 9 1 2)
Logik und Einleitung in die Wissenschaftslehre (Vorlesung, WS 19 12/13, WS 19 14/15)
Metaphysische und wissenschaftstheoretische Übungen über Natur und Geist (Se­
minar, WS 19 12/ 1 3)
Natur und Geist (Vorlesung, SS 1 9 1 3)
Übungen über die Ideen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft (Seminar, SS 1913)
Kant und die Philosophie der Neuzeit (Vorlesung, WS 1 9 1 3/ 14)
Philosophische Übungen, z.T. im Anschluß an Descartes' Meditationen, z.T. im An­
schluß an Lockes Versuch über den menschlichen Verstand (Seminar, WS 1 9 1 2/ 14)
Phänomenologische Übungen (Seminar, WS 1 9 1 3 / 1 4)
Grundfragen der Ethik und Wertlehre (Vorlesung, SS 19 14)
Ausgewählte phänomenologische Probleme (Seminar, SS 1 9 1 4)
Philosophische Übungen im Anschluß an Humes Treatise (Seminar, WS 1 9 1 4/ 1 5)
Ausgewählte phänomenologische Probleme (zur Einleitung in die Phänomenologie)
(Vorlesung, SS 1 9 1 5)
Übungen über Fichtes Bestimmung des Menschen (Seminar, SS 1 9 1 5)
Philosophische Ü bungen über Natur und Geist (Seminar, WS 1 9 1 5/ 1 6)

1 9 1 6 - 1928 Als Ordinarius in Freiburg


1917 (April) Sohn Gerhart liegt kriegsverwundet im Lazarett in Speyer
1917 (3. Mai) Antrittsvorlesung >>Die reine Phänomenologie, ihr Forschungsge­
biet und .ihre Methode<<.
1917 Quli) Tod der Mutter
1917 (8. - 17. November) Drei Vorträge über Fichtes Menschheitsideal im Rah­
men der Hochschulkurse für Kriegsteilnehmer (Wiederholung 1 4 . - 16. Ja-
nuar 1 9 1 8 ; Wiederholung am 6., 7. und 9. November 1 9 1 8 für Akademiker
aus der philosophischen Fakultät)
19 18/19 Gründung der »Freiburger Phänomenologischen Gesellschaft<<
1919 Veröffentlichung von Husserls Erinnerungen an Brentano
1919 (Oktober) Husserl unterzeichnet den Aufruf von Romain Rolland »Für die
Unabhängigkeit des GeisteS<<, der von der >>Liga zur Beförderung der Hu-
manität<< versandt wurde
1922 Quni) Londoner Vorträge im University College: »Phänomenologische Metho­
de und Phänomenologische Philosophie<<: Aufenthalt in Cambridge im Haus
von G. Dawes Hicks; Zusammentreffen mit }. Ward, G. F. Stout, G. E. Moore
1922 (Dezember) Wahl zum »corresponding member<< der Aristotelian Society
1923 Veröffentlichung des Artikels »Erneuerung. Ihr Problem und ihre Metho­
de<< in der japanischen Zeitschrift Kaizo.
1924 Veröffentlichung der beiden Kaizo-Artikel: »Die Methode der Wesensfor­
schung<< und »Erneuerung als individualethisches Problem<< .
1924- 1925 R. Carnap nimmt a n Husserls Oberseminaren teil
1924 (September) Erster Besuch von Dorion Cairns bei Husserl
1925 Veröffentlichung einer Meditation » Über die Reden Gotamo Buddhos<< an­
läßlich der Verdeutschung durch Kar! Eugen Neumann
222 Daten zu Leben, Werk und Lehrtätigkeit

1926 (8. April) Heidegger überreicht Husserl die Widmung zu Sein und Zeit
1927 - 1928 Arbeit am Encyclopedia Britannica-Artikel mit Heidegger
1928 Veröffentlichung von Husserls »Vorlesungen zur Phänomenologie des inne­
ren Zeitbewußtseins<< durch Heidegger im Bd. 9 des Jahrbuchs
1928 (3 1 . März) Emeritierung

In seinen Freiburger Lehrveranstaltungen behandelte Husserl folgende Gebiete:


Einleitung in die Philosophie (Vorlesung, SS 1916, SS 1918, WS 1919/20, WS 1922/23)
Übungen im Anschluß an Descartes' Meditationes (Seminar, SS 19 16)
Ü bungen über ausgewählte phänomenologische Probleme (Seminar, SS 1 9 1 6)
Allgemeine Geschichte der Philosophie (Vorlesung, WS 1 9 1 6/ 1 7, WS 1 9 1 8/ 1 9)
Ü bungen im Anschluß an Berkeleys Abhandlung über die Prinzipien der menschli­
chen Erkenntnis (Seminar, WS 1 9 1 6/ 1 7)
Probleme der Urteilstheorie (Seminar, WS 19 16/ 1 7)
Einleitung in die Phänomenologie (Vorlesung, SS 1 9 1 7, WS 1926/27)
Kants Transzendentalphilosophie (Vorlesung, SS 1 9 1 7)
Phänomenologische Übungen (Philosophische Übungen im Anschluß an Kants tran­
szendentale Ästhetik) (Seminar, SS 1 9 1 7)
Logik und allgemeine Wissenschaftstheorie (Vorlesung, WS 1 9 1 7/ 1 8)
Grundprobleme der Urteilstheorie (Seminar, WS 1 9 1 7/ 1 8)
Übungen über Fichtes Bestimmung des Menschen (Seminar, SS 1 9 1 8)
Ü bungen über Kants Transzendentalphilosophie (Seminar, WS 1 9 1 8/ 1 9)
Natur und Geist (Vorlesung, SS 1919, WS 1921122, SS 1927)
Grundprobleme der Ethik in philosophischen Ü bungen (Seminar, SS 1 9 1 9)
Philosophische Ü bungen über transzendentale Ä sthetik und transzendentalen Idea­
lismus (Seminar, WS 1 9 1 9/20)
Einleitung in die Ethik (Vorlesung, SS 1920, SS 1924)
Ü ber Erscheinung und Sinn (Seminar, SS 1920)
Logik (Vorlesung, WS 1 920/2 1 , WS 1925/26)
Phänomenologie der Abstraktion (Seminar, WS 1920/2 1)
Phänomenologie des Zeitbewußtseins (Seminar, WS 1920/2 1)
Geschichte der neueren Philosophie (Vorlesung, SS 192 1 , SS 1922, WS 1924/25, SS
1926, WS 1927/28)
Phänomenologische Ü bungen im Anschluß an D. Humes Traktat über die mensch­
liche Natur I (Seminar, SS 192 1 , WS 1926/27)
Phänomenologische Übungen (Seminar, WS 192 1 /22, SS 1922, WS 1922/23, SS 1923,
WS 1923/24, SS 1 924, SS 1926, WS 1927/28)
Ausgewählte phänomenologische Probleme (Vorlesung, SS 1923)
Erste Philosophie (Vorlesung, WS 1923/24)
Phänomenologische Ü bungen über Berkeleys Abhandlung über die Prinzipien der
menschlichen Erkenntnis (Seminar, WS 1924/25)
Einleitung in die phänomenologische Psychologie (Vorlesung, SS 1925)
Ü bungen in der Analyse und Deskription rein geistiger Akte und Gebilde (im An­
schluß an die Vorlesungen über phänomenologische Psychologie (Seminar, SS 1925)
Ausgewählte logische Probleme (Seminar, WS 1925/26)
Phänomenologische Ü bungen (über Kam) (Seminar, SS 1927)
Daten zu Leben, Werk und Lehrtätigkeit 223

1928 - 1938 Nach der Emeritierung


1928 (April) Reise nach Berlin zur Feier des 80. Geburtstages von C. Stumpf
1928 (April) Amsterdamer Vorträge über »Phänomenologie und Psychologie.
Transzendentale Phänomenologie<<; Bekanntschaft mit dem Mathematiker
L. E. J. Brouwer und mit Leo Schestow
1928 (April) Das Kultusministerium ersucht Husserl, da die Berufung Heideg­
gers zu seinem Nachfolger erst ab 1 . Oktober möglich ist, im SS 1928 den
Lehrstuhl für Philosophie weiter zu verwalten
1928 (August) Ludwig Landgrebe erhält ein Stipendium zur weiteren Arbeit für
Husserl; Eugen Fink übernimmt seine Stelle und beginnt damit seine Zu­
sammenarbeit mit Husserl
1928/29 In wenigen Monaten Niederschrift der Formalen und transzendentalen Logik
1929 (Februar) Pariser Vorträge; Bekanntschaft u.a. mit L. Uvy-Bruhl, E. Meyer­
son, A. Koyre, J. Hering, L. Schestow, E. Levinas
1929 (8. April) Überreichung der Festschrift zu Husserls 70. Geburtstag durch
Heidegger
1929 Quli) Veröffentlichung von Formale und transzendentale Logik im Bd. 10 des
Jahrbuchs und gleichzeitig als »Sonderdruck<< daraus
1929 (Sommersemester) H. Marcuse und Frau studieren bei Husserl
1929/30 Husserl zieht Vorlesungsankündigung zurück
1930 Veröffentlichung des »Nachwort zu meinen >Ideen zu einer reinen Phäno­
menologie und phänomenologischen Philosophie<« im Bd. 11 des Jahrbuchs
193 1 Quni) Vortragsreise in Deutschland: Husserl spricht jeweils in der Kamge­
sellschaft in Frankfurt, Berlin (vor ca. 1 600 Hörern) und Halle über »Phä­
nomenologie und Anthropologie<<
1933 (6. April) Beurlaubung durch Erlaß Nr. A 7642; (20. Juli) Aufhebung des
Erlasses
1933 (November) Ruf an die University of Southern California in Los Angeles,
den Husserl ernstlich erwägt
1934 (um 1 . August) Husserl erhält die Einladung des Prager Kongresses, sich brief­
lich über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie zu äußern;
(30. August) Husserl schreibt Brief an den Prager Philosophenkongreß
1934 (Oktober) Plan eines Archivs für Husserls Manuskripte
1935 (März) Verhandlungen mit Prag zwecks Ü berbringung von Husserls Ma­
nuskripten; L. Landgrebe kommt für detaillierte Bestandsaufnahme nach
Freiburg (vgl. unten Notiz zu Husserls Nachlaß)
1935 (7. Mai) Vortrag vor dem Wiener Kulturbund über »Die Philosophie in der
Krisis der europäischen Menschheit<< (Wiederholung am 10. Mai)
1936 (November) Prager Vorträge über »Die Krisis der europäischen Wissenschaf­
ten und die Psychologie<<
1936 ( 1 5 . Januar) Entzug der Lehrbefugnis mit Ende des Kalenderjahres 1935
1936 (24. Januar) 1 . Teil der Krisis für den Druck im ersten Heft der neuen, in
Belgrad von A. Liebert herausgegebenen Zeitschrift Philosophia nach Prag
geschickt.
1936 (25. Januar) Das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volks­
bildung zwingt Husserl, aus der von Liebert in Belgrad gegründeten philo­
sophischen Organisation auszutreten.
224 Daten zu Leben, Werk und Lehrtätigkeit

1937 (8. Juni) Ablehnung von Husserls Ersuchen um Erlaubnis zur Teilnahme
am IX. Internationalen Kongreß für Philosophie in Paris durch das Reichs­
ministerium
1938 (27. April) Husserl stirbt im Alter von 79 Jahren.

Nach der Emeritierung hielt Husserl noch folgende Lehrveranstaltungen:


Einleitung in die phänomenologische Psychologie (Vorlesung, SS 1928)
Phänomenologisch-psychologische Ü bungen (Seminar, SS 1928)
Phänomenologie der Einfühlung (Vorlesungen und Ü bungen, WS 1928/29)
Ausgewählte phänomenologische Probleme (Vorlesungen und Ü bungen, SS 1929)
Notiz zu Busserls Nachlaß

Husserl hat relativ wenig veröffentlicht, aber er hat sehr viel geschrieben, so daß sein
philosophischer Nachlaß über 40.000, meist in Gabelsberger Stenographie verfaßte Ma­
nuskriptseiten umfaßt. Diese Fülle ist zu ihrem wesentlichen Teil dadurch entstanden,
daß Husserl schreibend Probleme durchdachte. Seine Nachlaßmanuskripte sind also größ­
tenteils nicht für ein Publikum geschrieben, sondern bilden >>Selbstgespräche<<, in denen
er um die Lösung von philosophischen Problemen rang. Daneben liegen aber im Nach­
laß auch Manuskripte von Vorlesungen, Vorträgen und zu einem geringen Teil von Vor­
bereitungen für Veröffentlichungen vor.
Husserl hätte gerne mehr von seinen philosophischen Gedanken veröffentlicht. Er
faßte immer wieder Veröffentlichungspläne, aber nur in seltenen Fällen hat er sie zu
verwirklichen vermocht (siehe >>E. Husserl. Persönliche Aufzeichnungen<<, hrsg. von Wal­
ter Biemel. Philosophy and Phenomenological Research, 16, 3 (March 1956), S. 293 - 302;
Einleitungen des Herausgebers zu Husserliana XIV und XV) . Diese Unfähigkeit
Husserls war wohl einerseits durch seinen starken selbstkritischen Geist bedingt, der
ihn immer wieder sein Erreichtes in Frage stellen ließ, andererseits aber auch durch
den analytischen Charakter seines Philosophierens und die Schwierigkeit, die Fülle
der Einzelanalysen zu einem Zusammenhang zu systematisieren. Aufgrund dieses
Scheiterns seiner Veröffentlichungspläne gewann in den späteren Jahren für Husserl
selbst der Gedanke seines Nachlasses immer mehr Bedeutung. So schreibt er schon 1922
in einem Brief an Paul Natorp: >>Ich bin in weit schlimmerer Lage als Sie, da der größ­
te Teil meiner Arbeit in meinen Manuskripten steckt. Fast verwünsche ich meine
Unfähigkeit, mich zu verendlichen, und daß mir erst so spät, z.T. erst jetzt, die uni­
versalen systematischen Gedanken zuteil werden, die, durch alle meine bisherigen Son­
deruntersuchungen gefordert, nun auch zwingen, sie alle umzuarbeiten. Alles im Sta­
dium der Umkristallisierung! Vielleicht arbeite ich, mit aller menschlich möglichen An­
spannung der Kräfte, nur für meinen Nachlaß« (Hu XIV, S. XIX). Spätestens seit
dem Frühjahr 1932 arbeitete Husserl direkt im Hinblick auf seinen Nachlaß (s. Hu XV,
Einleitung des Herausgebers, S. LXII und LXVII f.), und 1935/36 ließ er ihn durch
Eugen Fink und Ludwig Landgrebe nach systematischen Gesichtspunkten ordnen und
mit entsprechenden Signaturen versehen (s. >>Note sur !es Archives Husserl a Louvain<<
in Problemes actuels de la phenomenologie. 1952, S. 156 Anm.; s. auch Husserl-Chronik,
S. 473 (Notiz unter 8. Feburar 1936). Diese systematische Ordnung von 1935 liegt noch
der heutigen Anordnung von Husserls Nachlaß im Husserl-Archiv Leuven zugrunde
(s. unten).
Da nach Husserls Tod am 27. April 1938 für seinen Nachlaß in dem von den Natio­
nalsozialisten regierten Deutschland keine Möglichkeiten der Bearbeitung und Veröf­
fentlichung bestanden, ja diesem sogar die Zerstörung drohte, wurde er noch im selben
Jahre ins Ausland, an die Universität Leuven in Belgien, gebracht. Das Verdienst für
diese Rettung kommt vor allem Pater Hermann Leo Van Breda zu (s. H. L. Van Breda
»Le sauvetage de l'heritage husserlien« in Husserl et la pensee moderne). Unter seiner Lei­
tung und unter Mithilfe der früheren Assistenten Husserls, Eugen Fink und Ludwig
226 Notiz zu Husserls Nachlaß

Landgrebe, wurde in Leuven das Husserl-Archiv aufgebaut. Husserls Nachlaß ist dort
nach folgendem Plan geordnet:
A. Mundane Phänomenologie
I. Logik und formale Ontologie (41 Konvolute) 1
li. Formale Ethik, Rechtsphilosophie (1)
III. Ontologie (Eidetik und ihre Methodologie) ( 1 3)
IV. Wissenschaftstheorie (22)
V. Intentionale Anthropologie (Person und Umwelt) (26)
VI. Psychologie (Lehre von der Intentionalität) (36)
VII. Theorie der Weltapperzeption (3 1)
B. Die Reduktion
I. Wege zur Reduktion (38)
II. Die Reduktion selbst und ihre Methodologie (23)
III. Vorläufige transzendentale Intentionalanalytik ( 12)
IV. Historische und systematische Selbstcharakteristik der Phänomenologie (12)
C. Zeitkonstitution als formale Konstitution ( 1 7)
D. Primordiale Konstitution {>> Urkonstitution<� ( 1 8)
E. Intersubjektive Konstitution
I. Konstitutive Elementarlehre der unmittelbaren Fremderfahrung (7)
li. Konstitution der mittelbaren Fremderfahrung (die volle Sozialität) (3)
III. Transzendentale Anthropologie (transzendentale Theologie, usw.) ( 1 1)
F. Vorlesungen und Vorträge
I. Vorlesungen und Teile aus Vorlesungen (44)
II. Vorträge mit Beilagen (7)
III. Manuskripte der gedruckten Abhandlungen mit späteren Beilagen (1)
IV. Lose Blätter (4)
K. Autographe, in der kritischen Sichtung von 1935 nicht aufgenommen
I. Manuskripte vor 1910 (69)
II. Manuskripte von 1 9 1 0 - 1930 (5)
III. Manuskripte nach 1930 - zur Krisisproblematik (33)
IX. -X. Abschriften von Randbemerkungen Husserls in den Büchern seiner Biblio­
thek
L. Bernauer Manuskripte
I. (2 1 Konvolute)
II. (2 1 Konvolute)
M. Abschriften von Manuskripten Husserls in Kurrentschrift bzw. Maschinenschrift, vor
1938 von Husserls Assistenten in Freiburg ausgeführt
I. Vorlesungen (4)
II. Vorträge (3)
III. Entwürfe für Publikationen ( 1 7)

1 Im folgenden bezieht sich die zwischen Klammern angegebene Zahl auf die Anzahl Konvolu­
te der entsprechenden Gruppe.
Notiz zu Husserls Nachlaß 227

N. Nachschriften
P. Manuskripte anderer Autoren
Q. Notizen Husserls in den Vorlesungen seiner Lehrer
R. Briefe
I. Briefe von Husserl
II. Briefe an Husserl
III. Briefe über Husserl
X. Briefe Malvine Husserls (nach 1938)
X. A rchivaria

Die Gruppen A, B, C, D und E wurden 1935/36 nach systematischen Gesichtspunk­


ten zusammengestellt (s. oben). Doch ist diese systematische Zusammenstellung nur sehr
global, da die einzelnen Manuskriptkonvolute Husserls, wie sie schon vor dieser Zu­
sammenstellung vorlagen, nicht mehr gerrauer analysiert und aufgeteilt, sondern nur als
ganze und nach ihren Gesamttiteln eingeordnet wurden. Auch die Gruppe F wurde schon
1935/36 zusammengestellt. Die Gruppe K besteht aus denjenigen, meist stenographischen
Manuskripten Husserls, die Van Breda 1938 in Freiburg vorfand, die aber nicht in jene
Anordnung von 1935/36 aufgenommen worden waren. Die Manuskripte der Gruppe
L wurden von Husserl Eugen Fink, wohl im Jahre 1929 (?), zur Bearbeitung übergeben
und gelangten im Februar 1969 ins Husserl-Archiv.
Nach Jahren der Vorbereitung (Transkription der Gabelsberger Stenographie, Katalo­
gisierung etc.), die auch während der Kriegsjahre in Leuven fortgesetzt wurde, konnte
1950 mit der Veröffentlichung des Nachlasses in der Reihe Husserliana begonnen wer­
den. Bis heute (1987) sind vom Husserl-Archiv Leuven, z.T. in Zusammenarbeit mit den
Husserl-Archiven in Köln und Freiburg i.Br., 26 Bände publiziert worden. Folgende
Richtlinien kennzeichnen diese Edition: 1. Jeder Busserlsehe Text, der zur Veröffentli­
chung gelangt, wird textkritisch gerrau verantwortet, so daß der Leser volle Einsicht in
die Manuskriptgrundlage gewinnen kann. Die Entstehungszeiten der Manuskripte wer­
den möglichst gerrau angegeben. Alle von Husserl selbst angebrachten Veränderungen
(Ergänzungen, Korrekturen etc.), sofern sie von irgendwelcher Relevanz sind, werden
als solche vermerkt; eventuelle stilistische Veränderungen des Herausgebers als solche
gekennzeichnet. 2. Die zu veröffentlichenden Texte werden entweder gemäß Husserls
eigenen Entwürfen angeordnet (eigene Veröffentlichungen und Vorlesungen) oder in Hin­
sicht auf ein sachliches Thema (z.B. passive Synthesis, lntersubjektivität, anschauliche
Vergegenwärtigung) zusammengestellt. 3. Es wird nicht die vollständige Veröffentlichung
von Husserls philosophischem Nachlaß angestrebt, sondern nur die Veröffentlichung
solcher Texte, die sachlich oder für das Werden von Husserls Denken bedeutsam sind.
4. Die Reihenfolge der einzelnen Bände ist weitgehend zufällig. Es wurde nicht zum
voraus ein detaillierter Gesamtplan der Husserliana-Edition aufgestellt. Eine solche Pla­
nung hätte nämlich eine vorgängige gerraueste Sichtung, sachliche und chronologische
Durchdringung und Aufteilung des Nachlasses vorausgesetzt, was den Beginn der Ver­
öffentlichung um Jahrzehnte hinausgeschoben hätte. Die archivarische Manuskriptanord­
nung (s. oben) konnte nicht als Grundlage der Edition dienen, da in den einzelnen
Manuskriptbündeln oft sachlich und chronologisch heterogene Texte zusammenliegen,
während die Manuskriptblätter eines einheitlichen Textes oft in mehrere Konvolute ver­
schiedener Manuskriptgruppen verstreut sind.
228 Notiz zu Husserls Nachlaß

Auch heute, nachdem schon 26 Bände der Husserliana vorliegen, ist vom Nachlaß
noch Bedeutsames zu erwarten. Das Schwergewicht der Edition lag bis heute aus ver­
ständlichen Griinden bei den von Husserl für ein Publikum geschriebenen Texten, wäh­
rend erst wenige Bände den schwer zugänglichen >>Selbstgesprächen<< (»Forschungsma­
nuskripten<<) gewidmet sind, die aber den Großteil des Nachlasses ausmachen und in
denen Husserls schöpferisches Denken sozuagen in statu nascendi verfolgt werden kann.
Besonders die Spätzeit Husserls (nach den Cartesianischen Meditationen 1929) ist in die­
ser Hinsicht editorisch noch wenig erschlossen (der einzige Band, der bisher aus der
Fülle der »Forschungsmanuskripte<< aus der Zeit zwischen den Cartesianischen Medita·
tionen (1929) und Husserls Arbeit an der Krisis (ab 1935) veröffentlicht wurde, ist Hus·
serliana XV, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität ( 1929 - 1935). Aber auch aus
frii heren Zeiten ist manches editorisch noch zu erschließen, wie etwa die Manuskripte
über Gemüts- und Willensakte und überhaupt die Busserlsehe Ethik.
Kopien der Transkriptionen von Husserls Manuskripten (die Transkription aus der
Gabelsberger Stenographie ist noch nicht abgeschlossen) befinden sich außer in Leuven
auch in den Husserl-Archiven an der Universität Köln, an der Universität Freiburg i.Br.,
an der New School for Social Research in New York City, an der Duquesne University
in Pittsburgh PA und an der Ecole Normale Superieure Paris.
Bibliographie

I. Werke von Husserl

Husserliana -Edmund Husserl. Gesammelte Werke, Den Haag bzw. Dordrecht/


Boston/Lancaster, Martinus Nijhoff

Bd. I: Cartesianische Meditationen un� Pariser Vorträge, hrsg. von B. Strasser, 1950.
Bd. II: Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen, hrsg. von W Biemel, 1950.
Bd. III,1 : Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie.
Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. Text der 1 . -3 . Auf­
lage, neu hrsg. von K. Schuhmann, 1976.
Bd. III,2: Dass. Ergänzende Texte ( 1 9 1 2 - 1 929), neu hrsg. von K. Schuhmann, 1976.
Bd. IV: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie.
Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, hrsg. von M.
Biemel, 1952.
Bd. V: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie.
Drittes Buch: Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften, hrsg.
von M. Biemel, 1953.
Bd. VI: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phäno­
menologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, hrsg. von W. Bie­
mel, 1954.
Bd. VII: Erste Philosophie ( 1 923/24). Erster Teil: Kritische Ideengeschichte, hrsg. von
R. Boehm, 1956.
Bd. VIII: Erste Philosophie ( 1 923/24). Zweiter Teil: Theorie der phänomenologischen
Reduktion, hrsg. von R. Boehm, 1959.
Bd. IX: Phänomenologische Psychologie. Volesungen Sommersemester 1 925, hrsg. von
W. Biemel, 1962.
Bd. X: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins ( 1 893 - 19 17), hrsg. von R.
Boehm, 1966.
Bd. XI: Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskrip­
ten 1 9 1 8 - 1926, hrsg. von M. Fleischer, 1966.
Bd. XII: Philosophie der Arithmetik. Mit ergänzenden Texten (1 890- 1901), hrsg. von
L. Eley, 1970.
Bd. XIII: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß. Erster
Teil: 1905 - 1 920, hrsg. von I. Kern, 1973 .
Bd. XIV: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß. Zweiter
Teil: 192 1 - 1928, hrsg. von I. Kern, 1973 .
Bd. XV: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß. Dritter
Teil: 1929 - 1935, hrsg. von I. Kern, 1973 .
Bd. XVI: Ding und Raum. Vorlesungen 1907, hrsg. von U. Claesges, 1973 .
Bd. XVII: Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Ver­
nunft, hrsg. von P. Janssen, 1 974.
230 Bibliographie

Bd. XVIII: Logische Untersuchungen. Erster Band: Prolegomena zur reinen Logik, hrsg.
von E. Holenstein, 1975.
Bd. XIX,l : Logische Untersuchungen. Zweiter Band: Untersuchungen zur Phänome­
nologie und Theorie der Erkenntnis. Erster Teil, hrsg. von U. Panzer, 1984.
Bd. XIX,2: Logische Untersuchungen. Zweiter Band: Untersuchungen zur Phänomeno­
logie und Theorie der Erkenntnis. Zweiter Teil, hrsg. von U. Panzer, 1984.
Bd. XXI: Studien zur Arithmetik und Geometrie. Texte aus dem Nachlaß ( 1 886- 1901),
hrsg. von I. Strohmeyer, 1983.
Bd. XXII: Aufsätze und Rezensionen ( 1 890 - 1 9 10), hrsg. von B. Rang, 1979.
Bd. XXIII: Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie der anschau­
lichen Vergegenwärtigungen. Texte aus dem Nachlaß ( 1 898 -1925), hrsg. von E. Mar­
bach, 1980.
Bd. XXIV: Einleitung in die Logik und Erkenntnistheorie. Vorlesungen 1906/07, hrsg.
von U. Meile, 1984.
Bd. XXV: Aufsätze und Vortriige ( 19 1 1 - 1921 ), hrsg. von Th. Nenon und H. R. Sepp, 1986.
Bd. XXVI: Vorlesungen über Bedeutungslehre. Sommersemester 1908, hrsg. von U.
Panzer, 1987.

Studienausgaben in der Philosophischen Bibliothek. Hamburg, Felix Meiner

Erfahrung und Urteil


Untersuchung zur Genealogie der Logik. Redigiert und hrsg. v. L. Landgrebe. Mit ei­
nem Nachwort von L. Eley: »Phänomenologie und Sprachphilosophie« und einem
Register. PhB 280. 6. Auf!. 1985.
V. Logische Untersuchung
Über intentionale Erlebnisse und ihre »Inhalte«. Nach dem Text der 1. Auflage von
190 1 herausgegeben, eingeleitet und mit Registern versehen von E. Ströker.
PhB 290. 2., durchges. Auf!. 1988.
Cartesianische Meditationen
Eine Einleitung in die Phänomenologie. Herausgegeben, eingeleitet und mit Register
versehen von E. Ströker. PhB 29 1 . 2., verb. Auf!. 1987.
Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie
Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. Herausgegeben, eingeleitet
und mit Register versehen von E. Ströker. PhB 292. 2., Verb. Auf!. 1982.
Grundprobleme der Phänomenologie (19 10/ 1 1 )
Aufgrund der >>Husserliana<<, B d . XIII, hrsg. von Iso Kern. PhB 3 4 8 . 1977.
Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins ( 1 893 - 1 9 17)
Text nach »Husserliana<<, Bd. X. Eingeleitet, herausgegeben und mit Registern verse­
hen von R. Bernet. PhB 362. 1985.
Die Konstitution der geistigen Welt
Text nach »Husserliana<<, Bd. IV. Eingeleitet, herausgegeben und mit Registern verse­
hen von M. Sommer. PhB 369. 1984.
Die Idee der Phänomenologie
Text nach »Husserliana<<, Bd. II. Eingeleitet, herausgegeben und mit Registern verse­
hen von P. Janssen. PhB 392. 1986.
Bibliographie 23 1

Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften


Text nach >>Husserliana«, Bd. V. Eingeleitet, herausgegeben und mit Registern verse­
hen von K. H. Lembeck. PhB 393. 1986.

weitere Texte von Husserl:

>>Entwurf einer >Vorrede < zu den > Logischen Untersuchungen<<< ( 1 9 13): Tijdschrift voor
Filosofie, 1, 1939, S. 106-133; 3 19 -339.
>>Grundlegende Untersuchungen zum phänomenologischen Ursprung der Räumlichkeit
der Natur<<: Philosophical Essays in Memory of Edmund Husserl, M. Farber (ed.),
Cambridge (Mass.), Havard University Press, 1940 (2. Auf!. 1 970), S. 305 - 326.
Briefe an Roman Ingarden. Mit Ergänzungen und Erinnerungen, hrsg. von R. Ingarden,
Den Haag, M. Nijhoff, 1 968 (Phaenomenologica 25).
R. Hirsch, »Edmund Husserl und Hugo von Hofmannsthal. Eine Begegnung und ein
Brief«: Sprache und Politik. Festgabe für DolfSternberger, hrsg. von C. J. Friedrich, Hei­
delberg, Verlag Lambert Schneider, 1968, S. 108 - 1 1 5 .

II. Literatur über Husserl

1. A rbeitsinstrumente

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Namenregister

Aristoteles 1 3 2 , 1 76 Galilei 204


Asemissen, H. U. 1 29 Geiger, M. 219
Atwell, J. E. 165 Gorgias 61
Austin, J. L. 20 1 Gurwitsch, A. 121, 130
Avenarius, R. 24, 27, 199, 20 1 , 209
Heffernan, G. 45
Bain, A. 24, 122 Hegel, G. W F. 217
Berkeley, G. 4, 2 1 7, 2 1 9, 222 Heidegger, M. 1 0 , 8 5 , 163, 1 66, 1 77,
Bernet, R. 1 1 7, 130, 1 60, 1 76, 1 79 2 1 3 , 222
Boehm, R. 63 Hering, J. 223
Bolzano, B. 34 Hicks, G. D. 22 1
Brentano, F. 5, 6, 14, 22, 52, 63 ff. , Höfler, A. 24
70, 8 6 f. , 9 1 , 97, 99, 1 32, 1 3 6 , 2 1 7, Hofmannsthal, H. von 219
2 1 9, 22 1 Hume, D . 4, 6 1 , 63, 67, 70, 2 1 8 ,
Brouwer, L. E. J. 223 220, 22 1 , 222
Bühler, K. 156 Husserl, Gerhart 22 1
Husserl, Malvine 217
Cairns, D . 5 8 , 22 1 Husserl, Wolfgang 219
Carnap, R. 221
Chomsky, N. 43 Ingarden, R . 163
Claesges, U. 129
Conrad, Th. 219 Jaspers, K. 219
Cornelius, H . 24, 2 7
Kant, I. 4 , 8 , 47, 6 3 , 67 ff. , 72, 7 3 , 8 1 ,
Daubert, J. 219 1 7 1 , 195, 1 96, 206, 2 12, 2 1 8, 2 1 9,
d e Boer, T h . 14 220, 22 1 , 222
Derrida, J. 1 57, 1 64 Kern, I. 63, 67ff. , 76, 78, 8 1 , 1 3 7
Descartes 4, 52, 63 ff. , 68, 2 1 8, 22 1 , 222 Koyn!, A. 223
Dilthey, W 199f. , 2 1 9 Kronecker, L. 2 1 7

Edie, J . M. 43 Landgrebe, L. 223, 225, 226


Ehrenfels, Ch. 23 Leibniz, G. W 220
Elsenhans, Th. 24 Levinas, E. 223
Erdmann, B. 24, 3 1 , 32, 33 Uvy-Bruhl, L. 223
Lipps, Th. 6, 24, 3 1 , 144, 155, 193,
Fichte, J. G. 220 ff. 219
Fink, E. 5 8 , 223, 225, 227 Locke, ]. 4 , 6 3 , 70, 2 1 8, 220, 2 2 1
Frege, G. 2, 7, 13, 1 9 ff. , 25, 3 1 , 96, Lotze, H . 3 4 , 221
161, 181, 217
238 Namenregister

Mach, E. 23, 24, 27, 2 1 7, 220 Scheler, M. 27, 2 1 8 , 2 1 9


Marbach, E. 8 1 , 132 Schestow, L. 223
Marcuse, H. 223 Schopenhauer, A. 2 1 7, 2 1 8
Masaryk, T. 217 Schröder, E . 19, 2 1 7
Meinong, A. 24, 8 6 Seebohm, T. 81
Merleau-Ponty, M . 123 Sigwart, Chr. 24, 3 1
Meyerson, E . 223 Sokolowski, R. 1 4 , 44, 47, 1 3 3
Mill, J. St. 218 Sokrates 73
Miller, J. Ph. 14, 21 Spenzer, H. 217
Misch, G . 219 Spinoza, B . d e 2 1 7, 2 1 8
Mohanty, J. N. 21, 86 Stegmüller, W 76
Moore, G. E. 22 1 Stout, G. F. 22 1
Ströker, E. 173
Natorp, P. 67, 72, 87, 1 82, 1 83 , 2 1 9, Stumpf, C . 14, 2 1 7, 223
225
Neumann, K. E. 22 1 Tugendhat, E. 76, 8 1 , 1 3 6, 1 6 5
Twardowski, K. 1 1 0, 1 6 l f.
Pa!agyi, M. 34, 39
Paulsen, F. 217 Van Breda, H. L. 225, 227
Pfänder, A. 193, 219
Platon 4, 34, 73, 78 Ward, J. 22 1
Protagaras 61 Weierstraß, K. 22, 22 1
Willard, D. 13
Rang, B . 110 Windelband, W. 1 99 f.
Reinach, A. 219 Wittgenstein, L. 201
Richter, R . 61 Wolff, Ch. 69
Rickert, H. 200, 2 1 9 Wundt, W 24, 3 1
Rolland, R . 22 1
Roth, A. 27
Ryle, G. 201
Sachregister

Akte Assoziation
- einfache intentionale Akte 8 8 ff. - Assoziation als universales Prinzip
- kategoriale intentionale Akte der passiven Genesis 1 8 5 , 1 87 f.
1 5 , 1 69 ff. , 174ff. - Paarungsassoziation in der Fremd­
- anschauliche Akte 1 3 l ff. erfahrung 150
- Reproduktion von Akten 133 - mittelbare Assoziation 152
- Zusammenhang von anschaulichen - induktive Assoziation 1 87
Akten und Zeitbewußtsein 1 3 4 ff.
- (vgl. Intentionalität) Bedeutung
Aktivität (vgl. Genesis, aktive und - formale Logik der Bedeutung
passive) (>>Apophantik<<) 42 ff. , 1 59
Allgemeinheit (vgl. Wesen) - Bedeutung und sprachlicher
Apperzeption >>Ausdruck« 1 5 4 ff.
- empirische Apperzeption des - ideale Bedeutung und individueller
Bewußtseins 58 Akt 3 7 ff. , 1 5 7 ff.
- reine Apperzeption des Bewußt­ - ideale Bedeutung und
seins 57 ff. (vgl. Reduktion, Wesen 1 5 9 ff.
Reflexion) - Bedeutung und internationaler
- Apperzeption als Auffassung, Gegenstand 1 6 2 ff.
Deutung 1 3 2 f. , Anm. 5 Bewußtsein
- Genesis der Apperzeption 1 8 5 f. - Bewußtsein in e mpirisch-natür­
- Assoziation als Prinzip der licher Apperzeption 5 7 f. , 59
Apperzeption 1 87 - Bewußtsein und Reflexion I
- analogisierende Apperzeption in Reduktion 57 ff.
der Fremderfahrung 149 f. - Eigenwesentlichkeit des Bewußt­
- (vgl . Repräsentation) seins 59, 70 ff. , 84
Appräsentation - Bewußtsein als Fluß 74 f. , 8 2 f. ,
- Appräsentation in der Weise des 1 0 3 ff.
Ausdrucks 1 5 1 - Bewußtseinsstufen 1 4 2 f.
- leere und erfüllte Appräsentation - Urbewußtsein (inneres Bewußt-
in der Fremderfahrung 153 sein) 106
Apriori 75 ff. , 8 l f. - Bewußtsein als Absolutes 5 8 f. , 61
- Apriori der Konstitution (der Sub- - (vgl. Wesen)
jektivität) 6 7 ff. , 8 1 ff. Bildbewußtsein
- obj ektives Apriori 67 ff. - Bildbewußtsein und reproduktive
- Apriori der Geschichte 1 86 Vergegenwärtigungen 140 ff.
- lebensweltliches Apriori 208 - Bildbewußtsein und Pikturnbe­
- Apriori und Mathematik 75 ff. wußtsein (Illusion) 140, 1 4 1 ff.
- (vgl . Wesen) - Bildbewußtsein als perzeptive
Phantasie 1 40 ff.
240 Sachregister

- ästhetisch-künstlerische Darstellung - Erfüllung im Wahrnehmungs-


im Bildbewußtsein 1 40 prozeß 1 1 9 ff.
Erinnerung 1 3 3 ff.
Cogito - Erinnerung und Retention 1 00 f.
- Cartesianisches ego cogito 56, 64 f. - Erinnerung und Ichidentifi-
- cogito und reines Ich 1 90 f. , 193 f. kation 1 9 1 ff.
- cogito und Aufmerksamkeit 193 f. Erkenntnis
- Akte der Erkenntnis 1 54, 1 7 1 ff.
Deskription - natürlich-obj ektive Erkenntnis
- deskriptive Eidetik des Bewußt­ 60f., 64
seins 83 f. - apriorische Erkenntnis 7S ff.
Ding - absolute Erkenntnis (Wissen) 73 f.
- Erscheinung des Dinges 1 09 ff. , - Selbst-Erkenntnis 73 f.
129 f. Erkenntnistheorie
- Konstitution des Dinges in der - Erkenntnistheorie und reine
kontinuierlichen Wahrneh­ Logik 3 8 ff. , 45, 48 ff.
mung 1 0 8 , 1 1 7 ff. - phänomenologische Erkenntnistheo­
- Konstitution des Dinges und rie (Vernunftkritik) S O ff. , 60 ff. ,
Kinästbesen 122 ff. 64f., 8 1 f. , 1 6 6 ff.
- (vgl. Konstituti on)
Eidos, Eidetik (vgl. Wesen) Erscheinung
Eigenheitssphäre (vgl . Primordinal- - Begriff der Erscheinung eines
sphäre) Dinges 109 ff.
Einfühlung 144 ff. - kontinuierliche Erscheinung eines
- Einfühlung und Ich 1 9 1 f. Dinges 1 1 7 ff.
- eigentliche und uneigentliche Ein- - kinästhetische Motivation der
fühlung 153 Dingerscheinung 122 ff.
Einstellung Evidenz 5 1 ff. , 1 72 ff.
- natürliche Einstellung 5 8 f. , 60f.,
65, 67 Faktum
- philosophische Einstellung 62 - Befreiung vom Faktum in der
- personalistische Einstellung und Mathematik 76 f.
Ontologie der Lebenswelt 207 f. - Befreiung vom Faktum in der
- Einstellungsänderung 68 (vgl. Re­ Phänomenologie 8 1 f.
duktion) - transzendentales Faktum 211
Empfindung 1 1 1 ff. , 122, 125, 129 Faktizität
- kinästhetische E mpfindung - Faktizität der Weltkonstitu­
1 2 2 ff. tion 1 97, 2 1 1 f.
- Empfindungsfeld 125 ff. Fremderfahrung (Erfahrung der
Epoche 64 Anderen) 1 43 ff.
- Epoche und Ontologie der - Fremderfahrung als Appräsen­
Lebenswelt 206 f. tation 1 49
- (vgl. Reduktion) - Fremderfahrung als mittelbare
Erfüllung 1 1 7, 1 67 ff. , 1 7 1 ff. , apperzeptive Übertragung
178 ff. 1 4 9 ff.
Sachregister 24 1

- Fremderfahrung als Interpre­ - Ich als Monade 195


tation 152 - reines Ich und personales Ich 198
- d e r Andere als wahre Transzendenz - personales Ich (Person) 1 9 4 ff.
in der Fremderfahrung 1 89 - personales Ich und Umwelt 195 ff.
Fundierung Idealismus 55
- Fundierung der Erkenntnisakte in - deutscher (bzw. Nachkarrtische
sinnlich-anschaulichen Akten Philosophie) 73 , 2 1 8 , 220
1 3 1 f. , 1 77 ff. - phänomenologischer und
transzendentaler Idealismus 1 8 8 f.
Gegenwärtigung (vgl. Wahrnehmung, Immanenz
Vergegenwärtigung) - Immanenz und Transzendenz
Genesis 52 ff. , 87
- Begriff der Genesis 1 8 2 ff. - (vgl. Reduktion)
- Genesis und Geschichte der Apper- Inhalt-Auffassung
zeptionen (Tradition) 1 85f. - Inhalt-Auffassungs-Schema 1 3 2 f. ,
- Genesis als Motivationszusammen­ 141
hang 186 - Revision des Inhalt-Auffassungs-
- aktive und passive Genesis 186 Schemas 1 3 5 f.
- Wesensgesetze der Genesis und Intentionalität 52 ff. , 85 ff. , 70 f.
faktische Genesis 1 86 - intentionaler Akt (Noesis) 87 ff.
- genetischer Ursprung 1 8 6 f. - intentionaler Gegenstand
- Genesis und transzendentaler (Noema) 9 1 ff. , 87, 1 2 1 , 129f.,
Idealismus 1 8 8 f. 1 65 f.
Geschichte (vgl. Genesis) - Intentionalität des Zeitbewußt­
Gestalt 23 seins 105 f.
Grammatik - intentionale Implikation 70 f. ,
- rein-logische Grammatik 42 f. 1 3 3 , 1 3 5 f.
- Wesensgesetz intentionaler Impli­
Habitualität kation bzw. Modifikation 135,
- Habitualität und genetische 1 42 f.
Phänomenologie 185 Intersubjektivität 66, 68, 143 ff.
- Habitualität und Person 188, - Intersubjektivität der Welt 153
1 9 4 ff. - Intersubjektivität der Natur 1 89
Horizont 1 1 5 , 1 1 8 , 125
Kinästhese 1 22 ff.
Ich Konstitution 5 4 f. , 123
- >>Ich kann<< der Kinästbesen 124, - Theorie der Konstitution als neue
1 2 7 f. Erkenntnistheorie 62
- Ich als Prinzip der Einheit des - statische und genetische Konstitu­
Bewußtseinsstromes 1 90 ff. tion 1 8 1 ff.
- Ich und Zeit 1 92 f. - Konstitution des Dinges 108,
- reines Ich 1 9 1 ff. 1 1 7 ff. , 1 2 9 f. (vgl . Genesis)
- Ich der transzendentalen
Apperzeption 1 9 6 f. Lebenswelt
- Ich als Urfaktum 212 - Ontologie der Lebenswelt 206 ff.
242 Sachregister

- Lebenswelt und (abstrakte) - Möglichkeit und Wirklich­


Welten 204f. keit 77 ff.
- Grundlagenproblem der Wissen- Monade
schaften und Lebenswelt 199 ff. - Monade als originale
Leib 1 2 2 ff. , 1 2 8 Selbstgegebenheit 147 f.
Leitfaden (Index) 68, 1 1 6 - monadische Sphäre 1 5 2 f.
Logik - Monade als Werdenseinheit 188
- Logik als Wissenschaftslehre 11,
25, 4 1 ff. Natur und Geist 200f.
- Logik als normative und praktische Neutralitätsmodifikation 134, 1 3 6 ff.
»Kunstlehre<< 2 6 ff. - (vgl . Phantasie)
- Logik als Denkökonomik 27 f.
- Logik als reine Logik 29, 34 ff. Objektivität
- Logik als formale Apophantik - Obj ektivität als Leistung des
42 ff. Bewußtseins 61 f. , 6 6 ff. , 72, 1 9 1 f.
- logische Gramm atik 42 f. Ontologie 66 ff.
- Logik der Konsequenz 44 - formale Ontologie 4 6 ff. , 79
- Logik der Theorieformen 45 f. - materiale (regionale) Onto-
- Logik als formale Ontologie 46 ff. logie 47, 79
- Logik und Mathematik 47 f. - Ontologie als Leitfaden der sta­
- Logik und materiale Ontologie tischen Phänomenologie 182
47, 1 1 6 f. - Ontologie der Lebenswelt 206 ff.
- Logik der Wahrheit 44 f. - transzendentale Phänomenologie
- reine Logik und Denkakte 3 S ff. als universale Ontologie 210
- reine Logik und Erkenntnis-
theorie 48 ff. , 3 8 ff. , 45 Passivität 125
- aktive und passive Genesis 186
Mathematik Phänomenologie 5 6 ff. , 72 ff.
- Mathematik und phänomenologische - Phänomenologie und reine
Wesenserkenntnis 75 ff. , 83f. Logik 3 5 ff. , 48 ff.
- ( vgl . Logik, Wissenschaft, Zahl) - Phänomenologie als Erkenntnis­
Metaphysik theorie S O ff. , 1 6 6 ff.
- Metaphysik als Wissenschaft von - Phänomenologie und Metaphysik
der Realität 208 209 f.
- Metaphysik und transzendentales - Möglichkeit der Phänomenologie
Faktum 211 als Wissenschaft 74 ff.
- Metaphysik als Zweite Philo­ - Phänomenologie als Eidetik des
sophie 210 Bewußtseins 80 ff.
- metaphysische Interpretation der - eidetische und empirische Phäno­
positiven Wissenschaften 211 menologie 211
Möglichkeit - Phänomenologie und Evidenz
- Möglichkeit der Erkenntnis und S l ff. , 70, 86, 93 f.
Skeptizismus 60f. , 64f. - statische und genetische Phäno­
- ideale oder reine Möglichkeit 33, menologie 1 8 1 ff.
76 ff. Phantasie 1 3 1 ff. , 1 3 6 ff.
Sachregister 243

- Brentanos Behandlung von - Motivation der Reduktion


Phantasie 132 60 ff.
- Phantasie u n d Neutralitäts- - Wege der Reduktion 62 ff.
modifikation 1 3 6 f. cartesianischer Weg 63 ff.
- (vgl. Bildbewußtsein) ontologischer Weg 66 ff.
Philosophie Weg über die Psychologie 69 ff.
- Idee der Philosophie 57, 62, - Reduktion und die Idee der
209 ff. Philosophie 72 ff.
- Idee der Philosophie und Reduk­ - (vgl. Apperzeption, Bewußtsein,
tion 72 ff. Einstellung)
- Erste und Zweite Philosophie Reflexion 5 7 ff. , 62
209 ff. - Reflexion und Begriffsbildung
Primordinalsphäre (Eigenheits­ 1 5 ff.
sphäre) 145 ff. - natürliche, psychologische Re­
- Primordinalsphäre und flexion 58
Originalsphäre 1 4 6 ff. , 1 5 0 - Reflexion als phänomenologische
- Primordinalsphäre u n d solipsisti­ Wahrnehmung 59
sche Sphäre 147ff. Rein, Reinheit
- Doppeldeutigkeit des Begriffes der - Reinheit der Reflexion 75
Primordinalsphäre 148 - Reinheit im Sinne des Apriori 29,
- primordinale Welt 202 3 4 ff. , 75 ff. , 8 1 f.
Psychologie - (vgl. Logik, Reduktion)
- Psychologie und Phänomeno­ Repräsentation l l l ff. , 1 70
logie 22, 69 ff. , 8 1f. , 83, 1 8 1
- logischer Psychologismus Setzung 1 3 3 f.
2 0 ff. , 25, 2 9 ff. , 3 8 ff. - Setzung und Neutralität 1 34, 1 3 7
Skeptizismus 32
Rationalität (vgl. Vernunft) - Skeptizismus und phänomenolo­
Raum 128 f. gische Reduktion 5 1 f. , 60 ff. , 63 f. ,
- obj ektiver Raum und Reduk­ 70, 72 ff.
tion 59 Sprache
Reduktion 5 3 ff. , 109, 1 1 3 f. , 1 2 1 - sprachlicher >>Ausdruck<< 1 5 4 ff.
- eidetische Reduktion 74 ff. - Sprache und Denken 1 76 f. , 1 79 f.
(vgl. Wesen)
- phänomenologisch-psychologische Teleologie
Reduktion 71 f. - Bewußtseinsabläufe als teleolo-
- phänomenologische Reduktion gische 1 8 2 f.
und transzendentale Subjek­ - Teleologie und Faktizität 212
tivität 5 6 ff. , 73 Transzendenz
- Reduktion auf die primordinale - Transzendenz und phänomenolo­
Sphäre (Eigenheitssphäre) 145 f. gische Reduktion 52 ff. , 59, 64
- primordinale Reduktion und - der Andere als erste wahre Tran­
solipsistische Reduktion 148 szendenz 1 89
- Reduktion u n d Intersubjek­
tivität 66, 68, 1 44 Vergegenwärtigung 1 3 1 ff.
244 Sachregister

- Vergegenwärtigung und Gegenwär­ - Wesen und Zeit S3


tigung 1 3 4 ff. , 1 3 9 f. - ideale Bedeutung als Wesen 1 5 9 ff.
- Anschaulichkeit der - Wesenswissenschaft (Eidetik)
Vergegenwärtigung 1 3 3 f. des Bewußtseins S O ff.
- Vergegenwärtigung und Setzung Wissenschaft
1 3 3 f. , 1 3 6 ff. , 1 3 S - natürlich-objektive (positive)
- Iteration der Vergegenwärtigung Wissenschaft 6 1 f. , 64, 67
137, 1 42 f. - Wesenswissenschaft 74 ff.
- Vergegenwärtigung und Zeit­ - Tatsachenwissenschaft und
bewußtsein 99 ff. , 1 3 4 f. Idealwissenschaft 3 0 f. , 34, 47,
- Vergegenwärtigung und Ich 140, 7S ff. , S3, 209 f.
19 1 ff. - Idee der Einheit der Wissen­
- (vgl . Bildbewußtsein, Einfühlung, schaft 200
Erinnerung, Phantasie, Zeitbewußt­ - Wissenschaft und Erfahrungs­
sein) welt .202 ff.
Vernunft - transzendentale Wissenschaft
- Vernunftkritik (Erkenntnistheorie) 62, 64, 73 f.
und Reduktion 60 ff. - Wissenschaftlichkeit der Phäno­
- Idee der Vernunft (Rationalität) menologie 7S ff.
73 - Wissenschaftstheorie 1 1 , 25,
4 1 ff. , 74 ff.
Wahrheit - Wissenschaftstheorie und Tran­
- Logik der Wahrheit 44 f. szendentalphilosophie SO ff.
- Phänomenologie der Wahrheit - (vgl. Logik)
1 73 ff.
- Wahrheit und Evidenz 1 72 ff. Zahl (Begriff der)
- Wahrheit des Urteils 174ff. - psychologischer Ursprung eigent­
- Fundierung der Wahrheit des licher Anzahlenbegriffe 13 ff.
Urteils in der sinnlichen - psychologischer Ursprung der
Erfahrung 1 77 ff. symbolischen Anzahlenbe-
Wahrnehmung 10S, 132 griffe 22 ff.
- Wahrnehmung u n d Vergegenwärti- Zeit 122 f.
gung 1 3 1 f. , 1 3 4 f. , 1 3 9 f. - objektive Zeit und Reduktion 59
- Wahrnehmung und Urteil 17S ff. - Gegebenheitszeit und obj ektive
Welt Zeit 1 00 f. , 1 07
- Vorgegebenheit der Welt 61 - präphänomenale (präempirische)
- Welt der möglichen Erfahrung 6S Zeit 105, 107
- Sein der Welt und Normalität 205 Zeitbewußtsein 96 ff. , 1 1 S
- »Weltvernichtung<< 65 f. - Urimpression, Retention, Proten­
Wesen 7S ff. tion 98
- Erfassung von Wesen 3 8 f. , 40f., - Zeitwahrnehmung und Zeit­
76 ff. , S2 ff. phantasie (Erinnerung) 99 ff.
- Wesenserschauung und Phantasie - Vorgegenwart (Urgegenwart) des
76 f. Zeitbewußtseins 1 04, 1 07
- Wesensallgemeinheit 76 ff. - Zeitbewußtsein und Genesis 1 83

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