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Band 1
Schopenhauer in der
Philosophie der Gegenwart
herausgegeben von
Dieter Birnbacher
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Königshausen & Neumann ~12
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Gedruckt mit Unterstützung der Daimler-Benz AG
Vorwort ......................................................................................................... 7
Georg Küpper: Kommt es darauf an, die Welt zu verändern? Zur Ethik
des Tuns und Lassens ................................................................................ 76
2. Schopenhauer im Kontext
.,.:
Vorwort
Nicht zufällig wird die Reihe der "Beiträge zur Philosophie Schopen-
hauers" mit einem Band eröffnet, der die Bedeutung Schopenhauers für
die Philosophie der Gegenwart prononciert in den Mittelpunkt rückt.
Schopenhauers Philosophie ist unverkennbar zeitbezogen, ein Werk des
19. Jahrhunderts. Aber die Fragen, auf die sie ausdrücklich oder unaus-
drücklich antwortet, sind weitgehend dieselben, die die professionelle
und die Alltagsphilosophie auch heute bewegen: Wie läßt sich - nach der
kantischen und empiristischen Kritik der Metaphysik - eine Metaphysik
betreiben, die sich statt aus reiner Vernunft aus der Erfahrung herlei-
tet? Läßt sich der Kemgehalt der christlichen Ethik in einer radikal sä-
kularen ethischen Orientierung rekonstruieren? Was kann auch nach
der Erschütterung metaphysischer Gewißheiten die Rede von der "Er-
lösung" des einzelnen bedeuten?
Die Antworten, die Schopenhauers Philosophie auf diese Fragen
gibt, sind uneinheitlicher und in sich gebrochener, als ihm selbst viel-
leicht gegenwärtig war. Aber gerade dadurch sind sie authentischer und
glaubwürdiger als die der deduktiven System philosophien, von denen
sie sich abgrenzt - Ausdruck nicht nur abstrakten konstruktiven Den-
kens, sondern einer konkreten, persönlichen Erfahrung der Welt. Das
mag die Faszination erklären, die nach wie vor von dieser Philosophie
ausgeht, auch wenn sich der Fokus des Interesses im Zeitverlauf ver-
schoben hat. Heute steht - das dokumentiert dieser Band - nicht mehr
primär das romantische Dunkel der Willensmetaphysik, der Unsterb-
lichkeitslehre oder der Philosophie der Musik im Mittelpunkt als
vielmehr Schopenhauers schonungsloser Realismus und das helle, ja
grelle Licht, mit dem in seiner Philosophie noch die ehrwürdigsten und
gehätscheltsten Wahrheiten der Metaphysik als Täuschungen lind
Selbsttäuschungen, Lügen und Lebenslügen entlarvt werden. Neben das
Bild des mystischen Schopenhauer, der von Meister Eckhardt sagte,
"daß er im wesentlichen dasselbe lehre wie er selbst", tritt das Bild des
Aufkläre.'s Schopenhauer, der John Locke gegen Fichte verteidigte und
für den Voltaire nicht weniger als "einer der größten Männer des vori-
gen Jahrhunderts" war. Neben die idealistischen treten die materia-
listischen, neben die spekulativen die empirisch-anthropologischen Züge
seiner Philosophie - etwa seine bedeutende Vorwegnahme der Einsich-
ten der Tiefenpsychologie oder seine biologisch fundierte Gleichsetzung
von leiblichen und seelischen Aspekten des Menschen.
Die in diesem Band zusammengestellten Beiträge gehen zum
größeren Teil auf Vorträge zurück, die nuf der Potsdamer Tagung der
Schopenhauer-Gesellschaft im Dezember 1993 gehalten wurden. Sie
wurden für den Druck ergänzt und überarbeitet. Der programmatische
Text RudolfMalters "Was ist heute an Schopenhauers Philosophie aktu-
ell?u ist einer der letzten, den er vor seinem plötzlichen Tod abschließen
konnte. Der Beitrag von Alfred Schmidt ist die überarbeitete und we-
sentlich erweiterte Version eines Vortrags, den der Verfasser im März
1994 in FrankfurtJM. anläßlich einer Veranstaltung der Schopenhauer-
Gesellschaft gehalten hat. Der Beitrag von Heinz Gerd Ingenkamp geht
auf einen Vortrag vor der Schiller-Gesellschaft im Juli 1993 in Weimar
zurück. Allen Verfassern sei dieser Stelle für die Überlassung der Manu-
skripte gedankt. Gedankt sei auch dem Hessischen Ministerium für
Wissenschaft und Kunst und der Firma Daimler-Benz für die Unter-
stützung der Potsdamer Tagung sowie der Firma Daimler-Benz für die
Gewährung eines Druckkostenzuschusses.
Die Werke Schopenhauers werden nach der von Arthur Hübscher be-
sorgten Ausgabe seiner Sämtlichen Werke, Mannheim 71988 zitiert. Im
einzelnen werden die folgenden Kürzel verwendet:
men, doch immer so, daß dieses Einende der Freiheit der sich entfalten-
den Reflexionen dient, statt sie zu dirigieren und in ihrer Spontaneität
zu hemmen. Schopenhauer wahrt die Stringenz des Formalen und hält
die Ideen doch vom Zwang eines Regelwerkes frei. Wie könnte man
besser der Vielfalt der Erscheinungen ordnend beikommen, ohne sie
formalistisch zu verfalschen?
2. Die Offenheit, die Schopenhauers System eignet, verdankt sich der be-
wußten Orientierung auch der Metaphysik an der Erfahrung. Zu Recht
kann Schopenhauer sich rühmen, im ständigen Zwiegespräch mit dem,
was die Erfahrung bietet, seine Ideen entfaltet zu haben. Versteht man
die Welt" im Titel des Hauptwerks in erster Linie als "Mensch" und
faßt '~an seine gesamte Lehre im Sinn einer universalen metaphysi-
schen Anthropologie, dann haben wir - was zunächst fremdartig anmu-
ten dürfte - in Schopenhauers Philosophie den Versuch vor uns, sowohl
dem philosophischen Anspruch aufWesenserkenntnis als auch dem auf
Wirklichkeitsfundierung zu genügen. Schopenhauers Anthropologie geht
nicht von einer festen Definition des Menschen aus, sie folgert ebenso-
wenig inhaltliche Bestimmungen des Menschseins aus Begriffen, sie
kommt vielmehr zu ihren Wesensaussagen im Ausgang von dem, was
die anschauliche Welt dem Menschen bietet. Das empirisch Gegebene
wird von Schopenhauer in metaphysischer Intention transparent ge-
macht für das Was, das in den Daten sich nicht erschöpft, ihnen viel-
mehr erst eine zusammenhängende Bedeutung verschafft. Was die Welt,
was der Mensch ist, soll Philosophie in abstracto darstellen - das Dar-
'stellen selbst ist zwar Abstraktion, aber das dargestellte Was gibt in
seiner abstrakten Gestalt gerade seine Wirklichkeitsfülle zu erkennen.
Die Erscheinung erweist sich als das Aufscheinen des Dings an sich -
keines geheimnisvollen Dahinterseins, sondern des bedeutungshaften
Was, das in allen Dingen steckt.
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Rudolf Malter
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Rudolf Malu'r
antizipierbal'er Glücksfall und er dauere nur so lange, bis der Leib sich
wieder mit seinen Ansprüchen melde, dann ordnet er dem ästhetischen
Erleben genau die Funktion zu, die es im Leben der Menschen haben
soll: ein Erleben der Freiheit zu sein, dil? es weder im Handeln der
Menschen noch im bloßem Sein der Natur gibt, die zu erlangen aber die
einzige Bestimmung des Menschen ist.
Viel Aktualisierbares findet sich auch in Schopenhauers Erörte-
rung der einzelnen Künste - denken wir z.B. an seine Konzeption der
Architektur als des Phänomens. in dem sichtbar der Kampf zwischen
Starrheit und Schwere zum Ausdruck kommt oder an seine Dichtungs-
theorie, die uns gleichsam nebenbei ei~e ganze Sprachphilosophie in
nuce mitliefert. Etwas verweilen muß man bei der Musik: Auch wer
nicht mehl' nachvollziehen kann, was Schopenhauer in Anknüpfung an
die Objektivationenmetaphysik über den Parallelautbau von Musik und
Natur ausführt., sollte seine an bleibenden Einsichten reiche Musik-
philosophie konsultieren. Er wird es mit Gewinn tun. Stichwortartig
seien einige HauptresuItate solcher Konsultation genannt: Schopen-
hauer nimmt en passant Hanslieks Plädoyer für die absolute Musik
vorweg - dort, wo er die Selbständigkeit der Musik gegenüber dem Wort
betont und die Affekte als Wirkung, nicht als Gegenstand der musi-
kalischen Konzeption begreift. Schopenhauer erkennt die philosophische
Bedeutung der Dissonanz, er bringt bedenkenswerte Äußerungen zum
Verhältnis von Harmonie, Melodie und Rhythmus. Schließlich können
wir im § 52 des 1. Bands des Hauptwerks und im ergänzenden 39. Kapi-
tel des 2. Bands eine einfühlsame Beethovendeutung lesen.
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Rudolf Malter
gemacht. Aber wer kann als Ethiker etwas mit der intelligiblen Tat
anfangen? Derjenige, der die Verantwortlichkeit des Menschen an-
erkennt - und Schopenhauer hat sie sehr genau bestimmt: als das
Bewußtsein, daß ich der Täter meiner Taten bin und kein anderer und
kein anderes außer mir. In seiner Weise ist Schop~nhauer nicht weniger
rigoristisch als der von ihm in der Ethik heftig bekämpfte Kant: Man
muß zwar die vielfältigen Einflüsse der Motive bei der sittlichen
Beurteilung eines Menschen berücksichtigen, aber man kann ihn wegen
der Vielfältigkeit der Motivation nicht aus der Verantwortung entlassen.
Und Schopenhauer legt, wenn man seinen Lasterkatalog ansieht,
strengste Maßstäbe an. Nicht bloß die Individuen werden ob ihres ag-
gressiven Egoismus, der in individuelle Destruktion führt, getadelt,
sondern auch - vor allem - führt Schopenhauer einen Kampf gegen Aus-
beuter, Sklavenhalter, Menschenschinder, Kolonialisten, Rassisten und
Tyrannen, beständen sie nun aus einzelnen Machthabern oder aus dem
allzeit zu Schandtaten bereiten Mob.
5. Schließlich ist noch auf einen Hauptpunkt der Schopenhauer-
schen Ethik hinzuweisen, mit dem er immer, wo Menschen nach dem
Guten fragen, präsent wird: Er hat uns mit dem Prinzip "Verletze
niemand, sondern hilf jedem, so weit du kannst" eine Orientierungsnorm
an die Hand gegeben, deren wir uns in den andrängenden Problemen
der Zeit getrost bedienen können. Wenn heute z. B. von medizinischer
Ethik, besser: von den besonderen ethischen Problemen in der medizi-
nischen Praxis, die Rede ist, so löst zwar Schopenhauers Prinzip die
jeweils konkreten Fälle nicht unmittelbar auf, aber es gibt einen un-
bezweifelbaren Richtwert an, wie die Einzelfälle, z. B. die Abtreibung
oder die Genmanipulation - gleichsam mit einer conditio si ne qua non -
argumentativ angegangen werden können.
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Was ist heute an Schopenhauers Philosophie aktuell?
len, ist das Maulkorbtragen nicht erlaubt. Und das ist noch ein letzter
Aktualitätspunkt: Lassen wir uns durch die Macht nicht das freie Ver-
nunfturteil verderben. Halten wir es mit Schopenhauer und seinem
einstmals von einem Despoten gebeutelten Lehrer Kant: Bleiben wir
auch in Nöten rücksichtslos aufrichtig.
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Schopenhauer als Aufklärer
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Alfred Schmidt
II
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Schopenhauer als Aufklärer
lichkeit der Materie"l7 überein. Sie allein könne ihm zufolge als "absolut"
gelten; er spreche ihr Denkfähigkeit zu und erblicke in der Seele eine
"organische Funktion des Gehirns"l8. Auch Dühring zollt Schopenhauer
Anerkennung. Zwar bleibe seine Erkenntnislehre dem "nachkanti-
schen Traumideologismus"l9 verhaftet. Es sei jedoch "einer der Haupt-
vorzüge des Schopenhauerschen Gedankenkreises, dass er nicht eine
Idee oder ein System von Ideen in das ursprüngliche Fundament der
Dinge hineindichtet"2o. Insofern "Widersacher der falschen Ideologie",
habe Schopenhauer "dieselbe dadurch bei ihrer Wurzel angegriffen, daß
er nicht diese oder jene Ideen, sondern überhaupt die ganze Voraus-
setzung verwarf, dass bewusste Vorstellungen als hervorbringender
Grund der thatsächlichen Welt vorausgesetzt werden könnten"2l.
Affinitäten Schopenhauers zum Materialismus, die bis in seine
pessimistische Metaphysik hineinreichen, sind unübersehbar. Immer
wieder stößt man in seinen Schriften auf Stellen, die sich materialisti-
scher Interpretation anbieten. So erklärt Schopenhauer: "Materialität
ist es allein, die das reale Ding vom Phantasiegebilde, welches denn
doch nur Vorstellung ist, unterscheidet."22 Anderswo glaubt er den nach-
kantischen Begriff des Absoluten dadurch zu diskreditieren, daß er ihn
mit dem der Materie gleichsetzt. "Wollen die Herren", ruft er zornig aus,
"absolut ein Absolutum haben; so will ich ihnen eines in die Hand geben,
welches allen Anforderungen an ein Solches viel besser genügt, als ihre
erfaselten Nebelgestalten: es ist die Materie. Sie ist unentstanden und
unvergänglich, also wirklich unabhängig und quod per se est et per se
concipitur: aus ihrem Schooß geht Alles hervor und Alles in ihn zurück:
was kann man von einem Absolutum weiter verlangen?"23 Beide Be-
legstellen werten die Materie ontologisch auf, wohingegen Schopenhauer
ihr sonst jede Eigenständigkeit abspricht und erklärt, sie gehöre "dem
bloß Formellen unserer Vorstellung" an, "nicht aber dem Dinge an
sich"24. Der Widerspruch ergibt sich daraus, daß Schopenhauer einer-
seits, in der Nachfolge Kants, Ideales und Reales, erscheinende und an
sich seiende Welt scharf auseinanderhält, andererseits jedoch beide
Sphären durch die Materie verknüpft sieht. 25 Dieser fallt so eine zwie-
spältige Rolle zu. Bald verflüchtigt sie sich, erkenntnistheoretisch be-
trachtet, zum wesenlosen Schein eines in ursächlichem Wirken sich er-
schöpfenden Gewebes, bald fungiert sie, unter metaphysischem Aspekt,
als reales Substrat des Weltwillens und seiner Manifestationen.
Nachdrücklich verweist denn auch Bloch auf die materialistische Seite
der Schopenhauerschen Metaphysik: "Die Willenswelt steigt ... vom
Mechanismus über Chemismus, Animalität und dergleichen zum Be-
wußtsein auf; die Stufen dieses Aufstiegs aber heißen - ganz ohne Bezug
zum Subjekt - ,Objektitäten' oder ,Objektivationen' des Willens."26 Statt
des "bloß Formellen unserer Vorstellung"27 wird Materie hier zur an-
schaulichen Realität: "Zähne, Schlund und Darmkanal sind der objekti-
21
Alfred Schmidt
Dasjenige, wodurch der Wille, der das innere Wesen der Dinge
ausmacht, in die Wahrnehmbarkeit tritt, anschaulich, sichtbar
wird. In diesem Sinne ist also die Materie die bloße Sichtbarkeit
des Willens, oder das Band der Welt als Wille mit der Welt als
Vorstellung. Dieser gehört sie an, sofern sie das Produkt der Funk-
tionen des Intellekts ist, jener, sofern das in allen materiellen
Wesen ... sich Manifestirende der Wille ist .... Was daher in der
Erscheinung, d. h. für die Vorstellung, Materie ist, das ist an sich
selbst Wille. 3o
Gleichwohl hütet Schopenhauer sich hier, die Materie mit dem Ding an
sich gleichzusetzen; sie gehört auch als dessen "Sichtbarkeit" zur phä-
nomenalen Welt, unterworfen den Formen subjektiven Erkennens.3 1 Da
aber das Wesen bei Schopenhauer (wie in Hegels Dialektik, die er ver-
achtet) erscheinen muß, fehlt es in seinem Hauptwerk nicht an Über-
gängen von der erscheinenden zur an sich seienden Welt. Vermittelt
werden 'sie zunächst durch formale Charaktere wie Einheit, Ganzheit,
Substanz und Unzerstörbarkeit, die der Materie als "Sichtbarkeit" des
Willens ebenso zukommen wie diesem selbst. Eine inhaltliche Überein-
stimmung von Materie und Wille tritt hervor 'auf den höheren Stufen
des Organischen. Hier wird die Materie vom bloß wahrnehmbaren Wil-
len zu dessen Material. Sie erweist sich, so Bloch, als "das Fleisch, das
das fressende Tier, als Objektivation des stärkeren Willens, dem gefres-
senen des schwächeren Willens entreißt, und um das hier aller Streit
geht"32. Die derart entstehende Rangfolge von Objektivationen des Wil-
lens offenbart jedoch, daß dieser selbst leer ist:
da nichts außer ihm existiert, so zerreißt der Wolf, der das Lamm
zerreißt und dessen Materie frißt, allemal sich selbst, in bloßer
Entzweiung des Einen Willens. Hier wird die Überraschung groß:
Materie und Wille rücken endgültig zusammen; denn es ist ...
Wille, den der Wille in Gestalt von Materie frißt, immer nur der
gleiche, der Eine Wille, ohne Täuschung der Vielheit, der ver-
schiedenen Individuationen, wo nicht gar der Objektivationen.33
22
Schopenhauer als Aufklärer
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Alfred Schmidt
heit", dann "könnte man eher als zum Pantheismus zum Pandiabo-
lismus sich geneigt finden"42.
Wert legt Schopenhauer auf die Feststellung, daß seine All-
Einheitslehre sich grundlegend von der des Spinozismus unterscheide.
Dieser geht, was Schopenhauer anerkennt 43 , über die cartesianischen
Dualismen hinaus, indem er darlegt, "daß Alles Eins sei, ein Wesen in
allen Dingen"44. Retten freilich, davon ist Schopenhauer überzeugt, läßt
dieser Gedanke sich nur in enttheologisierter Form. Das Prinzip deus
sive natura streift zwar die traditionellen Wesenszüge Gottes ab. Es
bleibt jedoch dem Judentum durch seinen Optimismus verhaftet. 45
Damit, betont Schopenhauer, geht einher, daß Spinoza von der Wirklich-
keit der Welt auf ihre Notwendigkeit schließt. Problematisch indessen
werden Dasein und Beschaffenheit der Welt nur dadurch, daß letztere
keine "im pantheistischen Sinne ... absolute Substanz ist", kein "schlecht-
hin nothwendiges Wesen"46. Daher Schopenhauers entschiedene Absage
an die (auf Bruno zurückgehende) Lehre Spinozas, Möglichkeit und
Wirklichkeit alles (in und durch Gott) Bestehenden seien identisch. Sie
impliziert die Unmöglichkeit seines Nicht- oder Andersseins. Nun beruht
aber Schopenhauer zufolge "die Unruhe, welche die Uhr der Metaphysik
in Bewegung erhält", auf dem "Bewußtseyn, daß das Nichtseyn dieser
Welt eben so möglich sei, wie ihr Daseyn"47. Das eigentlich "philosophi-
sche Erstaunen"48 über die Welt hebt an mit der Einsicht, daß sie etwas
ist, "dessen Nichtseyn nicht nur denkbar, sondern sogar ihrem Daseyn
vorzuziehn wäre; daher unsere Verwunderung über sie leicht übergeht
in ein Brüten über jene Fatalität, welche dennoch ihr Daseyn hervor-
rufen konnte"49. Der Anblick des Bösen, des Übels und des Todes ver-
setzt die Menschen in beständige Unruhe. Zum ,.punctum pruriens" der
Metaphysik wird nicht nur, "daß die Welt vorhanden, sondern noch
mehr, daß sie eine so trübsälige sei"5o.
Die Faktizität der Welt ist ebenso unableitbar wie das schlecht-
hin "Unerklärliche"51, worauf jede wissenschaftliche Erklärung über
kurz- oder lang stößt, die Einzelsachverhalte auf Ursachen zurückführt,
diese auf Naturgesetze und sie wiederum auf Naturkräfte, deren Her-
kunft dunkel bleibt. Dieses durch alle Erscheinungen hindurchgehende
"Unerklärliche" deutet Schopenhauer als "Anweisung auf eine der phy-
sischen Ordnung der Dinge zum Grunde liegende ganz anderartige,
welche eben Das ist, was Kant die Ordnung der Dinge an sich nennt"52.
Auf sie richtet Metaphysik ihr vorrangig ethisches Interesse, beruht
doch das Credo "aller Gerechten und Guten" auf "der Erkenntniß, daß
die Ordnung der Natur nicht die einzige und absolute Ordnung der
Dinge sei"53. Dem Naturalismus entgeht, daß die objektive Welt, an der
er sich orientiert, Erscheinung, nicht Ding an sich ist. Nichts aber, er-
klärt Schopenhauer, "(kann) täppischer seyn ... , als daß man, nach Wei-
se aller Materialisten, das Objektive unbesehens als schlechthin ge-
24
Schopenhauer als Aufklärer
geben nimmt, um aus ihm Alles abzuleiten, ohne irgend das Subjektive
zu berücksichtigen, mittels dessen, ja in welchem, allein doch jenes da-
steht"54. Wird aber diese Einsicht emstgenommen, so erweist sich die
Unentbehrlichkeit einer Metaphysik, die das Ganze der Dinge moralisch
bewertet. Während der naturwissenschaftlich begründete Atheismus des
neunzehnten Jahrhunderts als selbstgenügsame Wahrheit auftritt und
seine Verfechter der Welt "bloß eine physische, keine moralische Bedeu-
tung" zuerkennen, ist Schopenhauer - gerade als Atheist - davon über-
zeugt, daß sie "allemal sich als Mittel darstellt zu einem höheren
Zweck"55.
Freilich kann Schopenhauers entschiedenes Bekenntnis zur
Metaphysik nicht über den Abgrund hinwegtäuschen, der seinen Volun-
tarismus etwa von Platon und Aristoteles trennt. Jenes "universelle
Grundwesen aller Erscheinungen", das Schopenhauer "nach der Manife-
station, in welcher es sich" - im natürlichen Selbstbewußtsein - "am un-
verschleiertsten zu erkennen gibt"56, Wille nennt, ist nämlich kein positi-
ves' zu verehrendes Prinzip. Folgt idealistische Metaphysik seit je dem
Grundsatz, Güte und Vollkommenheit eines Wesens wüchsen mit
dessen Realität und Beständigkeit; das Ewige, Realste sei das Ansich-
Seiende, wonach die Menschen sich zu richten hätten, so lehrt Schopen-
hauer die moralische Verwerflichkeit des Wesens der wechselnden
Dinge. 57 Horkheimer erblickt denn auch
Das Was der ihrem Dasein nach kontingenten Welt enträtselt das Wort
Wille; allerdiI'gs, fügt Schopenhauer hinzu, "nur innerhalb gewisser
Schranken, die von unserer endlichen Natur unzertrennlich sind,
mithin so, daß wir zum richtigen Verständniß der Welt selbst gelangen,
ohne jedoch eine abgeschlossene ... Erklärung" ihres Wesens "zu
erreichen"59. Schopenhauer (der selten von seinem "System"60 spricht)
25
Alfred Schmidt
26
Schopenhauer als Aufklärer
"hat überall nur Einen Zweck: Leben und Wohlseyn zu bereiten"; ihm
gemäß hat der Mensch sich zu verhalten: "Er soll wollen, was die Natur
Will."72 Der Identität des menschlichen Wesens mit dem, "was die Natur
will", entspringt Schopenhauer zufolge das Wohlgefallen am Natur- und
Kunstschönen: "Weil unser innerstes Wesen nur darauf hinausgeht, den
Zweck der Natur zu befördern, unser reiner Wille nur ihr Wille ist, so er-
klärt sich unsre innige Freude bey ihrem Anblick, bey ihren Formen die
die Kunst rein darstellt, bey der Musik die die Einheit und Regelmäßig-
keit in der größten Mannigfaltigkeit und Lebendigkeit, - der Natur
nachahmt."73 Findet hier das menschliche Dasein Erfüllung im Einklang
des die Natur umfassenden und im Menschen sich darstellenden Wil-
lens, so wird dieser in Schopenhauers reifer Metaphysik zum schlecht-
hin negativen, unglückselig machenden Prinzip, zur Wurzel von
Egoismus, Unrecht und Bosheit. Indp.m aber der (zum Geist sich stei-
gernde) Intellekt74 auf intuitivem Wege Einsicht gewinnt in die Identität
aller Wesen und die Sinnlosigkeit jeder durch fremdes Leid erkauften
Lust, wächst er über seinen physischen Ursprung und dessen Dienst-
barkeit gegenüber dem Willen hinaus und wird so zu jener moralischen
Instanz, die eine metaphysische Wende des Lebens herbeizuführen ver-
mag. 75
Über der ethischen Komponente der Schopenhauerschen Wil-
lenslehre ist deren naturalistische Seite nicht zu vergessen. Nicht über-
all, wo Schopenhauer vom Willen spricht, geschieht dies in soteriologi-
scher Absicht. Große Teile seines Werks abstrahieren von ihr und setzen
den Willen gleich mit der Natur im Sinn der natura naturans. Sie ist
"das ohne Vermittelung des Intellekts Wirkende, Treibende, Schaf-
fende"76. Obwohl Schopenhauer die Frage, was der Wille"an sich selbst",
das heißt unabhängig davon sei, daß er in den Formen des erkennenden
Subjekts "erscheint"77, für unbeantwortbar hält, kommt er immer wieder
auf sie zurück. Wer ins "Innere der Natur" vordringen will, soviel ist
ihm klar, muß versuchen, das "Wesen des Willens an sich"78 zu erfassen.
Wie intensiv dieses Problem Schopenhauer beschäftigt hat, zeigt
sich schon daran, daß er, erkenntniskritische Bedenken zurückstellend,
in wechselnden, tastenden Kategorien der Realität dessen näherzu-
kommen sucht, was er das "Wort des Räthsels"79 nennt: den Willen. Der
heutige Interpret, der Schopenhauers Schlüsselbegriff nicht im weltan-
schaulich-bekenntnishaften Sinn des neunzehnten Jahrhunderts einfach
übernehmen kann 8o , sieht sich vor der Aufgabe, ihn seinerseits zu ent-
schlüsseln. Während Schopenhauer (unbeschadet seiner Vorstellungs-
lehre) im Willen das Prinzip einer einheitlich-metaphysischen Welt-
erklärung erblickt, die sich durch wissenschaftliche Empirie abstützen
läßt, umschreibt der Terminus "Wille" für den heutigen Betrachter eher
ein in sich heterogenes Problemgebiet, das die verschiedensten Zugänge
gestattet. 8l
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was ihm gemäß ist, erscheint uns alsbald billig, gerecht, vernünf-
tig; was ihm zuwider läuft, stellt sich uns, im vollen Ernst, als un-
gerecht und abscheulich, oder zweckwidrig und absurd dar. Daher
so viele Vorurtheile des Standes, des Gewerbes, der Nation, der
Sekte, der Religion .... Was unserer Partei, unserm Plane, unserm
Wunsche, unserer Hoffnung entgegensteht, können wir oft gar
nicht fassen und begreifen, während es allen Andern klar vorliegt:
das jenen Günstige hingegen springt uns von ferne in die Augen.
Was dem Herzen widerstrebt, läßt der Kopf nicht ein. 140
Der Philosophie erwächst hieraus die Aufgabe, solche psychologischen
Mechanismen zu durchschauen und die durch sie bewirkten Vorurteile
zu entlarven. Wohl ist, was die Menschen versichern, "meistens ... bloß
ein Ausspruch zu Gunsten ihrer Partei, oder Klasse"141. Schopenhauer
vertraut jedoch darauf, daß unser Denken es vermag, in redlicher
Selbstprüfung die in den Vorurteilen verborgene "Subjektivität"142 auf-
zuspüren und zu eliminieren. Daher das kämpferische Pathos seiner
Philosophie. 143
Ein wichtiges Unterkapitel der Lehre von Wille und Intellekt
bildet die Frage der Funktion des Bewußtseins. Erst mit ihm erscheinen
Irrtum, Täuschung und Lüge; denn die Welt selbst, darauf besteht
Schopenhauer, ist ihrem Wesen nach aufrichtig. Nur das bewußte
Wesen erlangt die Fähigkeit, sich und andere zu täuschen, indem es
seine wahren Motive durch solche ersetzt, die, wenn sie sein Verhalten
bestimmt hätten, von der Gesellschaft moralisch positiv bewertet wor-
den wären. "Alles Ursprüngliche, und daher alles Aechte im Menschen
wirkt, als solches, wie die Naturkräfte, unbewußt."144 Das Bewußtsein
dagegen erlaubt, ob absichtlich oder nicht, die Produktion eines falschen
Scheins. Ihm haftet von vornherein etwas Künstliches an. "Alles Be-
wußte", so Schopenhauer, "ist schon nachgebessert und ... geht daher
schon über in Affektation, d. i. Trug."145 Die ursprüngliche Richtung des
Willens wird verdeckt und läßt sich so moralisch rechtfertigen. Das
Interesse des gesellschaftlichen Zusammenhalts gebietet es, daß keiner
"sich ganz zeigen (dart), wie er ist; weil das viele Schlechte und
Bestialische unserer Natur der Verhüllung bedarf'146.
Ein weiterer Mangel des Bewußtseins beruht darauf, daß es "die
bloße Oberfläche unsers Geistes" bildet, "von welchem, wie vom
Erdkörper, wir nicht das Innere, sondern nur die Schaale kennen"147.
Die den Sachverhalt erläuternden Betrachtungen Schopenhauers anti-
zipieren grundlegende Einsichten Nietzsches und Freuds. Die
Wirklichkeit des Denkprozesses, fuhrt er aus, ist komplexer als dessen
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Schopenhauer als Aufklärer
stärkste, sondern sogar specifisch von mächtigerer Art als alle andern.
Sie wird überall stillschweigend vorausgesetzt, als nothwendig und un-
ausbleiblich, und ist nicht, wie andere Wünsche, Sache des Geschmacks
und der Laune. Denn sie ist der Wunsch, welcher selbst das Wesen des
Menschen ausmacht."160
Es kennzeichnet Schopenhauers unbestechliche Wahrheitsliebe,
daß er sich vor Schönfärberei auch dann hütet, wenn sein privates
Interesse ins Spiel kommt. So führt ihn, zumal im Alterswerk, sein
Gespür für ökonomische Tatsachen gelegentlich in die Nähe des
Marxschen Hauptwerks. In der bürgerlichen Gesellschaft, heißt es im
Kapital, existieren die Menschen füreinander nur als "Personen" (im ju-
ristischen Sinn), d. h. "als Repräsentanten von Waren und daher als
Warenbesitzer"161. Sie verstecken sich hinter "Charaktermasken", die
bloße "Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse sind, als deren
Träger sie sich gegenübertreten"162. Schopenhauer liefert dazu den
Kommentar im zweiten Band der Parerga:
Ist doch unsere civilisirte Welt nur eine große Maskerade. Man
trifft daselbst Ritter, Pfaffen, Soldaten, Doktoren, Advokaten,
Priester, Philosophen, und was nicht alles an! Aber sie sind nicht,
was sie vorstellen: sie sind bloße Masken, unter welchen, in der
Regel, Geldspekulanten (moneymakers) stecken. 164
35
Alfred Schmidt
Wie unser Leib in die Gewänder, so ist unser Geist in Lügen ver-
hüllt. Unser Reden, Thun, unser ganzes Wesen, ist lügenhaft: und
erst durch diese Hülle hindurch kann man bisweilen unsere wahre
Gesinnung errathen, wie durch die Gewänder hindurch die
Gestalt des Leibes. 167
"Es giebt auf der Welt nur ein lügenhaftes Wesen: es ist der Mensch."168
Da der Wille als solcher sich stets unverfälscht darstellt, entsteht die
Lüge erst mit der Sphäre des Intellekts; "die Natur, die Wirklichkeit,
lügt nie: sie macht ja alle Wahrheit erst zur Wahrheit"169. Der Mensch
dagegen lügt, und seine Lügen zielen allemal darauf ab, die Herrschaft
des Willens eines Individuums auszudehnen auf andere Individuen.
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Schopenhauer als Aufklärer
Anmerkungen
1. N, 26.
0. W 11, 671f.
3. E, 246.
4. W 11,672.
5. So heißt es in Kants Abhandlung Idee zu einer allgemeinen Geschichte in
weltbürgerlicher Absicht: "Man kann die Geschichte der Menschengattung im
großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine
innerlich - und, zu diesem Zwecke, auch äußerlich - vollkommene Staats-
verfassung zu Stande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem sie alle
ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann" (Werke, Band XI, Frank-
furtIM. 1967, 45).
6. W 11, 670, 671.
7. Pli, 342.
8. MarxlEngels, Ausgewählte Schriften, Bd. 1, Berlin 1964, 337.
9. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, hrsg. von Alfred
Schmidt, FrankfurtlM. 1967,259.
10. HN IV (1), 302.
11. Briefvom 3. April 1818 an F. A. Brockhaus, GBr, 31.
10. Briefvom 16. September 1850 an J. Frauenstädt, GBr, 246.
13. W 11, 222, 223.
14. Vgl. Pli, 101.
15. N, 39.
16. Ludwig Feuerbach, Gesammelte Werke, hrsg. von Werner Schuffenhauer, Bd.
11, Berlin 1972, 176.
17. Louis Büchner,Aus Natur und Wissenschaft, Leipzig 1862,116.
37
Alfred Schmidt
18. Ebda., 117. - Büchner resümiert sein Urteil über Schopenhauer folgender.
maßen: ,.An der Grenzscheide zweier großer philosophischer Epochen stehend,
deutet er mit der einen Hand rückwärts, mit der anderen vorwärts, ist hier
Idealist, dort Realist, steckt auf der einen Seite noch tief in den Wirrnissen der
reinen Spekulation und hat sich auf der anderen bereits hoch auf jene lichte
Höhe emporgeschwungen, auf der die Philosophie an der Hand der Erfahrung
einem neuen Ziele entgegengeht" (ebda., 134).
19. Eugen Dühring, Kritische Geschichte der Philosophie, Berlin 1873, 477.
00. Ebda., 467.
01. Ebda., 468. - Dühring bezieht sich hier auf die "falsche", von Schopenhauer
kritisierte "Grundansicht, daß das Ganze der Dinge ... als bloße Vorstellung da-
gewesen sei, ehe es wirklich geworden; wonach es, als aus der Erkenntniß ent-
sprungen, auch der Erkenntniß ganz zugänglich, ergründlich und durch sie er·
schöpfbar seyn müßte" (P 11, 101).
02. W I, 528.
03. Ebda., 574.
04. P 11, 113.
25. Vgl. hierzu Alfred Schmidt, Drei Studien über Materialismus, MünchenlWien
1977,34 ff.
06. Ernst Bloch, Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz,
FrankfU~. 1972,273.
07. Pli, 113.
08. W 1,129.
09. W 11, 348.
30. Ebda., 349, 350.
31. Eben hierin besteht nach Schopenhauer der "idealistische Gesichtspunkt".
Er bezieht sich auf die Frage, ob der Materie Realität oder Idealität zukomme:
"Ist die Materie als solche bloß in unserer Vorstellung vorhanden, oder ist sie es
auch unabhängig davon? Im letzteren Falle wäre sie das Ding an sich, und wer
eine an sich existierende Materie annimmt, muß, konsequent, auch Materialist
seyn, d. h. sie zum Erklärungsprincip aller Dinge machen" (W 11, 14).
30. Bloch, a. a. 0., 275.
33. Ebda.
34. P 11, 634; vgl. auch W 11, 351. - Unerörtert bleibe hier die über Schopen-
hauers Selbstverständnis hinausreichende Frage, inwieweit die materialisti-
schen Momente seines Systems geeignet sind, dieses von innen zu sprengen. Vgl.
hierzu auch Schmidt, Drei Studien über Materialismus, a. a. 0., 55 ff.
35. Vgl. W 11,3 tr.
36. HN III, 241.
37. Ebda., 615.
38. PI, 55.
39. Vgl. dazu P 11, 320.
40. HN IV (1), 142.
41. Ebda., 143.
42. Ebda., 190.
43. Vgl. dazu die neue Studie "Schopenhauers spinozistische Grundansicht" von
Ortrun Schulz, Schopenhauer-Jahrbuch 74 (1993), 51-71.
44. HN IV (1), 203.
38
Schopenhauer als Aufklärer
39
Alfred Schmidt
73. Vgl. W II, 198, wo es heißt: "Das eigenste Gebiet der Metaphysik liegt ... in
Dem, was man Geistesphilosophie genannt hat."
74. Zum Verhältnis von Selbsterkenntnis und Selbstverneinung des Willens vgl
auch Alfred Schmidt, Die Wahrheit im Gewande der Lüge. Schopenhauers
Religionsphilosophie, a. a. 0., 38 f., 88 ff.
75. W II, 304.
76. Ebda.
77. Ebda., 22l.
78. Ebda., 304.
79. W 1,119
80. Schon um die Jahrhundertwende sieht Johannes Volkelt sich genötigt, seine
eingehende Beschäftigung mit Schopenhauer gegen den Vorwurf des nicht mehr
Zeitgemäßen zu verteidigen: "Schopenhauer richtet ... seinen Blick auf das Eine,
Ewige, auf das Wesen der Dinge; er ist durch und durch Metaphysiker. Was hat
da eine Zeit mit ihm zu schaffen, die sich ... rühmt, den Durst nach den Hinter·
gründen und Tiefen aus der Philosophie hinausgeschafft zu haben?
Schopenhauer gehört zu den grossen Weltdeutern, ... die ihr Schauen ins
Seherhafte steigern, damit sich ihnen Herz und Sinn der Welt offenbare. Was
soll da eine Zeit mit ihm anfangen, in der selbst viele Philosophen den Triumph
ihrer Gedanken darin erblicken, sich über den Sinn der Welt keine Gedanken zu
machen?" (Arthur Schopenhauer. Seine Persönlichkeit, seine Lehre, sein Glaube,
Stuttgart 1901, 1). Volkelt rechtfertigt sein Unternehmen mit der Modernität
der Schopenhauerschen Philosophie. Diese ist keine "bloss wissenschaftliche
Angelegenheit; sie stellt eine Geistesmacht dar. Sie bedeutet einen Inbegriffvon
Gedankenrichtungen, Lebensstimmungen und Wertgefühlen, die in die Entwick-
lung des modernen Geisteslebens färbend, bestimmend und treibend ... einge-
gangen ·sind" (ebda., V). Wichtig für Volkelts Interpretation der Schopen-
hauerschen Philosophie ist deren ästhetische Aufnahme durch Wagner,
Nietzsche und die Neuromantik. "Ein näheres Eingehen auf die neue Phan-
tasiekunst", schreibt Volkelt, "würde ergeben, das~ Schopenhauer mit seinen
Lehren vom Genie als einem Uebermenschen, mit seiner Auffassung von der
Kunst als einer Erlöserin der Menschheit, ja mit der ganzen Verbindung von un-
erschrockenem Pessimismus und überschwenglicher Romantik ihr keineswegs
so ferne steht, wie es zunächst scheinen könnte" (ebda., 5).
81. . So versucht bereits der frühe Horkheimer, der Schopenhauerschen
Willenslehre einen sozial- und geschichtsphilosophischen Sinn abzugewinnen.
Er deutet sie als Extrakt leidvoll erfahrener Geschichte und den Willen als me-
taphysische Travestie ihrer Unbeherrschtheit durch die Menschen. "Der Wille",
schreibt Horkheimer, "ist ein blindes, nie befriedigtes Streben, und daher ist die
Welt, die er aus sich hervortreibt, eine furchtbare Welt. Bringt man ... die Wir-
kung dieser pessimistischen Philosophie mit der steigenden Enttäuschung wei-
ter Volksschichten über die widerspruchsvolle Entwicklung der Gesellschaft zu-
sammen, so enthält die Enttäuschung, soweit sie in dieser Philosophie ihren
Ausdruck findet, immer noch das Bekenntnis zum Intellekt. Der Intellekt und
mit ihm Wissenschaft und Technik sind leider ohnmächtig, die Welt auf Dauer
für alle zu einem erträglichen Aufenthalt zu machen; denn der Intellekt ist nicht
ebenso ursprünglich wie der Wille. Aber diese Ohnmacht des Intellekts erscheint
bei Schopenhauer als ein Verhängnis, die ,Blindheit' des Willens ist identisch
40
Schopenhauer als Aufklärer
mit seiner Schlechtigkeit. Die Herrschaft des Verstandes .. , würde die Welt er-
träglich machen, nur ist sie leider unmöglich. Schopenhauer ist kein echter
Romantiker, sondern ein enttäuschter Nachfahre der Aufklärung. Sein Pessi-
mismus ist insgeheim an der Utopie einer verstandes mäßig eingerichteten Welt
orientiert. Weil der Grundsatz eines erträglichen Daseins für alle sich in der
individualistischen Gesellschaft nicht erfüllt, ist er ... nie zu erfüllen, und das
Elend wird zum Kennzeichen jeder Realität" (Gesammelte Schriften, Bd. 10,
hrsg. von Alfred Schmidt, FrankfurtJM. 1990, 407).
82.N,X.
83. W II, 354; vgl. hierzu auch 342.
84. Vgl. W II, 300.
85. Ebda., 353.
86. Ebda., 351.
87. Ebda., 367; vgl. hierzu auch 332, wo Schopenhauer den Willen als die
"Naturkraft" schlechthin ansieht.
88. Ebda., 407 und passim.
89. Ebda., 195.
90. Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Bd. X, FrankfurtJM. 41967, 214.
91. Vgl. W I, 79.
92. PlI, 296. - Die unbefangene Verwendung dieser dem Dunstkreis des deut-
schen Idealismus entstammenden Begriffe zeigt, daß Schopenhauer - trotz der
Nähe seines Denkens zur wissenschaftlichen Empirie - die längst zum materiali-
stischen Thema gewordene Frage nach der Einheit der Welt im Sinn der speku-
lativen Tradition glaubt beantworten zu können: sie gründet im all-einen Willen.
Für einen Materialisten wie Engels dagegen ist jene Einheit kein Ergebnis geni-
aler Intuition, sondern der Theoriegeschichte: "Die wirkliche Einheit der Welt
besteht in ihrer Materialität, und diese ist bewiesen ... durch eine lange und
langwierige Entwicklung der Philosophie und Naturwissenschaft" (Herrn Eugen
Dührings Umwälzung der Wissenschaft, Berlin 1960, 51).
93. P II, 173.
94. Ebda., 112.
95. Ebda.
96. N, 20; vgl. hierzu auch W II, 15.
97. Ebda., 198.
98. "Im metaphysischen Sinn", erklärt Schopenhauer, "bedeutet Geist ein imma-
terielles, denkendes Wesen. Von so etwas zu reden, den Fortschritten der heuti-
gen Physiologie gegenüber, die ein denkendes Wesen ohne Gehirn gerade so an-
sehen muß wie ein verdauendes Wesen ohne Magen, ist sehr dreist" (HN IV (1),
265). Hier wird, konsequent materialistisch, das "Erkennende" ein "Produkt",
eine "bloße Modifikation" der Materie. Nun soll es aber Schopenhauer zufolge
"ebenso wahr sein", daß die Materie "eine bloße Vorstellung des Erkennenden
sei" (W II, 15). Von beiden Sätzen behauptet er, daß sie gleichberechtigt, weil
gleich notwendig und auf gleiche Weise einseitig seien. Metaphysischer Materia-
lismus und subjektiver Idealismus werden so zu korrelativen, koexistierenden
Wahrheiten. Zu fragen bleibt jedoch, ob die "idealistische Grundansicht" (Vgl. W
11, 3 ff.) wirklich ebenso wahr ist wie die materialistische Position, die mit einer
"objektiven Ansicht des Intellekts" (ebda. 307 ff.) und der Annahme einer naiv-
realistisch gegebenen Außenwelt einhergeht.
41
Alfred Schmidt
42
Schopenh~uer als Aufklärer
124. Ebda., 331; vgl. auch P 11, 103, wo Schopenhauer ausführt, daß der objek-
tive Intellekt des Genies, der danach trachtet, metaphysisch zu werden, "die
Natur, das Ganze der Dinge", thematisiert. "In ihm nämlich fängt die Natur al-
lererst an, sich selbst so recht wahrzunehmen als etwas, welches ist und doch
auch nicht seyn könnte, oder wohl auch anders seyn könnte; während im ...
normalen Intellekt die Natur sich nicht deutlich wahrnimmt ... "
125. W Ii, 243.
126. Ebda., 242.
127. P 11, 68.
128. Ebda.
129. Ebda.
130. Ebda.
131. Ebda., 69.
132. Ebda.
133. HN IV (1), 135 f.
134. PlI, 69.
135. P I, 468.
136. Vgl. W II, 244.
137. Hierbei ist freilich zu beachten, daß Schopenhauer Autoren wie Helvetius
nur unter kritisch-diagnostischem Gesichtspunkt schätzt. Seine Lehre vom
Interesse als der Haupttriebfeder menschlichen Urteilens und HandeIns bestärkt
Schopenhauer in seiner Ansicht darüber, wie die Welt es treibt. Dagegen weigert
er sich, die hedonistische Seite der Philosophie des Helvetius moralisch ernstzu-
nehmen: "Die Moral der französischen Materialisten ist ein Gewebe plumper
Sophismen. Helvetius ist vortrefflich im Intellektuellen, - de l'esprit, schlecht im
Moralischen, - de ['homme" (Brief vom 31. Oktober 1856 an Julius Frauenstädt,
in: Arthur Schopenhauer. Philosophie in Briefen, hrsg. von Angelika Hübscher
und Michael Fleiter, FrankfurtJM. 1989, 353)
138. P II, 15.
139. W II, 244.
140. Ebda.
141. PI, 479.
142. Ebda.
143. Vgl. hierzu Barth, Wahrheit und Ideologie, a. a. O. 197 f. - Es ist ein Ver-
dienst der Barthschen Schrift, Schopenhauers Denken in die Problematik des
Ideologiebegriffs einzubeziehen.
144. PlI, 637.
145. Ebda.
146. PI, 487.
147. W II, 149.
148. Ebda., 148.
149. Ebda.
150. Ebda.
151. Ebda.
152. Ebda., 149.
153. Ebda., 153.
154. Ebda., 233.
155. Ebda., 233 f.
43
Alfred Schmidt
44
Schopenhauer als Ideologiekritiker
Was dem Herzen widerstrebt, läßt der Kopf nicht ein. Manche Irr-
tümer halten wir unser Leben hindurch fest, und hüten uns, je-
mals ihren Grund zu prüfen, bloß aus einer uns selber unbewuß-
ten Furcht, die Entdeckung machen zu können, daß wir so lange
und so oft das Falsche geglaubt und behauptet haben. - So wird
denn täglich unser Intellekt durch die Gaukeleien der Neigung
betört und bestochen. 3
46
Schopenhauer als Ideologiekritiker
47
Dieter Birnbacher
zungen über den Weltlauf im kleinen gewöhnlich von der Realität einge-
holt. Für sie, aber auch nur für sie gilt Jon Elstcrs drastisches Bild:
"Usually, ... , the pleasure ofwishful thinking is ofbrief duration, like the
warmth provided by pissing on one's pants."7 Entsprechend werden in
diesem Bereich Realismus, Erfahrung und Lebensklugheit auch sozial
hochgeschätzt. Anders, wenn sich die Fehleinschätzungen auf den eige-
nen Charakter, die eigenen Motive und die eigene weiße Weste beziehen.
In diesem Fall schließt die mangelnde Aufgeklärtheit über sich selbst
dauerhaften Erfolg in der Welt durchaus nicht aus. Viele erfolgreiche
Tatmenschen wissen über nahezu alles, nur nicht über sich selbst Be-
scheid, u. a. weil ihnen niemals ein Mißerfolg Anlaß gab, über sich selbst
nachzudenken. Noch weniger gesellschaftlich sanktioniert werden
Illusionen, die sich auf weltanschauliche und religiöse Angelegenheiten
beziehen, und die man - gewissermaßen kompensatorisch - häufig ge-
rade bei ansonsten konsequent realistisch denkenden Tatmenschen an-
trifft. Auf diesem Gebiet werden Wunschphantasien (etwa religiöser
Art), solange sie sozial ungefährlich oder sogar nützlich sind, eher posi-
tiv beurteilt.
Sigmund Freud, der Vater der Tiefenpsychologie, war in diesem
Punkt kompromißloser. Für ihn war die Religion eine um nichts weniger
infantile Wunschbefriedigung als die Symptome des Neurotikers. Ein
Kernsatz seiner Religionskritik lautete:
48
Schopenhauer als Ideologiekritiker
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Dieter Birnbacher
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Schopenhauer als Ideologiekritiker
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Dieter Bimbacher
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Schopenhauer als Ideologiekritiker
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Dieter Birnbacher
54
Schopenhauer als Ideologiekritiker
und sich dadurch stärker als andere auch an religiöse oder quasi-
religiöse Bedürfnisse richtet. 21
Wenig spricht dafür, daß die Ideologien unter dem hellen Licht der
Aufklärung dahinschmelzen und nie wiederkommen. Wahrscheinlicher
ist, daß sie kommen und gehen, solange die Menschheit besteht. Heute
erleben wir einen einzigartigen und unvorhergesehen Aufstieg der
Ideologien insbesondere im Bereich der ökologischen Bewegung. In dem
löblichen Bestreben, den ökologischen Umbau nicht nur der Industrie-
gesellschaft, sondern unserer Umgangsweisen mit der Natur insgesamt
voranzutreiben, sind in den letzten Jahren eine Reihe von pragmatisch
motivierten »Ökosophien" auf den Plan getreten, die den zumeist nicht
unbegründeten Anspruch erheben, sehr viel direkter weitverbreitete
Gefühlshaltungen gegenüber der Natur anzusprechen und sehr viel ef-
fektiver auf Verhaltensmotivationen einzuwirken als konkurrierende
rationale Konzeptionen, sich gleichzeitig aber über herkömmliche
Ansprüche an Rationalität und .~issenschaftlichkeit großzügig hinweg-
setzen. Nicht immer sind diese Oko-Philosophien, nach denen die Natur
der "Partner" des Menschen ist oder werden soll, Pflanzen bestimmte
Interessen und moralische Rechte gegen den Menschen haben oder
sogar zu Schmerzen und psychischen Leidenszuständen fähig sind, für
ihre Autoren - zumeist Aktivisten der ökologischen Szene - bloße Mittel
zum Zweck. Einige meinen es offensichtlich ernst oder lassen es - wie
einige darin geübte theologische Autoren - in der Schwebe, ob sie die
Redeweise von Partnerschaft, Interessen, Eigenwerten und Eigen-
rechten wörtlich oder nur metaphorisch verstehen. Aber insgesamt sind
nur wenige, die so leichthin von "Schöpfung", "Mitgeschöpflichkeit",
"Partnerschaft", "Zwecken der Natur" usw. reden, bereit, die damit im-
plizierten theologischen und naturmetaphysischen Inhalte wirklich zu
vertreten. Die Begriftlichkeit der abendländischen Metaphysik wird viel-
mehr rückhaltlos funktionalisiert. Sie wird umfunktioniert zu einem
strategisch einzusetzenden Instrument in einem aus praktischen Grün-
~en für notwendig gehaltenen Bewußtseinswandel. Ausgehend von der
Uberzeugung, daß nur wer an den Eigenwert der Natur glaubt, um-
sichtig und vorsorglich mit ihr umgehen wird, wird der intellektuelle
Drahtseilakt unternommen, eine "ökozentrische" Theorie eines allen
menschlichen Bewertungen vorausliegenden Eigenwerts der Natur zu
entwickeln. Die gutgläubigen Protagonisten dieser Art strategischer
Theorieproduktion merken dabei gar nicht, wie sehr sie sich damit den
ehemaligen Vertretern der DDR-Philosophie angleichen, die die Kurs-
änderungen der jeweils letzten Parteitagsbeschlüsse nahtlos in ihre
55
Dieter Bimbacher
56
Schopenhauer als Ideologiekritiker
reduziert. Immerhin läßt sich für diese rezente und begrenzte Form der
Ideologie Schopenhauers optimistische Prognose leichter aufrechterhal-
ten als für die Religion: Mit der für die Zukunft zu erhoffenden Ent-
schärfung der gegenwärtigen ökologischen Probleme dürfte auch diese
Form der Ideologie viel von ihrem Charme einbüßen und schließlich in
der metaphysischen Rumpelkammer landen.
Anmerkungen
1. Principia 1, 34.
2. P II, 656.
3. W II, 244.
4. Volker Sommer, Lob der Liige. Täuschung und Selbstbetrug bei Tier und Mensch,
München 1992, 138. Vgl. auch SheUey E. Taylor /Jonathan D. Brown, llusion and
well-being: A social psychological perspective on mental health, Psychological
Bulletin 103 (1988), 193-210.
5. David Hume, Essays, moral, political and literary, Oxford 1963, 604.
6. Vgl. Volker Sommer, a. a. 0., 136.
7. Jon Elster, Solomonicjudgements, Cambridge 1989,23.
8. Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion. In: S. Freud, Massenpsychologie
und Ich-Analyse, FrankfurtIM. 1967, 110.
9. E, 72.
10. Hierin sieht Terry Eagleton das zentrale Paradoxon der Philosophie
Schopenhauers: Wie ist der Wahrheits anspruch dieser Philosophie mit dem von
ihr implizierten "Ideologieverdacht" gegen jeglichen Vernunftgebrauch zu ver-
einbaren? Vgl. Terry Eagleton, Ideologie, Stuttgart 1993, 189.
11. Zitiert nach Ortrun Schulz, Wille und Intellekt bei Schopenhauer und
Spinoza, FrankfurtlM. 1993, 3, Anm. 6.
12. P II, 286.
13. Schopenhauer hat dies~ Zeilen in einer Randglosse sarkastisch kommentiert:
siehe RN 5, 432.
14. Georg Lukacs, Die Zerstörung der Vernunft, Neuwied 1962 (Werke, Band 9),
172-219.
15. Vgl. zum folgenden Alfred Schmidt, Die Wahrheit im Gewande der Lüge.
Schopenhauers Religionsphilosophie, München 1986.
16. Vgl. P II, 352.
17. Pli, 353.
18. Pli, 415.
19. Pli, 416.
20. Pli, 417.
21. Vgl. Dieter Birnbacher, Induktion oder Expression? Zu Schopenhauers
Metaphilosophie, Schopenhauer-Jahrbuch 69 (1988),7-19.
22. Vgl. John Black, Man's dominion ofnature, Lendon 1970,21 ff.
23. Klaus Bosselmann, Im Namen der Natur, Wien 1992, 255.
24. Ebda., 207.
25. Ebda., 208.
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Dieter Birnbacher
26. Kurt Bayertz, Naturphilosophie als Ethik. Zur Vereinigung von Natur- und
Moralphilosophie im Zeichen der ökologischen Krise, Philosophia naturalis 24
(1987), 157-185, 185.
58
Schopenhauers Ethik als Rettung der christlichen Moral?
Probleme und Bedingungen atheistischer Ethik
Von Matthias Koßler
Schopenhauer hat sich vor allem im hohen Alter eingehend mit Augu-
stinus beschäftigt. Aber schon in der Preisschrift über die Freiheit des
Willens findet sich eine ausführlichere Auseinandersetzung mit Augu-
stins Schrift zum gleichen Thema. Dabei kritisiert Schopenhauer in er-
ster Linie die Lehre vom freien Willen, weist aber auch auf die scheinbar
entgegengesetzten Formulierungen der Prädestinationslehre hin. Indem
er dieses Schwanken zwischen Freiheit und Vorbestimmung ausschließ-
lich auf die Polemik einmal gegen die Manichäer, im anderen Fall gegen
die Pelagianer, zurückführt, verkennt Schopenhauer die Ernsthaftigkeit
der Bemühungen Augustins. Zweifellos ist die Betonung von Willens-
freiheit oder Prädestination in den verschiedenen Schriften unterschied-
lich, doch ist Augustinus bis auf wenige Ausnahmen nie ganz einseitig,
60
Schopenhauers Ethik als Rettung der christlichen Moral?
denn er ist sich bewußt, daß er aus theologischen Gründen, nämlich weil
er sowohl die Allmacht und Allwissenheit Gottes als auch die Existenz
der Sünde und die Schuldhaftigkeit des Menschen behauptet, beides in
irgendeiner Weise vereinen muß. Schopenhauer argumentiert gegen
diesen Versuch, indem er es als undenkbar bezeichnet, »daß ein Wesen,
welches seiner ganzen Existentia und Essentia nach, das Werk eines
andem ist, doch sich selbst uranfänglich und von Grund aus bestimmen
und demnach für sein Thun verantwortlich seyn könne"8. Hier läßt er
sich in seiner Argumentation auf die theologische Prämisse der All-
macht und Allwissenheit Gottes ein, durch die der Mensch vollständig
determiniert ist.
Sein eigentlicher Grund für die Kritik an Augustins Lehre vom
freien Willen ist aber philosophischer Natur. Nach Schopenhauer ist das
menschliche Handeln in zweifacher Hinsicht determiniert. Zum einen ist
es durch die Motive so bestimmt wie in naturgesetzlichen Abläufen die
Wirkung durch die Ursache: Mit der gleichen Notwendigkeit, mit der
eine Kugel beim Aufprall auf eine andere deren Fortbewegung bewirkt,
so ruft ein wahrgenommenes oder vorgestelltes Motiv im Willen des
Menschen die entsprechende Handlung hervor9 . Daß es unterschiedliche
Reaktionen auf dasselbe Motiv gibt, liegt am Charakter, an der jeweili-
gen individuellen Bestimmtheit des Willens. Damit ist die zweite Deter-
minante des Handeins angesprochen: Der Charakter ist nach Schopen-
hauer angeboren und unveränderlich 10. Es bleibt also in seiner Lehre
kein Raum für ein liberum arbitrium.
Dennoch kann auch Schopenhauer auf den freien Willen nicht
ganz verzichten, denn auch das Gefühl der moralischen Verant-
wortlichkeit ist für ihn eine empirische Tatsache ll und setzt Willens-
freiheit in irgendeiner Form voraus. Aus diesem Grund teilt er den
Charakter auf in den intelligiblen und den empirischen Charakter: Der
intelligible Charakter ist die Idee des einzelnen Menschen, sein Wille als
Ding an sich betrachtet, und daher frei. Indem er in Erscheinung tritt,
also in der bestimmten Reaktionsweise auf Motive sichtbar wird, wird er
zum empirischen Charakter, der sich als angeboren, unveränderlich und
daher unfrei darstellt. Im intelligiblen Charakter liegt der Grund für die
moralische Verantwortlichkeit, nicht die einzelnen Handlungen eines
Menschen sind frei, sondern sein Charakter als die Einheit seiner
verschiedenen empirischen Handlungen; das ganze Sein und Wesen des
Menschen, sagt Schopenhauer, muß als »seine freie That" gedacht
werden. 12 Diese Tat kann nun nicht eine des individuellen empirischen
Bewußtseins sein, sondern der Wille als Ding an sich, zunächst blind
und unbestimmt, objektiviert sich, d. h. bestimmt sich über die
Zwischenstufe des intelligiblen Charakters (als der Idee des einzelnen
Menschen) zur Erscheinung. Die Freiheit ist, wie Schopenhauer es for-
muliert, bloß transzendental oder metaphysisch 13 . Vorn Standpunkt des
61
Matthias Koßler
Auf die Dogmen der Erbsünde und der Gnadenwirkung kommt Schopen·
hauer nicht direkt im Zusammenhang mit der Erörterung des Cha·
rakters zu sprechen, sondern bei der Bejahung und Verneinung des
Willens. Während nämlich in jener Erörterung des Charakters Freiheit
nur im transzendentalen Sinne zu verstehen ist, stellt die Verneinung
des Willens einen - und zwar den einzigen - Fall dar, bei dem Freiheit
auch in Erscheinung tritt. Die Gegenüberstellung von Bejahung und
Verneinung des Willens gibt das auffälligste Beispiel einer Säkularisie-
rung christlicher Lehre in Schopenhauers Philosophie, weil er hier selbst
immer wieder auf Parallelitäten zur christlichen Dogmatik verweist.
Der natürliche Zustand des Menschen ist als Bejahung des
Willens zum Leben gekennzeichnet. Das Erkennen ist in diesem
Zustand der Bedürfnisbefriedigung untergeordnet, es ist Werkzeug des
Willens. Notwendig ist diese Haltung des natürlichen Menschen vom
Egoismus geprägt, der zunächst zwar moralisch indifferent ist, aber eine
Tendenz zur Bosheit, zur Schädigung der anderen, in sich trägt. Der
bloße Egoismus kann zur eigenen Sicherheit mittels einer auf Straf·
androhung basierenden Rechtsordnung das Zusammenleben in der
62
Schopenhauers Ethik als Rettung der christlichen Moral?
3. Ewige Gerechtigkeit
Ist die Schuld des Daseins die eine Konsequenz aus dem Gedanken der
Einheit des Menschen mit dem ansichseienden Willen, so ist die andere
die "ewige Gerechtigkeit" der Natur. Nur für die beschränkte Erkennt-
nisweise des Egoisten, der sich abtrennt von allem anderen und heraus-
hebt und damit das Prinzip der Individualität begründet, sind im Welt-
lauf Schuld und I;eiden, Quäler und Gequälte an verschiedene Instanzen.
verteilt. In Wahrheit, als Ding an sich, ist der Wille in beiden derselbe.
Der Egoist sieht nicht, daß er im Festklammern an den Genuß seine
Bedürftigkeit vermehrt, also gerade in seinem Streben nach Glück sein
eigenes und unter Umständen auch fremdes Leiden vermehrt. Würden
Jammer und Schuld in die Schalen einer Waage gelegt, meint Schopen-
hauer, so würde die Zunge einstehen19 . Und dieses Gleichgewicht ist
immer vorhanden, denn die ewige Gerechtigkeit ist nicht zeitlich vermit-
telt, Schuld und Leiden fallen in der zeitlosen Einheit des Willens als
Ding an sich zusammen.
63
Matthias Koßler
Wie Schopenhauer auf der einen Seite die Bejahung des Willens mit der
Erbsünde gleichsetzt, so bringt er auf der anderen Seite die Verneinung
des Willens mit der Gnadenwirkung in Verbindung.
Die Wirkung der göttlichen Gnade besteht nach Augustinus in
der Einflößung der rechten Liebe. Durch sie - die sowohl Erkenntnis- als
auch Handlungscharakter hat - wird die mit der Erbsünde gegebene
Defizienz des menschlichen Willens und in der Folge das mit ihr ver·
bundene Leiden aufgehoben. 23
Bei Schopenhauer geht die Erlösung aus der Durchschauung des
Prinzips der Individuation hervor. Da durch das Individuationsprinzip
das willensabhängige Erkennen im Zustand der Bejahung bestimmt ist,
bedeutet seine DurchschauWlg eine grundsätzlich veränderte Erkennt·
64
Schopenhauers Ethik als Rettung der christlichen Moral?
6S
Matthias Koßler
66
Schopenhauers Ethik als Rettung der christlichen Moral?
auf die Welt der Erscheinung beschränkt. Bei der Erörterung des Dinges
an sich und der Veränderung der Erkenntnisweise stößt dieses Denken
an seine Grenzen. Während für Hegel etwa die Grenze zu erkennen
zugleich bedeutet, sie auch überschritten zu haben, zieht Schopenhauer
um der empirischen Immanenz seiner Philosophie willen die skeptische
epoche vor: Es soll keine Verbindung hergestellt werden zwischen der
Welt der Erscheinung und dem Transzendenten, der Wille als Ding an
sich und die veränderte Erkenntnis sind per definitionem unbegreifbar:
Charakter und Handlung gehören in die Welt der Erscheinung, in der
der Intellekt dem Willen dient. Etwas grundsätzlich anderes sind das in
der Verneinung des Willens aktive Nichtwollen und das veränderte Er-
kennen. Dessen Gegenstand ist für unser empirisches Erkennen Nichts,
aber ein Nichts mit einem positiven, uns nur unzugänglichen Inhalt.
Indem Schopenhauer auf diese Weise den Zustand der Erlösung in ein
positives Jenseits setzt, hat er aber gerade durch die Rücksicht auf den
immanenten Charakter seiner Philosophie die gesetzte Grenze des Den-
kens überschritten; er hat anstelle bloßer Negativität eine Position des
Negativen vorgenommen, aus dem Unerklärbaren das Heilige gemacht32.
Mit der so zustandegekommenen Absonderung der Erlösung vom mitlei-
digen Handeln verliert die eigentliche Ethik ihre zentrale Stellung in
Schopenhauers System und wird zur Erklärung eines empirischen
Phänomens unter anderen - nämlich des Mitleids.
Ich fasse die Ergebnisse der kurzen Untersuchung zusammen und kom-
me dabei auf ihre eingangs behauptete Aktualität zu sprechen.
Vier Themen der augustinischen Lehre des Christentums fanden
sich in mehr oder weniger starker Umformung in dem atheistischen
System Schopenhauers wieder: Freiheit und Vorbestimmung, gerechte
Weltordnung, Erbsünde und Gnadenwirkung. (Damit ist die Zahl der
Berührul\gspunkte nicht erschöpft, sondern es wurden nur einige für die
Ethik bedeutsame Bereiche betrachtet.) Wenn hier von Umformung ge-
sprochen wird, so soll das nicht heißen, Schopenhauer habe seine Philo-
sophie aus der Lehre Augustins entwickelt oder sei auch nur bei der
Ausbildung seines Systems von ihr beeinflußt worden. Dann wäre die
Untersuchung relativ unfruchtbar. Diese Möglichkeit ist aber mit ziem-
licher Sicherheit auszuschließen. Schopenhauer hat Augustinus erst
1816 kennengelernt, zu einer Zeit, als die Abfassung der Dissertation
schon drei Jahre zurücklag und die Arbeit am Hauptwerk in vollem
Gange war. Zudem nahm er damals nur die Lehre von der Willens-
freiheit nach Augustins gleichnamigem Buch zur Kenntnis, während er
67
Matthias Koßler
68
Schopenhauers Ethik als Rettung der christlichen Moral?
69
Matthias Koßler
70
Schopenhauers Ethik als Rettung der christlichen Moral?
6. Schluß
71
Matthias Koßler
Anmerkungen
1. PI, 141.
2. Max Horkheimer, Zur Kritik der Instrumentellen Vernunft. Aus den Vorträgen
und Aufzeichnungen seit Kriegsende, Frankfurt/M. 1974,229,236.
3. Ebda., 230 f.
4. P 11, 386.
5. E, XXIII f.
6. Max Horkheimer: Schopenhauers Denken im Verhältnis zu Wissenschaft und
Religion, in: J. Salaquarda (Hrsg.): Schopenhauer, Darmstadt 1985, 221-233,
232.
7. Im Rahmen eines Aufsatzes ist die Beschränkung auf einen Vertreter der
christlichen Lehre unvermeidlich. Augustinus bietet sich hierfür in besonderem
Maße an, da er wie kein anderer die Lehre sowohl der katholischen als auch der
evangelischen Kirche bestimmt hat. Dennoch sind damit freilich nicht alle
Richtungen abgedeckt. Insbesondere ist darauf hin'zuweisen, daß die genuine
Lehre Martin Luthers in ganz anderem Verhältnis zu Schopenhauers Philo-
sophie zu sehen ist, der sie in der Frage des freien Willens und hinsichtlich der
Erlösungslehre, aber auch in anderen Punkten erheblich näher steht. Ich kann
hierzu auf Rudolf Malter, Schopenhauers Verständnis der Theologie Martin
Luthers. Schopenhauer-Jahrbuch 63 (1982) 22-53, und ders.: Willensverneinung
und Glaube. Schopenhauers Erlösungslehre vor dem Hintergrund der
Lutherschen Theologie, in: L. HauserlE. Nordhofen (Hrsg.): Im Netz der Begriffe.
Religionsphilosophische Analysen (Festschrift für Hermann Schrödter), Würz-
burg 1994, 47-58, verweisen und gedenke, in Kürze eine Arbeit vorzulegen, die
einen Vergleich des Schopenhauerschen Verhältnisses zu Augustinus mit dem
72
Schopenhauers Ethik als Rettung der christlichen Moral?
73
'f)r]annes Gulenben.J-Urtl\:T:r~ltät
Matthias Koßler
26. Contra duas epistolas Pelagianorum, a. a. 0., 111, 5, 14: ,,[fidesl quae licet
si ne operibus neminem salvat"; vgl. Tractatus in loannis Euangelium CXXIV
(CCL Bd. 36), Turnhout 1954, 29, 10; De gratia et libero arbitrio (in: Sankt
Augustinus. Der Lehrer ... Schriften gegen die Semipelagianer, Würzburg 1955,
76-158) 7, 18; De fide et operibus (in: CSEL Bd. 41, PraglWienlLeipzig 1900,33-
97) 14 und 22 ff..
27. W I, 478, 480.
28. Vgl. Heinrich Barth, Die Freiheit der Entscheidung im Denken Augustins,
Basel 1935, bes. 75 und 112-151.
29. W I, 478.
30. Z. B. Hans Jonas, Augustin und das paulinische Freiheitsproblem, Göttingen
21965; Heinrich Barth, Die Freiheit der Entscheidung im Denken Augustins,
Basel 1935, 031.
31. E, 97.
32. Vgl. dazu Matthias Koßler, Substantielles Wissen und subjektiues Handeln,
dargestellt in einem Vergleich uon Hegel und Schopenhauer, Frankfurt/M. 1990,
202 ff.
33. E, 97; W 11, 677 u. ö..
34. Der Grundgedanke der auf ewigen Gesetzen beruhenden Gerechtigkeit ist
nicht an die christliche Religion gebunden, er zieht sich von der "lex perpetua et
aetema" der Stoiker, die Cicero in De natura deo rum (in: De natura deorum;
Academica. LondonlCambridge 1956, 2-382) I, 40 schon Chrysipp zuschrieb und
in De legibus ·(in: De re publica; de legibus. LondonlCambridge 1959, 287-519) 11,
4,8 mit der "aetema sapientia" gleichsetzte, über den "tou pantos nomos", dem
der schlechte Mensch nicht entgehen kann, in Plotins Enneade 111, 2, 4 (in:
Plotins Schriften Bd. V, Hamburg 1960) bis hin zu den "ewigen Gesetzen der
Weisheit und Güte" bei Leibniz (Die Theodizee, Hamburg 1968, 439).
35. Es sei denn, man trennt den Begriff der Theodizee völlig vom Gottesbegriff
ab, wie dies Schopenhauer offensichtlich tut, wenn er in HN I, 339 sagt: "Diese
Erkenntniß [die Durchschauung des principium indiuiduationisl ist die ächte
Theodicäe und giebt Erklärung darüber warum in dieser Welt hier einer in
Freuden und Wollüsten lebt und vor seiner Thüre ein Andrer vor Mangel und
Kälte quaalvoll stirbt".
36. W I, 411, 414. Auch die ewige Gerechtigkeit ist keine vergeltende, da
Vergeltung einen zeitlichen Abstand voraussetzt (W 1,414).
37. De libero arbitrio, a. a. 0, I, 6, 15 (51); vgl. ebda., (48). Dieser Grundgedanke
bleibt in der Lehre Augustins erhalten, wenn auch die Bestimmung der lex oe·
terna durch die mit der Entwicklung der Gnadenlehre verbundene Einbeziehung
der göttlichen "aequitas occultissima et ab humanis sensibus remotissima" (De
diversis quaestionibus ad Simplicianum, a. a. 0., I, 2, 16) modifiziert wird. Vgl.
dazu Josef Rief, Der Ordobegriff des jungen Augustinus, Paderbom 1962.
38. De libero arbitria, a. a. 0., I, 6, 15 (48): "illa lex quae summa ratio nominatur,
cui semper obtemperandum est et per quam mali miseram, boni beatam vitam
merentur ... "
39. Pred. 8, 14. Augustinus behandelt diesen Vers in De civitate dei, a. a. 0., XX,
3. Zu seiner Einordnung dieser Feststellung in den Rahmen der lex aeterna vgl.
De civitate dei, a. a. 0., I, 8 und Enchiridion ad Laurentium de {ide et spe et cari·
tate (in: CCL Bd. 46, Turnhout 1969, 49-114) 17,66.
74
Schopenhauers Ethik als Rettung der christlichen Moral?
75
Kommt es darauf an, die Welt zu verändern?
Zur Ethik des Tuns und Lassens
Von Georg Küpper
77
Georg Küpper
"To develop an area" heißt, auf dem betreffenden Stück Land alle
natürliche Vegetation radikal zu vernichten, den frei werdenden
Boden mit Beton oder bestenfalls mit Parkrasengras zu überzie-
hen, ein etwa vorhandenes Stück Meeresstrand durch eine Beton-
78
Kommt es darauf an, die Welt zu verändern?
79
Georg Küpper
nung ist vor allem an diejenigen zu adressieren, die immer noch im un-
erschütterlichen Glauben an einen weltgeschichtlichen Fortschritt be-
fangen sind, dem Schopenhauer die deutlichste Absage erteilt hatte:
Die Thoren hingegen meynen, es solle erst etwas werden und kom-
men_ Daher räumen sie der Geschichte eine HauptsteIle in ihrer
Philosophie ein und konstruieren dieselbe nach einem voraus-
gesetzten Weltplane, welchem gemäß Alles zum Besten gelenkt
wird, welches dann finaliter eintreten soll und eine große Herr-
lichkeit sein wird_ Demnach nehmen sie die Welt als vollkommen
real und setzen den Zweck derselben in das armsälige Erdenglück,
welches, selbst wenn noch so sehr von Menschen gepflegt und vom
Schicksal begünstigt, doch ein hohles, täuschendes, hinfälliges
und trauriges Ding ist, aus welchem weder Konstitutionen noch
Gesetzgebungen, noch Dampfmaschinen und Telegraphen jemals
etwas wesentlich Besseres machen können. Besagte Geschichts·
Philosophen und -Verherrlicher sind demnach einfältige Realisten,
dazu Optimisten und Eudämonisten, mithin platte Gesellen und
eingefleischte Philister [... ]16
1. Als Leitmotiv der Skepsis hat Odo Marquard die Regel aufgestellt:
Der Veränderer trägt die BeweislastP Als Grund wird die Kürze des
Lebens und die daraus resultierende beschränkte Begründungskapazi-
tät angegeben. Jedoch entstammt die genannte Devise ursprünglich
einem rechtstheoretischen Zusammenhang und ist von dem Juristen
Martin Kriele am Prozeß der Rechtsgewinnung entwickelt worden,
80
Kommt es darauf an, die Welt zu verändern?
Wir brauchen also nicht zu fürchten, daß uns die Gewinnung der
Maßstäbe aus der Beobachtung der Praxis dazu verleitet, die je-
weilige Praxis zu rechtfertigen, auch dann wenn sie schlecht ist.
Denn die schlechte Praxis ist daran kenntlich, daß es ihrer Verfah-
rensweise an guten, stichhaltigen Gründen oder an Gründen über-
haupt fehlt. 2o
2. In der ethischen Diskussion ist vor wenigen Jahren eine sogenannte
"negative Ethik" entwickelt worden, der es um die Vorzüge des Nicht-
81
Georg Küpper
Handeins geht. 21 Der Blickwechsel vom Tun zum Lassen wird dort sogar
als kopernikanische Wende der Ethik bezeichnet. Diese soll nunmehr
statt der Raserei die Verlangsamung, statt des Viel-Tuns das Weniger.
Tun und statt des Tuns überhaupt das Lassen zum Gebot erheben.
Dabei werden fünf Imperative22 negativer Ethik aufgestellt. Sie fordern,
dasjenige zu lassen, was
(1) schon besser getan worden ist;
(2) andere besser tun als wir;
(3) schon aus sich selber werden kann, was es sein soll;
(4) zum Überwiegen schlechter über gute Folgen führt;
(5) man sowieso nicht ändern kann.
Diese negative Ethik befreit zunächst von dem Druck, immer wieder
ganz vorne anfangen zu müssen. Sie macht geltend, daß. das, was ist,
nicht per se unvernünftig sein muß. Indem sie nicht in jedes Geschehen
eingreifen will, gewährt sie dem natürlichen Verlauf der Dinge ein
Eigenrecht. Der Mensch soll davon abgehalten werden, sich die Erde uno
tertan zu machen, wie es bisher das anthropozentrische Verhältnis zur
Natur geprägt hat. Hinsichtlich der Folgenabschätzung seines Handeins
wird schon bei potentiell unkorrigierbaren Konsequenzen das Bleiben·
lassen angemahnt. Gleiches gilt für das Inkaufnehmen sogenannter
"Nebenwirkungen", wenn es dazu führt, daß ihre Schädlichkeit die in·
teildierten positiven Ergebnisse zu übersteigen droht. Schließlich muß
das Änderungsbestreben sich auch mit der Einsicht in das Nicht-Ver·
änderbare abfinden.
Als Kardinaltugend einer solchen Ethik des Lassens läßt sich
demnach die Gelassenheit angeben. Im technischen Zeitalter impliziert
sie vor allem eine Gelassenheit zu den Dingen, die man - wie Heidegger
es ausdrückt - auf sich beruhen lassen sollte. 23 Gegenüber dem bloß
rechnenden Denken rückt diese Einstellung das besinnliche Denken
stärker in den Vordergrund.
82
Kommt es darauf an, die Welt zu verändern?
brochen ist, muß sich das ihm entspringende Handeln fortwährend po-
tenzieren.
Die tätige Bejahung des Wollens bedingt zugleich, und zwar
notwendig, die dauernde Entstehung und Erneuerung des Leidens in
und an der Welt. Diese Konsequenz ist aus zwei Gründen unvermeid-
lich: Zum einen liegt der Wille in ständigem Widerstreit mit sich selbst,
da jede Erscheinungsform lediglich auf Kosten einer anderen existieren
kann. Zu besonderer Meisterschaft hat es dabei der Mensch gebracht,
wenn er die Welt als Machwerk und die Tiere als Fabrikat zu seinem
Gebrauch ansieht. Zweitens ist jede Befriedigung nur eine scheinbare,
indem sie sogleich ein neues Bedürfnis produziert. 26 Aus diesem
Teufelskreis führt allein die Selbstaufhebung des Willens.
1. Als erstes kommt ein Verhalten in Betracht, das zwar noch dem
Handeln verpflichtet, aber frei von Illusionen hinsichtlich der damit ver-
bundenen Möglichkeiten ist. So hat etwa Ingenkamp - unter Bezugnah-
me auf Leopardi - ein Konzept resignativen Kämpfens vorgestellt, das er
im Unterschied zur Willen sv ern einung die "positive Resignation"
nennt. 27 Danach muß der Mensch mit den ihm zur Verfügung stehenden
Mitteln kämpfen, also handeln. Zugleich ist ihm bewußt, daß er die Welt
nicht wirklich verbessern kann, der Kampf sich deshalb letztlich als
aussichtslos darstellt. Indem er sich dennoch nicht besiegen läßt, eröff-
net dieses Bewußtsein den Weg zu einem wahrhaft edlen Handeln, zu
einer Ethik der festen und vornehmen Selbstbejahung.
Mich erinnert solche Haltung an eine existentialistische
Position, wie sie von Camus im "Mythos von Sisyphos" beschrieben wor-
den ist. 28 Bekanntlich hatten die Götter Sisyphos dazu verurteilt, un-
ablässig einen Felsblock den Berg hinaufzuwälzen, von dessen Gipfel
der Stein immer- wieder hinunterrollt. Die endlose Mühsal bedeutet ein
hoffnungsloses Unterfangen. Dennoch kann der Mensch dieses Schicksal
annehmen und Kraft daraus schöpfen; in seinem Entschluß manifestiert
sich die eigensinnige Bekundung eines Lebens ohne Trost. "Der Kampf
gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen" heißt es am Ende,
und die abschließende Konsequenz lautet deshalb sogar: "Wir müssen
uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen."
83
Georg Küpper
2. Die nächste Stufe scheint mir der stoische Gleichmut zu sein. Er mar.
kiert den Übergang von einer kämpferischen zu einer kontemplativen
Resignation. "Erst denken, dann handeln" sagt der Volksmund, während
die Devise des Stoikers "Denken statt Handeln" lauten würde. Darin ist
durchaus eine wesentliche Tätigkeit zu erblicken. Glaube mir -mahnt
Seneca - di~ nichts zu tun scheinen, tun oft das Wichtigste; Menschliches
und Göttliches betreiben sie zu gleicher Zeit. 29 Zumindest tun sie das
was der Mensch ohnehin tun sollte, denn - wie Dürrenmatt scho~
drastischer anmerkt - die menschliche Bestimmung liegt im Denken,
nicht im Handeln. "Handeln kann jeder Ochse."30
Von Schopenhauer31 wird die stoische Moral zwiespältig beur·
teilt. Er sieht in ihr nur eine besondere Art des Eudämonismus, die
keine metaphysische Tendenz habe, sondern einen völlig immanenten
Zweck: die Unerschütterlichkeit und ungetrübte Glückseligkeit des
Weisen, den nichts anfechten kann. Doch liege Geistesgröße und Würde
darin, daß man schweigend und gelassen das Unvermeidliche in melan·
cholischer Ruhe erträgt.
3. Ein bloßes Ertragen ist allerdings noch kein Verneinen. Erst mit letz·
terem gelangt der Mensch - nach Schopenhauer - zum Zustand der frei·
willigen Entsagung, der Resignation, der wahren Gelassenheit und
gänzlichen Willenlosigkeit.32 Die daraus resultierende Haltung wäre die
der Askese. Zusammenfassend wird der echte philosophische Stand·
punkt wie folgt beschrieben:
Uns aber, die wir hier nicht den Faden der Erscheinungen in der
Zeit verfolgen, sondern als Philosophen die ethische Bedeutung
der Handlungen zu erforschen suchen und diese hier zum alleini·
gen Maaßstabe für das uns Bedeutsame und Wichtige nehmen,
wird doch wohl keine Scheu vor der stets bleibenden Stirn·
menmehrheit der Gemeinheit und Plattheit abhalten zu be·
kennen, daß die größte, wichtigste und bedeutsamste Erschei-
nung, welche die Welt aufzeigen kann, nicht der Welteroberer ist,
sondern der Weltüberwinder, also in der That nichts anderes, als
der stille und unbemerkte Lebenswandel eines solchen Menschen,
dem diejenige Erkenntniß aufgegangen ist, in Folge welcher er
jenen Alles erfüllenden und in Allem treibenden und strebenden
Willen zum Leben aufgiebt und verneint, dessen Freiheit erst hier,
in ihm allein, hervortritt, wodurch nunmehr sein Thun das gerade
Gegentheil des gewöhnlichen wird.33
Diesem Leitbild entspricht indessen nur die Figur des Heiligen; be-
kanntlich ist diese species nicht weit verbreitet. Eine Welt voller
84
Kommt es darauf an, die Welt zu verändern?
Anmerkungen
1. O. Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981, 67.
2. Grundlegend U. Beck, Risikogesellschaft, FrankfurtJM. 1986.
3. Dazu auch U. Beck, a. a. 0., 293 ff.
4. H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, FrankfurtJM. 1984, 45.
5. U. Beck, a. a. 0.,345.
6. J. Vandenrath, Schopenhauer und die heutige Lage der Menschheit, Schopen-
hauer-Jahrbuch 53 (1972), 124.
7. Zitiert nach: DER SPIEGEL, Nr. 2/1993.
8. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 49, 89.
9. W. Niese, Die moderne Strafrechtsdogmatik und das Zivilrecht, Juristen-
zeitung 1956, 457, 466; ähnliche Überlegungen bei R. Spaemann: Technische
Eingriffe in die Natur als Problem der politischen Ethik, in: D. Birnbacher
(Brsg.), Ökologie und Ethik, 1980, 180,200 ff.
10. K. Lorenz, Der Abbau des Menschlichen, München 1983, 20.
11. Berliner Zeitung vom 16. 7. 1993.
12. In Anlehnung an O. Marquard, a. a. 0., 20.
13. GRÜNST1FT 11/91,15.
14. Ebenso O. Marquard, a. a. 0., 10.
85
Georg Küpper
86
Schopenhauers Ethik im Licht der gegenwärtigen Ethik-
diskussion
Von Günther Baum
hauer besonders in seiner Ethik von dem sonst so sehr von ihm ver-
ehrten Philosophen ab,s Rationale Theoreme, Gesetze oder aus der Ver-
nunft deduktiv abgeleitete Maximen können nach Schopenhauer nie-
mals eine Grundlage der Moralität sein. Dies hängt mit der ihm ei-
gentümlichen Erkenntnistheorie zusammen, welche das Wissen sowohl
wie das Handeln aus dem Satz des Grundes ableitet, der aber wiederum
nichts anderes als das erste Prinzip darstellt, gemäß dem sich der Wille
zur Erscheinung bringt. Daher leuchtet es auch ein, wenn nach
Schopenhauer eine isolierte argumentative Erörterung moralischer
Sachverhalte unangemessen ist, was wiederum mit dem Primat des
Willens in der Erkenntnis zusammenhängt. "Wenn wir in unser Inneres
blicken, finden wir uns immer als wollend", sagt Schopenhauer in seiner
Schrift Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde.
Und weiter:
Hier hingegen, wo vom Subjekt die Rede ist, gelten die Regeln für
das Erkennen der Objekte nicht mehr, und eine wirkliche Iden-
tität des Erkennenden mit dem als wollend Erkannten, also des
Subjekts mit dem Objekt, ist unmittelbar gegeben ... wir wissen
nämlich aus der an uns selbst gemachten inneren Erfahrung, daß
dieselbe ein Willensakt ist, welcher durch das Motiv, das in einer
bloßen Vorstellung besteht, hervorgerufen wird. 4
In diese~ Ausprägung wird der Satz vom Grunde zur Bedingung der
Möglichkeit moralischer Handlungen, was Schopenhauer knapp zusam-
menfaßt: "Die Motivation ist die Kausalität von innen gesehen."5
Der Satz von Grunde artikuliert sich dergestalt als Satz vom zu-
reichenden Grund des Handeins bzw. als Gesetz der Motivationen. Ab-
schließend noch aus Schopenhauers Schrift ein weiteres Zitat:
Der Wille des Individuums aber ist es, der das ganze Getriebe in
Tätigkeit versetzt, indem er dem Interesse, d.h. den individuellen
Zwecken der Person gemäß, den Intellekt antreibt zu seinen ge-
genwärtigen Vorstellungen ... die Tätigkeit des Willens hierbei ist
jedoch so unmittelbar, daß sie nicht ins deutliche Bewußtsein
fällt. 6
Jedoch hat das Wollen viele Grade, vom leisesten Wunsche bis zur
Leidenschaft, und daß nicht nur alle Affekte, sondern auch alle die
Bewegungen unseres Inneren, welche man dem weiten Begriff Ge-
fühl subsumiert, Zustände des Willens sind, habe ich öfter aus-
einandergesetzt. 7
88
Schopenhauers Ethik im Licht der gegenwärtigen Ethikdiskussion
89
Günther Baum
Daher bleibt zur Auffindung des Fundaments der Ethik kein an.
derer Weg als der empirische, nämlich zu untersuchen, ob es
überhaupt Handlungen gibt, denen wir ächten moralischen Werth
zuerkennen müssen - welches die Handlungen freiwilliger Gerech.
tigkeit, reiner Menschenliebe und wirklichen Edelmutes seyn
werden. 12
Und weiter:
Die Abwesenheit aller egoistischen Motivation ist also das Krite·
rium einer Handlung von moralischem Wert 13 ,
denn
die moralische Bedeutsamkeit (kann) nur liegen in ihrer Bezie-
hung auf Andere: nur in Hinsicht auf diese kann sie moralischen
Wert oder Verwerflichkeit haben und demnach eine Handlung der
Gerechtigkeit oder Menschenliebe .,. seyn.14
90
Schopenhauers Ethik im Licht der gegenwärtigen Ethikdiskussion
Beide Fälle zeigen die Größe des Unterschieds an, den wir zwi-
schen uns und Anderen machen. Auf diesem Unterschiede beru-
hen zuletzt die Grade der Moralität oder Immoralität, d. h. der
Gerechtigkeit und Menschenliebe, wie auch ihres Gegentheils. 2o
11
91
Günther Baum
92
Schopenhauers Ethik im Licht der gegenwärtigen Ethikdiskussion
93
Günther Baum
Wenn wir nun wissen wollen, nach welchen Kriterien wir einen
Menschen bzw. seine Handlungen als gut bezeichnen sollen, so müssen
wir nach den moralischen Grundsätzen als der Basis der gesamten mo·
ralischen Präskriptivität fragen, denn moralische Urteile setzen solche
Grundsätze voraus. Hare entscheidet sich hierbei für den Dezisionismus:
moralische Prinzipien sind subjektive Festsetzungen, die wir wählen.
Allerdings müssen wir hierbei danach trachten, nach Grund·
sätzen zu handeln, deren Konsequenz wir auch akzeptieren können, d.
h. nach Prinzipien, die nicht aus der Empirie gewonnen sind. Zur
Begründung solcher Prinzipien verweist Hare auf den Tatbestand der
subjektiven Anerkennung, d. h. der moralischen Entscheidung, für die
94
Schopenhauers Ethik im Licht der gegenwärtigen Ethikdiskussion
111
Wir wollen nun herabsteigen von unserem Ausflug in die dünne Höhen-
luft der Abstraktion und auf den Boden der realen Gefühle und
Handlungen zurückkehren, wo wir uns ohne Bedenken der Anleitung
Schopenhauers anvertrauen können. Nicht im Bereich der Begriffe, son-
dern in der emotional-affektiven Schicht der handelnden Person sollen
wir gemäß seiner Einsicht das Fundament der Moral aufsuchen. Dies
fällt nicht leicht - keineswegs weil die intellektuellen Anforderungen so
hoch angesetzt sind, sondern weil jeder sich prüfen muß, ob er nicht -
wenn auch nur insgeheim - von eigennützigen Triebregungen beherrscht
wird. Selbsterkenntnis soll sich also nicht nur auf die eigene Biographie,
sondern auch auf den individuellen Charakter beziehen4o .
Sie setzt nach Schopenhauer eine einmalige freie Willensent-
scheidung voraus, die rational nicht erklärbar und auch zeitlich nicht
festzumachen ist41 . Hat sie jedoch stattgefunden, gibt es durchaus
Möglichkeiten, Sittlichkeit nicht nur zu beschreiben, sondern auch im
Inneren zu entwickeln. So gesehen ist es nicht richtig, von der Annahme
auszugehen, Moralität sei einfach in ihrer Ausprägung bereits in einem
guten Charakter vollständig ausgebildet: Sie bedarf vielmehr der Heran-
bildung, dies jedoch nicht durch Begriffe und Regeln, sondern durch die
Heranführung an konkrete Handlungskonstellationen, in denen sich die
emotional-affektiven Kräfte entfalten und bewähren können42 . Diese
grundlegende Voraussetzung der Affektenlehre ist keineswegs von Scho-
penhauer in die Philosophie eingeführt worden, sondern sie ist gut
sokratisch, doch bedarf sie immer der Weiterentwicklung in Ansehung
der in der jeweils eigenen Epoche gegebenen geistigen und materiellen
Bedingungen.
So geht Schopenhauer nicht nur auf Kant zurück, sondern
bringt, gewissermaßen wie eine reiche Ernte, die Tradition der Ethik
wieder in die Philosophie ein, abgewandelt jedoch durch die transzen-
dentalphilosophische Auslegung des Satzes vom Grunde, die aus einer
intensiven Auseinandersetzung auch mit der nachkantianischen Philo-
sophie entstanden ist.
95
Günther Baum
die einzige ist, der sich eine reale ... Wirksamkeit nachrühmen
läßt. Denn von den übrigen Moralprinzipien der Philosophen wird
dies wohl Niemand behaupten wollen; da diese aus abstrakten ...
spitzfindigen Sätzen bestehen, ohne anderes Fundament als eine
künstliche Begriffskombination, 48
denn nur die Wahrheit kann durchgängig mit sich und mit der
Natur übereinstimme:.l; hingegen streiten alle falschen Grundan-
sichten innerlich mit sich selbst und nach außen mit der Erfah-
rung, welche bei jedem Schritt ihren stillen Protest einlegt.49
96
Schopenhauers Ethik im Licht der gegenwärtigen Ethikdiskussion
Anmerkungen
97
Günther Baum
98
Schopenhauers Ethik im Licht der gegenwärtigen Ethikdiskussion
99
Günther Baum
46. E, 205.
47. Schopenhauer bezeichnet die Auffindung der Grundlage der Moral im Mit.
leid als das große Mysterium der Ethik. Vgl. E, 209.
48. E, 233.
49. E, 258; vgl. 239: ,,[ ... 1 und die Natur legte, wie bei allen solchen Gelegen.
heiten, still ihren Protest ein."
100
Die Schopenhauersche Wende der Philosophie
Einführung in die Philosophie als sanfte Wissenschaft!
Die Philosophie der Neuzeit versuchte sich selbst, nach dem Vorbild der
erfolgreichen Naturwissenschaft, als strenge oder exakte Wissenschaft
darzustellen. Dies vor allem seit der von Kant eingeleiteten Wende des
philosophischen Denkens, die Kant selbst "kopernikanische Wende der
Philosophie" nannte. 2 Die Leitfrage meines Beitrags ist dagegen, ob
nicht vielleicht nach dem Vorbild der Schopenhauerschen Philosophie
doch so etwas wie eine Philosophie als sanfte Wissenschaft denkbar
wäre. Ich behandle dieses Thema in zwei Teilen: 1. Von der Idee der
Philosophie als exakte Wissenschaft nach dem Vorbild Kants, 2. Die
Philosophie als sanfte Wissenschaft nach dem Vorbild Schopenhauers
mit einigen Anwendungsbeispielen des sanften Denkens auf die Frage
nach dem Verhältnis von Freiheit und Gesellschaft und auf die Buddhis-
mus-Interpretation im Horizont der komparativen Philosophie.
102
Die Schopenhauersche Wende in der Philosophie
103
Yasuo Kamata
und keiner Inkonsequenz behaftet sein. Sonst ist sie bereits im voraus
zum Scheitern verurteilt. Sie muß durch ein unbezweifelbares Prinzip
zusammengehalten werden, wie das ganze Gebäude durch eine Haupt.
säule. Nach eben diesem Prinzip wird jedes Element definiert, das ganze
Bauwerk. durchgecheckt und optimiert. Verläuft dieser Prozeß erfolg.
reich, wird es hoffentlich so bald keinen Fehler und keinen Anlaß für
Korrekturen geben.
Das war die Grundposition des neuzeitlichen Denkens, aus dem
die Idee der exakten Wissenschaft entsprang. Der Bahnbrecher in dieser
Richtung war u. a. Rene Descartes mit seiner Idee der Universal-
wissenschaft <mathesis universalis}. Sein methodischer Zweifel an allem
was nicht klar und deutlich erkannt wird, war so konsequent wie sei~
Wille, alles Seiende aus dem ersten Prinzip heraus in den Griff zu be-
kommen.
Die Idee der exakten Wissenschaft beschäftigte weitere große
Denker der Neuzeit. Zu einem entscheidenden Durchbruch gelangte sie
.dann in der von Kant eingeleiteten Wende der Philosophie. Kants
Grundthese lautet: Nicht die Erkenntnis richtet sich nach den Gegen-
ständen, sondern die Gegenstände richten sich nach der Erkenntnis. Der
Mensch nimmt die Ordnung der Dinge weder als unverfügbar hin noch
bildet er sie in einem theoretischen Wissen ab, sondern er konstruiert
die Ordnung der objektiven Welt. Der Mensch ist der Gesetzgeber der
Natur einschließlich seiner selbst. Er bestimmt, was er zu sein und zu
tun hat. Damit wurde der neuzeitliche Grundsatz der Autonomie, sei es
die des -einzelnen Menschen, sei es die des Volkes, begründet. Der
Mensch ist nun sein eigener Herr und der Herr der Kreatur. Es darf
keine Fremdherrschaft geben, die mit einer absoluten Autorität diesen
neuzeitlichen Grundsatz gefährdet. Kant lebte in der Zeit des zerfal-
lenden Absolutismus und der französischen Revolution.
Wissen ist Macht. Es wurde schnell klar, daß die Idee einer ex-
akten Wissenschaft nicht nur auf das theoretische Betrachten, sondern
auch oder primär auf die praktische Beherrschung der Dinge gerichtet
war. Alles, was in der Wissenseinheit gefaßt ist, hat man - zumindest
der begreifende Mensch in seinen Gedanken - im Griff. Er braucht dieses
theoretische Wissen nur noch praktisch umzusetzen und hat den ge-
wünschten Zustand. Wer physikalische Regeln der Körperbewegung und
der Gravitation begriffen hat, der kann eine zielsichere Kanone bauen
und damit auch die Menschen sogar gegen ihren Willen zwingen; er
kann also schließlich eine neue Realität schaffen. Freilich muß noch ge-
sagt werden, daß Kant selber einen derartigen Mißbrauch des Denkens
nicht akzeptiert hätte, da nach seiner Überzeugung das wahre, ver-
nünftig-praktische Handeln einen allgemeinen Sinn beibehält. Der obe~
ste Grundsatz der praktischen Vernunft, als kategorischer Imperativ
104
Die Schopenhauersche Wende in der Philosophie
bekannt, heißt nämlich: "Handle so, daß die Maxime deines Willens
zugleich als Prinzip ein~r allgemeinen Gesetzgebung gelten könne."6
Nach der KantIschen Wende der Philosophie arbeiteten viele
Philosophen an der Perfektionierung der Idee der exakten Wissenschaft
weiter. Reinhold, ein bedeutender Kantianer noch zu Lebzeiten Kants,
dem der junge Schopenhauer viel von seinem Kant-Verständnis ver-
dankt, verfaßte 1790 im "Kantischen" Sinne einen Aufsatz mit dem Titel
Über die Möglichkeit der Philosophie als strenge Wissenschaft". 7
" Im Umkreis des Deutschen Idealismus wurde versucht, die letz-
ten Lücken zu schließen, z. B. den qualitativen Unterschied von Denken
und Gegenstand, d. h. die Differenz zwischen Subjekt und Objekt aufzu-
heben, oder den Geltungsbereich der Philosophie über die von Kant ge-
zogenen Grenzen der empirischen Erkenntnis und des praktischen
Handeins hinaus auf die traditionell-metaphysischen und theologischen
Themen zu erweitern. In der Hegeischen Philosophie wurden dann fast
alle menschlichen Lebensbereiche in eine große Wissenseinheit einbezo-
gen: Hegels systematisches Hauptwerk Enzyklopädie der philosophi-
schen Wissenschaften erschien 1817. Zu dieser Zeit arbeitete der junge
Schopenhauer an seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung.
Es erschien zwei Jahre später im Jahre 1819.
Je vollständiger und lückenloser eine Ordnung wird, desto ge-
ringer werden die Korrekturmöglichkeiten. Man kann dies mit einem
künstlerisch-schöpferischen Vorgang vergleichen, etwa dem Entstehen
eines Gemäldes. Der Künstler schreitet von den Skizzen zur Detailarbeit
fort, und verschiedene Studien wachsen, teils mehrfach korrigiert, teils
zurückgenommen, zu einem einzigen Kunstwerk zusammen. Die
Pinselbewegung wird zum Ende hin immer weniger, bis das Werk kei-
nen ergänzenden oder korrigierenden Strich mehr erlaubt. Dann ist das
Werk vollendet. Ein weiterer Eingriff würde die innere Einheit des
Werkes zerstören. Dieser Verdichtungsprozeß fand in der Philosophie
wie in der Gesellschaft statt. Obwohl sich das Freiheitsbewußtsein ver-
stärkte, verringerte sich der Spielraum für Denken und Handeln.
Die optimierte Ordnung beginnt nun, auf ihre Einzelelemente
eine zwingende Macht auszuüben. Alles, was in dieser Ordnung aufge-
fangen wird, muß sich nach ihr richten, sonst könnte ihr mit höchster
Präzision arbeitendes System vielleicht an einem -winzigen Staubkorn
scheitern, das auf eine empfindliche Stelle trifft. Deshalb muß sie von
allen Fremdelementen gesäubert werden, oder diese müssen in eine mit
dem System verträgliche Form umgewandelt werden.
Für Hegel, der die bisherige Geschichte in einem nach seinem
dialektischen Modell streng in sich abgestimmten System des absoluten
Geistes zusammengefügt hatte, gab es keinen Veränderungsspielraum
mehr. Die Geschichte ist zwar über Hegel hinausgegangen, aber dieser
Verhärtungsprozeß der Freiheit scheint sich auf verschiedenen Ebenen
105
Yasuo Kamata
106
Die Schopenhauersche Wende in der Philosophie
Die Philosophie als sanfte Wissenschaft unterscheidet sich von der exak-
ten Wissenschaft dadurch, daß sie ein Thema oder einen Sachverhalt
nicht durch Definieren und Prädizieren zu bestimmen versucht wie
nach der Idee der exakten Wissenschaft. Diese stellt ein perf~ktes
Definitionsnetzwerk her, bis alle Einzelelemente in der totalen
Vorausberechenbarkeit miteinander abgestimmt sind. Das sanfte Den-
ken definiert wohl auch in gewisser Weise, aber nicht so, daß eindeutige
Begründungszusammenhänge angestrebt werden. Vielmehr wird ein
Spielraum markiert, in dem sich die Dinge bewegen, entfalten, auf
andere Dinge beziehen. Der junge Schopenhauer unterschied zwischen
der Philosophie als Kunst, als die er sein eigenes Philosophieverständnis
zu charakterisieren versuchte, und der Philosophie als Wissenschaft, die
zwecks wissens- und handlungsmäßiger Bewältigung der Welt in erster
Linie an der Herstellung begrifflicher Begründungszusammenhänge
interessiert ist und die er in Fichtes Wissenschaftslehre und Sittenlehre
verwirklicht fand. 8
Wir wollen die Eigenart des sanften Philosophierens zunächst an
einem konkreten Beispiel verständlich machen. Wir haben bereits ge-
sehen, daß die neuzeitliche Freiheit im Problemkreis der exakten
Wissenschaft eine zentrale Stellung einnimmt. Die Selbsterstickung der
Philosophie als exakte Wissenschaft ist eigentlich eine Parallelerschei-
nung der Selbsterstickung der Freiheit. Unter Leistungszwang hat die
neuzeitliche Freiheit sich selbst ausgespielt, indem sie alles, was ist, auf
sich zu gründen oder aus sich abzuleiten versuchte. Plötzlich fand sie
sich in einem Zwangsmechanismus.
Zusätzlich mußte sich die Freiheit noch mit der Spaltung von
Individuum und Gesellschaft auseinandersetzen. Denn das Entwerfen
und Verwirklichen einer Seinsordnung war inzwischen aufgrund der
Konflikte mit der Gesellschaft mehrfach unter Willkürverdacht gekom-
men. Es entstand zunehmend die Tendenz, die neuzeitliche, sprich: bür-
gerliche Freiheit des Individuums einzuschränken zugunsten der sozial-
materiellen Befreiung des Menschen. Diese sozialistische Idee arbeitete
ihrerseits aber auch mit der neuzeitlichen Freih~it, die sie eigentlich
überwinden sollte, indem sie den ganzen Seinsbereich durchgängig nach
ihrem Prinzip zu konstruieren und zu verwirklichen versuchte. So stan-
den sich die liberalen und die sozialen Ideen gegenüber, konkurrierten
oft in grausamen Machtkämpfen, um die andere Position sich selbst zu
unterwerfen, während sie sich selbst immer mehr in ihren eigenen
Zwangsmechanismus verstrickten.
Man sollte allerdings bedenken, daß der Gedanke der Freiheit an
sich kein absolutes Prinzip ist, sondern ursprünglich gegen die Gefahr
107
Yasuo Kamata
108
Die Schopenhauersche Wende in der Philosophie
sehen Willen incognito weiter wirken. Das entspricht genau dem Scho-
penhauerschen Bild des Selbstmörders, der durch seinen starken Durch-
setzungsdrang den Willen eher bejaht als verneint. Die Erschütterung,
die der Selbstmörder durch seinen dramatischen Tod bei seinen Mit-
menschen auslöst, gibt die Stärke seines Willens zur Selbstbehauptung
wieder. Bei der Bejahung und Verneinung des neuzeitlichen Willens ist
zu beachten: Nicht das bloße Jasagen zum Willen, vielmehr die Wieder-
holung des Willensaktes und die Gewöhnung daran macht das Wesent-
liche an der Bejahung des Willens aus. Dies gilt, auch wenn äußerlich
von der Willensverneinung gesprochen wird.
Die Philosophie als sanfte Wissenschaft soll das an Prinzipien
orientierte und durch Begriffsbildungen unterstützte übertriebene Len-
ken des Wirklichkeitsganzen vermeiden. Dies hat allerdings nichts zu
tun mit einer kritiklosen Bejahung des sozialen Unrechts und des
Unterdrückungsmechanismus als status quo. Denn die Philosophie als
sanfte Wissenschaft ist durch die Selbstreflexion der Philosophie als ex-
akte Wissenschaft entstanden, die auf das intellektuelle und materielle
Beherrschen-Wollen der Wirklichkeit ausgerichtet ist. Die Philosophie
als sanfte Wissenschaft will kein letztes Prinzip liefern. Das kann sie
gar nicht, weil sie selbst eine bloße Abgrenzungsidee ist, die sich von
dem gegebenen Wissens- und Wirklichkeitsverständnis der Philosophie
als exakter Wissenschaft unterscheidet. Der Beitrag dieser Philosophie
als sanfte Philosophie zum neuzeitlichen Denken wäre dann der, im
Schopenhauerschen Sinn die Möglichkeit eines Denkens aufzuzeigen,
bei der dieses nicht mehr mit seinem exakten Wissen die Wirklichkeit zu
lenken versucht, sondern ihr mehr Vertrauen schenkt - als einer Wirk-
lichkeit, die man nicht immer sofort begreifen kann, insbesondere wenn
zu dieser Wirklichkeit Mitmenschen und Umwelt gehören. Die Einsicht
in die Komplexität der Wirklichkeit forderte ursprünglich das exakte
Denken. Dieses nahm sie aber offensichtlich nicht ernst genug.
Die Philosophie als sanfte Wissenschaft maßt sich nicht an,
selbst die "Meta-Form" des Wissens zu sein - wie oft noch muß man den
allzu menschlichen Fehler wiederholen? Sie versucht den Sinn anderer
Wissensformen zu verstehen und die eventuell für sie nicht nachvoll-
ziehbaren Strukturen und Elemente als gleichberechtigte Bestandteile
des Spielraums nicht nur "von oben herab" zu tolerieren, sondern sie
sein zu lassen und zu akzeptieren, um unter Umständen "darunter" lei-
den zu können.
Unser neuzeitliches Denken ist gewohnt, die Wirklichkeit als
den einzigen exakt darstellbaren (durch das Wissen total beherrschba-
ren) Zusammenhang aufzufassen. Wer das ihr zugrundeliegende Prinzip
begriffen hat, der hat auch die gesamte Wirklichkeit im Kopf. Wer nach
diesem Prinzip handelt, der hat auch den Hebel in der Hand, die Welt in
seinem Sinne zu verändern und zu beherrsche'1. So bri'ngt man gern die
109
Yasuo Kamatl1
Vielfalt der Welt schnell auf einen Begriff, und bildet sich ein, die Welt
bewältigen zu können oder sogar bewältigt zu haben. Bereits 1814 nur
drei Jahre vor dem Erscheinen der Hegeischen Enzyklopädie, schrieb
der junge Schopenhauer: Die meisten Menschen suchen "von allem was
ihnen vorkommt nur schnell den abstrakten Begriff, wie der Träge den
Stuhl: dies wieder daher, weil die Welt sie nur als Objekt ihres Willens
interessirt"9. Hier ist das Problem bewußtsein des jungen Schopenhauer
deutlich zum Ausdruck gebracht, das sich später in seiner Lehre von der
Willensverneinung verdichtet. Und die Art und Weise, wie der junge
Schopenhauer diesen gedanklichen Verdichtungsprozel3 durchmacht,
d. h. die Grundhaltung seines Denkens, möchte ich "sanftes Philoso.
phieren" nennen.
Zur philosophischen Grunderfahrung des jungen Schopenhauer
gehört auch die am Anfang dargestellte Frage nach der Neuorientierung
im Gefolge des Zusammenbruchs der alten Werte. Das traditionen.
christliche Wirklichkeitsverständnis hatte mit der Lehre der Unsterb·
lichkeit und der Nächstenliebe dem Menschen sowohl als Einzel- als
auch als Gattungswesen einen sicheren Halt gewährt. In der Neuzeit
aber wurde dieses Wirklichkeitsverständnis immer fragwürdiger. So
begann also die Suche nach der Neuorientierung. Sie brachte dem
Menschen auf der einen Seite die Freude des Selbsterschaffens und
-verwirklichens der neuen Seinsordnung. Auf der anderen Seite fühlte
sich der auf das Subjekt der Selbstverwirklichung, d. h. auf das Selbst·
bewußtsein reduzierte Mensch durch den eigenen Tod und die soziale
Vereinsamung bedroht. In der Folgezeit entstanden dann die absolu·
tistischen Regime, die dem neuzeitlichen Willen zur totalen und exakten
Herrschaft entsprachen, die jedoch diese Ambition noch mit der tra·
ditionell-christlichen Autorität rechtfertigten. Erst mit dem Untergang
des Absolutismus wurde die Wertekrise endgültig.
Kants "kopernikanische Wende" ermöglichte eine entscheidende
Wende des philosophischen Denkens, in der die Philosophie als exakte
Wissenschaft ihre letzte Vollendungsstufe antrat. Kant konnte die Frage
nach der Bedingung der Möglichkeit des allgemeinverbindlichen
Erkennens und des Handeins beantworten, war aber mit der bloß in
praktischer Absicht postulierten Unsterblichkeit nicht mehr in der Lage,
dem Menschen die Angst vor Tod und Vereinsamung zu nehmen. Die
Ausklammerung der Frage nach dem Ding an sich und die Beschrän·
kung des philosophischen, d. h. exakten Wissens auf' die Erscheinungen
hat die Krisenstimmung sogar teilweise noch verstärkt. Hinzu karn der
Verdacht der Willkürlichkeit. Kant wurde von seinen Gegnern sogar als
"Alleszermalmer" angegriffen.
In dieser Situation der Orientierungslosigkeit wurden zw~i
Versuche unternommen. Der erste Versuch ging von der Frage aus: Wie
kann man angesichts der Unmöglichkeit, mit dem Denken zum Ansieh·
110
Die Schopenhauersche Wende in der Philosophie
sein zu gelangen, dies noch anders erreichen? Dabei setzte man voraus
daß es über/hinter dem weltlich und vergänglich Seienden etwas "Seien~
deres", d. h. eine wahrhafte Substanz gibt, die mit der menschlichen
Vernunft nicht zu erreichen ist. Das war der Ausgangspunkt der
Gefühlsphilosophie Jacobis. Auch Aenesidemus Schulze, Schopenhauers
erster Lehrer, könnte zunächst dieser Richtung zugeordnet werden.
Der zweite Versuch war von einer anderen Fragestellung gelei-
tet, die als konsequente Durchführung der von Kant eingeleiteten
Wende der Philosophie betrachtet werden kann: Wenn das Ding an sich
dem menschlichen Erkennen nicht gegeben werden kann; wie kann man
das Ansichsein anders denken, damit dieses für den Menschen erreich-
bar ist? Wie kommt der Mensch überhaupt dazu, das Ansichsein zu den-
ken, dessen Erkenntnis nicht von außen kommt? Das kann nur von in-
nen kommen - durch die Selbstkonstruktion, durch den Willen! Das war
die Grundposition des Deutschen Idealismus, die sich von Reinhold über
Fichte und dem jungen Schelling bis Hegel graduell steigerte. Auf die
Einzelheiten dieser hochinteressanten Diskussion können wir leider
nicht eingehen. lo
Es ist bemerkenswert, daß der junge Schopenhauer Schulze und
Fichte als Lehrer hatte. Hier wird sein sanftes Denken sichtbar. Der
junge Schopenhauer schwankt zuerst zwischen zwei Polen, die den her-
vorstechenden "positiv formulierten" Aussagen seiner Lehrer entspre-
chen: der heißen Sehnsucht nach dem unendlichen, an sich Seienden,
das über den Tod in die Ewigkeit hineinreicht; und dem Eifer, alles, was
ist, vollständig in einer Einheitsstruktur der Vorstellung. d. h. in der
Struktur des Objekt-für-ein-Subjekt-Seins einzuholen. Aber solange
diese beiden Pole als "positive Aussagen" auf der Ebene der Exaktheit
aufeinander zusammenprallen, erscheinen sie diametral entgegenge-
setzt. Der Wandel des Schopenhauerschen Verständnisses vom "besse-
ren Bewußtsein" seit seiner Berliner Zeit (1811-1813)11 markiert seine
mühsame Suche nach einer Auflösung dieses exakt-logisch unauflösba-
ren Widerspruchs - bis er in den beiden Positionen den Ausdruck ein
und desselben blinden Bewältigen-Wollens der Wirklichkeit erblickt.
Nicht auf die Aufl,ösung der vermeintlich sachlichen Widersprüche, son-
dern auf die Auflösung der Selbstverblendung des Menschen kommt es
an, der dieser Widerspruch entstammt. l2
Schopenhauer entdeckt in den äußerlich entgegengesetzten
Behauptungen seiner beiden Lehrer ganz andere Töne. Die Intention
seines Weiterdenkens könnte man in der folgenden Frage vorwegneh-
men: Was ist der Sinn der beiden Behauptungen? Was will man damit
vermeiden?
Die Grundposition des Deutschen Idealismus, die gesamte Wirk-
lichkeit in einer Einheitsstruktur der Vorstellung einzuholen, ist nur
dann konsequent durchführbar, wenn man hintel" der Welt als Vor-
111
Yasuo Kamata
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Die Schopenhauersche Wende in der Philosophie
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Yasuo Kamata
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Die Schopenhauersche Wende in der Philosophie
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Yasuo Kamata
Anmerkungen
1. Den Kernpunkt der Idee der Philosophie als sanfte Wissenschaft verdanke ich
vielen fruchtbaren Gesprächen während meines Studienaufenthalts in Augsburg
1975-1985 und später. Vgl. insbesondere Alois Halder, Aktion und Kon-
templation, in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, hrsg. von F. Bäckle
u. a., Teilband 8, FreiburglBasel/Wien 1980, 71-89; Arno Baruzzi, Die Zukunft
der Freiheit, Darmstadt 1993. Bereits in der Diskussion im Anschluß an den
Vortrag wurde mehrfach das Bedenken geäußert, ob nicht die Idee der
Philosophie als sanfte Wissenschaft einen Irrationalismus proklamiere, der die
entscheidende Rolle des Denkens bei der Wirklichkeitskonstruktion nicht ernst
nehme. Die Philosophie als sanfte Wissenschaft sollte jedoch nicht mit der
naiven Abwehrhaltung gegen die rationale Sprache verwechselt werden, die man
bei vielen finden, die den Anstrengungen des neuzeitlich-rationalen Sprechens
nicht gewachsen sind. Es geht vielmehr um die rationale Infragestellung der
neuzeitlich-abendländischen Selbstverständlichkeit, die durchgängige Aufein-
anderangewiesenheit (das Netzwerk) der Wirklichkeit im Namen der "Ratio-
nalität" dem Willen zur totalen Wirklichkeitsbeherrschung zu unterwerfen. Die
aktuellen "Umweltprobleme" gehören vielleicht zu den augenfälligen Konse-
qu.enzen dieser Selbstverständlichkeit, mögen sie auch harmlos sein im Ver-
gleich mit der Herausbildung und Zuspitzung des willensorientierten neuzeit-
lichen Kausalitäts- und Freiheitsbegriffs.
2. Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XV ff.
3. Die bedeutendsten mahayana-buddhistischen Schulen wie die Madhyamika-
Schule und der Zen-Buddhismus gehören zu diesen Richtungen. Auch in der
abendländischen Tradition der christlichen Mystik ist diese Haltung bedeutsam.
Vgl. Meister Eckehart, Deutsche Predigten und Traktate, hrsg. und übers. von J.
Quint. München 51978, 304 (Predigt 32). Neben Schopenhauer sind als neuzeit-
liche Vertreter dieser Denkrichtung u. a. Heidegger und Horkheimer zu nennen.
4. Siehe u. a. W I, 479-487.
5. Eine peinliche Bemerkung: Ich muß gestehen, daß ich mit meinem Beitrag
ebendieseibe Gefahr laufe. Denn auch wenn es mir weniger darauf ankommt,
eine neue Idee zu entwerfen, als den Mechanismus des neuzeitlichen Entwerfens
selbst zu verstehen und zu bedenken, erhält doch das Ganze, sobald es öffentlich
vorgetragen oder gedruckt wird, den Charakter eines aggressiven Appells.
6. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 54 (Originalausgabe 1797).
7. L. Reinhold, Bey träge zur Berichtigung bit:heriger Mißverständnisse der
Philosophen, Jena 1790, 339-372.
8. Zum Unterschied zwischen Philosophie als Kunst und Philosophie als Wissen-
schaft beim jungen Schopenhauer siehe Verf., Der junge Schopenhauer. Genese
des Grundgedankens der Welt als Wille und Vorstellung, FreiburglMünchen
1988, 228- 231.
9. HN I, 159, § 261; vgl. W I, 220 f.
116
Die Schopenhauersche Wende in der Philosophie
10. Hierzu und Näheres über die folgenden Ausführungen siehe Verf., Der junge
Schopenhauer, a. a. 0.,27-40, 235-250.
11. Gleichzeitig w.andelU: si.ch auc~ ~er später so wichtige Terminus Ding an
sich, der daher mcht naIV 1m tr~dltl0nell-metaphysischen Sinne als An-sich-
Seiendes gedacht werden kann. SIehe Verf., Platonische Idee und die anschauli-
che Welt bei Schopenhauer, Schopenhauer·Jahrbuch 70 (989), 84-93.
12. Die Antinomielehre in der Kritik der reinen Vernunft deutet bereits auf das
sanfte Denken hin, ohne es allerdings weiterzuführen, da bei Kant das prak-
tisch-vernünftige Bestimmen-Können der Wirklichkeit durch den freien Willen
zumindest in der unmittelbar darauffolgenden Kant-Rezeption, immer mehr i~
den Vordergrund trat. Die philosophiegeschichtlichen Wurzeln des sanften
Denkens reichen aber sicherlich noch weiter zurück ins Mittelalter und in die
Antike.
13. E. Schulze [anonym], Aenesidemus oder über die Fundamente der von dem
Herrn Prof. Reinhold in Jena gelieferten Elementar.Philosophie. Nebst einer
Vertheidigung des Skepticismus gegen die Anmaaßungen der Vernunft-Kritik,
Helmstedt 1792, 402. Ein Buch anonym herauszugeben, war damals eine übli-
che, sogar beliebte Praxis, nicht nur um den Verfasser vor staatlichen und kirch-
lichen Verfolgungen zu schützen, sondern auch um das Publikum auf das Buch
neugierig zu machen. Aber bei Schulze war einer der Hauptgründe für die
Anonymität auch der, daß das substanzialistische Argument, mit dem der
Skeptiker die subjektivistische Tendenz der Kant-Reinholdschen Philosophie
kritisiert, nur halbherzig vorgetragen werden konnte. In dieser Hinsicht erweist
sich Schopenhauer als hervorragender Schüler Schulzes (daher dessen freundli-
che Schopenhauer-Rezension) - ebenso wie er in seiner konsequenten Verwer-
fung des Substanzgedankens als hervorragender Schüler Fichtes bezeichnet
werden kann.
14. Vgl. Verf., Der junge Schopenhauer, a. a. 0., 165-171, 178-187; vgl. Verf.,
Platonische Idee und die anschauliche Welt, a. a. 0., 88-91.
15. "Leerheit" (sunyata) bedeutet im Buddhismus "nicht substanzhaft" bzw.
"substanzlos", ursprünglich "innen hohl", ist etymologisch mit "Zero" und "ziffer"
verwandt.
16. Siehe G, 39; vgl. I. H. Fichte, Grundzüge zum System der Philosophie. Dritte
Abtheilung. Die Speculative Theologie oder allgemeine Religionslehre, Heidelberg
1844,66.
17. Insofern weist diese Lehre des Vorstellungseins und des Karmas eine be-
merkenswerte Nähe zu der Schopenhauerschen Welt als Wille und Vorstellung
auf.
18. Vgl. Schopenhauer: ,jene Vemeinung des Willens ... (ist) nicht durch Vorsatz
zu erzwingen, sondern geht aus dem innersten Verhältniß des Erkennens zum
Wollen im Menschen hervor, kommt daher plötzlich und wie von außen angeflo-
gen." (W I, 478)
19. In den meisten buddhistischen Schulen gibt es die Lehre der Seelen-
wanderung, quasi als Sinnbild dieser Karma-Wirkung. Das Ideal des
Buddhismus ist, vom Rad der Seelenwanderung befreit, in die ewige Ruhe hin-
einzuschwinden (Nirvana). In die alltäglichen Frömmigkeitsformen umgesetzt,
wird die ewige Ruhe oft mithilfe von Paradiesvorstellungen (Lotusblüten usw.)
ausgedrückt.
117
Yasuo Kamata
20. Eine detaillierte Darstellung der Möglichkeit der Bejahung und Verneinung
des Willens findet sich in Verf., Der junge Schopenhauer, a. a. 0., 250-269.
118
"Der Wille ist meine Vorstellung"
Kritische Bemerkungen zu Schopenhauers Philosophie und der
Lehre Buddhas
von Wenchao Li
In seiner Welt als Wille und Vorstellung, 11. Band, Ergänzungen zum
Buch I, Kapitel 17, schreibt Schopenhauer, daß zwischen seiner Philo-
sophie und dem Buddhismus eine "große Übereinstimmung" bestehe.
Wörtlich heißt es dort:
Die Stelle läßt sich als eine Art freimütiges Bekenntnis lesen und man
fühlt sich unverweigerlich an jene Stelle in der Vorrede zur ersten Auf-
lage seines Hauptwerks erinnert, in der Schopenhauer die indischen
Upanischaden in eine Reihe mit Platon und Kant stellt.
Aber von dem Schopenhauer, der in der europäischen Philoso-
phie das Ende des Eurozentrismus markiert 2 und dessen Verdienst in
dieser Hinsicht ich als Nicht-Europäer besonders dankbar zu würdigen
weiß, möchte ich hier nicht sprechen. Im Gegenteil: Ich möchte Schopen-
hauer wörtlich nehmen und ein paar kritische Bemerkungen zu der im
nachhinein konstatierten "großen Übereinstimmung" zwischen seinem
Philosophieren und der Lehre Buddhas machen. Drei Punkte stehen zur
Diskussion: die Frage nach dem Willen und der Vorstellung; das Pro-
blem des Mitleids und die Möglichkeit einer Erlösung.
2. Tiefgreifende Differenzen
Fangen wir mit der Welt als Wille und Vorstellung an, welche bei
Schopenhauer Titel und Programm ist. Um die Fragestellung deutlicher
zu fassen, sei zuerst ein Leseeindruck mitgeteilt: Liest man Schopen-
hauers Hauptwerk, Band I und fragt man nach den drei geläufigen
Quellen, fällt einem leicht auf, daß im zweiten Buch kaum die Rede von
Wenchao Li
den Upanischaden ist. Genau derselbe Befund gilt auch für die Ergän-
zungen. Wollte man schon aus diesem flüchtigen ~eseeindruck eine
Schlußolgerung ziehen, dann ist es diese: Die "große Ubereinstimmung"
von der Schopenhauer sprach, gilt eigentlich nur für die Hälfte seine~
Philosophie, die Welt als Vorstellung und nicht für die andere Hälfte, die
Welt als Wille, es sei denn, wenn es darauf ankommt, diesen Willen zu
verneinen. Die "große Übereinstimmung" entpuppt sich schon hier als
Teilübereinstimmung.
Wenn die Welt meine Vorstellung ist, warum sollte nicht auch
der Wille meine Vorstellung sein, hätte ein Buddhist gefragt. Die Frage
hat eigentlich auch Schopenhauer sich selbst gestellt, aber er ist dabei
zu einem negativen Ergebnis gekommen. Das Entscheidende dabei war
die Frage nach dem Leib. Denn eben dieser Leib hätte mir durch seine
Identität oder genauer gesagt Dualität und Doppelrolle als vorstellendes
Subjekt und als unmittelbares Objekt gezeigt, daß die Welt eben nicht
nur meine Vorstellung sei, sondern auch die Objektivation des Willens.
Da sich der Wille aber ohne Grund herumtreibt, entziehe er sich dem
Zugriff meiner Vorstellung, die sich streng am Satz des Grundes festhal-
ten müsse.3
Soweit Schopenhauer, der trotz seines Hinweises auf die Upani-
schaden und seines Bekenntnisses zur Lehre Buddhas ein Platoniker
und Kantianer, d. h. ein europäisch Denkender geblieben war. Er
könnte, wie eben alle Platoniker und Kantianer, sich den Gedanken
nicht leisten oder auch nur vorstellen, daß das, was man als Idee, als
Urbild, als Gott, als das Ding an sich oder auch als Wille bezeichnet, gar
nicht existent und bloß eine Vorstellung ist. Denn denkt man so, würde
man, bildlich formuliert und trotzdem wörtlich gemeint, den Boden
unter den Füßen verlieren und aus der Erscheinungswelt heraus ins
Nichts hineinfallen. Dieses Nichts aber - das ist das Entscheidende -,
das etymologisch nicht vom nihil zu trennen ist, ist im europäischen
Denken ein Abgrund, in den man nur mit Schauder - und nicht ohne
Schwindelgefühl - hineinblicken kann. Die trotzige Annahme eines
substantiellen Seienden hinter der Realität und Erscheinung ist im
Grund eine Flucht nach hinten und eine Rettungsaktion aus diesem
schrecklichen Nichts.
Aber gerade der Gedanke, daß die Welt nur eine Erscheinung
ohne das Erscheinende und eine Vorstellung ohne das Vorzustellende
und ohne den Vorstellenden sei, bildet den Grundstein des buddhisti-
schen Gedankengebäudes. Aus der Feststellung, daß etwas substanzlos
und vergänglich sei, läßt sich bei weitem noch nicht zwingend rück-
schließen, daß es etwas Substantielles und Unvergängliches geben
müsse. Vielmehr ist das Umgekehrte der Fall: Gerade weil die einzelnen
Teile, die eine bestimmte Erscheinung bilden, an sich substanzlos und
vergänglich sind, ist diese Erscheinung dazu verdammt, substanzlos und
120
.Der Wille ist meine Vorstellung"
vergänglich zu sein. Das Nichts in diesem Sinne ist nicht das Gegenteil
vom Sein, ist nicht nihil, sondern die Seinsform und Seinsstruktur
schlechthin.
Der Leib, auf den auch Buddha großen Wert legt, wird deshalb
von ihm anders analysiert. Er ist für ihn keine Objektivation irgendei-
nes Willens, vielmehr ist der Wille ein zufälliges, biologisch wie
psychisch bedingtes Produkt des Leibes, ist ein Teil meiner Vorstellung
und von meiner Vorstellung abhängig. Die Verblendung, von der der
Buddhismus spricht, wird deshalb nicht etwa von einem Willen gesteu-
ert, sie beginnt mit der Vorstellung, die dann zu einem Willen führt. Die
Lehre Buddhas bestätigt in diesem Punkt nicht die Philosophie
Schopenhauers, sondern widerspricht ihr. Das Nichts Schopenhauers ist
dementsprechend ein Nichts nach der Verneinung des Willens, das
Nichts Buddhas ist ein Nichts, das schon immer da ist und bloß von den
Menschen in ihrer Verblendung für etwas gehalten wird. Die Lehre
Buddhas beginnt mit dem Nichts, Schopenhauers (Haupt)werk wird
buchstäblich mit dem Nichts beendet.
Kommen wir nun a~t den Begriff "Vorstellung" zurück, denn
auch hier scheint die "große Ubereinstimmung" sehr problematisch. Für
Schopenhauer, der, wie gesagt, ein Kantianer war, bedeutet Vorstellung
Erkennbarkeit der Erscheinungswelt. Erkennbarkeit der Erscheinungs-
welt beruht zum einen auf meinem apriori gegebenen Erkenntnis-
apparat und zum anderen auf dem Satz vom Grund, dem die Erschei-
nungswelt unterworfen ist.
In der Lehre Buddhas ist hingegen der Begriff "Vorstellung" ein-
deutig negativ besetzt, er ist ein Synonym von Illusion, ein Zeichen der
Verblendung und das Gegenteil von "Wissen". Das erste Glied in der
Kette der Entstehung in Abhängigkeit, sprich Kausalität, wird deshalb
das Unwissen genannt, das Unwissen über die Vorstellungen, welche
immer neue Taten hervorrufen und denen wir immer wieder nachlaufen.
Auch Buddha spricht von Kausalität, aber diese Kausalität ist eine
Kausalität von Taten, welche vom Willen zustandegebracht werden, der
seinerseits wiederum von den Vorstellungen verleitet und verführt wird.
Wer nicht über Kausalität und Vorstellungen hinausgeht, der bleibt für
immer in Kausalität und Vorstellungen befangen und wird auch die
Erleuchtung nicht finden.
121
Wenchao Li
der die blinde Kraft der Tradition noch der rationale Diskurs werden
hier als hinreichend für die Ethikbegründung erkannt und anerkannt.
Gemäß seiner Lehre über das Monstrum namens Wille bedeutet
Mitleid bei Schopenhauer konsequent "mitleiden". Es hat die Erkenntnis
oder vielmehr die Erfahrung zur Voraussetzung, daß alle Menschen un-
tereinander - und nicht nur sie allein - "Leidensgenossen" seien, da alle
Menschen erkenntnisgemäß Objektivationen oder erfahrungsgemäß
Spielbälle ein und desselben Willens sind. Dieser Aspekt des Mitleidens
findet seine literarische Personifizierung in Thomas Manns Hanno, der
in seinem Lehrer, dem Kandidaten Modersohn eben nichts weiter als
einen "Leidensgenossen" sieht. Um so bitterer wird dann die Erkenntnis:
"Selbst Mitleid wird einem auf Erden durch die Gemeinheit unmöglich
gemacM. ... Aber so ist es, so ist es, so wird es immer und überall sich
verhalten"4
Im Brahmanismus wird von Sat tvam asi" gesprochen. Auch auf
das Konfuzianisch-Chinesische weist Schopenhauer hin. 5 Aber ebenso-
wenig wie das kantische "Ding an sich" Schopenhauers Wille ist, eben-
sowenig wird in der Sanskrit-Formel Sat tvam asi" der Gedanke zum
Ausdruck gebracht, daß alle Wesen Objektivationen ein und desselben
Willens sind. Vielmehr bedeutet diese Formel, daß jedes Ich-Selbst,
Atman genannt, eine Emanation des göttlichen Brahma ist. Was den
Hinweis auf das Konfuzianisch-Chinesische anbelangt, hatte Schopen-
hauer dabei den Menzius im Auge, der in der Tat das Mitleidsgefühl in
jedem Menschen als Anfang von Liebe und Humanität bezeichnet. Aber
dieses Mitleidsgefühl ist intuitiv, insofern evident und frei von
Erkenntnissen. Das moralisch Gute ist demnach eine einfache Ausdeh-
nung oder Übertragung des natürlich Guten.
Wenn wir nun vom Mitleid im Buddhismus sprechen, wird die
Problematik noch deutlicher. Es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten,
die Frage zu beantworten. Erstens durch eine Analyse der Liebe zu
Tieren und zweitens durch eine Analyse des Begriffs "Maitri-Karuna",
der nach meinem Verständnis dem Begriff "Mitleid" am nächsten
kommt. Auch hier läßt sich feststellen, daß gerade der Wille Schopen-
hauer von der Lehre Buddhas unterscheidet. "Nicht töten" ist ein Gebot
und begründen läßt es sich mit der Samsara-Lehre, nach der jedes
Lebewesen, Tier wie Mensch, womöglich in Blutsverwandtschaft mit mir
gestanden hat, steht oder stehen wird. Das Gebot "Nicht töten" ist
deshalb religiöser Natur und sein letzter Grund liegt im Tabu, wenn
auch die Motivation Mitleid nicht auszuschließen ist. Was den Begriff
"Maitri-Karuna" angeht, hat er, vor allem nach dem chinesischen Ver-
ständnis, zwei Komponenten: anderen Menschen Freude zu geben und
sie vom Leiden zu befreien. Es ist also mehr ein Akt der Barmherzigkeit
und des Sendungsbewußtseins. Dieses Mitleiden ist nicht das Leiden
eines Leidenden mit seinen Leidensgenossen, wie es bei Schopenhauer
122
.Der Wille ist meine Vorstellung"
der Fall ist, sondern das Leiden eines Nicht-mehr-Leidenden mit den
Noch-Leidenden.
123
Wenchao Li
Anmerkungen
1. W 11, 186. Zu Schopenhauers Buddhismus-Kenntnis siehe N, 130 bzw. die
dort von ihm empfohlene Literatur zum Buddhismus.
2. Siehe Reinhard Margreiter, Die achtfache Wurzel der Aktualität Schopen-
hauers, in: Wolfgang Schirmacher (Hrsg.), Schopenhauers Aktualität, Wien
1988,23.
3. W 1,119 f.
4. Thomas Mann, Gesammelte Werke in 13 Bänden, FrankfurtJM. 1974, Bd. 1,
738.
5. E, 248.
124
Schopenhauer und "die Meinung der anderen"
Wieviel Unruhe erspart sich der, der nicht darauf schaut, was der
Nächste gesagt oder getan oder gedacht hat, sondern allein (auf
das), was er selber tut, damit eben dies gerecht ist und fromm.
Wie ein guter Läufer darf er nicht umherschauen, sondern muß
auf der Linie geradeaus laufen und nicht nach rechts und links
blicken. 1
Diese Worte führen direkt zu unserem Thema. Sie stammen von Marc
Aurel, dem stoischen Philosophen auf dem römischen Kaiserthron (121-
180 n. ehr.). Sein Werk mit dem Titel Eis heaut6n (An sich selbst) ent-
hält neben Aphorismen über die stoische Naturphilosophie und Ethik
eine Fülle von Reflexionen über die Hinfalligkeit des menschlichen
Leibes, über das Leid und über das richtige Handeln.
Der Einfluß der anderen, der sich in der Berücksichtigung der
fremden Meinung niederschlägt, ist ein großes Hindernis für die Seelen-
ruhe und damit für das Glück. Sich davon freizumachen, ist ein Grund-
anliegen der Selbstbetrachtungen Marc Aurels. Es heißt dort an einer
anderen Stelle:
126
Schopenhauer und die wMeinung der anderen"
Der Verleumder hat den Teufel auf der Zunge, und wer ihm
zuhört, den Teufel in den Ohren <Deutschland).
Der Mund ist eine Axt, die Wunden schlägt, die Zunge ist ein
Fleischermesser (China).
Heute ist mir klar, daß die Menschen gar nicht an dich oder
mich denken oder sich darum kümmern, was man über uns
sagt. Sie sind mit sich selbst beschäftigt: vor dem Frühstück,
nach dem Frühstück - und so weiter bis zehn Minuten nach
Mitternacht. Ein leichter Kopfschmerz, den sie selber haben,
macht ihnen weit mehr Sorgen, als ihnen die Nachricht von
deinem oder meinem Tod verursachen würde. lO
Oder, falls Dale Carnegie nicht seriös genug ist, hier ein Zitat von
Arthur Schnitzler:
Das Urteil der meisten Menschen über andere, auch solche, die
ihnen sehr nahe stehen, ist so wenig' fest und tief gegründet,
daß sie nicht erst ihre Gesinnung wechseln oder ihre
Überzeugung verleugnen müssen, um auch den besten Freund
zu verraten. l l
127
Rosemarie Neumeister
II
Der Mensch für sich allein vermag gar wenig und ist ein ver-
lassener Robinson, nur in der Gemeinschaft mit anderen ist
und vermag er viel,l5
128
Schopenhauer und die "Meinung der anderen"
Deshalb ist die gute Meinung der anderen über ihn von hohem Wert und
der Trieb, sie zu erringen, etwas Angeborenes, zum Überleben des
Individuums in der Gruppe Notwendiges. 16 Obwohl Schopenhauer die-
sen fundamentalen Zusammenhang erkennt, bewertet er die Berück-
sichtigung der fremden Meinung als eine natürliche und angeborene
Verkehrtheit 17 , Schwäche, Torheit 18 , Manie, ja sogar als Sucht. Die
Eigenschaften, in denen diese Sucht zutage tritt, sind Ehrgeiz, Eitelkeit
und Stolz, sie sind die Triebkräfte, die das krankhaft empfindliche
Selbstgefühl 19 zur Erregung der günstigen Meinung anderer in seinen
Dienst stellt.
Als Beispiel dafür, bis wohin sich das Bemühen darum verstei-
gen kann, führt Schopenhauer das Verhalten zweier zum Tode Verur-
teilter an, die sogar noch kurz vor der Hinrichtung ihr Verhalten auf das
Urteil der Menge ausrichten: Der eine erweist dem Publikum durch
Verbeugen seine Reverenz, und der andere bedauert, daß er sich nicht
mehr rasieren konnte. 2o Doch ob die Meinung der anderen günstig ist
oder ungünstig, Lob und Tadel "hängen am selben Faden"21, d. h. sie
treffen unsere Eigenliebe und machen uns somit abhängig. Ob wir
Geringschätzung, Zurückweisung, Nichtachtung, Neid oder Haß erfah-
ren, was uns Verdruß, Sorge und Kummer bereitet, oder Lob, Beifall,
Titel, Orden, Ämter und Würden erlangen, was uns erfreut, befriedigt
und für den Augenblick beglückt, es ist dasselbe. Denn die Erlangung
eines positiven Urteils kostet uns "Ruhe, Reichtum und Gesundheit, ja
das Leben".22
Dieser Verkehrtheit sagt Schopenhauer den Kampf an, von die-
ser Torheit will er die Menschen bekehren, die Empfindlichkeit durch
gehörige Überlegungen mäßigen, ja sie auf ein Fünfzigstel herabmin-
dem. 23
Die erste Attacke gilt dem fremden Bewußtsein als solchem.
Dieses fremde Bewußtsein dem eigenen überzuordnen, ist die erste
falsche Vorstellung, ist doch die Beschaffenheit unseres eigenen
Bewußtseins unmittelbar für unser Glück verantwortlich, das Bewußt-
sein Fremder aber nur mittelbar. 24
Die zweite Attacke besteht in der Disqualifizierung dieses frem-
den Bewußtseins, dieses unseres ~bbildes in den Köpfen anderer". Wer
sind denn diese anderen? Es ist die urteilslose, betörte Menge 25 • der zu-
sammengelaufene Haufen der Gaffer, der große Haufen mit "blutwenig
Urteilskraft und selbst wenig Gedächtnis".26 Es sind die Philister, also
die Spießbürger. Da ihr Kopf ein "elender Schauplatz" ist, kann ihre
Meinung nur minderwertig sein, falsch, verkehrt, irrig, absurd und un-
günstig. 27 Es kommt noch hinzu, daß das Bild von uns nicht einheitlich
ist, denn in jedem Kopf spiegelt sich unser Wesen anders: "Die Y"ert-
schätzung ist ein Produkt aus dem Werte des Geschätzten mIt .der
Erkenntnissphäre des Schätzers".28 Oder in den Worten von HelvetlUs,
129
Rosemarie Neurneister
hier von der Seite des Publikums aus 29 : "Le degre d'esprit necessaire
pour nous plaire est une mesure assez exacte du degre que nous avons."
(Das Maß von Geist, das erforderlich ist, um uns zu gefallen, ist ein
ziemlich genauer Gradmesser für das Maß von Geist, das wir besitzen.)
Und zur Stützung seiner Thesen zitiert Schopenhauer Autoritäten:
Sokrates, der eine Beleidigung mit den Worten abwiegelt: "Was der
sagt, paßt nicht aufmich."30
Diogenes und Chrysipp, die fordern, daß man um seines guten Rufes
willen nicht einmal einen Finger krümmen dürfe. 31
Kollektiver Neid: Der Neid ist die Seele des überall florierenden, still-
schweigend und ohne Verabredung zusammenkommenden Bundes
aller Mittelmäßigen gegen den einzelnen Ausgezeichneten jeder
Gattung, der sich in der Ignorierung großer Verdienste äußert
(silentium livoris),33
Ruhm: Er beruht darauf, was einer im Vergleich mit den übrigen ist,
damit ist er wesentlich ein Relatives 34 . Nicht Ruhm, sondern das,
wodurch man ihn verdient, ist das Wertvolle. Er selbst ist nur Echo,
Schatten, Abbild, Symptom des Verdienstes.
Ehre: Der Mensch, der für ein taugliches Mitglied der Gesellschaft
gelten will, muß erkennen, daß er es nicht in der eigenen, sondern in
der Meinung der anderen sein muß.35
130
Schopenhauer und die .Meinung der anderen"
Denn überhaupt ist die Basis unseres Wesens und folglich unseres
Glücks unsere animalische Natur und damit unser persönlicher
Zustand, wie er durch Gesundheit, Temperament, Fähigkeiten,
Einkommen, Weib, Kind, Freunde, Wohnort bestimmt wird. 3B
131
Rosemarie Neurneister
III
Soweit die Theorie. Und Schopenhauer selbst - hat er diese Ratschläge
befolgt? Und konnte er, der alle Faktoren vernunftgemäß richtig ein-
schätzte, seinem wahren inneren Glück leben?
Nein, sein Verhalten der fremden Meinung gegenüber war ambi-
valent, er war zugleich siegreich und unterlegen, immun und empfäng-
lich, unabhängig und abhängig, abwiegelnd und gierig aufsaugend,
weise und naiv, die Nichtachtung provozierend und doch darunter lei-
dend.
Wenn Schopenhauer von den anderen spricht, so meint er immer
das Publikum, für das sein Werk, mit dem er sich identifiziert, bestimmt
ist, nicht bestimmte Individuen, in deren Köpfen sich die Person Arthur
132
Schopenhauer und die .Meinung der anderen"
Schopenhauer abbildet. Sein Ziel publikum sind in erster Linie die Fach-
kollegen, d. h. die Phi~osophieprofessoren, und in zweiter Linie die ge-
bildete Leserschaf~! dIe zusammengenommen die öffentliche Meinung
ausmachen. Diese Offentlichkeit aber versagt ihm vierzig Jahre lang die
verdiente An~rkenn~ng, sie ignoriert sein Werk vollständig. Es gilt also,
im Bewußtsem der eIgenen Bedeutung dieser Nichtbeachtung durch die
anderen Herr zu werden. Alle diesbezüglichen Versuche Schopenhauers
demonstrieren das Dilemma, einerseits das sachverständige Publikum,
das allein sein Werk würdigen könnte, nicht entbehren zu können und
es andererseits verachten zu müssen, weil es ihn nicht genügend wür-
digt bzw. würdigen kann. Auch C. G. Jung sieht das problematische
Verhältnis des Genies zur Menge so:
Beim Eintritt ins Leben hatte mein Genius mir die Wahl ge-
stellt, entweder die Wahrheit zu erkennen, aber mit ihr nie-
mandem zu gefallen, oder aber mit den anderen das Falsche
zu lehren, unter Anhang und Beifall. 52
133
Rosemarie Neurneister
1859, also 40 Jahre später, faßt er im Vorwort zur dritten Auflage das
Schicksal seines Werkes zusammen:
Das Wahre und Echte würde leichter in der Welt Raum ge-
winnen, wenn nicht die, welche unfähig sind, es hervorzu-
bringen, zugleich verschworen wären, es nicht aufkommen zu
lassen .... Für mich ist seine Folge gewesen, daß, obwohl ich
erst 30 Jahre zählte, als die erste Auflage dieses Werkes er-
schien, ich diese dritte nicht früher als im zweiundsiebzigsten
erlebe.5 3
Dies ist der erste taktische Schritt, das gekränkte Selbst zu stärken. Die
Alternative "Wahrheit wird ignoriert, Falsches wird geehrt" wird ihm
der hauptsächliche Trostgedanke, der in Varianten das ganze Werk
durchzieht. Da der Ruhm ausbleibt, muß man sich trösten mit dem
Gedanken, ihn verdient zu haben. 54 Der zweite taktische Schritt, den
Schopenhauer nicht nur anderen vorschlägt, sondern auch selbst unter-
nimmt, ist der Rückzug in die Einsamkeit: 55 "Ihr könnt mir nichts sein,
ich euch nichts."56 Aber diese vernunftgemäße Steigerung des Selbst-
wertgefühls und das Aufsuchen der Einsamkeit reichen nicht aus. Wie
soll man es mit Gelassenheit ertragen, vierzig Jahre lang von der Aus-
einandersetzung mit der Fachwelt abgeschnitten zu sein und noch nicht
einmal interessierte Leser zu finden? Schopenhauers Temperament ist
nicht zu stoischer Duldsamkeit geschaffen. In überreichlichem Maße
macht er Gebrauch von der verbalen Herabsetzung seiner Gegner. Die
Zielscheibe seiner Wut sind die Universitätsphilosophen allgemein und
insbesondere die Einzelphilosophen, die als Jahrhundertgeister geprie-
sen werden, vor allem natürlich Hegel. Über Ihn gießt Schopenhauer
seinen Spott, seine Invektiven aus und ist sich nicht zu schade, selbst zu
Ausdrücken der niedrigsten Art zu greifen, als da sind: Alltagskopf,
Bierwirtsphysiognomie, Ministerkreatur , Philosophaster, Scharlatan,
Unsinnschmierer, Windbeutel. Die Philosophieprofessoren apostrophiert
er als Altweiberphilosophen, Barbiergesellen, Brotphilosophen, Kost-
gänger der Philosophie, Pseudo-Philosophen, Spaßphilosophen, Mfen
der Philosophie und Schlimmeres. Damit nicht genug: Er unterstellt
ihnen, sich gegen ihn verschworen zu haben im silentium livoris, im
Stillschweigen aus Neid, der Kunst des Unterdrückens der Verdienste
durch hämisches Schweigen und Ignorieren. 57 Ein masochistischer Zug
zur Bestätigung dieses Kollektivurteils zeigt sich übrigens schon am
Anfang seiner Karriere, als er seine Vorlesung parallel zu der Regels
legt und geradezu provokativ die Hörerschaft zu seinen Ungunsten
manipuliert. So erträgt sich die Ruhmlosigkeit leichter. Unobjektive
Herabsetzungen dieser Art, die allenthalben in die philosophische Argu-
mentation eingestreut sind, wirft ihm Frauenstädt vor. Nur Die Welt als
134
Schopenhauer und die .Meinung der anderen"
Wille und Vorstellung sei frei von Polemik, und wenn man wissenschaft-
liche Wahrheiten unter Invektiven darböte, dann käme ihm Frauen-
städt, das so vor, als wenn man jemandem eine köstliche Fru~ht unter
Prügeln zu genießen gäbe. Schopenhauer erwidert darauf:
Ja, in der Jugend ist man so erhaben, aber im Alter wird's anders.
Ich h.abe 25 J ah~e lan~ di.ese ~rh~benh.eit besessen und habe ge-
schWIegen, aber Jetzt WlIIlch SIe [dIe Philosophieprofessorenl ganz
kaltblütig züchtigen. Auch ... fassen Sie mit Ihrem Gleichnis von
der Frucht, die man unter Prügeln darreicht, die Sache ganz
falsch auf; denn erstlich schreibe ich nicht für die Philoso-
phieprofessoren, die ich züchtige, zweitens ist die Peitsche, mit der
ich sie durchprügele, keine gemeine Karbatsche, sondern ver-
goldet und mit seidener Schnur umwickelt, ähnlich der seidenen
Schnur, die der Sultan zum Erdrosseln schickt.5s
135
Rosemarie Neurneister
Anmerkungen
1. Marc Aurel, Wege zu sich selbst, hrsg. von W. Theiler, Reinbek 1965, Buch IV,
18 (im Wortlaut leicht verändert).
2. Ebda., Buch 11, 6
3. W 11, 179 (Kap. 17).
4. Harry Holzheu, Gesprächspartner bewußt für sich gewinnen, Düsseldorf 1984,
175-185.
5. PI, 375.
6. Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, München 1955. Bd. 2, 397 (Also
sprach Zarathustra, 2. Teil).
7. Sprichwörter der Völker, hrsg. von K. Rauch. München 1965.
8. Hermann Sudennann, Das Bilderbuch meiner Jugend, FrankfurtJM. 1990,52.
9. Dale Carnegie, Sorge dich nicht -lebe! BernlMünchenlWien 27 1976,217.
10. Ebda., 214.
11. Arthur Schnitzler, Aphorismen und Betrachtungen, FrankfurtJM. 1967,167.
12. PI, 379.
13. PI, 355.
14. PI, 353.
15. PI, 385.
16, PI, 388.
17. PI, 381.
18. P I, 379.
19. P I, 379.
20. PI, 380.
21. P I, 376.
136
Schopenhauer und die "Meinung der anderen"
137
Menschenliebe bei Schopenhauer und Nietzsche
1. Vorbemerkungen
chreibt Seinsformen, die ein besonderes Niveau haben. Seine Ethik ist
)ntologie, der Mitleidige ist ein Seiendes auf dem Wege zu jenem
Hchts, gegen das alles Seiende anderer Art - nichts ist. Nun ist es ja
lllzulässig, eine Tatsachenwissenschaft und eine normative Disziplin zu
ergleichen. Nichtsdestoweniger ist ein Vergleich der Ethiken Schopen-
lauers und Nietzsches sinnvoll. Schopenhauers Ethik ist zwar
~atsachenwissenschaft, aber sie stellt, ohne zu predigen, doch eine
Vertordnung her: Die Tatsachen, von denen sie handelt, sind gleicher-
[laßen Werte. Wer diese Wertordnung kennt und sich von ihr belehrt
ühlt, wird z. B. wissen, daß er Mitleid empfinden müßte, ohne daß es
innvoll wäre, ihm zu sagen: "Habe Mitleid". Er weiß, daß er ein weniger
hoher" Mensch ist als der, der Mitleid erlebt. Schopenhauer, persönlich
iin eher harter Mann, hat die Größe besessen, das für sich selbst aus-
lrücklich zu akzeptieren und allgemein in folgenden, auch gegen ihn
leIbst geschriebenen Worten festzuhalten:
Denn wie Fackeln und Feuerwerk vor der Sonne blaß und un-
scheinbar werden, so wird Geist, ja Genie, und ebenfalls die
Schönheit, überstrahlt und verdunkelt von der Güte des Herzens .
... Sogar der beschränkteste Verstand, wie auch die groteske
Häßlichkeit, werden, sobald die ungemeine Güte des Herzens sich
in ihrer Begleitung kund gethan, gleichsam verklärt, umstrahlt
von einer Schönheit höherer Art, indem jetzt aus ihnen eine
Weisheit spricht, vor der jede andere verstummen muß .... Was ist
dagegen Witz und Genie?2
139
Heinz Gerd Ingenkamp
140
Menschenliebe bei Schopenhauer und Nietzsche
141
Heinz Gerd Ingenkamp
schafft. Er sieht dann die wahre Einheit alles Seienden hinter der er-
scheinenden Vielheit - und die Leidhaftigkeit dieses Einen. Schopen-
hauer glaubt nun, daß jeder Mensch befähigt ist, jedenfalls gelegentlich
durch den Vorhang zu sehen, den der Intellekt vor die Welt an sich
hängt, wenn dieser die Welt so schafft, wie sie vorgestellt wird. Dies ge-
schehe im Mitleid. Der Mitleidige sehe sich im anderen, Leidenden und
empfinde dessen Leid als seines nicht infolge eines Analogieschl~sses
oder eines natürlichen Reflexes, sondern auf Grund einer die Mittel und
Wege seines Intellekts überschreitenden Erkenntnis, die ihm die grund-
sätzliche Identität alles Seienden und den Trug aller Individuation ent-
hülle.
Diese Diagnose relativiert das Mitleid nicht. Empfindet man
echtes Mitleid, so hat man die Individuation als Trug durchschaut, ob
man dies nun selber erkennt oder nicht. 8 Die zum Mitleid führende
Erkenntnis braucht aber auf dieser Stufe nicht stehenzubleiben. Sie
kann weiter führen und das Wesen der Welt insgesamt erfassen. Diese
weiterführende Erkenntnis läßt das tiefere Wesen des Mitleids erfassen;
deshalb muß hier kurz darauf eingegangen werden. Sie sieht, wenn sie
sich auf das Seiende im ganzen richtet, daß dies hinter seiner
scheinbaren Ordnung und relativen Gelassenheit jene chaotische
Leidensstruktur hat, von der die Rede war. Die Folge dieser Erkenntnis
ist die grundsätzliche Abkehr von allem Sein, was sich darin zeigt, daß
ein so Erkennender, je nach der Intensität und Dauerhaftigkeit seiner
Erkenntnis, nicht mehr sein will, das Sein nicht mehr will, und mehr
und mehr alles unterläßt, was sein individuelles Sein zu erhalten oder
gar zu fordern geeignet wäre. Ein solcher Mensch ist ein Asket oder, in
Schopenhauers Terminologie, ein Heiliger, und hat, wenn er dies wirk-
lich ist, schon in seinem Leben, insofern er dieses nicht will, die
Erlösung von diesem Leben und von allem Sein erreicht. Erst diese
Seinsstufe erreicht den Gipfel des dem Menschen möglichen werthaften
Seins.
Das Mitleid, dem dieselbe Erkenntnis in einem geringeren Grad
der Tiefe und der Allgemeinheit zugrundeliegt, und die auf dem Mitleid
beruhende Kardinaltugend der Menschenliebe - und damit auch schließ-
lich das mit dem Satz "Neminem laede, imo omnes, quantum potes,
iuva" umschriebene moralische Verhalten - ist durch die wesentliche
Gleichartigkeit mit jener Erkenntnis des Heiligen aber nun unver-
kennbar definiert. Mitleid und Menschenliebe (und damit jedes Nicht-
verletzen eines anderen um dieses anderen willen, jede Hilfe für ihn um
seinetwillen) bedeutet, daß der Vorhang, den die alltägliche Vorstellung
über alles und jedes wirft, durchschaut ist und die Einheit alles Seien-
den gesehen wird. Die vorgeordnete, aus der Wesensgleichheit mit der
Erkenntnisweise des Heiligen fließende Definition ergibt, daß eben dies
Durchschauen des Vorhangs unserer Welt selbstaufgebend und selbst-
142
Menschenliebe bei Schopenhauer und NietzBche
143
Heinz Gerd Inger.kamp
tersucht werden, und da?ei kann sich We~teres un~ Andersartiges erge-
ben als das, was dogmatisches RekonstrUIeren allem zu akzeptieren zu-
läßt, ohne daß dies Weitere und Andersartige dem geistigen Besitz des
Werkes abgesprochen werden kann.
Somit ist die Frage: "Kann Menschenliebe nicht z. B. naturgege-
ben und somit lebensbejahend sein?" zwar am Dogma, vielleicht aber
nicht am Werk vorbei gestellt. Liebe überhaupt ist ja für Schopenhauer
einerseits agape, caritas, wie auch Schopenhauer unterscheidet, ande-
rerseits eros, amor; erstere ist moralisch, da auf einer zur Willensver-
neinung führenden Erkenntnis beruhend, letztere ist willens- und
lebensbejahend wie wenige andere Empfindungen. l2
Schopenhauer kennt in der Tat eine Metaphysik von Formen der
Liebe, die nicht selbst- und weltverneinend sind. Dazu gehört die Liebe
gemäß dem "Sinn der Gattung"13. Diese ist eine Form der Lebensbeja-
hung, aber man bejaht, während man sich selbst und seinen Gefühlen
zu folgen scheint, in erster Linie das Leben der Gattung, was sich vor
allem daran zeigt, daß man bei der Verfolgung der scheinbar eigenen
Ziele sein Leben gelegentlich sogar leichthin aufs Spiel setzt. Der "Sinn
der Gattung", wie Schopenhauer ihn nennt, wirkt so, daß er dem Indivi-
duum den Wahn einpflanzt, für sich selbst tätig zu sein, während es in
Wirklichkeit einem außerhalb seiner liegenden Zweck dient. Dieser
Wahn zeige sich am stärksten und auffälligsten in der "Geschlechts-
liebe", deren erster Metaphysiker Schopenhauer war, sodann vor allem
in der Elternliebe:
An die Erzeugung knüpft sich die Erhaltung der Brut und an den
Geschlechtstrieb die Elternliebe; in welchen also sich das Gat-
tungsleben fortsetzt. Demgemäß hat die Liebe des Thieres zu sei-
ner Brut, gleich dem Geschlechtstriebe, eine Stärke, welche die
der bloß auf das eigene Individuum gerichteten Bestrebungen weit
übertriffi. 14
In dieser Form der Liebe verneint sich der Wille zum Leben nicht, aber
er wird doch "transzendent", wie Schopenhauer sagt, "indem sein Be-
wußtseyn sich über das Individuum, welchem es inhärirt, hinaus, auf
die Gattung erstreckt".15 Es handele sich bei der Elternliebe um einen
Instinkt, und insofern sei sie nicht anzurechnen, d. h. also nicht "mora-
lisch"; sie könne auch enden, nämlich mit der "physischen Hülflosigkeit
der Kinder".16 Der sich anschließende Gedanke, von Schopenhauer m.
W. nicht weiter ausgeführt, ist dann von einiger Bedeutung: "Von da an
soll an ihre Stelle eine auf Gewohnheit und Vernunft gegründete (sc.
Mutterliebe) treten < ... >."17
Unter "Vernunft" ist das Vermögen verstanden, das uns mit
Rücksicht auf Vergangenheit und Zukunft planmäßig zu handeln er-
144
Menschenliebe bei Schopenhauer und Nietzsche
laubt. Damit ist die Schwelle zur Entwicklung oder vielleicht auch zur
Offenlegung einer Schopenhauerschen, vom Modell Elternliebe ausge-
henden Menschenliebe erreicht, die sich als ernsthafte Sorge um und für
die anderen Menschen zeigt (und sich deswegen, als ihrer selbst voll be-
wußt, wenn überhaupt, so erst im Erwachsenenalter wird einstellen
können). Modell und emotionale Grundlage dieser Menschenliebe ist
also die Elternneigung. Die Elternsorge wird sich in erster Linie auf die
lang dauernde leibliche Existenz der Kinder, ihren vitalen Nutzen und
in zweiter Li.nie auf ihre Stellung in der Gesellschaft, ihren soz'ialen
Nutzen, beZIehen. Entsprechend ausgerichtet muß man sich die
Menschenliebe vorstellen.
Als im wesentlichen mit diesen Denkansätzen Schopenhauers -
nicht seinem zentralen Dogma - zu vereinbaren bzw. sogar aus ihnen
abzuleiten betrachte ich somit die folgenden beiden Bestimmungen:
Menschenliebe besteht in der Bemühung, 1. von anderen Menschen
nicht nur Schädigungen fernzuhalten, sondern ihnen im Hinblick auf
ihre Wohlfahrt und ihre Stellung in der Gesellschaft möglichst zu
nützen, 2. der Menschheit einen möglichst langen Bestand zu sichern.
Es ist leicht zu sehen, daß der erste Satz den zwei Teilen des
Schopenhauerschen Grundsatzes der Moral entsprechen soll ("Neminem
laede, imo omnes, quantum potes, iuva"), der entscheidende, diesen
Grundsatz hier interpretierende zweite ihn aber aus der Sphäre der zur
Verneinung führenden Erkenntnis herausnimmt und ihn zur Beschrei-
bung eines Instinkt-Verhaltens macht, das, wie jedes andere auch, als
Triebbefriedigung für den Handelnden selbst einerseits lustvoll ist, ihn
andererseits aber - wie im Fall der engeren Elternliebe - bis zur Selbst-
aufopferung führen kann, die dann aber nichts mit einer Verneinung
des Willens zum Leben zu tun hätte. Diese Menschenliebe wäre danach
ein Instinktverhalten mit dem Inhalt, den Schopenhauers Grundsatz
der Moral ausdrückt.
145
Heinz Gerd Ingenkamp
blieb oder wenigstens bleiben wollte, und jeweils für sich einen neuen
Kanon für großes, edles, tüchtiges Verhalten abgab. Was werthaft war
das erfuhr man, indem man auf erprobte Menschen sah, die untereinan~
der stark divergieren konnten, aber alle jene a-rationale Qualität besa-
ßen, die andere zu ihnen aufblicken ließ. Themistokles, wie er war, der
ganz andere Aristeides, wie er war - sie waren Maßstäbe (Maßstab war
keine Erkenntnis und kein PrinziplS) - so wie die meisten M;usikfreunde
heute stilistisch stark voneinander abweichende Komponisten wie Bach
Mozart, Beethoven zum Maßstab dafür machen, was in der Musik Wert
hat. Hier liegen die Wurzeln oder die frühen Parallelen der Wert-
auffassung Nietzsches, der als Altertumsforscher begonnen und sich
vielleicht in jungen Jahren nicht ganz spurenlos viel und intensiv gerade
mit Theognis, dem, wie er sagt "Mundstück des griechischen Adels"19
befaßt hat, einem der direktesten und kämpferischsten Anwälte der
Paradigmenstellung des erprobten Individuums. Nach der Antike waren
es die Menschen der Renaissance, sofern sie für diese Epoche später als
typisch galten - Nietzsche nennt gern Cesare Borgia -, dann Montaigne
und nicht zuletzt Goethe (für Nietzsche vor allem in seiner Stilisierung
durch Eckermann), die dies Ideal auf je ihre Weise lebten und lehrten.
Aber bei Nietzsche bekommt es einen neuen Klang. Es wird mit der ihm
eigenen schonungslosen Geradheit bis in seine letzten, gern übersehe-
nen Konsequenzen beschrieben, und gerade diese Konsequenzen werden
provokativ hervorgezogen und ausgemalt.
Der Vergleich zwischen Lehrmeinungen Schopenhauers und
Nietzsches bleibt problematisch, auch wenn man sich darüber verstän-
digt hat, den Gegensatz ihrer "Fächer" nicht mehr als trennend zu wer-
ten. Schopenhauer urteilt und lehrt, und seine Absicht ist, ein einziges
Urteil über die Welt und den Menschen auszusprechen und möglichst
umfassend und verständlich zu erläutern. Schopenhauers Lehre läßt
sich also weitgehend doxographisch - und sogar relativ kurz - erfassen.
Eben dies läßt Nietzsches Denken nicht oder wenigstens bei weitem
nicht im selben Grade zu. Auch er urteilt, immer und dezidiert, aber
diese Urteile werden nicht deduziert oder cum auctoritate verkündet,
sondern sind Vorlagen zu eigenen Urteilen des Lesers. Diese Partner-
schaft hat aber nichts mit einer demokratischen Diskussion zu tun;
vielmehr soll das Ja oder Nein zu Nietzsches Urteilen zunächst und vor
allem Menschen, Menschenklassen, trennen und dann, in einem zweiten
Schritt, die einen, "höheren", formen. Der von ihm als solcher empfun-
denen Unfeinheit des Prinzipiendenkens, das zwingen will, setzt er die
Zwanglosigkeit der persönlichen, bedacht formulierten Äußerung gegen-
über, die die Möglichkeit gibt, sie selbst und sich an ihr zu messen. Und
so ist jede seiner Aussagen gegen viele andere zu halten, der Sichtwinkel
ist aufzuspüren, aus dem heraus sie gemacht ist, und es ist nie ohne
Angabe dieses Sichtwinkels über sie zu reden. Beim Reden über Nietz-
146
Menschenliebe bei Schopenhauer und Nietzsche
sehe steht man selbst auf dem Spiel, und zwar jenseits der Gefahr
schlicht zu irren. '
Die Frage nach der Menschenliebe ist für Schopenhauer eine
derjenigen, wohin seine Philosophie führt, gewissermaßen ein Zielthema
seines Systems und als solches von ihm formuliert und vom Leser relativ
leicht faßbar; bei Nietzsehe tritt sie dagegen seit "Menschliches; Allzu-
menschliches" als eins von mehreren produktiv-irritierenden Zentren
seiner Denkbewegungen auf und ist von daher eigentlich nur im
Zusammenhang seiner gesamten - perspektivisch changierenden - Philo-
sophie zu betrachten.
Andererseits sucht Nietzsehe selbst den Disput mit sonstigen
Philosophen, besonders mit Schopenhauer, seinem großen Lehrer,2o und
der Teilnehmer eines Disputs kann grundsätzlich nicht verlangen, daß
ihm volles Recht wird, sondern er muß seine Ansprüche auf Verständnis
gegen die des Mitunterredners verrechnen. Schopenhauer würde
Nietzsehe zu "stellen" versuchen, würde ihn zu einem Urteil desjenigen
Typs zwingen, wie er sie selbst gefällt hat, und Nietzsche würde, wenn
er denn mit Schopenhauer spräche, sein Aspektdenken doxographisch
verkürzen lassen müssen - und dies ja im übrigen auch, wenn er nur in
einer Philosophiegeschichte normalen Umfangs figurieren wollte. So
seien also die folgenden notwendigen Simplifikationen mit doxographi-
sehen Zwängen erklärt.
Beginnen wir auch hier mit der Ontologie, an die, wie wir sehen
werden, die Moral geknüpft ist, wenn man das Wort "Moral" hier -
ebenso unscharf wie bei Schopenhauer, aber in anderem Sinne - verwen-
den darf.
Soweit Nietzsches Vorstellung vom Wesen der Welt und ihren
Abläufen für die praktische Philosophie relevant wird, also auch z. B. für
Fragen nach der Menschenliebe, ist die Welt und jedes Weltquantum
ein, wie er es mit der ihm eigenen Fähigkeit zu treffender Formulierung
nennt, "Pathos"21, und das trennt es weit genug von allem Chaotischen.
Der zunächst poetisch wirkende Ausdruck 22 ist bei näherem Hinsehen
von hinreichender Deutlichkeit. Pathos ist Pose, ist Geste, vor allem
Stil. Der Welt und ihren Abläufen liegt ein Stil zugrunde, und man
sollte "Stil" hier dynamisch verstehen.
Modell für Nietzsches obersten, besser: einzigen Wert ist von
früh an und bleibt das Kunstwerk; sein Modell für den höchstrangigen
Menschentyp ist der Künstler. In seiner Frühmetaph~~i~, die ihr~n
Abschluß in den ersten Kapiteln der Geburt der Tragodle findet, 1st
Kunst Endziel und Rechtfertigung eines in jedem kleinsten Moment23
147
Heinz Gerd Ingenkamp
sich vollendenden Prozesses des "Ur-Einen", wie er das damals von ihm
konzipierte Weltprinzip nennt. Der Künstler selbst ist zwar beim frühen
Nietzsche noch (wie bei Schopenhauer) willenloses Medium eines meta-
physischen Vorgangs, aber der Weltgrund selbst will die Kunst - nicht
um sich von sich selbst zu erlösen, sondern um seiner Verzückung, d. h:
Befriedigung, willen:
Denn dies muss uns vor allem, zu unserer Erniedrigung und Erhö-
hung, deutlich sein, dass die ganze Kunstkomödie durchaus nicht
für uns, etwa unsrer Besserung und Bildung wegen, ausgeführt
wird, ja dass wir ebensowenig die eigentlichen Schöpfer jener
Kunstwelt sind: wohl aber dürfen wir von uns selbst annehmen,
dass wir für den wahren Schöpfer derselben schon Bilder und
künstlerische Projectionen sind und in der Bedeutung von Kunst-
werken unsre höchste Würde haben - denn nur als aesthetisches
Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt: -
während freilich unser Bewusstsein über diese unsre Bedeutung
kaum ein andres ist als die auf Leinwand gemalten Krieger von
der auf ihr dargestellten Schlacht haben. Somit ist unser ganzes
Kunstwissen im Grunde ein völlig illusorisches, weil wir als
Wissende mit jenem Wissen nicht eins und identisch sind, das
sich, als einziger Schöpfer und Zuschauer jener Kunstkomödie,
einen ewigen Genuss bereitet. 24
148
Menschenliebe bei Schopenhauer und Nietzsche
Was ist gut? - Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur
Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht.
Was ist schlecht? - Alles, was aus der Schwäche stammt.
Waa ist Glück? - Das Gefühl davon, dass die Macht wächst - dass
ein Widerstand überwunden wird.
Nicht Zufriedenheit, sondern mehr Macht; nicht Friede überhaupt,
sondern Krieg; nicht Tugend, sondern Tüchtigkeit [... ]
Die Schwachen und Missrathenen sollen zu Grunde gehn: erster
Satz unsrer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen.
149
Heinz Gerd Ingenkamp
Unser Mitleiden ist ein höheres fernsichtigeres Mitleiden <... > Ihr
wollt womöglich -und es gibt kein tolleres "womöglich" - das Leiden
abschaffen; und wir? - es scheint gerade, wir wollen es lieber noch
höher und schlimmer haben, als je es war! < ... > Die Zucht des
Leidens, des grossen Leidens - wisst ihr nicht, dass nur diese
Zucht alle Erhöhungen des Menschen bisher geschaffen hat? Jene
Spannung der Seele im Unglück, welche ihr die Stärke anzüchtet,
ihre Schauer im Anblick des großen Zugrundegehens, ihre
Empfindsamkeit und Tapferkeit im Tragen, Ausharren, Ausdeu-
ten, Ausnützen des Unglücks, und was ihr nur je von Tiefe,
Geheimniss, Maske, Geist, List, Grösse geschenkt worden ist: - ist
es nicht ihr unter Leiden, unter der Zucht des gros sen Leidens ge-
schenkt worden? Im Menschen ist Geschöpf und Schöpfer vereint:
im Menschen ist Stoff, Bruchstück, Überfluss, Lehm, Koth, Un-
sinn, Chaos; aber im Menschen ist auch Schöpfer, Bildner, Ham-
mer-Härte, Zuschauer-Göttlichkeit und siebenter Tag - versteht
150
Menschenliebe bei Schopenhauer und Nietzsche
Mitleid also mit dem Schöpfer, keins mit dem Stoff, wenn er ins Feuer
des Leidens gehalten wird - kein Mitleid mit den Spänen, die fliegen
müssen und zusammengekehrt werden -, Mitleid mit dem Künstler,
wenn die Späne anfangen, ihm in die Augen zu fliegen. Natürlich heißt
das nicht, daß der Schöpfermensch, wie Nietzsehe ihn sieht, das
Schwache so ausrottet, wie es die getan haben, die in den zitierten
schlechten Versen als Nietzsches Schüler figurieren dürfen:
Hier ist kein Widerspruch, sondern Konsequenz. "Vornehm" ist eins der
am meisten bezeichnenden Wörter Nietzsches für seinen Hochwert, ist
seine Interpretation seiner Ausdrücke "stark", ~achtvoll" usw.
Wer sind sie denn nun, diese Mißratenen, die zugrunde gehen
sollen? Etwa von vornherein die Kranken, die Krüppel, die Elenden?
Sind sie nicht viel eher die mit der großen Chance, die, die mehr als an-
dere die Möglichkeit haben, ihr Leid zur Schule ihrer Größe zu machen?
Wie steht es denn um Nietzsehe selbst? Hat er sich beim Philosophieren
vergessen? Wer denn sonst als er, der kranke, gebrechliche Mann, auf
seinen hastigen Spaziergängen, mit dem Bedürfnis nach frischer Luft
zwischen zwei Phasen unerträglicher Kopfschmerzen, ist denn Zara-
thustra? Aber die so Geprüften müssen ihren Weg zur Größe gehen, wie
jeder andere auch, und da der Mensch für Nietzsehe nicht die aus der
Schöpfung heraustretende Krone dieser Schöpfung, sondern eine Tierart
unter anderen ist,31 so protestiert er allerdings dagegen, die Gebrech-
lichen und Kranken sich, ihre Gebrechlichkeit und Krankheit gegen die
anderen, die Gesunden und Starken, durchsetzen zu lassen. In dem
Moment, wo sie etwa das wollten, wären sie mißraten im Sinne seines
ersten Gebots der Menschenliebe; ihr Wille zur Macht stünde gegen den
der "Wohlgeratenen", und da gäbe es für Nietzsehe kein Mitleid und
kein Verständnis. Mißratensein hat mit Krankheit und sonstigem Elend
an sich nichts zu tun, aber:
151
Heinz Gerd Ingenkamp
Wenn die.Scharen der Schwachen sich und ihre Schwachheit - die Stil-
losigkeit, die Unfähigkeit zu schaffen - durchsetzen wollen, und dies, wie
es nicht anders möglich ist, auf Kosten der dünner gesäten und für sich
stehenden Starken, dann rät Nietzsche, zurückhaltend formuliert, nicht
zu Entgegenkommen. Der kämpfende Kranke dagegen, erst recht der
bewunderungswürdige, dem die Krankheit die Grundlage der Selbst-
vervollkommnung. gibt, ist nicht mißraten, im Gegenteil. Über eins der
Exempla für den Ubermenschen, Caesar, heißt es:
Noch ein Problem der Diät. - Die Mittel, mit denen Julius Cäsar
sich gegen Kränklichkeiten und Kopfschmerz vertheidigte (!): un-
geheure Märsche, einfachste Lebensweise, ununterbrochner Auf-
enthalt im Freien, beständige Strapazen - das sind, in's Grosse
gerechnet, die Erhaltungs- und Schutz-Maassregeln überhaupt
gegen die extreme Verletzlichkeit jener subtilen und unter
höchstem Druck arbeitenden Maschine, welche Genie heisst.3 3
Man lernt diese Maßregeln also bei einem Kränklichen: So schlicht kann
der Ausdruck "Zucht des Leidens" (siehe oben S. 152) verstanden wer-
den. Die Verfechter von Werten der stillosen Art, in seinen Worten oft:
von "nihilistischen" Werten, die, die ihren oft sehr starken Willen zur
Macht zur Beförderung von "decadence" einsetzen, an erster Stelle die
Christen, die ja klein sein wollen, sind für ihn mißraten, und ihnen gilt
schließlich auch das erste Gebot der Menschenliebe, das nicht umsonst
im Antichrist steht. Ein Beispiel für den Typus des Wohlgeratenen und
sein Handeln, dem Nietzsche am Schluß mit großer Geste das für ihn
unumschränkt gültige Siegel der Größe aufdrückt, ist
152
Menschenliebe bei Schopenhauer und Nietzsche
der stark genug zu dieser Freiheit ist; den Menschen der Toleranz
nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke, weil er Das, woran di~
durchschnittliche Natur zu Grunde gehn würde, noch zu seinem
Vortheile zu brauchen weiß; den Menschen, für den es nichts
Verbotenes mehr giebt, es sei denn die Schwäche, heisse sie nun
Laster oder Tugend ... Ein solcher freigewordner Geist steht mit
einem freudigen und vertrauenden Fatalismus mitten im All, im
Glauben, dass nur das Einzelne verwerflich ist, dass im Ganzen
sich Alles erlöst und bejaht - er verneint nicht mehr ... Aber ein sol-
cher Glaube ist der höchste aller möglichen Glauben: ich habe ihn
auf den Namen des Dionysos getauft. 34
Man darf die schöne Macht des Über-Helden nicht für einen zweiten
Weg der Menschenliebe halten. Es handelt sich um den Gipfel der
Macht. Und der Geist der Güte, von der die Rede ist, ist zwar »zarter,
aber inwendig härter", d. h. es handelt sich um Güte, die von einer noch
stolzeren, selbstbewußteren, sich ihrer selbst freuenden Höhe ihre
Strahlen in eine Zone tief unter sich sendet und diese Distanz will. Der
Machtmensch der gemeinen Observanz ist seinem Opfer ganz nahe und
ehrt es wider Willen durch die Brutalität seiner Attitüde.
153
Heinz Gerd Ingenkamp
Einen solchen Weg gibt es, wie ich glaube, nicht. Aber es gibt zwei Wege
seinen einen Weg zu sehen. Der eine ist der, den wir bisher begange~
haben: Man geht mit Nietzsche und macht sich, wenn auch nur zu
Interpretationszwecken, auch seine speziellen Wertungen bis ins ein-
zelne z~ eigen. Der andere Weg. besteht da~n, hinter diese Wertungen
vorzudnngen (d. h. aber auch: SIe herabzusbmmen und zu prosaisieren)
und sie als Nietzsches Paradigmen für etwas aufzufassen, was zunächst
einmal nichts als die Beschreibung eines eher gewöhnlichen - Instinkts
ist, um bei dem unmodern gewordenen Wort zu bleiben, das in ähnli-
chem Zusammenhang bei Schopenhauer vorkam und das auch bei Nietz-
sehe in diesem Zusammenhang immer wieder erscheint. Diesen Instinkt
zu benennen, kann nicht schwer sein. Es war erwähnt worden, daß der
Nietzscheschen Machtontologie das Modell "Kunst" zugrundeliegt. Was
Nietzsche an der Macht liebt, ist ihre stilgebende Schaffenskraft. Damit
definiert und relativiert er sie. Macht ist deswegen ein Wert, weil und
insofern sie kreativ, prägend, stilgebend ist. Seine Musterexemplare der
Gattung Mensch sind teilweise Machtmenschen reinster Art, Caesar,
Ces are Borgia, Napoleon, aber er sieht sie immer und erstlich als
Gestaltende (auch als Selbstgestalter), als "vergewaltigend" Gestaltende,
und er meint allerdings, daß Gestaltung ohne "Vergewaltigung" undenk-
bar ist. Um welchen Instinkt es sich handelt, kann also nicht zweifelhaft
sein: Es ist der Werkinstinkt, der "instinct of workmanship". Gegen die
Interpretation, die ihn wohl lieber zur Elternneigung und in Opposition
zu den aristokratischen Herrschaftsinstinkten setzt,36 weist Nietzsche
seine prinzipielle Identität mit diesen nach. In der Tat ist der Werk-
instinkt - mindestens in gewissen Perioden, wie im Zeitalter griechi-
schen Technitentums in Archaik und Klassik 37 und in der spätmittel-
alterlichen und frühneuzeitlichen Handwerksepoche - nicht zu trennen
von einem aristokratisch inspirierten Selbstwertgefühl des Schaffenden,
der, um einen steigernden Ausdruck Nietzsches zu brauchen, Ehrfurcht
vor sich und seinem Werk empfindet oder, um auch hier zu prosaisieren,
stolz ist auf sich und sein Werk und sich insofern erhöht sieht. Die
aristokratischen Herrschaftsinstinkte, die der Wirkende, in gewissen
historischen Perioden besonders deutlich und sogar ihm selbst mehr
oder weniger bewußt, aber wohl auch sonst, in sich erfährt und bejaht,
sind für Nietzsche an sich werthaft, weil sie das bejahte Prinzip alles
Seins und Werdens sind - umgesetzt in menschliches Fühlen und Han-
deln. Alles was ist - auch jeder von uns - ist Teil eines entstehenden
Werkes, das sich selbst schafft und sich selbst feiert, und indem wir
wirken, nehmen wir, je nach dem Niveau unseres Wirkens, an dieser
Feier teil. Wenn Nietzsche darüber hinaus zeigen kann, daß echtes
Wirken immer ein Schaffen über etwas hinaus ist: über den Stoff
hinaus, über die vorherigen Werke hinaus, über den Schaffenden hin-
aus, wenn also Werke Untergänge in Kauf nehmen - des Stoffs, der
154
Menschenliebe bei Schopenhauer und Nietz9che
vorherigen Wer~e, des Wirkenden selbst -, dann liegt auch von daher die
Entscheidung für eine Menschenliebe der Differenzierung und der Di-
stanzierung nahe: "Trachte ich denn nach Glücke? Ich trachte nach
meinem Werke", sagt Zarathustra am Ende seiner Predigten. 38 Eine
höhere Mauer gegen Schopenhauers Denken, wenn vielleicht auch
weniger gegen Schopenhauers Person, ist nicht denkbar.
Ich glaube, Nietzsche sieht das Wesen des Werkinstinkts richtig.
Er sagt zudem, daß der Werkinstinkt den Menschen macht, sofern dieser
Wert hat. So ist es also, scheint mir, gemeint, wenn es, dem ersten Weg
gemäß, heißt, daß Menschenliebe, wenn sie denn Menschenliebe ist, sich
nur auf Menschen richten kann, die wirken wollen und können; daß
man den anderen, die das nicht können, "helfen" wird; daß man aber die,
die sich diesem Menschenbild widersetzen, die Instinktvergessenen und
insofern Schwachen und Mißratenen, die sich ihres Nichtwirkens freuen
und aus diesem dann allerdings unerträglichen Leben erlöst werden und
vor allem erlöst werden wollen, bekämpfen und, wie er meint, zugrunde
gehen lassen muß.
Der zweite Weg, Nietzsches einen Weg zur Menschenliebe zu se-
hen, besteht darin, diesem einen Weg ein wenig von der kalten
Gebirgsluft zu nehmen, in der er selbst ihn beständig sieht, ihn herab-
zustimmen und die Menschenliebe an den bloßen Werkinstinkt, an den
Schaffenswillen, an das Hammer-Sein zu knüpfen - und nicht nur an
sein Übermaß und die Exemplare unserer Gattung, die Menschenmaß
transzendieren und bei ihm Übermenschen heißen. Der Mensch wäre zu
lieben als Träger dieser Flamme, die nach oben will, und als der, der
diese Flamme hegt, auch um den Preis, daß sie ihn verbrennt.
7. Schluß
Die Konzepte der Menschenliebe, die hier besprochen wurden, stehen
nebeneinander. Sie gehören verschiedenen Einzelkulturen an, aber
Kulturen, die in unserer abendländischen Groß- und Mischkultur ne-
beneinander existieren und sich gar nicht selten durchdringen - z. B. in-
dem man das eine predigt und das andere tut.
Nach dem einen Konzept gilt es, Menschenliebe walten zu lassen
in einer Welt, die grundsätzlich nicht in Ordnung und leidhaft ist. Hier
geht es darum, im anderen sich selbst zu sehen und folglich niemanden
zu verletzen, jedem möglichst zu helfen. Insofern dies Verhalten am
Wollen der W~lt vorbeigeht, ist es "nicht von dieser Welt", es durch-
schlägt die Gesetze des Seienden und schafft eine neue Welt, die - im
Blick auf die in der wir leben - allerdings nichts ist, vor der aber unsere
Welt auch ~u nichts verblaßt. Als Paten stehen Indien, Teile des
Griechentums, das Christentum, sofern es asketisch ist, und in gewisser
155
Heinz Gerd Ingenkamp
Weise überhaupt das, was man "Weisheit" nennt. Dem zweiten, auf der
Elternliebe beruhenden Konzept fehlt die metaphysische Dimension
völlig, aber der Leidbezug ist latent vorhanden. Man "sorgt sich" um die
Menschheit, man sichert ihren Bestand, hilft ihr auf, weil man davon
ausgeht, daß sie gefährdet ist, wie Eltern ihren Kindern gegenüber
empfinden. Insofern ist das zweite Modell Schopenhauers in gewisser
Weise die natürliche Variante seines - übernatürlichen - ersten.
Für das dritte Konzept und seine beiden Aspekte (sie unter-
scheiden sich ebenfalls durch ihren Metaphysikbezug und durch die
Reichweite der Postulate) bilden Leid und Existenzbedrohung keine
Grundlage; sie gehen aus vom Glück der Chance zu sein und daraus et-
was zu machen, wobei eigenes und fremdes Leid in Kauf genommen
wird. Dies wird meistens von Menschen, die so handeln und auch so
handeln wollen, nicht gern zugegeben, weil die gemeinschaftsbildenden
Instinkte der Elternneigung und ihre Verwandten ein offenes
Bekenntnis dieser Art nicht ertragen. Nietzsche hat dieses Tabu gebro-
chen und Polemiken a la Hochhuth in Kauf genommen.
Einige werden sich schwertun mit der Bestimmung ihrer
Menschenliebe. Das ist, wird man sagen dürfen, geradezu die angemes-
sene Haltung angesichts der Konglomeratstruktur unserer Kultur, in
der die Elemente der auf Weltverneinung ausgehenden "Weisheit", des
aristokratischen Macht- und Stilwillens und der durch die Jahrhundert-
tausende geübten und noch unser heutiges Leben tragenden "Sorge"-
Haltung der Menschheit zusammenfließen. Schopenhauer und sein
emanzipierter Schüler Nietzsche haben über eine Frage nachgedacht,
die für unser Selbstverständnis, und damit auch für unser Schicksal,
von entscheidender Bedeutung ist, wobei die beiden Denker, bei aller
großartigen und den Alltäglicheres bevorzugenden Leser erschreckenden
Einseitigkeit, in ihrer gemeinsamen Antwort zu einer Beschreibung des
Problems gekommen sind, die die Grenzen dessen absteckt, was in
unserer Kultur diesbezüglich möglich ist.
Anmerkungen
1. G, 117; W I, 220; PI, 189,209; Pli, 633f.
2. W 11, 261 f.
3. So formuliert E, 137.
4. Z. B. E, 137, 158.
5. Zum folgenden vgl. Verf., Gestalt als Gestaltung, Schopenhauer-Jahrbuch 66
(1985), 75 ff.
6. Der Ausdruck und der Gedanke vom Seins-"Quantum" ist nicht Scho-
penhauerisch,sondern gehört Nietzsche. Er ist aber an dieser Stelle des
156
Menschenliebe bei Schopenhauer und Nietzsche
157
Heinz Gerd Ingenkamp
36. So bei Thorstein Veblen, The instinct ofworkmanship, New York 1914.
37. Vgl. hierzu jetzt Hartrnut Wilms, techne und paideia bei Xenophon und
Isokrates, Stuttgart 1995.
38. KSA 4, 408.
158
Willensmetaphysik. Die praxisphilosophischen Ansätze von
Bloch und Schopenhauer
2. Blochs Schopenhauer-Rezeption
160
Bloch und Schopenhauer
161
OlafBriese
Der Wille hat seine Grenzen. Er geht nicht ewig gärend ins Unendliche
sondern er wird auf ein sozialistisches Ziel hin gelenkt, also auf gewiss~
Endpunkte.
Dieses umfangreiche Werk Blochs, dessen marxistischer oder
vermeintlich marxistischer, dessen christlich-eschatologischer oder ver-
meintlich christlich-eschatologischer Charakter weiterhin umstritten ist
erweist sich im Hinblick auf die hier zu behandelnde Thematik nicht
zuletzt deshalb als interessant, weil es nachträglich Aufschluß über die
hauptsächlichen Quellen von Blochs Entwürfen eines guten Willens
gibt: 1. Aristoteles' Entelechie, 2. neuplatonischer Eros, 3. Jakob Böhmes
mystischer Trieb, Hunger und Qual, 4. Kants Als-Ob Lehre, 5. Schel-
lings romantische Willensverklärung, 6. Freuds Trieblehre. So verschie-
den diese Ansätze sind, stützen sie Blochs "Prinzip Wille" als ein
umfassendes metaphysisches Prinzip: Die ganze Welt ist in Bewegung
auf ein Ziel hin begriffen, kosmologisch, geschichtlich, anthropologisch,
psychisch. Immer in Bewegung, immer in Tendenz und Latenz und
Utopie begriffen, immer guter Wille. Der utopische Ort der Erlösung,
das Totum, das ens perfectissimum, das mystisch-marxistische Reich der
Freiheit ist da - es muß nur noch erreicht werden.
Schopenhauer hat bekanntlich andere Willensprämissen. Er
steht nicht in der eher plebejisch-philosophischen Tradition der Trieb-
entfaltung, sondern in der aristokratisch-philosophischen Tradition der
Triebbezähmung. Er hat seine Wurzeln nicht in der europäischen
Mystik und Romantik, sondern in scholastischem Realismus und neu-
zeitlicher Metaphysik. Er ist, wo Bloch bekennender Nominalist ist, mit
Blick auf Platon und Kant verhinderter Realist. Der Wille ist nicht die
zivilisatorische Triebkraft, sondern die zivilisatorische Störkraft
schlechthin. Wille ist das genuin Böse, ist der Einbruch der Natur in die
Sphäre der Geschichte und des Geistes. Er ist eine unhintergehbare
Macht über, um und in den Menschen. Das war, stellt man Schopen-
hauer in den damaligen geschichtlichen Kontext, von der ganzen Anlage
her eine Opposition gegen romantische Philosophie, gegen die roman-
tische Natur- und Willensverklärung. Für Schelling "gibt (es) in der
letzten und höchsten Instanz gar kein anderes Sein als Wollen. Wollen
ist Ursein, und ... Selbstbejahung"14. Auch Fichte deklariert nach seiner
Wendung vom Sollen zum Wollen nach der Jahrhundertwende: "Der
Wille ist das lebendige Princip der Vernunft, ist selbst die Vernunft"
und er hält ihn "für den eigentlichen Sitz der sittlichen Güte"15.
Schopenhauer opponiert gegen diese Art Willensverklärung.
Aber mit seinem System baut er auf diese Ansätze auf, er baut sie in ei-
nem ersten Schritt geradezu aus. Er negiert sie nicht, sondern geht,
aufbauend auf diese Fundamente, an ihre Überwindung. Schopenhauer
universalisiert den Willen, um ebenso universell an seiner Negierung,
seiner Verneinung zu arbeiten. Er universalisiert ihn im Rückgriff auf
162
Bloch und Schopenhauer
Kants Weltbegriff, so daß die Welt zum Wille wird. Und so wie Wille bei
Schope.~hauer ein schlechthinniges Übel ist, sind Ding an sich und Welt
voller Ubel. Wille ist Primat, ist Wesen, und dieser Wille entäußert sich
in seine verschiedenen Erscheinungen. Im Kosmos und in der irdischen
Sphäre, im Körper, in der Sphäre des Bewußtseins - überall Wille. Wille
ist das ontische Prinzip ynruhe, das Prinzip Individuation, das Prinzip
Egoismus, das Prinzip Ubel in allen Erscheinungen der Welt. Dieser
Wille ist unhintergehbar, ist über, um und in den Menschen. D. h.:
Schopenhauer verübelt die Welt mittels Willen radikal, um sie anschlie-
ßend durch sein hypothetisches Modell der Willensverneinung entübeln
zu können.
Dieses seit Welt als Wille und Vorstellung von 1818 feststehende
Programm erfährt aber auch bei Schopenhauer bestimmte Abwand-
lungen und Ergänzungen. Die erste radikal pessimistische Fassung des
Willens wurde schon in den Berliner Vorlesungen von 1820 relativiert
und abgeschwächt. Für Studierende und für die Öffentlichkeit gedacht,
zeigt Schopenhauers Willensbegriff nicht mehr die unerbittliche pessi-
mistische Strenge. Schopenhauer hält hier tatsächliche eine "völlige
Umkehrung der menschlichen Natur" für möglich 16, und er betont,
durchaus dem Geist der Berliner Alma Mater entgegenkommend, die
christlichen Momente von Entsagung, Willensverneinung und Erlösung.
1835 dann erfährt der Wille eine naturphilosophisch-physiologische
Untermauerung, z. B. durch den Begriff der Kraft. In den späten Apho-
rismen zur Lebensweisheit wird die Welt, ganz nach stoischer Auf-
fassung, nicht zum Willen, sondern zum Bewußtsein von Welt, und es
ist die "Beschaffenheit des Bewußtseyns selbst das zunächst Wesent-
liche" 17. Das Bewußtsein erfährt also von vornherein eine Aufwertung,
es kann Welt besiegen auch ohne die Gnade intuitiver Erkenntnis. Aber
diese Akzentänderungen sind im Grunde nur Marginalien. Bei allen
leichten Wandlungen ist Schopenhauer seinem ursprünglichen Pro-
gramm treu geblieben - der Wille ist über, um, und in uns. Er ist ein je-
weils unhintergehbares metaphysisches, ontisches und anthropologi-
sches Prinzip.
163
OlafBriese
164
Bloch und Schopenhauer
Hegels hat Marx im Auge, wenn er anerkennt, Hegel "erfaßte die Arbeit
als das Wesen, als das sich bewährende Wesen des Menschen"22. Marx'
ganzes geschichtliche Modell beruht auf dieser Dialektik von
Entäußerung, Aneignung, Vergegenständlichung und erneuter Ent-
äußerung. Geschichte ist eine Bedürfnisspirale, die im Kommunismus
endet.
Bloch steht in dieser hegeischen und marxschen Linie. Sein
Hegel-Buch von 1951 mit dem Titel Subjekt-Objekt ist die gedrängteste
und übersichtlichste Darstellung seiner eigenen Philosophie. Bloch zielt
auf eine universale Subjektivierung der objektiven Welt durch Handeln
und Tätigkeit. Es geht ihm um nichts weniger als um die "Urbar-
machung" der ganze~ Welt. Das ist für ihn, Schopenhauer entgegenge-
setzt, geradezu die "Uberwindung des Nichts"23. Geschichte ist nach sei-
ner Prämisse Drang, ist Bewegung, ist Vermenschlichung der Natur
durch Aneignung der ganzen Natur. Dennoch gibt es natürlich Beson-
derheiten gegenüber Hegel und gegenüber Marx. Der Leitfaden der
Hegeischen Weltgeschichte war vor allem die Politik, der der Marxschen
vor allem eine Entwicklung der menschlichen Produktivkräfte. Blochs
Philosophie ist in dieser Hinsicht weniger entschieden, weniger festge-
legt, er entwirft ein ganzes Spektrum von Fortschrittskriterien. Im
Zentrum dieses Panoramas scheint dann allerdings eine bestimmte gei-
stig-religiöse Vervollkommnung zu stehen. Für Bloch sind die politische
Geschichte und die Geschichte menschlicher Produktiv kräfte auch ein
Beleg für eine ästhetisch-religiöse Perfektibilisierung und Selbstüber-
steigerung. Im Zuge der weltgeschichtlichen Entwicklung ist der Mensch
vor allem ein ideell bedürftiges Wesen. Die Worte, mit denen Bloch
immer wieder seine Visionen beschreibt, sind höchstes Gut, ens perfec-
tissimum, Totum, Pleroma des Lichts, Reich. In seine von Anfang an
christlich tingierte WeItsicht hat er Hegeische und Marxsche Ansätze
hineinprojiziert.
Schopenhauer dagegen muß von seinem Willensbegriffher zu ei-
nem anderen Bedürfnisverständnis kommen. Wo der Wille quält, kann
er letztlich nur quälende Bedürfnisse erzeugen: Bedürfnisse sind der
Motor, die den leidvollen Lauf der Geschichte in Gang halten. Sie sind
ein beständiges Unruhepotential, ein instabiler Faktor, sie erzeugen
stets Unsicherheit statt Sicherheit. Nur Stabilität gewährt Ruhe. Dyna-
mik ist Unruhe. Mehrere Typen von Bedürfnissen unterscheidet
Schopenhauer: Nahrungsbedürfnisse, Geschlechtsbedürfnisse ein-
schließlich Fortpflanzungs- und Vermehrungs bedürfnissen, darüber
hinaus geistige oder, wie Schopenhauer es nennt, imaginäre Bedürf-
nisse 24 : politische, religiöse, bis hin zu solchen wie Ehrgeiz und Gel-
tungsbedürfnis oder Neugierde. Und: "Demgemäß ist der Me~sch, als die
vollkommenste Objektivation jenes Willens [also des Weltwillens O. ~.l
auch das bedürftigste unter allen Wesen"25. Sind Bedürfnisse an SIch
165
OlafBriese
schon ein Unruheherd, ist das Verhängnis an ihnen, daß jedes erfüllte
Bedürfnis ein neues erzeugt. Genuß verschmachtet nach Begierde und
Begierde nach Genuß. Diese jeweils neuen Bedürfnisse stellen sich nicht
ein nach dem Bild der Addition, sondern nach dem der Potenzierung. Es
gibt kein,en Bedürfnisgleichlauf, sondern eine Bedürfnisbeschleunigung,
und diese führt allemal ins Verhängnis. Auch wenn diese Dynamik von
Schopenhauer nicht unbedingt programmatisch ins Geschichtliche ge-
wendet wird - ähnlich wie nach ihm Feuerbach setzt er den Akzent auf
Anthropologie und nicht auf Historie -, ist das eine direkte Umkehrung
der aufklärerischen Bedürfnisdoktrin etwa von Smith, Ricardo, Helve- .
tius oder Hege!. (Schopenhauer kannte neben Helvetius und Hegel
zumindest Ricardo 26 - entweder von seiner Lehrzeit her oder auf Grund
seiner Vorliebe für England.)
Gemessen an romantischen Entwürfen war das die erste gesi-
cherte Rortschrittskritik, die sich nicht auf äußere Phänomene des
Pauperismus, Traditionsverlusts, Moralverlusts berief, ein Ansatz, der
die Fortschrittsdynamik nicht nur am Beispiel von Phänomenen be-
schrieb, sondern sie erklärte. Es war kein moralisierender, sondern ein
theoretisch-realgeschichtlicher Ansatz. Wer diesen Ansatz akzeptiert,
kann in weltanschaulicher Hinsicht nur zu pessimistischen Konsequen-
zenkommen.
166
Bloch und Schopenhauer
167
OIafBriese
168
Bloch und Schopenhauer
Anmerkungen
1. Vgl. A. Münster, Utopie, Messianismus und Apokalypse im Frühwerk von
Ernst Bloch, FrankfurtJM. 1982, bes. 194 ff.
2. Vgl. E. Bloch, Thomas Münzer als Theologe der Revolution, FrankfurtJM.
1969,175.
3. Vgl. ebda.
4. Vgl. H. Ball, Zur Kritik der deutschen Intelligenz, Bern 1919, 139 ff., 14 ff.,
223 ff.
5. W I, 469.
6. E. Bloch, Thomas Münzer, a. a. 0.,176.
7. Vgl. E. Bloch, Geist der Utopie (2. Fassung), FrankfurtJM. 1977,345.
8. Vgl. ebda., 344.
9. Vgl. W 1,441,447,448.
10. E. Bloch, Geist der Utopie, a. a. 0., 286.
11. Ebda., 342. . kfurtJM
12. E. Bloch, Philosophische Aufsätze zur objektiven PhantasU!, Fran .
1977,171.
13. Vgl. ebda., 170 ff. .
14. F. W. J. Schelling, Schriften 1804 - 1812, Berhn 1982, 146.
15. J. G. Fichte, Die Bestimmung des Menschen, Stuttgart 1981, 1~4, ~56.
16. A. Schopenhauer, Philosophische Vorlesungen, hrsg. V. SpIerhng, Bd. 4,
München 1985, 231.
17. P 11, 337. .. Bl h F k
18. J. Habermas, Ein marxistischer Schelling, in: Uber Ernst oc, ran-
furtJM. 1968, 61 ff. Vgl. auch A. Wüstehube, Das Denken aus dem Grund. Zur
169
OlafBriese
170
Zur Philosophie des Todes bei Emmanuel Levinas
Von JosefWohlmuth
1. Hinführung
Programmatisch setzt gleich das Erste Kapitel von Jenseits des Seins
(JS) ein, wenn Levinas nach der Transzendenz fragt. Die Rede von der
Transzendenz wäre nur dann sinnvoll, wenn es sich bei ihr um einen
JosefWohlmuth
Übergang zu einem Anderen des Seins, nicht n~r zu einem ,,Anders sein"
auch nicht zu einem "Nichtsein" handelte. "Ubergehen ist hier nicht
gleichbedeutend mit vergehen und sterben." (JS 24) Im Bereich des
Seins wird eine sich auftuende Leere sogleich ausgefüllt "vom stummen
und namenlosen Raunen des Es-gibt" und dies sei so, wie wenn eine
durch den Tod freigewordene Stelle durch das Gemurmel der nachfol-
genden Bewerber übertönt wird.
Das esse des Seins beherrscht selbst das Nichtsein. Mein Tod ist
bedeutungslos. Es sei denn, mein Tod risse die Totalität des Seins
mit sich fort - wie es sich Macbeth in der Stunde seines letzten
Kampfes wünschte ... Sein oder Nichtsein, das ist also nicht die
Frage der Transzendenz. (JS 24 f.)
Daraus folgt für Levinas, daß der Krieg "der Vollzug oder das Drama des
Interessiertseins am Sein" (26) ist und daß somit ein ausschließlich am
Sein interessiertes Menschsein den Tod des anderen Menschen bedeu-
tet.
Schon in seinem früheren Werk Die Zeit und der Andere (ZA)3
hatte sich Levinas von Platons Lehre der Unsterblichkeit abgesetzt.
Platon philosophiere über eine "Welt ohne Zeit" (ZA 64). Das Subjekt
versinkt in eine "kollektive Repräsentation", in ein "gemeinsames Ideal"
(ZA 64). Sobald eine Philosophie das Sein als Gegenwärtigkeit um-
schreibt, spielt der Tod keine Rolle mehr. "Das Problem des Todes
konnte erst wieder wahrhaftig gestellt werden, nachdem der zeitliche
Charakter des Seins anerkannt, die stehende Gegenwart in die Zeit zu-
rückversetzt war."4
Mit der Zeitproblematik verbleibt Levinas einerseits bei einem
Grundthema Heideggers, aber um ihn um so radikaler zu überwinden.
Die Vermittlung zwischen dem Sein als stehendem Augenblick und dem
Sein als Zeit ist bei Levinas eine "Vermittlung zwischen Leben und
Tod"5. Heidegger hatte versucht diese Vermittlung in der "Existenz" als
172
Zur Philosophie des Todes bei Emmanuel Levinas
dem "geworfenen Entwurf' zu sehen, für die gilt, das Leben des Daseins
sei sein Sterben, der Tod gehöre in ~as Leben hinein. Levinas erwartet
schon in seiner frühen Arbeit die Überwindung des Todes nicht mehr
von. eill;em Denken, d.as ..d ie Z~it überwindet und den Zugang zur
EWIgkeIt verschafft. DIe Uberwmdung erwartet Levinas vielmehr von
einer ande~en ~eit, di~ gleichwohl nicht mehr in der Macht des Subjekts
steht. Es 1st eme Zeit der Erneuerung, der Wiedergeburt der Tran-
szendenz, es ist letztlich die messianische Zeit, wie es in T~talität und
Unendlichkeit (TU) heißt6 . Während für Heidegger die Existenz im Tod
zur Höchstform seiner Freiheit kommt, ist der Tod für Levinas eine
letzte Ohnmachtserfahrung: "Was entscheidend ist im Nahen des Todes
ist dies, daß wir von einem bestimmten Moment an nicht mehr könne~
können". (ZA 47)
Dieser Gedanke wird in Totalität und Unendlichkeit aufgenom-
men und fast noch verschärft. 7 Der Tod ist für das Individuum
"unendlich zukünftig", so daß er auch ein Geheimnis bleibt. "Ultima la-
tet". (TU 344) Das Hereinstehen des Todes sei "gleichzeitig Drohung und
Vertagung". "Es drängt und läßt Zeit." Die Drohung erregt Furcht. Der
Augenblick des Todes hat eine eigenartige Struktur. Es ist nicht ein
Augenblick, der sich an der Schwelle zum Nichts oder an der Schwelle
einer Wiedergeburt befindet. Vielmehr liegt der Charakter dieses
Augenblicks nach Levinas "an dem Umstand, daß er im Leben die
Unmöglichkeit jeder Möglichkeit ist". (TU 344)
Schon im Abschnitt mit der Überschrift "Der Atheismus oder der
Wille" in Totalität und Unendlichkeit (66-78) kommt Levinas zentral auf
das Thema Tod. Es geschieht in dem Kontext, in dem der Philosoph
entfaltet, daß die absolute Transzendenz nicht im Modus der Korrelation
zum Seienden gesehen werden darf. (TU 67) Deshalb muß das Subjekt
vom Unendlichen radikal getrennt sein und es gilt: "Das Denken ist das
Ereignis der Trennung" (69). Integrieren lasse sich erst das Seiende, das
tot ist (70). Die Trennung bedeutet für ein Seiendes einerseits, daß es
sich in der Welt einrichten kann und ein eigenes Schicksal hat. Dies
aber bedeutet auch, daß es geboren wird und sterben muß (71). ~vinas
äußert wohl einen zentral jüdischen Gedanken, wenn er memt, d~r
Mensch entkomme dem punktuellen Augenblick des Tode~ n~r dur~h die
Fruchtbarkeit. Dennoch gibt es die Angst vor dem Tod. SIe 1st dann ~e
gründet, daß die Zeit zweideutig ist, indem die Zeit fehlt und zugleIch
noch aussteht:
Was noch aussteht, ist ganz verschieden VOll; der Z~unft, auf die
man zugeht, die man entwirft, und die man 10 geWissem Maß aus
sich selbst erzeugt. Für ein Seiendes, dem alles nach Ma~ga~e
seiner Entwürfe widerfahrt ist der Tod ein absolutes EreIgnIS,
absolut aposteriori; er bietet dem Vermögen keine Handhabe,
173
JosefWohlmuth
nicht einmal Negation. Das Sterben ist Angst, weil das Seiende im
Sterben, während es endet, nicht endet. (TU 72)
Das Seiende erstickt förmlich. Und dennoch bedeutet dies nach Levinas
nicht sein Ende. Die sterbliche Existenz spielt nicht in der allgemeinen
Zeit der Geschichte. Die allgemeine Zeit ist nicht wie ein Absolutes auf
das sich das sterbliche Ich bezieht. '
174
Zur Philosophie des Todes bei Emmanuel Levinss
und Schopenhauer hat ganz richtig erkannt, daß sich dieses Denken ra-
dikal vom griechischen Denken der Ewigkeit unterscheidet.9
N ach diesen Rückblendungen möchte ich nun fortfahren den
Spuren der Philosophie des Todes im Spätwerk zu folgen. Unte~ der
Voraussetzung (die hier nicht zu entfalten ist), daß für Levinas die leib-
haftige Existenz einer anderen Leiblichkeit ausgesetzt ist und bei der
Annäherung des Anderen erdrückt zu werden droht, so daß immer die
Alternative entsteht: Ich oder der Andere, erreicht die Philosophie des
Todes bei Levinas immer leibhaftigere Züge. Und davon ist bereits das
Leben geprägt. Der Tod ist nur die äußerste Konsequenz einer
Metaphysik, die versucht, die Transzendenz von der Leiblichkeit her zu
verstehen, die bei Levinas unter dem schwierigen Terminus der "Rekur-
renz" behandelt wird. Sie steht im größeren Zusammenhang einer
Subjekttheorie, die unter dem Stichwort der "substitution" ("Stellver-
tretung") besonders im 4. Kapitel von Jenseits des Seins eingehend
besprochen wird. Hatte Levinas in Die Zeit und der Andere noch ausge-
führt, das Subjekt wolle beides: sterbend über sich hinausgehen und
leben - "wir wollen zugleich sterben und sein" (ZA 50) -, so verwendet er
in Jenseits des Seins alle Mühe auf die Darstellung der Transzendenz
der Leiblichkeit, wodurch das leibhaftige Subjekt der leibhaftigen Nähe
des Anderen ausgesetzt ist und zwar "über die bloße Haut hinaus, bis
zur tödlichen Verletzung", einer "Entblößung bis zum Tod" (JS 120)10.
Einer Kernspaltung vergleichbar, wie es an der Stelle heißt, in der ein
innerster Kern zerplatzt, wird die den Kern umschließende Schale
gelöst, das Subjekt auf sein äußerstes Punktsein reduziert, soweit, daß
der Eine, der Vorgeladene, "sich von seinem Innersten, das am esse
klebt, trennt - bis dahin, daß er sich, selbstlos vom Sein löst." (JS 121)
Erst so kommt eine Ausgesetztheit zum Ausdruck, die Levinas ein
"Sagen" nennt. Dieses Sagen ist in Wirklichkeit ein leibhaftiges Geben,
in dem sich der "conatus essendi" in sein Gegenteil umkehrt.
175
JosefWohlmuth
Im Schlußkapitel von Jenseits des Seins, in dem Levinas das Ganze sei-
ner Philosophie noch einmal anders sagen will (,,Autrement dit"), kommt
auch die Todesfrage in nochmals anderer Fassung zu Wort. Im Rahmen
des Seins und des "conatus essendi" ist die Dialektik des Seins und des
Nichts Angst vor dem Nichts und folglich Kampf ums Dasein. Auf die
Ironie des Seinsgeschehens gehen nach Levinas möglicherweise sowohl
176
Zur Philosophie des Todes bei Emmanuel Levinas
di~. Komödie al.~ auc~ die Trag?die, aber selbst die eschatologischen
Trostungen zuruck, dIe dem Subjekt suggerieren, letztlich dem Tod und
dem. End~ zu ent~ommen (vg~. JS 376 f.). Levinas fragt, ob sich das
SubJ.ekt mcht vo.r eme AlternatIve gestellt sieht, ja in ihr eingesperrt ist.
Worm besteht dIese Alternative?
Der eine Teil der Alternative wird durch das Verständnis der
IrOJ:üe des sein: und durch die Möglichkeit gebildet, sich mit dem
Umversalen m dem Moment zu verschmelzen, in dem das
D~nken, da~ da~ Ganze umfängt, um darin unterzugehen, an
,mchts wemger denkt ,als an den Tod'. Eingeständnis der
Letztgültigkeit des sein der ausweglosen Immanenz seines ein-
schließenden Spiels; stoische Weisheit in ihren verschiedenen
Spielarten von Zenon bis Spinoza und bis Hegel; Weisheit der
Ergebung und der Sublimierung." (JS 377)
177
JosefWohlmuth
ein "Ignorieren des Seins und des Todes", um eine "Indifferenz gegen-
über dem sein", die aber die ganze Tragweite des "Sich-vom-Sein-Lösens"
zu ermessen hat. Diese Indifferenz ist nicht rein negativ, sondern bedeu-
tet in anderer Hinsicht zugleich eine "Nicht-Indifferenz", die im "anders
als Sein geschieht" letztlich die Beziehung zum Anderen, das "der-Eine-
für-den-Anderen" betrifft (380). Der eigentliche Durchbruch durch die
Phänomenalität des Seins oder dessen Erscheinen im Bewußtsein - und
somit die Durchbrechung der Ontologie - führt nicht in die zeitlose
Ewigkeit, sondern in die Diachronie, die in der creatio ex nihilo eine un-
vordenkliche Vergangenheit, im Tod eine unverfügbare Zukunft eröff-
net. Das Bewußtsein bleibt nicht "bei sich". In es hinein steht die
Unbehaustheit, die Obdachlosigkeit. Ein Raum tut sich auf, in dem das
Subjekt "auf dem Grunde seiner Substanz Lunge sein kann" (384). Das
Subjekt ist der "Atmosphäre ausgesetzt, bis dahin, daß der Wind der
Anderheit den Atem verschlägt" (385). Subjekt, das heißt Passivität, die
passiver ist als die Materie, es heißt ,,(sich) öffnen wie der Raum, sich
durch die Atmung aus der Geschlossenheit in sich befreien" (385). Alle
Philosophie reduziert das Gesagte auf das leibhaftige Sagen, "führt das
Gesagte auf das Atmen zurück, das sich dem Anderen öffnet ... " (386).
Levinas macht sich selbst den Einwand, ob eine solche Phänomenologie
des Atmens nicht etwas rein Animalisches sei (387). Aber er stößt sofort
zu einer Antwort vor, wenn er fragt, ob nicht die Inspiration durch den
Anderen zuletzt zu einer "Expiration" führt, die letztlich "die Seele aus-
haucht"? An dieser Stelle merkt Levinas dann an:
Damit läßt Levinas noch einmal anklingen, was er der Sache nach wie-
derholt schrieb: dem Subjekt müsse der Tod des Anderen mehr bedeuten
als der eigene Tod. Aber der letzte Atemzug wird zum Kuß der Tran-
szendenz, nicht zum verbissenen Opfer, das nur den "conatus essendi"
endgültig in Frage stellt. Insofern könnte man sagen, daß sich hinter der
phänomenalen Subjektivität eine Transzendenz eröffnet, die zuletzt in
der Substitution gründet und damit - für Levinas - in jener "creatio ex
nihilo", die dem Menschen mit der absoluten Grenze zugleich die
Möglichkeit erschließt, sich vom Sein zu lösen und das eigene Leben in
die Waagschale zu werfen, weil gerade die inkarnierte Subjektivität in
ihrer Materialität das Unendliche im Endlichen eröffnet: Die Subjekti-
178
Zur Philosophie des Todes bei Emmanuel Levinas
vität läßt sich nicht auf das Bewußtsein reduzieren sondern auf die
~ib~afti~keit des inkarn!erten Subjekts, in der die Angst umgekehrt
WIrd m em »Des-Interesse, das des permanenten Sich-selbst-Verlierens
im Altem nicht achtet (vgl. JS 237). "Creatio ex nihilo" die bei L~vinas
an verschiedenen Stellen auftaucht und ein ganz z~ntrales Theolo-
gumenon ist, bedeutet für das Subjekt nicht nur, den eigenen Anfang
nicht ableiten zu können - sei es auch von einer heimlichen, voraus-
liegenden Ewigkeit. Unzerstörbarkeit der Materie, von der Platon und
Aristoteies sprechen, wird in der Philosophie nach Levinas zum Inbegriff
der Verdinglichung, die von einer absoluten Passivität, die in der "Idee
der Schöpfung" liegt, nichts weiß:
Das Theorem der "creatio ex nihilo" schließt gerade aus, sich auf einen
gewissermaßen durchhaltenden Faktor berufen zu können, und
Schopenhauer hat das Problem, wie ich bereits oben anmerkte, glasklar
erkannt. Wenn »creatio ex nihilo", dann auch Tod. Gibt es bereits eine
Ewigkeit vor der Geburt, die meine Existenz bestimmt, dann ist der Tod
ein Scheingeschehen. Der Tod reicht letztlich an die mir zugrundelie-
gende Ewigkeit nicht heran. Doch damit stehe ich bereits am Ende mei-
ner Darstellung, die ich nun mit einigen Fragen zur Diskussion mit der
Todesphilosophie Schopenhauers beschließe.
179
JosefWohlmuth
3. Das Sterben ist inmitten des Lebens an jene Inkarniertheit des men-
schlichen Subjekts gebunden, in der das Subjekt zuerst gar nicht "Ich"
ist, sondern "Mich", so sehr, daß "Liebe ohne Eros" das Wunder der
Geschöpflichkeit ist, die nicht in die Grenzen des Seins verbannt, son-
dern zum Gutsein berufen ist. Indem Schopenhauer an einer Stelle sei-
ner Überlegungen davon spricht, daß der Geist der Liebe bis hin zur
Feindesliebe und die damit verbundene Bereitschaft, des eigenen Lebens
nicht zu achten, unmöglich "verfliegen und zu Nichts werden kann"l4,
trifft er sich in diesem Punkt engstens mit Levinas. Während jedoch
Levinas damit sein ganzes Philosophieren inszeniert, scheint mir der
Gedanke bei Schopenhauer leider systematisch folgenlos zu bleiben.
Anmerkungen
1. Thomas Regehly: Der "Atheist" und der "Theologe". Schopenhauer als Hörer
Schleiermachers. Schopenhauer-Jahrbuch 71 (1990), 7-16,8.
2. E. Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, FreiburgIMün-
chen 1992. (Franz. Autrement qu' etre ou au-dela de l'essence, Den Haag 1978.)
3. Vgl. E. Levinas, Die Zeit und der Andere, Hamburg 1984. (Franz. Le temps et
l'autre, Montpellier 1979 [1947])
4. Wolfgang N. Krewani, Emmanuel Uvinas. Denker des Anderen, Freiburg/
München 1992, 101. Krewani ist als Übersetzer und Interpret der Philosophie
von E. Levinas ohne Zweifel einer ihrer profundesten Kenner im deutsch-
sprachigen Raum.
5. Ebda., 102.
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