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Beiträge zur Philosophie Schopenhauers

herausgegeben von Dieter Birnbacher und Rudolf Malter t

Band 1
Schopenhauer in der
Philosophie der Gegenwart

herausgegeben von
Dieter Birnbacher

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Königshausen & Neumann ~12
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Gedruckt mit Unterstützung der Daimler-Benz AG

Dj~ Deutsc~ BjbliotlJ~k - CIP-Ein~ilsa"fnahm~

Schopenhaucr in der Philosophie der Gegenwart / htsg. von


Dieler Bimbacher. - Worzburg : Königshausen und Neumann.
1996
(&iuige zur Philosophie Schopenhauen ; Bd. I)
ISBN 3-8260-1228-3
NE: Bimbacher. Die,er [Hng. J; GT

Cl Verlag Königshawen Ilc. Neumann GmbH. Wilrzburg 1996


Gedruckl auf siurefreiem. allerungsbeslindigem Papier
Umschlag: Hummel / Homeyer / Lang. WOrzburg
Bindung: Rimparer Indwuiebuchbinderei GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Auch die fOlOmechanische Vervielfilligung des Werkes oder von Teilen daraus
(FolOkopie. Mikrokopie) bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags.
Printed in Germany
ISBN 3-8260-1228-3
Inhalt

Vorwort ......................................................................................................... 7

1. Die Aktualität Schopenhauers

RudolfMalter: Was ist heute an Schopenhauers Philosophie aktuell? ..... 9

Alfred Schmidt: Schopenhauer als Aufklärer ........................................... 18

Dieter Birnbacher: Schopenhauer als Ideologiekritiker ......................... .45

Matthias Koßler: Schopenhauers Ethik als Rettung der christlichen


Moral? Probleme und Bedingungen atheistischer Ethik ........................ 59

Georg Küpper: Kommt es darauf an, die Welt zu verändern? Zur Ethik
des Tuns und Lassens ................................................................................ 76

2. Schopenhauer im Kontext

Yasuo Kamata: Die Schopenhauersche Wende der Philosophie-


Einführung in die Philosophie als sanfte Wissenschaft ......................... 101

Wenchao Li: "Der Wille ist meine Vorstellung". Kritische Bemerkungen


zu Schopenhauers Philosophie und der Lehre Buddhas ........................ 119

Rosemarie Neumeister: Schopenhauer und die "Meinung der


anderen" .................................................................................................... 125

Heinz Gerd Ingenkamp: Menschenliebe 'bei Schopenhauer und


i Nietzsche ................................................................................................... 138

Olaf Briese: Willensmetaphysik. Die praxisphilosophischen Ansätze


von Bloch und Schopenhauer ................................................................... 158

JosefWohlmuth: Zur Philosophie des Todes bei Emmanuel Levinas .. l71


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Vorwort

Nicht zufällig wird die Reihe der "Beiträge zur Philosophie Schopen-
hauers" mit einem Band eröffnet, der die Bedeutung Schopenhauers für
die Philosophie der Gegenwart prononciert in den Mittelpunkt rückt.
Schopenhauers Philosophie ist unverkennbar zeitbezogen, ein Werk des
19. Jahrhunderts. Aber die Fragen, auf die sie ausdrücklich oder unaus-
drücklich antwortet, sind weitgehend dieselben, die die professionelle
und die Alltagsphilosophie auch heute bewegen: Wie läßt sich - nach der
kantischen und empiristischen Kritik der Metaphysik - eine Metaphysik
betreiben, die sich statt aus reiner Vernunft aus der Erfahrung herlei-
tet? Läßt sich der Kemgehalt der christlichen Ethik in einer radikal sä-
kularen ethischen Orientierung rekonstruieren? Was kann auch nach
der Erschütterung metaphysischer Gewißheiten die Rede von der "Er-
lösung" des einzelnen bedeuten?
Die Antworten, die Schopenhauers Philosophie auf diese Fragen
gibt, sind uneinheitlicher und in sich gebrochener, als ihm selbst viel-
leicht gegenwärtig war. Aber gerade dadurch sind sie authentischer und
glaubwürdiger als die der deduktiven System philosophien, von denen
sie sich abgrenzt - Ausdruck nicht nur abstrakten konstruktiven Den-
kens, sondern einer konkreten, persönlichen Erfahrung der Welt. Das
mag die Faszination erklären, die nach wie vor von dieser Philosophie
ausgeht, auch wenn sich der Fokus des Interesses im Zeitverlauf ver-
schoben hat. Heute steht - das dokumentiert dieser Band - nicht mehr
primär das romantische Dunkel der Willensmetaphysik, der Unsterb-
lichkeitslehre oder der Philosophie der Musik im Mittelpunkt als
vielmehr Schopenhauers schonungsloser Realismus und das helle, ja
grelle Licht, mit dem in seiner Philosophie noch die ehrwürdigsten und
gehätscheltsten Wahrheiten der Metaphysik als Täuschungen lind
Selbsttäuschungen, Lügen und Lebenslügen entlarvt werden. Neben das
Bild des mystischen Schopenhauer, der von Meister Eckhardt sagte,
"daß er im wesentlichen dasselbe lehre wie er selbst", tritt das Bild des
Aufkläre.'s Schopenhauer, der John Locke gegen Fichte verteidigte und
für den Voltaire nicht weniger als "einer der größten Männer des vori-
gen Jahrhunderts" war. Neben die idealistischen treten die materia-
listischen, neben die spekulativen die empirisch-anthropologischen Züge
seiner Philosophie - etwa seine bedeutende Vorwegnahme der Einsich-
ten der Tiefenpsychologie oder seine biologisch fundierte Gleichsetzung
von leiblichen und seelischen Aspekten des Menschen.
Die in diesem Band zusammengestellten Beiträge gehen zum
größeren Teil auf Vorträge zurück, die nuf der Potsdamer Tagung der
Schopenhauer-Gesellschaft im Dezember 1993 gehalten wurden. Sie
wurden für den Druck ergänzt und überarbeitet. Der programmatische
Text RudolfMalters "Was ist heute an Schopenhauers Philosophie aktu-
ell?u ist einer der letzten, den er vor seinem plötzlichen Tod abschließen
konnte. Der Beitrag von Alfred Schmidt ist die überarbeitete und we-
sentlich erweiterte Version eines Vortrags, den der Verfasser im März
1994 in FrankfurtJM. anläßlich einer Veranstaltung der Schopenhauer-
Gesellschaft gehalten hat. Der Beitrag von Heinz Gerd Ingenkamp geht
auf einen Vortrag vor der Schiller-Gesellschaft im Juli 1993 in Weimar
zurück. Allen Verfassern sei dieser Stelle für die Überlassung der Manu-
skripte gedankt. Gedankt sei auch dem Hessischen Ministerium für
Wissenschaft und Kunst und der Firma Daimler-Benz für die Unter-
stützung der Potsdamer Tagung sowie der Firma Daimler-Benz für die
Gewährung eines Druckkostenzuschusses.

Die Werke Schopenhauers werden nach der von Arthur Hübscher be-
sorgten Ausgabe seiner Sämtlichen Werke, Mannheim 71988 zitiert. Im
einzelnen werden die folgenden Kürzel verwendet:

G Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden


Grunde (Band 1.\
WI Die Welt als Wille und Vorstellung I (Band 2)
WII Die Welt als Wille und Vorstellung II (Band 3)
N Ueber den Willen in der Natur (Band 4 (1)
E Die beiden Grundprobleme der Ethik (Band 4 (I1))
PI Parerga und Paralipomena I (Band 5)
PII Parerga und Paralipomena II (Band 6)
RN Handschriftlicher Nachlaß, hrsg. von Arthur Hübscher,
6 Bände, München 1985
GBr Gesammelte Briefe, hrsg. von Arthur Hübscher Bonn
21987 '
Gespr. Gespräche. Neue, stark erweiterte Ausgabe von Arthur
Hübscher, Stuttgart 1971.
Was ist heute an Schopenhauers Philosophie aktuell?

Von Rudolf Malter

Was philosophisch aktuell ist, bestimmen weder Medien noch Ministe-


rien, sondern allein die, die ernsthaft die Arbeit des Denkens verrichten.
Ihnen kann beunruhigend sein, was anderen überholt erscheint, und
abgedroschen, was gerade modisch angeboten wird. Auch für die Philo-
sophie gilt Charles Peguys bekanntes Wort, morgen sei Homer neu und
nichts sei so alt wie die Zeitung von heute. Trifft es sich daher, daß ein
Philosoph aus einer vergangenen Geschichtsepoche Ansätze zur Lösung
von Aufgaben bereithält, die die Menschen der Gegenwart bewegen, so
wäre es unökonomisch, ihn nicht zu hören und seine Argumente zu er-
wägen.
Schopenhauer ist ein solcher Philosoph. Wo können wir bei ihm
anknüpfen? - Die Hauptpunkte seien im folgenden thesenartig vorgetra-
gen.

1. Schopenhauer zeigt uns, daß es durchaus möglich ist, einen nicht-ra-


tionalen Inhalt philosophisch so zu bearbeiten, daß die rationale Form
des Denkens gewahrt bleibt. Die Tatsache, daß das Wesen der Welt
blinder Drang, vernunftloser Wille ist, bedeutet für ihn nicht, man
könne nicht argumentativ über dieses von ihm neu entdeckte und in den
Vordergrund der Metaphysik gerückte Prinzip menschlichen Seins re-
den. Mit dieser These von der Vereinbarkeit von rationaler philosophi-
scher Sprechweise und vorrationalem Gegenstand steht Schopenhauer
einerseits in der alten Tradition des platonischen l6gon did6nai und an-
dererseits in unserer Epoche, für die es nicht mehr ohne weiteres aus-
gemacht ist, daß der logos die erste Stelle unter den den Menschen lei-
tenden Prinzipien einnimmt. Der oft erhobene Vorwurf, Schopenhauer
sei Irrationalist, übersieht den Umstand, daß Schopenhauer streng auf
wissenschaftliches Philosophieren hält: Wer philosophisch denkt, muß in
abstracto, d. h. in verallgemeinerbaren Sätzen denken - in Sätzen, die in
einem Begründungszusammenhang stehen, der wiederum einer leiten-
den Idee systematischer Einheit unterliegt. Ein "dichtendes Denken",
wie es Heidegger im Anschluß an Nietzsehe vorschwebt, kann auf
Schopenhauers Beifall nicht rechnen.
Gleichwohl heißt für ihn wissenschaftlich formgerecht philoso-
phieren nicht einfachhin deduzieren und das Deduzierte einem geschlos-
senen System einverleiben. Gegen solch ein kettenartiges Räsonieren
hat er seine Konzeption des organischen Zusammenhangs gestellt: Ein
einziger Gedanke hält eine detailreiche Komplexion von Ideen zusam-
Rudolf Malter

men, doch immer so, daß dieses Einende der Freiheit der sich entfalten-
den Reflexionen dient, statt sie zu dirigieren und in ihrer Spontaneität
zu hemmen. Schopenhauer wahrt die Stringenz des Formalen und hält
die Ideen doch vom Zwang eines Regelwerkes frei. Wie könnte man
besser der Vielfalt der Erscheinungen ordnend beikommen, ohne sie
formalistisch zu verfalschen?

2. Die Offenheit, die Schopenhauers System eignet, verdankt sich der be-
wußten Orientierung auch der Metaphysik an der Erfahrung. Zu Recht
kann Schopenhauer sich rühmen, im ständigen Zwiegespräch mit dem,
was die Erfahrung bietet, seine Ideen entfaltet zu haben. Versteht man
die Welt" im Titel des Hauptwerks in erster Linie als "Mensch" und
faßt '~an seine gesamte Lehre im Sinn einer universalen metaphysi-
schen Anthropologie, dann haben wir - was zunächst fremdartig anmu-
ten dürfte - in Schopenhauers Philosophie den Versuch vor uns, sowohl
dem philosophischen Anspruch aufWesenserkenntnis als auch dem auf
Wirklichkeitsfundierung zu genügen. Schopenhauers Anthropologie geht
nicht von einer festen Definition des Menschen aus, sie folgert ebenso-
wenig inhaltliche Bestimmungen des Menschseins aus Begriffen, sie
kommt vielmehr zu ihren Wesensaussagen im Ausgang von dem, was
die anschauliche Welt dem Menschen bietet. Das empirisch Gegebene
wird von Schopenhauer in metaphysischer Intention transparent ge-
macht für das Was, das in den Daten sich nicht erschöpft, ihnen viel-
mehr erst eine zusammenhängende Bedeutung verschafft. Was die Welt,
was der Mensch ist, soll Philosophie in abstracto darstellen - das Dar-
'stellen selbst ist zwar Abstraktion, aber das dargestellte Was gibt in
seiner abstrakten Gestalt gerade seine Wirklichkeitsfülle zu erkennen.
Die Erscheinung erweist sich als das Aufscheinen des Dings an sich -
keines geheimnisvollen Dahinterseins, sondern des bedeutungshaften
Was, das in allen Dingen steckt.

3. Der Gedanke, daß dieses bedeutungshafte Was primär und am eigent-


lichsten in unserem Leib sich zeige, ist eine der Pionierleistungen der
Schopenhauerschen Philosophie. Nicht als ob nicht schon vor ihr dem
Leib gebührende Aufmerksamkeit geschenkt worden sei - wurde dies je-
doch getan, so immer dergestalt, daß dem Leib das Vernunftprinzip vor-
geordnet ';lnd daß mit seiner Hilfe, nicht mit Hilfe des Prinzips Leib,
MetaphYSIk entfaltet wurde. Für Schopenhauer führen rationale Argu-
mentationen, die sich nur auf das Formale der Vernunft stützen vom
bedeutungshaften Was des Menschen weg - hierin erneuert er si~h als
getreuer Schüler Immanuel Kants. Doch Kant hinter sich lassend und in
diesem Punkt wegweisend für die Anthropologie der Zukunft entdeckt
Schopenhauer in der Leiberfahrung das Feld, auf dem das Sein des
Menschen, vorzüglich auch in ethischer Hinsicht, sich enthüllt.
10
Was ist hf>ute an Schopenhauers Philosophie aktuell?

Der entscheidende Schritt auf eine Metaphysik hin, die das


Wesen des Menschen vom Leib her denkt, erfolgt bei Schopenhauer in
der Zweiteilung, ja Dreiteilung des Verstehens des Leibs: der Leib als
Objekt unter Objekten, der Leib als unmittelbares Objekt und der Leib
als Vollzug der Erfahrung von Lust und Schmerz. Diese Dreiheit des
Leibbegriffs ermöglicht es Schopenhauer, das vorrationale Prinzip me-
taphysisch voll zur Geltung zu bringen. Daß der Leib ein Objekt unter
Objekten sei, war in der Geschichte der Philosophie die gängige Auf-
fassung; daß der Leib dagegen zu dynamisieren sei in einen polaren
Vollzug von Lust-Schmerz-Erfahrung und daß kraft solcher Dynami-
sicrung begreiflich wird, was der Mensch ist - dies ist ein stets neu zu
aktualisierendes Thema, das uns durch Schopenhauer gewonnen wurde.

4. Eine sich von der Leibbetrachtung aus entfaltende Reflexion könnte


freilich schnell ihren philosophischen Charakter verlieren - wenn sie
sich in objektivistischer Einstellung mit der Erfahrung befaßte, die der
Lust-Schmerz erfahrende Mensch mit sich selbst macht. Der Leib würde
zu einem Gegenstand bloß empirischer Forschung werden - wogegen
nichts einzuwenden ist, solange sie die Forschung, wie sie heute die
Medizin etwa hinsichtlich des Schmerzphänomens betreibt, nicht erset-
zen will. Aber Schopenhauer, selber Mediziner von Hause aus und wohl-
vertraut mit der zeitgenössischen Biologie, Anatomie und Physiologie,
will sich philosophisch mit der polaren Leiberfahrung befassen - und das
heißt für ihn: Auch im Blick auf den dynamisierten Leibbegriff muß be-
rücksichtigt werden, daß auch die Leiblichkeit kein pures Objekt, son-
dern etwas durch das Erkennen Vermitteltes ist, d. h. auch in der Leib-
reflexion ist in Rechnung zu stellen, daß alles, was auch im'mer ist,
durch das Erkennen - die Vorstellung - hindurchgegangen ist. Die neue
Leibkonzeption, die Schopenhauer entwickelt, untersteht demnach dem
transzendentalistischen Gesamtansatz seiner Philosophie. Da sich
Wirkliches als schon Vorstellungsvermitteltes darbietet und Vorstel-
lungsein die primäre Gegebenheitsweise von Sein überhaupt ist, beginnt
das Philosophieren nicht mit dem Wirklichkeitsprinzip LeiblWille, son-
dern mit dem Prinzip Vorstellung - sie beginnt nicht mit dem metaphy-
sischen, sondern mit dem transzendentalen Prinzip. Sowohl für heutige
Neuentwürfe von Leibmetaphysik als auch für ane anderen Arten der
Zuwendung zum vorrationalen Wirklichen gilt Schopenhauers Vor-
ordnung des Transzendentalen vor das Metaphysische: Transzendental-
philosophie ohne Metaphysik - das zeigt das erste Buch der Welt als
Wille und Vorstellung - bleibt, um an Kants bekannte Metapher anzu-
schließen, leer, aber vor allem: Metaphysik im Sinne einer das bedeu-
tungshafte Was des Menschen aufschließenden Wirklichkeitslehre bleibt
blind ohne Transzendentalphilosophie. Schopenhauer hat im zweiten
Buch der Welt als Wille und Vorstellung auf exemplarische Weise vorge-

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Rudolf Malter

führt wie eine transzendentalistisch konzipierte Leibmetaphysik expli-


ziert 'werden kann. Philosophie im Sinne einer Anthropologie, die ihr
Kernstück in der transzendentalistischen Leibmetaphysik hat, kann an
dem von Schopenhauer Erreichten anknüpfen - sie verfehlt ihre Auf-
gabe, wenn sie hinter es zurückgeht, zu ei~er. bloßen Tra.nszendental-
philosophie oder zu einer bloßen, d. h. realIstIsch-dogmatIschen Meta-
physik.
5. Das zweite Buch des Hauptwerks enthält aber auch dasjenige Stück
von Schopenhauers Gesamtphilosophie, das historisch ebenso eindrucks-
voll wie philosophisch obsolet ist: die Metaphysik der Objektität des
Willens und seiner Objektivationen in der Natur. Aus der jederzeit ak-
tualisierbaren transzendentalistischen Leibmetaphysik leitet Schopen-
hauer init Hilfe eines Analogieschlusses, also mit Hilfe eines bloßen
Begriffsverfahrens, eine transzendente Willensmetaphysik ab. Wir ken-
nen die Schwierigkeit zur GenügC!, vor die uns der Leibmetaphysiker mit
dem Übergang zum Naturphilosophen romantischer Färbung macht:
Der Wille bezeichnet nun nicht mehr nur das menschliche Wollen in
seiner Leibkonkretion, der Wille wird nun das an sich seiende Wirkliche,
das im menschlichen Wollen a fortiori zur Erscheinung kommt, als Prin-
zip aber in allen Dingen waltet - vom Anorganischen bis zum Vernünf-
tig-Lebendigen. Nirgendwo ist Schopenhauer der zu Recht bekämpften
spekulativen Naturphilosophie des Deutschen Idealismus näher als in
der transzendent-metaphysischen Objektivationslehre und in der aus
ihr erschlossenen Ansetzung von Ideen.
Aber auch hier, wo Schopenhauer mehr Zeitverhaftetes zeigt als
sonstwo in seinem Werk, lassen sich aktualisierbare Punkte..von erhebli-
chem Belang ausmachen. Drei wichtige seien kurz genannt:
1. Schopenhauer entwickelt einen neuen Typus von Metaphysik.
An die Stelle der Metaphysik des Grundes setzt er eine Metaphysik, die
als Prinzip die Differenz von Erscheinung und Ding an sich hat. Der
Satz vom Grund, als Erkenntnismittel gebraucht, fuhrt von Gegebenheit
zu Gegebenheit, er ist das Prinzip der Häufung der Daten, aber er kann
das bedeutungshafte Was nicht sichtbar machen. Die Differenz von Ding
an sich und Erscheinung darf zwar nicht, wie Schopenhauer es leider
selber tut, zu einem Instrument einer transzendenten Metaphysik ge-
macht werden - in der Weise, daß die sichtbare Welt die Erscheinung ei-
nes Anderen ist, das selber in keiner ihrer Erscheinungen aufgeht, das
aber ohne Erscheinung für uns zum Nichts würde. Kann man Schopen-
hau~r in .dieser Konzep~ion nicht folgen, so wäre gleichwohl zu erwägen,
ob dIe DIfferenz von Dmg an sich und Erscheinung nicht umgedeutet
werden könnte in die auf den Menschen begrenzte Differenz von Wesen
und Ausd~ck, so da~ Menschsein nun hieße: Ausdruck des bedeutungs-
haft-essentiellen Leiberfahrens sein - eines im unmittelbaren Vollzug
12
Was ist heute an Schopenhauers Philosophie aktuell?

präsenten Erfahrens der Polarität von Lust und Schmerz, welches


Erfahren nun das wahre Ding an sich wäre?
2. Auch wenn man keine transzendente Naturmetaphysik akzep-
tiert, wäre doch zu überlegen, ob man die uns gegebenen Natur-
phänomene ohne Hypostasierung eines Willens-Weltprinzips dyna-
mistisch deuten könnte. Etwa in der Weise, daß man in allen Dingen die
Tendenz erkennt, die Goethe mit "im Sein beharren wollen" kenn-
zeichnete. Eine solche Konzeption hätte weitreichende praktische
Konsequenzen bis hin zur Ökologie. Es würde nämlich in der Natur
selbst der Rechtsanspruch auf Erhaltung angemeldet, und der Mensch
könnte keinen Anspruch auf Beherrschung oder gar Ausbeutung und
Zerstörung der Natur erheben. Schopenhauer hat zwar auch völlig zu-
treffend gesehen, daß der Mensch ohne ein gewisses Maß an N atur-
destruktion nicht existieren kann - der Wille, sagt er metaphorisch,
zehrt an seinem eigenen Fleisch. Doch was die Not gebietet, hat enge
Grenzen, und der Fleisch essende Mensch muß, um zu überleben, nicht
schon alle anderen Tier- und Pflanzenarten in ihrer Existenz gefährden.
Zudem gilt gerade von Schopenhauers Verhältnis zur Natur, daß dieses
in erster Linie ein betrachtendes, kein tätiges oder gar ausbeutendes ist.
Vor allem in der Ästhetik wird sichtbar, daß Schopenhauer mit Goethe
für den Primat des Schauens über das Tun plädiert.
3. Und noch ein letzter wichtiger Aspekt, der sich aus Schopen-
hauers Objektivationenlehre ergibt: Als Teile der Natur gehören Indi-
viduen in den Prozeß, dessen Pole Entstehen und Vergehen sind. Würde
sich nicht viel auch im praktischen Verhalten des Menschen zugunsten
eines besseren Zusammenlebens ändern, wenn die einzelnen Individuen
ernst machten mit ihrer Zugehörigkeit zum großen Prozeßganzen - also
statt der extremen Hetze nach Verschleierung des Sterbens den Tod
annehmen als Los, das dem Leibwesen so zugeteilt ist wie das Leben?
Schopenhauers Affinität zum asiatischen Denken verdankt sich nicht
zuletzt dem Bewußtsein des Eingegliedertseins in ein Ganzes, dem
Leben und Tod so natürlich sind, daß der Mensch sich ihm mit Gelas-
senheit anvertrauen kann.

6. Die Ästhetik Schopenhauers hat wie die Naturmetaphysik des Dritten


Buchs ihre besonderen Schwierigkeiten mit der Ideenlehre. Doch heißt
dies nicht, es ließen sich nicht wesentliche Partien des Buchs für das sy-
stematische philosophische Denken aktualisieren. Ob man in der ästhe-
tischen Kontemplation wirklich Ideen schaut oder etwas anderes erfährt
- von großem Wert ist Schopenhauers Einsicht, daß in der Begegnung
mit dem Schönen der Natur und der Kunst der Schauende aus der
Alltagswelt in ein Verstehen entrückt wird, in welchem die Zweck-
rationalität der Bedürftigkeitsexistenz keine Rolle spielt. Und wenn
Schopenhauer von diesem Entrücktheitszustand sagt, er sie ein nicht-

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Rudolf Malu'r

antizipierbal'er Glücksfall und er dauere nur so lange, bis der Leib sich
wieder mit seinen Ansprüchen melde, dann ordnet er dem ästhetischen
Erleben genau die Funktion zu, die es im Leben der Menschen haben
soll: ein Erleben der Freiheit zu sein, dil? es weder im Handeln der
Menschen noch im bloßem Sein der Natur gibt, die zu erlangen aber die
einzige Bestimmung des Menschen ist.
Viel Aktualisierbares findet sich auch in Schopenhauers Erörte-
rung der einzelnen Künste - denken wir z.B. an seine Konzeption der
Architektur als des Phänomens. in dem sichtbar der Kampf zwischen
Starrheit und Schwere zum Ausdruck kommt oder an seine Dichtungs-
theorie, die uns gleichsam nebenbei ei~e ganze Sprachphilosophie in
nuce mitliefert. Etwas verweilen muß man bei der Musik: Auch wer
nicht mehl' nachvollziehen kann, was Schopenhauer in Anknüpfung an
die Objektivationenmetaphysik über den Parallelautbau von Musik und
Natur ausführt., sollte seine an bleibenden Einsichten reiche Musik-
philosophie konsultieren. Er wird es mit Gewinn tun. Stichwortartig
seien einige HauptresuItate solcher Konsultation genannt: Schopen-
hauer nimmt en passant Hanslieks Plädoyer für die absolute Musik
vorweg - dort, wo er die Selbständigkeit der Musik gegenüber dem Wort
betont und die Affekte als Wirkung, nicht als Gegenstand der musi-
kalischen Konzeption begreift. Schopenhauer erkennt die philosophische
Bedeutung der Dissonanz, er bringt bedenkenswerte Äußerungen zum
Verhältnis von Harmonie, Melodie und Rhythmus. Schließlich können
wir im § 52 des 1. Bands des Hauptwerks und im ergänzenden 39. Kapi-
tel des 2. Bands eine einfühlsame Beethovendeutung lesen.

7. Am aktuellsten an Schopenhauers Philosophie ist zweifelsohne die


Ethik - ihr Autor hat sie selbst als den wichtigsten und ernstesten Teil
seines Systems bezeichnet. In der Tat bietet sie an vielen Stellen
Anknüpfungspunkte für eine ethische Reflexion in der heutigen Zeit.
Auch hier können nur einige Hauptpunkte kursorisch erwähnt werden.
1. Nietzsehe hat den Blick darauf gelenkt, daß Schopenhauer der
erste Philosoph ist, der die Alternative BejahungNerneinung des Lebens
zum Rahmen einer Gesamtbetrachtung der Welt gemacht hat. Zwar
wird diese A.lternative schon in der Antike laut, doch hat das Über-
gewicht der Uberzeugung, das Leben sei, als von den Göttern oder dem
Schöpfergott geschenkt, zu bejahen, diese Alternative in der Ethik er-
drückt. Nur im Kontext der Erörterung des Selbstmords führte sie eine
Randexistenz. Striche man die Basisfunktion dieser Alternative bei
Schopenhauer, so fiele sein System in sich zusammen - ihr Hauptaugen-
merk, nämlich der "Heilsweg" geriete aus dem Blick und Kernstücke der
Ethik wie die Mitleidslehre wankten, ihrer theoretischen Stütze be-
raubt. Schopenhauer braucht sich für die Zentralisierung des Themas
Lebensbejahung/Lebensverneinung gerade in unserer Zeit nicht zu
14
Was ist heute an Schopenhauers Philosophie aktuell?

rechtfertigen - er entspricht vielmehr einer Problemintention, die jeden


über das Leben nachdenkenden Menschen bewegt: ob es angesichts der
Grausamkeit der gesellschaftlichen Realität, ja auch des rein biologi-
schen Teils unserer Existenz, nicht besser sei, überhaupt nicht zu sein
als zu sein.
2. Das führt auf den zweiten Aktualisierungspunkt in Schopen-
hauers Ethik: Unverändert treffend bleibt seine weder von Heidegger
noch anderen Vertretern der Existential-lExistenzphilosophie erreichten
Beschreibung der Grundstruktur des menschlichen Daseins in der
Pendelbewegung von Leiden, Langeweile, Glücksillusion und Tod.
Nirgendwo ist Schopenhauer seiner Intention, auf empirischer Basis zu
philosophieren, nähergekommen als in den Passagen des vierten
Buches, die vom Leben als Leiden handeln.
3. Entsprechend bedeutsam sind die Wege, die er zur Leidens-
überwindung weist: den elementaren Weg der Unrechtsvermeidung
durch die Rechtsordnung und den Staat, die individuell-sozialen
Verhaltensweisen der freiwilligen Gerechtigkeit, der Menschenliebe und
des Mitleids - seiner zu Recht berühmtesten und humansten Lehre,
schließlich den durch den Triebverzicht hindurchführenden Aus-
nahmeweg der Verneinung des Lebens, die in der Welt aus ihr hin-
ausführt. Wer Schwierigkeiten hat mit dem Weg des Triebverzichts, fin-
det besten Ersatz in der Idee der "zweiten Fahrt"- einer Idee, die neben
dem Mitleid den höchsten Rang in Schopenhauers Ethik beanspruchen
darf: die Idee nämlich, daß uns das ungesuchte, durch Schicksal und
Umstände zugefallene Leiden selber zum Kathartikon werde - daß wir
das Leiden in seiner heiligen Kraft erkennen und daß uns darin die
Freiheit zuteil werde, die durch das Streben nach Glück gerade verhin-
dert wird.
4. Ist von der Freiheit und Befreiung die Rede, so ist sofort der
Einwand zu gewärtigen, daß Schopenhauer als entschiedener Gegner
des liberum arbitrium doch wohl nur unter Aufopferung der Konsistenz
seines Systems von Freiheit und Befreiung reden könne. Daß dem nicht
so ist, zeigt sich an dem Nachdruck, mit dem Schopenhauer seine
Handlungstheorie aus zwei Prinzipien verstanden wissen will: Motiv
und Charakter schließen als Handlungsfaktoren beides zusammen, de-
terminierendes Motiv und Charakter, der, als dem außerzeitlichen
Willen angehörig, nur durch eine intelligible Tat zustandekommen
kann. Mit der Leugnung einer Freiheit des Handeins tut sich wohl kaum
jemand schwer - in keiner Epoche wurde ja die Macht der Lebens-
umstände, der Herkunft und der gesellschaftlichen Beeinflussung für
unser moralisches Handeln so stark betont wie in der unsrigen; ganze
Wissenschaften mit besonderer Auswirkung auf die praktische
Rechtsprechung und auf die Erziehung haben sich die Determinismus-
these, die Schopenhauer vehement vertritt, der Sache nach zu eigen

15
Rudolf Malter

gemacht. Aber wer kann als Ethiker etwas mit der intelligiblen Tat
anfangen? Derjenige, der die Verantwortlichkeit des Menschen an-
erkennt - und Schopenhauer hat sie sehr genau bestimmt: als das
Bewußtsein, daß ich der Täter meiner Taten bin und kein anderer und
kein anderes außer mir. In seiner Weise ist Schop~nhauer nicht weniger
rigoristisch als der von ihm in der Ethik heftig bekämpfte Kant: Man
muß zwar die vielfältigen Einflüsse der Motive bei der sittlichen
Beurteilung eines Menschen berücksichtigen, aber man kann ihn wegen
der Vielfältigkeit der Motivation nicht aus der Verantwortung entlassen.
Und Schopenhauer legt, wenn man seinen Lasterkatalog ansieht,
strengste Maßstäbe an. Nicht bloß die Individuen werden ob ihres ag-
gressiven Egoismus, der in individuelle Destruktion führt, getadelt,
sondern auch - vor allem - führt Schopenhauer einen Kampf gegen Aus-
beuter, Sklavenhalter, Menschenschinder, Kolonialisten, Rassisten und
Tyrannen, beständen sie nun aus einzelnen Machthabern oder aus dem
allzeit zu Schandtaten bereiten Mob.
5. Schließlich ist noch auf einen Hauptpunkt der Schopenhauer-
schen Ethik hinzuweisen, mit dem er immer, wo Menschen nach dem
Guten fragen, präsent wird: Er hat uns mit dem Prinzip "Verletze
niemand, sondern hilf jedem, so weit du kannst" eine Orientierungsnorm
an die Hand gegeben, deren wir uns in den andrängenden Problemen
der Zeit getrost bedienen können. Wenn heute z. B. von medizinischer
Ethik, besser: von den besonderen ethischen Problemen in der medizi-
nischen Praxis, die Rede ist, so löst zwar Schopenhauers Prinzip die
jeweils konkreten Fälle nicht unmittelbar auf, aber es gibt einen un-
bezweifelbaren Richtwert an, wie die Einzelfälle, z. B. die Abtreibung
oder die Genmanipulation - gleichsam mit einer conditio si ne qua non -
argumentativ angegangen werden können.

8. Zum Abschluß müßten noch zahlreiche Einzelstücke genannt werden,


mit denen der Philosoph heute fruchtbar wuchern könnte. Ich beschrän-
ke mich auf zwei Hinweise. Zum einen auf Schopenhauers singuläres
Verdienst um eine Philosophie der Lebensalter (in den Aphorismen zur
Lebensweisheit) und auf die Uniuersitätskritik. Sie ist in ihren Grund-
zügen aktueller als je zuvor. Die von Schopenhauer angeprangerte
Verderbnis der akademischen Sitten und speziell der Philosophie durch
Geldgier, Machtgeilheit, Postenjägerei, Renommistenturn kann sich
auch heute nur mühsam hinter dem Jammer verstecken, das Fiasko an
unseren Universitäten habe politische, finanzielle oder bildungsorgani-
satorische Ursachen. Wer lange genug akademisch existiert hat, weiß,
daß der Ursprung der Kalamitäten, über die heute die gelehrte Welt
schreit, letztlich in der Insuffizienz der Individuen gründet, die
lautstark den Ton angeben und geheim die Verhältnisse lenken. Das
darf man gewöhnlich nicht sagen, aber wenn wir bei Schopenhauer wei-

16
Was ist heute an Schopenhauers Philosophie aktuell?

len, ist das Maulkorbtragen nicht erlaubt. Und das ist noch ein letzter
Aktualitätspunkt: Lassen wir uns durch die Macht nicht das freie Ver-
nunfturteil verderben. Halten wir es mit Schopenhauer und seinem
einstmals von einem Despoten gebeutelten Lehrer Kant: Bleiben wir
auch in Nöten rücksichtslos aufrichtig.

17
Schopenhauer als Aufklärer

von Alfred Schmidt

Schon der Versuch, die Schopenhauersche Philosophie im Kontext von


Aufklärung zu interpretieren, wird all jene befremden, die mit ihr noch
immer politische Reaktion, Kult des Irrationalen, kurz Gegenaufklärung
verbinden. Sie sind entweder ideologisch verblendet oder halten sich ans
bloße Gerücht. Schopenhauers Schriften sprechen eine andere Sprache.
Sie bekennen sich nicht nur zur Verstandeshelle des achtzehnten Jahr-
hunderts, sondern knüpfen auch, sachlich wie kritisch, an dessen mora-
lisch-philanthropische Bestrebungen an. Auf beide Aspekte von Scho-
penhauers Verhältnis zur Aufklärung ist im folgenden einzugehen.
Mit Zorn stellt Schopenhauer fest, daß "das ehrwürdige Wort
Aufklärung" schon zu seiner Zeit "eine Art Schimpfwort" geworden ist;
"die größten Männer des vorigen Jahrhunderts, Voltaire, Rousseau,
Locke, Hume, werden verunglimpft, diese Heroen, diese Zierden und
Wohlthäter der Menschheit, deren Ruhm ... nur noch dadurch verherr-
licht werden kann, daß jederzeit und überall, wo Obskuranten auftre-
ten, solche ihre erbittertsten Feinde sind - und Ursache dazu haben"l
Entschieden identifiziert sich der Philosoph mit dem Kampf der
Aufklärer gegen Aberglauben, Fanatismus, religiöse Intoleranz und ra-
tionalistischen Dogmatismus. Sein wichtigster, die eigene Lehre bestäti-
gender Gewährsmann ist Voltaire, dem er hoch anrechnet, in der Vor-
rede zu seinem Gedicht Le desastre de Lisbonne die Unvereinbarkeit von
Optimismus und Christentum dargetan zu haben. Ferner sei Voltaire,
auch hierin Rousseau überlegen, zu drei bedeutsamen Einsichten
gelangt: ,,1) die von der überwiegenden Größe des Uebels und vom
Jammer des Daseyns, davon er tief durchdrungen ist; 2) die von der
strengen Necessitation der Willensakte; 3) die von der Wahrheit des
Locke'schen Satzes, daß möglicherweise das Denkende auch materiell
seyn könne"2. Hierin sieht Schopenhauer seinen metaphysischen Pessi-
mismus, seinen Determinismus und seine Lehre vom physischen Cha-
rakter des Intellekts vorweggenommen.
Fragwürdig, ja widersinnig erscheint Schopenhauer an der Auf-
klärung, daß die meisten ihrer Verfechter dazu neigen, das heute oder
künftig Mächtige mit dem gleichzusetzen, was sein soll. Angesichts der
überwältigenden Negativität des Weltlaufs verwirft Schopenhauer den
Fortschrittsglauben etwa Rousseaus, den er sonst als "größten Morali-
sten der ... neuern Zeit" und "tiefe[n] Kenner des menschlichen Her-
Schopenhauer als Aufklärer

zens"3 zu schätzen weiß. Eine "ursprüngliche Güte" und "unbegränzte


Perfektibilität" des Menschengeschlechts, "welche bloß durch die Civi-
lisation und deren Folgen auf Abwege gerathen"4 sei, vermag Schopen-
hauer nicht anzunehmen. Selbst der von Kant, dem größten deutschen
Aufklärer, vorsichtig erwogene "Endzweck" der Weltgeschichte 5 böte,
davon ist er überzeugt, für das den Stufengang seiner Verwirklichung
kennzeichnende Elend der Individuen keinen Ausgleich. Eine sich auch
über die Aufklärung aufklärende Philosophie verzichtet auf diese gut-
gemeinte, aber unhaltbare Konstruktion.
Aus heutiger Sicht fällt auf, in welchem Maße Schopenhauers
Kritik am aufklärerischen Fortschrittsglauben auch auf seiner Einsicht
in die Knappheit natürlicher Ressourcen beruht. "Die Thiere", erörtert
Schopenhauer den Sachverhalt,

haben an Organen und Kräften gen au und knapp so viel erhalten,


wie zur Herbeischaffung ihres Lebensunterhalts und Auffütterung
der Brut, unter äußerster Anstrengung, ausreicht; daher ein
Thier, wenn es ein Glied, oder auch nur den vollkommenen Ge-
brauch desselben, verliert, meistens umkommen muß. Selbst vom
Menschengeschlecht, so mächtige Werkzeuge es an Verstand und
Vernunft auch hat, leben neun Zehntel in beständigem Kampf mit
dem Mangel, stets am Rande des Untergangs, sich mit Noth und
Anstrengung über demselben balancierend. Also durchweg, wie
zum Bestande des Ganzen, so auch zu dem jedes Einzelwesens
sind die Bedingungen knapp und kärglich gegeben, aber nichts
darüber: daher geht das individuelle Leben in unaufhörlichem
Kampfe um die Existenz selbst hin; während bei jedem Schritt der
Untergang droht. '" Die Welt ist folglich so schlecht, wie sie mögli-
cherweise seyn kann, wenn sie überhaupt noch seyn so11. 6

Schopenhauers unbestechliche Erkenntnis der metaphysischen Nega-


tivität des Weltlaufs begründet seine Ethik einer solidarischen Leidens-
gemeinschaft aller endlichen, im Universum verlassenen Wesen. Sie be-
ruht ausschließlich auf Mitleid, dem Urphänomen der Moral. Solange es
Armut und Mangel gibt, findet sich, wer sehen kann, nicht damit ab.
Glücklich wird er nicht. Das Höchste, betont Schopenhauer, "was der
Mensch erlangen kann, ist ein heroischer Lebenslauf Einen solchen
führt Der, welcher, in irgend einer Art und Angelegenheit, für das Allen
irgendwie zu Gute Kommende, mit übergroßen Schwierigkeiten kämpft
und am Ende siegt, dabei aber schlecht oder gar nicht belohnt wird". 7
Auch die zur verändernden Tat, zur Abschaffung des Elends treibende
Idee stiftet keinen letzten Sinn. Sie vermag die Marxsche "Vorgeschich-
te der menschlichen Gesellschaft"8 nicht zu beenden. Diese bleibt trotz
des Bemühens einzelner verstrickt in bloße Natur. "Das heroische,

19
Alfred Schmidt

schließlich das heilige Leben, ohne Ideologie", kommentiert Horkheimer


den Gedanken Schopenhauers, "ist die Konsequenz des Mitleids, der
Mitfreude, des Lebens in den anderen; die Einsichtigen können es nicht
lassen, gegen den Schrecken zu kämpfen, bis sie hinübergehen."9

II

N ach dieser Erinnerung an Schopenhauers - bei aller geschichtsphiloso-


phischen Skepsis - positives Verhältnis zum achtzehnten Jahrhundert
sind systematische Motive seines eigenen Denkens zu erörtern, die ihn
zum Aufklärer im authentischen Sinn machen. Ausgangspunkt ist dabei
Schopenhauers antitheologisches Selbstverständnis:

Die Spaaßphilosophen kennen nicht einmal das Problem der


Philosophie. Sie vermeinen, es sei Gott. Von dem gehn sie, als ei-
nem Gegebenem, aus, mit dem haben sie es durchweg zu thun, ob
er in der Welt, oder draußen sei, ob er sein eignes Selbstbewußt-
sein habe, oder sich des Menschen bedienen müsse, und solche
Possen ohne Ende. Die Welt die Welt, ihr Esel! ist das Problem der
Philosophie, die Welt und sonst nichts! 10

Früh schon legt Schopenhauer sich Rechenschaft ab darüber, daß seine


Philosophie sich "mit den Dogmen der Jüdisch-Christichen Glaubens-
lehre in einem zwar nirgends ausgesprochenen, aber sich stillschwei-
gend unleugbar ergebenden Widerspruch"ll befindet. Für wesentlicher
noch hält es Schopenhauer, daß seine Philosophie den auf die Griechen
zurückgehenden "Grundirrthum" korrigiert habe, es sei "in allen N atur-
wesen etwas der Erkenntniß und dem Intellekt des Menschen Analoges
nachzuweisen"12. Er erst habe "nach Jahrtausenden des Philosophie-
rens" gezeigt, daß Wollen keine "Funktion des Intellekts" ist, sondern
umgekehrt; anstatt das eigentliche Wesen des Menschen auszumachen,
erweist der Intellekt sich "durchweg als das Sekundäre, Untergeordnete
und Bedingte"13. Grundfalsch ist daher die uralte Ansicht, das Welt-
ganze sei von einem Intellekt ausgegangen. 14 Aber "nicht ein Intellekt
hat die Natur hervorgebracht, sondern die Natur den Intellekt"15. Die
Natur hat keinen zeitlichen Anfang und schon gar keinen logisch-
sinnhaften.
Es versteht sich, daß diese Ausgangsthese Schopenhauer -
ebenso unerbetene wie berechtigte - Sympathien seitens der Materia-
listen der nachachtundvierziger Reaktionszeit eintragen mußte. So ist
Schopenhauer in Feuerbachs Sicht ein "von der ,Epidemie' des Materia-
lismus angesteckter Idealist"16. Büehner betont, Schopenhauer stimme
mit den materialistischen Naturforschern hinsichtlich der "Unvergäng-

20
Schopenhauer als Aufklärer

lichkeit der Materie"l7 überein. Sie allein könne ihm zufolge als "absolut"
gelten; er spreche ihr Denkfähigkeit zu und erblicke in der Seele eine
"organische Funktion des Gehirns"l8. Auch Dühring zollt Schopenhauer
Anerkennung. Zwar bleibe seine Erkenntnislehre dem "nachkanti-
schen Traumideologismus"l9 verhaftet. Es sei jedoch "einer der Haupt-
vorzüge des Schopenhauerschen Gedankenkreises, dass er nicht eine
Idee oder ein System von Ideen in das ursprüngliche Fundament der
Dinge hineindichtet"2o. Insofern "Widersacher der falschen Ideologie",
habe Schopenhauer "dieselbe dadurch bei ihrer Wurzel angegriffen, daß
er nicht diese oder jene Ideen, sondern überhaupt die ganze Voraus-
setzung verwarf, dass bewusste Vorstellungen als hervorbringender
Grund der thatsächlichen Welt vorausgesetzt werden könnten"2l.
Affinitäten Schopenhauers zum Materialismus, die bis in seine
pessimistische Metaphysik hineinreichen, sind unübersehbar. Immer
wieder stößt man in seinen Schriften auf Stellen, die sich materialisti-
scher Interpretation anbieten. So erklärt Schopenhauer: "Materialität
ist es allein, die das reale Ding vom Phantasiegebilde, welches denn
doch nur Vorstellung ist, unterscheidet."22 Anderswo glaubt er den nach-
kantischen Begriff des Absoluten dadurch zu diskreditieren, daß er ihn
mit dem der Materie gleichsetzt. "Wollen die Herren", ruft er zornig aus,
"absolut ein Absolutum haben; so will ich ihnen eines in die Hand geben,
welches allen Anforderungen an ein Solches viel besser genügt, als ihre
erfaselten Nebelgestalten: es ist die Materie. Sie ist unentstanden und
unvergänglich, also wirklich unabhängig und quod per se est et per se
concipitur: aus ihrem Schooß geht Alles hervor und Alles in ihn zurück:
was kann man von einem Absolutum weiter verlangen?"23 Beide Be-
legstellen werten die Materie ontologisch auf, wohingegen Schopenhauer
ihr sonst jede Eigenständigkeit abspricht und erklärt, sie gehöre "dem
bloß Formellen unserer Vorstellung" an, "nicht aber dem Dinge an
sich"24. Der Widerspruch ergibt sich daraus, daß Schopenhauer einer-
seits, in der Nachfolge Kants, Ideales und Reales, erscheinende und an
sich seiende Welt scharf auseinanderhält, andererseits jedoch beide
Sphären durch die Materie verknüpft sieht. 25 Dieser fallt so eine zwie-
spältige Rolle zu. Bald verflüchtigt sie sich, erkenntnistheoretisch be-
trachtet, zum wesenlosen Schein eines in ursächlichem Wirken sich er-
schöpfenden Gewebes, bald fungiert sie, unter metaphysischem Aspekt,
als reales Substrat des Weltwillens und seiner Manifestationen.
Nachdrücklich verweist denn auch Bloch auf die materialistische Seite
der Schopenhauerschen Metaphysik: "Die Willenswelt steigt ... vom
Mechanismus über Chemismus, Animalität und dergleichen zum Be-
wußtsein auf; die Stufen dieses Aufstiegs aber heißen - ganz ohne Bezug
zum Subjekt - ,Objektitäten' oder ,Objektivationen' des Willens."26 Statt
des "bloß Formellen unserer Vorstellung"27 wird Materie hier zur an-
schaulichen Realität: "Zähne, Schlund und Darmkanal sind der objekti-

21
Alfred Schmidt

virte Hunger; die Genitalien der objektivirte Geschlechtstrieb."28 Im


Gegensatz zu Raum und Zeit, konzediert Schopenhauer als Metaphy-
siker, gehört die Materie, da sie "zugleich ein nur aposteriori gegebenes
Element enthält", nicht allein "dem formalen Theil unserer Erkenntniß"
an. Als "Anknüpfungspunkt" ihres "empirischen Theils an den ... apriori-
schen" bildet sie den "Grundstein der Erfahrungswelt"29 .. Schopenhauer
nennt daher die Materie

Dasjenige, wodurch der Wille, der das innere Wesen der Dinge
ausmacht, in die Wahrnehmbarkeit tritt, anschaulich, sichtbar
wird. In diesem Sinne ist also die Materie die bloße Sichtbarkeit
des Willens, oder das Band der Welt als Wille mit der Welt als
Vorstellung. Dieser gehört sie an, sofern sie das Produkt der Funk-
tionen des Intellekts ist, jener, sofern das in allen materiellen
Wesen ... sich Manifestirende der Wille ist .... Was daher in der
Erscheinung, d. h. für die Vorstellung, Materie ist, das ist an sich
selbst Wille. 3o

Gleichwohl hütet Schopenhauer sich hier, die Materie mit dem Ding an
sich gleichzusetzen; sie gehört auch als dessen "Sichtbarkeit" zur phä-
nomenalen Welt, unterworfen den Formen subjektiven Erkennens.3 1 Da
aber das Wesen bei Schopenhauer (wie in Hegels Dialektik, die er ver-
achtet) erscheinen muß, fehlt es in seinem Hauptwerk nicht an Über-
gängen von der erscheinenden zur an sich seienden Welt. Vermittelt
werden 'sie zunächst durch formale Charaktere wie Einheit, Ganzheit,
Substanz und Unzerstörbarkeit, die der Materie als "Sichtbarkeit" des
Willens ebenso zukommen wie diesem selbst. Eine inhaltliche Überein-
stimmung von Materie und Wille tritt hervor 'auf den höheren Stufen
des Organischen. Hier wird die Materie vom bloß wahrnehmbaren Wil-
len zu dessen Material. Sie erweist sich, so Bloch, als "das Fleisch, das
das fressende Tier, als Objektivation des stärkeren Willens, dem gefres-
senen des schwächeren Willens entreißt, und um das hier aller Streit
geht"32. Die derart entstehende Rangfolge von Objektivationen des Wil-
lens offenbart jedoch, daß dieser selbst leer ist:

da nichts außer ihm existiert, so zerreißt der Wolf, der das Lamm
zerreißt und dessen Materie frißt, allemal sich selbst, in bloßer
Entzweiung des Einen Willens. Hier wird die Überraschung groß:
Materie und Wille rücken endgültig zusammen; denn es ist ...
Wille, den der Wille in Gestalt von Materie frißt, immer nur der
gleiche, der Eine Wille, ohne Täuschung der Vielheit, der ver-
schiedenen Individuationen, wo nicht gar der Objektivationen.33

22
Schopenhauer als Aufklärer

Die Differenz zwischen Sichtbarkeit und Inhalt des Willens verschwin-


det; fressender Wille und gefressene Materie erweisen sich als identisch.
Das spricht denn auch der späte Schopenhauer unverblümt aus: "Der
Wille, als das Ding an sich, ist der gemeinsame Stoff aller Wesen, das
durchgängige Element der Dinge."34
Die Materialismen der Schopenhauerschen Philosophie stehen
unter transzendentalem Vorbehalt. Schopenhauer sieht sie relativiert
durch seine "idealistische Grundansicht"35. Diese erlaubt es ihm einer-
seits, die erscheinende Welt als eine durch den animalischen wie men-
schlichen Erkenntnis-Apparat bedingte Größe zu betrachten, anderer-
seits daran festzuhalten, daß sie (da auch Erkennen zur Welt gehört) ih-
rem Wesen nach "durch sich selbst und aus sich selbst (ist)"36. Das theo-
logische Woher, Wozu oder Wohin der Welt kümmert Schopenhauer
nicht; ihn bewegt die philosophisch allein zulässige Frage nach ihrem
Was. Daß ein personhaftes Geistwesen "Ursprung der Welt" sei, ist für
Schopenhauer "an sich selbst ein so kolossaler Gedanke ... , daß außeror-
dentliche Dreistigkeit dazu gehört, den Leuten aufbinden zu wollen, er
verstehe sich von selbst"37. Dabei ist der Theismus schon naturwissen-
schaftlich unhaltbar. Die kopernikanische Astronomie, erklärt Schopen-
hauer, "hat nämlich die Welt so ausgedehnt, daß für ... Gott kein Raum
übrig bleibt"38. Zwingender noch ergibt sich der Atheismus, den Scho-
penhauer geradezu als point d 'honneur des Philosophen betrachtet, aus
der Einsicht in die essentielle Beschaffenheit des Seienden. Das endlose
Leiden, das die Welt erfüllt, verbietet es, dieser einen vernünftigen, all-
mächtigen und allgütigen Urheber voranzustellen. Der jüdisch-christ-
liche Theismus scheitert am Problem der Theodizee.3 9
Vollends unannehmbar ist für Schopenhauer der Pantheismus:
"Das wäre ein sauberer Gott, der verkörpert nichts Besseres darstellte,
als diese zappelnde, leidende, blutende, sterbende Welt, deren Wesen
eines das andre fressen und nur dadurch bestehn. Eine herrliche Theo-
phanie!"40 Vielleicht, gibt Schopenhauer zu bedenken, ist es zur panthei-
stischen Verklärung sei's der Natur, sei's des Geschichtsverlaufs nur
deshalb gekommen, weil man den noch gröberen Irrtum eines persönli-
chen, die Welt aus Nichts hervorbringenden Gottes ebenso vermeiden
wollte wie einen unumwunden ausgesprochenen Atheismus: "Weil man
also nicht direkt die Existenz eines weltschaffenden Gottes leugnen
durfte, that man es indirekt, indem man sagte, er selbst sei die Welt:
und obwohl man so ihn aufhob und bloß die Welt unter einem andern
(freilich sehr unpassenden) Namen stehn ließ, so war dies doch hinrei-
chend zur Beruhigung des an Worten klebenden Vulgus."41 Betrachtet
man die Welt bloß von außen, so kann ihre Ordnung und Unver-
gänglichkeit dazu verführen, sie mit Gott gleichzusetzen. Der Blick ins
Innere belehrt jedoch eines anderen; erwägt man nämlich "die morali-
sche Seite mit ihrem Uebergewicht von Qual, Sünde, Bosheit, Verkehrt-

23
Alfred Schmidt

heit", dann "könnte man eher als zum Pantheismus zum Pandiabo-
lismus sich geneigt finden"42.
Wert legt Schopenhauer auf die Feststellung, daß seine All-
Einheitslehre sich grundlegend von der des Spinozismus unterscheide.
Dieser geht, was Schopenhauer anerkennt 43 , über die cartesianischen
Dualismen hinaus, indem er darlegt, "daß Alles Eins sei, ein Wesen in
allen Dingen"44. Retten freilich, davon ist Schopenhauer überzeugt, läßt
dieser Gedanke sich nur in enttheologisierter Form. Das Prinzip deus
sive natura streift zwar die traditionellen Wesenszüge Gottes ab. Es
bleibt jedoch dem Judentum durch seinen Optimismus verhaftet. 45
Damit, betont Schopenhauer, geht einher, daß Spinoza von der Wirklich-
keit der Welt auf ihre Notwendigkeit schließt. Problematisch indessen
werden Dasein und Beschaffenheit der Welt nur dadurch, daß letztere
keine "im pantheistischen Sinne ... absolute Substanz ist", kein "schlecht-
hin nothwendiges Wesen"46. Daher Schopenhauers entschiedene Absage
an die (auf Bruno zurückgehende) Lehre Spinozas, Möglichkeit und
Wirklichkeit alles (in und durch Gott) Bestehenden seien identisch. Sie
impliziert die Unmöglichkeit seines Nicht- oder Andersseins. Nun beruht
aber Schopenhauer zufolge "die Unruhe, welche die Uhr der Metaphysik
in Bewegung erhält", auf dem "Bewußtseyn, daß das Nichtseyn dieser
Welt eben so möglich sei, wie ihr Daseyn"47. Das eigentlich "philosophi-
sche Erstaunen"48 über die Welt hebt an mit der Einsicht, daß sie etwas
ist, "dessen Nichtseyn nicht nur denkbar, sondern sogar ihrem Daseyn
vorzuziehn wäre; daher unsere Verwunderung über sie leicht übergeht
in ein Brüten über jene Fatalität, welche dennoch ihr Daseyn hervor-
rufen konnte"49. Der Anblick des Bösen, des Übels und des Todes ver-
setzt die Menschen in beständige Unruhe. Zum ,.punctum pruriens" der
Metaphysik wird nicht nur, "daß die Welt vorhanden, sondern noch
mehr, daß sie eine so trübsälige sei"5o.
Die Faktizität der Welt ist ebenso unableitbar wie das schlecht-
hin "Unerklärliche"51, worauf jede wissenschaftliche Erklärung über
kurz- oder lang stößt, die Einzelsachverhalte auf Ursachen zurückführt,
diese auf Naturgesetze und sie wiederum auf Naturkräfte, deren Her-
kunft dunkel bleibt. Dieses durch alle Erscheinungen hindurchgehende
"Unerklärliche" deutet Schopenhauer als "Anweisung auf eine der phy-
sischen Ordnung der Dinge zum Grunde liegende ganz anderartige,
welche eben Das ist, was Kant die Ordnung der Dinge an sich nennt"52.
Auf sie richtet Metaphysik ihr vorrangig ethisches Interesse, beruht
doch das Credo "aller Gerechten und Guten" auf "der Erkenntniß, daß
die Ordnung der Natur nicht die einzige und absolute Ordnung der
Dinge sei"53. Dem Naturalismus entgeht, daß die objektive Welt, an der
er sich orientiert, Erscheinung, nicht Ding an sich ist. Nichts aber, er-
klärt Schopenhauer, "(kann) täppischer seyn ... , als daß man, nach Wei-
se aller Materialisten, das Objektive unbesehens als schlechthin ge-

24
Schopenhauer als Aufklärer

geben nimmt, um aus ihm Alles abzuleiten, ohne irgend das Subjektive
zu berücksichtigen, mittels dessen, ja in welchem, allein doch jenes da-
steht"54. Wird aber diese Einsicht emstgenommen, so erweist sich die
Unentbehrlichkeit einer Metaphysik, die das Ganze der Dinge moralisch
bewertet. Während der naturwissenschaftlich begründete Atheismus des
neunzehnten Jahrhunderts als selbstgenügsame Wahrheit auftritt und
seine Verfechter der Welt "bloß eine physische, keine moralische Bedeu-
tung" zuerkennen, ist Schopenhauer - gerade als Atheist - davon über-
zeugt, daß sie "allemal sich als Mittel darstellt zu einem höheren
Zweck"55.
Freilich kann Schopenhauers entschiedenes Bekenntnis zur
Metaphysik nicht über den Abgrund hinwegtäuschen, der seinen Volun-
tarismus etwa von Platon und Aristoteles trennt. Jenes "universelle
Grundwesen aller Erscheinungen", das Schopenhauer "nach der Manife-
station, in welcher es sich" - im natürlichen Selbstbewußtsein - "am un-
verschleiertsten zu erkennen gibt"56, Wille nennt, ist nämlich kein positi-
ves' zu verehrendes Prinzip. Folgt idealistische Metaphysik seit je dem
Grundsatz, Güte und Vollkommenheit eines Wesens wüchsen mit
dessen Realität und Beständigkeit; das Ewige, Realste sei das Ansich-
Seiende, wonach die Menschen sich zu richten hätten, so lehrt Schopen-
hauer die moralische Verwerflichkeit des Wesens der wechselnden
Dinge. 57 Horkheimer erblickt denn auch

Schopenhauers umwälzende philosophische Leistung ... vor allem


darin, daß er den ursprünglichen Dualismus, wie er bis zu Kant
das Grundmotiv gebildet hat, dem reinen Empirismus gegenüber
festgehalten und doch die Welt an sich ... nicht vergottet hat ... Die
Doktrin vom blinden Willen als dem Ewigen entzieht der Welt den
trügerischen Goldgrund, den die alte Metaphysik ihr bot. Indem
sie ... das Negative ausspricht und in Gedanken bewahrt, wird das
Motiv zur Solidarität der Menschen ... überhaupt erst freigelegt,
die Verlassenheit. Keine Not wird je in einem Jenseits kompen-
siert. Der Drang, ihr im Diesseits abzuhelfen, entspringt der
Unfähigkeit, sie mit vollem Wissen dieses Fluchs mit anzusehen
und zu dulden, wenn die Möglichkeit besteht, ihr Einhalt zu tun ...
Wider das unbarmherzige Ewige dem Zeitlichen beizustehen,
heißt Moral im Schopenhauerschen Sinn. 58

Das Was der ihrem Dasein nach kontingenten Welt enträtselt das Wort
Wille; allerdiI'gs, fügt Schopenhauer hinzu, "nur innerhalb gewisser
Schranken, die von unserer endlichen Natur unzertrennlich sind,
mithin so, daß wir zum richtigen Verständniß der Welt selbst gelangen,
ohne jedoch eine abgeschlossene ... Erklärung" ihres Wesens "zu
erreichen"59. Schopenhauer (der selten von seinem "System"60 spricht)

25
Alfred Schmidt

spielt hier an auf die unbeantwortbare, weil transzendente Frage, ob


Kants Ding an sich im Willen vollständig oder nur teilweise erkannt
werde. Andererseits überwiegt bei ihm das Vertrauen, eine einheitliche,
erkenntniskritisch abgesicherte Weltkonzeption vorzulegen. 61 Von
idealistisch-sinnverleihenden Entwürfen unterscheidet Schopenhauers
Lehre sich dadurch, daß sie den von Platon bis Hegel metaphysisch
verbindlichen Begriff der Vernunft entthront. Das Wesen der Dinge, der
Wille, ist ihr zufolge scharf zu trennen von aller Erkenntnis; es ist "ein
blinder Drang, ein völlig grundloser unmotivirter Trieb"62. Er "drängt
und treibt zum Daseyn, wo möglich zum organischen, d. i. zum Leben,
und danach zur möglichsten Steigerung desselben"63. Erreicht wird diese
im Menschen, in welchem der Wille sich das Licht des Selbstbewußt-
seins anzündet.
Objektiv betrachtet, läßt dieser ewige Naturprozeß, der sich
darin erschöpft, die Individuen der "Erhaltung der Gattung"64 aufzuop-
fern, keinen über ihn selbst hinausführenden Zweck (oder Wert) erken-
nen. Dabei, so Schopenhauer, bliebe es, wenn uns die Natur nur von au-
ßen, als Inbegriffvon Objekten, gegeben wäre. Nun ist uns aber auch ein
Blick ins "Innere der Natur" vergönnt, "sofern nämlich dieses nichts
Anderes, als unser eigenes Inneres ist"65. Das Substrat des Naturganzen,
Kants Ding an sich, erweist sich als ,jenes uns unmittelbar Bekannte ... ,
was wir im Inneren unsers eigenen Selbst als Willen finden"66, dessen
Akte identisch sind mit den Akten unseres Leibes. 67
Die anti-idealistische Pointe des Schopenhauerschen Volun-
tarismus liegt darin, daß er den Willen weder mit Erkenntnis verknüpft
noch aus ihr hervorgehen läßt; er ist von Erkenntnis, die "sekundär und
spätem Ursprungs ist, grundverschieden und völlig unabhängig" und
kann "folglich auch ohne sie bestehn und sich äußern ... , welches in der
gesammten Natur ... wirklich der Fall ist"68. Der Wille stellt sich so als
das "wahrhaft Reale, allein Ursprüngliche und Metaphysische" dar; er
besteht "an sich und außer der Erscheinung", das heißt "außer unserm
Kopf und seiner Vorstellung"69. Nahm man bisher an, Wille sei bedingt
durch Erkenntnis, so läuft Schopenhauers Philosophie auf die gerade
entgegengesetzte Einsicht hinaus, daß die Welt als Vorstellung - über-
bauhaft - getragen wird von der Welt als Wille, die den Kern der Natur
bildet.
Stärker als Schopenhauer zuzugeben bereit war, ist seine
Willenslehre beeinflußt von Fichte und Schelling70 ; sie steht zudem in
einer weit älteren, problemgeschichtlichen Tradition theologischen, auch
anthropologischen Denkens, die den Intellekt dem Willen unterordnet. 71
Darin folgt Schopenhauer jener Tradition, wobei er - sich zugleich von
ihr absetzend - dem Primat des Willens einen naturalistischen Akzent
verleiht. Dieser wird anfangs, in Schopenhauers Aufzeichnungen der
Jahre 1812 bis 1814, noch positiv verstanden. "Die Natur", heißt es hier,

26
Schopenhauer als Aufklärer

"hat überall nur Einen Zweck: Leben und Wohlseyn zu bereiten"; ihm
gemäß hat der Mensch sich zu verhalten: "Er soll wollen, was die Natur
Will."72 Der Identität des menschlichen Wesens mit dem, "was die Natur
will", entspringt Schopenhauer zufolge das Wohlgefallen am Natur- und
Kunstschönen: "Weil unser innerstes Wesen nur darauf hinausgeht, den
Zweck der Natur zu befördern, unser reiner Wille nur ihr Wille ist, so er-
klärt sich unsre innige Freude bey ihrem Anblick, bey ihren Formen die
die Kunst rein darstellt, bey der Musik die die Einheit und Regelmäßig-
keit in der größten Mannigfaltigkeit und Lebendigkeit, - der Natur
nachahmt."73 Findet hier das menschliche Dasein Erfüllung im Einklang
des die Natur umfassenden und im Menschen sich darstellenden Wil-
lens, so wird dieser in Schopenhauers reifer Metaphysik zum schlecht-
hin negativen, unglückselig machenden Prinzip, zur Wurzel von
Egoismus, Unrecht und Bosheit. Indp.m aber der (zum Geist sich stei-
gernde) Intellekt74 auf intuitivem Wege Einsicht gewinnt in die Identität
aller Wesen und die Sinnlosigkeit jeder durch fremdes Leid erkauften
Lust, wächst er über seinen physischen Ursprung und dessen Dienst-
barkeit gegenüber dem Willen hinaus und wird so zu jener moralischen
Instanz, die eine metaphysische Wende des Lebens herbeizuführen ver-
mag. 75
Über der ethischen Komponente der Schopenhauerschen Wil-
lenslehre ist deren naturalistische Seite nicht zu vergessen. Nicht über-
all, wo Schopenhauer vom Willen spricht, geschieht dies in soteriologi-
scher Absicht. Große Teile seines Werks abstrahieren von ihr und setzen
den Willen gleich mit der Natur im Sinn der natura naturans. Sie ist
"das ohne Vermittelung des Intellekts Wirkende, Treibende, Schaf-
fende"76. Obwohl Schopenhauer die Frage, was der Wille"an sich selbst",
das heißt unabhängig davon sei, daß er in den Formen des erkennenden
Subjekts "erscheint"77, für unbeantwortbar hält, kommt er immer wieder
auf sie zurück. Wer ins "Innere der Natur" vordringen will, soviel ist
ihm klar, muß versuchen, das "Wesen des Willens an sich"78 zu erfassen.
Wie intensiv dieses Problem Schopenhauer beschäftigt hat, zeigt
sich schon daran, daß er, erkenntniskritische Bedenken zurückstellend,
in wechselnden, tastenden Kategorien der Realität dessen näherzu-
kommen sucht, was er das "Wort des Räthsels"79 nennt: den Willen. Der
heutige Interpret, der Schopenhauers Schlüsselbegriff nicht im weltan-
schaulich-bekenntnishaften Sinn des neunzehnten Jahrhunderts einfach
übernehmen kann 8o , sieht sich vor der Aufgabe, ihn seinerseits zu ent-
schlüsseln. Während Schopenhauer (unbeschadet seiner Vorstellungs-
lehre) im Willen das Prinzip einer einheitlich-metaphysischen Welt-
erklärung erblickt, die sich durch wissenschaftliche Empirie abstützen
läßt, umschreibt der Terminus "Wille" für den heutigen Betrachter eher
ein in sich heterogenes Problemgebiet, das die verschiedensten Zugänge
gestattet. 8l

27
Alfred Schmidt

Dabei sind vornehmlich jene naturphilosophischen Hintergrund-


überzeugungen Schopenhauers zu beachten, die - unausdrücklich - in
seine Konzeption des Willens eingegangen sind. Unübersehbar ist q.as
romantische, Schelling, auch Goethe voraussetzende Element. Schopen-
hauer verteidigt die von den Materialisten seiner Zeit befehdete
"Lebenskraft" und wehrt sich gegen Tendenzen, die organische Natur
zum "zufälligen Spiele chemischer Kräfte"82 zu erniedrigen. Er ist davon
überzeugt, daß die "ganze mechanische und atomistische Naturansicht"
ihrem Bankrott entgegengeht; ihre Anhänger müssen lernen, "daß hin-
ter der Natur etwas mehr steckt, als Stoß und Gegenstoß"83. Hierzu paßt
Schopenhauers Identifikation von Wille und Organismus 84 . Andererseits
bedient auch er sich der Sprache der nach achtundvierziger Materia-
listen. So spricht er mit Moleschott vom "großen Kreislauf der Natur"85,
mit Büchner von der Unzertrennlichkeit von "Kraft und Stoff"86. Wohl
sind Schopenhauer zufolge alle speziellen Naturkräfte an sich Wille.
Dieser jedoch ist, als natura naturans, selbst eine Kraft: die wirkende,
allgegenwärtige "Urkraft"87. Die Nähe der Termini verrät, daß die naiv-
realistisch vorausgesetzte von der in ihrem Kern erfaßten Natur im
Selbstverständnis des Philosophen nicht völlig divergieren kann.
Wenn Schopenhauer den Willen häufig auch als "Drang" oder
"Trieb"88 bezeichnet, so deshalb, weil er, als Gegner einer "absoluten
Physik"89, sich davor hüten muß, das Wesen der Welt auf dingliches
(oder körperliches) Sein zu reduzieren. Andererseits sind Willensakte
keine rein psychischen Akte im cartesianischen Sinn. Wie Freuds biolo-
gische Interpretation des Seelenlebens den "Trieb" als schwer bestimm-
baren Grenzbereich "zwischen Seelischem und Somatischem"90 kenn-
zeichnet, so tritt auch in Schopenhauers Schriften der "Wille", obgleich
einheitlich konzipiert, keineswegs mit terminologischer Eindeutigkeit
auf. Mitunter scheint es, als erprobe Schopenhauer eine Reihe spekulati-
ver Begriffe, die er für halbwegs geeignet hält, sich dem schlechthin
Objektiven zu nähern. So erscheint der Wille bald blind-naturhaft, als
Lebensgier, bald als geistartig strebendes, stufenweise zu voller
Bewußtheit aufsteigendes Agens. Dann wieder spricht Schopenhauer
vom Willen als "unendlichem Naturgeist"91 oder "Weltgeist"92. Anderswo
gelten ihm Wille und "Lebenskraft" als "geradezu identisch"93. Bei an-
dem ist Schopenhauer sich dessen bewußt, daß seine Schwierigkeiten
solche der Sache sind. Wie jede transzendent betrachtete Naturkraft
bleibt auch der Wille undurchdring~ich, obwohl nur er Philosophie und
Erfahrungswelt zu durchgängiger Ubereinstimmung bringt. Völlig ein-
sichtig ist allein das Mathematische, apriori Bestimmbare; "sobald
aber", betont Schopenhauer, "etwas eigentlich Objektives auftritt, ... da
ist es ... in letzter Instanz unergründlich"94.
Der objektive, naturalistisch versetzte Idealismus, auf den
Schopenhauers Philosophie hinausläuft, zeugt von der Unmöglichkeit,

28
Schopenhauer als Aufklärer

die Seinsart des Willens in direktem Zugriff zu erschließen. Freilich ge-


rät Schopenhauer dadurch, daß er die cartesianische Einteilung alles
Seienden in Geist und Materie ersetzt durch die in Wille und Vorstel-
lung in größere Nähe zu Hegel, als ihm recht sein kann; denn seine Phi-
losophie, so Schopenhauer selbst, "vergeistigt Alles, indem sie einerseits
das [bei Descartes, A. S.) ganz Reale und Objektive, den Körper, die
Materie, in die Vorstellung verlegt, und andererseits das Wesen an sich
einer jeden Erscheinung auf Willen zuruckführt"95. Anderswo erläutert
Schopenhauer seine Kardinalthese folgendermaßen: "Die wahre Physio-
logie ... weist das Geistige im Menschen (die Erkenntniß) als Produkt
seines Physischen nach; ... aber die wahre Metaphysik belehrt uns, daß
dieses Physische selbst bloßes Produkt, oder vielmehr Erscheinung,
eines Geistigen (des Willens) sei, ja, daß die Materie selbst durch die
Vorstellung bedingt sei, in welcher allein sie existirt."96
Die bei den Zitate belegen, was Schopenhauer meint, wenn er das
"eigenste Gebiet" der Metaphysik als "Geistesphilosophie"97 bezeichnet.
Deutlich wird aber auch ein äquivoker Gebrauch des Begriffs "Geist",
mit dem Schopenhauer sowohl die "Vorstellung" als auch den "Willen"
ontologisch charakterisiert. Deshalb kann er - materialistisch - die Ab-
hängigkeit des Geistigen von Hirn- und Nervenprozessen anerkennen
und letztere gleichzeitig zum Derivat eines ebenfalls Geistigen, des Wil-
lens, herabsetzen. 98 Dabei nimmt die These, der Wille sei "Geist",
angesichts der drastischen Realien, die Schopenhauer durchweg mit die-
sem Begriff verbindet, sich einigermaßen befremdlich aus. Zudem wäre,
was hier "Geist" heißen soll, unvereinbar mit der nach Schopenhauer
phantasmagorischen Beschaffenheit der erscheinenden Welt. 99 Geist im
ontologischen und Geist im kognitiven Sinn lassen sich nur unter jenen
panlogistischen Voraussetzungen gleichsetzen, die Schopenhauer gerade
verwirft. lOo Wenn auch er in den Bannkreis nachkantischer Spekulation
gerät, so durch seinen spinozistischen Denkansatz, der darauf abzielt,
den "grundfalsche(n) Gegensatz"lOl von Geist und Materie (oder Natur)
aufzulösen in die All-Einheit des Willens. 102 Dieser muß sich dabei in
dem Maße materialisieren, wie die Vorstellung an Realität einbüßt.
Umgekehrt ist der Wille durchsetzt mit idealistischen, die Vorstellung
mit naiv-realistischen Elementen, wobei bald dieser, bald jener Aspekt.
in den Vordergrund rückt. Es entsteht derart, wie Volkelt den komple-
xen Sachverhalt kennzeichnet, eine "Synthese von Kantischem Subjek-
tivismus und Spinozisch-Schellingischer AlI-Einheits-Lehre"103. Die of-
fenkundigen, dieser "Synthese" innewohnenden Brüche, auch Wider-
spruche erklären sich vornehmlich aus der geschichtlichen Stellung des
Schopenhauerschen Denkens, das schon Cornill, ein Zeitgenosse des
Philosophen, charakterisiert sieht durch ein Schwanken "zwischen idea-
listischen Principien und materialistischen Anschauungen"l04. Es han-

29
Alfred Schmidt

delt sich hier für Cornill um eine "Uebergangsformation"105 vom roman-


tisch-idealistischen zum materialistisch-positivistischen Zeitalter.
Der aufklärerische Grundzug der Schopenhauerschen Philoso-
phie tritt nicht zuletzt in ihren anthropologischen Konsequenzen zutage.
Sie verwirft den Schöpfungsgedanken und mit ihm die traditionell·
christliche Anschauung, die menschliche Natur sei ein Nachbild der
göttlichen. Damit geht eine Entwertung der Vernunft einher. Diese ist
weder der Wesenskern des Menschen noch (wie Kant fälschlich an-
nimmt) "ein in uns liegendes, unmittelbar auf Metaphysik angelegtes
Vermögen"106. Schon die Erstausgabe der Schopenhauerschen Disserta-
tion setzt die Vernunft zum "Werkzeug"107 herab. Eine Notiz von 1814
kündigt eine - Kant überbietende - "eigentliche"108 Kritik der Vernunft
an. Sie wird sich im weiteren darin bekunden, daß Schopenhauer der
Vernunft jede Kompetenz auf religiös-ethischem und metaphysischem
Gebiet abspricht. Vernunft beschränkt sich auf die Fähigkeit, Begriffe
zu bilden 109, setzt also die anschauliche Welt stets schon voraus. Diese
bringt der Verstand vermöge seiner apriorischen Formen "ganz un-
mittelbar und intuitiv" zustande "ohne Beihülfe der Reflexion, ...
mitte1st Begriffen und Worten, ... welche das Material der sekundären
Erkenntniß, d. i. des Denkens, also der Vernunft, sind"llO. Was "ver-
nünftig" oder "vernunftgemäß" genannt wird, kann nur "folgerecht" oder
"logisch" sein; denn die Logik ist lediglich "das als ein System von
Regeln ausgesprochene natürliche Verfahren der Vernunft selbst"lll.
Diese ist nicht eigentlich kreativ, sondern "verarbeitet" die "empirische
Erkenntniß ... zu Begriffen, die sie durch Worte sinnlich fixirt und dann
an ihnen den Stoff hat zu ihren endlosen Kombinationen, mitte1st
Urtheilen und Schlüssen, welche das Gewebe unserer Gedankenwelt
ausmachen"112.
"Der Intellekt", versichert Schopenhauer immer wieder, "ist bloß
ein Produkt der Natur; der Wille hingegen ihr Kern, ja ihr Erzeuger: er
ist das Prius in der Natur, der Intellekt das Posterius".1l3 Hieraus ergibt
sich für Schopenhauer eine beträchtliche Depotenzierung seines subjek-
tiv-idealistischen Ansatzes: "Intelligenz und Vorstellung ist ein viel zu
schwaches, sekundäres, oberflächliches Phänomen, als daß das Wesen
alles Vorhandenen auf ihm beruhen könnte: die Welt stellt sich zwar im
Intellekt dar; aber ist nicht von ihm ausgegangen, wie nach Fichte."1l4
Das gnoseologisch Primäre ist, ontologisch betrachtet, ein kraftloses
Spätprodukt. Das wahre Wesen des Menschen liegt nicht im erkennen-
den Ich (oder seiner transzendenten, Seele genannten Hypostase), son-
dern im Willen, der im Selbstbewußtsein des Individuums "stets als das
Primäre und Fundamentale auftritt und ... den Vorrang behauptet vor
dem Intellekt, welcher sich ... als das Sekundäre, Untergeordnete und
Bedingte erweist"ll5. Notwendigkeit, Bedürfnis und Vermögen der Er-
kenntnis entstehen dort, wo bewegliche Organismen sich unter einer

30
Schopenhauer als Aufklärer

Vielfalt verschiedener Lebewesen und Dinge orientieren und behaupten


müssen. 1lG Der Intellekt ist mithin ursprünglich ein Instrument im
Kampf ums Dasein. Er dient wie die Klauen und Zähne der Tiere als
"Waffe", die sich herausbildet, weil das "Streben" des Willens ihrer be-
darf. ll7 Über diese biologische Funktion gehen die Leistungen des
Intellekts zunächst nicht hinaus. "Dem Dienste des Willens", unter-
streicht Schopenhauer, "bleibt ... die Erkenntniß in der Regel ... unter-
worfen, wie sie ja zu diesem Dienste hervorgegangen, ja dem Willen
gleichsam so entsprossen ist, wie der Kopf dem Rumpf."11s Der Wille ist
erkenntnislos, der Intellekt willenlos. Das "treffende Gleichniß für das
Verhältniß Beider", so Schopenhauer, "(ist) der starke Blinde, der den
sehenden Gelähmten auf den Schultern trägt" 119 .
Daraus, daß der Wille Herr, der Intellekt Knecht ist, folgt, daß
dieser seine Aufgabe nur in dem Maße erfüllen kann, wie der Wille
schweigt. Nur wenn der Intellekt frei von Interessen und Begierden die
Welt anschaut, wird er zu ihrem getreuen Spiegel, d. h. tauglich zu ob-
jektiver Erkenntnis. Das ist freilich nicht der Normalfall. "Gewöhnlichen
Menschen", erklärt Schopenhauer, "ist ihr Intellekt bloß das Medium
der Motive und sonst nichts: daß er zum Spiegel der Welt werde, ist
Genialität und erfordert Selbstentäußerung"120. Aber auch der Intellekt
des Genies, der "das Wesen der Welt ... für andre abzuspiegeln fähig ist,
muß ... zugleich das Werkzeug der persönlichen, oft so kleinlichen
Zwecke des Individuums seynU 121 . Die in der Tierreihe sich abzeichnende
"Steigerung der Intelligenz" bedeutet "eine fortschreitende Ablösung des
Intellekts vom Willen"122. Erst auf der Stufe des Menschen ergibt sich die
Möglichkeit einer ,,sonderung des Erkennens vom Wollen"123. Hier bildet
sich ein "frei werdende(r) Ueberschuß" heraus, "der recht eigentlich die
Welt gewahr wird, d. h. sie vollkommen objektiv auffaßt und nun danach
bildet, dichtet, denkt"124.
Obgleich Schopenhauer ausdrücklich hervorhebt, daß der In-
tellekt ursprünglich "auf Wahrheit gerichtetU125 sei, wird er durch den
Willen häufig und jedesmal erheblich beeinträchtigt. Dies zunächst phy-
siologisch. Da der Intellekt eine "Funktion des Gehirns" ist, das "vom
Organismus nur parasitisch genährt und getragen wird, ... muß jede
Perturbation des Willens, und mit ihm des Organismus, die für sich be-
stehende und keine andern Bedürfnisse, als nur die der Ruhe und
Nahrung kennende Funktion des Gehirns stören oder lähmen"12G.
Gravierender noch wirkt sich die naturale Herkunft des Intellekts auf
dessen kognitive Leistungen aus. Seine "Wurzel und Basis" ist ein
"unvernünftiger, ja blinder Wille, der sich als Organismus darstellt";
daher "die Züge von Thorheit und Verkehrtheit, ohne die kein Mensch
ist"127. Es kann keinen Intellekt geben, "der nicht dem Wesentlichen
und rein Objektiven der Erkenntniß ein diesem fremdes Subjektives,
aus der den Intellekt tragenden und bedingenden Persönlichkeit

31
Alfred Schmidt

Entspringendes, also etwas Individuelles, beimischte, wodurch denn


Jenes allemal verunreinigt wird"l28 Je geringer dieser Einfluß ist, desto
adäquater gibt der Intellekt das "rein Objektive" wieder. Deshalb lehrt
Schopenhauer, Genialität bestehe in der "Objektivität des Geistes"129.
Diese kann freilich nur angestrebt werden; "ein absolut objektiver", d. h.
"vollkommen reiner Intellekt" ist unmöglich, weil letzterer stets nur "als
Werkzeug eines Willens auftreten kann, oder (real zu reden) ein Gehirn
nur als Theil eines Organismus möglich ist"130.
Die materielle Bedingtheit des Intellekts führt zur "Verun-
reinigung fast aller seiner Erkenntnisse und Urtheile"l3l. Neben die
gleichbleibende Beschaffenheit des Subjekts treten, wichtiger noch,
Störfaktoren, die hervorgehen "aus dem Willen und seiner einstweiligen
Stimmung, also aus dem Interesse, den Leidenschaften, den Mfekten
des Erkennenden"132. Zwei verschiedene Personen werden über ein und
denselben Vorgang sehr Verschiedenes berichten. Uns selbst stellen
sich, je nach Zeitpunkt, Gemütslage und Anlaß, die nämlichen Personen
und Sachverhalte sehr verschieden dar. Schopenhauer spricht vom
"geheimen und unmittelbaren Despotismus des Willens über den
Intellekt" und führt als Beispiel dafür an, "daß wir bei Rechnungen uns
viel öfter zum Schaden Anderer verrechnen als zu unserem eigenen, und
zwar ohne die leiseste Absicht, während wir nichts anderes als das reine
arithmetische Resultat suchten. Aber der Wille zieht uns unbewußt da-
hin, daß wir unser Debet verkleinern, unser Credit vergrößern."133
Nimmt der Wille "Interesse" am Ergebnis einer Denkoperation, so
"verfälscht" er es dadurch, daß er mitspricht, "ohne daß man seine
Stimme von der des Intellekts selbst unterscheiden könnte, indem ja
Beide zu Einem Ich verschmolzen sind"l34. Für Hochbegabte - Schopen-
hauer denkt hier an Künstler - haben Leben und Welt neben dem "mate-
riellen", das sie mit allen teilen, "noch ein zweites und höheres, ein for-
melles Interesse"; sie entnehmen ihnen die Stoffe zu ihren Werken. Ihr
Intellekt, betont Schopenhauer, ist "gewissermaaßen ein doppelter:
theils einer für die gewöhnlichen Beziehungen (Angelegenheiten des
Willens), gleich dem aller Anderen; theils einer für die rein objektive
Auffassung der Dinge"l35. Aber im unausbleiblichen Konflikt dieser
Seiten des Intellekts tritt immer wieder dessen Herkunft aus dem
Willen hervor. Ihm ist es nicht um wahre Erkenntnis zu tun, sondern
darum, sein Dasein zu behaupten und zu steigern.
Die Analyse der Abhängigkeit des Intellekts vom Willen führt
Schopenhauer zur bewußten Rezeption nicht nur der Baconsehen
Idolenlehre l36 , sondern auch aufklärerischer Einsichten in die Genese
und Funktion von Vorurteilen. l37 Damit geht Schopenhauer über zur ge-
sellschaftlich-politischen Interpretation der Bedingtheit des Intellekts.
Die vorgefaßte Meinung, das Vorurteil stellen sich, als ein "After-a
priori"l38, der Wahrheit entgegen. Jederzeit wird unser Denken "durch

32
Schopenhauer als Aufklärer

die Gaukeleien der Neigung bethört und bestochen"139. Unser "Vorur-


theil" übt "geheime Macht" über unser "Urtheil" aus:

was ihm gemäß ist, erscheint uns alsbald billig, gerecht, vernünf-
tig; was ihm zuwider läuft, stellt sich uns, im vollen Ernst, als un-
gerecht und abscheulich, oder zweckwidrig und absurd dar. Daher
so viele Vorurtheile des Standes, des Gewerbes, der Nation, der
Sekte, der Religion .... Was unserer Partei, unserm Plane, unserm
Wunsche, unserer Hoffnung entgegensteht, können wir oft gar
nicht fassen und begreifen, während es allen Andern klar vorliegt:
das jenen Günstige hingegen springt uns von ferne in die Augen.
Was dem Herzen widerstrebt, läßt der Kopf nicht ein. 140
Der Philosophie erwächst hieraus die Aufgabe, solche psychologischen
Mechanismen zu durchschauen und die durch sie bewirkten Vorurteile
zu entlarven. Wohl ist, was die Menschen versichern, "meistens ... bloß
ein Ausspruch zu Gunsten ihrer Partei, oder Klasse"141. Schopenhauer
vertraut jedoch darauf, daß unser Denken es vermag, in redlicher
Selbstprüfung die in den Vorurteilen verborgene "Subjektivität"142 auf-
zuspüren und zu eliminieren. Daher das kämpferische Pathos seiner
Philosophie. 143
Ein wichtiges Unterkapitel der Lehre von Wille und Intellekt
bildet die Frage der Funktion des Bewußtseins. Erst mit ihm erscheinen
Irrtum, Täuschung und Lüge; denn die Welt selbst, darauf besteht
Schopenhauer, ist ihrem Wesen nach aufrichtig. Nur das bewußte
Wesen erlangt die Fähigkeit, sich und andere zu täuschen, indem es
seine wahren Motive durch solche ersetzt, die, wenn sie sein Verhalten
bestimmt hätten, von der Gesellschaft moralisch positiv bewertet wor-
den wären. "Alles Ursprüngliche, und daher alles Aechte im Menschen
wirkt, als solches, wie die Naturkräfte, unbewußt."144 Das Bewußtsein
dagegen erlaubt, ob absichtlich oder nicht, die Produktion eines falschen
Scheins. Ihm haftet von vornherein etwas Künstliches an. "Alles Be-
wußte", so Schopenhauer, "ist schon nachgebessert und ... geht daher
schon über in Affektation, d. i. Trug."145 Die ursprüngliche Richtung des
Willens wird verdeckt und läßt sich so moralisch rechtfertigen. Das
Interesse des gesellschaftlichen Zusammenhalts gebietet es, daß keiner
"sich ganz zeigen (dart), wie er ist; weil das viele Schlechte und
Bestialische unserer Natur der Verhüllung bedarf'146.
Ein weiterer Mangel des Bewußtseins beruht darauf, daß es "die
bloße Oberfläche unsers Geistes" bildet, "von welchem, wie vom
Erdkörper, wir nicht das Innere, sondern nur die Schaale kennen"147.
Die den Sachverhalt erläuternden Betrachtungen Schopenhauers anti-
zipieren grundlegende Einsichten Nietzsches und Freuds. Die
Wirklichkeit des Denkprozesses, fuhrt er aus, ist komplexer als dessen

33
Alfred Schmidt

Theorie. Alles deutlich Bewußte ist oberflächlicher Schein; realer, weil


durchsetzt von der "Stimmung" des Willens, sind Verworrenes, Gefühle,
der Nachhall von sinnlich Erlebtem. Sie bilden, was Schopenhauer die
"Masse des ganzen Bewußtseyns"148 nennt (worunter er das Psychische
insgesamt versteht). Sie ist, je nach der geistigen Lebendigkeit eines
Menschen, mehr oder weniger bewegt. Was dadurch "auf die Oberfläche
steigt, sind die klaren Bilder der Phantasie, oder die deutlichen, bewuß-
ten, in Worten ausgedrückten Gedanken und Beschlüsse des Willens"149.
Selten gelangt der Gesamtprozeß solchen "Denkens und Beschließens"
als "Verkettung deutlich gedachter Urtheile"150 an die Oberfläche. Wir
versuchen dies zu erreichen, um uns selbst und anderen Rechenschaft
ablegen zu können. Zumeist aber vollzieht sich "in der dunkeln Tiefe die
Rumination des von außen erhaltenen Stoffes, durch welche er zu
Gedanken umgearbeitet wird; und sie geht beinahe so unbewußt vor
sich, wie die Umwandlung der Nahrung in die Säfte und Substanz der
Leibes"151.
Schopenhauer stößt hier auf die widerständige Realität des
Unbewußten, wenn er darlegt, wie "im Geheimen un'sers Innern" der
Wille den Intellekt, "seinen Diener" 152 , dirigiert. Der Wille ist das un-
sichtbare "Band aller Funktionen und Akte" des Bewußtseins; ohne zum
Intellekt zu gehören, ist er dessen "Wurzel, Ursprung und Beherr-
scher"153. Den "Beschlüssen des Willens", unterstreicht Schopenhauer,
ist ."der Intellekt ... ursprünglich ganz fremd."154 Er "liefert ihm die
Motive", erfährt aber erst hinterher, wie sie gewirkt haben; denn er
"bleibt von den eigentlichen Entscheidungen ... des eigenen Willens so
sehr ausgeschlossen, daß er sie bisweilen, wie die eines fremden, nur
durch Belauschen und Überraschen erfahren kann und ihn auf der That
seiner Aeußerungen ertappen muß, um nur hinter seine wahren
Absichten zu kommen"155. Der Intellekt ist mit dem Willen vertraut,
dringt jedoch nicht in die "geheime Werkstätte seiner Beschlüsse"156 ein.
Dienstbar ist der Intellekt dem Willen auch insofern, als er im
Individuum die Funktion des Anwalts seiner positiv-moralischen Selbst-
einschätzung übernimmt. Langgehegte Wünsche bleiben dadurch ver-
borgen oder unbewußt. Schopenhauer erinnert hier an die "wichtige
Rolle, welche das Geschlechtsverhältniß in der Menschenwelt spielt", wo
es "der unsichtbare Mittelpunkt alles Thuns und Treibens ist und trotz
allen ihm übergeworfenen Schleiern überall hervorguckt. "157 In der all-
gegenwärtigen Heftigkeit des Geschlechtstriebs manifestiert sich, daß er
"der Kern des Willens zum Leben, mithin die Koncentration alles
Wollens ist"158. Die metaphysische Bedeutung der Sexualität besteht für
Schopenhauer darin, daß das endliche Individuum sein "wahres Da-
seyn"159 nur in der Gattung findet, die zu erhalten daher sein ganzes
Bestreben ist. Hieraus erhellt, weshalb die "Begierde des Geschlechts"
sich qualitativ von jeder anderen unterscheidet; "sie ist nicht nur die

34
Schopenhauer als Aufklärer

stärkste, sondern sogar specifisch von mächtigerer Art als alle andern.
Sie wird überall stillschweigend vorausgesetzt, als nothwendig und un-
ausbleiblich, und ist nicht, wie andere Wünsche, Sache des Geschmacks
und der Laune. Denn sie ist der Wunsch, welcher selbst das Wesen des
Menschen ausmacht."160
Es kennzeichnet Schopenhauers unbestechliche Wahrheitsliebe,
daß er sich vor Schönfärberei auch dann hütet, wenn sein privates
Interesse ins Spiel kommt. So führt ihn, zumal im Alterswerk, sein
Gespür für ökonomische Tatsachen gelegentlich in die Nähe des
Marxschen Hauptwerks. In der bürgerlichen Gesellschaft, heißt es im
Kapital, existieren die Menschen füreinander nur als "Personen" (im ju-
ristischen Sinn), d. h. "als Repräsentanten von Waren und daher als
Warenbesitzer"161. Sie verstecken sich hinter "Charaktermasken", die
bloße "Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse sind, als deren
Träger sie sich gegenübertreten"162. Schopenhauer liefert dazu den
Kommentar im zweiten Band der Parerga:

Unbewußt treffend ist der, in allen europäischen Sprachen übliche


Gebrauch des Wortes Person zur Bezeichnung des menschlichen
Individuums: denn persona bedeutet eigentlich eine Schauspieler-
maske, und allerdings zeigt Keiner sich wie er ist, sondern Jeder
trägt eine Maske und spielt eine Rolle. - Ueberhaupt ist das ganze
gesellschaftliche Leben ein fortwährendes Komödienspielen. 163

Kaum jemand wagt, egoistische Ziele offen zu verfolgen. Man spiegelt


anderen (und oft genug sich selbst) edle und geistige Motive vor. Wer
vermag es schon, "den über Alles ausgebreiteten Schleier der Verstel-
lung, Falschheit, Heuchelei, Grimace, Lug und Trug durchsichtig" zu
machen?

Ist doch unsere civilisirte Welt nur eine große Maskerade. Man
trifft daselbst Ritter, Pfaffen, Soldaten, Doktoren, Advokaten,
Priester, Philosophen, und was nicht alles an! Aber sie sind nicht,
was sie vorstellen: sie sind bloße Masken, unter welchen, in der
Regel, Geldspekulanten (moneymakers) stecken. 164

Als ideologische Vorwände oder Rationalisierungen müssen


Rechtsnormen, öffentliches Wohl, Patriotismus, Sittsamkeit, Religion,
Menschenliebe und Philosophie herhalten. Ferner, so Schopenhauer,
gibt es

allgemeine Masken, ohne besondern Charakter, gleichsam die


Dominos, die man daher überall antrifft: dahin gehören die
strenge Rechtlichkeit, die Höflichkeit, die aufrichtige Teilnahme

35
Alfred Schmidt

und grinzende Freundlichkeit. Meistens stecken, wie gesagt, lau-


ter Industrielle, Handelsleute und Spekulanten unter diesen '"
Masken. In dieser Hinsicht machen den einzigen ehrlichen Stand
die Kaufleute aus; da sie allein sich für Das geben, was sie sind:
sie gehn also unmaskiert herum; stehn daher auch niedrig im
Rang. 165
Schopenhauer durchschaut als einer der ersten den fassadenhaft-ideolo-
gischen Charakter der modernen Kultur. Er sieht die Philosophie "im
Auftrage der Natur und der Menschheit". Als Organon "freier
Wahrheitsforschung"166 ist sie mit der biologisch-lebenspraktisch orien-
tierenden Tätigkeit des Intellekts so wenig zu verwechseln wie mit des-
sen Produktion von Masken, die dazu dienen, Begierden und Egoismen
zu verbergen. Die meisten sogenannten Überzeugungen des Menschen
sind Schopenhauer zufolge derartige Masken:

Wie unser Leib in die Gewänder, so ist unser Geist in Lügen ver-
hüllt. Unser Reden, Thun, unser ganzes Wesen, ist lügenhaft: und
erst durch diese Hülle hindurch kann man bisweilen unsere wahre
Gesinnung errathen, wie durch die Gewänder hindurch die
Gestalt des Leibes. 167

"Es giebt auf der Welt nur ein lügenhaftes Wesen: es ist der Mensch."168
Da der Wille als solcher sich stets unverfälscht darstellt, entsteht die
Lüge erst mit der Sphäre des Intellekts; "die Natur, die Wirklichkeit,
lügt nie: sie macht ja alle Wahrheit erst zur Wahrheit"169. Der Mensch
dagegen lügt, und seine Lügen zielen allemal darauf ab, die Herrschaft
des Willens eines Individuums auszudehnen auf andere Individuen.

Resümieren wir die wichtigsten Gesichtspunkte der Schopenhauerschen


Analyse des Intellekts. Dieser ist zunächst nur "Sklave der
Nothdurft"170 und behaftet mit dem Makel, alles "Gegebene"l71 im wech-
selnden Interesse des Willens, seines Urhebers, zu transformieren.
Gleichwohl vermag es der höherentwickelte Intellekt, die durch den
Willen bedingten Perspektivismen abzustreifen und objektive Erkennt-
nis zu erlangen. Sie allein verhilft dem Willen als Weltprinzip zum
Selbstbewußtsein. Nur dadurch, daß der Erkennende sich "plötzlich ...
vom Dienste des Willens los reißt" und sich in ein "reines, willenloses
Subjekt der Erkenntniß" verwandelt, das nicht am Leitfaden der Kau-
salität "den Relationen nachgeht"172, entsteht ein "Organ"173 der
Wahrheit, das nicht nur den universellen Lebensdrang in seiner
Unersättlichkeit erkennt, sondern sich auch, wenigstens zeitweilig, der
Gängelei durch den Willen entzieht. Frei geworden, wird der Intellekt
der Irrtümer, Vorurteile und Lügen inne, die er als Instrument des

36
Schopenhauer als Aufklärer

Willens in den Menschen erzeugt. Wie die Philosophie darauf bedacht


ist, in allen Naturerscheinungen das eine Wesen zu entdecken, "welches
hinter allen jenen Masken steckt, so dicht verlarvt, daß es sich selbst
nicht wiedererkennt"174, so klärt sich das objektiv gerichtete Subjekt
über sich selbst auf, wenn es durchschaut, wie seine vermeintlich ge-
sunden Ansichten zustandekommen. Der Philosophie "entschleiert" die
"innere Kraft der Natur" sich "als Wille"175. Sie zerstört die "große
Maskerade"176 der offiziellen Welt. Auf seiner höchsten, hier erreichten
Stufe betritt der Intellekt den "Boden der Reflexion, mithin der
Redlichkeit" 177 . Er durchschaut die von ihm selbst im Interesse des
Willens erzeugten Anschauungen als Lügengespinste, Irrtümer und Vor-
urteile. Ohne damit schon eine neue Moral zu begründen, ebnet er ihr
den Weg. Indem Schopenhauer seiner Erlösungslehre die rücksichtslose
Destruktion der Selbsttäuschungen und Vorurteile des Menschen voran-
stellt, reiht er sich ein in die neuere Moralistik, die mit Montaigne und
La Rochefoucauld beginnt und zu Nietzsche führt.

Anmerkungen
1. N, 26.
0. W 11, 671f.
3. E, 246.
4. W 11,672.
5. So heißt es in Kants Abhandlung Idee zu einer allgemeinen Geschichte in
weltbürgerlicher Absicht: "Man kann die Geschichte der Menschengattung im
großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine
innerlich - und, zu diesem Zwecke, auch äußerlich - vollkommene Staats-
verfassung zu Stande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem sie alle
ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann" (Werke, Band XI, Frank-
furtIM. 1967, 45).
6. W 11, 670, 671.
7. Pli, 342.
8. MarxlEngels, Ausgewählte Schriften, Bd. 1, Berlin 1964, 337.
9. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, hrsg. von Alfred
Schmidt, FrankfurtlM. 1967,259.
10. HN IV (1), 302.
11. Briefvom 3. April 1818 an F. A. Brockhaus, GBr, 31.
10. Briefvom 16. September 1850 an J. Frauenstädt, GBr, 246.
13. W 11, 222, 223.
14. Vgl. Pli, 101.
15. N, 39.
16. Ludwig Feuerbach, Gesammelte Werke, hrsg. von Werner Schuffenhauer, Bd.
11, Berlin 1972, 176.
17. Louis Büchner,Aus Natur und Wissenschaft, Leipzig 1862,116.

37
Alfred Schmidt

18. Ebda., 117. - Büchner resümiert sein Urteil über Schopenhauer folgender.
maßen: ,.An der Grenzscheide zweier großer philosophischer Epochen stehend,
deutet er mit der einen Hand rückwärts, mit der anderen vorwärts, ist hier
Idealist, dort Realist, steckt auf der einen Seite noch tief in den Wirrnissen der
reinen Spekulation und hat sich auf der anderen bereits hoch auf jene lichte
Höhe emporgeschwungen, auf der die Philosophie an der Hand der Erfahrung
einem neuen Ziele entgegengeht" (ebda., 134).
19. Eugen Dühring, Kritische Geschichte der Philosophie, Berlin 1873, 477.
00. Ebda., 467.
01. Ebda., 468. - Dühring bezieht sich hier auf die "falsche", von Schopenhauer
kritisierte "Grundansicht, daß das Ganze der Dinge ... als bloße Vorstellung da-
gewesen sei, ehe es wirklich geworden; wonach es, als aus der Erkenntniß ent-
sprungen, auch der Erkenntniß ganz zugänglich, ergründlich und durch sie er·
schöpfbar seyn müßte" (P 11, 101).
02. W I, 528.
03. Ebda., 574.
04. P 11, 113.
25. Vgl. hierzu Alfred Schmidt, Drei Studien über Materialismus, MünchenlWien
1977,34 ff.
06. Ernst Bloch, Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz,
FrankfU~. 1972,273.
07. Pli, 113.
08. W 1,129.
09. W 11, 348.
30. Ebda., 349, 350.
31. Eben hierin besteht nach Schopenhauer der "idealistische Gesichtspunkt".
Er bezieht sich auf die Frage, ob der Materie Realität oder Idealität zukomme:
"Ist die Materie als solche bloß in unserer Vorstellung vorhanden, oder ist sie es
auch unabhängig davon? Im letzteren Falle wäre sie das Ding an sich, und wer
eine an sich existierende Materie annimmt, muß, konsequent, auch Materialist
seyn, d. h. sie zum Erklärungsprincip aller Dinge machen" (W 11, 14).
30. Bloch, a. a. 0., 275.
33. Ebda.
34. P 11, 634; vgl. auch W 11, 351. - Unerörtert bleibe hier die über Schopen-
hauers Selbstverständnis hinausreichende Frage, inwieweit die materialisti-
schen Momente seines Systems geeignet sind, dieses von innen zu sprengen. Vgl.
hierzu auch Schmidt, Drei Studien über Materialismus, a. a. 0., 55 ff.
35. Vgl. W 11,3 tr.
36. HN III, 241.
37. Ebda., 615.
38. PI, 55.
39. Vgl. dazu P 11, 320.
40. HN IV (1), 142.
41. Ebda., 143.
42. Ebda., 190.
43. Vgl. dazu die neue Studie "Schopenhauers spinozistische Grundansicht" von
Ortrun Schulz, Schopenhauer-Jahrbuch 74 (1993), 51-71.
44. HN IV (1), 203.

38
Schopenhauer als Aufklärer

45. Ebda., vgl. 198.


46. Ebda., 250.
47. W 11, 189.
48. Ebda., 190.
49. Ebda., 189.
50. Ebda., 190.
51. Pli, 3; vgl. auch W 11, 195 f.
50. Ebda., 196.
53. Ebda., 194.
54. Ebda., 196. - Die erkenntnistheoretische Naivität des Materialismus zieht
seine ethische Inkompetenz unmittelbar nach sich. Gilt die Materie als "absolut
real" (ebda.), so bleibt kein Raum für eine sie transzendierende "Heilsordnung"
(ebda., 729).
55. P 11, 108.
56. W 11, 362.
57. Zur moralischen Verwerflichkeit des Wesens der Erscheinungen vgl. auch
Alfred Schmidt, Die Wahrlu!it im Gewande der Lüge. Schopenhauers Religions-
philosophie, MünchenlZürich 1986, 110 f.
58. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, a. a. 0., 256, 165, 266.
59. W I, 507.
60. Ebda., vgl. VII f.
61. Vgl. ebda., 98 f.
60. W 11, 407.
63. Ebda., 399. - Bloch spricht in diesem Zusammenhang versuchsweise von
"einem Schopenhauerschen Lebenskraft-Materialismus" (a. a. 0., 276 f.).
64. W 11, 402.
65.N,2.
66. Vgl. W 1,118 ff.
67. N, 2; vgl. hierzu auch N, 3, wo Schopenhauer "die Erkenntniß und ihr
Substrat", den Intellekt, als "ein vom Willen gänzlich verschiedenes, bloß sekun-
däres, nur die höheren Stufen der Objektivation des Willens begleitendes
Phänomen" bezeichnet.
68. Ebda., 2, 3.
69. Das neunzehnte Jahrhundert zeigt (nicht nur in seinen bewußt materialisti-
schen Ausprägungen) die Tendenz, das Geistig-Kognitive mit einem Fundament
zu versehen. So heißt es bei Schelling: "Der Idealismus, wenn er nicht einen le-
bendigen Realismus zur Basis erhält, wird ein ... leeres und abgezogenes System
... Die ganze neueuropäische Philosophie seit ihrem Beginn (durch Descartes)
hat diesen ... Mangel, daß die Natur für sie nicht vorhanden ist, und daß es ihr
am lebendigem Grunde fehlt .... Idealismus ist Seele der Philosophie; Realismus
ihr Leib; nur beide zusammen machen ein lebendiges Ganzes aus" (Über das
Wesen der menschliclu!n Freilu!it, Stuttgart 1974, 68).
70. Vgl. Heinz Heimsoeth, Die sechs großen Tlu!men der abendländischen
Metaphysik, 3. Aufl., Stuttgart o. J., Kap. VI.
71. HN I, 21. - Zur Entwicklung des Schopenhauerschen Willensbegriffs vgl. die
Studie von Rudolf Malter, Der eine Gedanke. Hinführung zur Philosophie Arthur
Schopenhauers, Darmstadt 1988, 22 ff.
70. HN I, 22.

39
Alfred Schmidt

73. Vgl. W II, 198, wo es heißt: "Das eigenste Gebiet der Metaphysik liegt ... in
Dem, was man Geistesphilosophie genannt hat."
74. Zum Verhältnis von Selbsterkenntnis und Selbstverneinung des Willens vgl
auch Alfred Schmidt, Die Wahrheit im Gewande der Lüge. Schopenhauers
Religionsphilosophie, a. a. 0., 38 f., 88 ff.
75. W II, 304.
76. Ebda.
77. Ebda., 22l.
78. Ebda., 304.
79. W 1,119
80. Schon um die Jahrhundertwende sieht Johannes Volkelt sich genötigt, seine
eingehende Beschäftigung mit Schopenhauer gegen den Vorwurf des nicht mehr
Zeitgemäßen zu verteidigen: "Schopenhauer richtet ... seinen Blick auf das Eine,
Ewige, auf das Wesen der Dinge; er ist durch und durch Metaphysiker. Was hat
da eine Zeit mit ihm zu schaffen, die sich ... rühmt, den Durst nach den Hinter·
gründen und Tiefen aus der Philosophie hinausgeschafft zu haben?
Schopenhauer gehört zu den grossen Weltdeutern, ... die ihr Schauen ins
Seherhafte steigern, damit sich ihnen Herz und Sinn der Welt offenbare. Was
soll da eine Zeit mit ihm anfangen, in der selbst viele Philosophen den Triumph
ihrer Gedanken darin erblicken, sich über den Sinn der Welt keine Gedanken zu
machen?" (Arthur Schopenhauer. Seine Persönlichkeit, seine Lehre, sein Glaube,
Stuttgart 1901, 1). Volkelt rechtfertigt sein Unternehmen mit der Modernität
der Schopenhauerschen Philosophie. Diese ist keine "bloss wissenschaftliche
Angelegenheit; sie stellt eine Geistesmacht dar. Sie bedeutet einen Inbegriffvon
Gedankenrichtungen, Lebensstimmungen und Wertgefühlen, die in die Entwick-
lung des modernen Geisteslebens färbend, bestimmend und treibend ... einge-
gangen ·sind" (ebda., V). Wichtig für Volkelts Interpretation der Schopen-
hauerschen Philosophie ist deren ästhetische Aufnahme durch Wagner,
Nietzsche und die Neuromantik. "Ein näheres Eingehen auf die neue Phan-
tasiekunst", schreibt Volkelt, "würde ergeben, das~ Schopenhauer mit seinen
Lehren vom Genie als einem Uebermenschen, mit seiner Auffassung von der
Kunst als einer Erlöserin der Menschheit, ja mit der ganzen Verbindung von un-
erschrockenem Pessimismus und überschwenglicher Romantik ihr keineswegs
so ferne steht, wie es zunächst scheinen könnte" (ebda., 5).
81. . So versucht bereits der frühe Horkheimer, der Schopenhauerschen
Willenslehre einen sozial- und geschichtsphilosophischen Sinn abzugewinnen.
Er deutet sie als Extrakt leidvoll erfahrener Geschichte und den Willen als me-
taphysische Travestie ihrer Unbeherrschtheit durch die Menschen. "Der Wille",
schreibt Horkheimer, "ist ein blindes, nie befriedigtes Streben, und daher ist die
Welt, die er aus sich hervortreibt, eine furchtbare Welt. Bringt man ... die Wir-
kung dieser pessimistischen Philosophie mit der steigenden Enttäuschung wei-
ter Volksschichten über die widerspruchsvolle Entwicklung der Gesellschaft zu-
sammen, so enthält die Enttäuschung, soweit sie in dieser Philosophie ihren
Ausdruck findet, immer noch das Bekenntnis zum Intellekt. Der Intellekt und
mit ihm Wissenschaft und Technik sind leider ohnmächtig, die Welt auf Dauer
für alle zu einem erträglichen Aufenthalt zu machen; denn der Intellekt ist nicht
ebenso ursprünglich wie der Wille. Aber diese Ohnmacht des Intellekts erscheint
bei Schopenhauer als ein Verhängnis, die ,Blindheit' des Willens ist identisch

40
Schopenhauer als Aufklärer

mit seiner Schlechtigkeit. Die Herrschaft des Verstandes .. , würde die Welt er-
träglich machen, nur ist sie leider unmöglich. Schopenhauer ist kein echter
Romantiker, sondern ein enttäuschter Nachfahre der Aufklärung. Sein Pessi-
mismus ist insgeheim an der Utopie einer verstandes mäßig eingerichteten Welt
orientiert. Weil der Grundsatz eines erträglichen Daseins für alle sich in der
individualistischen Gesellschaft nicht erfüllt, ist er ... nie zu erfüllen, und das
Elend wird zum Kennzeichen jeder Realität" (Gesammelte Schriften, Bd. 10,
hrsg. von Alfred Schmidt, FrankfurtJM. 1990, 407).
82.N,X.
83. W II, 354; vgl. hierzu auch 342.
84. Vgl. W II, 300.
85. Ebda., 353.
86. Ebda., 351.
87. Ebda., 367; vgl. hierzu auch 332, wo Schopenhauer den Willen als die
"Naturkraft" schlechthin ansieht.
88. Ebda., 407 und passim.
89. Ebda., 195.
90. Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Bd. X, FrankfurtJM. 41967, 214.
91. Vgl. W I, 79.
92. PlI, 296. - Die unbefangene Verwendung dieser dem Dunstkreis des deut-
schen Idealismus entstammenden Begriffe zeigt, daß Schopenhauer - trotz der
Nähe seines Denkens zur wissenschaftlichen Empirie - die längst zum materiali-
stischen Thema gewordene Frage nach der Einheit der Welt im Sinn der speku-
lativen Tradition glaubt beantworten zu können: sie gründet im all-einen Willen.
Für einen Materialisten wie Engels dagegen ist jene Einheit kein Ergebnis geni-
aler Intuition, sondern der Theoriegeschichte: "Die wirkliche Einheit der Welt
besteht in ihrer Materialität, und diese ist bewiesen ... durch eine lange und
langwierige Entwicklung der Philosophie und Naturwissenschaft" (Herrn Eugen
Dührings Umwälzung der Wissenschaft, Berlin 1960, 51).
93. P II, 173.
94. Ebda., 112.
95. Ebda.
96. N, 20; vgl. hierzu auch W II, 15.
97. Ebda., 198.
98. "Im metaphysischen Sinn", erklärt Schopenhauer, "bedeutet Geist ein imma-
terielles, denkendes Wesen. Von so etwas zu reden, den Fortschritten der heuti-
gen Physiologie gegenüber, die ein denkendes Wesen ohne Gehirn gerade so an-
sehen muß wie ein verdauendes Wesen ohne Magen, ist sehr dreist" (HN IV (1),
265). Hier wird, konsequent materialistisch, das "Erkennende" ein "Produkt",
eine "bloße Modifikation" der Materie. Nun soll es aber Schopenhauer zufolge
"ebenso wahr sein", daß die Materie "eine bloße Vorstellung des Erkennenden
sei" (W II, 15). Von beiden Sätzen behauptet er, daß sie gleichberechtigt, weil
gleich notwendig und auf gleiche Weise einseitig seien. Metaphysischer Materia-
lismus und subjektiver Idealismus werden so zu korrelativen, koexistierenden
Wahrheiten. Zu fragen bleibt jedoch, ob die "idealistische Grundansicht" (Vgl. W
11, 3 ff.) wirklich ebenso wahr ist wie die materialistische Position, die mit einer
"objektiven Ansicht des Intellekts" (ebda. 307 ff.) und der Annahme einer naiv-
realistisch gegebenen Außenwelt einhergeht.

41
Alfred Schmidt

99. Vgl. W II, 4.


100. "Bei HegeI", stellt Volkelt fest, "entspringt die Welt aus der Stille und
Klarheit, dem Masse und Gesetze des Logischen; bei Schopenhauer dagegen
quillt alles Sein aus einem dunklen, wüsten Abgrund voll leidenschaftlicher, un-
gezügelter Gewalten hervor" (Arthur Schopenhauer, a. a. 0., 161 f.). - Vgl. hierzu
ferner Alfred Schmidt, Idee und Weltwille. Schopenhauer als Kritiker Hegels,
München 1988, Kap. 2-5.
101. PlI, 111.
102. Während Hegel nicht zögert, den Geist "das sich selbst tragende absolute
reale Wesen" zu nennen (Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1952, 314), wei-
gert sich Schopenhauer, ängstlich bedacht auf Distanz zu positiver Religiosität,
den Willen als Absolutum zu betrachten. Vgl. dazu Schmidt, Die Wahrheit im
Gewande der Lüge, a. a. 0.,174 f.
103. Volkelt, a. a. 0., 343; vgl. hierzu auch 176. - Zu beachten ist, daß hier
Schelling nicht nur unter dem Aspekt seiner romantischen Naturphilosophie,
sondern auch unter dem des Voluntarismus seines späteren Werks herangezo-
gen wird.
104. Zitiert nach: Materialien zu Schopenhauers "Welt als Wille und Vor·
stellung", hrsg. von Volker Spierling, FrankfurtfM. 1984,344.
105. Vgl. Schmidt, Idee und Weltwille, a. a. 0., 113, 162.
106. G, 112; vgl. auch 114 f.
107. Ebda., 91.
108. Vgl. RN I, 159. - Vgl. hierzu auch Hans Barth, Wahrheit und Ideologie,
Erlenbach-Zürich/Stuttgart 21961, 193 ff.
109. Vgl. Schmidt, Idee und Weltwille, a. a. 0., Kap. 7.
110. G, 71.
111. Ebda., 116.
112. Ebda., 115. - Zu begrifilicher Erkenntnis, sagt Schopenhauer, kommt es, so-
bald bloße, an die Gegenwart gebundene Anschauung nicht mehr zureicht: "das
komplicirte, vielseitige, bildsame, höchst bedürftige und unzähligen Verletzun-
gen ausgesetzte Wesen, der Mensch, mußte, um bestehn zu können, durch eine
doppelte Erkenntniß erleuchtet werden, gleichsam eine höhere Potenz der an-
schaulichen Erkenntniß mußte zu dieser hinzutreten: die Vernunft als das
Vermögen abstrakter Begriffe" (W II, 180).
113. RN IV (1), 134.
114. Ebda., 187.
115. W 11, 222.
116. Vgl. ebda., 310 f.
117. Vgl. N, 42, 44 f.
118. W I, 209.
119. W 11, 233.
120. RN IV (1),43. - Schopenhauer definiert denn auch Philosophie als "vollstän-
dige Wiederholung, gleichsam Abspiegelung der Welt in abstrakten Begriffen"
(W 1,99).
121. RN IV (1), 21.
122. W 11, 331.
123. Ebda., 316.

42
Schopenh~uer als Aufklärer

124. Ebda., 331; vgl. auch P 11, 103, wo Schopenhauer ausführt, daß der objek-
tive Intellekt des Genies, der danach trachtet, metaphysisch zu werden, "die
Natur, das Ganze der Dinge", thematisiert. "In ihm nämlich fängt die Natur al-
lererst an, sich selbst so recht wahrzunehmen als etwas, welches ist und doch
auch nicht seyn könnte, oder wohl auch anders seyn könnte; während im ...
normalen Intellekt die Natur sich nicht deutlich wahrnimmt ... "
125. W Ii, 243.
126. Ebda., 242.
127. P 11, 68.
128. Ebda.
129. Ebda.
130. Ebda.
131. Ebda., 69.
132. Ebda.
133. HN IV (1), 135 f.
134. PlI, 69.
135. P I, 468.
136. Vgl. W II, 244.
137. Hierbei ist freilich zu beachten, daß Schopenhauer Autoren wie Helvetius
nur unter kritisch-diagnostischem Gesichtspunkt schätzt. Seine Lehre vom
Interesse als der Haupttriebfeder menschlichen Urteilens und HandeIns bestärkt
Schopenhauer in seiner Ansicht darüber, wie die Welt es treibt. Dagegen weigert
er sich, die hedonistische Seite der Philosophie des Helvetius moralisch ernstzu-
nehmen: "Die Moral der französischen Materialisten ist ein Gewebe plumper
Sophismen. Helvetius ist vortrefflich im Intellektuellen, - de l'esprit, schlecht im
Moralischen, - de ['homme" (Brief vom 31. Oktober 1856 an Julius Frauenstädt,
in: Arthur Schopenhauer. Philosophie in Briefen, hrsg. von Angelika Hübscher
und Michael Fleiter, FrankfurtJM. 1989, 353)
138. P II, 15.
139. W II, 244.
140. Ebda.
141. PI, 479.
142. Ebda.
143. Vgl. hierzu Barth, Wahrheit und Ideologie, a. a. O. 197 f. - Es ist ein Ver-
dienst der Barthschen Schrift, Schopenhauers Denken in die Problematik des
Ideologiebegriffs einzubeziehen.
144. PlI, 637.
145. Ebda.
146. PI, 487.
147. W II, 149.
148. Ebda., 148.
149. Ebda.
150. Ebda.
151. Ebda.
152. Ebda., 149.
153. Ebda., 153.
154. Ebda., 233.
155. Ebda., 233 f.

43
Alfred Schmidt

156. Ebda., 235.


157. Ebda., 588.
158. Ebda.
159. Ebda., 286.
160. Ebda., 587.
161. Marx, Das Kapital, Bd. 1, Berlin 1955, 91.
162. Ebda.
163. P 11, 622 f.
164. Ebda., 224.
165. Ebda., 224 f.
166. P I, 149.
167. Ebda., 447.
168. Pli, 617.
169. Ebda., 52.
170. Ebda., 74.
171. Ebda., 36.
172. W I, 209, 210.
173. P 11, 69.
174. W 11,362.
175. Ebda., 325.
176. P 11, 224.
177. W 11, 328. - Schopenhauers Wahrheitspathos ist radikal aufklärerisch: .Es
giebt keine ehrwürdigefnJ Lügen . ... Wir wollen zur Wahrheit und werden ohne
remorse selbst eine Vivisektion der Lügen vornehmen" (RN IV (1),119).

44
Schopenhauer als Ideologiekritiker

Von Dieter Birnbacher

1. Die Allgegenwart der Illusion

Schopenhauers Philosophie ist u. a. auch ein Enthüllungsdrama. Wie in


den bürgerlich-unbürgerlichen Schauspielen von Ibsen werden auch bei
Schopenhauer die Selbst- und Welt deutungen der Protagonisten eine
nach der anderen als Täuschungen, Illusionen und Lebenslügen ent-
larvt. Der Grundtenor bei Ibsen wie bei Schopenhauer ist, daß die
Menschen sich und anderen etwas vormachen - nicht nur, weil es ihnen
an dem nötigen Durchblick oder der erforderlichen Selbstdistanz man-
gelt, sondern weil sie sich und anderen etwas vormachen wollen oder
müssen - aus dem Bestreben oder der Nötigung heraus, ihre Trieb-
ansprüche und Gefühlsregungen angesichts vielfältiger Gefährdungen
im Gleichgewicht zu halten. Wille, Trieb und Bedürfnis treiben die Inter-
pretationen der Wirklichkeit - und insbesondere die der jeweils eigenen
Wirklichkeit - immer wieder über die Grenzen der Wirklichkeit hinaus
in den Bereich der Illusion, der Fiktion und des Selbstbetrugs. Die
Irrtumsheorie Descartes', nach der die Quelle allen Irrtums nicht im
Verstand, sondern im Willen liegt - vom nüchternen Descartes pathe-
tisch als "unendlich" qualifiziert 1 - , wird von Schopenhauer verallge-
meinert und radikalisiert: War für Descartes noch das problemlose
Funktionieren der Urteilskraft die Normalität und die Interferenz des
Willens lediglich eine mehr oder weniger vorübergehende Störung, ist
für Schopenhauer die durch den Willen - d. h. durch Trieb, Bedürfnis
und bewußtes Wollen bedingte - Verzerrung des Urteils eher die Regel
als die Ausnahme.
Einige Beispiele für diese Allgegenwart des Willens in unserer
Erkenntnistätigkeit hat Schopenhauer, der in diesem Punkt an die fran-
zösischen Moralisten und die philosophes der Aufklärungszeit anknüpft,
in Kapitel 19 des zweiten Bandes des Hauptwerks, "Vom Primat des
Willens im Selbstbewußtsein" gegeben. Zu Recht wird hier etwa die
Voreiligkeit, die Neigung, auch bei unvollständiger Beweislage scheinbar
sichere Urteile zu fällen und entsprechend zu handeln, von Schopen-
h::tuer als ein weitverbreitetes Übel diagnostiziert, das sich eines Über-
griffs des Willens in den Bereich des Verstandes verdankt: Der Wille zur
Sicherheit läßt dem Urteil nicht die Zeit, die es bräuchte, um wahrhaft
Sicherheit zu erlangen. Bekannter und berüchtigter ist seine Erklärung
Dieter Birnbacher

der sprichwörtlichen Schönheit der Frauen als :iner schlichten Sinnes-


täuschung, Produkt eines "vom GeschlechtstrIeb umnebelten männ-
lichen Intellekts": Bei nüchterner Betrachtung, d. h. für ein von allen
sinnlichen Antrieben losgelöstes "interesseloses Wohlgefallen" müßte
das "niedrig gewachsene, schmalschultrige, breithüftige und kurzbeinige
Geschlecht" eher als das unästhetische gelten. 2 Allgegeny'värtig ist nach
Schopenhauer vor allem das wishful thinking, die Uberschätzung
positiver und die Minderschätzung negativer Zukunftsaussichten und
die ungleiche Aufmerksamkeit, die wir Informatio~en schenken, je
nachdem, ob sie für das, was wir wünschen, günstIg oder ungünstig
ausfallen. Folgt man Schopenhauer, ist das "Prinzip Hoffnung" nichts
anderes als der unverschämt euphemistische Ausdruck für das Prinzip
unserer Illusionen. Diese werden schnell so lieb und teuer, daß wir uns
nur schwer dazu entschließen, sie kritisch zu überprüfen - ähnlich wie
wir beim Erwachen einen schönen Traum möglichst lange festhalten
möchten, an statt ihn dem ernüchternden Licht des anbrechenden
Morgens auszusetzen. In diesem Zusammenhang kommt Schopenhauer
dem Ibsenschen Begriff der Lebenslüge bereits sehr nahe:

Was dem Herzen widerstrebt, läßt der Kopf nicht ein. Manche Irr-
tümer halten wir unser Leben hindurch fest, und hüten uns, je-
mals ihren Grund zu prüfen, bloß aus einer uns selber unbewuß-
ten Furcht, die Entdeckung machen zu können, daß wir so lange
und so oft das Falsche geglaubt und behauptet haben. - So wird
denn täglich unser Intellekt durch die Gaukeleien der Neigung
betört und bestochen. 3

Verleugnung unangenehmer Erfahrungen und Erinnerungen, Selbst-


überschätzung, Entlastungslügen und die Verschiebung eigener Schuld
auf die Gesellschaft und die Verhältnisse, die nicht so sind, wären nicht
die universalen Phänomene, die sie sind, wären sie nicht von unmittel-
barem und offensichtlichem Nutzen. Sie tragen wesentlich dazu bei, po-
tentiell übermächtige Gefühle von Schuld und Scham, von Einsamkeit
und Verzweiflung, von Ratlosigkeit, Ohnmacht und Handlungsunfähig-
keit abzuwehren und ein Minimum an Selbstachtung aufrechtzuerhal-
ten. Aber auch da, wo nicht gleich das seelische Gleichgewicht auf dem
Spiel steht, sind Illusionen hilfreich. Wie viele Bücher wären nicht ge-
schrieben worden, machten sich ihre Autoren nicht weit überzogene
Vorstellungen über ihre Wir:htigkeit und Originalität? Wie viele Ehen
würden noch eingegangen, wäre den Partnern bei der Eheschließung
bewußt, daß die Wahrscheinlichkeit einer Scheidung nahe bei fifty-fifty
liegt? Von offenkundigem Nutzen sind vor allem die oft verblüffend ein-
fallsreichen Konstruktionen, die wir zur Erhaltung des Selbstwertge-
fühls aufbieten. Die dadurch erreichte Zufriedenheit wirkt sich, wie man

46
Schopenhauer als Ideologiekritiker

inzwischen weiß, nicht nur psychisch, sondern auch physisch wohltuend


aus: Optimisten und Menschen mit guter Selbsteinschätzung werden -
offenbar weil ihr Immunsystem besser funktioniert - deutlich weniger
krank als andere. Volker Sommer berichtet in seinem Buch "Lob der
Lüge" u ... a., daß etwa Leute, die sich als "Optimisten" bezeichnen,
seltener Arzte aufsuchen und nur etwa halb so häufig eine Erkältung
haben wie "pessimistische" Vergleichspersonen. 4
Nun ist freilich die Erkenntnis, daß die Vernunft "der Sklave der
Leidenschaften" ist, keine Neuentdeckung in der Philosophie. Schon
Hume, auf den das geflügelte Wort zurückgeht, warnte: ,.All doctrines
are to be suspected which are favoured by our passions."5 Seit der psy-
choanalytischen Theorie des Unbewußten und der unbewußten Strate-
gien der Verdrängung, Verleugnung und positiven Umdeutung ist
Schopenhauers Entlarvungspsychologie fast so etwas wie Gemeingut
geworden. Aber das Problem der willensbestimmten Wahrnehmungs-
verzerrungen wird dadurch für die Praxis des privaten und öffentlichen
Lebens nicht gemindert. Nach wie vor verdanken sich eine Reihe realer
moralischer Problem lagen direkt oder indirekt dem Vorherrschen illuso-
rischer Selbstwahrnehmungen. So stellt sich in entsprechenden Befra-
gungen immer wieder heraus, daß sich die meisten Autofahrer für
überdurchschnittlich gute Autofahrer halten, was einen entsprechend
risikofreudigen Fahrstil begünstigt. Weitverbreitet sind Unverwundbar-
keitshaltungen, was Unfälle un4 Gesundheitsrisiken betrifft. Die mei-
sten meinen, überdurchschnittlich gegen gesundheitliche Gefahren
gefeit zu sein und auf Prävention verzichten zu können. Ihre persönliche
Uberlebenswahrscheinlichkeit schätzen die meisten Befragten weit
höher ein, als es ihrer objektiven statistischen Lebenserwartung ent-
spricht. 6 Die moderne Sozialpsychologie erklärt derartige Interferenzen
von Wille und Verstand mit der Theorie der kognitiven Dissonanz, die
besagt, daß auftretende Widersprüche zwischen Wünschen, Ansprüchen
und Meinungen der Tendenz nach ausgeglichen werden. Entweder die
Wünsche und Ansprüche passen sich den Meinungen an, dann sprechen
wir zumeist von einer "reifen" Leistung der Anpassung an die realen -
oder für real gehaltenen - Befriedigungsmöglichkeiten; oder die Meinun-
gen werden, wie beim Wunschdenken und der Lebenslüge an die Wün-
sche und Ansprüche angepaßt, was gewöhnlich weniger positiv beurteilt
wird - es sei denn, es handle sich um harmonisierende metaphysische
oder religiöse Auffassungen, bei denen auch Vertreter von Autonomie-
Idealen öfter mal ein Auge zudrücken.
Auch dafür gibt es einen naheliegenden Grund. Wer sich im
Alltag Illusionen leistet, wird eher vom Leben bestraft als wer sich über
sich selbst oder über etwaige transzendente Tröstungen betrügt. Wäh-
rend Fehleinschätzungen hinsichtlich der eigenen Person und des
Weltlaufs im·großen nur selten falsifiziert werden, werden Fehleinschät-

47
Dieter Birnbacher

zungen über den Weltlauf im kleinen gewöhnlich von der Realität einge-
holt. Für sie, aber auch nur für sie gilt Jon Elstcrs drastisches Bild:
"Usually, ... , the pleasure ofwishful thinking is ofbrief duration, like the
warmth provided by pissing on one's pants."7 Entsprechend werden in
diesem Bereich Realismus, Erfahrung und Lebensklugheit auch sozial
hochgeschätzt. Anders, wenn sich die Fehleinschätzungen auf den eige-
nen Charakter, die eigenen Motive und die eigene weiße Weste beziehen.
In diesem Fall schließt die mangelnde Aufgeklärtheit über sich selbst
dauerhaften Erfolg in der Welt durchaus nicht aus. Viele erfolgreiche
Tatmenschen wissen über nahezu alles, nur nicht über sich selbst Be-
scheid, u. a. weil ihnen niemals ein Mißerfolg Anlaß gab, über sich selbst
nachzudenken. Noch weniger gesellschaftlich sanktioniert werden
Illusionen, die sich auf weltanschauliche und religiöse Angelegenheiten
beziehen, und die man - gewissermaßen kompensatorisch - häufig ge-
rade bei ansonsten konsequent realistisch denkenden Tatmenschen an-
trifft. Auf diesem Gebiet werden Wunschphantasien (etwa religiöser
Art), solange sie sozial ungefährlich oder sogar nützlich sind, eher posi-
tiv beurteilt.
Sigmund Freud, der Vater der Tiefenpsychologie, war in diesem
Punkt kompromißloser. Für ihn war die Religion eine um nichts weniger
infantile Wunschbefriedigung als die Symptome des Neurotikers. Ein
Kernsatz seiner Religionskritik lautete:

Diese (die religiösen Vorstellungen) ... sind nicht Niederschläge


der Erfahrung oder Endresultate des Denkens, es sind Illusionen,
Erfüllungen der ältesten, stärksten, dringendsten Wünsche der
Menschheit; das Geheimnis ihrer Stärke ist die Stärke dieser
Wünsche,s
Anders als die Psychologen haben die Philosophen - und zumeist auch
diejenigen, die es sich angelegen sein ließen, die kleinen Illusionen des
Alltags zu entlarven - die großen Illusionen des Lebens überwiegend
nicht nur bestätigt, sondern durch metaphysische Konstruktionen sogar
noch überhöht. Aus einer Freudianischen Sicht hat sich die Philosophie
damit selbst zur Sklavin der Triebbefriedigung gemacht und sich unter
die Herrschaft des Lust- statt des Realitätsprinzips gestellt. Freilich
liegen die großen Illusionen der Philosophie nicht in derselben Weise of-
fen zutage wie die kleinen Illusionen des Alltags_ Jede Diagnose einer
Illusion setzt einen Anspruch auf Wissen darüber voraus, daß das
Geglaubte in der Tat falsch oder zumindest schief ist, die Wahrheit ver-
fälscht oder verzerrt; und ein solcher Anspruch ist im Bereich der
Anthropologie, der Ethik und der Metaphysik weniger leicht zu begrün-
den als im Bereich der Alltagspsychologie_

48
Schopenhauer als Ideologiekritiker

2. Metaphysikkritik bei Schopenhauer

Geht man von Schopenhauers Sichtweise, d. h. dem durchgängigen


Primat des Willens über den Verstand aus, stellen sich in der Tat die so-
genannten "großen Themen der abendländischen Metaphysik" überwie-
gend als Scheinprobleme dar, die nur deswegen als Probleme gelten,
weil sich das Interesse gegen die bessere Einsicht sträubt und Fragen
offenhält, die, ginge es ausschließlich um die Sache, längst erledigt wä-
ren. Die Freiheit des Willens, die Möglichkeit von Unsterblichkeit, die
Existenz eines dem Menschen objektiv vorgegebenen "Sittengesetzes",
die Existenz eines persönlichen Gottes und der mögliche Sinn der
Geschichte wären seit langem keine Probleme mehr, gäbe es nicht den
tiefempfundenen Wunsch nach Freiheit, Unsterblichkeit, Sittengesetz,
Gott und objektivem Sinn der Geschichte. Alle diese Hypothesen kom-
men wichtigen menschlichen Bedürfnissen entgegen: die Hypothese der
Willensfreiheit dem Bedürfnis, sich als Herr seines eigenen Lebens zu
wissen, statt in Denken und Handeln letztlich durch kontingente äußere
Faktoren determiniert zu sein; die Hypothese der Unsterblichkeit dem
narzißtischen Bedürfnis nach Überwindung von N aturverfallenheit; die
Hypothese eines objektiv vorgegebenen Sittengesetzes dem Bedürfnis
nach einer verbürgten und verläßlichen Richtschnur; die Hypothese ei-
nes persönlichen Gottes dem Bedürfnis nach väterlicher Geborgenheit
und einer Heimstatt, die über die Grenzen des irdischen Lebens hinaus-
reicht; die Hypothese eines objektiven Sinns in der Geschichte, dem Be-
dürfnis nach Einordnung in vorgegebene Sinnbezüge und der Ent-
lastung vom Wagnis autonomer Sinnfindung.
Diese metaphysikkritischen Konsequenzen aus seiner metaphy-
sischen Lehre hat Schopenhauer allerdings nur selten ausdrücklich ge-
zogen. Da, wo er sie zieht, steht er seinem Schüler Nietzsehe an
Radikalität kaum nach. Das beste Beispiel ist seine Erklärung für die
weitverbreitete Überzeugung von der (nach seiner Auffassung illusori-
schen) Willensfreiheit. Einer von den vielen über die Preisschrift über
die Freiheit des menschlichen Willens verstreuten Erklärungsansätzen
dafür, daß wir uns einen freien Willen zuschreiben, obwohl uns doch das
Selbstbewußtsein dazu nicht den geringsten Anhaltspunkt liefert, lautet
schlicht: Man hat den freien Willen erfunden - aus keinem anderen
Grund als dem Bedürfnis, den "Urheber dieser Natur" von Schuld für
das von Menschen wissentlich und willentlich verursachte moralische
und außermoralische Übel zu entlasten. 9 Die Willensfreiheit ist nicht
nur eine willkommene, sie ist auch eine gewollte Fiktion.
Zumeist begnügt sich Schopenhauer damit, die Unhaltbarkeit
von Hypothesen wie der eines objektiv vorgegebenen Sittengesetzes, ei-
nes persönlichen Gottes oder eines objektiven Sinns in der Geschichte

49
Dieter Birnbacher

zu demonstrieren (oder gelegentlich auch einfach vorauszusetzen), ohne


sich mehr als nur ansatzweise die Frage zu stellen, warum diese Hypo-
thesen dennoch für viele eine "live option" (William James ) - eine immer
wieder präsente und für diskussionswürdig gehaltene Alternative - blei-
ben. Während Schopenhauer die Illusionen des Alltags als Produkte
überschießender unbewußter Bedürfnisse diagnostiziert, macht er nur
gelegentlich den weiteren Schritt - den später Feuerbach, Nietzsche und
die moderne Weltanschauungsanalyse unternommen haben -, auch die
Illusionen der Metaphysik als Projektionen zu analysieren.
Vielleicht war Schopenhauer selbst viel zu sehr Metaphysiker,
um eine globale anthropologische Relativierung der Metaphysik nicht
als bedrohlich für den Geltungsanspruch seiner eigenen Philosophie zu
empfinden. lo Denn zweifellos verrät auch seine eigene, keineswegs kon-
sequent pessimistische Metaphysik Züge von unbewußter Wunscherfül-
lung. Die trotz aller Dämonisierung des Weltwillens .positiv gewertete
Alleinheit des tat tvam asi ist auch eine illusorische Uberwindung von
Einsamkeit, ebenso wie der Gedanke eines Eingehens des durch den Tod
aus Raum und Zeit befreiten individuellen Willens in ein raum- und
zeitloses Nichts eine letztlich illusorische' Form der Erlösung ist und auf
eine andere Weise, als er gemeint ist, Ludwig Marcuses Satz bestätigt:
"Schopenhauer ... zauberte noch einmal - ein letztes Mal - mit der Ent-
zauberung."ll Denn die Vorstellung einer Erlösung im Nichts wird von
Schopenhauer keineswegs als absolutes Verlöschen konzipiert, sondern
als eine Raum und Zeit transzendierende Form positiver Erfüllung: "Zu
ewiger Fortdauer ist kein Individuum geeignet: es geht im Tode unter,
Wir jedoch verlieren dabei nichts .."12 Wogegen sich einwenden läßt, daß
wir wenn auch vielleicht nicht nichts, so doch sehr viel verlieren, näm-
lich alle nicht anders als zeitlich denkbaren Tätigkeiten und Zustände
einschließlich Fühlen, Wollen und Empfinden. Selbst noch ekstatische
Zustände von Zeitlosigkeit lassen sich nicht anders denn zeitlich be-
stimmt denken.
Aber zweifellos leistet Schopenhauer zu einer konsequent emoti-
vistisch-voluntaristischen Metaphysikkritik gewichtige Vorarbeiten. Bei
keinem anderen Philosophen wird mit vergleichbarer Schärfe der opti-
mistische und damit Wunscherfüllungs-Charakter der großen abend-
ländischen metaphysischen Systeme - außer denen des Materialismus,
zu denen Schopenhauer vielleicht auch deshalb unverkennbare Sympa-
thien hegt - herausgestellt. Kein anderer Philosoph vor ihm hat sich so
gründlich darüber verwundert, daß die Philosophen in der Mehrzahl
Vernunft statt Unvernunft, Geist statt Ungeist, Zweck statt Zufall in
der Welt am Werke sehen, ein gutes statt böses welterschaffendes Prin-
zip postulieren und die Transzendenz, zumindest in ihren höchsten
Regionen, mit Wesen bevölkern, die vollkommener und nicht etwa un-
vollkommener als die Menschenwelt sind. Aus dieser Perspektive er-

50
Schopenhauer als Ideologiekritiker

scheint die Geschichte der abendländischen Metaphysik eigentümlich


zum Positiven hin verzerrt. Psychoanalytisch gesprochen, erscheint sie
wie eine einzige grandiose Verleugnung, eine Wunschprojektion nach
dem Modell "Brüder, überm Sternenzelt muß ein lieber Vater wohnen". 13

3. Was heißt "Ideologie"?

Sobald eine willensbestimmte Verfälschung oder Verdrehung der Wahr-


heit eine soziale oder politische Funktion übernimmt und diejenigen, die
die derart verzerrte Wahrheit für bare Münze nehmen, dieser Funktion
nicht oder nur unvollständig bewußt sind, kann man von einer Ideologie
sprechen. "Ideologie" ist ein äußerst vieldeutiger und nuancenreicher
Begriff, von dem überdies nicht immer klar ist, ob er in einern neutralen
oder kritischen Sinn intendiert ist. So ist er z. B. in der jüngsten Ver-
gangenheit von der Frankfurter Schule (im Gefolge von Marx) durchweg
mit polemisch-kritischem Unterton, von der Philosophie der ehemaligen
DDR dagegen zU!lleist neutral gebraucht worden. Ich werde den Begriff
im folgenden in Ubereinstimmung mit der heute vorherrschenden Ver-
wendungsweise ausschließlich in einern kritischen Sinn verwenden, und
zwar kritisch in Bezug auf den Fremd- oder Selbsttäuschungscharakter
ideologischer Aussagen, Konzeptionen oder Theorien. Man kann ja
gegen Ideologien aus ganz verschiedenen Gründen etwas einzuwenden
haben: erstens aus dem sachlichen Grund, daß sie falsch, unglaub-
würdig, unbegründet oder unwissenschaftlich sind; zweitens aus dem
politischen Grund, daß sie den nach eigener Ansicht falschen Zielen
dienen, etwa indern sie die bestehenden sozialen oder politischen Ver-
hältnisse, je nachdem, ob man sie ablehnt oder befürwortet, stabilisieren
oder destabilisieren; drittens aus dem Grund, daß diejenigen, die die
Ideologie für die Wahrheit nehmen, sich über die damit verfolgten
Zwecke bzw. über deren tatsächlichen sozialen und politischen Funk-
tionen nicht oder nur unzureichend im klaren sind. Als Marx und
Engels an die abfälligen Bemerkungen Napoleons über die "ideologues"
anknüpften und ihre sarkastische Kritik an Feuerbach, Bauer und
Stirner "Deutsche Ideologie" betitelten, ging es ihnen weniger um die
inhaltlichen Mängel von deren Philosophie als um deren funktionale
Verkehrtheit, ihre die bestehenden Verhältnisse zementierenden statt
revolutionär aufbrechende Funktion. Ideologiekritik kann damit als eine
Form der Kritik verstanden werden, die die erste und zusätzlich eine
der beiden weiteren im folgenden aufgeführten Komponenten aufweist:
1. eine theoretische Kritik an der inhaltlichen Falschheit oder
Schiefheit bestimmter als ideologisch qualifizierter Anschauungen,
Theorien und Deutungen,

51
Dieter Bimbacher

2. eine politisch-ethische Kritik an den Zwecken, die mit der


Verbreitung der Ideologie angestrebt werden bzw. an den Funktionen,
die sie gewollt oder ungewollt übernimmt,
3. eine politisch-ethische Kritik an der Tatsache, daß sich dieje-
nigen, die sich die Ideologie zu eigen machen, ihren pragmatischen
Zusammenhang mit Zwecken oder Funktionen nicht oder nur unvoll-
kommen durchschauen, obwohl sie sie durchschauen könnten, und auf
diese Weise in einem Zustand "fremdverschuldeter Unmündigkeit" fest-
gehalten werden.
Die erste Bedingung der inhaltlichen Falschheit scheint mir in
der Tat notwendig, um zu Recht von einer "Ideologie" sprechen zu kön-
nen. Die Wahrheit kann niemals ideologisch sein, mögen auch beide oder
eine der beiden zusätzlichen Bedingungen erfüllt sein, d.h. die Wahrheit
zu kritikwürdigen Zwecken verbreitet werden, kritikwürdige Funktio-
nen übernehmen oder diejenigen, die von ihr überzeugt sind, sich dieser
Zwecke oder Funktionen nur unvollständig bewußt sein. In dieser Hin-
sicht ist der Begriff der Ideologie festgelegt. In anderen Hinsichten ist er
offen: Erstens schließt er neben deskriptiv falschen auch normativ fal-
sche Aussagen, Auffassungen und Deutungen ein. Nicht nur deskriptive
Verfälschungen der aktuellen Wirklichkeit, der Geschichte oder der
Zukunft können ideologisch sein, sondern auch normative Bewertungen,
Forderungen und Programme. Zweitens läßt er es offen, ob die Zwecke
oder Funktionen, denen eine Ideologie dient oder dienen soll, in jedem
Fall kritikwürdig sind oder dafür gehalten werden. Man kann von einer
Ideologie auch dann sprechen, wenn diese Zwecke und Funktionen neu-
tral oder positiv bewertet werden. Entscheidend ist in diesem Fall
lediglich, daß diese Zwecke oder Funktionen mit problematischen Mit-
teln erreicht werden, nämlich mit deskriptiv oder normativ unzu-
reichend fundierten Welt- und Selbstdeutungen, und daß diejenigen,
denen diese Welt- und Selbstdeutungen vermittelt werden, sich über die
damit erstrebten oder faktisch erfüllten Zwecke und Funktionen nicht
im klaren sind.
Die Etikettierung bestimmter Überzeugungen und Überzeu-
gungssysteme als "Ideologie" hängt danach stets von einer Reihe sach-
licher, ethischer und politischer Beurteilungen ab. Georg Lukacs konnte
in "Die Zerstörung der Vernunft" die Philosophie Schopenhauers implizit
als Ideologie charakterisieren (statt von "Ideologie" sprach er von "Irra-
tionalismus"), da er in ihrer pessimistischen Tendenz ein Motiv für den
in der wilhelminischen Zeit zu beobachtenden Rückzug ins Private und
die wachsende Abneigung gegen politische Aktionen sah. 14 Wer Lukacs'
Bewertungen nicht teilt, wird nicht auf den Gedanken kommen, der
Philosophie Schopenhauers einen Ideologievorwurf zu machen. Auch
wird niemand, der an eine Ideologie glaubt, sie Ideologie nennen. Noch
wird der sie Ideologie nennen, der nicht an sie glaubt, sie aber dennoch

52
Schopenhauer als Ideologiekritiker

aus funktionalen Gründen verbreiten zu müssen meint, etwa weil er


davon überzeugt ist, daß die mit ihr zu verfolgenden Ziele wichtig genug
sind um ihren mangelnden Wahrheitsgehalt und den Täuschungs-
char~kter des Ganzen aufzuwiegen.

4. Religion als Ideologie

Das Musterbeispiel einer Ideologiekritik in diesem Sinne hat Schopen-


hauer mit seiner Religionsphilosophie geliefert. 15 Nach ihr erfüllt die
Religion - in dem engeren Sinne zumindest, in dem die antiken Griechen
keine Religion hatten 16 - sowohl die notwendigen als auch die hinrei-
chenden Bedingungen für eine Ideologie. Erstens sind ihre Aussagen
wortwörtlich genommen ohne Realitätsgehalt. Zwar sind die Mythen,
Legenden, Erzählungen und göttlichen Gebote der Religion für Schopen-
hauer Einkleidungen der metaphysischen und ethischen Wahrheit, da-
mit aber gleichzeitig auch Verkleidungen und Verschleierungen dieser
Wahrheit. Die Religion ist zwar die "Wahrheit im Gewande der Lüge"17,
aber deshalb doch immer auch Lüge. Denn sie ist darauf angewiesen, die
in Wahrheit symbolische Wahrheit ihrer Aussagen für eine wörtliche
Wahrheit auszugeben. Wollte sie ihren metaphysischen Wahrheitskern
ohne die für sie charakteristische allegorische Einkleidung aussprechen,
würde sie in Philosophie übergehen und ihre Rolle als "Volks meta-
physik" einbüßen. Ihre wesentlichen Leistungen, nämlich das "metaphy-
sische Bedürfnis" des Menschen zu befriedigen, als verläßliche Richt-
schnur für das Handeln zu dienen und Beruhigung und Trost im Leiden
und im Tod zu bieten, erbringt sie nur in ihrer konkreten, bildhaften
und narrativen Form.
Damit ist aber zweitens die weitere Bedingung erfüllt, daß dieje-
nigen, denen die ideologische Konstruktion vermittelt wird, sich über die
lediglich pragmatische Rechtfertigung dieser Konstruktion nicht im kla-
ren sind. Im Falle der Religion besteht hier nach Schopenhauer sogar
eine streng notwendige Verknüpfung: Wer an die wörtliche Wahrheit
der Religion glaubt, darf den lediglich pragmatischen Zusammenhang
zwischen Inhalt und Funktion religiöser Glaubenslehren nicht durch-
schauen, wenn die Religion ihre Rolle als Tröstung und Anleitung zum
seligen Leben spielen soll. Ein Bild, das als bloßes Bild durchschaut ist,
bleibt zwar ein Bild, aber es verliert seine Verbindlichkeit. Ein Mythos,
der als bloßer Mythos durchschaut ist, behält zwar seine pädagogisch-li-
terarische Funktion, hat aber keine Gewalt mehr über die Seele. Sie
kann die Wahrheit nicht mehr im Mythos selbst finden, sondern muß sie
in dem suchen, was er symbolisiert. Falls das Symbolisierte wahr ist,
wird diese Wahrheit nicht mehr durch die Symbolisierung selbst ver-
bürgt, sondern muß unabhängig begründet werden. Jede "Offenbarung"

53
Dieter Birnbacher

wird damit hinfällig. Sobald die Offenbarung lediglich als Symboli-


sierung genommen wird, ist sie keine "Off~nbarung" mehr. Sie ist nicht
mehr Quelle der metaphysischen WahrheIt, sondern bloßes Vehikel ih-
rer Verl1)ittlung, nicht mehr Haupt-, sondern Nebensache.
Man kann zwischen einem stärkeren und schwächeren Begriff
von Ideologie unterscheiden, je nachdem, ob die falsche oder verzerrte
Ansicht mit oder ohne Bewußtsein ihrer Unwahrheit verbreitet wird.
Trotz seiner Vorbehalte gegen eine rein rationalistische Religionskritik,
die mit der äußeren Hülle des Christentums auch gleich dessen philoso-
phische Essenz "zum Fenster hinauswirft", folgt Schopenhauer den phi·
losophes der Aufklärung darin, die Religion wesentlich für Priestertrug,
also für Ideologie im starken Sinne zu halten. D. h. auch Schopenhauer
vermutet, daß "die Supranaturalisten mit ihrer Vindizierung der Wahr-
heit sensu proprio für eine bloße Allegorie denn doch wohl absichtlich
andere zu täuschen suchen."18
Hier möchte man allerdings fragen, ob Schopenhauer nicht das
Ausmaß, in dem sich religiöse Ideologen über das, was sie tun, im klaren
sind, überschätzt. Kann nicht Rationalität in einem menschlichen Kopf
mit (orthodoxer) Religiosität sehr wohl koexistieren? Verkennt Schopen-
hauer nicht vielleicht das Ausmaß, in dem auch die Gebildeten unter ih-
ren Anhängern "blinde Flecke" haben, ja vielleicht sogar kultivieren?
Schopenhauer geht sogar so weit, die Religion für ein lediglich vorüber-
gehendes Phänomen zu halten: Die "Religionen sind Kinder der Un-
wissenheit, die ihre Mutter nicht lange überleben."19 In diesem Punkt ist
der Pessimist Schopenhauer überraschend optimistisch. Schließlich ist
das von keinem anderen als Schopenhauer selbst so deutlich herausge-
stellte "metaphysische Bedürfnis" für die meisten kein Bedürfnis nach
rationaler abstrakter Metaphysik, sondern ein Bedürfnis nach versöhn-
lichen und tröstlichen Bildern. "Die Menschheit wächst die Religion aus,
wie ein Kinderkleid; und da ist kein Halten; es platzt."20 Zu einem sol-
chen Satz hätte sich nicht einmal ein Aufklärer wie Hume verstanden.
Die Lehre vom Primat des Willens über den Intellekt hätte hier
Schopenhauer vorsichtiger formulieren lassen müssen: Die Triebkräfte
der Religion sind auch in einer rationalisierten Gesellschaft nur ge-
schwächt, aber nicht zum Erliegen gebracht. Eher im Gegenteil. In dem-
selben Maße, in dem sich Vernunft und Wissenschaft als unfähig erwei-
sen, das metaphysische Bedürfnis und das ebenso starke Bedürfnis nach
ethischer Gewißheit zu befriedigen, bleiben die Verlockungen der
Religion - wie anderer Heilsideologien auch - weiterhin attraktiv. Viel-
leicht konnte Schopenhauer das Sinnstiftungspotential der Philosophie
nur deshalb so hoch veranschlagen, weil er seine eigene Philosophie vor
Augen hatte, die anders als der mainstream der Philosophie nicht gänz-
lich "durchrationalisiert" ist, sondern über ihre rational-argumentativen
Anteilen hinaus ausgeprägt expressive, "romantische" Züge aufweist

54
Schopenhauer als Ideologiekritiker

und sich dadurch stärker als andere auch an religiöse oder quasi-
religiöse Bedürfnisse richtet. 21

5. Ökologische Ideologien der Gegenwart

Wenig spricht dafür, daß die Ideologien unter dem hellen Licht der
Aufklärung dahinschmelzen und nie wiederkommen. Wahrscheinlicher
ist, daß sie kommen und gehen, solange die Menschheit besteht. Heute
erleben wir einen einzigartigen und unvorhergesehen Aufstieg der
Ideologien insbesondere im Bereich der ökologischen Bewegung. In dem
löblichen Bestreben, den ökologischen Umbau nicht nur der Industrie-
gesellschaft, sondern unserer Umgangsweisen mit der Natur insgesamt
voranzutreiben, sind in den letzten Jahren eine Reihe von pragmatisch
motivierten »Ökosophien" auf den Plan getreten, die den zumeist nicht
unbegründeten Anspruch erheben, sehr viel direkter weitverbreitete
Gefühlshaltungen gegenüber der Natur anzusprechen und sehr viel ef-
fektiver auf Verhaltensmotivationen einzuwirken als konkurrierende
rationale Konzeptionen, sich gleichzeitig aber über herkömmliche
Ansprüche an Rationalität und .~issenschaftlichkeit großzügig hinweg-
setzen. Nicht immer sind diese Oko-Philosophien, nach denen die Natur
der "Partner" des Menschen ist oder werden soll, Pflanzen bestimmte
Interessen und moralische Rechte gegen den Menschen haben oder
sogar zu Schmerzen und psychischen Leidenszuständen fähig sind, für
ihre Autoren - zumeist Aktivisten der ökologischen Szene - bloße Mittel
zum Zweck. Einige meinen es offensichtlich ernst oder lassen es - wie
einige darin geübte theologische Autoren - in der Schwebe, ob sie die
Redeweise von Partnerschaft, Interessen, Eigenwerten und Eigen-
rechten wörtlich oder nur metaphorisch verstehen. Aber insgesamt sind
nur wenige, die so leichthin von "Schöpfung", "Mitgeschöpflichkeit",
"Partnerschaft", "Zwecken der Natur" usw. reden, bereit, die damit im-
plizierten theologischen und naturmetaphysischen Inhalte wirklich zu
vertreten. Die Begriftlichkeit der abendländischen Metaphysik wird viel-
mehr rückhaltlos funktionalisiert. Sie wird umfunktioniert zu einem
strategisch einzusetzenden Instrument in einem aus praktischen Grün-
~en für notwendig gehaltenen Bewußtseinswandel. Ausgehend von der
Uberzeugung, daß nur wer an den Eigenwert der Natur glaubt, um-
sichtig und vorsorglich mit ihr umgehen wird, wird der intellektuelle
Drahtseilakt unternommen, eine "ökozentrische" Theorie eines allen
menschlichen Bewertungen vorausliegenden Eigenwerts der Natur zu
entwickeln. Die gutgläubigen Protagonisten dieser Art strategischer
Theorieproduktion merken dabei gar nicht, wie sehr sie sich damit den
ehemaligen Vertretern der DDR-Philosophie angleichen, die die Kurs-
änderungen der jeweils letzten Parteitagsbeschlüsse nahtlos in ihre

55
Dieter Bimbacher

Philosophien einbauten und auf diese Weise nachträglich legitimierten.


Schon zu Anfang der 70er Jahre hatte sich der australische Theologe
John Black auf den Standpunkt gestellt, daß ein bestimmtes Weltbild
auch bei ausgemachter Unhaltbarkeit yertreten werden dürfte, falls es
den praktischen Erfordernissen einer Anderung der Einstellungen zur
Natur entgegenkomme. 22 Da Black selbst nicht glaubte, daß sich ein ro-
mantisierender "neuer Naturbegriff" (etwa panpsychistischer Art) ko·
gnitiv absichern oder auch nur glaubwürdig machen läßt, sann er dem
Öko-Philosophen die Rolle des Mythologen an, der möglichst motivie.
rende, bildkräftige und suggestive Mythen entwickelt, ganz gleichgültig,
ob er diese mit seinem intellektuellen Gewissen vereinbaren kann - ver-
gleichbar einer gewissen Strömung der gegenwärtigen evangelischen
Theologie, die sich als ein radikal säkularisiertes, aus jeder dogmati-
schen Bindung entlassenes freischwebendes Unternehmen der Sinn-
stiftung und Krisenbewältigung versteht.
Inzwischen ist Blacks Forderung vielfach aufgegriffen und reali-
siert worden. Bei dem Umweltjuristen Klaus Bosselmann wird ganz un-
verhohlen eine ökozentrische Wende als Bedingung der ökologischen
Wende gefordert, wobei die Ziele, um die es geht, vor allem das Ziel eines
Wirtschaftens unter Bedingungen langfristiger Bestandserhaltung,
ihrerseits rein anthropozentrisch definiert sind 23 : "Die Befreiung der
Natur ist zum Schlüssel für die Befreiung des Menschen geworden."24
Nicht primär für sie, sondern für uns sei die "Rücksichtnahme auf die
eigenen Interessen der Wälder, Flüsse, Ozeane, ja der natürlichen
Umwelt insgesamt" lebenswichtig. 25 Wenn schon eine Sichtweise der
Natur als quasi-subjekthafter Partner des Menschen, mit dem sich
"Frieden" schließen, "kooperieren" oder "mitfühlen" läßt, sachlich-philo-
sophisch nicht zu rechtfertigen ist, soll sie zumindest pragmatisch, als
eine zweckdienliche Konstruktion gerechtfertigt werden.
Wie leicht zu sehen ist, weist ein derartiger Schluß von einem
Sollen auf ein Sein - eine Art umgekehrter naturalistischer Fehlschluß,
wie es Kurt Bayertz genannt hat 26 - alle notwendigen Merkmale der
starken Ideologie im oben postulierten Sinne auf. Er läuft auf eine be-
wußte Verzerrung der Wahrheit hinaus, die ihre erhoffte Wirkung nur
dann entfalten kann, wenn sie für die Wahrheit genommen wird und ihr
rein funktionaler Charakter undurchschaut bleibt. Daß die Natur kein
Subjekt ist, mit dem der Mensch wortwörtlich eine Partnerschaft auf-
nehmen kann, daß sie moralisch indifferent ist, daß Pflanzen und an-
dere Naturwesen ohne Subjektivität keine Interessen im wörtlichen
Sinn ~aben, daß es keinen Wert ohne Bewertung gibt, wissen die Auto-
ren dIeser Konstruktionen selbst gut genug. Aber uneigentlich, me-
taphorisch oder im Sinne eines Als-ob verstanden wären solche Aus-
sagen ~benso unwirksam wie eine Religion, die sich selbst als "bloß me-
taphonsch" relativiert und damit auf Philosophie oder schöne Literatur

56
Schopenhauer als Ideologiekritiker

reduziert. Immerhin läßt sich für diese rezente und begrenzte Form der
Ideologie Schopenhauers optimistische Prognose leichter aufrechterhal-
ten als für die Religion: Mit der für die Zukunft zu erhoffenden Ent-
schärfung der gegenwärtigen ökologischen Probleme dürfte auch diese
Form der Ideologie viel von ihrem Charme einbüßen und schließlich in
der metaphysischen Rumpelkammer landen.

Anmerkungen
1. Principia 1, 34.
2. P II, 656.
3. W II, 244.
4. Volker Sommer, Lob der Liige. Täuschung und Selbstbetrug bei Tier und Mensch,
München 1992, 138. Vgl. auch SheUey E. Taylor /Jonathan D. Brown, llusion and
well-being: A social psychological perspective on mental health, Psychological
Bulletin 103 (1988), 193-210.
5. David Hume, Essays, moral, political and literary, Oxford 1963, 604.
6. Vgl. Volker Sommer, a. a. 0., 136.
7. Jon Elster, Solomonicjudgements, Cambridge 1989,23.
8. Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion. In: S. Freud, Massenpsychologie
und Ich-Analyse, FrankfurtIM. 1967, 110.
9. E, 72.
10. Hierin sieht Terry Eagleton das zentrale Paradoxon der Philosophie
Schopenhauers: Wie ist der Wahrheits anspruch dieser Philosophie mit dem von
ihr implizierten "Ideologieverdacht" gegen jeglichen Vernunftgebrauch zu ver-
einbaren? Vgl. Terry Eagleton, Ideologie, Stuttgart 1993, 189.
11. Zitiert nach Ortrun Schulz, Wille und Intellekt bei Schopenhauer und
Spinoza, FrankfurtlM. 1993, 3, Anm. 6.
12. P II, 286.
13. Schopenhauer hat dies~ Zeilen in einer Randglosse sarkastisch kommentiert:
siehe RN 5, 432.
14. Georg Lukacs, Die Zerstörung der Vernunft, Neuwied 1962 (Werke, Band 9),
172-219.
15. Vgl. zum folgenden Alfred Schmidt, Die Wahrheit im Gewande der Lüge.
Schopenhauers Religionsphilosophie, München 1986.
16. Vgl. P II, 352.
17. Pli, 353.
18. Pli, 415.
19. Pli, 416.
20. Pli, 417.
21. Vgl. Dieter Birnbacher, Induktion oder Expression? Zu Schopenhauers
Metaphilosophie, Schopenhauer-Jahrbuch 69 (1988),7-19.
22. Vgl. John Black, Man's dominion ofnature, Lendon 1970,21 ff.
23. Klaus Bosselmann, Im Namen der Natur, Wien 1992, 255.
24. Ebda., 207.
25. Ebda., 208.

57
Dieter Birnbacher

26. Kurt Bayertz, Naturphilosophie als Ethik. Zur Vereinigung von Natur- und
Moralphilosophie im Zeichen der ökologischen Krise, Philosophia naturalis 24
(1987), 157-185, 185.

58
Schopenhauers Ethik als Rettung der christlichen Moral?
Probleme und Bedingungen atheistischer Ethik
Von Matthias Koßler

"Die moralischen Resultate des Christenthums", sagt Schopenhauer in


den Parerga und Paralipomena, "". findet man bei mir rationell und im
Zusammenhange der Dinge begründet; während sie es im Christenthum
durch bloße Fabeln sind. Der Glaube an diese schwindet täglich mehr;
daher wird man sich zu meiner Philosophie wenden müssen"l. Diese
Aussage läßt, für sich genommen, verschiedene Interpretationen des
Verhältnisses der Schopenhauerschen Philosophie zum Christentum zu.
Wenn im folgenden dieses Verhältnis zum Thema gemacht wird, so soll
dies nicht unter dem Aspekt geschehen, unter dem es bisher meist ge-
schah, und unter dem um die Jahrhundertwende eine ganze Reihe von
Schriften entstand. Diese Arbeiten beschäftigten sich in erster Linie mit
der Frage, ob Schopenhauers Philosophie eine christliche oder gar die
wahre christliche Philosophie zu nennen sei, bzw. ob Schopenhauers
Aufassung von der christlichen Religion dieser im einzelnen gerecht
werde. Mein Vorhaben ist eher in der Nachfolge Max Horkheimers ein-
zuordnen, der unter dem Eindruck des faktischen "zerfalls der Religion"
mit dem die "Moral an gesellschaftlicher Bedeutung verliert"2, auf
Schopenhauer und die Religion zu sprechen kam. Horkheimer geht von
einem grundsätzlichen Konflikt zwischen empirischen Wissenschaften
und Religion aus, bei dem die Religion und mit ihr die Moral auf der
Strecke bleiben. "Der faule Frieden zwischen Wissenschaft und Glauben
als verschiedenen Fächern, eines für das Vorwärtskommen, für
Wirtschaft, Politik und Landesverteidigung, kurz die Wirklichkeit, das
andere für die Seele, bedeutet die Resignation der Theologie"3. Scho-
penhauer kommt in dieser Situation insofern eine besondere Rolle zu,
als er im Gegensatz zum allgemeinen Weg der Aufklärung, der mit einer
Rationalisierung des Gottesbegriffs und der Dogmen verbunden ist, un-
ter völligem Verzicht auf Gottesbegriff und Dogmatik versucht, den
"Geist" oder "Kern" des Christentums zu retten. Schon die Aufdeckung
der allegorischen Natur religiöser Dogmen bedeutet nach Schopenhauer
deren Untergang: "." kommt es an den Tag, daß sie sensu proprio nicht
wahr sind: dar.n gehn sie zu Grunde."4
Das Absolute ist für Schopenhauer also nicht ein allwissender
gütiger Gott, der die Geschichte lenkt und den Menschen zur Erlösung
führt, sondern allenfalls die Materie 5, und er betont, nie über den empi-
rischen Standpunkt hinaus zu außerweltlichen, die Erfahrung transzen-
Matthias Koßler

dierenden Dingen vorgedrungen zu sein; damit kommt er im Prinzip den


Forderungen der empirischen Wissenschaften nach. Dennoch - und
hierin liegt die besondere Bedeutung Schopenhauers bezüglich der
Problematik von Ethik und Wissenschaft - versucht er, auf der Grund.
lage dieser illusionslosen, areligiösen und auf bloßer empirischer Beob.
achtung beruhenden WeItsicht eine Ethik und eine Erlösungslehre zu
formulieren. Schopenhauers Metaphysik bietet nach Horkheimer .die
tiefste Begründung der Moral, ohne mit exakter Erkenntnis in Wider.
spruch zu geraten"6.
Um auf die besonderen Schwierigkeiten aufmerksam zu machen
die einer solchen auf empirischer Grundlage konzipierten Lehre eigen:
tümlich sind, möchte ich einige Themen aus Schopenhauers Ethik und
Erlösungslehre in Auseinandersetzung mit deren Behandlung in der
christlichen philosophisch-theologischen Tradition vorstellen. Dabei
werden Fragen, der sich atheistische Ethik überhaupt zu stellen hat, zur
Sprache kommen. Für Schopenhauers Ethik und die auf ihr aufbauende
Erlösungslehre sind zwei Komponenten herauszuheben: die Wendung
des Willens und die Veränderung der Erkenntnisweise. Beide stehen in
einem schwer faßlich zu machenden wechselseitigen Abhängigkeits·
verhältnis zueinander. Schopenhauer äußert sich widersprüchlich dazu:
Einerseits ist der Charakter, also der Wille, Bedingung für ein veränder·
tes, wahreres Erkennen, andererseits bewirkt diese veränderte
Erkenntnisweise die Verneinung des Willens und Aufhebung des Cha-
rakters. Im Rahmen dieser Problematik hat sich Schopenhauer mit
verschiedenen christlichen Theologen und Philosophen auseinanderge-
setzt, Gedanken und Begriffe von ihnen aufgenommen, verändert und in
neue Zusammenhänge gestellt. Als ein Beispiel greife ich Augustinus
heraus?

1. Freiheit des Willens

Schopenhauer hat sich vor allem im hohen Alter eingehend mit Augu-
stinus beschäftigt. Aber schon in der Preisschrift über die Freiheit des
Willens findet sich eine ausführlichere Auseinandersetzung mit Augu-
stins Schrift zum gleichen Thema. Dabei kritisiert Schopenhauer in er-
ster Linie die Lehre vom freien Willen, weist aber auch auf die scheinbar
entgegengesetzten Formulierungen der Prädestinationslehre hin. Indem
er dieses Schwanken zwischen Freiheit und Vorbestimmung ausschließ-
lich auf die Polemik einmal gegen die Manichäer, im anderen Fall gegen
die Pelagianer, zurückführt, verkennt Schopenhauer die Ernsthaftigkeit
der Bemühungen Augustins. Zweifellos ist die Betonung von Willens-
freiheit oder Prädestination in den verschiedenen Schriften unterschied-
lich, doch ist Augustinus bis auf wenige Ausnahmen nie ganz einseitig,

60
Schopenhauers Ethik als Rettung der christlichen Moral?

denn er ist sich bewußt, daß er aus theologischen Gründen, nämlich weil
er sowohl die Allmacht und Allwissenheit Gottes als auch die Existenz
der Sünde und die Schuldhaftigkeit des Menschen behauptet, beides in
irgendeiner Weise vereinen muß. Schopenhauer argumentiert gegen
diesen Versuch, indem er es als undenkbar bezeichnet, »daß ein Wesen,
welches seiner ganzen Existentia und Essentia nach, das Werk eines
andem ist, doch sich selbst uranfänglich und von Grund aus bestimmen
und demnach für sein Thun verantwortlich seyn könne"8. Hier läßt er
sich in seiner Argumentation auf die theologische Prämisse der All-
macht und Allwissenheit Gottes ein, durch die der Mensch vollständig
determiniert ist.
Sein eigentlicher Grund für die Kritik an Augustins Lehre vom
freien Willen ist aber philosophischer Natur. Nach Schopenhauer ist das
menschliche Handeln in zweifacher Hinsicht determiniert. Zum einen ist
es durch die Motive so bestimmt wie in naturgesetzlichen Abläufen die
Wirkung durch die Ursache: Mit der gleichen Notwendigkeit, mit der
eine Kugel beim Aufprall auf eine andere deren Fortbewegung bewirkt,
so ruft ein wahrgenommenes oder vorgestelltes Motiv im Willen des
Menschen die entsprechende Handlung hervor9 . Daß es unterschiedliche
Reaktionen auf dasselbe Motiv gibt, liegt am Charakter, an der jeweili-
gen individuellen Bestimmtheit des Willens. Damit ist die zweite Deter-
minante des Handeins angesprochen: Der Charakter ist nach Schopen-
hauer angeboren und unveränderlich 10. Es bleibt also in seiner Lehre
kein Raum für ein liberum arbitrium.
Dennoch kann auch Schopenhauer auf den freien Willen nicht
ganz verzichten, denn auch das Gefühl der moralischen Verant-
wortlichkeit ist für ihn eine empirische Tatsache ll und setzt Willens-
freiheit in irgendeiner Form voraus. Aus diesem Grund teilt er den
Charakter auf in den intelligiblen und den empirischen Charakter: Der
intelligible Charakter ist die Idee des einzelnen Menschen, sein Wille als
Ding an sich betrachtet, und daher frei. Indem er in Erscheinung tritt,
also in der bestimmten Reaktionsweise auf Motive sichtbar wird, wird er
zum empirischen Charakter, der sich als angeboren, unveränderlich und
daher unfrei darstellt. Im intelligiblen Charakter liegt der Grund für die
moralische Verantwortlichkeit, nicht die einzelnen Handlungen eines
Menschen sind frei, sondern sein Charakter als die Einheit seiner
verschiedenen empirischen Handlungen; das ganze Sein und Wesen des
Menschen, sagt Schopenhauer, muß als »seine freie That" gedacht
werden. 12 Diese Tat kann nun nicht eine des individuellen empirischen
Bewußtseins sein, sondern der Wille als Ding an sich, zunächst blind
und unbestimmt, objektiviert sich, d. h. bestimmt sich über die
Zwischenstufe des intelligiblen Charakters (als der Idee des einzelnen
Menschen) zur Erscheinung. Die Freiheit ist, wie Schopenhauer es for-
muliert, bloß transzendental oder metaphysisch 13 . Vorn Standpunkt des

61
Matthias Koßler

empirischen Menschen und seiner Verantwortlich~eit aus gesehen, auf


dem Schopenhauer gegen Augustinus argumentIert, hat er also mit
genau dem gleichen Proble~ zu kämpfe~ wie. dieser: Wie kann dem
Menschen Freiheit und damIt VerantwortlIchkeIt zugesprochen werden
wenn sein ganzes Sein und Wesen im voraus festgelegt ist? '
Auf der metaphysischen Ebene besteht freilich der große Unter.
schied, daß die Vorherbestimmung bei Schopenhauer nicht mehr durch
ein anderes Wesen, Gott, geschieht, sondern durch den Willen, der der
Mensch als Ding an sich selbst ist. Vordergründig scheint daher die
atheistische Version des Verhältnisses dem Phänomen der moralischen
Verantwortlichkeit besser gerecht zu werden. Doch zeigt sich bei ge.
nauerer Betrachtung, daß der Widerspruch nur in den Charakter hinein
verlagert wurde, so daß die Beziehungen, die Schopenhauer zwischen in·
telligiblem, empirischem und dem noch hinzukommenden erworbenen
Charakter konstruieren muß, letztlich nicht weniger dialektisch sind als
diejenigen zwischen Gnade, freiem Willen und Glauben bei Augustinus.
Es ist gerade nicht, wie Schopenhauer einmal behauptet, "sogleich Alles
klar und richtig", wenn man nur auf den Gottesbegriff verzichte I4 ; und
daß er sich dessen auch wohl bewußt war, wird darin deutlich, daß er
die christlichen Dogmen der Erbsünde und der Gnade zur "Erklärung
und Erläuterung"I5 des Verhältnisses von Determination und Freiheit
des menschlichen Willens heranzieht.

2. Erbsünde und Bejahung des Willens

Auf die Dogmen der Erbsünde und der Gnadenwirkung kommt Schopen·
hauer nicht direkt im Zusammenhang mit der Erörterung des Cha·
rakters zu sprechen, sondern bei der Bejahung und Verneinung des
Willens. Während nämlich in jener Erörterung des Charakters Freiheit
nur im transzendentalen Sinne zu verstehen ist, stellt die Verneinung
des Willens einen - und zwar den einzigen - Fall dar, bei dem Freiheit
auch in Erscheinung tritt. Die Gegenüberstellung von Bejahung und
Verneinung des Willens gibt das auffälligste Beispiel einer Säkularisie-
rung christlicher Lehre in Schopenhauers Philosophie, weil er hier selbst
immer wieder auf Parallelitäten zur christlichen Dogmatik verweist.
Der natürliche Zustand des Menschen ist als Bejahung des
Willens zum Leben gekennzeichnet. Das Erkennen ist in diesem
Zustand der Bedürfnisbefriedigung untergeordnet, es ist Werkzeug des
Willens. Notwendig ist diese Haltung des natürlichen Menschen vom
Egoismus geprägt, der zunächst zwar moralisch indifferent ist, aber eine
Tendenz zur Bosheit, zur Schädigung der anderen, in sich trägt. Der
bloße Egoismus kann zur eigenen Sicherheit mittels einer auf Straf·
androhung basierenden Rechtsordnung das Zusammenleben in der

62
Schopenhauers Ethik als Rettung der christlichen Moral?

Gemeinschaft ermöglichen; er kann also das Unrechtleiden verringern _


zu moralischer Güte ist er aber nicht in der Lage. Schopenhauer stellt
die Bejahung des Willens der Erbsünde gleich, und in der Tat ist der
Zustand des bloßen Egoismus, wie er ihn darlegt, mit dem des Menschen
unter dem Gesetz bei Augustinus vergleichbar. Denn nach dem Sünden-
fall, der aus der verkehrten Selbstliebe, der superbia, resultiert, hat
nach Augustinus der noch nicht durch die Gnade befreite Mensch nur
die Freiheit, zu sündigen. 16 Nur aus Furcht vor der Strafe, die das
Gesetz androht, enthält er sich der schlechten Tat, nicht aus Liebe zur
Gerechtigkeit; sein Wille selbst bleibt sündig17 . Ein wesentlicher Unter-
schied zu Schopenhauer besteht darin, daß im christlichen Verständnis
der Erbsünde das Paradies vorausgeht, in dem eine absolut freie
Willensentscheidung gegeben war - eine Voraussetzung, die bei dem
Empiristen Schopenhauer keinen Raum hat. Dennoch ist für ihn - auf-
grund der eben dargelegten transzendentalen Freiheit - schon die bloße
Existenz des Menschen, mit einer Schuld behaftet, mit der "Schuld des
Daseyns selbst"18, die übrigens - auch hier eine Parallele zum Sündenfall
- in der Scham über den Zeugungsakt ihren ursprünglichsten Ausdruck
hat. Ähnlich wie die Sünde Adams auf alle nach und aus ihm geborenen
Menschen vererbt wurde, so erklärt sich die Schuld des Daseins aus dem
Umstand, daß der einzelne Mensch in seinem Ansichsein, seinem We-
sen, nicht nur individueller Charakter, sondern zugleich auch Mensch
als Gattung ist: Auf diese Weise ist er an sich mit seinen Erzeugern und
Vorfahren identisch und trägt so die Verantwortung für seine Existenz,
seinen Charakter, sein Leiden und seinen Tod mit.

3. Ewige Gerechtigkeit

Ist die Schuld des Daseins die eine Konsequenz aus dem Gedanken der
Einheit des Menschen mit dem ansichseienden Willen, so ist die andere
die "ewige Gerechtigkeit" der Natur. Nur für die beschränkte Erkennt-
nisweise des Egoisten, der sich abtrennt von allem anderen und heraus-
hebt und damit das Prinzip der Individualität begründet, sind im Welt-
lauf Schuld und I;eiden, Quäler und Gequälte an verschiedene Instanzen.
verteilt. In Wahrheit, als Ding an sich, ist der Wille in beiden derselbe.
Der Egoist sieht nicht, daß er im Festklammern an den Genuß seine
Bedürftigkeit vermehrt, also gerade in seinem Streben nach Glück sein
eigenes und unter Umständen auch fremdes Leiden vermehrt. Würden
Jammer und Schuld in die Schalen einer Waage gelegt, meint Schopen-
hauer, so würde die Zunge einstehen19 . Und dieses Gleichgewicht ist
immer vorhanden, denn die ewige Gerechtigkeit ist nicht zeitlich vermit-
telt, Schuld und Leiden fallen in der zeitlosen Einheit des Willens als
Ding an sich zusammen.

63
Matthias Koßler

Der ewigen Gerechtigkeit kommt die gerechte göttliche Welt.


ordnung bei Augustinus in formaler Hinsicht nahe, denn da der Mensch
unter dem Gesetz nicht in der Lage ist, die gute Tat, die er Gott
aufgrund der Erbsünde schuldet, aus eigener Kraft zu erfüllen, muß er
der Gerechtigkeit durch sein Leiden zollen. Dabei sind auch hier
"Nichtzahlen und Leiden ... durch keinen zeit~iche~ Zwischenraum ge.
trennt", denn "die Schönheit des Weltalls darf m kemem Augenblick da.
durch befleckt werden, daß die Schmach der Sünde ohne die ausglei.
chende Zierde der Strafe bleibt"20. Selbst dieser ästhetische Aspekt der
pulchritudo universalis ist auch bei dem Pessimisten Schopenhauer zu
finden, insofern in der ästhetischen Kontemplation die Welt als Idee in
durch keine Leiden und keinen Zwiespalt getrübter Einheit angeschaut
wird. Aber die Anschauung der Schönheit ist nur in seltenen, rasch vor·
übergehenden Momenten gegeben, und der ästhetische Standpunkt ist
nicht der höchste in Schopenhauers System. Gerade weil die Welt mora·
lische Bedeutung hat, ist sie kein "Guckkasten". "Zu sehn sind diese
Dinge freilich schön; aber sie zu seyn ist ganz etwas Anderes".21 Daher
ist es für ihn der blanke Zynismus, wenn dieser ästhetische Gesichts·
punkt in die moralische Diskussion gebracht wird. Auch für Augustinus
reicht indessen dieser Gedanke nicht hin, um dem existierenden
Menschen Trost zu sein; die Gerechtigkeit, die jetzt nur "occultissime"
stattfindet, wird beim Jüngsten Gericht ans Licht treten. 22 An dieser
Stelle scheidet sich die Auffassung Schopenhauers von der Augustins
genau so deutlich wie darin, daß in der ewigen Gerechtigkeit nicht ein
Plan des Allwissenden und gütigen Gottes zum Ausdruck kommt, son·
dem die Natur des blinden und sich selbst in seiner Entzweiung zerflei·
sehenden Willens eine Art dynamisches Gleichgewicht erhält.

4. Gnadenwirkung und Verneinung des Willens

Wie Schopenhauer auf der einen Seite die Bejahung des Willens mit der
Erbsünde gleichsetzt, so bringt er auf der anderen Seite die Verneinung
des Willens mit der Gnadenwirkung in Verbindung.
Die Wirkung der göttlichen Gnade besteht nach Augustinus in
der Einflößung der rechten Liebe. Durch sie - die sowohl Erkenntnis- als
auch Handlungscharakter hat - wird die mit der Erbsünde gegebene
Defizienz des menschlichen Willens und in der Folge das mit ihr ver·
bundene Leiden aufgehoben. 23
Bei Schopenhauer geht die Erlösung aus der Durchschauung des
Prinzips der Individuation hervor. Da durch das Individuationsprinzip
das willensabhängige Erkennen im Zustand der Bejahung bestimmt ist,
bedeutet seine DurchschauWlg eine grundsätzlich veränderte Erkennt·

64
Schopenhauers Ethik als Rettung der christlichen Moral?

nisweise; mit ihr überwindet das Erkennen seine Abhängigkeit vom


Willen.
Die Durchschauung des Prinzips der Individuation hebt an in
dem Moment, in dem das Recht nicht mehr in der Art des Egoismus nur
im Hinblick auf die Beförderung der eigenen Sicherheit betrachtet, son-
dern als allen Menschen aufgrund ihrer Wesenseinheit zustehendes mo-
ralisches Recht angesehen wird. Ist in der Erkenntnis der moralischen
Bedeutung des Rechts das Prinzip der Individuation so weit durch-
schaut, als es die Verhinderung von Bosheit betrifft, so ist diese Durch-
schauung insofern einer Steige!"ung fähig, als sie im Mitleid, das Scho-
penhauer mit der Liebe gleichsetzt, zum positiven Wohlwollen, zur
guten Tat, und schließlich in der Verneinung des Willens zur vollständi-
gen Abkehr von der Welt führt. z4
Nur auf diese höchste Stufe der veränderten Erkenntnisweise,
die Verneinung des Willens, bezieht Schopenhauer seinen Vergleich mit
der christlichen Auffassung von Gnade. Er zieht also gleichsam die
Bestandteile der Gnadenwirkung, die nach augustinischem Verständnis
in der Liebe zur Gerechtigkeit, Liebe überhaupt und in der Erlösung von
Schuld und Tod besteht, in voneinender geschiedene Stufen auseinan-
der. Die somit nahegelegte Möglichkeit eines kontinuierlichen Über-
gangs zwischen den "Graden" der Erkenntnis wäre allerdings mit der
Unmittelbarkeit und Unerkennbarkeit, in der Schopenhauer den Ver-
gleich mit der Gnadenwirkung begründet sieht, nicht zu vereinen. Diese
Folgerung wird dadurch verhindert, daß Schopenhauer einen deutlichen
Hiatus zwischen das Mitleid und die Verneinung des Willens setzt, so
deutlich, daß der von der Systematik her eigentlich entscheidende Bruch
zwischen dem rein egoistischen Denken und der anfänglichen Durch-
schauung des Prinzips der Individuation im Vergleich dazu eine nahezu
beiläufige Behandlung erfährt. Die systematischen Probleme, die sich
aus dieser Vorgehensweise ergeben, hat Schopenhauer nicht beseitigen
können. Das zeigt sich unter anderem in dem widersprüchlichen Begriff
der "unmittelbaren und intuitiven Erkenntniß"z5, die zur Vemeinung
des Willens führen soll. Er besagt einmal direktes Umschlagen vom
Egoismus zur Verneinung und einmal über die Erfahrung des Mitleids
vermittelte Erkenntnis. Je nach Gewichtung steht so die Verneinung des
Willens, wie ich eingangs angedeutet habe, als bewußtloser, unerklär-
licher Akt des Willens da oder als Wirkung einer abstrakten Erkenntnis,
die sich gerade von diesem Willen abgelöst hat.
Da die Erlösung bei Schopenhauer in der Verneinung des
Willens und damit auch des Handeins gesehen und so dem tätigen
Mitleid entgegengesetzt wird, ist sie mit der augustinisch-cbristlich ver-
standenen Erlösung durch die Gnade Gottes inhaltlich gar nicht ver-
gleichbar, denn in dieser ist der Glaube mit den guten Werken untrenn-
bar verknüpftZ6. Auch rein formal, unter dem Gesichtspunkt, daß für

6S
Matthias Koßler

Schopenhauer die Veränderung d~r Erkenn~nisweise gleich der Gnade


ohne Zutun des Menschen "plötzlIch und WIe von außen angeflogen"27
komme, ist beides nicht zu vergleichen. Für Augustinus sind Gnade und
freier Wille nicht unvereinbar, im Gegenteil kann es freien Willen nur
durch Gottes Gnade geben, und zugleich ist die Gnade nur wirksam
wenn sie in freier Entscheidung angenommen wird. Das Bemühen, die:
ses Zusammendenken des Widersprüchlichen sprachlich adäquat auszu.
drücken, hat Augustinus sein ganzes Leben hindurch beschäftigt28.
Schopenhauer ist dieses dialektische Denken fremd. Wenn er auch da.
von spricht, daß die Vemeinung des Willens eine, und zwar "die einzige
unmittelbare Aeußerung der Freiheit des Willens"29 ist, so ist jedoch
nicht der individuelle, sondern der ansichseiende Wille gemeint. Damit
ist man wieder auf die unterschiedliche Bestimmung des entscheiden·
den Vorgangs als Akt des ansichseienden Willens oder als im Indi·
viduum stattfmdende Erkenntnis zurückgeworfen. Beide Aussagen be·
stehen in Schopenhauers Theorie isoliert nebeneinander, es gibt bei ihm
nicht den Versuch, beides in einem zu denken.
Dabei fordert seine Konzeption von der Identität des ansichsei·
enden und des individuellen Willens ungleich mehr zu einem Zusam·
mendenken beider Aspekte heraus als die christliche Religion, die ja
doch von zwei unterschiedenen Subjekten, Gott und dem Menschen,
ausgeht. Die Charakterlehre Schopenhauers drängt von ihrem Inhalt
geradezu selbst zu einer Interpretation, die zu den Auslegungen der au·
gustinischen Freiheitsproblematik aus dem Umkreis der Existenzphilo-
sophie, wie sie seit Beginn unseres Jahrhunderts mehrfach vorgenom·
men wurden 3o , viele Anknüpfungspunkte hätte. Denn für den empi·
rischen Standpunkt - und Schopenhauer läßt innerhalb seines Systems
keinen anderen zu - bestimmt sich der Charakter (auch insofern er als
intelligibler in seiner Bestimmtheit betrachtet wird) in jeder vollzogenen
Handlung neu: Ist mein Charakter auch angeboren und unveränderlich,
so erfahre ich seine inhaltliche Bestimmung doch nur aus seiner Re·
aktion auf die Motive, d. h. aus dem konkreten Handeln; nur "an dem
was wir thun, erkennen wir was wir sind"31 betont Schopenhauer selbst.
Diese Erfahrung des Charakters ist ein Prozeß, der vor dem Tod nicht
abgeschlossen ist und der noch undurchsichtiger dadurch wird, daß mit
wachsender Kenntnis des eigenen Charakters die Selbstreflexion mehr
und mehr in die Entscheidungen einbezogen wird - ein Umstand, dem
Schopenhauer durch die zusätzliche Einführung des "erworbenen Cha·
rakters" vergeblich gerecht zu werden versuchte.
Schopenhauer hat die Dialektik der Erfahrung des Charakters
aber nicht entwickelt, und das liegt an seiner Auffassung vom empiri·
sehen Erkennen, welches er mit dem willens abhängigen Erkennen iden·
tifiziert: Sein Prinzip ist die Individuation, seine durchgängige Form die
des Satzes vom zureichenden Grunde, und sein Anwendungsbereich ist

66
Schopenhauers Ethik als Rettung der christlichen Moral?

auf die Welt der Erscheinung beschränkt. Bei der Erörterung des Dinges
an sich und der Veränderung der Erkenntnisweise stößt dieses Denken
an seine Grenzen. Während für Hegel etwa die Grenze zu erkennen
zugleich bedeutet, sie auch überschritten zu haben, zieht Schopenhauer
um der empirischen Immanenz seiner Philosophie willen die skeptische
epoche vor: Es soll keine Verbindung hergestellt werden zwischen der
Welt der Erscheinung und dem Transzendenten, der Wille als Ding an
sich und die veränderte Erkenntnis sind per definitionem unbegreifbar:
Charakter und Handlung gehören in die Welt der Erscheinung, in der
der Intellekt dem Willen dient. Etwas grundsätzlich anderes sind das in
der Verneinung des Willens aktive Nichtwollen und das veränderte Er-
kennen. Dessen Gegenstand ist für unser empirisches Erkennen Nichts,
aber ein Nichts mit einem positiven, uns nur unzugänglichen Inhalt.
Indem Schopenhauer auf diese Weise den Zustand der Erlösung in ein
positives Jenseits setzt, hat er aber gerade durch die Rücksicht auf den
immanenten Charakter seiner Philosophie die gesetzte Grenze des Den-
kens überschritten; er hat anstelle bloßer Negativität eine Position des
Negativen vorgenommen, aus dem Unerklärbaren das Heilige gemacht32.
Mit der so zustandegekommenen Absonderung der Erlösung vom mitlei-
digen Handeln verliert die eigentliche Ethik ihre zentrale Stellung in
Schopenhauers System und wird zur Erklärung eines empirischen
Phänomens unter anderen - nämlich des Mitleids.

5. Die Aktualität der Fragestellungen

Ich fasse die Ergebnisse der kurzen Untersuchung zusammen und kom-
me dabei auf ihre eingangs behauptete Aktualität zu sprechen.
Vier Themen der augustinischen Lehre des Christentums fanden
sich in mehr oder weniger starker Umformung in dem atheistischen
System Schopenhauers wieder: Freiheit und Vorbestimmung, gerechte
Weltordnung, Erbsünde und Gnadenwirkung. (Damit ist die Zahl der
Berührul\gspunkte nicht erschöpft, sondern es wurden nur einige für die
Ethik bedeutsame Bereiche betrachtet.) Wenn hier von Umformung ge-
sprochen wird, so soll das nicht heißen, Schopenhauer habe seine Philo-
sophie aus der Lehre Augustins entwickelt oder sei auch nur bei der
Ausbildung seines Systems von ihr beeinflußt worden. Dann wäre die
Untersuchung relativ unfruchtbar. Diese Möglichkeit ist aber mit ziem-
licher Sicherheit auszuschließen. Schopenhauer hat Augustinus erst
1816 kennengelernt, zu einer Zeit, als die Abfassung der Dissertation
schon drei Jahre zurücklag und die Arbeit am Hauptwerk in vollem
Gange war. Zudem nahm er damals nur die Lehre von der Willens-
freiheit nach Augustins gleichnamigem Buch zur Kenntnis, während er

67
Matthias Koßler

mit dessen Stellungnahme zu Gnade, Vorbestimmung und Erbsünde


erst seit den dreißiger Jahren allmählich vertraut wurde.
Es ist also anzunehmen, daß die Parallelitäten beider Lehren ei-
ner gemeinsamen Problemlage entspringen. Wenn dem so ist, sind die
Erörterungen Augustins nicht nur unter theologisch-dogmatischem,
sondern mindestens ebenso unter allgemein philosophisch-ethischem
Gesichtspunkt relevant. Was das Verhältnis von Determination und
Freiheit des Willens betrifft, so ist die übergreifende Bedeutung des
Problems leicht zu veranschaulichen. Gerade dadurch, daß mit der
Entwicklung und Spezialisierung der Wissenschaften die Möglichkeiten
größer geworden sind, menschliches und insbesondere kriminelles Ver-
halten auf genetische, soziale, psychologische und andere Ursachen
zurückzuführen, muß die Frage, inwieweit der Mensch überhaupt für
sein Handeln verantwortlich zu machen, inwieweit er darin frei oder
vorbestimmt ist, immer wieder gestellt werden. Ob dabei ein planender
Gott oder zufällige soziale und biologische Bedingungen das Vorbe-
stimmende sind, ist für den existierenden Menschen und die Frage nach
seiner Freiheit - und damit nach dem Maß der Verantwortung - von
nachgeordnetem Interesse. Schopenhauer mag wenigstens im Ansatz
Recht haben, wenn er meint, die Verantwortlichkeit des Menschen bes-
ser erklären zu können als Augustinus, indem er die entscheidende De-
terminante einer Handlung im freien Willen als Ding an sich lokalisiert.
Doch hat er die mit einer solchen Annahme zwingend einsetzende
Dialektik nicht weiterverfolgt, so daß Freiheit und Determination wieder
ganz unvermittelt nebeneinanderstehen. Daher kommt es, daß der
Grundsatz der Schopenhauerschen Verantwortungstheorie "operari se-
quitur esse"33 dem gerechten Empfinden nicht weniger anstößig er-
scheint als die Behauptung der Schuld des Menschen angesichts seiner
Prädestination durch Gott.
Schwieriger ist die Aktualität im Fall der "ewigen Gerechtigkeit"
begreiflich zu machen, scheint doch dieser Begriff nur im Rahmen einer
Theodizee34 sinnvoll zu sein. Damit hat indessen der Begriff bei
Schopenhauer nichts zu tun.3 5 Er bildet vielmehr mit dem Gedanken
der wesentlichen Gleichheit der Menschen die Grundlage der morali-
schen Bedeutung des Rechts. Freiheit ist nur die eine Voraussetzung
der Verantwortlichkeit, die andere ist eine übergreifende Ordnung, auf
der die konkrete Rechtsordnung aufbaut. Aus den Sicherheitsbestre-
bungen des Egoismus allein läßt sich die Allgemeinheit des Gerech-
tigkeitsprinzips nicht ableiten. Auch eine Gerechtigkeitstheorie wie
etwa die von John Rawls kommt ohne die Konstruktion eines ur-
sprünglichen Zustands der Gleichheit der Menschen nicht aus. Eine
empirische Gerechtigkeitstheorie mit dem Anspruch auf universelle
Gültigkeit kann sich weder auf eine göttliche Ordnung noch auf sittliche
Konvention berufen. Für Schopenhauer ist die übergreifende Ordnung,

68
Schopenhauers Ethik als Rettung der christlichen Moral?

vergleichbar dem Energieerhaltungssatz in den Naturwissenschaften


das aus der Einfachheit des Wesens der Welt resultierende beständig~
Gleichgewicht von Vergehen und Strafe. Das bedeutet nicht, daß die von
ihr abgeleitete zeitliche Gerechtigkeit eine rächende wäre; Rache fügt
dem begangenen Unrecht nur ein weiteres hinzu und steht so im Gegen-
satz zur Intention des Rechts 36• Vielmehr trägt die zeitliche Gerechtig-
keit durch die in die Zukunft projizierte ausgleichende Strafe, also durch
Strafandrohung, zur Vermeidung des Unrechts bei.
Einen vergleichbaren Gedanken trägt Augustinus in seiner
Lehre von der Willensfreiheit vor. Der lex temporalis liegt die lex aeterna
zugrunde, die in der vollkommenen Ordnung der Dinge besteht37 . Diese
Ordnung ist jedoch im Unterschied zu Schopenhauers "ewiger Gerech-
tigkeit" vernünftig in dem Sinne, daß sie nicht nur die ausgeglichene
und gleichgültige Gesamtbilanz von Schuld und Leiden beinhaltet, son-
dern dem Bösen ein elendes und dem Guten ein glückliches Leben zu-
spricht38 .
Nun ist aber eine derartige positive Gerechtigkeit, die nicht nur
Verletzungen des Rechts zu vermeiden sucht, sondern darüber hinaus
den Tüchtigen belohnt und den Bösen bestraft, in der Realität selten ge-
geben. In ihr gilt vielmehr das Wort des Predigers Salomo: "Es sind
Gerechte, denen geht es, als hätten sie Werke der Gottlosen - und es
sind Gottlose, denen geht es, als hätten sie Werke der Gerechten",39 In
dieser Analyse des Weltlaufs stimmt Augustinus mit Schopenhauer
überein. Für seine Lehre von Freiheit, gerechter Ordnung und Verant-
wortung hatte die Faktizität der Ungerechtigkeit zur Folge, daß sie mo-
difiziert, "aufgebrochen"40 wurde, indem die Dogmen der Erbsünde und
Gnadenwirkung hereingenommen wurden.
In der Beurteilung der Realität von Vernunft ist der über die
Religion hinausgehende und damit aktualisierbare Aspekt des Dogmas
von der Erbsünde zu suchen. Moderne Ethiken, die auf der Vernunft
aufbauen, wie etwa die Diskursethik von Jürgen Habermas, machen es
sich vielleicht zu einfach, wenn sie die irrationalen Elemente des
Dialogs in kulturelle Randbedingungen, die grundsätzlich aufhebbar
sind, verlegen. Sie setzen sich dem Verdacht aus, den christlichen
Gedanken der vernünftigen Weltordnung weiterzuführen, ohne den
dazu notwendigen Gottesbegriff beizubehalten. Die Erkenntnis, daß die
Menschen trotz ihrer vorhandenen geistigen Fähigkeiten, trotz der
Einsicht in den Sinn der Gerechtigkeit, dennoch in der Regel unver-
nünftig und unmoralisch handeln, hat unter anderem Schopenhauer
dazu gebracht, den Willen als das Primäre und Mächtige über die
Vernunft zu setzen und das Wesen der Welt nicht in der ordnenden
Vernunft, sondern im blinden Willen zu sehen. Auf der Basis des christ-
lichen Glaubens ist ein solcher Schritt nicht möglich, da er die Güte oder
die Allmacht Gottes aufheben würde. Und er würde, was für Augustinus

69
Matthias Koßler

besonders akut war, zwingend zum Manichäismus führen. Es kann dort


also nur in der Freiheit des Menschen der Grund d~für zu suchen sein,
daß das Böse die Regel und das Gute die Ausnahme 1st, und daß der ein-
zelne Mensch selbst nicht mehr die Freiheit hat, seinen Willen vernünf-
tig zu bestimmen - und das ist der Gedanke der Erbsünde.
Eine Erlösung aus dieser Lage ist dem Menschen dieser Analyse
entsprechend nicht aus eigener Kraft möglich. Bei Augustinus steht die
Gnade im Einklang mit der vernünftigen Weltordnung Gottes, der die
Erbsünde und ihre Folgen zwar nicht gewollt, aber zugelassen hat, ohne
daß dadurch die Ordnung und die Gerechtigkeit im Ganzen Abbruch er-
leiden. So kommt es, daß selbst die Sünde zur Vollkommenheit des
Weltalls beiträgt, nicht weil das Böse dazugehören müßte, sondern weil
an der Willensfreiheit die Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes erst
zum Vorschein kommen 41 . Der üble Zustand der Menschheit ist nur eine
Entfremdung des an sich vernünftigen Wesens. Augustinus bezeichnet
ihn deshalb als "zweite Natur"42 im Unterschied zur eigentlichen ver-
nünftigen Natur, wie sie im Paradies gegeben war. Diese Entfremdung
wird durch Gottes Gnade und Gerechtigkeit in die Einheit der
npulchritudo universalis" zurückgenommen.
Im Rahmen des Schopenhauerschen Systems ist Erlösung auf
solche Weise nicht denkbar. Da in ihm das Übel der Welt in ihrem
Wesen, dem blinden, vernunftlosen Willen verankert ist, kann die
Erlösung nur in der Aufhebung des Wesens der Welt bestehen. Die
Radikalität dieser Forderung läßt es nicht zu, daß die Erlösung in der
Welt wirksam wird, so wie die Gnade bei Augustinus Werke der Liebe
und Gerechtigkeit hervorruft. Auf dieser Grundlage hätte die Ethik kei-
nen Platz in Schopenhauers System - wenn dieses nicht noch einen an-
deren Gedanken enthalten würde. Diesem zufoIge gibt es auch bei Scho-
penhauer trotz des empirischen Standpunktes eine Art Entfremdung:
Der Wille als Ding an sich, blind und ohne Vernunft, ist das zugrunde-
liegende Eine aller Dinge. Erst indem der Intellekt in seinem Dienst mit
deni Prinzip der Individuation die Verschiedenheit schafft, tritt der
Kampf der Erscheinungen gegeneinander und der Egoismus als Potenz
des Bösen ein. Diese Entzweiung des Willens wird aufgehoben, indem
der Intellekt seine Abhängigkeit vom Willen und damit zugleich die
ursprüngliche Einheit des Willens in allen Dingen erkennt. Die Erlösung
ist insofern nicht die Aufhebung des Wesens der Welt, als dieses in
seiner Einheit nicht betroffen ist, sie ist aber doch eine Aufhebung des
Wesens der Welt, insofern der Wille ja den von ihm abhängigen Intellekt
hervorgebracht hat. Hier liegt der eigentliche Unterschied zur christ-
lichen Lehre: Während die Dialektik von Freiheit und Gnade bei
Augustinus unter der übergreifenden Vernunft Gottes steht, wird bei
der Transformierung dieses Gedankens in eine empirisch-wissenschaft-
liche Weltanschauung die Vernunft selbst in umfassendem Sinne in den

70
Schopenhauers Ethik als Rettung der christlichen Moral?

Strudel der Dialektik hineingerissen. Schopenhauers Ethik ist darum


ihrem Gehalt nach, obgleich sie in dieser Form von ihm nicht wei-
terentwickelt wurde, wie die Philosophie Hegels dialektische Vernunft-
kritik43 .

6. Schluß

I?ie Gegenüberstellun~ von Schopenhauer und Augustinus zeigt, daß


Überlegungen zur EthIk, die ausdrücklich von der christlichen Dogma-
tik a~sgehen, auf eine empirische WeItsicht durchaus übertragbar sind.
Der Ubertragbarkeit liegt weniger die historisch-kulturelle Tradition
zugrunde als vielmehr die illusionslose Einschätzung der Realität. Die
Vernunftwidrigkeit des Weltlaufs kann nach der christlichen Vor-
stellung in einen umfassenden Vernunftbegriff eingebunden werden.
Vom empirischen Standpunkt aus ist das nicht möglich. Ethik auf empi-
rischer Grundlage beinhaltet daher eine Kritik der Vernunft. Diese
Kritik muß dialektisch sein, da sie zum einen den empirischen Aus-
gangspunkt selbst in Frage stellt und zum anderen, weil die Kritik, die
die Vernunft in ihrer wesentlichen Abhängigkeit von irrationalen Bedin-
gungen betrachtet, von der Vernunft selbst vorgenommen wird.
Der empirische Standpunkt kann nicht sinnvollerweise auf einer
bloß negierenden Stellung zu dem einmal anerkannten transzendenten
Bereich beharren; dies war nur so lange möglich, als der transzendente
Bereich durch eine im allgemeinen Bewußtsein - insbesondere in Be-
ziehung auf die Sittlichkeit - anerkannte Religion ausgefüllt war. 44 Die
Kritik der Vernunft wird in einer Weltsicht, die ohne Religion und Got-
tesbegriff auskommen will oder muß, nicht dadurch geleistet, daß, wie
es Hegel formulierte, "Grenzpfähle"45 errichtet werden, ohne daß sich
durch diese Grenzziehung an der Vernunft selbst etwas änderte. Sich
selbst durchschauend wird der empirische Standpunkt zwar nicht auf
einen religiösen oder pseudoreligiösen hin überschritten, aber das
Bedenken der immanenten Grenze der Vernunft erweitert ihn in umfas-
sender Weise. Immanente Grenze, das heißt: Die Grenze wird nicht so
aufgefaßt, als sei sie zwischen dem empirischen und einem äußeren
Bereich, der in einer solchen Auffassung unmittelbar mit empirischen
Bestimmungen versehen wird 46 ; sondern immanent ist die Grenze, wenn
sie nur auf den empirischen Standpunkt bezogen ist, nur diesen be-
schränkt, nicht aber den transzendenten Bereich. 47
Ansatzpunkte zu einer begrifflichen Fassung einer solchen ver-
änderten Erkenntnisweise finden sich bei Schopenhauer im Gedanken
der Durchschauung des principium individuationis, wie sie im Mitleid
stattfindet, aber auch bei Augustinus im Erkenntnischarakter der Liebe,
der "disciplina charitatis"48. Eine in dieser Hinsicht vergleichende Inter-

71
Matthias Koßler

pretation des Liebesbegriffs bei Schopenhauer und Augustinus würde


indessen das Maß dieses Aufsatzes übersteigen und erfordert eine eigene
Ausarbeitung. Hier sollte nur die Frage nach den Konditionen atheisti-
scher Ethik durch die Gegenüberstellung von Schopenhauer und Augu-
stinus erhellt werden. Und dabei stellte sich heraus, daß die empirisch
begründete, atheistische Ethik Schopenhauers nur dann Bestand haben
kann, wenn sie zugleich auf der Basis der selbstkritischen Durch-
schauung der prinzipiellen Unzulänglichkeit des empirischen
Standpunkts als solchem beruht. Nur auf diese Weise, die freilich mit
einer beträchtlichen Modifizierung der Erlösungslehre und der Er-
kenntnislehre verbunden ist, könnte man von einer Bewahrung christli-
cher Moral in Schopenhauers Ethik sprechen - doch ist dabei zu beden-
ken, daß in dieser Betrachtungsweise auch die Entgegensetzung des
empirischen Erkennens gegen den Bereich des Transzendenten und
Religiösen in ihrer Ausschließlichkeit aufgehoben ist, so daß - um noch
einmal eine Formulierung Hegels aufzugreifen - eine so verstandene
atheistische Ethik ebensoviel und "ebensowenig von Vernunft als
echtem Glauben" an sich hätte. 49

Anmerkungen
1. PI, 141.
2. Max Horkheimer, Zur Kritik der Instrumentellen Vernunft. Aus den Vorträgen
und Aufzeichnungen seit Kriegsende, Frankfurt/M. 1974,229,236.
3. Ebda., 230 f.
4. P 11, 386.
5. E, XXIII f.
6. Max Horkheimer: Schopenhauers Denken im Verhältnis zu Wissenschaft und
Religion, in: J. Salaquarda (Hrsg.): Schopenhauer, Darmstadt 1985, 221-233,
232.
7. Im Rahmen eines Aufsatzes ist die Beschränkung auf einen Vertreter der
christlichen Lehre unvermeidlich. Augustinus bietet sich hierfür in besonderem
Maße an, da er wie kein anderer die Lehre sowohl der katholischen als auch der
evangelischen Kirche bestimmt hat. Dennoch sind damit freilich nicht alle
Richtungen abgedeckt. Insbesondere ist darauf hin'zuweisen, daß die genuine
Lehre Martin Luthers in ganz anderem Verhältnis zu Schopenhauers Philo-
sophie zu sehen ist, der sie in der Frage des freien Willens und hinsichtlich der
Erlösungslehre, aber auch in anderen Punkten erheblich näher steht. Ich kann
hierzu auf Rudolf Malter, Schopenhauers Verständnis der Theologie Martin
Luthers. Schopenhauer-Jahrbuch 63 (1982) 22-53, und ders.: Willensverneinung
und Glaube. Schopenhauers Erlösungslehre vor dem Hintergrund der
Lutherschen Theologie, in: L. HauserlE. Nordhofen (Hrsg.): Im Netz der Begriffe.
Religionsphilosophische Analysen (Festschrift für Hermann Schrödter), Würz-
burg 1994, 47-58, verweisen und gedenke, in Kürze eine Arbeit vorzulegen, die
einen Vergleich des Schopenhauerschen Verhältnisses zu Augustinus mit dem

72
Schopenhauers Ethik als Rettung der christlichen Moral?

zu Luther vornimmt. Wenn im folgenden daher der Einfachheit halber pauschal


vom "christlichen Verständnis" die Rede ist, so ist zunächst die augustinische
Prägung gemeint und hinsichtlich Luther immer ein großes Fragezeichen
hinzuzusetzen.
8. E, 71.
9. Ebda., 44.
10. Ebda., 50 ff..
11. Ebda., 93. Zu Schopenhauers Verständnis der empirischen Grundlagen der
Moral vgl. den aufschlußreichen Brief an Johann August Becker, in: GBr, Nr.
204.
12. E, 97.
13. E, 98.; P 11, 242: "Sie [die Freiheit) ist ein Metaphysisches, aber in der physi-
schen Welt Unmögliches".
14. W I, 481 Anm.
15. Ebda., 483.
16. De spiritu et littera (in: Sankt Augustinus, Der Lehrer der Gnade (hrsg.
Kunzelmann/Zumkeller). Schriften gegen die Pelagianer Bd. I, Würzburg 1971,
300-434),3,5: "Nam neque liberum arbitrium quicquam nisi ad peccandum va-
let, si lateat veritatis via"; vgl. De ciuitate dei (Corpus Christianorum, series la-
tina (CCL) Bd. 47/48), Turnhout 1955, XIII, 21; Contra duas epistolas Pela-
gianorum (in: Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum (CSEL) Bd. 60,
WienlLeipzig 1913, 421-570) I, 3, 7; 11, 5, 9 u. Ö.
17. De natura et gratia (in: Sankt Augustinus, Der Lehrer... Bd. I, a. a. 0., 436-
566) 57, 67: "sub lege est enim, qui timore supplicii quod lex minatur, non amore
iustitiae se sentit abstinere ab opere peccati, nondum liber nec alienus a volun-
tate peccandi". Dieser paulinische Gedanke wird von Augustinus vor allem in
den Römerbriefkommentaren und in De diuersis quaestionibus ad Simplicianum
(CCL, Bd. 44), Turnhout 1970, I, ausführlich erörtert, taucht aber schon in De
libero arbitrio (in: CCL Bd. 29, Turnhout 1970, 209-321) I, 15, 31 (103) und 32
(111) auf und bleibt von zentraler Bedeutung für seine Lehre.
18. W I, 300. Vgl. W 11, 651 f., W 1,387 f.
19. W 1,416.
20. De libero arbitrio, a. a. 0., III, 15, 44 (152): "Nullo autem intervallo temporis
ista dividuntur - ut quasi aHo tempore non faciat quod debet et alio patiatur
quod debet -, ne vel puncto temporis universalis pulchritudo turpetur, ut sit in
ea peccati dedecus sine decore vindictae".
21. W 11, 667.
22. De libero arbitrio, a. a. 0., III, 15,44 (152): "sed in futurum iudicium serva-
tur ad manifestationem atque ad acerrimum sensum miseriae quicquid nunc oc-
cultissime vindicatur".
23. Expositio quarundam proposition um ex epistola ad Romanos (in: CSEL Bd.
84, Wien 1971, 1-52) 12, 12.
24. W I, 402 ff., 437 ff.
25. W 11, 437. Zum "deuteros plous", dem zweiten Weg zur Verneinung des
Willens, der abweichend vom hier dargelegten nicht über die Durchschauung
des principium indiuiduationis im Mitleid vermittelt ist, sondern ein unmittel-
bares Umschlagen vom eigenen Leiderfahren (das durchaus mit Bosheit ver-
bunden sein kann) in Heiligkeit bedeutet, siehe W 1,463 f.

73

'f)r]annes Gulenben.J-Urtl\:T:r~ltät
Matthias Koßler

26. Contra duas epistolas Pelagianorum, a. a. 0., 111, 5, 14: ,,[fidesl quae licet
si ne operibus neminem salvat"; vgl. Tractatus in loannis Euangelium CXXIV
(CCL Bd. 36), Turnhout 1954, 29, 10; De gratia et libero arbitrio (in: Sankt
Augustinus. Der Lehrer ... Schriften gegen die Semipelagianer, Würzburg 1955,
76-158) 7, 18; De fide et operibus (in: CSEL Bd. 41, PraglWienlLeipzig 1900,33-
97) 14 und 22 ff..
27. W I, 478, 480.
28. Vgl. Heinrich Barth, Die Freiheit der Entscheidung im Denken Augustins,
Basel 1935, bes. 75 und 112-151.
29. W I, 478.
30. Z. B. Hans Jonas, Augustin und das paulinische Freiheitsproblem, Göttingen
21965; Heinrich Barth, Die Freiheit der Entscheidung im Denken Augustins,
Basel 1935, 031.
31. E, 97.
32. Vgl. dazu Matthias Koßler, Substantielles Wissen und subjektiues Handeln,
dargestellt in einem Vergleich uon Hegel und Schopenhauer, Frankfurt/M. 1990,
202 ff.
33. E, 97; W 11, 677 u. ö..
34. Der Grundgedanke der auf ewigen Gesetzen beruhenden Gerechtigkeit ist
nicht an die christliche Religion gebunden, er zieht sich von der "lex perpetua et
aetema" der Stoiker, die Cicero in De natura deo rum (in: De natura deorum;
Academica. LondonlCambridge 1956, 2-382) I, 40 schon Chrysipp zuschrieb und
in De legibus ·(in: De re publica; de legibus. LondonlCambridge 1959, 287-519) 11,
4,8 mit der "aetema sapientia" gleichsetzte, über den "tou pantos nomos", dem
der schlechte Mensch nicht entgehen kann, in Plotins Enneade 111, 2, 4 (in:
Plotins Schriften Bd. V, Hamburg 1960) bis hin zu den "ewigen Gesetzen der
Weisheit und Güte" bei Leibniz (Die Theodizee, Hamburg 1968, 439).
35. Es sei denn, man trennt den Begriff der Theodizee völlig vom Gottesbegriff
ab, wie dies Schopenhauer offensichtlich tut, wenn er in HN I, 339 sagt: "Diese
Erkenntniß [die Durchschauung des principium indiuiduationisl ist die ächte
Theodicäe und giebt Erklärung darüber warum in dieser Welt hier einer in
Freuden und Wollüsten lebt und vor seiner Thüre ein Andrer vor Mangel und
Kälte quaalvoll stirbt".
36. W I, 411, 414. Auch die ewige Gerechtigkeit ist keine vergeltende, da
Vergeltung einen zeitlichen Abstand voraussetzt (W 1,414).
37. De libero arbitrio, a. a. 0, I, 6, 15 (51); vgl. ebda., (48). Dieser Grundgedanke
bleibt in der Lehre Augustins erhalten, wenn auch die Bestimmung der lex oe·
terna durch die mit der Entwicklung der Gnadenlehre verbundene Einbeziehung
der göttlichen "aequitas occultissima et ab humanis sensibus remotissima" (De
diversis quaestionibus ad Simplicianum, a. a. 0., I, 2, 16) modifiziert wird. Vgl.
dazu Josef Rief, Der Ordobegriff des jungen Augustinus, Paderbom 1962.
38. De libero arbitria, a. a. 0., I, 6, 15 (48): "illa lex quae summa ratio nominatur,
cui semper obtemperandum est et per quam mali miseram, boni beatam vitam
merentur ... "
39. Pred. 8, 14. Augustinus behandelt diesen Vers in De civitate dei, a. a. 0., XX,
3. Zu seiner Einordnung dieser Feststellung in den Rahmen der lex aeterna vgl.
De civitate dei, a. a. 0., I, 8 und Enchiridion ad Laurentium de {ide et spe et cari·
tate (in: CCL Bd. 46, Turnhout 1969, 49-114) 17,66.

74
Schopenhauers Ethik als Rettung der christlichen Moral?

40. Norbert Fischer, Augustins Philosophie der Endlichkeit, Bonn 1987,283.


41. De libero arbitrio, a. a. 0., III, 9; De diuersis quaestionibus ad Simplicianum,
a. a. 0., I, 2, 18.
42. De libero arbitrio, a. a. 0., III, 18,52 (177); Ebda., 19,54 (185). InDe diuersis
quaestionibus octoginta tribus (CCL 84), Turnhout 1975, 68, 3 erweckt die
Formulierung " ... omnes una massa luti facti sumus, quod est massa peccati"
zwar den Eindruck, als handele es sich um eine ursprüngliche, geschaffene
Natur, doch bleiben solche Formulierungen, wie auch in De diuersis quaestioni-
bus ad Simplicianum, a. a. 0., I, 2, 17, vereinzelt und lassen sich mit der von
Augustinus immer vertretenen Güte der Schöpfung nicht vereinen. Bei Luther
kann man dann allerdings nicht mehr in diesem Sinne von einer Entfremdung
sprechen; vgl. Anm. 7.
43.Vgl.dazu Matthias Koßler, Substantielles Wissen und subjektives Handeln,
dargestellt in einem Vergleich von Hegel und Schopenhauer, FrankfurtlM. 1990.
44. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die kantische Forderung, das
Wissen aufzuheben, um dem Glauben Platz zu machen (Kritik der reinen
Vernunft, Hamburg 1976, B XXX, vgl. auch B 498).
45. G. W. F. Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der
Philosophie (in: Jenaer Schriften 1801-1807. Werke in zwanzig Bänden, Bd. 2.
FrankfurtIM .1970, 9-138), 114; ders.: Glauben und Wissen (in: Jenaer Schriften,
a. a. 0., 287-433), 294.
46. Vgl. die Warnung Kants davor, das, "was nicht ein Gegenstand der
Erfahrung sein kann, ... jederzeit in Erscheinung [zu) verwandeln" (Kritik der
reinen Vernunft, a. a. 0., B XXX).
47. Zur Dialektik der Grenze vgl. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik I,
Werke in zwanzig Bänden, Bd. 5. FrankfurtJM. 1969, 142 ff.
48. In epistolam Joannis ad Parthos tractatus decem (in: Patrologiae cursus
completus (ed. Migne), se ries latina, Bd. 35, Paris 1845, Sp. 1977-2062) 10, 7.
Vgl. De diversis quaestionibus octoginta tribus, a. a. 0., 35, 2: "Quidquid autem
mente habetur, noscendo habetur; nullurnque bonum perfecte noscitur, quod non
perfecte amatur. Neque ut sola mens potest cognoscere, ita et amare sola potest".
49. G. W. F. Hegel, Glauben und Wissen, a. a. 0., 288.

75
Kommt es darauf an, die Welt zu verändern?
Zur Ethik des Tuns und Lassens
Von Georg Küpper

1. "Was sollen wir tun" - oder "was sollen wir lassen"?

In seiner bekannten Feuerbach-These hatte Karl Marx den Philosophen


vorgeworfen, sie hätten die Welt nur verschieden interpretiert; es
komme aber darauf an, sie zu verändern. Immerhin will die praktische
Philosophie (Ethik) auch Maximen für das rechte Handeln angeben. Die
dementsprechende Grundfrage Kants lautet: "Was sollen wir tun?" Dies
impliziert bereits Aktivität, denn es heißt ja nicht etwa: "Was sollen wir
lassen?" Bei zwei dichtenden Schopenhauerianern gehen die Meinungen
schon auseinander. Erich Kästner stellt lapidar fest: "Es gibt nichts
Gutes, außer man tut es." Zurückhaltender formuliert hingegen Wilhelm
Busch: "Das Gute, dieser Satz steht fest, ist stets das Böse, was man
läßt."
Das Lassen indes scheint dem heutigen Menschen nicht geheuer,
vielmehr ist Aktion (neudeutsch: action) angesagt. Nicht nur theore-
tisch, sondern auch praktisch wird die Devise ausgegeben: anything
goes, wenngleich häufiger zu ergänzen wäre: nothing works. Jedenfalls
leben wir - wie Odo Marquard 1 konstatiert - im Zeitalter der Mach-
barkeit: "Erst wurde nichts gemacht, dann wurde einiges gemacht,
heute wird alles gemacht."
Das Endprodukt allerdings läßt Schlimmes befürchten. Soziolo-
gischen Ausdruck findet es im Terminus der sog. Risikogesellschaft.3
Darunter wird eine Gesellschaft mit künstlich erzeugten atomaren,
chemischen, ökologischen und gentechnischen Selbstvernichtungs-
möglichkeiten verstanden. Kennzeichnend ist zunächst, daß diese
Risiken immer zahlreicher und unübersehbarer werden. Zudem gerät
das wissenschaftstheoretische Prinzip des trial and error ins Wanken,
denn ein einmal unterlaufener Irrtum kann schon tödlich sein. 3 Den
entscheidenden Gesichtspunkt im hiesigen Zusammenhang bildet nun
die Tatsache, daß die genannten Risiken systematisch produziert
werden und damit Folge tätigen Handeins sind. Es erscheint deshalb
angebracht, die vorherrschende "Ethik der Aktion"4 einer kritischen
Prüfung zu unterziehen.
Kommt es darauf an, die Welt zu verändern?

2. Der Ersatzgott Fortschritt

Am Anfang soll eine Bestandsaufnahme dessen stehen, was der "Ersatz-


gott Fortschritt"5 uns beschert hat. Bereits vor 20 Jahren hatte Vanden-
rath im 53. Schopenhauer-Jahrbuch einen skeptischen Blick auf die
heutige Lage der Menschheit geworfen. 6 Dieser Ansatz kann aufgenom-
men und fortentwickelt werden. Dabei wird besonderes Augenmerk auf
die jüngsten Schöpfungen und ihre Entstehungsweise zu richten sein.

1. Ein erstes signifikantes Kennzeichen der Moderne ist der gewaltige


Aufschwung von Wissenschaft und Technik. Nun findet diese Entwick-
lung zwar seit längerem statt, sie mündet aber heute in eine verhäng-
nisvolle Spirale. Nachdem der technische Fortschritt seine Schatten-
seiten offenbart hat, versucht man den dadurch entstandenen Gefahren
mit immer mehr Technik zu begegnen, mit anderen Worten: den Teufel
mit Beelzebub auszutreiben. Der US-Vizepräsident Al Gore 7 hat den
darin liegenden circulus vitiosus treffend beschrieben: "Die Vorstellung,
neue Technologien böten die Lösung, ist zentraler Bestandteil der
falschen Denkweise, die überhaupt erst zu der Krise geführt hat."
Ein Innehalten wäre vor allem dann angezeigt, wenn die mögli-
chen Konsequenzen nach menschlichem Ermessen nicht mehr kalku-
lierbar sind. Insofern bedarf die sog. Verantwortungsethik einer Er-
gänzung. Bekanntlich erhebt sie die Forderung, auf die voraussehbaren
Folgen der Handlungen zu achten und für sie aufzukommen. Was aber,
wenn diese Folgen weder absehbar noch beherrschbar sind? Als
Handlungsanweisung kommt in diesem Fall nur noch Handlungs-
abstinenz in Betracht! Zwei Problemkreise sollen dazu exemplarisch
angeführt werden.
Die "friedliche" Nutzung der Kernenergie bringt Risiken mit sich,
die menschlicher Kontrolle entzogen sind; niemand kann die aus einem
Reaktor entwichene Strahlung wieder einfangen. Soll man den Betrieb
solcher Anlagen also überhaupt zulassen? Das Bundesverfassungs-
gericht, das ja ohnehin zunehmend die Richtlinien der Politik bestimmt,
hatte vor 15 Jahren über die Genehmigung des "Schnellen Brüters" zu
entscheiden,s Die Urteilsgründe machen das Dilemma offenkundig:
Zwar verweist das Gericht auf die weithin noch ungeklärten Risiken, die
sich aus der Verwendung und dem Umgang mit spaltbaren Stoffen erge-
ben können; sie seien nach Art und Ausmaß gegenüber allen bisherigen
Gefahren aus der Nutzung von Privateigentum neuartig. Gleichwohl
kommt es zu dem bemerkenswerten Schluß: "Ungewißheitenjenseits der
Schwelle praktischer Vernunft haben ihre Ursache in den Grenzen des
menschlichen Erkenntnisvermögens; sie sind unentrinnbar und insofern
als sozial-adäquate Lasten von allen Bürgern?ou tragen." Wenn aber das

77
Georg Küpper

menschliche Erkenntnisvermögen an seine Grenzen stößt, sollte diese


Einsicht doch wohl eher zur Selbstbeschränkung führen. Ein Strafrecht.
ler - von Berufs wegen seiner Zeit voraus - hat deshalb schon 1956 zu
bedenken gegeben:
Damit übernimmt der Gesetzgeber eine sittliche Verantwortung
von nie gekanntem Ausmaß. Wenn er nämlich in einem "Kern.
energiegesetz" die Haftung für alles Unglück regelt, das lebenden
und künftigen Generationen aus der Atomenergie erwachsen
kann, bejaht er damit die schicksalsschwere Frage: Ist es dem
Menschen erlaubt, ist es mit der Rechts- und Sittenordnung ver·
einbar und "der menschlichen Gemeinschaft angemessen"
(sozialadäquat), um des wirtschaftlichen Nutzens willen Kräfte zu
entfesseln, die sich gegen das ganze Menschengeschlecht zu keh·
ren drohen? Ist nicht vielmehr die vermeidbare Herausforderung
des Schicksals doch Unrecht?9

Eine weitere, besonders aktuelle Problematik stellt die Entwicklung der


Gentechnologie dar. Sie produziert neue Lebewesen, die, einmal in die
Natur entlassen, nicht mehr rückholbar sind, sich fortpflanzen und aus·
breiten. Spätestens seit "Jurassic Park" wissen wir, was dabei passieren
kann. Womöglich werden uns solche filmischen Fiktionen in naher Zu·
kunft als nachgerade harmlos erscheinen. Der deutsche Gesetzgeber hat
in weiser Voraussicht ein Embryonenschutzgesetz verabschiedet, das
Strafdrohungen gegen das Klonen von Menschen sowie die Chimären·
und Hybridbildung vorsieht. Offenbar besteht Grund zu der Annahme,
daß es entsprechender Verbote bedürfe. Einem Bericht des SPIEGEL
(Nr. 35/1993) zufolge werden bereits menschliche Gene in das Erbgut
y'on Schweinen eingeschleust. Nun mag man sich zwar mit gewissen
Ahnlichkeiten zwischen Mensch und Schwein trösten, aber auch hier
gilt: Wenn eine Folgenabschätzung und -beherrschung nicht mehr
gegeben ist, muß dem Machbarkeitswahn in Wissenschaft und Technik
Einhalt geboten werden.

2. Von anhaltender Aktualität ist zweitens die fortschreitende Verän-


derung, d. h. Zerstörung der Umwelt. Wo ungebrochener Tatendrang
sich Bahn bricht, da wächst buchstäblich kein Gras mehr! Konrad
Lorenz hat die entsprechende Vorgehensweise an dem illustriert, was
man auf Amerikanisch darunter versteht, ein Landstück zu entwickeln:

"To develop an area" heißt, auf dem betreffenden Stück Land alle
natürliche Vegetation radikal zu vernichten, den frei werdenden
Boden mit Beton oder bestenfalls mit Parkrasengras zu überzie-
hen, ein etwa vorhandenes Stück Meeresstrand durch eine Beton-

78
Kommt es darauf an, die Welt zu verändern?

mauer zu befestigen, Bachläufe zu begradigen oder, wenn möglich,


in Röhren zu fassen, das Ganze gründlich mit Pestiziden zu
vergiften und dann an einen gehorsam verstädterten und ver-
dummten Konsumenten möglichst teuer zu verkaufen. Darüber
hinaus wird im techno morphen Denken auf beinahe zwangsneuro-
tische Weise das bloße Bestehen der Möglichkeit, einen bestimm-
ten Vorgang technisch zu realisieren, mit der Verpflichtung ver-
wechselt, dies tatsächlich zu tun. Es ist geradezu zu einem Gebot
der technokratischen Religion geworden: Alles was irgendwie ma-
chbar ist, muß gemacht werden. 10

Die menschlichen Eingriffe in die Natur potenzieren auch noch die


Folgen vermeintlich natürlicher Vorgänge. Jüngstes Beispiel bildet die
Flutkatastrophe im Mississippi-Gebiet, die großenteils ein Resultat des
für Milliarden Dollar errichteten Dammsystems gewesen ist. Ein US-
Bürgermeister hat die Konsequenzen geradezu paradigmatisch zusam-
mengefaßt: "Ohne die Schutzwälle hätten wir alle nasse Füße bekom-
men, jetzt steht uns das Wasser bis zum Hals."ll In einer ersten Ab-
wandlung der Marxschen These wird man sagen müssen: Die Menschen
haben die Welt durchaus verändert, es kommt aber darauf an, sie zu
verschonen. 12 Solange steht zu befürchten, daß es weitergeht wie bisher.
Erst wird geplant, dann planiert. Ein Städtebauer an der TU Berlin
berichtet, er habe versucht, einen Lehrstuhl für Nicht-Bauen ein-
zurichten, leider ohne Erfolg. Mal etwas nicht zu tun, etwas lassen zu
können, das sei wohl das schwierigste. 13

3. Als letzten Punkt hatte Vandenrath in seiner erwähnten Betrachtung


die Zunahme der Vernichtungswaffen angeführt. Vorläufig scheint sich
diese Bedrohung durch die neuere globale Entwicklung zu reduzieren,
obwohl mehrere Staaten kürzlich die Wiederaufnahme von Atom-
waffen tests angekündigt haben. Nicht abgenommen hat jedenfalls die
Zahl der kriegerischen Auseinandersetzungen weltweit. Hier stellt sich
die Frage, ob das aktive Eingreifen in diese Konflikte zu befürworten ist.
Die jüngsten Erfahrungen lassen Skepsis angebracht erscheinen. So hat
sich die anfangs humanitäre Mission in Somalia unversehens in eine.
militärische Aktion verwandelt. Im Hinblick auf das ehemalige Jugo-
slawien streitet man darüber, ob ein Kampfeinsatz den Bürgerkrieg
beenden oder mehr Schaden als Nutzen stiften würde. Auch dies sind
Indizien dafür, daß ein voreiliges Tun einem überlegten Lassen nicht
ohne weiteres vorzuziehen ist. Es gibt nämlich keine Nichtverschlech-
terungsgarantie. 14 Im Gegenteil: Man sollte lieber mit dem Schlimmsten
rechnen! Hans Jonas hat vom Vorrang der schlechten vor der guten
Prognose gesprochen und die Vorschrift formuliert, der Unheilsprophe-
zeiung mehr Gehör zu geben als der Heilsprophezeiung. 15 Diese Mah-

79
Georg Küpper

nung ist vor allem an diejenigen zu adressieren, die immer noch im un-
erschütterlichen Glauben an einen weltgeschichtlichen Fortschritt be-
fangen sind, dem Schopenhauer die deutlichste Absage erteilt hatte:

Die Thoren hingegen meynen, es solle erst etwas werden und kom-
men_ Daher räumen sie der Geschichte eine HauptsteIle in ihrer
Philosophie ein und konstruieren dieselbe nach einem voraus-
gesetzten Weltplane, welchem gemäß Alles zum Besten gelenkt
wird, welches dann finaliter eintreten soll und eine große Herr-
lichkeit sein wird_ Demnach nehmen sie die Welt als vollkommen
real und setzen den Zweck derselben in das armsälige Erdenglück,
welches, selbst wenn noch so sehr von Menschen gepflegt und vom
Schicksal begünstigt, doch ein hohles, täuschendes, hinfälliges
und trauriges Ding ist, aus welchem weder Konstitutionen noch
Gesetzgebungen, noch Dampfmaschinen und Telegraphen jemals
etwas wesentlich Besseres machen können. Besagte Geschichts·
Philosophen und -Verherrlicher sind demnach einfältige Realisten,
dazu Optimisten und Eudämonisten, mithin platte Gesellen und
eingefleischte Philister [... ]16

Eine illusionslose Betrachtung der Zeitläufe kann demgegenüber vor


manchen Enttäuschungen bewahren. Bisweilen bricht sich diese
Erkenntnis nolens volens Bahn. Das Geschichtsmagazin DAMALS ver-
spricht in seiner Werbung fesselnde und unterhaltsame Informationen
zum Weltgeschehen unter der Überschrift: "Krieg, Hunger, Katastro-
phen - es ist alles schon einmal dagewesen!" Wahrlich fesselnd und
unterhaltsam, aber immerhin auch lehrreich.

3. Drei Zugänge zum Nicht-Handeln

Der ohne Anspruch auf Vollständigkeit erhobene Befund macht bereits


deutlich, daß ein Einstellungswandel notwendig erscheint, der dem
Hang zur Veränderung eine skeptische Vorsicht anempfiehlt. Hierfür
sollen drei Argumentationswege skizziert werden; dabei handelt es sich
um einen juristischen, einen ethischen und einen metaphysischen
Ansatz.

1. Als Leitmotiv der Skepsis hat Odo Marquard die Regel aufgestellt:
Der Veränderer trägt die BeweislastP Als Grund wird die Kürze des
Lebens und die daraus resultierende beschränkte Begründungskapazi-
tät angegeben. Jedoch entstammt die genannte Devise ursprünglich
einem rechtstheoretischen Zusammenhang und ist von dem Juristen
Martin Kriele am Prozeß der Rechtsgewinnung entwickelt worden,

80
Kommt es darauf an, die Welt zu verändern?

namentlich unter dem Gesichtspunkt der Präjudizienvermutung.18 In


der gebotenen Kürze läßt sich der Gedankengang wie folgt zusammen-
fassen:
Im anglo-amerikanischen case law haben Gerichtsentscheidun-
gen als Rechtsquelle eine besondere Bedeutung. Aber auch im deutschen
Recht werden die geschriebenen Normen erst durch die richterliche
Tätigkeit näher konkretisiert. Ist nun einmal ein derartiges Präjudiz er-
gangen, so gebietet es die praktische Vernunft, für gleichgelagerte Fälle
zunächst daran festzuhalten. Hierfür sprechen sowohl Gründe der Öko-
nomie als auch solche der Glei~hbehandlung und damit der Gerechtig-
keit. Zwar ist ein Abweichen von der früheren Entscheidung nicht von
vornherein ausgeschlossen, dieses ouerruling bedarf aber der Rechtferti-
gung. Daraus ergibt sich der Grundsatz: "Wer vom Präjudiz abweichen
will, hat die Argumentationslast."19 Nur wenn sich ihm Argumente auf-
drängen, mit denen er die Vermutung zugunsten des Präjudizes ausräu-
men kann, muß er die bereits vorentschiedenen Fragen neu durchden-
ken.
Diese an der Rechtsgewinnung orientierte Vorgehensweise ist
durchaus verallgemeinerungsfähig. Sie liegt schon dem täglichen Leben
- bewußt oder unbewußt - zugrunde. Wer etwa die Entscheidungen über
den ausgeübten Beruf, die bezogene Wohnung, den erwählten Ehepart-
ner, die abgeschlossenen Geschäfte usw. ständig von neuem auf ihre
Richtigkeit prüfen wollte, wäre zu keiner sinnvollen Lebensführung
mehr imstande. Darüber hinaus weist sie der praktischen Vernunft
einen Weg zwischen Reflexion und Dezision sowie Fortschritt und
Bewahrung. Einerseits wird das Bestehende von permanentem Begrun-
dungszwang entlastet, andererseits das Entstehende mit der Beweis-
führung belastet. Auf den ersten Blick mag eine solche Einstellung das
Stigma des Konservatismus tragen, gleichwohl steht sie notwendigen
Veränderungen nicht im Wege. Zweifellos gibt es Situationen, die ein
Handeln unumgänglich machen - man denke an eine brutale Diktatur.
Dafür können aber ohne weiteres die Gründe angeführt werden, so daß
die Grundregel nicht außer Kraft gesetzt wird. Gegen eine Selbstlegi-
timation des Istzustandes macht Kriele deshalb geltend:

Wir brauchen also nicht zu fürchten, daß uns die Gewinnung der
Maßstäbe aus der Beobachtung der Praxis dazu verleitet, die je-
weilige Praxis zu rechtfertigen, auch dann wenn sie schlecht ist.
Denn die schlechte Praxis ist daran kenntlich, daß es ihrer Verfah-
rensweise an guten, stichhaltigen Gründen oder an Gründen über-
haupt fehlt. 2o
2. In der ethischen Diskussion ist vor wenigen Jahren eine sogenannte
"negative Ethik" entwickelt worden, der es um die Vorzüge des Nicht-

81
Georg Küpper

Handeins geht. 21 Der Blickwechsel vom Tun zum Lassen wird dort sogar
als kopernikanische Wende der Ethik bezeichnet. Diese soll nunmehr
statt der Raserei die Verlangsamung, statt des Viel-Tuns das Weniger.
Tun und statt des Tuns überhaupt das Lassen zum Gebot erheben.
Dabei werden fünf Imperative22 negativer Ethik aufgestellt. Sie fordern,
dasjenige zu lassen, was
(1) schon besser getan worden ist;
(2) andere besser tun als wir;
(3) schon aus sich selber werden kann, was es sein soll;
(4) zum Überwiegen schlechter über gute Folgen führt;
(5) man sowieso nicht ändern kann.
Diese negative Ethik befreit zunächst von dem Druck, immer wieder
ganz vorne anfangen zu müssen. Sie macht geltend, daß. das, was ist,
nicht per se unvernünftig sein muß. Indem sie nicht in jedes Geschehen
eingreifen will, gewährt sie dem natürlichen Verlauf der Dinge ein
Eigenrecht. Der Mensch soll davon abgehalten werden, sich die Erde uno
tertan zu machen, wie es bisher das anthropozentrische Verhältnis zur
Natur geprägt hat. Hinsichtlich der Folgenabschätzung seines Handeins
wird schon bei potentiell unkorrigierbaren Konsequenzen das Bleiben·
lassen angemahnt. Gleiches gilt für das Inkaufnehmen sogenannter
"Nebenwirkungen", wenn es dazu führt, daß ihre Schädlichkeit die in·
teildierten positiven Ergebnisse zu übersteigen droht. Schließlich muß
das Änderungsbestreben sich auch mit der Einsicht in das Nicht-Ver·
änderbare abfinden.
Als Kardinaltugend einer solchen Ethik des Lassens läßt sich
demnach die Gelassenheit angeben. Im technischen Zeitalter impliziert
sie vor allem eine Gelassenheit zu den Dingen, die man - wie Heidegger
es ausdrückt - auf sich beruhen lassen sollte. 23 Gegenüber dem bloß
rechnenden Denken rückt diese Einstellung das besinnliche Denken
stärker in den Vordergrund.

3. Eine metaphysische Betrachtungsweise geht schließlich noch einen


Schritt weiter und wendet sich dem Antrieb zu, der gleichsam hinter
den äußerlichen Aktivitäten steckt. Dementsprechend heißt es bei Seho·
penhauer24 : "Nicht vom Thun und Erfolg, sondern vom Wollen handelt
es sich in der Ethik [... ]" Er führt uns vor Augen, daß der Wille immer
strebt, "weil Streben sein alleiniges Wesen ist, dem kein erreichtes Ziel
ein Ende macht, das daher keiner endlichen Befriedigung fähig ist,
sondern nur durch Hemmung aufgehalten werden kann, an sich aber ins
Unendliche geht."25 Negativ gewendet würde daraus folgen, daß ein
Nicht-Tun zunächst ein Nicht-Wollen voraussetzt. Solange also dieser
Wille - sei es als Wille zur Macht, sei es als Wille zum Machen - unge·

82
Kommt es darauf an, die Welt zu verändern?

brochen ist, muß sich das ihm entspringende Handeln fortwährend po-
tenzieren.
Die tätige Bejahung des Wollens bedingt zugleich, und zwar
notwendig, die dauernde Entstehung und Erneuerung des Leidens in
und an der Welt. Diese Konsequenz ist aus zwei Gründen unvermeid-
lich: Zum einen liegt der Wille in ständigem Widerstreit mit sich selbst,
da jede Erscheinungsform lediglich auf Kosten einer anderen existieren
kann. Zu besonderer Meisterschaft hat es dabei der Mensch gebracht,
wenn er die Welt als Machwerk und die Tiere als Fabrikat zu seinem
Gebrauch ansieht. Zweitens ist jede Befriedigung nur eine scheinbare,
indem sie sogleich ein neues Bedürfnis produziert. 26 Aus diesem
Teufelskreis führt allein die Selbstaufhebung des Willens.

4. Die Selbstaufhebung des Handeins

Nachdem die soeben angestellten Überlegungen vornehmlich die Innen-


perspektive (Denken) ins Auge gefaßt haben, ist noch ein Blick auf die
Außenseite (Handeln) zu werfen. Wie würde ein Verhalten aussehen,
das sich an den genannten Maximen orientiert? Auch insoweit sollen
wiederum drei Varianten aufgezeigt werden.

1. Als erstes kommt ein Verhalten in Betracht, das zwar noch dem
Handeln verpflichtet, aber frei von Illusionen hinsichtlich der damit ver-
bundenen Möglichkeiten ist. So hat etwa Ingenkamp - unter Bezugnah-
me auf Leopardi - ein Konzept resignativen Kämpfens vorgestellt, das er
im Unterschied zur Willen sv ern einung die "positive Resignation"
nennt. 27 Danach muß der Mensch mit den ihm zur Verfügung stehenden
Mitteln kämpfen, also handeln. Zugleich ist ihm bewußt, daß er die Welt
nicht wirklich verbessern kann, der Kampf sich deshalb letztlich als
aussichtslos darstellt. Indem er sich dennoch nicht besiegen läßt, eröff-
net dieses Bewußtsein den Weg zu einem wahrhaft edlen Handeln, zu
einer Ethik der festen und vornehmen Selbstbejahung.
Mich erinnert solche Haltung an eine existentialistische
Position, wie sie von Camus im "Mythos von Sisyphos" beschrieben wor-
den ist. 28 Bekanntlich hatten die Götter Sisyphos dazu verurteilt, un-
ablässig einen Felsblock den Berg hinaufzuwälzen, von dessen Gipfel
der Stein immer- wieder hinunterrollt. Die endlose Mühsal bedeutet ein
hoffnungsloses Unterfangen. Dennoch kann der Mensch dieses Schicksal
annehmen und Kraft daraus schöpfen; in seinem Entschluß manifestiert
sich die eigensinnige Bekundung eines Lebens ohne Trost. "Der Kampf
gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen" heißt es am Ende,
und die abschließende Konsequenz lautet deshalb sogar: "Wir müssen
uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen."

83
Georg Küpper

2. Die nächste Stufe scheint mir der stoische Gleichmut zu sein. Er mar.
kiert den Übergang von einer kämpferischen zu einer kontemplativen
Resignation. "Erst denken, dann handeln" sagt der Volksmund, während
die Devise des Stoikers "Denken statt Handeln" lauten würde. Darin ist
durchaus eine wesentliche Tätigkeit zu erblicken. Glaube mir -mahnt
Seneca - di~ nichts zu tun scheinen, tun oft das Wichtigste; Menschliches
und Göttliches betreiben sie zu gleicher Zeit. 29 Zumindest tun sie das
was der Mensch ohnehin tun sollte, denn - wie Dürrenmatt scho~
drastischer anmerkt - die menschliche Bestimmung liegt im Denken,
nicht im Handeln. "Handeln kann jeder Ochse."30
Von Schopenhauer31 wird die stoische Moral zwiespältig beur·
teilt. Er sieht in ihr nur eine besondere Art des Eudämonismus, die
keine metaphysische Tendenz habe, sondern einen völlig immanenten
Zweck: die Unerschütterlichkeit und ungetrübte Glückseligkeit des
Weisen, den nichts anfechten kann. Doch liege Geistesgröße und Würde
darin, daß man schweigend und gelassen das Unvermeidliche in melan·
cholischer Ruhe erträgt.

3. Ein bloßes Ertragen ist allerdings noch kein Verneinen. Erst mit letz·
terem gelangt der Mensch - nach Schopenhauer - zum Zustand der frei·
willigen Entsagung, der Resignation, der wahren Gelassenheit und
gänzlichen Willenlosigkeit.32 Die daraus resultierende Haltung wäre die
der Askese. Zusammenfassend wird der echte philosophische Stand·
punkt wie folgt beschrieben:

Uns aber, die wir hier nicht den Faden der Erscheinungen in der
Zeit verfolgen, sondern als Philosophen die ethische Bedeutung
der Handlungen zu erforschen suchen und diese hier zum alleini·
gen Maaßstabe für das uns Bedeutsame und Wichtige nehmen,
wird doch wohl keine Scheu vor der stets bleibenden Stirn·
menmehrheit der Gemeinheit und Plattheit abhalten zu be·
kennen, daß die größte, wichtigste und bedeutsamste Erschei-
nung, welche die Welt aufzeigen kann, nicht der Welteroberer ist,
sondern der Weltüberwinder, also in der That nichts anderes, als
der stille und unbemerkte Lebenswandel eines solchen Menschen,
dem diejenige Erkenntniß aufgegangen ist, in Folge welcher er
jenen Alles erfüllenden und in Allem treibenden und strebenden
Willen zum Leben aufgiebt und verneint, dessen Freiheit erst hier,
in ihm allein, hervortritt, wodurch nunmehr sein Thun das gerade
Gegentheil des gewöhnlichen wird.33

Diesem Leitbild entspricht indessen nur die Figur des Heiligen; be-
kanntlich ist diese species nicht weit verbreitet. Eine Welt voller

84
Kommt es darauf an, die Welt zu verändern?

Heiliger wäre vielleicht auch eine etwas trübselige Angelegenheit.


Immerhin kann aber die Schopenhauerische Wende zu einer "Philo-
sophie der Handlungshemmung"34 eine Haltung begünstigen, die ich als
passive Verantwortungsethik bezeichnen möchte. Damit soll gesagt sein,
daß vor jedem Tun im Hinblick auf seine Folgewirkungen die Alter-
native des Lassens zumindest in Erwägung zu ziehen ist. Solche Ethik
stellt - in der Formulierung von Hans Jonas - dem erbarmungslosen
Optimismus die barmherzige Skepsis gegenüber und legt dem ga-
loppierenden Vorwärts die Zügel an. 35 Ihr Fundament bildet die
Einsicht in die Grenzen des Machbaren. Die Welt als böser Wille und
Fallenstellung läßt sich eben nicht in das Paradies auf Erden verwan-
deln. Deshalb kommt es zuvörderst darauf an, sie gründlich zu interpre-
tieren. Die Interpretation kann radikaler als eine bloße Veränderung
wirken, weil sie nicht an der Oberfläche stehen bleibt, sondern zu den
Wurzeln vordringt. Unter diesem Aspekt soll die einleitend angeführte
These zum Abschluß mit der Einschätzung Ludwig Marcuses konfron-
tiert werden:
Der geheime Radikalismus Schopenhauers ist viel umstürzleri-
scher als der offene, der nur die Diktatur eines anderen
Verteilungssystems will ... Er war ein Aufsässiger - im Vergleich
zu ihm war Marx nur auf kleine Reformen aus. Nicht Marx,
Schopenhauer ist in einem sehr ernsten Sinn subversiv. 36

Anmerkungen
1. O. Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981, 67.
2. Grundlegend U. Beck, Risikogesellschaft, FrankfurtJM. 1986.
3. Dazu auch U. Beck, a. a. 0., 293 ff.
4. H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, FrankfurtJM. 1984, 45.
5. U. Beck, a. a. 0.,345.
6. J. Vandenrath, Schopenhauer und die heutige Lage der Menschheit, Schopen-
hauer-Jahrbuch 53 (1972), 124.
7. Zitiert nach: DER SPIEGEL, Nr. 2/1993.
8. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 49, 89.
9. W. Niese, Die moderne Strafrechtsdogmatik und das Zivilrecht, Juristen-
zeitung 1956, 457, 466; ähnliche Überlegungen bei R. Spaemann: Technische
Eingriffe in die Natur als Problem der politischen Ethik, in: D. Birnbacher
(Brsg.), Ökologie und Ethik, 1980, 180,200 ff.
10. K. Lorenz, Der Abbau des Menschlichen, München 1983, 20.
11. Berliner Zeitung vom 16. 7. 1993.
12. In Anlehnung an O. Marquard, a. a. 0., 20.
13. GRÜNST1FT 11/91,15.
14. Ebenso O. Marquard, a. a. 0., 10.

85
Georg Küpper

15. H. Jonas, a. a. 0., 70.


16. Ueber Geschichte; W 11, Kap. 38.
17. O. Marquard, a. a. 0.,16.
18. M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung , Berlin 1967, 258 ff.
19. Ebda.,.260.
20. Ebda., 288.
21. H. Ottmann, Ethische Vorzüge des Nicht-Handelns vor dem Tun, Schopen.
hauer-Studien 3 (1989), 125.
22. Ebda., 126 ff.
23. M. Heidegger: Gelassenheit, Pfullingen 91988,23; zum Thema auch K. Pisa
Das Vermächtnis der Gelassenheit, Schopenhauer-Jahrbuch 69 (1988), 67. '
24. Zur Ethik; W 11, Kap. 47.
25. W I, 364.
26. Dazu auch W. Weimer, Ist der Optimismus noch zu retten? SchopenhalUr.
Jahrbuch 73 (1992), 37,43 ff.
27. H. G. Ingenkamp, Der Ginster. Giacomo Leopardi über das würdige Leben
und Sterben, Schopenhauer-Jahrbuch 73 (1992), 133, 142 ff.
.28. A. Camus, Der Mythos von Sisyphos, Reinbek 1959.
29. Seneca, Vom glücklichen Leben, 14 1978, 197.
30. F. Dürrenmatt, Justiz, Zürich 1985, 85.
31. Ueber den praktischen Gebrauch der Vernunft und den Stoicismus; WII,
Kap. 16.
32. WI,448.
33. WI, 456.
34. R. Safranski, Schopenhauer und die wilden Jahre der Philosophie, München
1987,12.
35. H. Jonas, a. a. 0., 386, 388.
36. L. Marcuse, Das Gespräch ohne Schopenhauer, in: Über Arthur Schopen·
hauer, Zürich 1977, 133, 136 f.

86
Schopenhauers Ethik im Licht der gegenwärtigen Ethik-
diskussion
Von Günther Baum

Die Frage, inwieweit Schopenhauers Ethik heute noch aktuell sein


könnte, impliziert eine Rückbesinnung auf das, was Ethik überhaupt in
Hinsicht auf die Lösung gesellschaftlicher Spannungsverhältnisse zu
leisten vermag. Eine direkte Konfliktbewältigung politischer und sozi-
aler Probleme überfordert zweifellos die philosophische Ethik, und auch
Schopenhauers Philosophie vermag auf den ersten Blick nichts dazu bei-
zutragen, wenn sie sich beispielsweise mit den Fragen der Kernenergie
oder der Gentechnik auseinandersetzen müßte. Die Verantwortung für
die Zukunft, um mit Hans Jonas zu sprechen, übersteigt die Dimen-
sionen der herkömmlichen Ethik. l Selbst wenn man diese in Sozial- und
Individualethik unterteilt, wäre die Problematik nicht behoben, weil
diese nur exemplarisch erwähnten gesellschaftlichen und technischen
Herausforderungen letztlich einer politischen Entscheidung unterliegen,
die nur aufgrund umfangreicher empirischer Befunde getroffen werden
kann. Damit wird aber die traditionelle philosophische Ethik keinesfalls
obsolet, denn es führen alle sozialen und politischen Betrachtungsweisen
auf den in konkreten Situationen handelnden Menschen zuruck2 , dessen
Entscheidungen teils bewußt, teils unbewußt getroffen werden, wobei
von ausschlaggebender Bedeutung die Fundierung der jeweiligen Hand-
lung entweder in einer rationalen, gesetzmäßig strukturierten oder aber
emotional-affektiven Dimension bleibt.
Ml:1n muß also, will man den Zusammenhang zwischen Indivi-
dual- und Sozialethik aufspüren, auf die Handlungsstruktur als solche
zurückgehen, wenn man nicht aus dem Auge verlieren soll, daß in jeder
Handlung, sei sie nun auf den Mitmenschen als Individuum oder auf die
Gesellschaft gerichtet, die Struktur der Intersubjektivität durchscheint,
wie sie sich in Empfindungen, Gefühlen oder im Dialog in der Sprache
und nicht zuletzt in rationalen Verhaltensmustern bis hin zu den
Rechts- und Staatssystemen äußert.
Unter diesem Aspekt muß zunächst einmal die Auseinander-
setzung Schopenhauers mit der Ethik Kants gesehen werden, dies nicht
zuletzt deshalb, weil die zeitgenössische Ethik vorgibt, wieder auf
kantische Positionen zurückzugehen. Bekanntlich setzt sich Schopen-
Günther Baum

hauer besonders in seiner Ethik von dem sonst so sehr von ihm ver-
ehrten Philosophen ab,s Rationale Theoreme, Gesetze oder aus der Ver-
nunft deduktiv abgeleitete Maximen können nach Schopenhauer nie-
mals eine Grundlage der Moralität sein. Dies hängt mit der ihm ei-
gentümlichen Erkenntnistheorie zusammen, welche das Wissen sowohl
wie das Handeln aus dem Satz des Grundes ableitet, der aber wiederum
nichts anderes als das erste Prinzip darstellt, gemäß dem sich der Wille
zur Erscheinung bringt. Daher leuchtet es auch ein, wenn nach
Schopenhauer eine isolierte argumentative Erörterung moralischer
Sachverhalte unangemessen ist, was wiederum mit dem Primat des
Willens in der Erkenntnis zusammenhängt. "Wenn wir in unser Inneres
blicken, finden wir uns immer als wollend", sagt Schopenhauer in seiner
Schrift Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde.
Und weiter:
Hier hingegen, wo vom Subjekt die Rede ist, gelten die Regeln für
das Erkennen der Objekte nicht mehr, und eine wirkliche Iden-
tität des Erkennenden mit dem als wollend Erkannten, also des
Subjekts mit dem Objekt, ist unmittelbar gegeben ... wir wissen
nämlich aus der an uns selbst gemachten inneren Erfahrung, daß
dieselbe ein Willensakt ist, welcher durch das Motiv, das in einer
bloßen Vorstellung besteht, hervorgerufen wird. 4

In diese~ Ausprägung wird der Satz vom Grunde zur Bedingung der
Möglichkeit moralischer Handlungen, was Schopenhauer knapp zusam-
menfaßt: "Die Motivation ist die Kausalität von innen gesehen."5
Der Satz von Grunde artikuliert sich dergestalt als Satz vom zu-
reichenden Grund des Handeins bzw. als Gesetz der Motivationen. Ab-
schließend noch aus Schopenhauers Schrift ein weiteres Zitat:

Der Wille des Individuums aber ist es, der das ganze Getriebe in
Tätigkeit versetzt, indem er dem Interesse, d.h. den individuellen
Zwecken der Person gemäß, den Intellekt antreibt zu seinen ge-
genwärtigen Vorstellungen ... die Tätigkeit des Willens hierbei ist
jedoch so unmittelbar, daß sie nicht ins deutliche Bewußtsein
fällt. 6

und ergänzend hierzu:

Jedoch hat das Wollen viele Grade, vom leisesten Wunsche bis zur
Leidenschaft, und daß nicht nur alle Affekte, sondern auch alle die
Bewegungen unseres Inneren, welche man dem weiten Begriff Ge-
fühl subsumiert, Zustände des Willens sind, habe ich öfter aus-
einandergesetzt. 7

88
Schopenhauers Ethik im Licht der gegenwärtigen Ethikdiskussion

Spätestens hier wird deutlich, daß Schopenhauer in der eindrucksvollen


Tradition der von Rene Descartes in seiner zuerst 1649 erschienenen
Schrift Les passions de l'dme - Die Leidenschaften der Seele vertretenen
Af{ektenlehre steht; die "eigentlichen Denker des Rationalismus, wie
Descartes, Spinoza, Leibniz und selbst noch Hume "begründeten" ihre
Ethik durchweg auf eine Einsicht in die menschlichen Emotionen oder
Affekte, wie man sie damals meist nannte"8. Der Descartes-Forscher
Klaus Hammacher statuiert mit vollem Recht, daß der cartesianische
Ansatz für eine solche Begründung der Ethik insofern von größter
Wichtigkeit ist, als Descartes eine "wissenschaftliche Beschreibung des
menschlichen Körpers gibt und das Zusammenwirken von dessen Funk-
tionen und denen des Geistes betrachtet"9, was von eminenter Bedeu-
tung auch für ein Verständnis von Schopenhauers Philosophie ist, der
allerdings diesen cartesianischen Dualismus durch seinen Rückgriff auf
den Satz vom Grunde in sehr eigentümlicher Weise überwindet, wenn
auch nicht gänzlich aufhebt - eine solche gänzliche Aufhebung würde ja
das fruchtbare Spannungsverhältnis zwischen Geist und Willen,
seelischen und körperlichen Vorgängen als Fundament der Moralität
eliminieren. Es sei mir unter Berufung auf Hammacher lO der Hinweis
erlaubt, daß nur von hier aus ein angemessener Zugang zur ethischen
Problematik möglich wird, der in unserer von der Wissenschaftlichkeit
geprägten Gegenwart weitgehend verstellt ist. "Die philosophische Frage
nach der Ethik", so Hammacher, "im Gefolge der kantischen Ethik des
kategorischen Imperativs glaubte nämlich die wissenschaftliche Er-
forschung der menschlichen Natur überhaupt nicht mehr berücksichti-
gen zu müssen ... Die Beurteilung 'ethischen Verhaltens richtete sich
hierbei nach den logischen Begründungsformen, die sich für eiIie Ent-
scheidung im Handeln finden ließen"ll.
Die hier getroffene Feststellung geht jedoch m. E. über die
Rezeption der Kantischen Ethik weit hinaus, sie gilt vor allem für die
Entwicklung der philosophischen Ethik in den letzten Jahrzehnten, so-
wohl im angelsächsischen als auch im deutschsprachigen Raum, wie sie
sich unter Berufung auf solche logischen Begründungsformen durch-
gesetzt hat - ein Zustand, den wir im folgenden kritisch unter Rückgriff
auf die philosophische Tradition und hier besonders auf die Ethik Scho-
penhauers hinsichtlich seiner Legitimität untersuchen wollen. Diese
Vorgehensweise ist allein schon deshalb ebenso reizvoll wie berechtigt,
weil Schopenhauer in seiner Begründung von Ethik genau den um-
gekehrten Weg geht wie die Mehrzahl der zeitgenössischen Philosophen.
Besonders deutlich wird dies in seiner 1841 erschienenen akademischen
Preisschrift Über die Grundlage der Moral, in der Schopenhauer die zur
Begründung von Sittlichkeit führende Methode folgendermaßen fest-
macht:

89
Günther Baum

Daher bleibt zur Auffindung des Fundaments der Ethik kein an.
derer Weg als der empirische, nämlich zu untersuchen, ob es
überhaupt Handlungen gibt, denen wir ächten moralischen Werth
zuerkennen müssen - welches die Handlungen freiwilliger Gerech.
tigkeit, reiner Menschenliebe und wirklichen Edelmutes seyn
werden. 12
Und weiter:
Die Abwesenheit aller egoistischen Motivation ist also das Krite·
rium einer Handlung von moralischem Wert 13 ,

denn
die moralische Bedeutsamkeit (kann) nur liegen in ihrer Bezie-
hung auf Andere: nur in Hinsicht auf diese kann sie moralischen
Wert oder Verwerflichkeit haben und demnach eine Handlung der
Gerechtigkeit oder Menschenliebe .,. seyn.14

Ebenso wie es in der Affektenlehre üblich war, leitet Schopenhauer die


Moralität aus der Tugend ab, d. h. erweist ihr letztes Fundament in der
menschlichen Natur selbst in der Form des Mitleids nach. "Dieses Mit·
leid selbst", so sagt er in seiner Preisschrift,

... ist eine unleugbare Tatsache des menschlichen Bewußtseyns,


ist diesem wesentlich eigen, beruht nicht auf Voraussetzungen,
Begriffen, Religionen, Dogmen, Mythen, Erziehung und Bildung;
sondern ist ursprünglich und unmittelbar, liegt in der menschli·
chen Natur selbst ... hingegen nennt man Den, dem es zu mangeln
scheint, einen Unmenschen; wie auch "Menschlichkeit" oft als
Synonym von Mitleid gebraucht wird. 15
Und weiter:

Diese ganz unmittelbare, ja instinktartige Teilnahme am fremden


Leiden, also das Mitleid, ist die alleinige Quelle solcher Handlun·
gen, wenn sie moralischen Werth haben, d. h. von allen ego-
istischen Motiven rein seyn ... sollen. 16

Im Gegensatz zu Mandeville 17 statuierte Schopenhauer, daß allein aus


dem Mitleid die sozialen Tugenden entspringen, beispielsweise Großmut,
Milde, Humanität. Und schließlich wird der große Unterschied im Ver-
halten der Menschen von Schopenhauer dadurch erklärt, daß der Unter-

90
Schopenhauers Ethik im Licht der gegenwärtigen Ethikdiskussion

schied der Charaktere angeboren und unvertilgbar ist. Er weist in die-


sem Zusammenhang auf Kants Gegenüberstellung von empirischem und
intelligiblem Charakter hin 18 , letzterer als von Raum und Zeit, Vielheit
und Veränderung unabhängig, liegt ersterem zugrunde. Daraus folgt
auch, daß der egoistische und boshafte Charakter nicht besserungsfahig
ist, wohl·aber die Güte des Charakters durch Vermehrung der Einsicht,
durch Belehrung über die Verhältnisse des Lebens zu einer voll-
kommeneren Äußerung ihres Wesens gebracht werden kann. 19 Schließ-
lich ist das Gewissen ein Resurne unserer Handlungen, durch das ein
Abwägen unserer Verhaltensweisen erfolgt, worin wir dem Mitleid
gefolgt sind oder ihm kein Gehör gegeben haben, weil Egoismus oder gar
Bosheit uns leitete:

Beide Fälle zeigen die Größe des Unterschieds an, den wir zwi-
schen uns und Anderen machen. Auf diesem Unterschiede beru-
hen zuletzt die Grade der Moralität oder Immoralität, d. h. der
Gerechtigkeit und Menschenliebe, wie auch ihres Gegentheils. 2o

11

Stellt man die Haupttendenzen der gegenwärtigen Ethik derjenigen


Schopenhauers gegenüber, so fällt vor allem ein überwiegendes Bestre-
ben ihrer Protagonisten auf, Ethik rational zu begründen21 und sich
unter Zuhilfenahme der analytischen Philosophie einer wissenschafts-
theoretisch geprägten Handlungstheorie zuzuwenden, die sich vor allem
einer Untersuchung der Sprache als der logischen Grundlage mora-
lischer Urteile bedient. Folgerichtig wird so die Ethik als analytische
Handlungstheorie definiert, die entweder nach der formalen Logik
entwickelt wird oder als argumentative Lehre vom Diskurs auf Konsens
zielt und so in den Bereich der Intersubjektiuität hineinführt.
Nun ist es an dieser Stelle unzweckmäßig, sämtliche Ethik-
theorien der Gegenwart zu behandeln, weshalb daher nur diejenigen
herausgegriffen werden sollen, welche zum gegenwärtigen Zeitpunkt in
der wissenschaftlichen Diskussion dominieren. Eingehen möchte ich
zunächst auf die Ethik der konstruktiven Kulturbildung von Oswald
Schwemmer22 . Für ihn liegt die vorrangige Aufgabe der Ethik als
Kulturwissenschaft darin, menschliche Handlungen sowie ihre Motive
und Ziele zu rationalisieren, ihre logischen Strukturen zu rekonstru-
ieren, objektiv~ Sachverhalte analytisch zu beschreiben, um zu einer Be-
urteilung von deren kultureller Bedeutsamkeit zu gelangen23. Aus-
gangspunkt von Schwemmers Ethik ist daher die Frage: Wie ist prak-
tisches Handeln rational zu begründen, um wahre Regeln sowohl für
gegenwärtiges wie auch zukünftiges Vorgehen zu gewinnen?24 Sinn-

91
Günther Baum

kriterium von Handlungen ist deren Argumentationszugänglichkeit. Um


praktisch relevante Sachverhalte .lös.en zu könn~n, mü~sen wir argu.
mentieren 25 . Nach dem VernunftpnnzIp werden dIe normlerbaren Zwek.
ke rekonstruiert, nach dem Moralprinzip werden sie als Normen ausge-
wiesen und legitimiert.
Vom Faktum der empirischen Handlung ausgehend, können wir
mit Hilfe der rationalen Erklärung zu den Gründen des Handeins, den
Zwecken und Maximen der Handelnden vorstoßen. Die Kultur.
wissenschaften haben nach Schwemm er Argumentationsstrukturen für
die Wahrheit von Handlungs- und Deutungsaussagen aufzubauen, die
uns Gestaltungsmöglichkeiten in der Welt eröffnen. Ausschlaggebend ist
hierbei stets die Argumentationszugänglichkeit des Handeins im Sinne
einer intersubjektiv nachvollziehbaren Begründung im Hinblick auf eine
soziale Handlungsgemeinschaft26 •
Noch weiter geht vom Ansatz her die Schwemmers Philosophie
teilverwandte Transzendentalpragmatik KarlOtto Apels. Sie stellt den
umfassenden Versuch dar, die kritisch-idealistische Philosophie seit
Kant ebenso wie die neopositivistischen und hermeneutischen Ansätze
im Gefolge einer Philosophie der Sprache so weiterzuentwickeln, daß die
auf Konsens abzielenden sprachlichen Sinngehalte als letztbegründend
erwiesen werden sollen 27 .
Tragendes Fundament für die hieraus abzuleitenden Konse·
quenzen sowohl in theoretischer wie in praktischer Hinsicht bildet die
Kommunikationsgemeinschaft der vernünftigen Subjekte, deren Gesetz·
lichkeit Apel in völlig verfehlter und willkürlicher Weise als eine "tran·
szendentale" bezeichnet. Transzendentale Pragmatik im Sinne Apels
bedeutet also den Aufweis der Bedingungen der Möglichkeit der Argu·
mentation in Diskussionen in der vorgegebenen Form der Sprache. Apel
beruft sich hierbei gleichzeitig auf Kant und auf Charles Sanders Peirce,
also auf zwei philosophische Positionen, die sich grundsätzlich aus·
schließen28 • Angeblich hat Kant - so Apel - in einer Rückbeziehung auf
ein Bewußtsein überhaupt bereits die intersubjektive Geltung der
Erkenntnis intendiert - eine Behauptung, die ich entschieden bestreite·,
während Peirce den Vorgriff auf eine Konsensbildung in einer ange·
strebten Kommunikationsgemeinschaft lediglich als Postulat zur Er·
~öglichung von Argumentation im jeweiligen Diskurs betrachtet. Diese
Ubertragung des Pragmatismus von Peirce auf vermeintliche tran·
szendentale Erörterung durch Apel ist jedoch ein reiner Paralogismus,
und wie man leicht bemerken konnte, war der zuvor ins Feld geführte
Rekurs auf ein Bewußtsein überhaupt nichts anderes als ein Zirkels·
chluß. Jedenfalls ergeben sich aus der Apelschen transzendentalen
Interpretation einer Kommunikationsgemeinschaft aus seiner. Sicht be-
stimmte Schlußfolgerungen für die Ethik. Als normativ verbindlich
kann nur gedacht werden, was dem möglichen Konsens einer unbe-

92
Schopenhauers Ethik im Licht der gegenwärtigen Ethikdiskussion

grenzten Kommunikationsgemeinschaft genügen würde. "Der substan-


zielle Inhalt des Vernunftprinzips (. .. )", so Apel wörtlich, "liegt in der
nichthintergehbaren Verpflichtung aller, die argumentieren, auf die
Idee der diskursiven Einlösbarkeit aller argumentativen Geltungsan-
spruche nach Maßgabe der intersubjektiven Universalisierbarkeit der
durch sie vertretenen Interessen"29. Die intersubjektive Geltung ethi-
scher Normen ist für Apel darin notwendig begründet, daß jeder, der ein
argumentatives Prinzip der idealen Sprechsituation in Frage stellt, sich
selbst widerspricht, da schon seine Infragestellung dieses Prinzip vor-
aussetzt 30 . Damit entlarvt sich aber das ganze Gedankengebäude - wenn
es der Ethik eine Heimstätte bieten soll - als auf Sand gebaut, da es auf
einem reinen Formalismus gründet, der nie und nimmer zum Motiv mo-
ralischer Handlungen werden kann.
Es erscheint nun abschließend geboten, sich mit einer weiteren
Strömung in der zeitgenössischen Ethik auseinanderzusetzen, die ge-
rade in den letzten Jahren zunehmende Bedeutung erlangt hat, nämlich
die sogenannte Metaethik, die auch teilweise als analytische Ethik be-
zeichnet wird31 .
Sie ist eine Forschungsrichtung innerhalb der philosophischen
Ethik, die sich mit logischen, semantischen, pragmatischen bzw. lingui-
stischen Analysen der moralischen Sprache befaßt. Als ihr eigentlicher
Begründer darf der englische Philosoph George Edward Moore gelten,
sein wissenschaftliches Hauptwerk, die Principia ethica erschien 1903.
Moore ist der Begründer des sogenannten Intuitionismus in der Ethik.
Leitend bei diesem Erklärungsversuch der ethischen Phänomene ist die
Frage nach dem Begriff "gut", wobei es sich um einen einfachen, intuitiv
erfaßbaren Wesensgehalt handelt32 . Wenn ich aber sage "das Gute",
dann ist dies nach Moore bereits ein komplexer Begriff, weil ihm das
Merkmal einer Eigenschaft anhaftet. Nun hatte sich vor allem im 19.
Jahrhundert teilweise die Anschauung eingebürgert, man könne "dem
Guten" noch empirisch zu verifizierende Prädikate zuerkennen, z. B.
lustvoll oder nützlich, um sich eine empirische Anschauung davon zu
verschaffen oder gar es auf Empirie zu begründen. Moore nennt diese
These den naturalistischen Fehlschluß, naturalistisch deshalb, weil der
Begriff, durch den "gut" hierbei definiert wird, immer empirisch-de-
skriptiv ist33. Die dem zugrundeliegende Problematik hat bereits David
Hume zum Ausdruck gebracht, indem er darauf insistiert, daß es logisch
unmöglich ist, aus deskriptiven, indikativischen Aussagen (Tatsachen-
sätzen) normative, imperativische Folgerungen (Sollenssätze) zu zie-
hen34 . Um diesem Dilemma zu entgehen, faßt Moore das Gute als unmit-
telbar angeschaut, d. h. selbstevident auf35 .
Dementsprechend werden die Moralprinzipien intuitiverfaßt
und zugleich als selbstbegründend deklariert. Damit hebt sich aber der
wissenschaftstheoretische Ansatz selbst auf; wir gelangen - wie bet·eits

93
Günther Baum

bei der vorausgegangenen Erörterung der kommunikations ethischen


Moralphilosophie - zu einem reinen Zirkelschluß , denn dadurch, daß nun
objektive Wahrheit und subjektives Fürwahrhalten ineinanderfallen
wird vorausgesetzt, was erst noch logisch bewiesen werden sollte. '
Aus dem aufgezeigten Zirkel versucht einer der bekanntesten
Moralphilosophen der Gegenwart, Richard Hare (geb. 1919), durch seine
Theorie des universellen Präskriptivismus herauszukommen. Nach
Hare 36 um faßt die Bedeutung von "gut" in der moralischen und außer-
moralischen Verwendung des Wortes zwei Bedeutungskomponenten,
eine deskriptive und eine präskriptive. Die deskriptive Komponente ist
variabel und betrifft die beschreibbaren Eigenschaften der diversen
Gegenstände, die präskriptive dagegen ist konstant, sie hat immer
Empfehlungscharakter und bezieht sich auf ein Wählen. Wollen wir
Kriterien benennen, aufgrund deren wir etwas als gut empfehlen, so
müssen wir uns auf die deskriptiven Eigenschaften der Dinge beziehen.
Im Hinblick auf Moralität heißt das, daß wir von Personen sprechen, um
zu einer Bewertung ihrer Handlungen zu gelangen. In der moralischen
Verwendung von "gut" geht es also darum, im Hinblick auf den
Menschen Eigenschaften anzugeben, um derentwillen wir einen Men-
schen gut nennen. Mit dem Maßstab, den wir dabei wählen, kommt der
Gesichtspunkt der Universalisierung ins Spiel.

Es gibt im Grunde nur zwei Regeln für das moralische Begründen;


sie entsprechen den beiden Merkmalen moralischer Urteile I...]
nämlich Präskriptivität und Universalisierbarkeit. Wenn wir uns
in einem konkreten Fall in der Frage, was wir tun sollten, zu ent-
scheiden versuchen, dann halten wir dabei [... ] nach einer Hand-
lung Ausschau, auf die wir uns selbst festlegen können (Prä-
skriptivität), von der wir aber auch zugleich bereit sind, sie als
Beispiel für einen Handlungsgrundsatz zu akzeptieren, der auch
für andere in ähnlichen Umständen als Vorschrift zu gelten hat
(Universalisierbarkeit). 37

Wenn wir nun wissen wollen, nach welchen Kriterien wir einen
Menschen bzw. seine Handlungen als gut bezeichnen sollen, so müssen
wir nach den moralischen Grundsätzen als der Basis der gesamten mo·
ralischen Präskriptivität fragen, denn moralische Urteile setzen solche
Grundsätze voraus. Hare entscheidet sich hierbei für den Dezisionismus:
moralische Prinzipien sind subjektive Festsetzungen, die wir wählen.
Allerdings müssen wir hierbei danach trachten, nach Grund·
sätzen zu handeln, deren Konsequenz wir auch akzeptieren können, d.
h. nach Prinzipien, die nicht aus der Empirie gewonnen sind. Zur
Begründung solcher Prinzipien verweist Hare auf den Tatbestand der
subjektiven Anerkennung, d. h. der moralischen Entscheidung, für die

94
Schopenhauers Ethik im Licht der gegenwärtigen Ethikdiskussion

ich Verantwortung übernehme 38 . Damit verliert jedoch die Universali-


sierbarkeit ihre moralische Relevanz. Da ein kontrollierbarer morali-
scher Diskurs unter diesen Voraussetzungen nicht mehr möglich ist
steht er überhaupt zur Disposition. Dieser Konsequenz wird ma~
letztlich nur durch den Aufweis entgehen, daß der Mensch wesentlich
moralisches Subjekt ist, was ohne metaphysische Implikationen nicht
begründbar ist39 .

111
Wir wollen nun herabsteigen von unserem Ausflug in die dünne Höhen-
luft der Abstraktion und auf den Boden der realen Gefühle und
Handlungen zurückkehren, wo wir uns ohne Bedenken der Anleitung
Schopenhauers anvertrauen können. Nicht im Bereich der Begriffe, son-
dern in der emotional-affektiven Schicht der handelnden Person sollen
wir gemäß seiner Einsicht das Fundament der Moral aufsuchen. Dies
fällt nicht leicht - keineswegs weil die intellektuellen Anforderungen so
hoch angesetzt sind, sondern weil jeder sich prüfen muß, ob er nicht -
wenn auch nur insgeheim - von eigennützigen Triebregungen beherrscht
wird. Selbsterkenntnis soll sich also nicht nur auf die eigene Biographie,
sondern auch auf den individuellen Charakter beziehen4o .
Sie setzt nach Schopenhauer eine einmalige freie Willensent-
scheidung voraus, die rational nicht erklärbar und auch zeitlich nicht
festzumachen ist41 . Hat sie jedoch stattgefunden, gibt es durchaus
Möglichkeiten, Sittlichkeit nicht nur zu beschreiben, sondern auch im
Inneren zu entwickeln. So gesehen ist es nicht richtig, von der Annahme
auszugehen, Moralität sei einfach in ihrer Ausprägung bereits in einem
guten Charakter vollständig ausgebildet: Sie bedarf vielmehr der Heran-
bildung, dies jedoch nicht durch Begriffe und Regeln, sondern durch die
Heranführung an konkrete Handlungskonstellationen, in denen sich die
emotional-affektiven Kräfte entfalten und bewähren können42 . Diese
grundlegende Voraussetzung der Affektenlehre ist keineswegs von Scho-
penhauer in die Philosophie eingeführt worden, sondern sie ist gut
sokratisch, doch bedarf sie immer der Weiterentwicklung in Ansehung
der in der jeweils eigenen Epoche gegebenen geistigen und materiellen
Bedingungen.
So geht Schopenhauer nicht nur auf Kant zurück, sondern
bringt, gewissermaßen wie eine reiche Ernte, die Tradition der Ethik
wieder in die Philosophie ein, abgewandelt jedoch durch die transzen-
dentalphilosophische Auslegung des Satzes vom Grunde, die aus einer
intensiven Auseinandersetzung auch mit der nachkantianischen Philo-
sophie entstanden ist.

95
Günther Baum

Im praktischen Leben benötigen wir jedoch diese theoretische


Voraussetzung nicht; um zur Sittlichkeit zu gelangen, bedarf es der Ent-
wicklung der im Charakter angelegten moralischen Affekte 43 • Bildung
und Erziehung in der Tradition Rousseaus sind in der Ethik Schopen-
hauers die notwendige Konsequenz aus der Moralität fundierenden
Charakterologie.
Diese durch einen jahrzehntelangen Irrweg verschüttete
Tradition wieder freigelegt zu haben, ist die große Leistung Schopen.
hauers auf dem Gebiet der Ethik, die fortwirkt in unsere Zeit, weil ohne
Ethik keine Kultur möglich ist 44 .
Im Rückgriff auf die Tradition liegt also gleichzeitig auch die
Aktualität Schopenhauers, denn unsere Gegenwart bedarf dringend der
Rückbesinnung auf die Bedingungen des sittlichen HandeIns. Die zeitge-
nössische Ethikdiskussion, wie ich sie darzustellen suchte, wirkt da eher
kontraproduktiv: Man kann sich nicht vorstellen, wie sie etwa in der Er·
ziehung positive Auswirkungen haben sollte. Ich stimme hier vorbehalt-
los dem englischen Philosophen Bernard Williams zu, der in seinem
1985 erschienenen Buch Ethics and the limits of philosophy konstatiert,
daß die Reflexivität, die zur Zeit Sokrates' noch ein Spezifikum der
Philosophie war, in der Gegenwart allgemein und in der Ethik beson-
ders zu einer Gefahr geworden ist, vor der die Praxis schon wieder ge-
schützt werden muß45. Ist es also nicht in der Tat aktuell, wenn Scho-
penhauer die Triebfeder der moralischen Handlungen als eine solche
kennzeichnet, welche durch ihren Ernst und durch ihre unzweifelhafte
Realität gar weit absteht von allen den Spitzfindigkeiten, Klügeleien,
Sophismen, aus der Luft gegriffenen Behauptungen und apriorischen
Seifenblasen, welche die bisherigen Systeme zur Quelle des moralischen
HandeIns und zur Grundlage der Ethik haben machen wollen 46 ?
Schopenhauer insistiert, m. E. zu Recht, darauf, daß die von ihm
aufgestellte Grundlage der Moral47

die einzige ist, der sich eine reale ... Wirksamkeit nachrühmen
läßt. Denn von den übrigen Moralprinzipien der Philosophen wird
dies wohl Niemand behaupten wollen; da diese aus abstrakten ...
spitzfindigen Sätzen bestehen, ohne anderes Fundament als eine
künstliche Begriffskombination, 48
denn nur die Wahrheit kann durchgängig mit sich und mit der
Natur übereinstimme:.l; hingegen streiten alle falschen Grundan-
sichten innerlich mit sich selbst und nach außen mit der Erfah-
rung, welche bei jedem Schritt ihren stillen Protest einlegt.49

96
Schopenhauers Ethik im Licht der gegenwärtigen Ethikdiskussion

Anmerkungen

1. Vgl. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, FrankfurtJM. 1979. Im Gegen-


satz zu Jonas fassen wir Ethik im folgenden im überkommenen Sinn als durch
Intersubjektivität bedingte Wissens- resp. Handlungsdisziplin auf.
2. Vgl. Max Horkheimer, Zum Begriff des Menschen heute, in: Wesen und
Wirklichkeit des Menschen. Festschrift für Helmuth Plessner, hrsg. von Klaus
Ziegler, Göttingen 1957, 261-280.
3. Vgl. Verf., Arthur Schopenhauers Kritik der Kantischen Philosophie, Schopen-
hauer-Jahrbuch 69 (1988), 393 ff.
4. G, 143.
5. G, 145.
6. G, 146.
7. G, 143.
8. So Klaus Hammacher auf S. XVI in der Einleitung seiner 1984 erschienenen
Übersetzung und zweisprachigen Neuausgabe von Descartes' Schrift in der
"Philosophischen Bibliothek".
9. Ebda.
10. Ebda., XVII.
11. Ebda., XVII f.
12. E, 195.
13. E, 204.
14. E, 206.
15. E, 213.
16. E, 227.
17. Bernard de Mandeville hatte in seinem zuerst 1714 erschienenen Buch Die
Bienenfabel Selbstwertgefühl und Selbsterhaltungsstreben zu Triebfedern des
HandeIns erklärt.
18. E, 174 ff.
19. E, 254 f.
20. E, 257.
21. Paul Lorenzen gibt eine Definition von Ethik, "die so ist, daß ihre Probleme
wissenschaftlich im Sinne der Definition des ersten Teils [sc. von Mathematik
und Physik] behandelbar sind." Vgl. Paul Lorenzen, Politische Anthropo~~gie, in:
Oswald S.chwemmer (Hrsg.), Vernunft, Handlung und Erfahrung. Uber die
Grundlagen und Ziele der Wissenschaften, München 1981, 104.
22. Aus Raumgründen ist es unmöglich, detaillierter auf die Positionen der hier
behandelten Philosophen einzugehen. Ich halte mich an die sehr gute Zusam-
menfassung, speziell auch von Schwemmers Ethik und Kulturphilosophie, von
Peter Müller in: Annemarie Pieper (Hrsg.), Geschichte der neueren Ethik, Bd. 2.
TübingenIBasel 1992, 235 ff.
23. Schwemmer will durch den Aufweis eines handlungstheoretischen Begriffs-
gerüsts die Prämissen und Prinzipien einer handlungstheoretischen Darstellung
der Kulturwissenschaften verdeutlichen. Vgl. Oswald Schwemmer, Handlung
und Struktur, FrankfurtJM. 1987, 191 ff.
24. Schwemmers Frage lautet: "Wie können wir rationales Handeln vor irratio-
nalem Verhalten auszeichnen, wie mehr oder weniger Rationalität einem be-

97
Günther Baum

stimmten Handeln zusprechen?" Oswald Schwemmer, Ethische Untersuchungen


FrankfU~. 1986, 103. '
25. Grundlegend für die Argumentationszugängl~~hkeit ist Schwemmers Unter.
scheidung zwischen persönlichen moralischen Uberzeugungen, gemeinsamen
Werten und allgemeinen Normen. Vgl. a. a. 0., 88 ff.
26. Es mag hier dahingestellt bleiben, wie weit die von Schwemmer nach dem
Vorbild Husserls als konstitutiv herausgestellte "Lebenswelt als der Umwelt un.
seres Handeins", d. h. aber auch ihre prägenden Sinnordnungen, mit der sozia.
len Handlungsgemeinschaft identisch ist. Schwemmers Bezugnahme auf die
Systemtheorie, z. B. das Gespräch als Beispiel fur ein soziales System, legt diese
Vermutung nahe. Vgl. Oswald Schwemm er, Handlung und Struktur, a. a.O.,
278f.
27. "Praktisch bedeutet das in der Gegenwart, daß Transzendentalphilosophie
als Transzendentalpragmatik der Sprache bzw. der Kommunikation mit einer
über Kant hinaus radikalisierten Reflexion auf die nichthintergehbaren
Bedingungen der Möglichkeit der diskursiven Argumentation zu beginnen hat."
Karl-Otto Apel, Sprechakttheorie und transzendentale Sprach pragmatik zur
Frage ethischer Normen, in: Karl-Otto Apel (Hrsg.), Sprachpragmatik und
Philosophie, Frankfu~. 1976, 16. Ich verweise auch hier auf Peter Müllers
Zusammenfassung bei Annemarie Pieper (Hrsg.), Geschichte der neueren Ethik,
Bd. 2. Tübingen/BaseI1992, 241 ff.
28. Vgl. dazu Apel, a. a. 0., 23 f. Er versucht dort "eine apriori notwendige
Beziehung zwischen dem höchsten Punkt der Kantschen Erkenntnistheorie,
dem schon erwähnten Postulat einer transzendentalen Synthesis der Apper·
zeption und der von Kant nicht berücksichtigten Sprach- und Kommunikations·
Venmttlung intersubjektiv gültiger Erkenntnis aufzufinden." Apel bringt zum
Ausdruck, seiner Ansicht nach habe Peirce in seiner semiotischen Transforma·
tion der transzendentalen Logik Kants die Auflösung dieses Problems "angedeu·
tet".
29. Ebda., 126.
30. Ebda., 122: "Am Anfang der Ethik kann nicht die Berufung auf ein noch so
universales Faktum stehen, sondern nur der - in reflexiver Argumentation - zu
erbringende Nachweis, daß jeder mögliche Diskussionspartner ... die universal·
pragmatischen Normen der Ethik notwendigerweise (nämlich als Bedingungen
der Möglichkeit seines sinnvollen Argumentierens) schon anerkannt hat."
31. Vgl. Amo Anzenbacher, Einführung in die Ethik, Düsseldorf 1992,26511'.;
Monika Hofmann-Riedinger, Metaethik, in: Annemarie Pieper (Hrsg.), Ge·
schichte der neueren Ethik, Bd. 2. Tübingen/Basel 1992, 63 ff.
32. George Edward Moore, Principia ethica, Cambridge 1903, 7 ff.
33. Ebda., 19.
34. David Hume, A treatise of human nature. in: The philosophical works of
David Hume, ed. by T. H. Green and T. H. Grose, vol. 11, Edinburgh 1874,245.
Deutsche Übersetzung von Theodor Lipps: David Hume, Ein Traktat über die
menschliche Natur, Hamburg 1973, 211.
35. George Edward Moore, Principia ethica, a. a. 0., 205.
36. Zu Richard Hare gibt es seit Anfang 1995 einen Sammelband in zwei Teilen
unter dem Titel Zum moralischen Denken mit einer Einführung von Hare selbst
über den "universellen Präskriptivismus" und Beiträgen von 26 Moralphilo·

98
Schopenhauers Ethik im Licht der gegenwärtigen Ethikdiskussion

sophen aus Großbritannien, den Vereinigen Staaten und dem deutschsprachigen


Raum sowie mit Repliken Hares auf seine Kritiker. Eine Auseinandersetzung
mit dieser sehr instruktiven Publikation würde jedoch den Rahmen dieser
Abhandlung sprengen. Ich folge vielmehr der didaktischen Aufbereitung der
komplizierten Materie durch Anzenbacher, a. a. 0., 283 ff.
37. Richard Hare, Freedom and reason, Oxford 1963, 89 (dt. Freiheit und Ver-
nunft, übers. von Georg Meggle, Düsseldorf 1973, 108 f.)
38. Vgl. Freiheit und Vernunft, Düsseldorf 1973, 242: "Es ist nicht nur notwen-
dig, daß dieser Grundsatz vorgebracht wird, sondern daß sich der, der ihn vor-
bringt, tatsächlich hinter ihn stellt. Es genügt nicht, nur eine Maxime zu zitie-
ren, man muß (um mit Kant zu reden) auch wollen, daß sie ein universelles
Gesetz wird." Vgl. Richard Hare, Freedom and reason, Oxford 1963,219.
39. Diese von Anzenbacher (a. a. 0., 288) vorgebrachte Kritik müßte um einen
Hinweis auf Kant und Schopenhauer ergänzt werden. Es ist ein Versäumnis,
daß Hare das metaphysische Substrat von Kants Ethik überhaupt nicht berück-
sichtigt. Hinsichtlich Schopenhauers war zwar die Begründung seiner Ethik in
der Willensmetaphysik nicht unser Thema, jedoch muß zumindest an dieser
Stelle darauf hingewiesen werden. Vgl. hierzu das grundlegende Werk von
Rudolf Malter, Arthur Schopenhauer. Transzendentalphilosophie und Metaphy-
sik des Willens, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, 335 ff.
40. Eben diesen Sachverhalt macht neuerdings Ernst-Joachim Lampe mit
vollem Recht und mit ausdrücklicher Bezugnahme auf Schopenhauers Ethik ge-
gen Hare geltend. Die Behauptung, der Vorwurf einer schlechten Tat treffe nicht
so tief wie der eines schlechten Charakters, hatte schon Georg Simmel, an Scho-
penhauer anknüpfend, aufgestellt. Vgl. Ernst-Joachim Lampe, Was Sollenssätze
ausdrücken sollten, in: Christoph Fehige und Georg Meggle (Hrsg.), Zum mora-
lischen Denken, Bd. 1, FrankfurtJM. 1995, 92.
41. E, 176 ff.
42. Nicht von ungefahr zitiert Schopenhauer in diesem Zusammenhang in seiner
Preisschrift über die Grundlage der Moral ausführlich Rousseau, den - wie er ihn
nennt - "tiefen Kenner des menschlichen Herzens, der seine Weisheit nicht aus
Büchern, sondern aus dem Leben schöpfte, und seine Lehre nicht für das Kathe-
der, sondern fur die Menschheit bestimmte ... " E, 246 ff. Nicht zuletzt hat Alexis
Philonenko mit seinem monumentalen Werk Jean-Jacques Rousseau et la pensee
du malheur, 3 Bde., Paris 1984, Maßstäbe für die philosophische Rousseau--
Rezeption gesetzt. Vgl. dazu Reinhard Lauth, Rousseaus leitender Gedanke, in:
R. Lauth, Transzendentale Entwicklungslinien von Descartes bis zu Man und
Dostojewski, Hamburg 1989,45-72.
43. E, 255 f.
44. Friedrich Nietzsehe spricht in bezug auf Schopenhauer von dem "Grund-
gedanken der Kultur, insofern diese jedem Einzelnen von uns nur Eine Aufgabe
zu stellen weiß: die Erzeugung des Philosophen, des Künstlers und des Heiligen
in uns zu fördern und dadurch an der Vollendung der Natur zu arbeiten."
Friedrich Nietzsehe, Unzeitgemäße Betrachtungen, III: Schopenhauer als
Erzieher, in: Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Giorgio Colli
und Mazzino Montinari, III, Bd. 1, Berlin 1972, 378.
45. Bernard Willian.s, Ethics and the limits of philosophy, Cambridge, Mass.
71994, 199 f.

99
Günther Baum

46. E, 205.
47. Schopenhauer bezeichnet die Auffindung der Grundlage der Moral im Mit.
leid als das große Mysterium der Ethik. Vgl. E, 209.
48. E, 233.
49. E, 258; vgl. 239: ,,[ ... 1 und die Natur legte, wie bei allen solchen Gelegen.
heiten, still ihren Protest ein."

100
Die Schopenhauersche Wende der Philosophie
Einführung in die Philosophie als sanfte Wissenschaft!

von Yasou Kamata

Die Philosophie der Neuzeit versuchte sich selbst, nach dem Vorbild der
erfolgreichen Naturwissenschaft, als strenge oder exakte Wissenschaft
darzustellen. Dies vor allem seit der von Kant eingeleiteten Wende des
philosophischen Denkens, die Kant selbst "kopernikanische Wende der
Philosophie" nannte. 2 Die Leitfrage meines Beitrags ist dagegen, ob
nicht vielleicht nach dem Vorbild der Schopenhauerschen Philosophie
doch so etwas wie eine Philosophie als sanfte Wissenschaft denkbar
wäre. Ich behandle dieses Thema in zwei Teilen: 1. Von der Idee der
Philosophie als exakte Wissenschaft nach dem Vorbild Kants, 2. Die
Philosophie als sanfte Wissenschaft nach dem Vorbild Schopenhauers
mit einigen Anwendungsbeispielen des sanften Denkens auf die Frage
nach dem Verhältnis von Freiheit und Gesellschaft und auf die Buddhis-
mus-Interpretation im Horizont der komparativen Philosophie.

1. Von der Idee einer exakten Wissenschaft

Im Jahre 1945 fand im Cecilienhof die "Potsdamer Konferenz" statt. Das


am 2. August veröffentlichte Potsdamer Abkommen bestimmte die
Besatzungspolitik der Alliierten in Bezug auf Deutschland. Gleichzeitig
stellte die Konferenz am 26. Juli ein Ultimatum zur bedingungslosen
Kapitulation an Japan und formulierte vorweg die politischen Richt-
linien der bevorstehenden Besetzung Japans. Nach Abwurf zweier
Atombomben in Hiroshima und Nagasaki nahm Japan dieses Ultima-
tum an und kapitulierte am 15. August. So begann also in Potsdam so-
wohl für Deutschland als auch für Japan die Zeit des großen Umbruchs.
In beiden Nationen herrschten materielle Not und geistige
Verwüstung. Man suchte eine neue Orientierung. Mit der Vergangen-
heit wurde abgerechnet, ein rascher und dramatischer Wertewandel trat
ein. Seit der Vereinigung befindet sich Deutschland in einer neuen Um-
bruchszeit. In welchem Ausmaß nun der Wertewandel in Folge dieser
Vereinigung sein wird, darüber habe ich als Außenstehender leider
keinen Uberblick.
Eigentlich gehören die Krise der bisher geltenden Werte und die
Suche nach neuer Lebensorientierung zu den fundamentalen Seins-
Yasuo Kamata

weisen des Menschen als Einzel- wie Gattungswesen. Der einzelne


Mensch wird von Kindheit an in seinen verschiedenen Lebensphasen
mit der Welt konfrontiert und macht mehrfach Krisenzeiten durch. In
Wirklichkeit wird er in diesen Krisen mit sich selbst konfrontiert, inso-
fern jeder selbst sich seine Umgangsformen mit der Welt aneignen, aus-
probieren, und wenn sie versagen, korrigieren oder ersetzen muß. Mit
Schopenhauer gesprochen: Die Art und Weise, wie die Welt uns er-
scheint, hängt davon ab, wie wir sie uns vorstellen und was wir von ihr
wollen: die Welt als Wille und Vorstellung. Die kritische Auseinander-
setzung mit dieser Denk- und Verhaltensweise des neuzeitlichen Men-
schen war das Hauptthema der Schopenhauerschen Philosophie.
Ebenso ist es mit den Krisen des Menschen als Gattungswesen.
In der Geschichte der Kulturen und Nationen finden wir immer wieder
solche historischen Zäsuren, Umbruchszeiten und Neuorientierungen.
Ohne die Verarbeitung der eigenen Vergangenheit und ohne die nicht
von außen erzwungenen, sondern aus sich selbst hervorgehenden inne-
ren Erneuerungen erstickt die Gegenwart einer Kultur in Stagnation.
Die Tatsache, daß eine Neuorientierung, von der man fest
glaubt, man habe jetzt eine endgültige gefunden, doch irgendwann einer
anderen, endgültigeren Neuorientierung Platz machen muß, ist eine
schmerzhafte Banalität, die viele von uns im eigenen Leben gut kennen
- sei es in der Politik, sei es in der Liebe.
Die alten Weisen, insbesondere im Umkreis der christlichen und
buddhistischen Religion, haben Ausdrücke wie Endlichkeit oder
Vergänglichkeit des Menschen geprägt und warnten davor, sich allzu-
sehr an das Gegebene zu hängen. Dabei gingen sie oft so weit, selbst
noch den Willen zur Überwindung des Vergänglichen als einen Aus-
druck für jene Anhänglichkeit zu betrachten und so den Verzicht noch
konsequenter zu durchdenken.3 Diese Verzichthaltung wurde gleich-
zeitig mit dem Gedanken eines Seienden verbunden, welches diese ver-
gängliche Welt übersteigt. Der Blick auf dieses welttranszendente We-
sen half den Menschen, ihre Anhänglichkeit an das Weltliche zu relati-
vieren. In der letzteren Entwicklung wurde die Tendenz zur Verselb-
ständigung und Verabsolutierung dessen, dessen Anblick die Nichtigkeit
dieser Welt um so deutlicher hervortreten ließ, oft bis zum äußersten
getrieben: Gott oder Buddha als das alles umgreifende, höchste Seiende,
dem gegenüber das individuelle Leben wie ein Nichts erscheint. Zwar
stand Schopenhauer einem solchen metaphysischen Dualismus ableh-
nend gegenüber: doch das darin enthaltene Moment der Selbstrelati-
vierung erkannte er an: die Verneinung des Willens, die Schopenhauer
in den alten Religionen verwirklicht sah. 4
Gelassenheit und Abgeschiedenheit sind in der Neuzeit keine
Lebensideale mehr. An deren Stelle trat die Idee, der Mensch solle sich
selbst entscheiden, sich ein Bild davon machen, was er selbst gern sein

102
Die Schopenhauersche Wende in der Philosophie

möchte. Nur dadurch erschafft er sich selbst, indem er sich seine


Umgangsformen mit der Welt schafft. Diese neuen Umgangsformen ver-
ändern die Welt selbst, zumal sie immer effektiver durch wissenschaft-
lich-technische Mittel unterstützt werden. Der Mensch will selber der
Bildner der Welt und seiner selbst sein.
Der neuzeitliche Mensch ist nicht mehr einfach mit seinem gege-
benen Zustand einverstanden - nicht mit seiner Endlichkeit und Ver-
gänglichkeit, nicht mit seinem Ausgeliefertsein an Hunger, Krankheit
und Tod, an geistliche und weltliche Gewalten und alles, was seinem
eigenen Willen widersteht. Er ist sich nunmehr seiner Wünsche bewußt,
zu deren Erfüllung er fähig sein will, ja fähig sein muß. Diese Fähigkeit,
die sich der neuzeitliche Mensch zuspricht und zutraut, heißt Freiheit
als Autonomie. Der traditionelle Begriff der Freiheit (eleuther{a, liber-
tas), der ursprünglich soviel wie "nicht gebunden sein", "nicht Sklave
sein" bedeutete, wurde nun umgedeutet als die Fähigkeit, sich etwas
vorzustellen und zu entwerfen, was (noch) nicht vorhanden ist, um dann
diesen Entwurf in die Praxis umzusetzen und zu verwirklichen. Freiheit
ist nicht der Endzustand, sondern der Ausgangspunkt. Auch die Freiheit
steht in der Neuzeit unter Leistungszwang. Dieses neuzeitlich-aufklä-
rerische Verständnis der Freiheit gehört zu den umstrittensten
Problemen der Gegenwartsphilosophie, auch wenn man heute auf der
politisch-gesellschaftlichen und sogar auf der religiösen Ebene kaum
noch offen darüber diskutiert, nicht zuletzt aus Angst, sofort und pau-
schal als antidemokratisch oder reaktionär abgestempelt zu werden.
Der neuzeitlich freie Mensch fühlt sich nur dann frei, wenn er
fortwährend seine Freiheit betätigt oder betätigen zu können glaubt.
Diese Betriebsamkeit der Freiheit fabriziert ununterbrochen Neuent-
würfe und Neuorientierungen, deren Wahrheitsansprüche konkurrieren
und möglichst viele Menschen von sich zu überzeugen versuchen. 5
In der Industriegesellschaft der Freiheit, in der die Freiheit als
Massenware verkauft wird, sieht sich der Mensch immer mehr beunru-
higt. Was früher als wahr galt, verlor den Glanz seiner Autorität. Ver-
schiedene Versuche, eine Neuorientierung vorzuschlagen, geraten in
den Verdacht der Einseitigkeit und Willkür. Gesucht wird eine Ordnung
allgemeiner Geltung, die weder aus Willkür, Eigeninteresse oder
Machtgier erfunden wurde noch für diese Gefahren anfällig ist.
Je tiefer der Mensch sich der Relativität und Orientie-
rungslosigkeit seiner selbst und seiner Welt bewußt wird, desto strenger
und kritischer prüft er überlieferte Ordnungen und Neuentwürfe, um
frühzeitig Täuschungen zu entdecken und sich vor falschen Hoffnungen
zu hüten. Der Zweifel ist der stärkste Ausdruck des Verlangens nach der
endgültigen Wahrheit - in einer so wichtigen Angelegenheit kann es
keinen Kompromiß geben. Nur eine lupenreine, perfekte Neuorientie-
rung kann in Frage kommen. Sie darf mit keinem Selbstwiderspruch

103
Yasuo Kamata

und keiner Inkonsequenz behaftet sein. Sonst ist sie bereits im voraus
zum Scheitern verurteilt. Sie muß durch ein unbezweifelbares Prinzip
zusammengehalten werden, wie das ganze Gebäude durch eine Haupt.
säule. Nach eben diesem Prinzip wird jedes Element definiert, das ganze
Bauwerk. durchgecheckt und optimiert. Verläuft dieser Prozeß erfolg.
reich, wird es hoffentlich so bald keinen Fehler und keinen Anlaß für
Korrekturen geben.
Das war die Grundposition des neuzeitlichen Denkens, aus dem
die Idee der exakten Wissenschaft entsprang. Der Bahnbrecher in dieser
Richtung war u. a. Rene Descartes mit seiner Idee der Universal-
wissenschaft <mathesis universalis}. Sein methodischer Zweifel an allem
was nicht klar und deutlich erkannt wird, war so konsequent wie sei~
Wille, alles Seiende aus dem ersten Prinzip heraus in den Griff zu be-
kommen.
Die Idee der exakten Wissenschaft beschäftigte weitere große
Denker der Neuzeit. Zu einem entscheidenden Durchbruch gelangte sie
.dann in der von Kant eingeleiteten Wende der Philosophie. Kants
Grundthese lautet: Nicht die Erkenntnis richtet sich nach den Gegen-
ständen, sondern die Gegenstände richten sich nach der Erkenntnis. Der
Mensch nimmt die Ordnung der Dinge weder als unverfügbar hin noch
bildet er sie in einem theoretischen Wissen ab, sondern er konstruiert
die Ordnung der objektiven Welt. Der Mensch ist der Gesetzgeber der
Natur einschließlich seiner selbst. Er bestimmt, was er zu sein und zu
tun hat. Damit wurde der neuzeitliche Grundsatz der Autonomie, sei es
die des -einzelnen Menschen, sei es die des Volkes, begründet. Der
Mensch ist nun sein eigener Herr und der Herr der Kreatur. Es darf
keine Fremdherrschaft geben, die mit einer absoluten Autorität diesen
neuzeitlichen Grundsatz gefährdet. Kant lebte in der Zeit des zerfal-
lenden Absolutismus und der französischen Revolution.
Wissen ist Macht. Es wurde schnell klar, daß die Idee einer ex-
akten Wissenschaft nicht nur auf das theoretische Betrachten, sondern
auch oder primär auf die praktische Beherrschung der Dinge gerichtet
war. Alles, was in der Wissenseinheit gefaßt ist, hat man - zumindest
der begreifende Mensch in seinen Gedanken - im Griff. Er braucht dieses
theoretische Wissen nur noch praktisch umzusetzen und hat den ge-
wünschten Zustand. Wer physikalische Regeln der Körperbewegung und
der Gravitation begriffen hat, der kann eine zielsichere Kanone bauen
und damit auch die Menschen sogar gegen ihren Willen zwingen; er
kann also schließlich eine neue Realität schaffen. Freilich muß noch ge-
sagt werden, daß Kant selber einen derartigen Mißbrauch des Denkens
nicht akzeptiert hätte, da nach seiner Überzeugung das wahre, ver-
nünftig-praktische Handeln einen allgemeinen Sinn beibehält. Der obe~­
ste Grundsatz der praktischen Vernunft, als kategorischer Imperativ

104
Die Schopenhauersche Wende in der Philosophie

bekannt, heißt nämlich: "Handle so, daß die Maxime deines Willens
zugleich als Prinzip ein~r allgemeinen Gesetzgebung gelten könne."6
Nach der KantIschen Wende der Philosophie arbeiteten viele
Philosophen an der Perfektionierung der Idee der exakten Wissenschaft
weiter. Reinhold, ein bedeutender Kantianer noch zu Lebzeiten Kants,
dem der junge Schopenhauer viel von seinem Kant-Verständnis ver-
dankt, verfaßte 1790 im "Kantischen" Sinne einen Aufsatz mit dem Titel
Über die Möglichkeit der Philosophie als strenge Wissenschaft". 7
" Im Umkreis des Deutschen Idealismus wurde versucht, die letz-
ten Lücken zu schließen, z. B. den qualitativen Unterschied von Denken
und Gegenstand, d. h. die Differenz zwischen Subjekt und Objekt aufzu-
heben, oder den Geltungsbereich der Philosophie über die von Kant ge-
zogenen Grenzen der empirischen Erkenntnis und des praktischen
Handeins hinaus auf die traditionell-metaphysischen und theologischen
Themen zu erweitern. In der Hegeischen Philosophie wurden dann fast
alle menschlichen Lebensbereiche in eine große Wissenseinheit einbezo-
gen: Hegels systematisches Hauptwerk Enzyklopädie der philosophi-
schen Wissenschaften erschien 1817. Zu dieser Zeit arbeitete der junge
Schopenhauer an seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung.
Es erschien zwei Jahre später im Jahre 1819.
Je vollständiger und lückenloser eine Ordnung wird, desto ge-
ringer werden die Korrekturmöglichkeiten. Man kann dies mit einem
künstlerisch-schöpferischen Vorgang vergleichen, etwa dem Entstehen
eines Gemäldes. Der Künstler schreitet von den Skizzen zur Detailarbeit
fort, und verschiedene Studien wachsen, teils mehrfach korrigiert, teils
zurückgenommen, zu einem einzigen Kunstwerk zusammen. Die
Pinselbewegung wird zum Ende hin immer weniger, bis das Werk kei-
nen ergänzenden oder korrigierenden Strich mehr erlaubt. Dann ist das
Werk vollendet. Ein weiterer Eingriff würde die innere Einheit des
Werkes zerstören. Dieser Verdichtungsprozeß fand in der Philosophie
wie in der Gesellschaft statt. Obwohl sich das Freiheitsbewußtsein ver-
stärkte, verringerte sich der Spielraum für Denken und Handeln.
Die optimierte Ordnung beginnt nun, auf ihre Einzelelemente
eine zwingende Macht auszuüben. Alles, was in dieser Ordnung aufge-
fangen wird, muß sich nach ihr richten, sonst könnte ihr mit höchster
Präzision arbeitendes System vielleicht an einem -winzigen Staubkorn
scheitern, das auf eine empfindliche Stelle trifft. Deshalb muß sie von
allen Fremdelementen gesäubert werden, oder diese müssen in eine mit
dem System verträgliche Form umgewandelt werden.
Für Hegel, der die bisherige Geschichte in einem nach seinem
dialektischen Modell streng in sich abgestimmten System des absoluten
Geistes zusammengefügt hatte, gab es keinen Veränderungsspielraum
mehr. Die Geschichte ist zwar über Hegel hinausgegangen, aber dieser
Verhärtungsprozeß der Freiheit scheint sich auf verschiedenen Ebenen

105
Yasuo Kamata

zu wiederholen. Das neuzeitlich-aufklärerische Ideal der Freiheit


scheint in der Unfreiheit, im Zwangsmechanismus zu enden. Aber es
gibt auch keinen Weg zurück in den Zustand der Bevormundung. Wer
heute einmal aufgegebene Werte bewußt wieder in Geltung setzen will
weil alle Erneuerungsversuche versagt hätten, macht gegen seine~
Willen die willkürlich-rücksichtslose Durchsetzung des neuzeitlichen
Willensdenkens mit und verdient so den Namen eines Re-aktionärs.
Die neuzeitliche Idee der Philosophie als exakte Wissenschaft ist
hervorgegangen aus der Erfahrung der Orientierungslosigkeit und dem
Willen zum Unbezweifelbaren. Mit der kopernikanischen Wende der
Philosophie versuchte Kant den Bereich der Gegenstände in das Denken
hineinzuholen, indem er die Bedingungen der Möglichkeit der
Gegenstände auf die des Denkens zurückführte. Das Denken war somit
in der Lage, die Gesamtstruktur der Erfahrung in den Griff zu bekom.
men und mit diesen Kenntnissen auf den Bereich der Gegenstände ein-
zuwirken. Wenn aber die Mehrzahl der Menschen sich diese Denk- und
Verhaltensweise aneignen würde, dann stoßen die Interessen der
Subjekte zusammen, die je ihre eigene Welt begreifen und in den Griff
bekommen zu haben glauben. Wenn das nicht zu einem Vernichtungs-
kampf führen soll, gibt es keinen anderen Ausweg, als die individuellen
Willen einzuschränken und auf ein gemeinsames Ziel zu einigen. Das
hieße aber, daß der individuelle Wille nur noch seine Freiheit ausüben
kann, bis und solange er sich auf dieses gemeinsame Ziel hin bewegt.
Mit anderen Worten: Der wahre Sinn der Freiheit bestünde darin, den
allgemeinen Willen zu erkennen und sich diesen anzueignen. Diese
Entwicklung war zwar unvermeidbar, aber es kam auch das Gefühl des
Freiheitsverlusts auf: daß für das frei denkende und handelnde Ich im-
mer weniger Raum bleibt - so wie dem neuzeitlichen Menschen mit
seiner zunehmenden Leistungsfähigkeit und seinem immer stärker
werdenden Durchsetzungswillen sein Tod immer schwerer fällt.
Die Verstärkung des neuzeitlichen Willensgedankens bringt aber
nicht nur dieses bedrückende Gefühl hervor, daß ein mächtiger, "allge-
meiner" Wille der Natur oder der Gesellschaft seinem individuellen
Willen entgegensteht. Wenn dieser Widerspruch überwunden ist, fordert
die Sublimierung des Willens auf der Ebene der Allgemeinheit insge-
samt die positive Einstellung zum Willensgedanken und kann den
Verzicht auf den Willen erschweren. Im Falle einer (vermeintlichen oder
tatsächlichen) Übereinstimmung des individuellen Willens mit dem all-
gemeinen wird sich nämlich der erstere in seiner kindlich-unschuldigen
Betriebsamkeit, u. U. sogar in einer grausamen Massenhysterie, um so
überzeugter durchsetzen wollen.

106
Die Schopenhauersche Wende in der Philosophie

2. Die Schopenhauersche Wende der Philosophie und die Philosophie als


sanfte Wissenschaft

Die Philosophie als sanfte Wissenschaft unterscheidet sich von der exak-
ten Wissenschaft dadurch, daß sie ein Thema oder einen Sachverhalt
nicht durch Definieren und Prädizieren zu bestimmen versucht wie
nach der Idee der exakten Wissenschaft. Diese stellt ein perf~ktes
Definitionsnetzwerk her, bis alle Einzelelemente in der totalen
Vorausberechenbarkeit miteinander abgestimmt sind. Das sanfte Den-
ken definiert wohl auch in gewisser Weise, aber nicht so, daß eindeutige
Begründungszusammenhänge angestrebt werden. Vielmehr wird ein
Spielraum markiert, in dem sich die Dinge bewegen, entfalten, auf
andere Dinge beziehen. Der junge Schopenhauer unterschied zwischen
der Philosophie als Kunst, als die er sein eigenes Philosophieverständnis
zu charakterisieren versuchte, und der Philosophie als Wissenschaft, die
zwecks wissens- und handlungsmäßiger Bewältigung der Welt in erster
Linie an der Herstellung begrifflicher Begründungszusammenhänge
interessiert ist und die er in Fichtes Wissenschaftslehre und Sittenlehre
verwirklicht fand. 8
Wir wollen die Eigenart des sanften Philosophierens zunächst an
einem konkreten Beispiel verständlich machen. Wir haben bereits ge-
sehen, daß die neuzeitliche Freiheit im Problemkreis der exakten
Wissenschaft eine zentrale Stellung einnimmt. Die Selbsterstickung der
Philosophie als exakte Wissenschaft ist eigentlich eine Parallelerschei-
nung der Selbsterstickung der Freiheit. Unter Leistungszwang hat die
neuzeitliche Freiheit sich selbst ausgespielt, indem sie alles, was ist, auf
sich zu gründen oder aus sich abzuleiten versuchte. Plötzlich fand sie
sich in einem Zwangsmechanismus.
Zusätzlich mußte sich die Freiheit noch mit der Spaltung von
Individuum und Gesellschaft auseinandersetzen. Denn das Entwerfen
und Verwirklichen einer Seinsordnung war inzwischen aufgrund der
Konflikte mit der Gesellschaft mehrfach unter Willkürverdacht gekom-
men. Es entstand zunehmend die Tendenz, die neuzeitliche, sprich: bür-
gerliche Freiheit des Individuums einzuschränken zugunsten der sozial-
materiellen Befreiung des Menschen. Diese sozialistische Idee arbeitete
ihrerseits aber auch mit der neuzeitlichen Freih~it, die sie eigentlich
überwinden sollte, indem sie den ganzen Seinsbereich durchgängig nach
ihrem Prinzip zu konstruieren und zu verwirklichen versuchte. So stan-
den sich die liberalen und die sozialen Ideen gegenüber, konkurrierten
oft in grausamen Machtkämpfen, um die andere Position sich selbst zu
unterwerfen, während sie sich selbst immer mehr in ihren eigenen
Zwangsmechanismus verstrickten.
Man sollte allerdings bedenken, daß der Gedanke der Freiheit an
sich kein absolutes Prinzip ist, sondern ursprünglich gegen die Gefahr

107
Yasuo Kamata

des absoluten und absolutistischen Denkens und Systems angetreten


war. Die Idee der Freiheit taucht dort auf, wo der wirkliche oder ver.
meintliche Zwangscharakter des Beherrschen-Wollens (sei es durch das
Denken, sei es durch politische Gewalt) unerträglich wird, so wie die
Herausbildung des Selbstbewußtseins und des Freiheitsbewußtseins im
Kind durch den Konflikt mit seiner Umwelt gefördert wird - man spricht
von der Trotzphase.
Auch wenn das Freiheitsbewußtsein wie eine selbständige
Qualität des Menschseins erscheint, so daß man die Freiheit sogar als
Grundrecht des Menschen bezeichnet, ist es doch irreführend und auch
problematisch, die Freiheit als Begriff zu verabsolutieren und ihm jede
relative und relativierende Bezugsmöglichkeit zu nehmen. Ein verabso-
lutiertes Prinzip hat immer etwas Zwanghaftes an sich. Eine Verabsolu-
tierung stellt das genaue Negativbild der Verteufelung des Unange-
nehmen dar und endet in der lieblosen Ablehnung der Mitmenschen.
Demgegenüber ist die Idee der sozialen Gerechtigkeit entstanden
aus der Reflexion über die Willkürlichkeit und Rücksichtslosigkeit der
verabsolutierten individuellen Freiheit. Aber die soziale Sichtweise
mußte sich unter taktisch-strategischem Zugzwang ihrerseits verselb-
ständigen und verabsolutieren - als Sozialismus, in dem der nötige frei-
raum für die Anpassung an die neuen Gegebenheiten unterdrückt
wurde. Der Liberalismus seinerseits hat seinen individualistischen Frei-
heitsbegriff übertrieben, um sich selbst vom Gegner klar und deutlich zu
unterscheiden. So haben wir den kalten Krieg erlebt.
Beide Lager versuchten, sich als Liberalismus oder Sozialismus
zu profilieren, indem sie das, was sie durch ihre Idee unter Kontrolle
halten sollten, nun völlig ausgestoßen oder sogar verteufelt haben.
Wenn wir aber diese Begriffe der Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit
als Grenze unseres Denkens und Handeins verstehen, dann befinden
wir uns in einem von den Extremen abgegrenzten Spielraum, in dem
verschiedene Abstimmungen in verschiedenen Aspekten und nach uno
terschiedlichen Spielregeln stattfinden. Das ganze Zusammenspiel kann
selbstverständlich auch exakt-wissenschaftlich dargelegt bzw. ausgelegt
werden. Aber da dies mit der Ambition Hand in Hand geht, die so ge·
wonnene Gesamtstruktur zu begreifen und wo immer möglich zu mani-
pulieren, werden wir - in einer sublimierten Gestalt - immer noch mit
der Moral des prinzipiellen Beherrschen-Wollens der Wirklichkeit be-
haftet bleiben. Das könnte gefährlich werden, weil dieses totale Beherr-
schen-Wollen nun auf versteckte Weise das Denken und Handeln des
Menschen durchdringt, während man selbst davon überzeugt und stolz
darauf ist, mit Hilfe exakter Wissenschaftlichkeit endlich von der
Ideologie des Beherrschen-Wollens befreit zu sein. Man mag zwar an-
geblich auf die positive Betätigung der Dialektik verzichtet haben, man
ließ jedoch diese negative Kraft selbst als den neuzeitlich-aufkläreri-

108
Die Schopenhauersche Wende in der Philosophie

sehen Willen incognito weiter wirken. Das entspricht genau dem Scho-
penhauerschen Bild des Selbstmörders, der durch seinen starken Durch-
setzungsdrang den Willen eher bejaht als verneint. Die Erschütterung,
die der Selbstmörder durch seinen dramatischen Tod bei seinen Mit-
menschen auslöst, gibt die Stärke seines Willens zur Selbstbehauptung
wieder. Bei der Bejahung und Verneinung des neuzeitlichen Willens ist
zu beachten: Nicht das bloße Jasagen zum Willen, vielmehr die Wieder-
holung des Willensaktes und die Gewöhnung daran macht das Wesent-
liche an der Bejahung des Willens aus. Dies gilt, auch wenn äußerlich
von der Willensverneinung gesprochen wird.
Die Philosophie als sanfte Wissenschaft soll das an Prinzipien
orientierte und durch Begriffsbildungen unterstützte übertriebene Len-
ken des Wirklichkeitsganzen vermeiden. Dies hat allerdings nichts zu
tun mit einer kritiklosen Bejahung des sozialen Unrechts und des
Unterdrückungsmechanismus als status quo. Denn die Philosophie als
sanfte Wissenschaft ist durch die Selbstreflexion der Philosophie als ex-
akte Wissenschaft entstanden, die auf das intellektuelle und materielle
Beherrschen-Wollen der Wirklichkeit ausgerichtet ist. Die Philosophie
als sanfte Wissenschaft will kein letztes Prinzip liefern. Das kann sie
gar nicht, weil sie selbst eine bloße Abgrenzungsidee ist, die sich von
dem gegebenen Wissens- und Wirklichkeitsverständnis der Philosophie
als exakter Wissenschaft unterscheidet. Der Beitrag dieser Philosophie
als sanfte Philosophie zum neuzeitlichen Denken wäre dann der, im
Schopenhauerschen Sinn die Möglichkeit eines Denkens aufzuzeigen,
bei der dieses nicht mehr mit seinem exakten Wissen die Wirklichkeit zu
lenken versucht, sondern ihr mehr Vertrauen schenkt - als einer Wirk-
lichkeit, die man nicht immer sofort begreifen kann, insbesondere wenn
zu dieser Wirklichkeit Mitmenschen und Umwelt gehören. Die Einsicht
in die Komplexität der Wirklichkeit forderte ursprünglich das exakte
Denken. Dieses nahm sie aber offensichtlich nicht ernst genug.
Die Philosophie als sanfte Wissenschaft maßt sich nicht an,
selbst die "Meta-Form" des Wissens zu sein - wie oft noch muß man den
allzu menschlichen Fehler wiederholen? Sie versucht den Sinn anderer
Wissensformen zu verstehen und die eventuell für sie nicht nachvoll-
ziehbaren Strukturen und Elemente als gleichberechtigte Bestandteile
des Spielraums nicht nur "von oben herab" zu tolerieren, sondern sie
sein zu lassen und zu akzeptieren, um unter Umständen "darunter" lei-
den zu können.
Unser neuzeitliches Denken ist gewohnt, die Wirklichkeit als
den einzigen exakt darstellbaren (durch das Wissen total beherrschba-
ren) Zusammenhang aufzufassen. Wer das ihr zugrundeliegende Prinzip
begriffen hat, der hat auch die gesamte Wirklichkeit im Kopf. Wer nach
diesem Prinzip handelt, der hat auch den Hebel in der Hand, die Welt in
seinem Sinne zu verändern und zu beherrsche'1. So bri'ngt man gern die

109
Yasuo Kamatl1

Vielfalt der Welt schnell auf einen Begriff, und bildet sich ein, die Welt
bewältigen zu können oder sogar bewältigt zu haben. Bereits 1814 nur
drei Jahre vor dem Erscheinen der Hegeischen Enzyklopädie, schrieb
der junge Schopenhauer: Die meisten Menschen suchen "von allem was
ihnen vorkommt nur schnell den abstrakten Begriff, wie der Träge den
Stuhl: dies wieder daher, weil die Welt sie nur als Objekt ihres Willens
interessirt"9. Hier ist das Problem bewußtsein des jungen Schopenhauer
deutlich zum Ausdruck gebracht, das sich später in seiner Lehre von der
Willensverneinung verdichtet. Und die Art und Weise, wie der junge
Schopenhauer diesen gedanklichen Verdichtungsprozel3 durchmacht,
d. h. die Grundhaltung seines Denkens, möchte ich "sanftes Philoso.
phieren" nennen.
Zur philosophischen Grunderfahrung des jungen Schopenhauer
gehört auch die am Anfang dargestellte Frage nach der Neuorientierung
im Gefolge des Zusammenbruchs der alten Werte. Das traditionen.
christliche Wirklichkeitsverständnis hatte mit der Lehre der Unsterb·
lichkeit und der Nächstenliebe dem Menschen sowohl als Einzel- als
auch als Gattungswesen einen sicheren Halt gewährt. In der Neuzeit
aber wurde dieses Wirklichkeitsverständnis immer fragwürdiger. So
begann also die Suche nach der Neuorientierung. Sie brachte dem
Menschen auf der einen Seite die Freude des Selbsterschaffens und
-verwirklichens der neuen Seinsordnung. Auf der anderen Seite fühlte
sich der auf das Subjekt der Selbstverwirklichung, d. h. auf das Selbst·
bewußtsein reduzierte Mensch durch den eigenen Tod und die soziale
Vereinsamung bedroht. In der Folgezeit entstanden dann die absolu·
tistischen Regime, die dem neuzeitlichen Willen zur totalen und exakten
Herrschaft entsprachen, die jedoch diese Ambition noch mit der tra·
ditionell-christlichen Autorität rechtfertigten. Erst mit dem Untergang
des Absolutismus wurde die Wertekrise endgültig.
Kants "kopernikanische Wende" ermöglichte eine entscheidende
Wende des philosophischen Denkens, in der die Philosophie als exakte
Wissenschaft ihre letzte Vollendungsstufe antrat. Kant konnte die Frage
nach der Bedingung der Möglichkeit des allgemeinverbindlichen
Erkennens und des Handeins beantworten, war aber mit der bloß in
praktischer Absicht postulierten Unsterblichkeit nicht mehr in der Lage,
dem Menschen die Angst vor Tod und Vereinsamung zu nehmen. Die
Ausklammerung der Frage nach dem Ding an sich und die Beschrän·
kung des philosophischen, d. h. exakten Wissens auf' die Erscheinungen
hat die Krisenstimmung sogar teilweise noch verstärkt. Hinzu karn der
Verdacht der Willkürlichkeit. Kant wurde von seinen Gegnern sogar als
"Alleszermalmer" angegriffen.
In dieser Situation der Orientierungslosigkeit wurden zw~i
Versuche unternommen. Der erste Versuch ging von der Frage aus: Wie
kann man angesichts der Unmöglichkeit, mit dem Denken zum Ansieh·

110
Die Schopenhauersche Wende in der Philosophie

sein zu gelangen, dies noch anders erreichen? Dabei setzte man voraus
daß es über/hinter dem weltlich und vergänglich Seienden etwas "Seien~
deres", d. h. eine wahrhafte Substanz gibt, die mit der menschlichen
Vernunft nicht zu erreichen ist. Das war der Ausgangspunkt der
Gefühlsphilosophie Jacobis. Auch Aenesidemus Schulze, Schopenhauers
erster Lehrer, könnte zunächst dieser Richtung zugeordnet werden.
Der zweite Versuch war von einer anderen Fragestellung gelei-
tet, die als konsequente Durchführung der von Kant eingeleiteten
Wende der Philosophie betrachtet werden kann: Wenn das Ding an sich
dem menschlichen Erkennen nicht gegeben werden kann; wie kann man
das Ansichsein anders denken, damit dieses für den Menschen erreich-
bar ist? Wie kommt der Mensch überhaupt dazu, das Ansichsein zu den-
ken, dessen Erkenntnis nicht von außen kommt? Das kann nur von in-
nen kommen - durch die Selbstkonstruktion, durch den Willen! Das war
die Grundposition des Deutschen Idealismus, die sich von Reinhold über
Fichte und dem jungen Schelling bis Hegel graduell steigerte. Auf die
Einzelheiten dieser hochinteressanten Diskussion können wir leider
nicht eingehen. lo
Es ist bemerkenswert, daß der junge Schopenhauer Schulze und
Fichte als Lehrer hatte. Hier wird sein sanftes Denken sichtbar. Der
junge Schopenhauer schwankt zuerst zwischen zwei Polen, die den her-
vorstechenden "positiv formulierten" Aussagen seiner Lehrer entspre-
chen: der heißen Sehnsucht nach dem unendlichen, an sich Seienden,
das über den Tod in die Ewigkeit hineinreicht; und dem Eifer, alles, was
ist, vollständig in einer Einheitsstruktur der Vorstellung. d. h. in der
Struktur des Objekt-für-ein-Subjekt-Seins einzuholen. Aber solange
diese beiden Pole als "positive Aussagen" auf der Ebene der Exaktheit
aufeinander zusammenprallen, erscheinen sie diametral entgegenge-
setzt. Der Wandel des Schopenhauerschen Verständnisses vom "besse-
ren Bewußtsein" seit seiner Berliner Zeit (1811-1813)11 markiert seine
mühsame Suche nach einer Auflösung dieses exakt-logisch unauflösba-
ren Widerspruchs - bis er in den beiden Positionen den Ausdruck ein
und desselben blinden Bewältigen-Wollens der Wirklichkeit erblickt.
Nicht auf die Aufl,ösung der vermeintlich sachlichen Widersprüche, son-
dern auf die Auflösung der Selbstverblendung des Menschen kommt es
an, der dieser Widerspruch entstammt. l2
Schopenhauer entdeckt in den äußerlich entgegengesetzten
Behauptungen seiner beiden Lehrer ganz andere Töne. Die Intention
seines Weiterdenkens könnte man in der folgenden Frage vorwegneh-
men: Was ist der Sinn der beiden Behauptungen? Was will man damit
vermeiden?
Die Grundposition des Deutschen Idealismus, die gesamte Wirk-
lichkeit in einer Einheitsstruktur der Vorstellung einzuholen, ist nur
dann konsequent durchführbar, wenn man hintel" der Welt als Vor-

111
Yasuo Kamata

stellung keine an sich seiende Substanz annimmt, d. h. das Sein nicht


mehr als Substanzsein, sondern als Für-ein-Subjekt-Sein betrachtet
Diese Fichtesche Position wendet sich also gegen den Substanz~
gedanken, der etwas Unwandelbares, vielleicht etwas ewig Seiendes
voraussetzt.
Die Grundposition des Skeptikers Schulze ist, genau besehen
nicht ernsthaft auf das Vorhandensein einer an sich seienden Substan~
gerichtet. Um in seinem anonymen Buch ,,Aenesidemus" den Kantianer
Reinhold zu kritisieren, benutzt er zwar die Argumente des Substanz-
denkers, aber viel schwerwiegender ist seine Dialektikkritik, in der er
Reinhold willkürliche "Machtsprüche" vorwirft,13 dies sogar viel früher
als Fichtes Wissenschaftslehre (ab 1794) selbst. Der scharfsinnige Den-
ker hatte offenbar bereits in Reinholds Elementarphilosophie die zu-
künftige Gestalt einer Wissenschaftslehre erblickt! So mußte Fichte
seiner Wissenschaftslehre die kritische "Recension des Aenesidemus"
(1793) vorausschicken.
Demnach können wir nun den Sinn des Gegensatzes zwischen
Schulze und Fichte so umformulieren: Es ist nicht ohne weiteres mög-
lich, eine allgemeinverbindliche Neuorientierung in einer unabhängig
von den menschlichen Vorstellungen bestehenden Substanz bzw. einem
Ding an sich zu suchen. Aber der Versuch, die Neuorientierung durch
Freiheit zu konstruieren, ist den Gefahren des Eigensinns und der
Selbstgerechtigkeit ausgesetzt. Wie ist dann eine allgemeinverbindliche
Orientierung möglich, die sich weder auf die an sich seiende Substanz
noch auf das die Seinsordnung eigenmächtig konstruierende Subjekt
stützt? Aus dieser Frage ging die Grundkonzeption der Welt als
Vorstellung hervor mit den platonischen Ideen als Normalanschauungen
und der konkret-anschaulichen Welt. 14 Die Konzeption der Welt als
Wille soll dagegen den Mechanismus der Interaktion zwischen den pla-
tonischen Ideen und der anschaulichen Welt als Wille verdeutlichen,
ohne sich dabei auf eine welttranszendente Instanz berufen zu müssen.
Die Philosophie als strenge/exakte Wissenschaft bringt alles, was
ihr begegnet, in ein exakt begrifflich faßbares Netzwerk, weist ihm
einen definierten Platz zu, um sich die optimale Zugriffs möglichkeit zu
sichern und darüber jederzeit verfugen zu können_ Dabei werden alle
Elemente verachtet oder vernichtet, die für den Willen nicht relevant
sind. Bereits im Konstruieren eines exakt wissenschaftlichen Systems
waltet der Wille zur Verfügung.
Die Philosophie als sanfte Wissenschaft will so wenig wie mög-
lich definieren. Sie erkennt an, daß es verschiedene Logiken und Struk-
turen gibt, die geeignet sind, Dinge und Menschen in je eigener und
angemessener Weise zu artikulieren und zur Geltung zu bringen. Dinge
und Menschen entwikkelnje eigene Verhaltens- und Interaktionsweisen,
abhängig von unüberschaubar vielen Faktoren. Derselbe Mensch kann

112
Die Schopenhauersche Wende in der Philosophie

z. B. unter denselben Bedingungen zu dem einen Menschen freundlich


und zu dem anderen unfreundlich sein. Und zu jedem Zeitpunkt kann
sich die Freundschaft oder Unfreundschaft so oder so weiter oder anders
entwickeln und andere Spielregeln annehmen. Dies mit einem Begriff
Freundschaft" zusammenzufassen, oder aus einem bestimmten Ver-
;tändnis von Freundschaft heraus die betreffende Freundschaft exakt
darzustellen, eventuell sogar die Streitenden versöhnen zu wollen - ein
solcher Zugang würde den Betreffenden nur noch mehr Probleme be-
reiten. Dies gilt nicht nur für die Freundschaft unter Personen, sondern
auch für den regionalen und interregionalen Frieden sowie für die
internationale Verständigung. Die Stärke der Freundschaft oder der
Liebe kommt sicherlich weniger aus ihrer blinden "Irrationalität" als
aus ihrem rücksichtsvollen Verzicht auf den Willen zur Exaktheit und
zum Verfügen. Daß die menschliche Einfühlsamkeit weniger im Ver-
standen-haben-wollen als im bescheidenen Zuhören besteht, gilt auch
für das philosophische Verstehen, insbesondere bei großer räumlicher
und/oder zeitlicher Entfernung.
Ich möchte das beispielhaft an den Möglichkeiten deutlich ma-
chen, wie ein Europäer den Buddhismus verstehen kann.
Der Buddhismus, vor allem aber der Mahayana-Buddhismus
wird einem Durchschnittseuropäer mit ihrer Lehre von der Leere
(sunyata, chin. '!: )15 sehr exotisch vorkommen. Der Ausdruck ist für die
europäische Logik ein Widerspruch. Denn in dem berühmten Herz-Sutra
steht: "Gestalt (rupa, chin. ~ ) ist leer", d. h. "Körper ist ohne eigene
Substanz". Dann fragt man sich: "Was überhaupt ist dann nicht leer? die
Substanz, von der alles Gestalthafte sein Sein hat?" Die Antwort ist:
"Alles Seiende ist leer." Da würde man einwenden: Es muß doch etwas
absolut da sein, sonst wäre überhaupt nichts! Im übrigen läßt
Schopenhauer in der 2. Auflage der Vierfachen Wurzel (1847) einen
spekulativen Theisten den gleichen Satz - allerdings auf weniger ma-
nierliche Art - schreien - sehr wahrscheinlich eine Anspielung auf I. H.
Fichtes Gottesbeweis. 16 Dann aber begegnet man dem verwirrenden
Vers: "me Leere ist Gestalt". Es scheint unmöglich, die Leerheit sinnvoll
zu definieren, da die Sätze selbst dem Subjekt des Satzes, klassisch ge-
sprochen der Substanz, die Substantialität absprechen. Der Eindruck
entsteht, daß dieses jetzt als Subjekt angesprochene Leere doch etwas
Seiendes, etwas Mystisches, Übernatürliches, alles Umgreifendes ist.
Verbindet man diese Vorstellung dann mit der Gottes, erscheint die
Leere wie eine geheimnisvolle esoterische Gottheit. Daß im Spät-
Mahayana, insbesondere in einigen tibetanischen Schulen auch das
Prajiia-Paramita, die äußerste Weisheit, als Göttin dargestellt wird,
kann diese Ansicht verstärken.

113
Yasuo Kamata

Versuchen wir jetzt, diesen Begriff der Leere nicht durch


Definition, sondern durch das sanfte Denken zu interpretieren. Dabei
verstehen wir die Begriffe als Grenzziehung eines Spielraums.
Die Leere bedeutet "keine Substanz haben, substanzlos sein".
Die Gestalt ist leer, bedeutet, die Gestalt hat keine Substanz. Was ist
der Sinn dieser Aussage? Welche Grenzen werden gezogen? Was will
man damit vermeiden? - Daß die Gestalt ihre Substanz hat, an der man
festhalten kann, daß man an den Dingen festhält. Warum will man das
Festhalten an den Dingen vermeiden? Hier finden wir den Anschluß an
die frühbuddhistische Erlösungslehre, daß nämlich das Festhalten, die
Anhänglichkeit an etwas oder jemanden - der Frühbuddhismus verwen-
det oft das Bild des starken Dursts - das Leiden hervorruft. Aber bleiben
wir noch bei unserem Thema der Leere. Im Gegensatz zum Früh-
buddhismus (die Teravadin stehen noch in dieser Tradition) inter-
essieren den Mahayana-Buddhismus Fragen nach dem menschlichen
Zusammenleben und der Natur, man kann sagen: ethische und ontologi-
sche Fragen. Es leuchtet ein, daß der Begriff "Leere" eine vergleichbare
Stellung einnimmt wie der Gott der christlichen Religion. Aber der
christliche Gott ist das Sein, und der Buddhismus spricht von der Leere
oder oft (in der zen-buddhistischen Modifikation) vom Nichts. Warum
also die Bezeichnung "Leere"?
Hier kommt noch einmal die oben erläuterte sanfte Denkweise
zur Geltung: Die Ebene der höchsten Allgemeinheit wird als Leere be-
zeichnet, damit sie keine Substanzhaftigkeit zugeschrieben bekommt.
Sonst würde in der Menschenseele eine Anhänglichkeit und die
Gewöhnung an diese Substanz entstehen, und die Erlösung (Befreiung
von der Anhänglichkeit) wäre dann noch schwerer erreichbar.
Aber gleichzeitig heißt es: Die Leere ist die Gestalt usw., d. h.
diese eben substanzlose Leere hält die einzelnen Dinge zusammen. Die
Frage, die sich hier stellt, lautet: Wie ist die Leerheit zu denken, die
keine Substanz, kein Objekt des Willens ist und dennoch die Ebene der
Allgemeinverbindlichkeit darstellt? Wie läßt sich die Welt auf dieser
Ebene darstellen? Die Antworten auf diese Frage, die verschiedene
buddhistische Schulen bisher anboten, unterscheiden sich mehr oder
weniger stark voneinander. Ich möchte hier zum Beispiel eine Schule
(Yogacara-Vijnanavada) nennen, die lehrt, daß die ganze Welt Vorstel-
lung ist. Sie deutet die Welt als Zusammenspiel zweier Vorstellungs-
ebenen, nämlich der verborgenen (unverfügbaren), sinnverwaltenden
Vorstellung (alayavijfl.ana) und der wahrnehmbaren, wirklichen Vorstel-
lung. Diese beiden Ebenen sind als die der Vorstellungen substanzlos.
Sie sind nur, solange dieses Zusammenspiel funktioniert,17 wie sich ein
Fahrrad fortbewegt, ohne umzustürzen, solange die Räder weiterdrehen.
Als Motor dieser Funktion wird das Karma gedacht, das seinerseits von
jenem Zusammenspiel lebt bzw. 'rerstärkt oder - unter bestimmten Um-

114
Die Schopenhauersche Wende in der Philosophie

ständen - stillgelegt werden kann, je nachdem, ob das Fahrrad auf einen


auf- oder absteigenden Hang hin gelenkt wird - wobei dieses Gelenkt-
werden seinerseits nicht allein von dem Willen des Fahrers sondern
zugleich von vielen anderen Faktoren abhängt. 18 Die letztere' Möglich-
keit der Stillegung des Zusammenspiels (Karma) würde das Nirvana
bringen. 19 Diese mahayana-buddhistische Richtung ist durchaus ver-
gleichbar mit der Schopenhauerschen Philosophie der Welt als Wille und
Vorstellung, welche ebenfalls im Hinblick auf die Einheit und Allge-
meinverbindlichkeit als Zusammenspiel der ewigen (unverfügbaren)
platonischen Idee und der konkret-anschaulichen Welt beschrieben wird.
Dieses Zusammenspiel wird gleichzeitig im Hinblick auf das
Fortbestehen der Welt gedacht als vom Willen getragen und zu-
sammengehalten. Daraus folgt auch die Möglichkeit der Verneinung des
Willens. 20
Die Idee einer Philosophie als sanfte Wissenschaft ist entstanden
in der Reflexion über den neuzeitlichen Willensgedanken, mit dem sich
auch Schopenhauer in seiner Philosophie auseinandersetzt. Die Philo-
sophie als sanfte Wissenschaft wurde zuerst als Grundhaltung des
Schopenhauerschen Denkens entdeckt. Aber im Grunde wird dieses
sanfte Denken bewußt oder unbewußt auf verschiedenste Weise im
menschlichen Alltag praktiziert. Es ist symptomatisch, daß dieses
Denken von der neuzeitlichen Wissenschaft als bloß negatives und un-
produktives Denken verpönt wurde, da es keine "Leistung" hervor-
bringe. In der Tat möchte das sanfte Denken keine "Methode" im neu-
zeitlichen Sinn sein, die den Weg exakt vorschreibt. Der Weg entsteht,
indem viele Menschen ihn beschreiten und befestigen. Er zeigt den spä-
ter kommenden Menschen, auf welchem Weg sie bequemer und sicherer
gehen können - ohne es zu müssen; es gibt viele andere Wege, die ent-
stehen, sich bewähren und verschwinden. Der Weg besteht nur solange,
als die Menschen ihn beschreiten. Im Verlauf der Zeit entstehen dann
gewisse Abweichungen und Änderungen, oder man benutzt den Weg
nicht mehr, und er verschwindet ins Unwegsame. Deshalb könnte man
dieselbe sanfte Grundhaltung des Denkens auf viele andere Weisen aus-
drücken. Einen Weg, den es einmal gab, unbedingt festhalten zu wollen,
sei es aus Gründen der Wirtschaftsplanung, sei es aus Gründen der
Umweltpolitik, entspricht genausowenig der Idee des Weges wie einen
bewährten Weg abrupt abschaffen zu wollen. Wir meinen hier freilich
nicht nur den äußerlich-physikalischen Weg, sondern den inneren Weg
des Denkens. Erhalten zu müssen oder abschaffen zu müssen glauben -
beides kommt aus dem zwanghaften Willen zum Begreifen und zum
Verfügen, dem auch das exakte Denken entstammt. Um darüber nach-
zudenken, brauchen wir als neuzeitliche Menschen allerdings auch ein
gewisses exaktes Denken, das aber in seiner Selbstreflexion eine andere,
sanfte Haltung annehmen und in seinem unverfügbar komplexen

115
Yasuo Kamata

Netzwerk, in dem Zusammenspiel der Zusammenspiele, das Selbstver-


ständnis des wissenschaftlichen Denkens aus dem Bann des neuzeit-
lichen Willensgedankens möglicherweise befreien kann.

Anmerkungen
1. Den Kernpunkt der Idee der Philosophie als sanfte Wissenschaft verdanke ich
vielen fruchtbaren Gesprächen während meines Studienaufenthalts in Augsburg
1975-1985 und später. Vgl. insbesondere Alois Halder, Aktion und Kon-
templation, in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, hrsg. von F. Bäckle
u. a., Teilband 8, FreiburglBasel/Wien 1980, 71-89; Arno Baruzzi, Die Zukunft
der Freiheit, Darmstadt 1993. Bereits in der Diskussion im Anschluß an den
Vortrag wurde mehrfach das Bedenken geäußert, ob nicht die Idee der
Philosophie als sanfte Wissenschaft einen Irrationalismus proklamiere, der die
entscheidende Rolle des Denkens bei der Wirklichkeitskonstruktion nicht ernst
nehme. Die Philosophie als sanfte Wissenschaft sollte jedoch nicht mit der
naiven Abwehrhaltung gegen die rationale Sprache verwechselt werden, die man
bei vielen finden, die den Anstrengungen des neuzeitlich-rationalen Sprechens
nicht gewachsen sind. Es geht vielmehr um die rationale Infragestellung der
neuzeitlich-abendländischen Selbstverständlichkeit, die durchgängige Aufein-
anderangewiesenheit (das Netzwerk) der Wirklichkeit im Namen der "Ratio-
nalität" dem Willen zur totalen Wirklichkeitsbeherrschung zu unterwerfen. Die
aktuellen "Umweltprobleme" gehören vielleicht zu den augenfälligen Konse-
qu.enzen dieser Selbstverständlichkeit, mögen sie auch harmlos sein im Ver-
gleich mit der Herausbildung und Zuspitzung des willensorientierten neuzeit-
lichen Kausalitäts- und Freiheitsbegriffs.
2. Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XV ff.
3. Die bedeutendsten mahayana-buddhistischen Schulen wie die Madhyamika-
Schule und der Zen-Buddhismus gehören zu diesen Richtungen. Auch in der
abendländischen Tradition der christlichen Mystik ist diese Haltung bedeutsam.
Vgl. Meister Eckehart, Deutsche Predigten und Traktate, hrsg. und übers. von J.
Quint. München 51978, 304 (Predigt 32). Neben Schopenhauer sind als neuzeit-
liche Vertreter dieser Denkrichtung u. a. Heidegger und Horkheimer zu nennen.
4. Siehe u. a. W I, 479-487.
5. Eine peinliche Bemerkung: Ich muß gestehen, daß ich mit meinem Beitrag
ebendieseibe Gefahr laufe. Denn auch wenn es mir weniger darauf ankommt,
eine neue Idee zu entwerfen, als den Mechanismus des neuzeitlichen Entwerfens
selbst zu verstehen und zu bedenken, erhält doch das Ganze, sobald es öffentlich
vorgetragen oder gedruckt wird, den Charakter eines aggressiven Appells.
6. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 54 (Originalausgabe 1797).
7. L. Reinhold, Bey träge zur Berichtigung bit:heriger Mißverständnisse der
Philosophen, Jena 1790, 339-372.
8. Zum Unterschied zwischen Philosophie als Kunst und Philosophie als Wissen-
schaft beim jungen Schopenhauer siehe Verf., Der junge Schopenhauer. Genese
des Grundgedankens der Welt als Wille und Vorstellung, FreiburglMünchen
1988, 228- 231.
9. HN I, 159, § 261; vgl. W I, 220 f.

116
Die Schopenhauersche Wende in der Philosophie

10. Hierzu und Näheres über die folgenden Ausführungen siehe Verf., Der junge
Schopenhauer, a. a. 0.,27-40, 235-250.
11. Gleichzeitig w.andelU: si.ch auc~ ~er später so wichtige Terminus Ding an
sich, der daher mcht naIV 1m tr~dltl0nell-metaphysischen Sinne als An-sich-
Seiendes gedacht werden kann. SIehe Verf., Platonische Idee und die anschauli-
che Welt bei Schopenhauer, Schopenhauer·Jahrbuch 70 (989), 84-93.
12. Die Antinomielehre in der Kritik der reinen Vernunft deutet bereits auf das
sanfte Denken hin, ohne es allerdings weiterzuführen, da bei Kant das prak-
tisch-vernünftige Bestimmen-Können der Wirklichkeit durch den freien Willen
zumindest in der unmittelbar darauffolgenden Kant-Rezeption, immer mehr i~
den Vordergrund trat. Die philosophiegeschichtlichen Wurzeln des sanften
Denkens reichen aber sicherlich noch weiter zurück ins Mittelalter und in die
Antike.
13. E. Schulze [anonym], Aenesidemus oder über die Fundamente der von dem
Herrn Prof. Reinhold in Jena gelieferten Elementar.Philosophie. Nebst einer
Vertheidigung des Skepticismus gegen die Anmaaßungen der Vernunft-Kritik,
Helmstedt 1792, 402. Ein Buch anonym herauszugeben, war damals eine übli-
che, sogar beliebte Praxis, nicht nur um den Verfasser vor staatlichen und kirch-
lichen Verfolgungen zu schützen, sondern auch um das Publikum auf das Buch
neugierig zu machen. Aber bei Schulze war einer der Hauptgründe für die
Anonymität auch der, daß das substanzialistische Argument, mit dem der
Skeptiker die subjektivistische Tendenz der Kant-Reinholdschen Philosophie
kritisiert, nur halbherzig vorgetragen werden konnte. In dieser Hinsicht erweist
sich Schopenhauer als hervorragender Schüler Schulzes (daher dessen freundli-
che Schopenhauer-Rezension) - ebenso wie er in seiner konsequenten Verwer-
fung des Substanzgedankens als hervorragender Schüler Fichtes bezeichnet
werden kann.
14. Vgl. Verf., Der junge Schopenhauer, a. a. 0., 165-171, 178-187; vgl. Verf.,
Platonische Idee und die anschauliche Welt, a. a. 0., 88-91.
15. "Leerheit" (sunyata) bedeutet im Buddhismus "nicht substanzhaft" bzw.
"substanzlos", ursprünglich "innen hohl", ist etymologisch mit "Zero" und "ziffer"
verwandt.
16. Siehe G, 39; vgl. I. H. Fichte, Grundzüge zum System der Philosophie. Dritte
Abtheilung. Die Speculative Theologie oder allgemeine Religionslehre, Heidelberg
1844,66.
17. Insofern weist diese Lehre des Vorstellungseins und des Karmas eine be-
merkenswerte Nähe zu der Schopenhauerschen Welt als Wille und Vorstellung
auf.
18. Vgl. Schopenhauer: ,jene Vemeinung des Willens ... (ist) nicht durch Vorsatz
zu erzwingen, sondern geht aus dem innersten Verhältniß des Erkennens zum
Wollen im Menschen hervor, kommt daher plötzlich und wie von außen angeflo-
gen." (W I, 478)
19. In den meisten buddhistischen Schulen gibt es die Lehre der Seelen-
wanderung, quasi als Sinnbild dieser Karma-Wirkung. Das Ideal des
Buddhismus ist, vom Rad der Seelenwanderung befreit, in die ewige Ruhe hin-
einzuschwinden (Nirvana). In die alltäglichen Frömmigkeitsformen umgesetzt,
wird die ewige Ruhe oft mithilfe von Paradiesvorstellungen (Lotusblüten usw.)
ausgedrückt.

117
Yasuo Kamata

20. Eine detaillierte Darstellung der Möglichkeit der Bejahung und Verneinung
des Willens findet sich in Verf., Der junge Schopenhauer, a. a. 0., 250-269.

118
"Der Wille ist meine Vorstellung"
Kritische Bemerkungen zu Schopenhauers Philosophie und der
Lehre Buddhas

von Wenchao Li

1. Schopenhauer und der Buddhismus - "große Übereinstimmung"?

In seiner Welt als Wille und Vorstellung, 11. Band, Ergänzungen zum
Buch I, Kapitel 17, schreibt Schopenhauer, daß zwischen seiner Philo-
sophie und dem Buddhismus eine "große Übereinstimmung" bestehe.
Wörtlich heißt es dort:

Wollte ich die Resultate meiner Philosophie zum Maßstabe der


Wahrheit nehmen, so müßte ich dem Buddhaismus den Vorrang
vor den andern zug~stehen. Jedenfalls muß es mich freuen, meine
Lehre in so großer Ubereinstimmung mit einer Religion zu sehen,
welche die Majorität auf Erden für sich hat. l

Die Stelle läßt sich als eine Art freimütiges Bekenntnis lesen und man
fühlt sich unverweigerlich an jene Stelle in der Vorrede zur ersten Auf-
lage seines Hauptwerks erinnert, in der Schopenhauer die indischen
Upanischaden in eine Reihe mit Platon und Kant stellt.
Aber von dem Schopenhauer, der in der europäischen Philoso-
phie das Ende des Eurozentrismus markiert 2 und dessen Verdienst in
dieser Hinsicht ich als Nicht-Europäer besonders dankbar zu würdigen
weiß, möchte ich hier nicht sprechen. Im Gegenteil: Ich möchte Schopen-
hauer wörtlich nehmen und ein paar kritische Bemerkungen zu der im
nachhinein konstatierten "großen Übereinstimmung" zwischen seinem
Philosophieren und der Lehre Buddhas machen. Drei Punkte stehen zur
Diskussion: die Frage nach dem Willen und der Vorstellung; das Pro-
blem des Mitleids und die Möglichkeit einer Erlösung.

2. Tiefgreifende Differenzen

Fangen wir mit der Welt als Wille und Vorstellung an, welche bei
Schopenhauer Titel und Programm ist. Um die Fragestellung deutlicher
zu fassen, sei zuerst ein Leseeindruck mitgeteilt: Liest man Schopen-
hauers Hauptwerk, Band I und fragt man nach den drei geläufigen
Quellen, fällt einem leicht auf, daß im zweiten Buch kaum die Rede von
Wenchao Li

den Upanischaden ist. Genau derselbe Befund gilt auch für die Ergän-
zungen. Wollte man schon aus diesem flüchtigen ~eseeindruck eine
Schlußolgerung ziehen, dann ist es diese: Die "große Ubereinstimmung"
von der Schopenhauer sprach, gilt eigentlich nur für die Hälfte seine~
Philosophie, die Welt als Vorstellung und nicht für die andere Hälfte, die
Welt als Wille, es sei denn, wenn es darauf ankommt, diesen Willen zu
verneinen. Die "große Übereinstimmung" entpuppt sich schon hier als
Teilübereinstimmung.
Wenn die Welt meine Vorstellung ist, warum sollte nicht auch
der Wille meine Vorstellung sein, hätte ein Buddhist gefragt. Die Frage
hat eigentlich auch Schopenhauer sich selbst gestellt, aber er ist dabei
zu einem negativen Ergebnis gekommen. Das Entscheidende dabei war
die Frage nach dem Leib. Denn eben dieser Leib hätte mir durch seine
Identität oder genauer gesagt Dualität und Doppelrolle als vorstellendes
Subjekt und als unmittelbares Objekt gezeigt, daß die Welt eben nicht
nur meine Vorstellung sei, sondern auch die Objektivation des Willens.
Da sich der Wille aber ohne Grund herumtreibt, entziehe er sich dem
Zugriff meiner Vorstellung, die sich streng am Satz des Grundes festhal-
ten müsse.3
Soweit Schopenhauer, der trotz seines Hinweises auf die Upani-
schaden und seines Bekenntnisses zur Lehre Buddhas ein Platoniker
und Kantianer, d. h. ein europäisch Denkender geblieben war. Er
könnte, wie eben alle Platoniker und Kantianer, sich den Gedanken
nicht leisten oder auch nur vorstellen, daß das, was man als Idee, als
Urbild, als Gott, als das Ding an sich oder auch als Wille bezeichnet, gar
nicht existent und bloß eine Vorstellung ist. Denn denkt man so, würde
man, bildlich formuliert und trotzdem wörtlich gemeint, den Boden
unter den Füßen verlieren und aus der Erscheinungswelt heraus ins
Nichts hineinfallen. Dieses Nichts aber - das ist das Entscheidende -,
das etymologisch nicht vom nihil zu trennen ist, ist im europäischen
Denken ein Abgrund, in den man nur mit Schauder - und nicht ohne
Schwindelgefühl - hineinblicken kann. Die trotzige Annahme eines
substantiellen Seienden hinter der Realität und Erscheinung ist im
Grund eine Flucht nach hinten und eine Rettungsaktion aus diesem
schrecklichen Nichts.
Aber gerade der Gedanke, daß die Welt nur eine Erscheinung
ohne das Erscheinende und eine Vorstellung ohne das Vorzustellende
und ohne den Vorstellenden sei, bildet den Grundstein des buddhisti-
schen Gedankengebäudes. Aus der Feststellung, daß etwas substanzlos
und vergänglich sei, läßt sich bei weitem noch nicht zwingend rück-
schließen, daß es etwas Substantielles und Unvergängliches geben
müsse. Vielmehr ist das Umgekehrte der Fall: Gerade weil die einzelnen
Teile, die eine bestimmte Erscheinung bilden, an sich substanzlos und
vergänglich sind, ist diese Erscheinung dazu verdammt, substanzlos und

120
.Der Wille ist meine Vorstellung"

vergänglich zu sein. Das Nichts in diesem Sinne ist nicht das Gegenteil
vom Sein, ist nicht nihil, sondern die Seinsform und Seinsstruktur
schlechthin.
Der Leib, auf den auch Buddha großen Wert legt, wird deshalb
von ihm anders analysiert. Er ist für ihn keine Objektivation irgendei-
nes Willens, vielmehr ist der Wille ein zufälliges, biologisch wie
psychisch bedingtes Produkt des Leibes, ist ein Teil meiner Vorstellung
und von meiner Vorstellung abhängig. Die Verblendung, von der der
Buddhismus spricht, wird deshalb nicht etwa von einem Willen gesteu-
ert, sie beginnt mit der Vorstellung, die dann zu einem Willen führt. Die
Lehre Buddhas bestätigt in diesem Punkt nicht die Philosophie
Schopenhauers, sondern widerspricht ihr. Das Nichts Schopenhauers ist
dementsprechend ein Nichts nach der Verneinung des Willens, das
Nichts Buddhas ist ein Nichts, das schon immer da ist und bloß von den
Menschen in ihrer Verblendung für etwas gehalten wird. Die Lehre
Buddhas beginnt mit dem Nichts, Schopenhauers (Haupt)werk wird
buchstäblich mit dem Nichts beendet.
Kommen wir nun a~t den Begriff "Vorstellung" zurück, denn
auch hier scheint die "große Ubereinstimmung" sehr problematisch. Für
Schopenhauer, der, wie gesagt, ein Kantianer war, bedeutet Vorstellung
Erkennbarkeit der Erscheinungswelt. Erkennbarkeit der Erscheinungs-
welt beruht zum einen auf meinem apriori gegebenen Erkenntnis-
apparat und zum anderen auf dem Satz vom Grund, dem die Erschei-
nungswelt unterworfen ist.
In der Lehre Buddhas ist hingegen der Begriff "Vorstellung" ein-
deutig negativ besetzt, er ist ein Synonym von Illusion, ein Zeichen der
Verblendung und das Gegenteil von "Wissen". Das erste Glied in der
Kette der Entstehung in Abhängigkeit, sprich Kausalität, wird deshalb
das Unwissen genannt, das Unwissen über die Vorstellungen, welche
immer neue Taten hervorrufen und denen wir immer wieder nachlaufen.
Auch Buddha spricht von Kausalität, aber diese Kausalität ist eine
Kausalität von Taten, welche vom Willen zustandegebracht werden, der
seinerseits wiederum von den Vorstellungen verleitet und verführt wird.
Wer nicht über Kausalität und Vorstellungen hinausgeht, der bleibt für
immer in Kausalität und Vorstellungen befangen und wird auch die
Erleuchtung nicht finden.

3. "Mitleid" bei Schopenhauer und im Buddhismus


Die einzige Ethik, welche den Namen "Ethik" verdient, ist nach
Schopenhauer die Ethik, welche auf "Mitleid" aufgebaut ist. Diese Ethik
ist eine anthropologische im Gegensatz zur theologischen und auch zur
Ethik der Imperative. Weder Gott noch die allgemeine Nützlichkeit, we-

121
Wenchao Li

der die blinde Kraft der Tradition noch der rationale Diskurs werden
hier als hinreichend für die Ethikbegründung erkannt und anerkannt.
Gemäß seiner Lehre über das Monstrum namens Wille bedeutet
Mitleid bei Schopenhauer konsequent "mitleiden". Es hat die Erkenntnis
oder vielmehr die Erfahrung zur Voraussetzung, daß alle Menschen un-
tereinander - und nicht nur sie allein - "Leidensgenossen" seien, da alle
Menschen erkenntnisgemäß Objektivationen oder erfahrungsgemäß
Spielbälle ein und desselben Willens sind. Dieser Aspekt des Mitleidens
findet seine literarische Personifizierung in Thomas Manns Hanno, der
in seinem Lehrer, dem Kandidaten Modersohn eben nichts weiter als
einen "Leidensgenossen" sieht. Um so bitterer wird dann die Erkenntnis:
"Selbst Mitleid wird einem auf Erden durch die Gemeinheit unmöglich
gemacM. ... Aber so ist es, so ist es, so wird es immer und überall sich
verhalten"4
Im Brahmanismus wird von Sat tvam asi" gesprochen. Auch auf
das Konfuzianisch-Chinesische weist Schopenhauer hin. 5 Aber ebenso-
wenig wie das kantische "Ding an sich" Schopenhauers Wille ist, eben-
sowenig wird in der Sanskrit-Formel Sat tvam asi" der Gedanke zum
Ausdruck gebracht, daß alle Wesen Objektivationen ein und desselben
Willens sind. Vielmehr bedeutet diese Formel, daß jedes Ich-Selbst,
Atman genannt, eine Emanation des göttlichen Brahma ist. Was den
Hinweis auf das Konfuzianisch-Chinesische anbelangt, hatte Schopen-
hauer dabei den Menzius im Auge, der in der Tat das Mitleidsgefühl in
jedem Menschen als Anfang von Liebe und Humanität bezeichnet. Aber
dieses Mitleidsgefühl ist intuitiv, insofern evident und frei von
Erkenntnissen. Das moralisch Gute ist demnach eine einfache Ausdeh-
nung oder Übertragung des natürlich Guten.
Wenn wir nun vom Mitleid im Buddhismus sprechen, wird die
Problematik noch deutlicher. Es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten,
die Frage zu beantworten. Erstens durch eine Analyse der Liebe zu
Tieren und zweitens durch eine Analyse des Begriffs "Maitri-Karuna",
der nach meinem Verständnis dem Begriff "Mitleid" am nächsten
kommt. Auch hier läßt sich feststellen, daß gerade der Wille Schopen-
hauer von der Lehre Buddhas unterscheidet. "Nicht töten" ist ein Gebot
und begründen läßt es sich mit der Samsara-Lehre, nach der jedes
Lebewesen, Tier wie Mensch, womöglich in Blutsverwandtschaft mit mir
gestanden hat, steht oder stehen wird. Das Gebot "Nicht töten" ist
deshalb religiöser Natur und sein letzter Grund liegt im Tabu, wenn
auch die Motivation Mitleid nicht auszuschließen ist. Was den Begriff
"Maitri-Karuna" angeht, hat er, vor allem nach dem chinesischen Ver-
ständnis, zwei Komponenten: anderen Menschen Freude zu geben und
sie vom Leiden zu befreien. Es ist also mehr ein Akt der Barmherzigkeit
und des Sendungsbewußtseins. Dieses Mitleiden ist nicht das Leiden
eines Leidenden mit seinen Leidensgenossen, wie es bei Schopenhauer

122
.Der Wille ist meine Vorstellung"

der Fall ist, sondern das Leiden eines Nicht-mehr-Leidenden mit den
Noch-Leidenden.

4. Erlösung und Erleuchtung

Die größte "Übereinstin;tmung" zwi~chen Schopenhauers Philosophie


und der Lehre Buddhas 1st der gememsame Befund, daß die Welt, oder
noch direkter gesa.gt, das Leben, vor allem das Leben des Menschen
Leiden ist. Diese Ubereinstimmung ist sogar wörtlich gemeint, den~
Passagen 9:~s Schopenhauers Hauptwerk lassen sich ohne weiteres als
deutsche Ubersetzungen insbesondere der ersten der vier "Edlen
Wahrheiten" Buddhas lesen. Die Diagnose, woher das Leiden herrührt
unterscheidet aber beide Lehren bereits. Entsprechend unterschiedlich
sind deshalb auch die Heilmittel, welche Schopenhauer und Buddha uns
Menschen verschrieben haben.
Zuerst (nochmals) kurz die Diagnose: Schopenhauers "Leiden" ist
etwas Tatsächliches, Reales und Seiendes, denn der Wille, auf dessen
Verlangen und Selbstbefriedigung das Leiden zurückzuführen ist, ist
etwas Seiendes, ist das Ding an sich. Das "Leiden", von dem Buddha
sprach, läßt sich hingegen als etwas llusionäres, Unreales und Nicht-
Seiendes verstehen und interpretieren. Die Ursache dieses Leidens ist
zwar auch der "Durst" im Sinne von "Wollen", aber die Ursache dieses
Durstes oder mit Schopenhauer gesagt, des Wollens ihrerseits sei auf die
Vorstellung zurückzuführen, die nicht erkannt hat oder nicht erkennen
will, daß es weder das, was gewollt wird, noch das, was will, in
Wirklichkeit gibt.
Diese unterschiedlichen Diagnosen haben Konsequenzen für den
Heilsweg, auf den sowohl Schopenhauer als auch Buddha letzten Endes
hinauswollen. Gerade weil Schopenhauer den Willen als das Ding an
sich und als Ursache des Leidens versteht, muß der Wille verneint wer-
den, damit der Mensch ins Nichts gelangt. Dieses Nichts, das durchaus
etwas Positives ist - um nicht zu sagen, das einzige Positive -, ist deshalb
bei Schopenhauer eine qualitative Änderung, die man erst nach der
Vemeinung des Realen erlangen kann.
In der Lehre Buddhas verhält es sich anders. Das Nichts ist hier
etwas Ursprüngliches und schon immer Daseiendes. Daß der Mensch
dies nicht erkannt hat und nicht erkennt, ist lediglich auf seine
Verblendung, aus der das Wollen und das Leiden entstehen, zurückzu-
führen. Das Sachen nach dem Nichts ist deshalb ein Suchen nach dem
Ursprung. Das Heilmittel, das Buddha verschrieben hat, lautet schlicht
und einfach: "Erkenne Dich selbst", d. h. erkenne deine Substanzlosig-
keit, deine Vergänglichkeit, die Illusion deiner Vorst~llun~, des Willens
und erkenne, daß es ein Ich oder Du im Grunde gar mcht gIbt.

123
Wenchao Li

Darin liegt höchstwahrscheinlich auch die Erklärung dafür, daß


wir unter Schopenhauers Vorschlägen für die Verneinung des Willens
nur einen finden können, der auch das Heilmittel Buddhas ist: die Denk-
weise zu ändern, eine wesentliche Veränderung im erkennenden Subjekt
herbeizuführen oder, mit Thomas Mann gesagt, dem Willen ein Schnipp-
chen zu schlagen und aus dem Sklaven den Herrn zu machen. Alle
anderen, etwa die Kunstbetrachtung, suchen wir bei Buddha vergeblich.
Aber gerade das einzige, was Schopenhauer mit Buddha verbin-
det, macht uns ebenso Hoffnung wie Schwierigkeiten. Hoffnung, weil
weder Buddha noch Schopenhauer Pessimismus oder gar Resignation
lehren; Schwierigkeiten, weil die Frage nicht beantwortet worden ist,
wie das empirische Ich, das bei Schopenhauer ein Sklave des Willens
und bei Buddha ein Gefangener der durch das Unwissen verursachten
Kausalität ist, aus der Sklaverei und Gefangenschaft herauskommen
könnte und sollte. Der Grund für diese Schwierigkeit liegt aber weder
bei Buddha noch bei Schopenhauer, sondern in der Natur der Sache. Die
Wende, die hier verlangt wird, ist erkenntnistheoretisch und logisch
nicht begründbar. Daß sie dennoch möglich ist, hat uns Schopenhauer
an Beispielen von Künstlern, Genies und Heiligen verständlich gemacht.
Was noch überzeugender ist: Durch seinen persönlichen Werdegang hat
uns Buddha gezeigt, daß der "begnadete Augenblick", der Augenblick
der Erleuchtung, auch jedem von uns "Normalen" möglich ist.

In drei Punkten habe ich versucht, kritische Bemerkungen zu Schopen-


hauers Philosophie und der Lehre Buddhas zu machen, wobei ich mehr
Wert auf die "Unstimmigkeiten" als auf die "große Übereinstimmung"
gelegt habe. Diese Unstimmigkeiten lassen sich mit einem Satz erklä-
ren: Trotz seiner selbststilisierten Außenseiterrolle in der deutschen
Philosophie war Schopenhauer ein europäisch denkender Philosoph.
Buddha hingegen war ein asiatischer Weiser. Philosophie ist nicht gleich
Weisheit, wie nicht jeder Philosoph ein Weiser ist. Philosophie möchte
begründet und Weisheit erfahren werden.

Anmerkungen
1. W 11, 186. Zu Schopenhauers Buddhismus-Kenntnis siehe N, 130 bzw. die
dort von ihm empfohlene Literatur zum Buddhismus.
2. Siehe Reinhard Margreiter, Die achtfache Wurzel der Aktualität Schopen-
hauers, in: Wolfgang Schirmacher (Hrsg.), Schopenhauers Aktualität, Wien
1988,23.
3. W 1,119 f.
4. Thomas Mann, Gesammelte Werke in 13 Bänden, FrankfurtJM. 1974, Bd. 1,
738.
5. E, 248.

124
Schopenhauer und "die Meinung der anderen"

Von Rosemarie Neumeister

Wieviel Unruhe erspart sich der, der nicht darauf schaut, was der
Nächste gesagt oder getan oder gedacht hat, sondern allein (auf
das), was er selber tut, damit eben dies gerecht ist und fromm.
Wie ein guter Läufer darf er nicht umherschauen, sondern muß
auf der Linie geradeaus laufen und nicht nach rechts und links
blicken. 1

Diese Worte führen direkt zu unserem Thema. Sie stammen von Marc
Aurel, dem stoischen Philosophen auf dem römischen Kaiserthron (121-
180 n. ehr.). Sein Werk mit dem Titel Eis heaut6n (An sich selbst) ent-
hält neben Aphorismen über die stoische Naturphilosophie und Ethik
eine Fülle von Reflexionen über die Hinfalligkeit des menschlichen
Leibes, über das Leid und über das richtige Handeln.
Der Einfluß der anderen, der sich in der Berücksichtigung der
fremden Meinung niederschlägt, ist ein großes Hindernis für die Seelen-
ruhe und damit für das Glück. Sich davon freizumachen, ist ein Grund-
anliegen der Selbstbetrachtungen Marc Aurels. Es heißt dort an einer
anderen Stelle:

Dieses (Leben) aber ist dir fast abgelaufen, während du keine


Achtung vor dir selber hattest, sondern dein Glück in die
Seelen der andren Menschen verlegtest. 2

Daß Schopenhauer Marc Aurel außerordentlich schätzt, zeigt sich darin,


daß er ihn und den Kaiser Julian Apostata zusammen mit Kant als.
Philosophen bezeichnet, denen ein Thron gebührt, 3 und daß er seinem
eigenen, nur in Fragmenten auf uns gekommenen Werk mit Selbst-
beobachtungen, Lebens- und Weisheitsregeln ebenfalls den Titel Eis
heauton (An sich selbst) gibt. Schopenhauer wie Marc Aurel erkennen
die schädliche Wirkung der Meinung der anderen für die Selbstfindung
und bieten, wie später gezeigt werden soll, ähnliche Heilmittel dagegen
an.
Auch wir führen unser Leben, ob bewußt oder unbewußt, mit
dem ständigen Blick auf das Urteil der anderen. Was erstreben wir mit
Rosemarie Neurneister

unserer Selbstdarstellung anderes, als dadurch bei unseren Mitmen-


schen ein positives Bild von uns herzustellen? Was veranlaßt uns denn
jede Mode mitzumachen, wenn nicht der Wunsch, von den anderen a1~
gleichartig akzeptiert zu werden? Auch sind wir immer geneigt, der
herrschenden Meinung zuzustimmen oder uns ihr zumindest nicht offen
zu widersetzen, um nicht ausgegrenzt zu werden. Diese Disposition des
Menschen, der Meinung der Umwelt eine unangemessen große
Bedeutung zukommen zu lassen, läßt sich vortrefflich zum Zwecke des
Profits ausnutzen. Das geschieht zum Beispiel, direkt oder indirekt, in
der Werbebranche und in den Lehrgängen des Manager-Trainings.
BMW zum Beispiel wirbt für ein neues Modell mit dem Slogan "Mal mit
'nem Neuen zum Sport". Das heißt, es wird insinuiert, daß die Sports-
kameraden den neuen Wagen und damit dessen Besitzer bewundern
werden. Die FAZ behauptet von sich, dahinter stecke immer ein kluger
~opf, und vermittelt so dem künftigen Leser das Gefühl geistiger
Uberlegenheit vor anderen. Der Managertrainer Harry Holzheu stellt in
seinem Buch Gesprächspartner bewußt für sich gewinnen eine Methode
vor, wie man die Meinung des anderen in bezug auf sich selbst, die
Firma und das dort hergestellte Produkt positiv gestalten kann. Die
Quintessenz seiner Überlegung lautet:

Geben Sie Ihrem Gegenüber non-verbale, verbale und echte Zu-


wendung. Sie führt zu einer Gefühlsübertragung, die wiederum
einen guten Geschäftsabschluß zur Folge hat. 4

Also christliches Mitgefühl im Dienste der Wirtschaft! Solange wir si-


cher sein können, daß die anderen positiv über uns denken, bzw. solange
wir noch die Hoffnung haben, die anderen für uns einnehmen zu kön-
nen, ist die fremde Meinung für uns kein Unglücksfaktor, im Gegenteil,
sie scheint sogar ein Glücksfaktor zu sein. Werden wir gelobt, so malt
sich unwillkürlich süße Wonne auf unser Gesicht, wie Schopenhauer
bemerkt. 5 Den Suchtcharakter, den das fremde Lob hat, faßt Nietzsehe
in das Bild: "Er frißt das Lob aus euren Händen."6 Sobald uns aber die
negative Meinung anderer in Form von direkter oder indirekter Kritik,
Ignorierung, Herabsetzung, Beleidigung oder Verleumdung entgegen-
tritt, beginnt das echte Leiden, ein Leiden, das in Sprichwörtern,
Aphorismen, psychologischen und philosophischen Traktaten aller
Zeiten und Völker beschrieben wird. Das Sprichwort sagt es unver-
blümt: 7

Der Verleumder ist schlimmer als der Mörder (Albanien).

Ein rechter Stich heilt besser als Worte (Spanien).

126
Schopenhauer und die wMeinung der anderen"

Wörter sind auch Schwerter (Deutschland).

Der Verleumder hat den Teufel auf der Zunge, und wer ihm
zuhört, den Teufel in den Ohren <Deutschland).

Der Mund ist eine Axt, die Wunden schlägt, die Zunge ist ein
Fleischermesser (China).

Der Schriftsteller ~ermann Sudermann trifft die Sache genau, wenn er


in seinen Jugendennnerungen von dem "ätzenden Gift der Demütigung
und Verbitterung" spricht, mit dem seine Jugendfreunde ihm die leicht
verwundbare Seele durchtränkten und das Gefühl gaben, daß er "etwas
Geringeres sei als die anderen".s
So schwer das hier sichtbar werdende Leiden ist, so zahlreich
sind die Ratschläge zu seiner Überwindung. Wie wirkungslos sie aller-
dings in der Regel bleiben, beweist die fast zweitausend Jahre alte
Tradition der Trost- und Handbücher von Marc Aurel bis Dale Carnegie.
So einsichtig etwa der banale Ratschlag sein mag, den letzterer in sei-
nem Buch Sorge Dich nicht, lebe gibt, so wenig wird er doch das verletzte
Selbstwertgefühl heilen können:

Tut Euer Allerbestes und dann spannt Euren alten


Regenschirm auf und fangt damit den Regen der Kritik auf,
damit er Euch nicht hinten am Hals hinunter läuft. 9

Bei weitem einprägsamer, weil schockierender ist dagegen die folgende


Überlegung desselben Autors:

Heute ist mir klar, daß die Menschen gar nicht an dich oder
mich denken oder sich darum kümmern, was man über uns
sagt. Sie sind mit sich selbst beschäftigt: vor dem Frühstück,
nach dem Frühstück - und so weiter bis zehn Minuten nach
Mitternacht. Ein leichter Kopfschmerz, den sie selber haben,
macht ihnen weit mehr Sorgen, als ihnen die Nachricht von
deinem oder meinem Tod verursachen würde. lO

Oder, falls Dale Carnegie nicht seriös genug ist, hier ein Zitat von
Arthur Schnitzler:

Das Urteil der meisten Menschen über andere, auch solche, die
ihnen sehr nahe stehen, ist so wenig' fest und tief gegründet,
daß sie nicht erst ihre Gesinnung wechseln oder ihre
Überzeugung verleugnen müssen, um auch den besten Freund
zu verraten. l l

127
Rosemarie Neumeister

Diese Aussagen sind in ihrer Absolutheit, Plastizität und Konsequenz so


treffend, daß man bei ihnen verweilen muß und diese Wahrheit wie eine
bittere Arznei zu sich nimmt und sogar, wenn man will, ihre Wirkung
durch Wiederholen verstärken kann. Aber wird man wirklich genesen?

II

In Schopenhauers Werk nimmt die Auseinandersetzung mit diesem ur-


alten Menschheitsthema einen breiten Raum ein. Die Aphorismen zur
Lebensweisheit, die das Glück zum Gegenstand haben, sind mit diesbe-
züglichen Gedanken durchsetzt. Das vierte Kapitel ("Von dem, was einer
vorstellt") handelt ausschließlich davon. Weitere Belegstellen finden sich
im zweiten Buch der Welt als Wille und Vorstellung. Auch die Kapitel
XX ("Über Urteil, Kritik, Beifall und Ruhm"), XXII ("Selbstdenken") und
XXIII (nÜber Schriftstellerei und Stil") der Paralipomena enthalten ganz
oder teilweise Betrachtungen zum selben Thema.
Die Hälfte unserer Bekümmernisse und Ängste, so sagt
Schopenhauer 12 , geht aus der Tatsache hervor, daß wir uns um die
Meinung der anderen unangemessen intensiv kümmern, sie ist das
größte Hindernis für unser Glück. Die Quelle des wahren Glücks dage-
gen entspringt im eigenen Inneren 13 und zeigt sich nach außen in
Gestalt von Gemütsruhe, Gelassenheit, Zufriedenheit und Heiterkeit.
Das nämlich sind die Eigenschaften eines innerlich unabhängigen
Menschen, der möglichst wenig oder nichts von außen nötig hat 14 . Das
heißt, er hat mit Hilfe der Vernunft gelernt, sich zu beschränken und
eine richtige Einstellung zur naturgewollten Gemeinschaft mit anderen
gewonnen. Hier zeichnet Schopenhauer das Idealbild des autarken
Weisen, das zu erreichen wahrhaft unmenschliche Anstrengung erfor-
dert. Denn die Natur hat den Menschen in das Dilemma gestellt, daß er
einerseits ein Gemeinschaftswesen ist und daß er als dieses von der
Meinung der Mitmenschen abhängig ist, daß aber andererseits das
Unabhängigsein von der fremden Meinung die Voraussetzung seines in-
neren Friedens darstellt. Das ist die Ursache für unser und Schopen-
hauers ewiges Leiden daran. Da der zivilisierte Mensch der Gesellschaft
seine Sicherheit und seinen Besitz verdankt, bedarf er der anderen bei
allen Unternehmungen und ist auf ihr Vertrauen ihm gegenüber
angewiesen:

Der Mensch für sich allein vermag gar wenig und ist ein ver-
lassener Robinson, nur in der Gemeinschaft mit anderen ist
und vermag er viel,l5

128
Schopenhauer und die "Meinung der anderen"

Deshalb ist die gute Meinung der anderen über ihn von hohem Wert und
der Trieb, sie zu erringen, etwas Angeborenes, zum Überleben des
Individuums in der Gruppe Notwendiges. 16 Obwohl Schopenhauer die-
sen fundamentalen Zusammenhang erkennt, bewertet er die Berück-
sichtigung der fremden Meinung als eine natürliche und angeborene
Verkehrtheit 17 , Schwäche, Torheit 18 , Manie, ja sogar als Sucht. Die
Eigenschaften, in denen diese Sucht zutage tritt, sind Ehrgeiz, Eitelkeit
und Stolz, sie sind die Triebkräfte, die das krankhaft empfindliche
Selbstgefühl 19 zur Erregung der günstigen Meinung anderer in seinen
Dienst stellt.
Als Beispiel dafür, bis wohin sich das Bemühen darum verstei-
gen kann, führt Schopenhauer das Verhalten zweier zum Tode Verur-
teilter an, die sogar noch kurz vor der Hinrichtung ihr Verhalten auf das
Urteil der Menge ausrichten: Der eine erweist dem Publikum durch
Verbeugen seine Reverenz, und der andere bedauert, daß er sich nicht
mehr rasieren konnte. 2o Doch ob die Meinung der anderen günstig ist
oder ungünstig, Lob und Tadel "hängen am selben Faden"21, d. h. sie
treffen unsere Eigenliebe und machen uns somit abhängig. Ob wir
Geringschätzung, Zurückweisung, Nichtachtung, Neid oder Haß erfah-
ren, was uns Verdruß, Sorge und Kummer bereitet, oder Lob, Beifall,
Titel, Orden, Ämter und Würden erlangen, was uns erfreut, befriedigt
und für den Augenblick beglückt, es ist dasselbe. Denn die Erlangung
eines positiven Urteils kostet uns "Ruhe, Reichtum und Gesundheit, ja
das Leben".22
Dieser Verkehrtheit sagt Schopenhauer den Kampf an, von die-
ser Torheit will er die Menschen bekehren, die Empfindlichkeit durch
gehörige Überlegungen mäßigen, ja sie auf ein Fünfzigstel herabmin-
dem. 23
Die erste Attacke gilt dem fremden Bewußtsein als solchem.
Dieses fremde Bewußtsein dem eigenen überzuordnen, ist die erste
falsche Vorstellung, ist doch die Beschaffenheit unseres eigenen
Bewußtseins unmittelbar für unser Glück verantwortlich, das Bewußt-
sein Fremder aber nur mittelbar. 24
Die zweite Attacke besteht in der Disqualifizierung dieses frem-
den Bewußtseins, dieses unseres ~bbildes in den Köpfen anderer". Wer
sind denn diese anderen? Es ist die urteilslose, betörte Menge 25 • der zu-
sammengelaufene Haufen der Gaffer, der große Haufen mit "blutwenig
Urteilskraft und selbst wenig Gedächtnis".26 Es sind die Philister, also
die Spießbürger. Da ihr Kopf ein "elender Schauplatz" ist, kann ihre
Meinung nur minderwertig sein, falsch, verkehrt, irrig, absurd und un-
günstig. 27 Es kommt noch hinzu, daß das Bild von uns nicht einheitlich
ist, denn in jedem Kopf spiegelt sich unser Wesen anders: "Die Y"ert-
schätzung ist ein Produkt aus dem Werte des Geschätzten mIt .der
Erkenntnissphäre des Schätzers".28 Oder in den Worten von HelvetlUs,

129
Rosemarie Neurneister

hier von der Seite des Publikums aus 29 : "Le degre d'esprit necessaire
pour nous plaire est une mesure assez exacte du degre que nous avons."
(Das Maß von Geist, das erforderlich ist, um uns zu gefallen, ist ein
ziemlich genauer Gradmesser für das Maß von Geist, das wir besitzen.)
Und zur Stützung seiner Thesen zitiert Schopenhauer Autoritäten:

Sokrates, der eine Beleidigung mit den Worten abwiegelt: "Was der
sagt, paßt nicht aufmich."30

Diogenes und Chrysipp, die fordern, daß man um seines guten Rufes
willen nicht einmal einen Finger krümmen dürfe. 31

Helvetius, der das Geschätztwerden durch andere als ein Streben


nach Vorteilen entlarvt. 32

Die dritte Attacke gilt den Erscheinungsformen der Meinung anderer.


Diese werden analysiert und dadurch relativiert:

Kollektiver Neid: Der Neid ist die Seele des überall florierenden, still-
schweigend und ohne Verabredung zusammenkommenden Bundes
aller Mittelmäßigen gegen den einzelnen Ausgezeichneten jeder
Gattung, der sich in der Ignorierung großer Verdienste äußert
(silentium livoris),33

Ruhm: Er beruht darauf, was einer im Vergleich mit den übrigen ist,
damit ist er wesentlich ein Relatives 34 . Nicht Ruhm, sondern das,
wodurch man ihn verdient, ist das Wertvolle. Er selbst ist nur Echo,
Schatten, Abbild, Symptom des Verdienstes.

Ehre: Der Mensch, der für ein taugliches Mitglied der Gesellschaft
gelten will, muß erkennen, daß er es nicht in der eigenen, sondern in
der Meinung der anderen sein muß.35

Rang: Er ist ein konventioneller, simulierter Wert, eine Komödie für


den großen Haufen,3s

- Orden: Sie sind Wechselbriefe, gezogen auf die öffentliche Meinung.


Ihr Wert beruht auf dem Kredit der Aussteller. 37
Aus diesen Definitionen wird einsichtig: Die fremde Meinung ist kein
echtes Urteil, sondern sie unterwirft den Geehrten oder Verachteten ei-
nem Scheinurteil.
Hat man durch Vernunftanalyse Meinungsträger und Meinungs-
äußerungen gleichermaßen relativiert, gilt es, auf einem anderen Schau-

130
Schopenhauer und die .Meinung der anderen"

platz zu kämpfen und weitere Gegenstrategien zu entwickeln, nämlich


im eigenen Selbst: Man muß sich zurückbesinnen auf die eigentlichen
Werte, auf das, was man ist:

Denn überhaupt ist die Basis unseres Wesens und folglich unseres
Glücks unsere animalische Natur und damit unser persönlicher
Zustand, wie er durch Gesundheit, Temperament, Fähigkeiten,
Einkommen, Weib, Kind, Freunde, Wohnort bestimmt wird. 3B

Diese realen persönlichen Vorzüge gilt es sich ständig bewußt zu ma-


chen, das muß man selbst übernehmen, denn sie werden nicht ständig
sinnlich von außen durch Rang, Orden und Titel in Erinnerung ge-
bracht. Ja, man soll Stolz entwickeln auf seine eigenen echten Vorzüge,
die Bescheidenheit ablegen und den eigenen überwiegenden Wert, dem
die anderen die Anerkennung versagen, selber bewundern. 39
Aber Schopenhauer gibt uns auch Ratschläge ganz pragmati-
scher Art. Der Rückzug aus der Öffentlichkeit in die Einsamkeit etwa ist
ein probates Mittel. Die Einsamkeit hat einen überaus wohltuenden
Einfluß auf unsere Gemütsruhe, der größtenteils darin besteht daß sie
uns dem fortwährenden Leben vor den Augen anderer entzieht und uns
dadurch uns selbst zurückgibt. 40 Die Einsamkeit, der Schopenhauer in
den Aphorismen zur Lebensweisheit auch in dem Kapitel "Unser Verhal-
ten gegen uns selbst betreffend" eine zentrale Stellung als Glücksfaktor
einräumt, ist dem Menschen nicht ursprünglich, sondern eine Folge der
Erfahrung und des Nachdenkens. Epikur sagt dazu im gleichen Sinne:
"Dann besonders ziehe Dich in Dich selbst zurück, wenn Du gezwungen
bist, unter der Menge zu leben."41
Da wir geneigt sind, uns vergangene Kränkungen des Selbst-
gefühls immer wieder ins Gedächtnis zu rufen, so daß die Wunde immer
wieder aufgerissen wird, rät uns Schopenhauer zur Seelenhygiene. Man
muß sich förmlich zwingen, sich nicht daran zu erinnern, man muß die
Phantasie zügeln, denn durch mentale Wiederholung wird "dieser Pöbel"
der Seele immer wieder "zum Tumult aufgeregt".42 Und gesetzt den Fall,
daß wir von jemandem gekränkt werden, dessen gänzliche Inkompetenz
wir kennen, so richtet die vernunftmäßige Einschätzung wenig aus,
denn die Wirkung des Gegenwärtigen und Anschaulichen ist stärker als
alles Gedachte. Um dem entgegenzuwirken, schlägt Schopenhauer vor,
noch unter dem sinnlichen Eindruck der Kränkung Leute aufzusuchen,
die uns hochschätzen und die den positiven Sinneseindruck dagegen-
setzen, der dann den alten auslöscht. 43
Bleibt noch der letzte Rat: Bei jedem Gesprächspartner soll man
durch kalte Beobachtung des Gegenübers und im Bewußtsein der
Unbedeutendheit des Redenden und seiner Ansichten die Gelassenheit

131
Rosemarie Neurneister

einüben und trainieren, denn das Verhalten anderer uns gegenüber


zeigt uns nicht, wer wir sind, sondern ~er sie sind. 44
Schopenhauers Methoden zur Uberwindung des Leidens an der
Meinung anderer lassen sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen:
Durch sie soll eine Trennungsmauer zwischen dem Ich und der
Gemeinschaft errichtet werden. Konkrete örtliche Trennung entsteht
durch Rückzug in die Einsamkeit. Psychologische Distanz wird herge-
stellt durch Herabsetzung der Meinungsträger und ihrer Meinungen
und dadurch, daß das eigene Bewußtsein deutlich vom fremden Bewußt-
sein abgesetzt wird. Schließlich wird die Trennungslinie auch dem
Gedächtnis auferlegt: durch das Verbot der Erinnerung an Kränkungen.
Darin stimmt er mit Marc Aurel überein, dessen Maxime lautet:
Anechou kai apechou. Das heißt: "Ertrage Deine Mitmenschen, nimm sie
hin, wie sie sind, aber lasse sie nicht zu nahe an Dich herankommen,
distanziere Dich!"45
Hat dann aber für Schopenhauer die Meinung der anderen keinerlei
positive Seite? An zwei Stellen der Aphorismen 46 schreibt er ihr gute
Wirkungen zu. Weil sie die Ehre betreffe, sei sie als Surrogat der Mora-
lität ein Stimulans des Wohlverhaltens. Außerdem könne das Betragen
anderer gegen uns einen "modifizierenden" Einfluß auf unser eigenes
inneres Wesen haben 47 , oder, wie C. G. Jung formuliert: "Das Urteil der
anderen ist nicht eo ipso ein Wertmaßstab, sondern gegebenenfalls nur
eine Information nützlicher Art."48 Überdies gibt es eine einzige Äuße-
rung der Meinung der anderen, die Schopenhauer für wahr und unbe-
stechlich hält: den Nachruhm. Der Nachruhm nämlich folgt dem echten
Verdienst, weil die subjektiven Beweggründe zum Loben des Falschen
weggefallen sind, als da sind Schmeichelei, Kameraderie, Zeitgeist. Der
große Nachteil besteht allerdings darin, daß der Gerühmte nichts mehr
davon hat. 49

III
Soweit die Theorie. Und Schopenhauer selbst - hat er diese Ratschläge
befolgt? Und konnte er, der alle Faktoren vernunftgemäß richtig ein-
schätzte, seinem wahren inneren Glück leben?
Nein, sein Verhalten der fremden Meinung gegenüber war ambi-
valent, er war zugleich siegreich und unterlegen, immun und empfäng-
lich, unabhängig und abhängig, abwiegelnd und gierig aufsaugend,
weise und naiv, die Nichtachtung provozierend und doch darunter lei-
dend.
Wenn Schopenhauer von den anderen spricht, so meint er immer
das Publikum, für das sein Werk, mit dem er sich identifiziert, bestimmt
ist, nicht bestimmte Individuen, in deren Köpfen sich die Person Arthur

132
Schopenhauer und die .Meinung der anderen"

Schopenhauer abbildet. Sein Ziel publikum sind in erster Linie die Fach-
kollegen, d. h. die Phi~osophieprofessoren, und in zweiter Linie die ge-
bildete Leserschaf~! dIe zusammengenommen die öffentliche Meinung
ausmachen. Diese Offentlichkeit aber versagt ihm vierzig Jahre lang die
verdiente An~rkenn~ng, sie ignoriert sein Werk vollständig. Es gilt also,
im Bewußtsem der eIgenen Bedeutung dieser Nichtbeachtung durch die
anderen Herr zu werden. Alle diesbezüglichen Versuche Schopenhauers
demonstrieren das Dilemma, einerseits das sachverständige Publikum,
das allein sein Werk würdigen könnte, nicht entbehren zu können und
es andererseits verachten zu müssen, weil es ihn nicht genügend wür-
digt bzw. würdigen kann. Auch C. G. Jung sieht das problematische
Verhältnis des Genies zur Menge so:

Man könnte ja vielleicht erwarten, ein genialer Mensch könne sich


an der Größe seines eigenen Gedankens weiden und auf den billi-
gen Beifall der von ihm verachteten Menge verzichten; er unter-
liegt aber dem mächtigeren Triebe des Herdeninstinktes, sein
Suchen und sein Finden, sein Ruf gilt unweigerlich der Herde und
muß gehört werden. 50

Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung erscheint


erstmals 1819. Von diesem Werk heißt es im Vorwort zur zweiten
Auflage, 25 Jahre später, daß es die Gesamtdarstellung seiner Philo-
sophie enthalte und daß im Prinzip später nur Unwesentliches verän-
dert bzw. hinzugefügt worden sei. Er charakterisiert es als ein neues
philosophisches System, aber neu im ganzen Sinne des Wortes, nicht
eine neue Darstellung des schon Vorhandenen, sondern eine im höch-
sten Grade zusammenhängende Gedankenreihe, die bisher noch nie in
irgendeines Menschen Kopf gekommen sei (so in einem Anfragebrief an
den Verleger Brockhaus).5 1 Dieses einmalige Werk nun erleidet das
Schicksal, in der ersten Auflage größtenteils als Makulatur zu enden,
wie kurz zuvor die Schrift Die vierfache Wurzel des ~~tzes vom zurei-
chenden Grunde. Um dieses totale Scheitern in der Offentlichkeit zu
bewältigen, legt sich Schopenhauer Erklärungen zurecht, die in fast al-
len folgenden Werken immer wieder unvermittelt hervorbrechen und die
dem Leser in ihrer Heftigkeit oft unpassend erscheinen. In der Rück-
schau (Fragmente zur Geschichte der Philosophie) erfährt die Ruhm-
losigkeit folgende Deutung:

Beim Eintritt ins Leben hatte mein Genius mir die Wahl ge-
stellt, entweder die Wahrheit zu erkennen, aber mit ihr nie-
mandem zu gefallen, oder aber mit den anderen das Falsche
zu lehren, unter Anhang und Beifall. 52

133
Rosemarie Neurneister

1859, also 40 Jahre später, faßt er im Vorwort zur dritten Auflage das
Schicksal seines Werkes zusammen:

Das Wahre und Echte würde leichter in der Welt Raum ge-
winnen, wenn nicht die, welche unfähig sind, es hervorzu-
bringen, zugleich verschworen wären, es nicht aufkommen zu
lassen .... Für mich ist seine Folge gewesen, daß, obwohl ich
erst 30 Jahre zählte, als die erste Auflage dieses Werkes er-
schien, ich diese dritte nicht früher als im zweiundsiebzigsten
erlebe.5 3

Dies ist der erste taktische Schritt, das gekränkte Selbst zu stärken. Die
Alternative "Wahrheit wird ignoriert, Falsches wird geehrt" wird ihm
der hauptsächliche Trostgedanke, der in Varianten das ganze Werk
durchzieht. Da der Ruhm ausbleibt, muß man sich trösten mit dem
Gedanken, ihn verdient zu haben. 54 Der zweite taktische Schritt, den
Schopenhauer nicht nur anderen vorschlägt, sondern auch selbst unter-
nimmt, ist der Rückzug in die Einsamkeit: 55 "Ihr könnt mir nichts sein,
ich euch nichts."56 Aber diese vernunftgemäße Steigerung des Selbst-
wertgefühls und das Aufsuchen der Einsamkeit reichen nicht aus. Wie
soll man es mit Gelassenheit ertragen, vierzig Jahre lang von der Aus-
einandersetzung mit der Fachwelt abgeschnitten zu sein und noch nicht
einmal interessierte Leser zu finden? Schopenhauers Temperament ist
nicht zu stoischer Duldsamkeit geschaffen. In überreichlichem Maße
macht er Gebrauch von der verbalen Herabsetzung seiner Gegner. Die
Zielscheibe seiner Wut sind die Universitätsphilosophen allgemein und
insbesondere die Einzelphilosophen, die als Jahrhundertgeister geprie-
sen werden, vor allem natürlich Hegel. Über Ihn gießt Schopenhauer
seinen Spott, seine Invektiven aus und ist sich nicht zu schade, selbst zu
Ausdrücken der niedrigsten Art zu greifen, als da sind: Alltagskopf,
Bierwirtsphysiognomie, Ministerkreatur , Philosophaster, Scharlatan,
Unsinnschmierer, Windbeutel. Die Philosophieprofessoren apostrophiert
er als Altweiberphilosophen, Barbiergesellen, Brotphilosophen, Kost-
gänger der Philosophie, Pseudo-Philosophen, Spaßphilosophen, Mfen
der Philosophie und Schlimmeres. Damit nicht genug: Er unterstellt
ihnen, sich gegen ihn verschworen zu haben im silentium livoris, im
Stillschweigen aus Neid, der Kunst des Unterdrückens der Verdienste
durch hämisches Schweigen und Ignorieren. 57 Ein masochistischer Zug
zur Bestätigung dieses Kollektivurteils zeigt sich übrigens schon am
Anfang seiner Karriere, als er seine Vorlesung parallel zu der Regels
legt und geradezu provokativ die Hörerschaft zu seinen Ungunsten
manipuliert. So erträgt sich die Ruhmlosigkeit leichter. Unobjektive
Herabsetzungen dieser Art, die allenthalben in die philosophische Argu-
mentation eingestreut sind, wirft ihm Frauenstädt vor. Nur Die Welt als

134
Schopenhauer und die .Meinung der anderen"

Wille und Vorstellung sei frei von Polemik, und wenn man wissenschaft-
liche Wahrheiten unter Invektiven darböte, dann käme ihm Frauen-
städt, das so vor, als wenn man jemandem eine köstliche Fru~ht unter
Prügeln zu genießen gäbe. Schopenhauer erwidert darauf:

Ja, in der Jugend ist man so erhaben, aber im Alter wird's anders.
Ich h.abe 25 J ah~e lan~ di.ese ~rh~benh.eit besessen und habe ge-
schWIegen, aber Jetzt WlIIlch SIe [dIe Philosophieprofessorenl ganz
kaltblütig züchtigen. Auch ... fassen Sie mit Ihrem Gleichnis von
der Frucht, die man unter Prügeln darreicht, die Sache ganz
falsch auf; denn erstlich schreibe ich nicht für die Philoso-
phieprofessoren, die ich züchtige, zweitens ist die Peitsche, mit der
ich sie durchprügele, keine gemeine Karbatsche, sondern ver-
goldet und mit seidener Schnur umwickelt, ähnlich der seidenen
Schnur, die der Sultan zum Erdrosseln schickt.5s

Es ginge, so meint Schopenhauer, dabei alles "noch ganz anständig" ab.


Als nun aber für Schopenhauer am Ende des Lebens der Ruhm wirklich
kommt, da ist von Ruhm als Relativem nicht mehr die Rede, nicht mehr
von der urteilslosen Menge, dem Kopf der anderen als elendem
Schauplatz, da ist dieser Ruhm vielmehr das, was man eigentlich erst
vom Nachruhm erwarten dürfte, ein Ruhm, der dem echten Verdienst
folgt. Daß es dieser Ruhm ist, der die Qualität des Nachruhms hat, geht
aus einer seiner Bemerkungen zu Hebbel hervor: Er komme sich son-
derbar vor mit seinem jetzigen Ruhm, so wie im Theater, wenn es dun-
kel wird und der Vorhang aufgeht, noch ein vereinzelter Lampen-
anzünder bei der Rampe beschäftigt ist, um sich dann eiligst in die
Kulissen zu flüchten.5 9 Und über jede noch so kleine Anerkennung, die
jetzt nicht nur seiner Philosophie, sondern auch seiner Person gezollt
wird, freut er sich exorbitant, ja er ist stark um sein Bild auch in den
Alltagsköpfen besorgt. Da heißt es z. B. über eine nach Schopenhauers
Meinung mißlungene Photo graphie von earl Mylius: "Verdrießt mich,
dem großen Publico en caricature vorgezeigt zu werden. u6o Als er hört,
daß jemand sein Portrait frisch von der Staffelei weggekauft habe und
ein eigenes Haus extra dafür bauen wolle, bemerkt er halb ironisch
Frauenstädt gegenüber: "Das wäre dann die erste mir errichtete
Kapelle. u61 An David Asher schreibt er 1860: "In Böhmen ist ein Herr,
der nach eigener Äußerung mein Bildnis alle Tage frisch bekränzt!"62
Karl-Georg Baehr berichtet, daß Schopenhauer es erwähnenswert fand,
daß ein alter Herr von 85 Jahren, ein Herr de Wilde in Dresden, mit sei-
nem Namen auf den Lippen gestorben sei. 63 In einem Brief an Adam von
Doss schließlich nennt er gleich vier Zeichen seiner Zelebrität: zwei
Zeitungsartikel über ihn und die Anfertigung einer Büste durch
Elisabeth Ney und eines Kupferstichs durch Goebe1. 64 Am besten aber

135
Rosemarie Neurneister

zeigt sich sein ambivalentes Verhalten zur Mitwelt in einer Bemerkung


zu earl Mylius, dem Photographen der Leipziger Illustrirten: "Das ver-
fluchte Publikum will mich sehen, das Publikum. "65 Und er läßt sich
photographieren! Kann sich die Einheit von Verachtung des Publikums
und gleiohzeitiger Abhängigkeit von ihm besser manifestieren? Erst
Kafka wird dieses Paradoxon in seinem Hungerkünstler wieder ähnlich
eindrucksvoll vor Augen stellen.
Am Ende seines Lebens schleichen sich sogar die verhaßten
Philosophieprofessoren incognito zu Schopenhauer in den Englischen
Hof, um seinen Tischgesprächen zu lauschen, wobei sie aber, so earl
Georg Baehr, "noch immer so naiv ihre einzige brauchbare Maxime,
nämlich ,das Maul zu halten'", ihm gegenüber weiter befolgen. 66 Der
Ruhm, der nun einsetzt, ist ein verfrühter Nachruhm, er folgt allein dem
Verdienst. Schopenhauer ist im Tempel des echten Ruhms angekommen,
von dem d'Alembert sagt, daß er mit ganz wenig Ausnahmen nur von
Toten bevölkert sei, die während ihres Lebens nicht darin waren,
. während fast alle Lebenden nach ihrem Tod wieder hinausgeworfen
würden. 67 Schopenhauer ist nicht hinausgeworfen worden.

Anmerkungen
1. Marc Aurel, Wege zu sich selbst, hrsg. von W. Theiler, Reinbek 1965, Buch IV,
18 (im Wortlaut leicht verändert).
2. Ebda., Buch 11, 6
3. W 11, 179 (Kap. 17).
4. Harry Holzheu, Gesprächspartner bewußt für sich gewinnen, Düsseldorf 1984,
175-185.
5. PI, 375.
6. Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, München 1955. Bd. 2, 397 (Also
sprach Zarathustra, 2. Teil).
7. Sprichwörter der Völker, hrsg. von K. Rauch. München 1965.
8. Hermann Sudennann, Das Bilderbuch meiner Jugend, FrankfurtJM. 1990,52.
9. Dale Carnegie, Sorge dich nicht -lebe! BernlMünchenlWien 27 1976,217.
10. Ebda., 214.
11. Arthur Schnitzler, Aphorismen und Betrachtungen, FrankfurtJM. 1967,167.
12. PI, 379.
13. PI, 355.
14. PI, 353.
15. PI, 385.
16, PI, 388.
17. PI, 381.
18. P I, 379.
19. P I, 379.
20. PI, 380.
21. P I, 376.

136
Schopenhauer und die "Meinung der anderen"

22. PI, 378.


23. P I, 381.
24. P I, 377.
25. PI, 425.
26. PI, 384.
27. PI, 381.
28. P I, 477.
29. PI, 478.
30. PI, 402.
31. PI, 388.
32. PI, 388.
33. P II, 491, 494.
34. PI, 423.
35. PI, 342.
36. PI, 384.
37. PI, 384.
38. PI, 377.
39. PI, 424.
40. PI, 381.
41. Epikur, zitiert bei Seneca, Epistula 25, 6; hier zitiert aus: Antike Weisheit,
hrsg. von E. Heimeran und M. Hofmann, München 61951, 85. Vgl. ebenso
Giacomo Leopardi, Zibaldone, hrsg. von G. Pacella, Milano 1991, Bd. III, 2583 f.
42. PI, 465.
43. PI, 470.
44. HN IV (2), 116.
45. Marc Aurel, Wege zu sich selbst, hrsg. von R. Nickel, München 1990, 120.
46. PI, 376.
47. PI, 376.
48. C. G. Jung, Mensch und Seele, hrsg. von J. Jacobi, Olten 1971,252.
49. PI, 426.
50. C. G. Jung, Mensch und Seele, a. a. 0., 192.
51. GBr, 29.
52. PI, 144.
53. W I, XXXI.
54. PI, 425.
55. PI, 351.
56. RN IV (1),247.
57. P 1,418.
58. Gespr., 97.
59. Gespr., 308.
60. Gespr., 321.
61. Gespr., 181 f.
62. GBr, 481.
63. Gespr., 252.
64. GBr, 472.
65, Gespr., 321.
66. Gespr., 249.
67. PI, 427.

137
Menschenliebe bei Schopenhauer und Nietzsche

Von Heinz Gerd Ingenkamp

1. Vorbemerkungen

Es könnte weit hergeholt und gewollt paradox scheinen, ausgerechnet


"Menschenliebe" mit dem in der Anekdote als Misanthrop karikierten
Schopenhauer zu verbinden, der den Menschen, wenn er nicht gerade
"Genie" ist, wie er den Typus seiner eigenen Art nennt, mehrfach, offen-
bar stolz auf die Formulierung, "Fabrikwaare der Natur" zu nennen im-
stande ist l und auch sonst nicht müde wird, in abwechslungsreichen
Wendungen Abträgliches über die große Mehrzahl der Individuen seiner
Gattung zu äußern (es kommt hinzu, was man über seinen Charakter,
seinen Umgang mit Familienangehörigen und Fremden und seinen
Lebensstil weiß oder zu wissen meint), und mit Nietzsehe, dem
Verächter des Mitleids, dem Anwalt der Sklaverei, der gnadenlosen
Fanfare gegen alles Zukurzgekommene und Schwache. Andererseits
kennt und bezeichnet man Schopenhauer gern als "Philosophen des
Mitleids"; Nietzsehe dagegen kennt man aus Briefen und sonstigen
Zeugnissen als liebenswürdig-herzliche und feinfühlige Persönlichkeit.
Die Anfrage gerade bei diesen beiden verliert etwas von ihrer
Paradoxie, wenn zuerst daran erinnert wird, daß man der Liebe anderer
gegenüber großzügig sein sollte. Im folgenden ist vorübergehend ver-
langt, die Intoleranz der eigenen Liebe aufzugeben und die Liebe des
anderen als Liebe anzuerkennen, wie wenig man vielleicht auch Lust
hat, sich von ihrem Gegenstand verführen zu lassen. Daß Zarathustra
das Geschöpf seiner Hoffnung liebt, also den Übermenschen, der doch
nur der wahre Mensch sein soll, der zu werden der bisherige verschlafen
hat, kann auch sein ärgster Feind nicht verkennen. Der eine liebt das
Leben, der andere das hohe Leben, und wenn es kein hohes ist, ist ihm
kein Leben lieber. Das Leben lieben beide, wie schwer es auch fällt, dies
der je befehdeten Seite zuzugestehen.
Eine zweite Vorbemerkung ist nötig, um den Vergleich zwischen
Schopenhauer und Nietzsehe in einer Frage der praktischen Philosophie
zu verteidigen. Nietzsche, besonders in seiner Gestalt als Zarathustra,
aber auch sonst, tritt als Protreptiker und Gesetzgeber auf. Bei ihm gibt
es das "Du sollst", und genau das versagt sich Schopenhauer in seiner
Ethik, die keine normative, sondern eine Tatsachendisziplin sein will
und ist. Schopenhauer rät nicht zu Mitleid und Askese - ein solcher Rat,
gar ein entsprechendes Gebot, ist ihm eine abgetane Narrheit. Er be-
Menschenliebe bei Schopenhauer und NietZBche

chreibt Seinsformen, die ein besonderes Niveau haben. Seine Ethik ist
)ntologie, der Mitleidige ist ein Seiendes auf dem Wege zu jenem
Hchts, gegen das alles Seiende anderer Art - nichts ist. Nun ist es ja
lllzulässig, eine Tatsachenwissenschaft und eine normative Disziplin zu
ergleichen. Nichtsdestoweniger ist ein Vergleich der Ethiken Schopen-
lauers und Nietzsches sinnvoll. Schopenhauers Ethik ist zwar
~atsachenwissenschaft, aber sie stellt, ohne zu predigen, doch eine
Vertordnung her: Die Tatsachen, von denen sie handelt, sind gleicher-
[laßen Werte. Wer diese Wertordnung kennt und sich von ihr belehrt
ühlt, wird z. B. wissen, daß er Mitleid empfinden müßte, ohne daß es
innvoll wäre, ihm zu sagen: "Habe Mitleid". Er weiß, daß er ein weniger
hoher" Mensch ist als der, der Mitleid erlebt. Schopenhauer, persönlich
iin eher harter Mann, hat die Größe besessen, das für sich selbst aus-
lrücklich zu akzeptieren und allgemein in folgenden, auch gegen ihn
leIbst geschriebenen Worten festzuhalten:

Denn wie Fackeln und Feuerwerk vor der Sonne blaß und un-
scheinbar werden, so wird Geist, ja Genie, und ebenfalls die
Schönheit, überstrahlt und verdunkelt von der Güte des Herzens .
... Sogar der beschränkteste Verstand, wie auch die groteske
Häßlichkeit, werden, sobald die ungemeine Güte des Herzens sich
in ihrer Begleitung kund gethan, gleichsam verklärt, umstrahlt
von einer Schönheit höherer Art, indem jetzt aus ihnen eine
Weisheit spricht, vor der jede andere verstummen muß .... Was ist
dagegen Witz und Genie?2

~s ist deutlich zu hören, daß in Schopenhauers Augen das Leben der


Jüte des Herzens das "hohe" Leben ist; es ist bewertet und ist nun
Maßstab für unser Verhalten, und so können wir es mit Nietzsches
,hohem" Leben vergleichen. "Hohes" Leben ist für Schopenhauer Leben
In Liebe, und in einer aus sich herausgewandten Liebe, die, Tat gewor-
ien, helfende und heilende Liebe ist, ob wir es wollen können oder nicht.
Dies zur Apologie des Themas (vgl. unten, Nr. 4). Das folgende
soll die Arten der Menschenliebe im Konzept zweier historisch und
systematisch zusammengehörender Denker beschreiben. Dabei läßt sich
bei der Beschreibung des Schopenhauerschen Weges wieder eine gewisse
I'rockenheit nicht vermeiden. Da nämlich in seinem Denken jeder
Gedanke mit allen anderen zusammenhängt, kommt man nicht darum
herum, sich wenigstens einen schmalen Pfad durch seine Metaphysik zu
bahnen, wenn man zu einer speziellen Antwort seiner Ethik kommen
will.

139
Heinz Gerd Ingenkamp

2. Menschenliebe im Kontext von Schopenhauers Dogma

Schopenhauer formuliert den von ihm als solchen gesehenen Grundsatz


der Ethik in herkömmlicher Weise als Postulat und versucht dann, die
metaphysische Grundlage für die Handlungen zu finden, die diesem
Postulat folgen (dem man allerdings, wie er immer wieder sagt, nicht
folgen wollen kann, sondern dem man tatsächlich folgt, wenn man ein
Mensch von entsprechendem Wesen ist). Er formuliert diesen Satz la-
teinisch, sicherlich, um ihn alten und uralten konkurrierenden Sätzen
etwa der goldenen Regel (Quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris)3:
ebenbürtig gegenüberstellen zu können. Der Grundsatz ist zweiteilig: 1.
Neminem laede, 2. imo omnes, quantum potes, iuva. 4
Schopenhauer ist also der Meinung, daß alle moralischen
Handlungen letztlich dieses Doppelpostulat oder wenigstens eine seiner
beiden Seiten befolgen. Die Erklärung dieser seiner Ansicht läuft in ei-
nem ersten Schritt darauf hinaus, daß er als die moralische Grund-
haltung, aus der allein jedes nach jener Regel vollzogene Tun fließt, das
Mitleid entdeckt. Das Mitleid, von dem Schopenhauer spricht, ist eben
die Empfindung, die fast alle unter diesem Namen begreifen. Dadurch,
daß es gerade jene moralische Grundregel ist, die unter den Oberbegriff
"Mitleid" gebracht wird, ist dieses jedoch zusätzlich definiert. Mitleid
heißt dann also die Empfindung, die davor bewahrt, anderen zu scha-
den, und die dazu führt, anderen nach Kräften zu helfen.
Ich werde später (unter Nr. 3) den Nachweis versuchen, daß der
Grundsatz "Neminem laede, imo omnes, quantum potes, iuva" eine
zweite Quelle haben kann, die ihn dann zu einem außermoralischen
Satz macht. Dieser Nachweis stützt sich auf Schopenhauer, kann sich
aber nicht unmittelbar auf entsprechende Erklärungen des Philosophen
berufen. Festzuhalten ist, daß Schopenhauer von unser aller Mitleid
spricht, einem simplen Gefühl angesichts fremden Leides; er hat keinen
eigenen Mitleidsbegriff. Aber er wird dieses Mitleid genauer erläutern.
Er zeigt, daß ihm wiederum etwas zugrunde liegt, das kein Gefühl mehr
ist, sondern etwas anderes: eine Erkenntnis.
In der Nachfolge Kants ist er bekanntlich der Auffassung, daß es
unser Intellekt sei, der die Welt in der uns bekannten Form "entstehen
läßt", eben als eine Welt, in der es viele verschiedene, individuelle
Dinge, Kräfte, und Gefühle gibt, die alle nebeneinander stehen oder
aufeinander folgen, die gelegentlich zusammen auftreten, sich auch ent-
zweien, und vor allem eins sind: einzeln. Seine über Kant hinaus-
führende Leistung sieht er darin, daß er nicht bei dieser kritischen
Position haltmacht, sondern - über eine bestechend einfache Methode -
eine Antwort auf die Frage findet, was die Welt denn unabhängig von
der Tätigkeit unseres Intellekts ist. Da Vielheit und Individualität
Funktionen unseres Intellekts sind, ist die Welt jenseits der Erfahr-

140
Menschenliebe bei Schopenhauer und Nietzsche

barkeit durch unseren Intellekt jedenfalls nicht vielfältig und in lauter


Individuelles aufgespalten, sondern sie ist eines oder sogar noch unter-
halb der Einheit, da auch Einheit eine Funktion unseres Erkenntnis-
apparats ist. Die Welt an sich ist also nicht vielfältig, und man sagt am
besten, der Einfachheit halber, sie sei eines.
Eine weitere Aussage betrifft das Wesen dieses Einen. 5 Für
Schopenhauer ist es - und damit die erscheinende Welt insgesamt dieja
dieses Eine ist, wie wir es nach der Zubereitung durch unseren In'tellekt
vorstellen - in jedem kleinsten QuantumS "an sich" chaotisch. Nun denkt
man sich das Chaos als ein zwar inwendig ungeordnetes, aber doch
irgendwie durch eine Grenze abgeschlossenes Gebilde, weil man
gezwungen ist, sich alles, was man sich vorstellt, als irgendwie gestaltet
vorzustellen.1 Schopenhauers Welt und damit jedes Schopenhauersche
Weltquantum ist aber in gar keiner Weise gestaltet. Jedes Weltquantum
steht, was Gestalthaftigkeit angeht, "an sich" unterhalb dessen, was wir
uns als Chaos vorstellen müssen. Die nötige Gestaltlosigkeit muß auch
als Grenzenlosigkeit und ferner muß die Bewegtheit der Quanten im
Blick bleiben, die ihnen durchaus zukommt, während der gewöhnliche
Begriff vom Chaos auch das Durcheinander von Ruhendem zu denken
erlaubt.
Bisher liegen also zwei Daten vor: Die Welt ist "an sich" eines
und wesentlich Chaos in dem soeben beschriebenen Sinn.
Sodann ist das bewegte Chaos ein Chaos von wirren Bestrebun-
gen. Das Wesen der Welt ist ein irrer und wirrer "Wille", wie Schopen-
hauer sich ausdrückt. Alles, was erscheint, ist dieser Wille, geformt
durch die Funktionen - Schopenhauer kann auch sagen "Organe" -
unseres Intellekts.
Zu den bisherigen Daten tritt nun, als Vorstufe eines weiteren,
ein von Schopenhauer als solcher gesehener Schluß, der allerdings wohl
eher ein in die Ontologie hineingetragenes Werturteil ist. Der Schluß
lautet: Da das Seiende ein Chaos von wirren Bestrebungen ist und diese
Bestrebungen in ihrer Wirrheit niemals zum Ziel kommen, ist es, eben
wegen der Ziellosigkeit der es konstituierenden Bestrebungen und we-
gen des Ausbleibens von Erfüllung, notwendig Leiden. Es wäre besser,
wenn es dies leid(lnde Chaos nicht gäbe. Dies Urteil, als welches sich der·
Schluß entpuppt, läßt platonischen Geschmack spüren. Das letzte
Datum, eine crux der Schopenhauerinterpretation, lautet dann: Eine der
durch den Intellekt erzeugten Erscheinungsformen des Weltchaos, näm-
lich der Intellekt selbst, kann sich von seiner eigentlichen Aufgabe, die
darin besteht, der Tendenz des Seienden zu dienen (d. h. zur Steigerung
des Chaotischen im Chaos beizutragen), losreißen und - in günstigen,
von ihm selbst nicht zu beeinflussenden Momenten - sehen, ohne abhän-
gig zu sein von seinen eigenen Instrumenten, Raum und Zeit, mit denen
er unsere in vielfache Erscheinungsformen auseinan:dertretende Welt

141
Heinz Gerd Ingenkamp

schafft. Er sieht dann die wahre Einheit alles Seienden hinter der er-
scheinenden Vielheit - und die Leidhaftigkeit dieses Einen. Schopen-
hauer glaubt nun, daß jeder Mensch befähigt ist, jedenfalls gelegentlich
durch den Vorhang zu sehen, den der Intellekt vor die Welt an sich
hängt, wenn dieser die Welt so schafft, wie sie vorgestellt wird. Dies ge-
schehe im Mitleid. Der Mitleidige sehe sich im anderen, Leidenden und
empfinde dessen Leid als seines nicht infolge eines Analogieschl~sses
oder eines natürlichen Reflexes, sondern auf Grund einer die Mittel und
Wege seines Intellekts überschreitenden Erkenntnis, die ihm die grund-
sätzliche Identität alles Seienden und den Trug aller Individuation ent-
hülle.
Diese Diagnose relativiert das Mitleid nicht. Empfindet man
echtes Mitleid, so hat man die Individuation als Trug durchschaut, ob
man dies nun selber erkennt oder nicht. 8 Die zum Mitleid führende
Erkenntnis braucht aber auf dieser Stufe nicht stehenzubleiben. Sie
kann weiter führen und das Wesen der Welt insgesamt erfassen. Diese
weiterführende Erkenntnis läßt das tiefere Wesen des Mitleids erfassen;
deshalb muß hier kurz darauf eingegangen werden. Sie sieht, wenn sie
sich auf das Seiende im ganzen richtet, daß dies hinter seiner
scheinbaren Ordnung und relativen Gelassenheit jene chaotische
Leidensstruktur hat, von der die Rede war. Die Folge dieser Erkenntnis
ist die grundsätzliche Abkehr von allem Sein, was sich darin zeigt, daß
ein so Erkennender, je nach der Intensität und Dauerhaftigkeit seiner
Erkenntnis, nicht mehr sein will, das Sein nicht mehr will, und mehr
und mehr alles unterläßt, was sein individuelles Sein zu erhalten oder
gar zu fordern geeignet wäre. Ein solcher Mensch ist ein Asket oder, in
Schopenhauers Terminologie, ein Heiliger, und hat, wenn er dies wirk-
lich ist, schon in seinem Leben, insofern er dieses nicht will, die
Erlösung von diesem Leben und von allem Sein erreicht. Erst diese
Seinsstufe erreicht den Gipfel des dem Menschen möglichen werthaften
Seins.
Das Mitleid, dem dieselbe Erkenntnis in einem geringeren Grad
der Tiefe und der Allgemeinheit zugrundeliegt, und die auf dem Mitleid
beruhende Kardinaltugend der Menschenliebe - und damit auch schließ-
lich das mit dem Satz "Neminem laede, imo omnes, quantum potes,
iuva" umschriebene moralische Verhalten - ist durch die wesentliche
Gleichartigkeit mit jener Erkenntnis des Heiligen aber nun unver-
kennbar definiert. Mitleid und Menschenliebe (und damit jedes Nicht-
verletzen eines anderen um dieses anderen willen, jede Hilfe für ihn um
seinetwillen) bedeutet, daß der Vorhang, den die alltägliche Vorstellung
über alles und jedes wirft, durchschaut ist und die Einheit alles Seien-
den gesehen wird. Die vorgeordnete, aus der Wesensgleichheit mit der
Erkenntnisweise des Heiligen fließende Definition ergibt, daß eben dies
Durchschauen des Vorhangs unserer Welt selbstaufgebend und selbst-

142
Menschenliebe bei Schopenhauer und NietzBche

aufhebend ist. Die gesamte Erkenntnisweise, die zur werthaften Hand-


lung führt, ist, was die je eigene Existenz angeht, selbstverneinend - die
zu Mitleid und Menschenliebe führende begrenzt und bedingt, die zur
Heiligkeit führende unbegrenzt und endgültig. Mitleid ist also ein _
wenn auch noch vom Mitleidigen selbst kaum je geahnter - Schritt zum
Nein zu sich selbst auf Grund einer "meta"-intellektuellen Einsicht in
das Wesen alles Seienden. Und in letzter Konsequenz bedeutet dies daß
die Menschenl.~ebe aus einer Erkenntnis stammt, die bei hinreich~nder
Klarheit und Uberzeugungskraft zur Selbstaufgabe der Menschheit im
ganzen führen könnte.
Schopenhauer steht mit seiner Auffassung von Selbstaufgabe
und Selbstaufhebung als Grundlage werthaften Handeins in einer lan-
gen Tradition, die im Abendland mit den Pythagoreern und Orphikern 9
begann und in Platon lO einen ihren größten Vertreter fand. Die im neu-
testamentl~~hen Christentum spürbaren Züge dieser Auffassung sind
durch die Ubernahme platonischen Gedankenguts durch die Kirchen-
väter möglicherweise verschärft worden. Ziel ist "Reinheit", diese
Reinheit will die Auflösung des Kompositums "Mensch", zunächst also
ein Nein zum Körper, dann zur Welt, aber dies Nein wird in dieser
Tradition zu einem Ja umgedeutet, während das Ja zur Welt ein Nein
wird. Mit Gedanken eben dieser Art schließt Schopenhauer den ersten
Band seines Hauptwerks.

3. Eine Menschenliebe neben Schopenhauers Dogma

Das Schopenhauersche Konzept von Menschenliebe gehört zu


einer Art von Verhalten, das einen ontologischen Sonderstatus offenlegt
- die Verneinung des Willens, des Ansich der Welt, durch ein Vermögen,
das als solches in die Erscheinungswelt gehört, den Intellekt, der sich
aber unter gewissen Bedingungen vom Willen lösen und zu einer sich
auf und gegen den Willen richtenden Erkenntnis kommen kann. Jedes
auf solcher Erkenntnis beruhende Verhalten ist "moralisch". Nun mag
man fragen, ob Menschenliebe unbedingt moralisch sein muß. Vor allem
derjenige wird so fragen, der in sich die Anlage zur Menschenliebe und
vielleicht auch ihr Vorhandensein spürt, andererseits aber einen Hang
zur Verneinung des Lebens weder in sich feststellen kann noch auch ein
solches Gefühl bejahen würde, wenn es ihm zu Bewußtsein käme.
Schopenhauer könnte antworten, es sei gleichgültig, was der Betreffende
sich denke oder empfinden wolle: Wo echte Menschenliebe vorliege, han-
dele es sich um selbstverneinende Menschenliebe. l l Der dogmatische
Anhänger Schopenhauers kommt um diesen Bescheid nicht herum. Es
gibt aber andere legitime Zugänge zu einem philosophischen Werk als
den "schriftgelehrten". Ein Werk kann auf seine Möglichkeiten hin un-

143
Heinz Gerd Inger.kamp

tersucht werden, und da?ei kann sich We~teres un~ Andersartiges erge-
ben als das, was dogmatisches RekonstrUIeren allem zu akzeptieren zu-
läßt, ohne daß dies Weitere und Andersartige dem geistigen Besitz des
Werkes abgesprochen werden kann.
Somit ist die Frage: "Kann Menschenliebe nicht z. B. naturgege-
ben und somit lebensbejahend sein?" zwar am Dogma, vielleicht aber
nicht am Werk vorbei gestellt. Liebe überhaupt ist ja für Schopenhauer
einerseits agape, caritas, wie auch Schopenhauer unterscheidet, ande-
rerseits eros, amor; erstere ist moralisch, da auf einer zur Willensver-
neinung führenden Erkenntnis beruhend, letztere ist willens- und
lebensbejahend wie wenige andere Empfindungen. l2
Schopenhauer kennt in der Tat eine Metaphysik von Formen der
Liebe, die nicht selbst- und weltverneinend sind. Dazu gehört die Liebe
gemäß dem "Sinn der Gattung"13. Diese ist eine Form der Lebensbeja-
hung, aber man bejaht, während man sich selbst und seinen Gefühlen
zu folgen scheint, in erster Linie das Leben der Gattung, was sich vor
allem daran zeigt, daß man bei der Verfolgung der scheinbar eigenen
Ziele sein Leben gelegentlich sogar leichthin aufs Spiel setzt. Der "Sinn
der Gattung", wie Schopenhauer ihn nennt, wirkt so, daß er dem Indivi-
duum den Wahn einpflanzt, für sich selbst tätig zu sein, während es in
Wirklichkeit einem außerhalb seiner liegenden Zweck dient. Dieser
Wahn zeige sich am stärksten und auffälligsten in der "Geschlechts-
liebe", deren erster Metaphysiker Schopenhauer war, sodann vor allem
in der Elternliebe:

An die Erzeugung knüpft sich die Erhaltung der Brut und an den
Geschlechtstrieb die Elternliebe; in welchen also sich das Gat-
tungsleben fortsetzt. Demgemäß hat die Liebe des Thieres zu sei-
ner Brut, gleich dem Geschlechtstriebe, eine Stärke, welche die
der bloß auf das eigene Individuum gerichteten Bestrebungen weit
übertriffi. 14

In dieser Form der Liebe verneint sich der Wille zum Leben nicht, aber
er wird doch "transzendent", wie Schopenhauer sagt, "indem sein Be-
wußtseyn sich über das Individuum, welchem es inhärirt, hinaus, auf
die Gattung erstreckt".15 Es handele sich bei der Elternliebe um einen
Instinkt, und insofern sei sie nicht anzurechnen, d. h. also nicht "mora-
lisch"; sie könne auch enden, nämlich mit der "physischen Hülflosigkeit
der Kinder".16 Der sich anschließende Gedanke, von Schopenhauer m.
W. nicht weiter ausgeführt, ist dann von einiger Bedeutung: "Von da an
soll an ihre Stelle eine auf Gewohnheit und Vernunft gegründete (sc.
Mutterliebe) treten < ... >."17
Unter "Vernunft" ist das Vermögen verstanden, das uns mit
Rücksicht auf Vergangenheit und Zukunft planmäßig zu handeln er-

144
Menschenliebe bei Schopenhauer und Nietzsche

laubt. Damit ist die Schwelle zur Entwicklung oder vielleicht auch zur
Offenlegung einer Schopenhauerschen, vom Modell Elternliebe ausge-
henden Menschenliebe erreicht, die sich als ernsthafte Sorge um und für
die anderen Menschen zeigt (und sich deswegen, als ihrer selbst voll be-
wußt, wenn überhaupt, so erst im Erwachsenenalter wird einstellen
können). Modell und emotionale Grundlage dieser Menschenliebe ist
also die Elternneigung. Die Elternsorge wird sich in erster Linie auf die
lang dauernde leibliche Existenz der Kinder, ihren vitalen Nutzen und
in zweiter Li.nie auf ihre Stellung in der Gesellschaft, ihren soz'ialen
Nutzen, beZIehen. Entsprechend ausgerichtet muß man sich die
Menschenliebe vorstellen.
Als im wesentlichen mit diesen Denkansätzen Schopenhauers -
nicht seinem zentralen Dogma - zu vereinbaren bzw. sogar aus ihnen
abzuleiten betrachte ich somit die folgenden beiden Bestimmungen:
Menschenliebe besteht in der Bemühung, 1. von anderen Menschen
nicht nur Schädigungen fernzuhalten, sondern ihnen im Hinblick auf
ihre Wohlfahrt und ihre Stellung in der Gesellschaft möglichst zu
nützen, 2. der Menschheit einen möglichst langen Bestand zu sichern.
Es ist leicht zu sehen, daß der erste Satz den zwei Teilen des
Schopenhauerschen Grundsatzes der Moral entsprechen soll ("Neminem
laede, imo omnes, quantum potes, iuva"), der entscheidende, diesen
Grundsatz hier interpretierende zweite ihn aber aus der Sphäre der zur
Verneinung führenden Erkenntnis herausnimmt und ihn zur Beschrei-
bung eines Instinkt-Verhaltens macht, das, wie jedes andere auch, als
Triebbefriedigung für den Handelnden selbst einerseits lustvoll ist, ihn
andererseits aber - wie im Fall der engeren Elternliebe - bis zur Selbst-
aufopferung führen kann, die dann aber nichts mit einer Verneinung
des Willens zum Leben zu tun hätte. Diese Menschenliebe wäre danach
ein Instinktverhalten mit dem Inhalt, den Schopenhauers Grundsatz
der Moral ausdrückt.

4. Über die Vergleichbarkeit der Ethik Nietzsches und Schopenhauer

Die historischen Wurzeln oder frühen Parallelen der Schopenhauer-


schen Weltverneinungslehre - wir nannten Pythagoreer, Orphiker,
Platon - standen zu ihrer Zeit in hoffnungsloser Opposition gegen ein
völlig anderes Konzept werthaften Handelns. Es ist der Sieg des plato-
nisch gewordenen Christentums, der den Blick auf die damalige, in
klassischer Zeit ein Schattendasein führende Randgruppe von Anwälten
jener Art "Reinheit" (siehe oben S. 145) lenkt und oft die Perspektive
verwirrt. Es herrschte das Ideal Homers, Pindars, des Isokrates und der
Aristotelischen Ethik: des hochgeborenen, wohlgeratenen, kampfstarken
Individuums, das, im Verein mit Gleichen, in ruhigem Stolz es selbst

145
Heinz Gerd Ingenkamp

blieb oder wenigstens bleiben wollte, und jeweils für sich einen neuen
Kanon für großes, edles, tüchtiges Verhalten abgab. Was werthaft war
das erfuhr man, indem man auf erprobte Menschen sah, die untereinan~
der stark divergieren konnten, aber alle jene a-rationale Qualität besa-
ßen, die andere zu ihnen aufblicken ließ. Themistokles, wie er war, der
ganz andere Aristeides, wie er war - sie waren Maßstäbe (Maßstab war
keine Erkenntnis und kein PrinziplS) - so wie die meisten M;usikfreunde
heute stilistisch stark voneinander abweichende Komponisten wie Bach
Mozart, Beethoven zum Maßstab dafür machen, was in der Musik Wert
hat. Hier liegen die Wurzeln oder die frühen Parallelen der Wert-
auffassung Nietzsches, der als Altertumsforscher begonnen und sich
vielleicht in jungen Jahren nicht ganz spurenlos viel und intensiv gerade
mit Theognis, dem, wie er sagt "Mundstück des griechischen Adels"19
befaßt hat, einem der direktesten und kämpferischsten Anwälte der
Paradigmenstellung des erprobten Individuums. Nach der Antike waren
es die Menschen der Renaissance, sofern sie für diese Epoche später als
typisch galten - Nietzsche nennt gern Cesare Borgia -, dann Montaigne
und nicht zuletzt Goethe (für Nietzsche vor allem in seiner Stilisierung
durch Eckermann), die dies Ideal auf je ihre Weise lebten und lehrten.
Aber bei Nietzsche bekommt es einen neuen Klang. Es wird mit der ihm
eigenen schonungslosen Geradheit bis in seine letzten, gern übersehe-
nen Konsequenzen beschrieben, und gerade diese Konsequenzen werden
provokativ hervorgezogen und ausgemalt.
Der Vergleich zwischen Lehrmeinungen Schopenhauers und
Nietzsches bleibt problematisch, auch wenn man sich darüber verstän-
digt hat, den Gegensatz ihrer "Fächer" nicht mehr als trennend zu wer-
ten. Schopenhauer urteilt und lehrt, und seine Absicht ist, ein einziges
Urteil über die Welt und den Menschen auszusprechen und möglichst
umfassend und verständlich zu erläutern. Schopenhauers Lehre läßt
sich also weitgehend doxographisch - und sogar relativ kurz - erfassen.
Eben dies läßt Nietzsches Denken nicht oder wenigstens bei weitem
nicht im selben Grade zu. Auch er urteilt, immer und dezidiert, aber
diese Urteile werden nicht deduziert oder cum auctoritate verkündet,
sondern sind Vorlagen zu eigenen Urteilen des Lesers. Diese Partner-
schaft hat aber nichts mit einer demokratischen Diskussion zu tun;
vielmehr soll das Ja oder Nein zu Nietzsches Urteilen zunächst und vor
allem Menschen, Menschenklassen, trennen und dann, in einem zweiten
Schritt, die einen, "höheren", formen. Der von ihm als solcher empfun-
denen Unfeinheit des Prinzipiendenkens, das zwingen will, setzt er die
Zwanglosigkeit der persönlichen, bedacht formulierten Äußerung gegen-
über, die die Möglichkeit gibt, sie selbst und sich an ihr zu messen. Und
so ist jede seiner Aussagen gegen viele andere zu halten, der Sichtwinkel
ist aufzuspüren, aus dem heraus sie gemacht ist, und es ist nie ohne
Angabe dieses Sichtwinkels über sie zu reden. Beim Reden über Nietz-

146
Menschenliebe bei Schopenhauer und Nietzsche

sehe steht man selbst auf dem Spiel, und zwar jenseits der Gefahr
schlicht zu irren. '
Die Frage nach der Menschenliebe ist für Schopenhauer eine
derjenigen, wohin seine Philosophie führt, gewissermaßen ein Zielthema
seines Systems und als solches von ihm formuliert und vom Leser relativ
leicht faßbar; bei Nietzsehe tritt sie dagegen seit "Menschliches; Allzu-
menschliches" als eins von mehreren produktiv-irritierenden Zentren
seiner Denkbewegungen auf und ist von daher eigentlich nur im
Zusammenhang seiner gesamten - perspektivisch changierenden - Philo-
sophie zu betrachten.
Andererseits sucht Nietzsehe selbst den Disput mit sonstigen
Philosophen, besonders mit Schopenhauer, seinem großen Lehrer,2o und
der Teilnehmer eines Disputs kann grundsätzlich nicht verlangen, daß
ihm volles Recht wird, sondern er muß seine Ansprüche auf Verständnis
gegen die des Mitunterredners verrechnen. Schopenhauer würde
Nietzsehe zu "stellen" versuchen, würde ihn zu einem Urteil desjenigen
Typs zwingen, wie er sie selbst gefällt hat, und Nietzsche würde, wenn
er denn mit Schopenhauer spräche, sein Aspektdenken doxographisch
verkürzen lassen müssen - und dies ja im übrigen auch, wenn er nur in
einer Philosophiegeschichte normalen Umfangs figurieren wollte. So
seien also die folgenden notwendigen Simplifikationen mit doxographi-
sehen Zwängen erklärt.

5. Nietzsche über "Menschenliebe" - einige Texte

Beginnen wir auch hier mit der Ontologie, an die, wie wir sehen
werden, die Moral geknüpft ist, wenn man das Wort "Moral" hier -
ebenso unscharf wie bei Schopenhauer, aber in anderem Sinne - verwen-
den darf.
Soweit Nietzsches Vorstellung vom Wesen der Welt und ihren
Abläufen für die praktische Philosophie relevant wird, also auch z. B. für
Fragen nach der Menschenliebe, ist die Welt und jedes Weltquantum
ein, wie er es mit der ihm eigenen Fähigkeit zu treffender Formulierung
nennt, "Pathos"21, und das trennt es weit genug von allem Chaotischen.
Der zunächst poetisch wirkende Ausdruck 22 ist bei näherem Hinsehen
von hinreichender Deutlichkeit. Pathos ist Pose, ist Geste, vor allem
Stil. Der Welt und ihren Abläufen liegt ein Stil zugrunde, und man
sollte "Stil" hier dynamisch verstehen.
Modell für Nietzsches obersten, besser: einzigen Wert ist von
früh an und bleibt das Kunstwerk; sein Modell für den höchstrangigen
Menschentyp ist der Künstler. In seiner Frühmetaph~~i~, die ihr~n
Abschluß in den ersten Kapiteln der Geburt der Tragodle findet, 1st
Kunst Endziel und Rechtfertigung eines in jedem kleinsten Moment23

147
Heinz Gerd Ingenkamp

sich vollendenden Prozesses des "Ur-Einen", wie er das damals von ihm
konzipierte Weltprinzip nennt. Der Künstler selbst ist zwar beim frühen
Nietzsche noch (wie bei Schopenhauer) willenloses Medium eines meta-
physischen Vorgangs, aber der Weltgrund selbst will die Kunst - nicht
um sich von sich selbst zu erlösen, sondern um seiner Verzückung, d. h:
Befriedigung, willen:

Denn dies muss uns vor allem, zu unserer Erniedrigung und Erhö-
hung, deutlich sein, dass die ganze Kunstkomödie durchaus nicht
für uns, etwa unsrer Besserung und Bildung wegen, ausgeführt
wird, ja dass wir ebensowenig die eigentlichen Schöpfer jener
Kunstwelt sind: wohl aber dürfen wir von uns selbst annehmen,
dass wir für den wahren Schöpfer derselben schon Bilder und
künstlerische Projectionen sind und in der Bedeutung von Kunst-
werken unsre höchste Würde haben - denn nur als aesthetisches
Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt: -
während freilich unser Bewusstsein über diese unsre Bedeutung
kaum ein andres ist als die auf Leinwand gemalten Krieger von
der auf ihr dargestellten Schlacht haben. Somit ist unser ganzes
Kunstwissen im Grunde ein völlig illusorisches, weil wir als
Wissende mit jenem Wissen nicht eins und identisch sind, das
sich, als einziger Schöpfer und Zuschauer jener Kunstkomödie,
einen ewigen Genuss bereitet. 24

Der Weltprozeß ist also ein künstlerischer Gestaltungsprozeß zur


Beglükkung des Prinzips dieser Welt. Es ist Auslegung dieses Gedan-
kens ins Breite und Tiefe und keine neue Theorie, was in den achtziger
Jahren dann, vorwiegend in unveröffentlicht gebliebenen Notizen, als
Lehre vom Willen zur Macht und als damit zusammenhängende
Subjektskritik erscheint.
In einem seiner letzten vollendeten Werke, der Götzen-
Dämmerung, nimmt Nietzsche die in der Geburt der Tragödie vorge-
tragenen Gedanken auf. Nun steckt die Tendenz seiner Spätphilosophie
darin, und einer der Grundgedanken der Geburt der Tragödie klingt so:

Damit es Kunst giebt, damit es irgend ein ästhetisches Thun und


Schauen giebt, dazu ist eine physiologische Vorbedingung unum-
gänglich: der Rausch . ... Das Wesentliche am Rausch ist das
Gefühl der Kraftsteigerung und Fülle. Aus diesem Gefühle giebt
man an die Dinge ab, man zwingt sie von uns zu nehmen, man
vergewaltigt sie, - man heißt diesen Vorgang Idealisiren [dies frü-
her: das Apollinische]. ... Man bereichert in diesem Zustande Alles
aus seiner eignen Fülle: was man sieht, was man will, man sieht
es geschwellt, gedrängt, überladen stark, überladen mit Kraft. Der

148
Menschenliebe bei Schopenhauer und Nietzsche

Mensch dieses Zustandes verwandelt die Dinge, bis sie seine


Macht wiederspiegeln, - bis sie Reflexe seiner Vollkommenheit
sind. Dies Verwandeln-müssen in's Vollkommne ist - Kunst. 25

Hier liegt die Verbindung von Kunst und Macht in wünschenswerter


Klarheit; in Nietzsches Spätmetaphysik ist "Mache - als Pathos, künst-
lerischer Schöpferwille - Stil. Was immer geschieht, ist dies: "Der Wille
zur Macht in jeder Kraft-Combination, sich wehrend gegen das Stärkere,
losstürzend auf das Schwächere ist richtiger" 26, und statt aller Natur-,
Sitten- und sonstiger Gesetze gilt der Satz: "Jede Macht zieht in jedem
Augenblick ihre letzte Consequenz".27 Alles, was ist, geschieht, gewollt
wird, ist letztlich das Fazit eines äußersten Aufwandes von Macht und
sonst nichts.
Hier also, bei Schopenhauer, eine Welt, die Chaos im oben be-
schriebenen Sinn ist, dort, bei Nietzsehe, eine Welt, die Stil ist: Das ist
der erste Gegensatz, den es zu beachten gilt. Der zweite Gegensatz er-
gibt sich aus der aristotelischen Pluralität von Form und Stoff in
Nietzsches Metaphysik; Machtwille ist Wille des einen gegen das
andere; ohne das andere keine Macht. Hier richtungslose, dort gerich-
tete Bewegtheit. Das schließlich zur Entscheidung zugunsten dieser
Welt führende und so gut wie selbstverständliche Werturteil Nietzsches
besteht darin, daß diese so verstandene (Stil-)Macht notwendig den
Applaus des wohlgeratenen Zuschauers erhält, der ein vollendetes
Kunstwerk vor sich ablaufen sieht: Nietzsche denkt Macht nie ohne
Form, Schwäche dagegen ist Stillosigkeit.
Mit großer Klarheit und mit der seiner allerletzten Zeit eigenen
aggressiven Sprache formuliert Nietzsehe zu Anfang des Antichrist
(Ende 1888) zum Thema "Menschenliebe":

Was ist gut? - Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur
Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht.
Was ist schlecht? - Alles, was aus der Schwäche stammt.
Waa ist Glück? - Das Gefühl davon, dass die Macht wächst - dass
ein Widerstand überwunden wird.
Nicht Zufriedenheit, sondern mehr Macht; nicht Friede überhaupt,
sondern Krieg; nicht Tugend, sondern Tüchtigkeit [... ]
Die Schwachen und Missrathenen sollen zu Grunde gehn: erster
Satz unsrer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen.

Solcher Sätze wegen ist Nietzsehe berüchtigt - ein Blütensammler


könnte manche Parallele finden -, und für viele ist er damit auch gerich-
tet und eingeordnet. In einem weder durch poetische Qualität noch
durch Nietzschekenntnis bestechenden Gedicht an Schopenhauer heißt
es:

149
Heinz Gerd Ingenkamp

Was er lehrte, sei abgetan,


hat Nietzsche gedichtet.
Wir, die Nietzsches Schüler sahn,
die Europa fast vernichtet,
wissen, es kam umgekehrt!

Mitleid, das der Danziger lehrte,


blieb da doch als einziger Wert
- nicht: die "Umwertung der Werte" ...
Blonde Bestien: was die taugen,
sah man auf verbrannter Erde!

"Übermenschen" sollen die Augen,


ihre Hybris zu beweinen
- doch sonst nichts, nichts sonst behalten.
Mitleid! - "Herren-Völker", die's verneinen,
sind zu richten, aufzuspalten!28

Derartig vordergründigen Beifall erzwingende Phrasen mögen auf sich


beruhen bleiben. Stattdessen soll Nietzsche Gelegenheit erhalten, jene
so entsetzlich klingende Formulierung direkt und selbst zu interpretie-
ren. Was meint er mit dem Satz: "Die Schwachen und Missrathenen
sollen zu Grunde gehn: erster Satz unsrer Menschenliebe. Und man soll
ihnen noch dazu helfen"? Er läßt das Mitleid mit den Schwachen das
eine Mitleid sein und bekennt sich selbst zu einem anderen, zu einer
anderen Menschenliebe:

Unser Mitleiden ist ein höheres fernsichtigeres Mitleiden <... > Ihr
wollt womöglich -und es gibt kein tolleres "womöglich" - das Leiden
abschaffen; und wir? - es scheint gerade, wir wollen es lieber noch
höher und schlimmer haben, als je es war! < ... > Die Zucht des
Leidens, des grossen Leidens - wisst ihr nicht, dass nur diese
Zucht alle Erhöhungen des Menschen bisher geschaffen hat? Jene
Spannung der Seele im Unglück, welche ihr die Stärke anzüchtet,
ihre Schauer im Anblick des großen Zugrundegehens, ihre
Empfindsamkeit und Tapferkeit im Tragen, Ausharren, Ausdeu-
ten, Ausnützen des Unglücks, und was ihr nur je von Tiefe,
Geheimniss, Maske, Geist, List, Grösse geschenkt worden ist: - ist
es nicht ihr unter Leiden, unter der Zucht des gros sen Leidens ge-
schenkt worden? Im Menschen ist Geschöpf und Schöpfer vereint:
im Menschen ist Stoff, Bruchstück, Überfluss, Lehm, Koth, Un-
sinn, Chaos; aber im Menschen ist auch Schöpfer, Bildner, Ham-
mer-Härte, Zuschauer-Göttlichkeit und siebenter Tag - versteht

150
Menschenliebe bei Schopenhauer und Nietzsche

ihr diesen" G~gensatz? Und dass euer Mitleid dem "Geschöpf im


Menschen gIlt, dem, was geformt, gebrochen, geschmiedet, geris-
sen, gebrannt, geglüht, geläutert werden muss, - dem was noth-
wendig leiden muss und leiden soll? Und unser Mitleid - begreift
ihr's nicht, wem unser umgekehrtes Mitleid gilt wenn es sich
gegen euer Mitleid wehrt, als gegen die schÜmmste aller
Verzärtelungen und Schwächen? - Mitleid also gegen Mitleid!29

Mitleid also mit dem Schöpfer, keins mit dem Stoff, wenn er ins Feuer
des Leidens gehalten wird - kein Mitleid mit den Spänen, die fliegen
müssen und zusammengekehrt werden -, Mitleid mit dem Künstler,
wenn die Späne anfangen, ihm in die Augen zu fliegen. Natürlich heißt
das nicht, daß der Schöpfermensch, wie Nietzsehe ihn sieht, das
Schwache so ausrottet, wie es die getan haben, die in den zitierten
schlechten Versen als Nietzsches Schüler figurieren dürfen:

auch der vornehme Mensch hilft dem Unglücklichen, aber nicht


oder fast nicht aus Mitleid, sondern mehr aus einem Drang den
der Überfluss von Macht erzeugt. 30 '

Hier ist kein Widerspruch, sondern Konsequenz. "Vornehm" ist eins der
am meisten bezeichnenden Wörter Nietzsches für seinen Hochwert, ist
seine Interpretation seiner Ausdrücke "stark", ~achtvoll" usw.
Wer sind sie denn nun, diese Mißratenen, die zugrunde gehen
sollen? Etwa von vornherein die Kranken, die Krüppel, die Elenden?
Sind sie nicht viel eher die mit der großen Chance, die, die mehr als an-
dere die Möglichkeit haben, ihr Leid zur Schule ihrer Größe zu machen?
Wie steht es denn um Nietzsehe selbst? Hat er sich beim Philosophieren
vergessen? Wer denn sonst als er, der kranke, gebrechliche Mann, auf
seinen hastigen Spaziergängen, mit dem Bedürfnis nach frischer Luft
zwischen zwei Phasen unerträglicher Kopfschmerzen, ist denn Zara-
thustra? Aber die so Geprüften müssen ihren Weg zur Größe gehen, wie
jeder andere auch, und da der Mensch für Nietzsehe nicht die aus der
Schöpfung heraustretende Krone dieser Schöpfung, sondern eine Tierart
unter anderen ist,31 so protestiert er allerdings dagegen, die Gebrech-
lichen und Kranken sich, ihre Gebrechlichkeit und Krankheit gegen die
anderen, die Gesunden und Starken, durchsetzen zu lassen. In dem
Moment, wo sie etwa das wollten, wären sie mißraten im Sinne seines
ersten Gebots der Menschenliebe; ihr Wille zur Macht stünde gegen den
der "Wohlgeratenen", und da gäbe es für Nietzsehe kein Mitleid und
kein Verständnis. Mißratensein hat mit Krankheit und sonstigem Elend
an sich nichts zu tun, aber:

151
Heinz Gerd Ingenkamp

Ich nenne ein Thier, eine Gattung, ein Individuum verdorben


wenn es seine Instinkte verliert, wenn es wählt, wenn es vorzieht'
was ihm nachtheilig ist. 32 '

Wenn die.Scharen der Schwachen sich und ihre Schwachheit - die Stil-
losigkeit, die Unfähigkeit zu schaffen - durchsetzen wollen, und dies, wie
es nicht anders möglich ist, auf Kosten der dünner gesäten und für sich
stehenden Starken, dann rät Nietzsche, zurückhaltend formuliert, nicht
zu Entgegenkommen. Der kämpfende Kranke dagegen, erst recht der
bewunderungswürdige, dem die Krankheit die Grundlage der Selbst-
vervollkommnung. gibt, ist nicht mißraten, im Gegenteil. Über eins der
Exempla für den Ubermenschen, Caesar, heißt es:

Noch ein Problem der Diät. - Die Mittel, mit denen Julius Cäsar
sich gegen Kränklichkeiten und Kopfschmerz vertheidigte (!): un-
geheure Märsche, einfachste Lebensweise, ununterbrochner Auf-
enthalt im Freien, beständige Strapazen - das sind, in's Grosse
gerechnet, die Erhaltungs- und Schutz-Maassregeln überhaupt
gegen die extreme Verletzlichkeit jener subtilen und unter
höchstem Druck arbeitenden Maschine, welche Genie heisst.3 3

Man lernt diese Maßregeln also bei einem Kränklichen: So schlicht kann
der Ausdruck "Zucht des Leidens" (siehe oben S. 152) verstanden wer-
den. Die Verfechter von Werten der stillosen Art, in seinen Worten oft:
von "nihilistischen" Werten, die, die ihren oft sehr starken Willen zur
Macht zur Beförderung von "decadence" einsetzen, an erster Stelle die
Christen, die ja klein sein wollen, sind für ihn mißraten, und ihnen gilt
schließlich auch das erste Gebot der Menschenliebe, das nicht umsonst
im Antichrist steht. Ein Beispiel für den Typus des Wohlgeratenen und
sein Handeln, dem Nietzsche am Schluß mit großer Geste das für ihn
unumschränkt gültige Siegel der Größe aufdrückt, ist

Goethe - kein deutsches Ereigniss, sondern ein europäisches: ein


grossartiger Versuch, das achtzehnte Jahrhundert zu überwinden
durch eine Rückkehr zur Natur, durch ein Hinaufkommen zu::
Natürlichkeit der Renaissance, eine Art Selbstüberwindung von
Seiten dieses Jahrhunderts. <... > Was er wollte, das war Totalität;
er bekämpfte das Auseinander von Vernunft, Sinnlichkeit, Gefühl,
Wille (- in abschreckendster Scholastik durch Kant gepredigt, den
Antipoden Goethe's), er disciplinirte sich zur Ganzheit, er schuf
sich. < ... > Goethe concipirte einen starken, hochgebildeten, in
allen Leiblichkeiten geschickten, sich selbst im Zaume habenden,
vor sich selber ehrfürchtigen Menschen, der sich den ganzen
Umfang und Reichthum der Natürlichkeit zu gönnen wagen darf,

152
Menschenliebe bei Schopenhauer und Nietzsche

der stark genug zu dieser Freiheit ist; den Menschen der Toleranz
nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke, weil er Das, woran di~
durchschnittliche Natur zu Grunde gehn würde, noch zu seinem
Vortheile zu brauchen weiß; den Menschen, für den es nichts
Verbotenes mehr giebt, es sei denn die Schwäche, heisse sie nun
Laster oder Tugend ... Ein solcher freigewordner Geist steht mit
einem freudigen und vertrauenden Fatalismus mitten im All, im
Glauben, dass nur das Einzelne verwerflich ist, dass im Ganzen
sich Alles erlöst und bejaht - er verneint nicht mehr ... Aber ein sol-
cher Glaube ist der höchste aller möglichen Glauben: ich habe ihn
auf den Namen des Dionysos getauft. 34

Und schließlich die allgemeine Formulierung der Güte nach Nietzsches


Art:

Wenn die Macht gnädig wird und herabkommt in's Sichtbare:


Schönheit heisse ich solches Herabkommen.
Und von Niemandem will ich so als von dir gerade Schönheit, du
Gewaltiger: deine Güte sei deine letzte Selbst-Überwältigung.
Alles Böse traue ich dir zu: darum will ich von dir das Gute.
Wahrlich, ich lachte oft der Schwächlinge, welche sich gut glau-
ben, weil sie lahme Tatzen haben!
Der Säule Tugend sollst du nachstreben: schöner wird sie immer
und zarter, aber inwendig härter und tragsamer, je mehr sie auf-
steigt.
< ... >
Diess nämlich ist das Geheimniss der Seele: erst, wenn sie der
Held verlassen hat, naht ihr, im Traume, - der Über-Held.
Also sprach Zarathustra. 35

Man darf die schöne Macht des Über-Helden nicht für einen zweiten
Weg der Menschenliebe halten. Es handelt sich um den Gipfel der
Macht. Und der Geist der Güte, von der die Rede ist, ist zwar »zarter,
aber inwendig härter", d. h. es handelt sich um Güte, die von einer noch
stolzeren, selbstbewußteren, sich ihrer selbst freuenden Höhe ihre
Strahlen in eine Zone tief unter sich sendet und diese Distanz will. Der
Machtmensch der gemeinen Observanz ist seinem Opfer ganz nahe und
ehrt es wider Willen durch die Brutalität seiner Attitüde.

6. Nietzsche und der »instinct of workmanship"

Um der Ausgeglichenheit dieser Überlegungen willen sei jetzt die Frage


nach einem Weg zu einer zweiten Menschenliebe bei Nietzsche gestellt.

153
Heinz Gerd Ingenkamp

Einen solchen Weg gibt es, wie ich glaube, nicht. Aber es gibt zwei Wege
seinen einen Weg zu sehen. Der eine ist der, den wir bisher begange~
haben: Man geht mit Nietzsche und macht sich, wenn auch nur zu
Interpretationszwecken, auch seine speziellen Wertungen bis ins ein-
zelne z~ eigen. Der andere Weg. besteht da~n, hinter diese Wertungen
vorzudnngen (d. h. aber auch: SIe herabzusbmmen und zu prosaisieren)
und sie als Nietzsches Paradigmen für etwas aufzufassen, was zunächst
einmal nichts als die Beschreibung eines eher gewöhnlichen - Instinkts
ist, um bei dem unmodern gewordenen Wort zu bleiben, das in ähnli-
chem Zusammenhang bei Schopenhauer vorkam und das auch bei Nietz-
sehe in diesem Zusammenhang immer wieder erscheint. Diesen Instinkt
zu benennen, kann nicht schwer sein. Es war erwähnt worden, daß der
Nietzscheschen Machtontologie das Modell "Kunst" zugrundeliegt. Was
Nietzsche an der Macht liebt, ist ihre stilgebende Schaffenskraft. Damit
definiert und relativiert er sie. Macht ist deswegen ein Wert, weil und
insofern sie kreativ, prägend, stilgebend ist. Seine Musterexemplare der
Gattung Mensch sind teilweise Machtmenschen reinster Art, Caesar,
Ces are Borgia, Napoleon, aber er sieht sie immer und erstlich als
Gestaltende (auch als Selbstgestalter), als "vergewaltigend" Gestaltende,
und er meint allerdings, daß Gestaltung ohne "Vergewaltigung" undenk-
bar ist. Um welchen Instinkt es sich handelt, kann also nicht zweifelhaft
sein: Es ist der Werkinstinkt, der "instinct of workmanship". Gegen die
Interpretation, die ihn wohl lieber zur Elternneigung und in Opposition
zu den aristokratischen Herrschaftsinstinkten setzt,36 weist Nietzsche
seine prinzipielle Identität mit diesen nach. In der Tat ist der Werk-
instinkt - mindestens in gewissen Perioden, wie im Zeitalter griechi-
schen Technitentums in Archaik und Klassik 37 und in der spätmittel-
alterlichen und frühneuzeitlichen Handwerksepoche - nicht zu trennen
von einem aristokratisch inspirierten Selbstwertgefühl des Schaffenden,
der, um einen steigernden Ausdruck Nietzsches zu brauchen, Ehrfurcht
vor sich und seinem Werk empfindet oder, um auch hier zu prosaisieren,
stolz ist auf sich und sein Werk und sich insofern erhöht sieht. Die
aristokratischen Herrschaftsinstinkte, die der Wirkende, in gewissen
historischen Perioden besonders deutlich und sogar ihm selbst mehr
oder weniger bewußt, aber wohl auch sonst, in sich erfährt und bejaht,
sind für Nietzsche an sich werthaft, weil sie das bejahte Prinzip alles
Seins und Werdens sind - umgesetzt in menschliches Fühlen und Han-
deln. Alles was ist - auch jeder von uns - ist Teil eines entstehenden
Werkes, das sich selbst schafft und sich selbst feiert, und indem wir
wirken, nehmen wir, je nach dem Niveau unseres Wirkens, an dieser
Feier teil. Wenn Nietzsche darüber hinaus zeigen kann, daß echtes
Wirken immer ein Schaffen über etwas hinaus ist: über den Stoff
hinaus, über die vorherigen Werke hinaus, über den Schaffenden hin-
aus, wenn also Werke Untergänge in Kauf nehmen - des Stoffs, der

154
Menschenliebe bei Schopenhauer und Nietz9che

vorherigen Wer~e, des Wirkenden selbst -, dann liegt auch von daher die
Entscheidung für eine Menschenliebe der Differenzierung und der Di-
stanzierung nahe: "Trachte ich denn nach Glücke? Ich trachte nach
meinem Werke", sagt Zarathustra am Ende seiner Predigten. 38 Eine
höhere Mauer gegen Schopenhauers Denken, wenn vielleicht auch
weniger gegen Schopenhauers Person, ist nicht denkbar.
Ich glaube, Nietzsche sieht das Wesen des Werkinstinkts richtig.
Er sagt zudem, daß der Werkinstinkt den Menschen macht, sofern dieser
Wert hat. So ist es also, scheint mir, gemeint, wenn es, dem ersten Weg
gemäß, heißt, daß Menschenliebe, wenn sie denn Menschenliebe ist, sich
nur auf Menschen richten kann, die wirken wollen und können; daß
man den anderen, die das nicht können, "helfen" wird; daß man aber die,
die sich diesem Menschenbild widersetzen, die Instinktvergessenen und
insofern Schwachen und Mißratenen, die sich ihres Nichtwirkens freuen
und aus diesem dann allerdings unerträglichen Leben erlöst werden und
vor allem erlöst werden wollen, bekämpfen und, wie er meint, zugrunde
gehen lassen muß.
Der zweite Weg, Nietzsches einen Weg zur Menschenliebe zu se-
hen, besteht darin, diesem einen Weg ein wenig von der kalten
Gebirgsluft zu nehmen, in der er selbst ihn beständig sieht, ihn herab-
zustimmen und die Menschenliebe an den bloßen Werkinstinkt, an den
Schaffenswillen, an das Hammer-Sein zu knüpfen - und nicht nur an
sein Übermaß und die Exemplare unserer Gattung, die Menschenmaß
transzendieren und bei ihm Übermenschen heißen. Der Mensch wäre zu
lieben als Träger dieser Flamme, die nach oben will, und als der, der
diese Flamme hegt, auch um den Preis, daß sie ihn verbrennt.

7. Schluß
Die Konzepte der Menschenliebe, die hier besprochen wurden, stehen
nebeneinander. Sie gehören verschiedenen Einzelkulturen an, aber
Kulturen, die in unserer abendländischen Groß- und Mischkultur ne-
beneinander existieren und sich gar nicht selten durchdringen - z. B. in-
dem man das eine predigt und das andere tut.
Nach dem einen Konzept gilt es, Menschenliebe walten zu lassen
in einer Welt, die grundsätzlich nicht in Ordnung und leidhaft ist. Hier
geht es darum, im anderen sich selbst zu sehen und folglich niemanden
zu verletzen, jedem möglichst zu helfen. Insofern dies Verhalten am
Wollen der W~lt vorbeigeht, ist es "nicht von dieser Welt", es durch-
schlägt die Gesetze des Seienden und schafft eine neue Welt, die - im
Blick auf die in der wir leben - allerdings nichts ist, vor der aber unsere
Welt auch ~u nichts verblaßt. Als Paten stehen Indien, Teile des
Griechentums, das Christentum, sofern es asketisch ist, und in gewisser

155
Heinz Gerd Ingenkamp

Weise überhaupt das, was man "Weisheit" nennt. Dem zweiten, auf der
Elternliebe beruhenden Konzept fehlt die metaphysische Dimension
völlig, aber der Leidbezug ist latent vorhanden. Man "sorgt sich" um die
Menschheit, man sichert ihren Bestand, hilft ihr auf, weil man davon
ausgeht, daß sie gefährdet ist, wie Eltern ihren Kindern gegenüber
empfinden. Insofern ist das zweite Modell Schopenhauers in gewisser
Weise die natürliche Variante seines - übernatürlichen - ersten.
Für das dritte Konzept und seine beiden Aspekte (sie unter-
scheiden sich ebenfalls durch ihren Metaphysikbezug und durch die
Reichweite der Postulate) bilden Leid und Existenzbedrohung keine
Grundlage; sie gehen aus vom Glück der Chance zu sein und daraus et-
was zu machen, wobei eigenes und fremdes Leid in Kauf genommen
wird. Dies wird meistens von Menschen, die so handeln und auch so
handeln wollen, nicht gern zugegeben, weil die gemeinschaftsbildenden
Instinkte der Elternneigung und ihre Verwandten ein offenes
Bekenntnis dieser Art nicht ertragen. Nietzsche hat dieses Tabu gebro-
chen und Polemiken a la Hochhuth in Kauf genommen.
Einige werden sich schwertun mit der Bestimmung ihrer
Menschenliebe. Das ist, wird man sagen dürfen, geradezu die angemes-
sene Haltung angesichts der Konglomeratstruktur unserer Kultur, in
der die Elemente der auf Weltverneinung ausgehenden "Weisheit", des
aristokratischen Macht- und Stilwillens und der durch die Jahrhundert-
tausende geübten und noch unser heutiges Leben tragenden "Sorge"-
Haltung der Menschheit zusammenfließen. Schopenhauer und sein
emanzipierter Schüler Nietzsche haben über eine Frage nachgedacht,
die für unser Selbstverständnis, und damit auch für unser Schicksal,
von entscheidender Bedeutung ist, wobei die beiden Denker, bei aller
großartigen und den Alltäglicheres bevorzugenden Leser erschreckenden
Einseitigkeit, in ihrer gemeinsamen Antwort zu einer Beschreibung des
Problems gekommen sind, die die Grenzen dessen absteckt, was in
unserer Kultur diesbezüglich möglich ist.

Anmerkungen
1. G, 117; W I, 220; PI, 189,209; Pli, 633f.
2. W 11, 261 f.
3. So formuliert E, 137.
4. Z. B. E, 137, 158.
5. Zum folgenden vgl. Verf., Gestalt als Gestaltung, Schopenhauer-Jahrbuch 66
(1985), 75 ff.
6. Der Ausdruck und der Gedanke vom Seins-"Quantum" ist nicht Scho-
penhauerisch,sondern gehört Nietzsche. Er ist aber an dieser Stelle des

156
Menschenliebe bei Schopenhauer und Nietzsche

Arguments m. E. mit Schopenhauer zu verbinden. Es soll ja nicht behauptet


werden, Schopenhauers An-sich-Seiendes sei in Quanten aufgeteilt.
7. Dies ist der Ausgangspunkt des "platonisch" genannten Philosophierens.
8. Vgl. z. B. W I, 453.
9. Bedeutendstes archaisches Zeugnis sind die Katharmoi des Empedokles. Vgl.
Diels-Kranz, Fragmente der Vorsokratiker, Bd 1, Berlin 91960, 354 ff.
10. Vgl. besonders Staat, 608 c ff.
11. Siehe Anm. 8.
12. Vgl. z. B. W I, 444.
13. W 11, 616 ff.; vgl. W 11, 584-591, 607 ff.
14. W 11, 589.
15. W 11, 590.
16. E, 221; Pli, 662.
17. Pli, 662.
18. Vgl. Verf., Plutarch und die konservative Verhaltensnorm, Aufstieg und
Niedergang der römischen Welt 33, 6, BerlinlNew York 1992,4625-4644.
19. Nach: Zur Genealogie der Moral, Vorrede, § 5. Nietzsche wird zitiert nach der
Kritischen Studienausgabe (KSA), München und BerlinlNewYork 1980.
20. Zur Genealogie der Moral, Vorrede, § 5.
21. Siehe besonders KSA 13, 259 (Frühjahr 1888, Ms. 14, Nr. 79): "Eliminiren
wir diese Zuthaten [sc. den Zahl begriff, den Subjektbegriff, den
Bewegungsbegriftl: so bleiben keine Dinge übrig, sondern dynamische Quanta,
in einem Spannungsverhältniß zu allen anderen dynamischen Quanten: deren
Wesen in ihrem Verhältniß zu allen anderen Quanten besteht, in ihrem
"Wirken" auf dieselben - der Wille zur Macht nicht ein Sein, nicht ein Werden,
sondern ein Pathos ist die elementarste Thatsache, aus der sich erst ein Werden,
ein Wirken ergiebt."
22. Öfter in der der praktischen Philosophie Nietzsches zugehörenden Form
"Pathos der Distanz".
23. Zu diesem Aspekt siehe z. B. KSA 7,204 (Ende 1870-ApriI1871, Ms. 7, Nr.
168).
24. Die Geburt der Tragödie, Kap. 5, KSA 1, 47.
25. Götzen-Dämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemäßen, 8-9.
26. KSA 11, 560 (Juni-Juli 1885, Ms. 36, Nr. 31).
27. KSA 13, 258 (Frühjahr 1888, Ms. 14, Nr. 79).
28. Der Verfasser ist RolfHochhuth. Zum ersten Mal veröffentlicht in: Gedichte
von an über Arthur Schopenhauer, hrsg. Arthur Hübscher, Zürich 1984.
29. Jenseits von Gut und Böse, Nr. 225.
30. Jenseits von Gut und Böse, Nr. 260, KSA 209 f.
31. "Wir wehren uns < ... > gegen eine Eitelkeit, die auch hier wieder laut werden
möchte: wie als ob der Mensch die grosse Hinterabsicht der thierischen
Entwicklung gewesen sei. Er ist durchaus keine Krone der Schöpfun~: jedes
Wesen ist, neben ihm, auf einer gleichen Stufe der VollkommenheIt". Der
Antichrist, Nr. 14.
32. Der Antichrist, Nr. 6.
33. Götzen-Dämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemäßen, Nr. 31.
34. Götzen-Dämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemäßen, Nr. 49.
35. Also sprach Zarathustra 11, Von den Erhabenen KSA 4, 152.

157
Heinz Gerd Ingenkamp

36. So bei Thorstein Veblen, The instinct ofworkmanship, New York 1914.
37. Vgl. hierzu jetzt Hartrnut Wilms, techne und paideia bei Xenophon und
Isokrates, Stuttgart 1995.
38. KSA 4, 408.

158
Willensmetaphysik. Die praxisphilosophischen Ansätze von
Bloch und Schopenhauer

Von Olaf Briese

1. Pessimismus versus Optimismus in der Philosophie

Ein Vergleich von Blochs und Schopenhauers philosophischen Positio-


nen ist aussichtsreich, weil er in Gegenüberstellung die unterschiedliche
theoretische Basis erhellen könnte, auf die bestimmte Formen philoso-
phischen "Optimismus" und "Pessimismus" sich gründen. Er wirft aber -
da diesbezügliche Forschungsvorleistungen offenbar noch nicht vorlie-
gen - nicht wenige methodische Probleme auf. Denn die generellen
Unterschiede zwischen Blochs und Schopenhauers Ansätzen werden
auch dem, der nur einigermaßen mit Philosophie vertraut ist, auf der
Hand liegen. Wie aber steht es mit Gemeinsamkeiten und mit einer ge-
meinsamen philosophischen Basis, von der aus ein theoretischer
Vergleich überhaupt möglich ist? Gibt es ein gemeinsames Fundament,
von dem aus die Unterschiede produktiv erörtert werden können?
Möglicherweise kann, ausgehend von den verschiedenen anthro-
pologischen Fassungen des Willens und den damit verbundenen ver-
schiedenen Fassungen des geschichtsphilosophischen Problems der
Bedürfnisse, erklärt werden, in welchem theoretischen Rahmen Blochs
Optimismus und Schopenhauers Pessimismus sich begründen. Es ließe
sich zeigen, auf welcher Basis guter Wille und philosophischer Optimis-
mus ebenso miteinander im Einklang stehen wie das Gegenteil guten
Willens mit philosophischem Pessimismus. Darüber hinaus wird ein
theoretischer Ansatz, der dem Willen ausschließlich positiv begegnet, im
Phänomen wachsender Bedürfnisse nur Errungenschaften sehen und
auf optimistische Perspektiven weisen können. Wer dagegen von der
problematischen Natur des Willens ausgeht, wird einem wachsendem
Bedürfnisdruck nur kritisch entgegenstehen und daraus pessimistische
Konsequenzen ziehen. Werden damit hier die grundlegenden Unter-
schiede in Willens- und Bedürfniskonzeptionen thematisiert, wird es
dennoch nicht unwichtig sein, zu fragen, in welcher Hinsicht Bloch mit-
unter direkt von Schopenhauer philosophisch geprägt ist und wie diese
vorerst divergierenden Positionen sich sogar begegnen können.
OlafBriese

2. Blochs Schopenhauer-Rezeption

Blochs philosophische Anfänge sind, ohne daß darauf näher eingegan-


gen werden kann, durch Suche und Wechsel geprägt. In seiner frühen
Jugend eifriger Hegelleser, wendet er sich als Achtzehnjähriger brieflich
an den Positivisten Mach, dann führte sein Weg über Simmel zum
Heidelberger Kreis der Neukantianer. Inspiriert von Kabbala, Gnosis
und Mystik formt sich ein messianisches Hoffen, dessen Ausgangspunkt
zumindest in dieser Phase im Grunde ein gnostischer ist: In Gott, in der
Welt und im Menschen liegen verschiedene Willenspole miteinander im
Streit. Durch intuitive Erkenntnis, durch messianische Willensanstren-
gung ist es aber möglich, sich selbst zu überwinden und dem Heil
Durchbruch zu verschaffen. Dabei können nach der typisch mystischen
Verklammerung von Mensch und Gott damit Welt und Gott ebenfalls
erlöst werden.
Für Bloch, einen entschiedenen Kriegsgegner, der die Jahre des
ersten Weltkrieges teils freiwillig, teils erzwungen im Schweizer Exil
verbringt, bleibt sein enger Umgang mit intellektuellen Anarchisten
philosophisch nicht folgenlos. Ohne diesen in der Literatur bereits be-
handelten Einflüssen in ihrer Komplexität weiter nachgehen zu kön-
nen l , ist hier zumindest hervorzuheben, daß die gnostisch-mystischen
Momente in Blochs Willensbegriff dabei zurücktreten. Die Welt ist jetzt
weniger eine Welt gnostischer Götter, sondern vornehmlich eine von ge-
schichtlichen Antagonismen und Interessenkonflikten. In diesem Gefüge
wird der Wille ein voluntaristischer, anarchistischer Wille, das Übel der
Welt zu beseitigen und unentfremdetes Leben möglich zu machen.
Dieser Wille ist durchaus spirituell motiviert, ist von mystischer Er-
leuchtung getrieben. Aber der Erleuchtete wird zum Sozialrevolutionär.
Das ist das Thema von Blochs erstem Buch Thomas Münzer als Theologe
der Revolution von 1917. Der Wille ist der Dreh- und Angelpunkt zum
besseren Leben. Die Unterdrückten hätten den eigenen Willen nötiger
als das tägliche Brot. 2 In diesem Zusammenhang geißelt Bloch die
seiner Auffassung nach politisch motivierten Lehren zur Willens-
abtötung seit Luther. 3
Dabei kommt es zu einer Intensivierung der bisherigen, eher
akademisch üblichen und nicht unbedingt folgenreichen Schopenhauer-
Rezeption, in welcher nunmehr aber nicht in jedem Fall die philoso-
phisch-systematische Auseinandersetzung überwiegt, sondern die mit-
unter stark von bestimmten kulturellen Umständen geprägt ist. Hatte
es in der Schweiz schon im neunzehnten Jahrhundert einen bedeuten-
den Schopenhauer-Kreis deutscher Emigranten gegeben - am bekannte-
sten waren neben Otto Volger sicher Richard Wagner und Georg Her-
wegh -, wird auch Bloch durch einen emigrierten Künstler auf Schopen-
hauer gewiesen: durch Hugo Ball, der ihm darüber hinaus auch die

160
Bloch und Schopenhauer

Anregungen zu Müntzer gibt. Ball, anarchistischer Geistesrebell und


Inaugurator d~s Dadaismus, war eine jener Künstlerpersonen, die im
deutschsprachIgen Raum das Erbe Schopenhauers bewahrten, der im
neukantianischen Universitätsbetrieb wenig Aufmerksamkeit fand.
Bloch hat offenbar auf Balls scharfe Abrechnung mit der vermeintlich
reaktionären deutschen protestantischen Tradition zurückgegriffen, in
der dieser nur Müntzer, Schopenhauer und Nietzsche und von katholi-
scher Seite Franz von Baader gelten ließ. 4 Im Sinne seiner christlich-
messianischen und zugleich sozial-revolutionären Vorstellungen stellt
Bloch Schopenhauer gegenüber Müntzer allerdings entschieden zurück.
In einem Abschnitt der Müntzer-Schrift, der überschrieben ist mit
»Quietismus" - der Bezug zu Schopenhauers »Quietiv des Willens"5liegt
hier schon von der Wortwahl her nahe -, erklärt Bloch sich dezidiert ge-
gen jegliche »Entmannung" menschlichen Willens und gegen jegliche
philosophische Befestigung »menschliche(r) Nullität"6.
Enthielten diese Repliken wider den Quietismus in der Müntzer-
Schrift trotz des offensichtlich gemeinsamen Rekurses auf ein unver-
fälschtes Urchristentum nur indirekte Bezüge zu Schopenhauer, wendet
die nachfolgende Schrift Geist der Utopie sich ihm direkter zu. Die 2.
Auflage dieser Schrift von 1923 endet mit den Abschnitten vom zu ent-
schleiemden »Bild zu Sais" und »Das Gesicht des Willens". Bloch unter-
nimmt hier eine direkte Umkehrung Schopenhauerscher Prinzipien.
Ohne daß der Name Schopenhauer fallt, repliziert Bloch dessen Kern-
sätze und transformiert sie in seine philosophischen Entwürfe. Die Welt
als Ding an sich sei der Wille zum Gesicht und das Gesicht unseres
Willens. 7 Das ursprüngliche Wollen enthüllt nach Bloch das Ziel des
Wollens selbst.8 Der Schleier von Sais - eine Replik auf die bekannte
Metapher aus Welt als Wille und Vorstellung9 - kann fallen. Fällt dieser
Schleier, ist uns das Ziel unseres unbewußten Wollens enthüllt: das be-
wußte Wollen, Trieb, Lichttrieb, Lichtflamme, die »beständig unterwüh-
lende, ungelöste, utopische Spannung alles Gestalteten" 10 , kurzum eine
Bewegung, die in »transkosmologische Unsterblichkeit"ll führt. Der
Wille führt zur Erkenntnis des Willens. Das bedeutet aber nur, ihn um
so entschiedener zu wollen.
Ein Jahrzehnt später hat Bloch diesen messianischen, ins
Endlose gehenden Willen relativiert und abgeschwächt. Der gute Wille
wird geläutert,relativiert, beruhigt, das gärend Expressive wird be-
zähmt. In den Vereinigten Staaten, wiederum im Exil, schreibt er das
ursprüngliche, später aber unterdrückte Schlußkapitel zu seix;te~
Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung. Er distanziert sich vom faschIstI-
schen »Willenskult"I2 und erwägt, daß der Wille Grenzen haben müsse. 13
Mit diesem Hauptwerk, das dann ab 1954 in Ost-Berlin (vorerst ohne
Probleme von offizieller Seite) erscheint, versteht sich Bloch ausdrück-
lich als marxistisch. Es stellt das Modell jenes bezähmten Willens vor:

161
OlafBriese

Der Wille hat seine Grenzen. Er geht nicht ewig gärend ins Unendliche
sondern er wird auf ein sozialistisches Ziel hin gelenkt, also auf gewiss~
Endpunkte.
Dieses umfangreiche Werk Blochs, dessen marxistischer oder
vermeintlich marxistischer, dessen christlich-eschatologischer oder ver-
meintlich christlich-eschatologischer Charakter weiterhin umstritten ist
erweist sich im Hinblick auf die hier zu behandelnde Thematik nicht
zuletzt deshalb als interessant, weil es nachträglich Aufschluß über die
hauptsächlichen Quellen von Blochs Entwürfen eines guten Willens
gibt: 1. Aristoteles' Entelechie, 2. neuplatonischer Eros, 3. Jakob Böhmes
mystischer Trieb, Hunger und Qual, 4. Kants Als-Ob Lehre, 5. Schel-
lings romantische Willensverklärung, 6. Freuds Trieblehre. So verschie-
den diese Ansätze sind, stützen sie Blochs "Prinzip Wille" als ein
umfassendes metaphysisches Prinzip: Die ganze Welt ist in Bewegung
auf ein Ziel hin begriffen, kosmologisch, geschichtlich, anthropologisch,
psychisch. Immer in Bewegung, immer in Tendenz und Latenz und
Utopie begriffen, immer guter Wille. Der utopische Ort der Erlösung,
das Totum, das ens perfectissimum, das mystisch-marxistische Reich der
Freiheit ist da - es muß nur noch erreicht werden.
Schopenhauer hat bekanntlich andere Willensprämissen. Er
steht nicht in der eher plebejisch-philosophischen Tradition der Trieb-
entfaltung, sondern in der aristokratisch-philosophischen Tradition der
Triebbezähmung. Er hat seine Wurzeln nicht in der europäischen
Mystik und Romantik, sondern in scholastischem Realismus und neu-
zeitlicher Metaphysik. Er ist, wo Bloch bekennender Nominalist ist, mit
Blick auf Platon und Kant verhinderter Realist. Der Wille ist nicht die
zivilisatorische Triebkraft, sondern die zivilisatorische Störkraft
schlechthin. Wille ist das genuin Böse, ist der Einbruch der Natur in die
Sphäre der Geschichte und des Geistes. Er ist eine unhintergehbare
Macht über, um und in den Menschen. Das war, stellt man Schopen-
hauer in den damaligen geschichtlichen Kontext, von der ganzen Anlage
her eine Opposition gegen romantische Philosophie, gegen die roman-
tische Natur- und Willensverklärung. Für Schelling "gibt (es) in der
letzten und höchsten Instanz gar kein anderes Sein als Wollen. Wollen
ist Ursein, und ... Selbstbejahung"14. Auch Fichte deklariert nach seiner
Wendung vom Sollen zum Wollen nach der Jahrhundertwende: "Der
Wille ist das lebendige Princip der Vernunft, ist selbst die Vernunft"
und er hält ihn "für den eigentlichen Sitz der sittlichen Güte"15.
Schopenhauer opponiert gegen diese Art Willensverklärung.
Aber mit seinem System baut er auf diese Ansätze auf, er baut sie in ei-
nem ersten Schritt geradezu aus. Er negiert sie nicht, sondern geht,
aufbauend auf diese Fundamente, an ihre Überwindung. Schopenhauer
universalisiert den Willen, um ebenso universell an seiner Negierung,
seiner Verneinung zu arbeiten. Er universalisiert ihn im Rückgriff auf

162
Bloch und Schopenhauer

Kants Weltbegriff, so daß die Welt zum Wille wird. Und so wie Wille bei
Schope.~hauer ein schlechthinniges Übel ist, sind Ding an sich und Welt
voller Ubel. Wille ist Primat, ist Wesen, und dieser Wille entäußert sich
in seine verschiedenen Erscheinungen. Im Kosmos und in der irdischen
Sphäre, im Körper, in der Sphäre des Bewußtseins - überall Wille. Wille
ist das ontische Prinzip ynruhe, das Prinzip Individuation, das Prinzip
Egoismus, das Prinzip Ubel in allen Erscheinungen der Welt. Dieser
Wille ist unhintergehbar, ist über, um und in den Menschen. D. h.:
Schopenhauer verübelt die Welt mittels Willen radikal, um sie anschlie-
ßend durch sein hypothetisches Modell der Willensverneinung entübeln
zu können.
Dieses seit Welt als Wille und Vorstellung von 1818 feststehende
Programm erfährt aber auch bei Schopenhauer bestimmte Abwand-
lungen und Ergänzungen. Die erste radikal pessimistische Fassung des
Willens wurde schon in den Berliner Vorlesungen von 1820 relativiert
und abgeschwächt. Für Studierende und für die Öffentlichkeit gedacht,
zeigt Schopenhauers Willensbegriff nicht mehr die unerbittliche pessi-
mistische Strenge. Schopenhauer hält hier tatsächliche eine "völlige
Umkehrung der menschlichen Natur" für möglich 16, und er betont,
durchaus dem Geist der Berliner Alma Mater entgegenkommend, die
christlichen Momente von Entsagung, Willensverneinung und Erlösung.
1835 dann erfährt der Wille eine naturphilosophisch-physiologische
Untermauerung, z. B. durch den Begriff der Kraft. In den späten Apho-
rismen zur Lebensweisheit wird die Welt, ganz nach stoischer Auf-
fassung, nicht zum Willen, sondern zum Bewußtsein von Welt, und es
ist die "Beschaffenheit des Bewußtseyns selbst das zunächst Wesent-
liche" 17. Das Bewußtsein erfährt also von vornherein eine Aufwertung,
es kann Welt besiegen auch ohne die Gnade intuitiver Erkenntnis. Aber
diese Akzentänderungen sind im Grunde nur Marginalien. Bei allen
leichten Wandlungen ist Schopenhauer seinem ursprünglichen Pro-
gramm treu geblieben - der Wille ist über, um, und in uns. Er ist ein je-
weils unhintergehbares metaphysisches, ontisches und anthropologi-
sches Prinzip.

3. Der Mensch als bedürftiges Wesen


Was auf der anthropologischen Ebene der Wille, ist auf praktisch-ge-
schichtsphilosophischer Ebene Bedürfnis. Wille, in zeitlich-historische;
Dimension, ist Bedürfnis. Es ist sich reproduzierender, sich übersteI-
gernder Wille. Pral-:tisches Handeln ist sich selbst vorantreibender
Wille, ist ein ständiger Prozeß von Bedürfnisbefriedigung und Bedürf-
niserweiterung.

163
OlafBriese

Entsprechend ihrer Willens begriffe kommen Bloch und Schopen-


hauer zu bestimmten Auffassungen von Bedürfnissen innerhalb der
geschichtlichen Dynamik. Beide stellen die fundamentale Rolle von
Bedürfnissen in Rechnung, müssen aber, von ihren divergierenden
Willensauffassungen her, zu verschiedenen philosophischen Bewer-
tungen von Bedürfnissen kommen.
Mit Recht kann man Bloch, wenn man seinen gnostisch-mysti-
schen Willensbegriff betrachtet, als einen "marxistischen Schelling"18
bezeichnen. Aber spätestens, wenn man sich Blochs Bedürfnisbegriff
zuwendet, muß man ihn als einen marxistischen Hegel bezeichnen.
Bloch baut auf die Fundamente romantischer und insbesondere Schel-
lingscher Anthropologie eine hegelianisch-marxistische Geschichts-
philosophie. Denn sein positiver Willensbegriff und sein positiver
Bedürfnisbegrifftragen einander. Der Wille, der will, das Bedürfnis, das
bedarf - sie finden in Natur und Geschichte die Materialien ihrer
Verwirklichung. Ein gestilltes Bedürfnis erzeugt das nächste, es ent-
wickelt sich aus sich heraus, setzt Fortschritte in Gang. Das ist die
Blochsehe Heilslinie der Geschichte. Der Mensch entrinnt den primiti-
ven Stadien, entwickelt ein Geflecht ökonomischer, politischer, geistiger
Kultur. Er entwickelt seine anthropologischen Anlagen weiter, wird ge-
nußfähiger, intelligenter, entwickelt ein Arsenal von Werkzeugen und
Wissenschaften, beherrscht die Natur und gestaltet die Zukunft der
Gattung harmonisch. Jeder Schritt ist die Voraussetzung eines nächsten
Schrittes, und das unendliche Integral dieser Schritte ist ein geschichtli-
ches Vorne.
Getragen wird diese Blochsche Auffassung von der Hegeischen
und Marxschen Dialektik von Entäußerung, Vergegenständlichung und
Aneignung. Der Mensch, als bedürftiges Wesen, arbeitet sich durch die
natürlichen Mächte und seine eigene Natur hindurch, arbeitet sich aus
ihnen heraus. Nutzt er anfangs eher passiv die Gegebenheiten der
Natur, beginnt er dann Werkzeuge zwischen sie und sich zu schieben,
Faustkeil, Pfeil und Bogen, den Pflug. Das sind menschliche Entäuße-
rungen, die dann weitere Aneignungsvorgänge bedingen. Hier stützt
sich Bloch direkt auf Hegel, der bereits 1805 seine ökonomischen
Studien und seine Adam-Smith-Lektüre philosophisch verarbeitete.
Nach Hegel ist ausdrücklich die erste Willensäußerung der Werkzeug-
gebrauch. 19 Diese Werkzeuge befriedigen bestimmte Bedürfnisse und
erzeugen neue. Deshalb steht für Hegel das Werkzeug höher als der je-
weilige Zweck des Bedürfnisses 2o , darum ist nach Hegel "der Pflug ... eh-
renvoller, als unmittelbar die Genüsse sind, welche durch ihn bereitet
werden"21. Befriedigtsein hieße Tiersein, hieße Stillstand. Nicht Unruhe
ist von Übel, sondern Stillstand. Aber glücklicherweise erzeugt e~
Bedürfnis das nächste und das ermöglicht die geschichtliche DynamIk
und die Selbstzeugung der Gattung. Genau diese und ähnliche Stellen

164
Bloch und Schopenhauer

Hegels hat Marx im Auge, wenn er anerkennt, Hegel "erfaßte die Arbeit
als das Wesen, als das sich bewährende Wesen des Menschen"22. Marx'
ganzes geschichtliche Modell beruht auf dieser Dialektik von
Entäußerung, Aneignung, Vergegenständlichung und erneuter Ent-
äußerung. Geschichte ist eine Bedürfnisspirale, die im Kommunismus
endet.
Bloch steht in dieser hegeischen und marxschen Linie. Sein
Hegel-Buch von 1951 mit dem Titel Subjekt-Objekt ist die gedrängteste
und übersichtlichste Darstellung seiner eigenen Philosophie. Bloch zielt
auf eine universale Subjektivierung der objektiven Welt durch Handeln
und Tätigkeit. Es geht ihm um nichts weniger als um die "Urbar-
machung" der ganze~ Welt. Das ist für ihn, Schopenhauer entgegenge-
setzt, geradezu die "Uberwindung des Nichts"23. Geschichte ist nach sei-
ner Prämisse Drang, ist Bewegung, ist Vermenschlichung der Natur
durch Aneignung der ganzen Natur. Dennoch gibt es natürlich Beson-
derheiten gegenüber Hegel und gegenüber Marx. Der Leitfaden der
Hegeischen Weltgeschichte war vor allem die Politik, der der Marxschen
vor allem eine Entwicklung der menschlichen Produktivkräfte. Blochs
Philosophie ist in dieser Hinsicht weniger entschieden, weniger festge-
legt, er entwirft ein ganzes Spektrum von Fortschrittskriterien. Im
Zentrum dieses Panoramas scheint dann allerdings eine bestimmte gei-
stig-religiöse Vervollkommnung zu stehen. Für Bloch sind die politische
Geschichte und die Geschichte menschlicher Produktiv kräfte auch ein
Beleg für eine ästhetisch-religiöse Perfektibilisierung und Selbstüber-
steigerung. Im Zuge der weltgeschichtlichen Entwicklung ist der Mensch
vor allem ein ideell bedürftiges Wesen. Die Worte, mit denen Bloch
immer wieder seine Visionen beschreibt, sind höchstes Gut, ens perfec-
tissimum, Totum, Pleroma des Lichts, Reich. In seine von Anfang an
christlich tingierte WeItsicht hat er Hegeische und Marxsche Ansätze
hineinprojiziert.
Schopenhauer dagegen muß von seinem Willensbegriffher zu ei-
nem anderen Bedürfnisverständnis kommen. Wo der Wille quält, kann
er letztlich nur quälende Bedürfnisse erzeugen: Bedürfnisse sind der
Motor, die den leidvollen Lauf der Geschichte in Gang halten. Sie sind
ein beständiges Unruhepotential, ein instabiler Faktor, sie erzeugen
stets Unsicherheit statt Sicherheit. Nur Stabilität gewährt Ruhe. Dyna-
mik ist Unruhe. Mehrere Typen von Bedürfnissen unterscheidet
Schopenhauer: Nahrungsbedürfnisse, Geschlechtsbedürfnisse ein-
schließlich Fortpflanzungs- und Vermehrungs bedürfnissen, darüber
hinaus geistige oder, wie Schopenhauer es nennt, imaginäre Bedürf-
nisse 24 : politische, religiöse, bis hin zu solchen wie Ehrgeiz und Gel-
tungsbedürfnis oder Neugierde. Und: "Demgemäß ist der Me~sch, als die
vollkommenste Objektivation jenes Willens [also des Weltwillens O. ~.l
auch das bedürftigste unter allen Wesen"25. Sind Bedürfnisse an SIch

165
OlafBriese

schon ein Unruheherd, ist das Verhängnis an ihnen, daß jedes erfüllte
Bedürfnis ein neues erzeugt. Genuß verschmachtet nach Begierde und
Begierde nach Genuß. Diese jeweils neuen Bedürfnisse stellen sich nicht
ein nach dem Bild der Addition, sondern nach dem der Potenzierung. Es
gibt kein,en Bedürfnisgleichlauf, sondern eine Bedürfnisbeschleunigung,
und diese führt allemal ins Verhängnis. Auch wenn diese Dynamik von
Schopenhauer nicht unbedingt programmatisch ins Geschichtliche ge-
wendet wird - ähnlich wie nach ihm Feuerbach setzt er den Akzent auf
Anthropologie und nicht auf Historie -, ist das eine direkte Umkehrung
der aufklärerischen Bedürfnisdoktrin etwa von Smith, Ricardo, Helve- .
tius oder Hege!. (Schopenhauer kannte neben Helvetius und Hegel
zumindest Ricardo 26 - entweder von seiner Lehrzeit her oder auf Grund
seiner Vorliebe für England.)
Gemessen an romantischen Entwürfen war das die erste gesi-
cherte Rortschrittskritik, die sich nicht auf äußere Phänomene des
Pauperismus, Traditionsverlusts, Moralverlusts berief, ein Ansatz, der
die Fortschrittsdynamik nicht nur am Beispiel von Phänomenen be-
schrieb, sondern sie erklärte. Es war kein moralisierender, sondern ein
theoretisch-realgeschichtlicher Ansatz. Wer diesen Ansatz akzeptiert,
kann in weltanschaulicher Hinsicht nur zu pessimistischen Konsequen-
zenkommen.

4. Pessimismus im Optimismus und vice versa

Blochs Optimismus, der organisch aus seinem Willens- und Bedürfnis-


begriff folgt, braucht an dieser Stelle nicht weiter verfolgt zu werden.
Interessant ist jedoch, daß selbst Bloch zu bestimmten Relativierungen
auch in der Bedürfnisfrage gelangt. Etwa dann, wenn er an einer Stelle
philosophischen Optimismus nicht nur als eine Folge der Bedürfnis-
dynamik einfuhrt, sondern ausdrücklich als ein Korrelat und Kompen-
sationsmedium zu den Widernissen der Welt 27 . Und in seinen Leipziger
Vorlesungen kann Bloch durchaus exzellent Schopenhauer erfassen,
auch wenn er ihn einer "Unheilslinie" der Philosophie zurechnet28 . Am
Ende seines Lebens, nachdem er zum dritten Mal den Weg ins Exil
genommen hatte, sprach er sogar programmatisch von einer "Hoffnung
mit Trauerflor"29, und er kam zu dem Bekenntnis: Es kann "ohne
Schopenhauer Hoffnung nicht gedacht werden, denn sonst sehe sie aus
wie eine Phrase oder eine miserable Art von Zuversicht, was Hoffnung
am wenigsten ist"3o. Er plante sogar ein Schopenhauer-Buch, zu dem
Vorarbeiten im Nachlaß vorhanden sind 31 , und er hielt in dieser Zeit
spezielle Vorlesungen über das Verhältnis von Hegel und Schopen-
hauer3 2. Aber selbst wenn es zu diesen nicht unerheblichen Akzent-
änderungen kam - es steht doch außer Frage, daß Bloch seine Grund-

166
Bloch und Schopenhauer

thesen weiter beibehielt und der Logik seiner Voraussetzungen gemäß


beibehalten mußte.
Befragt werden kann allerdings die Rolle der Schopenhauer-
schen Erlösungslehre. Welchen Stellenwert nimmt sie innerhalb seiner
Metaphysik ein? Welchen Traditionen ist sie verpflichtet? Welche
Neuerungen weist sie auf? Gibt es etwa Inkonsequenzen? In schmerz-
hafter Kürze ein Antwortversuch: Genau hier, in seiner Erlösungslehre
ist Schopenhauer am meisten neuzeitlichen Metaphysik-Traditionen'
verpflichtet. Hier ist Schopenhauer nicht schopenhauerisch, sondern
spinozisch. Auch Schopenhauer will den endgültigen Sieg über den
finsteren Willen. Und gerade hier ist er am deutlichsten kantisch: Es ist
nur ein Sieg als-ob, es ist nur Erlösung als-ob. Es ist, wie Ludger
Lütkehaus formulierte, eine "Praxisphilosophie des Als-Ob"33. Dieser
Sieg sei an sich nur wenigen Individuen möglich. Es sind nur die
wenigen Ausgezeichneten, die dahin gelangen, den Weltwillen in seinem
Ausmaß zu erkennen und zu besiegen. Den logischen Grund dafür, wie
eine schließliche Erkenntnis eintritt, und wie sie, wenn sie denn doch
eingetreten ist, den Willen besiegen soll, bleibt Schopenhauer schuldig.
Er beginnt seine Argumentation in dieser Frage ausdrücklich mit
Beispielen. Aber an diese Beispiele aus buddhistischer oder christlicher
Askese knüpft sich keine nachvollziehbare philosophische Beweis-
führung. Warum soll sich intuitive Erkenntnis, wenn sie denn wirklich
eingetreten ist, auf einmal stärker als der Wille erweisen? Warum und
wie kann der eherne notwendige Kreislauf der Bedürfnisse plötzlich
durchbrochen werden? Der Wille zum Leben, dem nach Schopenhauer
Leben selbst gewiß ist34, soll plötzlich und auf einmal von sich lassen?
Schopenhauer selbst nennt diese Wendung eines der großen
Mysterien der Philosophie. Der letzte Abschnitt der Berliner
Vorlesungen kommt unter der Überschrift "Eine letzte Frage" auf diese
plötzliche, unerklärliche Wendung zwangsläufig noch einmal zurück.
Schopenhauer hält fest: Von dieser Wendung durch intuitive Erkenntnis
sei gar keine Erkenntnis möglich. Sie sei nicht bloß relativ, sondern ab-
solut unerforschlich. Theoretisch kann Schopenhauer seine Aussichten
der Willensverneinung nicht begründen, sondern nur normativ-mora-
lisch. Die These der Willensverneinung ist eine moralische Forderung,
sie ist das ethische Postulat, sich für die durch die Gnade des
Weltwillens bewirkte Verneinung seiner Entäußerungen offen zu halten.
Aber der Logik von Schopenhauers Philosophie nach sind diese Postu-
late wohl eher Fremdkörper.
Aus einer bestimmten Tradition der Schopenhauerinterpretation
heraus ließe sich einwenden, daß er seinen pessimistischen Voraus-
setzungen nach nicht Erlösung im Leben, sondern Erlösung vom Leben
sucht. Aber ist das wirklich so? Er selbst kennt verschiedene Ebenen
von Erlösung, von Rudolf Malter kürzlich umfassend behandelt36 , es

167
OIafBriese

sind mindestens fünf: 1. geistiger Stoizismus, 2. ästhetische Erlösung in


der Kunst, vor allem in der Musik, 3. geistiges und praktisches Mitleid
4. praktische Askese, 5. endgültige Verneinung des Willens zum Leben'
endgültige Erlösung vom Leben. Aber läßt Schopenhauer diesen letzte~
Schritt zu? Der freiwillige Hungertod, den er als Beispiel für diese letzte
Verneinung anführt, ist seiner Ansicht nach letztlich ein Ausdruck von
Abnormität 36 . Nicht Selbst- und Willensauslöschung sind das Ziel von
Schopenhauers Philosophie, sondern, gemäß neuzeitlicher Metaphysik-
Tradition, Selbstbezähmung und Willensbezähmung. Da diese Idee al-
lerdings bei Schopenhauer aus keiner theoretischen Herleitung folgt,
sondern aus einer normativen, ist sie der ganzen Anlage nach, auch
wenn Schopenhauer das eher im Dunkeln läßt, ein Kantsches Als-Ob-
Phänomen: Erlösung, d. h. einen Durchbruch durch den Kreislauf des
Willens, soll es geben, deshalb muß es ihn geben. Diese Erlösungslehre
ist das normative Anhängsel nichtnormativer, deskriptiver Metaphysik-
nicht eine Moral aus der Geschichte, sondern eine Moral trotz der
Geschichte. Und je nachdem, ob man sich normativen oder deskriptiven
Gehalten verpflichtet fühlt, wird man diesem Modell zuneigen können
oder nicht.
Allerdings sind hier sofort Einschränkungen und Präzisierungen
vorzunehmen. Nichtnormative Philosophie ist eine contradictio in ad-
jecto. Jede Philosophie ist an sich auch normativ, und sie entwirft welt-
anschauliche Orientierungen. Dahingestellt allerdings ist, ob normative
eben stets erlösende Perspektiven umschließen. Direkt gefragt: Wäre
eine Philosophie möglich und nötig, die angesichts des unumkehrbar
sich beschleunigenden weltgeschichtlichen Kreislaufs von Bedürfnis und
Bedürfniserweiterung eine Ethik entwickelt, die diesen Kreislauf nicht
illusionär und vergeblich zu stoppen versucht? Wäre eine Ethik möglich,
die diesen vernichtenden Kreislauf bewußt und als unumstößlich in
Rechnung stellt? Wenn sich die Dynamik des Willens, die zerstörerische
Dynamik der Bedürfniserweiterung als objektiv unhintergehbar erweist,
kommt es dann darauf an, diese Dynamik auf ethischer Ebene fiktiv zu
hintergehen? Kann es eine Ethik nicht nur der Erlösung, sondern auch
des Untergangs oder der Katastrophe geben? Eine solche, nach wie vor
ausstehende Ethik des Untergangs wird befremden. Sie wird heute
ebenso befremden, wie vor etwa zweihundert Jahren die Ethiken be-
fremdeten, die das individuelle Einzelende, die individuelle Sterblichkeit
in Rechnung stellten. Jene Ansätze, individuelle Sterblichkeit zu akzep-
tieren, konnten damals als moralphilosophisches Skandalon gebrand-
markt werden. Aber heute sind sie wissenschaftliches und kulturelles
Allgemeingut. Das Leugnen individueller Unsterblichkeit führte damals
keinesfalls aus Ethik und Moral heraus. Es führte vielmehr zu neuen
Ethiken des Lebens und des Sterbens.

168
Bloch und Schopenhauer

Auch der in der Gegenwartsphilosophie kontrovers diskutierte


Ansatz, geschichtliche Selbstvernichtung durch einen Bedürfniskollaps
in Rechnung zu stellen37 , muß nicht zu einem Exodus aus Ethik und
Moral führen. So wie Einzelwesen sehr endliche Wesen sind, ist es ange-
sichts neuzeitlicher Geschichtsschübe auch die menschliche Gattung. So,
wie ihnen eine absehbare Dauer beschieden ist, ist ihr ebenfalls ein
Ende beschieden. Wille und Bedürfnisspirale sind offenbar unhintergeh-
bar. Fragwürdig wäre es, diesen Fakt mit Erlösungspostulaten fiktiv zu
übergehen. 38
Philosophie, die sich einer solchen Aufgabe stellen würde, wäre
angesichts dessen nicht nur die Geburtshelferin immer neuer und neuer
gesellschaftlicher Praktiken. Sie leistete vielmehr ideelle Sterbehilfe.
Sie würde sich dabei gerade nicht einem nihilistischen "Prinzip Horror"
und den diversen Apokalypsebildern von Ende und Untergang verpflich-
ten, die nur mehr oder weniger direkte Spiegelbilder eines enttäuschten
"Prinzips Hoffnung" sind. Sondern sie verpflichtete sich selbst in ihrem
Pessimismus dem Prinzip Leben und den letzten würdevollen Vorgän-
gen des Lebens - dem Sterben.

Anmerkungen
1. Vgl. A. Münster, Utopie, Messianismus und Apokalypse im Frühwerk von
Ernst Bloch, FrankfurtJM. 1982, bes. 194 ff.
2. Vgl. E. Bloch, Thomas Münzer als Theologe der Revolution, FrankfurtJM.
1969,175.
3. Vgl. ebda.
4. Vgl. H. Ball, Zur Kritik der deutschen Intelligenz, Bern 1919, 139 ff., 14 ff.,
223 ff.
5. W I, 469.
6. E. Bloch, Thomas Münzer, a. a. 0.,176.
7. Vgl. E. Bloch, Geist der Utopie (2. Fassung), FrankfurtJM. 1977,345.
8. Vgl. ebda., 344.
9. Vgl. W 1,441,447,448.
10. E. Bloch, Geist der Utopie, a. a. 0., 286.
11. Ebda., 342. . kfurtJM
12. E. Bloch, Philosophische Aufsätze zur objektiven PhantasU!, Fran .
1977,171.
13. Vgl. ebda., 170 ff. .
14. F. W. J. Schelling, Schriften 1804 - 1812, Berhn 1982, 146.
15. J. G. Fichte, Die Bestimmung des Menschen, Stuttgart 1981, 1~4, ~56.
16. A. Schopenhauer, Philosophische Vorlesungen, hrsg. V. SpIerhng, Bd. 4,
München 1985, 231.
17. P 11, 337. .. Bl h F k
18. J. Habermas, Ein marxistischer Schelling, in: Uber Ernst oc, ran-
furtJM. 1968, 61 ff. Vgl. auch A. Wüstehube, Das Denken aus dem Grund. Zur

169
OlafBriese

Beckutung der Spätphilosophie Schellings für die Ontologie Ernst Blochs,


Würzburg 1989.
19.Vgl. G. W. F. Hegel, Jenenser Realphilosophie, hrsg. von J. Hoffmeister. Bd. 2,
Leipzig 1931, 197.
20. Vgl. ebda., 198 f.
21. G. W. F. Hegel, Sämtliche Werke, Bd. 5, Berlin 1832 ff., 226.
22. K. MarxIF. Engels, Werke, Bd. 40, Berlin 1985, 574.
23. E. Bloch, Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel, FrankfurtlM.,
1985,515 f.
24. Vgl. Schopenhauer, Philosophische Vorlesungen, a .a. 0.,127.
25. Ebda., 114.
26. Vgl. E, 232, GBr, 108. Die Arbeit von A. Töpel, Zur Soziologie kleinbürgerli-
chen Denkens. Sismondi - Schopenhauer, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 14
(1966), 936 ff. kann keinen direkten Einfluß von Sismondi auf Schopenhauer
nachweisen und zeichnet sich durch unverifizierte Hypothesen und Analogie-
schlüsse aus.
27. Vgl. E. Bloch, Angst und Furcht in unserer Zeit, in: E. Bloch, Politische
Messungen, Pestzeit, Vormärz, FrankfurtlM. 1977,425 ff.
28. E. Bloch, Leipziger Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, Bd. 4.
FrankfUrtIM.1985,392.
29. E. Bloch, Hoffnung mit Trauerflor, in: E. Bloch, Tencknz - Latenz -
Utopie, FrankfurtJM. 1978,336 ff.
30. A. Münster (Hrsg.), Tagträume vom aufrechten Gang. Sechs Interviews mit
Ernst Bloch, Frankfurt/M. 1977, 94 ff.
31. Vgl. E. Bloch, Briefe 1903 bis 1975, hrsg. von U. Opolka, Bd. 1. FrankfurtJM.
1985,202.
32. Vgl. die redigierte Fassung dieser Vorlesungen in E. Bloch, Abschied von der
Utopie? Vorträge, hrsg. von H. Gekle. FrankfUrtIM. 1980, 9 ff.
33. L. Lütkehaus, Schopenhauer. Metaphysischer Pessimismus und
"soziale Frage", Bonn 1980,60.
34. Vgl. W I, 328.
35. Vgl. R. Malter, Arthur Schopenhauer. Transzenckntalphilosophie
und Metaphysik cks Willens, Stuttgart 1991, bes. 395 ff.
36. Vgl. W 1,474 f.
37. Vgl. N. Georgescu-Roegen, The entropy law and the economic process, Cam-
bridge/Mass. 1971; R. Lauth, Entwicklung als Selbstzerstörung?, in: R. Lauth,
Transzenckntale Entwicklungslinien von Descartes bis zu Marx und Dostojewski,
Hamburg 1989, 435 ff.; S. Breuer, Die Gesellschaft cks Verschwindens: Von der
Selbstzerstörung ckr technischen Zivilisation, Hamburg 1992.
38. Vgl. dazu insgesamt: O. Briese, Einstimmung auf den Untergang. Zum
Stellenwert "kupierter" Apokalypsen im geschichtsphilosophischen Diskurs,
Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 20 (1995), 145-156.

170
Zur Philosophie des Todes bei Emmanuel Levinas
Von JosefWohlmuth

1. Hinführung

In seinem Beitrag "Der ,Atheist' und der ,Theologe'. Schopenhauer als


Hörer Schleiermachers" hat Thomas Regehly zwei Gestalten zueinander
gebracht, die nicht gerade Freunde werden konnten. So war Schleier-
macher für Schopenhauer kein "philosophischer Kopf', vielmehr ein
mehr oder weniger "dilettierender Pfaff'l. So ähnlich komme auch ich
mir vor, wenn ich mich als Theologe auf ein philosophisches Gebiet
vorwage und einen zeitgenössischen jüdischen Philosophen vorstelle, der
zu der bei Schopenhauer so zentralen Thematik des Todes einen
beachtlichen Beitrag in der Philosophie unseres Jahrhunderts geleistet
hat, ohne auch nur ein einziges Mal - soweit ich sehe - den Namen
Schopenhauer zu nennen. Und doch scheint mir, daß in der ganz
erheblichen Differenz der beiden Todesphilosophien dennoch eine Ge-
meinsamkeit nicht zu übersehen ist. Doch ich will das Ergebnis nicht
vorwegnehmen und schon gar nicht den Versuch machen, Freunde
Schopenhauers zu einem aufs Ganze recht andersgearteten Denken
herüberzuziehen.
Vielleicht könnte man drei Impulse benennen, die Levinas zu ei-
ner ganz eigenen Philosophie des Todes bewegt haben: 1. Der Einfluß
von Franz Rosenzweig; 2. Die Philosophie des Todes bei Martin Heideg-
ger, mit der sich Levinas in seiner gesamten Philosophie ausein-
andersetzt und letztlich sich auch davon absetzt; 3. Die Ereignisse der
Schoah. Letztere werden bei Levinas fast nie thematisiert und sind doch
im gesamten Werk ganz und gar präsent.
In meiner kurzen Darstellung muß ich notwendigerweise
Akzente setzen. Auf Franz Rosenzweig kann ich gar nicht eingehen und
bezüglich des Werkes von Levinas kann ich nur wenige Aspekte aufgrei-
fen. Ich beziehe mich vor allem auf das Spätwerk, das inzwischen auch
in deutscher Version vorliegt2. Da es aber mit dem Frühwerk engstens
zusammenhängt, kann ich es nicht völlig ausblenden.

2. Aspekte der Todesphilosophie bei Emmanuel Levinas

Programmatisch setzt gleich das Erste Kapitel von Jenseits des Seins
(JS) ein, wenn Levinas nach der Transzendenz fragt. Die Rede von der
Transzendenz wäre nur dann sinnvoll, wenn es sich bei ihr um einen
JosefWohlmuth

Übergang zu einem Anderen des Seins, nicht n~r zu einem ,,Anders sein"
auch nicht zu einem "Nichtsein" handelte. "Ubergehen ist hier nicht
gleichbedeutend mit vergehen und sterben." (JS 24) Im Bereich des
Seins wird eine sich auftuende Leere sogleich ausgefüllt "vom stummen
und namenlosen Raunen des Es-gibt" und dies sei so, wie wenn eine
durch den Tod freigewordene Stelle durch das Gemurmel der nachfol-
genden Bewerber übertönt wird.

Das esse des Seins beherrscht selbst das Nichtsein. Mein Tod ist
bedeutungslos. Es sei denn, mein Tod risse die Totalität des Seins
mit sich fort - wie es sich Macbeth in der Stunde seines letzten
Kampfes wünschte ... Sein oder Nichtsein, das ist also nicht die
Frage der Transzendenz. (JS 24 f.)

Wenn Transzendenz aber weder im Nicht-Sein noch im Anders-Sein


schon zur Debatte steht, fällt die Frage natürlich zuerst zurück auf das
Sein. Was heißt Sein bei Levinas? Seine These lautet:

Esse ist interesse. Sein ist Interessiertsein. Interessiertsein, das


sich nicht lediglich dem Geist anzeigt, wo er durch die Relativität
seiner. Negationskraft überrascht wird, und dem Menschen, der
sich der Bedeutungslosigkeit seines Todes fügt; Interessiertsein,
das sich nicht allein auf diese Widerlegung der Negativität be-
schränkt. Positiv bestätigt es sich als conatus der Seienden. (JS
26)

Daraus folgt für Levinas, daß der Krieg "der Vollzug oder das Drama des
Interessiertseins am Sein" (26) ist und daß somit ein ausschließlich am
Sein interessiertes Menschsein den Tod des anderen Menschen bedeu-
tet.
Schon in seinem früheren Werk Die Zeit und der Andere (ZA)3
hatte sich Levinas von Platons Lehre der Unsterblichkeit abgesetzt.
Platon philosophiere über eine "Welt ohne Zeit" (ZA 64). Das Subjekt
versinkt in eine "kollektive Repräsentation", in ein "gemeinsames Ideal"
(ZA 64). Sobald eine Philosophie das Sein als Gegenwärtigkeit um-
schreibt, spielt der Tod keine Rolle mehr. "Das Problem des Todes
konnte erst wieder wahrhaftig gestellt werden, nachdem der zeitliche
Charakter des Seins anerkannt, die stehende Gegenwart in die Zeit zu-
rückversetzt war."4
Mit der Zeitproblematik verbleibt Levinas einerseits bei einem
Grundthema Heideggers, aber um ihn um so radikaler zu überwinden.
Die Vermittlung zwischen dem Sein als stehendem Augenblick und dem
Sein als Zeit ist bei Levinas eine "Vermittlung zwischen Leben und
Tod"5. Heidegger hatte versucht diese Vermittlung in der "Existenz" als

172
Zur Philosophie des Todes bei Emmanuel Levinas

dem "geworfenen Entwurf' zu sehen, für die gilt, das Leben des Daseins
sei sein Sterben, der Tod gehöre in ~as Leben hinein. Levinas erwartet
schon in seiner frühen Arbeit die Überwindung des Todes nicht mehr
von. eill;em Denken, d.as ..d ie Z~it überwindet und den Zugang zur
EWIgkeIt verschafft. DIe Uberwmdung erwartet Levinas vielmehr von
einer ande~en ~eit, di~ gleichwohl nicht mehr in der Macht des Subjekts
steht. Es 1st eme Zeit der Erneuerung, der Wiedergeburt der Tran-
szendenz, es ist letztlich die messianische Zeit, wie es in T~talität und
Unendlichkeit (TU) heißt6 . Während für Heidegger die Existenz im Tod
zur Höchstform seiner Freiheit kommt, ist der Tod für Levinas eine
letzte Ohnmachtserfahrung: "Was entscheidend ist im Nahen des Todes
ist dies, daß wir von einem bestimmten Moment an nicht mehr könne~
können". (ZA 47)
Dieser Gedanke wird in Totalität und Unendlichkeit aufgenom-
men und fast noch verschärft. 7 Der Tod ist für das Individuum
"unendlich zukünftig", so daß er auch ein Geheimnis bleibt. "Ultima la-
tet". (TU 344) Das Hereinstehen des Todes sei "gleichzeitig Drohung und
Vertagung". "Es drängt und läßt Zeit." Die Drohung erregt Furcht. Der
Augenblick des Todes hat eine eigenartige Struktur. Es ist nicht ein
Augenblick, der sich an der Schwelle zum Nichts oder an der Schwelle
einer Wiedergeburt befindet. Vielmehr liegt der Charakter dieses
Augenblicks nach Levinas "an dem Umstand, daß er im Leben die
Unmöglichkeit jeder Möglichkeit ist". (TU 344)
Schon im Abschnitt mit der Überschrift "Der Atheismus oder der
Wille" in Totalität und Unendlichkeit (66-78) kommt Levinas zentral auf
das Thema Tod. Es geschieht in dem Kontext, in dem der Philosoph
entfaltet, daß die absolute Transzendenz nicht im Modus der Korrelation
zum Seienden gesehen werden darf. (TU 67) Deshalb muß das Subjekt
vom Unendlichen radikal getrennt sein und es gilt: "Das Denken ist das
Ereignis der Trennung" (69). Integrieren lasse sich erst das Seiende, das
tot ist (70). Die Trennung bedeutet für ein Seiendes einerseits, daß es
sich in der Welt einrichten kann und ein eigenes Schicksal hat. Dies
aber bedeutet auch, daß es geboren wird und sterben muß (71). ~vinas
äußert wohl einen zentral jüdischen Gedanken, wenn er memt, d~r
Mensch entkomme dem punktuellen Augenblick des Tode~ n~r dur~h die
Fruchtbarkeit. Dennoch gibt es die Angst vor dem Tod. SIe 1st dann ~e­
gründet, daß die Zeit zweideutig ist, indem die Zeit fehlt und zugleIch
noch aussteht:

Was noch aussteht, ist ganz verschieden VOll; der Z~unft, auf die
man zugeht, die man entwirft, und die man 10 geWissem Maß aus
sich selbst erzeugt. Für ein Seiendes, dem alles nach Ma~ga~e
seiner Entwürfe widerfahrt ist der Tod ein absolutes EreIgnIS,
absolut aposteriori; er bietet dem Vermögen keine Handhabe,

173
JosefWohlmuth

nicht einmal Negation. Das Sterben ist Angst, weil das Seiende im
Sterben, während es endet, nicht endet. (TU 72)

Das Seiende erstickt förmlich. Und dennoch bedeutet dies nach Levinas
nicht sein Ende. Die sterbliche Existenz spielt nicht in der allgemeinen
Zeit der Geschichte. Die allgemeine Zeit ist nicht wie ein Absolutes auf
das sich das sterbliche Ich bezieht. '

Das Leben verläuft in eigener Dimension, in der es einen Sinn hat


und in der ein Triumph über den Tod einen Sinn haben kann.
Dieser Triumph ist nicht eine neue Möglichkeit, die sich nach dem
Ende aller Möglichkeiten anbietet, dieser Triumph ist die Auf-
erstehung im Sohn, die den Bruch des Todes in sich aufnimmt.
Der Tod - das Ersticken in der Unmöglichkeit des Möglichen _
bahnt sich einen Weg hin zur Nachkommenschaft. Die Fruchtbar-
keit ist noch eine persönliche Beziehung, obwohl sie sich dem ,ich'
nicht als Möglichkeit bietet. (TU 72 f.)

Gleichwohl gesteht Levinas in Totalität und Unendlichkeit dem


Individuum nicht zu, "daß das sterbliche Wesen den Tod, dessen Stunde
in der gemeinsamen Zeit der Menschen schlägt, überleben würde." (TU
73) Die Schöpfung bewirkt einen Bruch im Sein und bewirkt, daß ,jedes
Wesen seine eigene Zeit, d. h. seine Innerlichkeit hat, wenn die Zeit ei-
nes jeden von der universalen Zeit unabhängig bleibt." (74) Die Zeit ist
nicht einfach das Kontinuum, dem das Individuum eingepflanzt wird,
sondern es gilt:

Jeder Augenblick der historischen Zeit, in der die Handlung be-


ginnt, ist, genau betrachtet, eine Geburt und zerbricht infolgedes-
sen die stetige Zeit der Geschichte, die Zeit der Werke und nicht
der Willen. (TU 75)8

In Totalität und Unendlichkeit spielt für Levinas die Herausarbeitung


der These eine zentrale Rolle, daß die Subjektivität als eine getrennte
Größe in keiner Weise einem Allgemeinen untergeordnet oder eingeglie-
dert werden darf. Gerade deshalb ist für Levinas hier das Theorem von
der creatio ex nihilo von so zentraler Bedeutung (vgl. TU 148 f.). Nicht
weniger zentral ist der Gedanke der Fruchtbarkeit, den Levinas später
nicht mehr in gleicher Weise betont. Gleich geblieben ist er sich aber
bezüglich der These, daß man mit der Aussage, der Tod eröffne eine
Transzendenz, die anders ist als alle (protentionale) Zukunft, nicht
schon einen Beweis für die Unsterblichkeit der Seele geliefert habe.
Diesbezüglich bleibt Levinas im strengen Sinn jüdisch-alttestamentlich,

174
Zur Philosophie des Todes bei Emmanuel Levinss

und Schopenhauer hat ganz richtig erkannt, daß sich dieses Denken ra-
dikal vom griechischen Denken der Ewigkeit unterscheidet.9
N ach diesen Rückblendungen möchte ich nun fortfahren den
Spuren der Philosophie des Todes im Spätwerk zu folgen. Unte~ der
Voraussetzung (die hier nicht zu entfalten ist), daß für Levinas die leib-
haftige Existenz einer anderen Leiblichkeit ausgesetzt ist und bei der
Annäherung des Anderen erdrückt zu werden droht, so daß immer die
Alternative entsteht: Ich oder der Andere, erreicht die Philosophie des
Todes bei Levinas immer leibhaftigere Züge. Und davon ist bereits das
Leben geprägt. Der Tod ist nur die äußerste Konsequenz einer
Metaphysik, die versucht, die Transzendenz von der Leiblichkeit her zu
verstehen, die bei Levinas unter dem schwierigen Terminus der "Rekur-
renz" behandelt wird. Sie steht im größeren Zusammenhang einer
Subjekttheorie, die unter dem Stichwort der "substitution" ("Stellver-
tretung") besonders im 4. Kapitel von Jenseits des Seins eingehend
besprochen wird. Hatte Levinas in Die Zeit und der Andere noch ausge-
führt, das Subjekt wolle beides: sterbend über sich hinausgehen und
leben - "wir wollen zugleich sterben und sein" (ZA 50) -, so verwendet er
in Jenseits des Seins alle Mühe auf die Darstellung der Transzendenz
der Leiblichkeit, wodurch das leibhaftige Subjekt der leibhaftigen Nähe
des Anderen ausgesetzt ist und zwar "über die bloße Haut hinaus, bis
zur tödlichen Verletzung", einer "Entblößung bis zum Tod" (JS 120)10.
Einer Kernspaltung vergleichbar, wie es an der Stelle heißt, in der ein
innerster Kern zerplatzt, wird die den Kern umschließende Schale
gelöst, das Subjekt auf sein äußerstes Punktsein reduziert, soweit, daß
der Eine, der Vorgeladene, "sich von seinem Innersten, das am esse
klebt, trennt - bis dahin, daß er sich, selbstlos vom Sein löst." (JS 121)
Erst so kommt eine Ausgesetztheit zum Ausdruck, die Levinas ein
"Sagen" nennt. Dieses Sagen ist in Wirklichkeit ein leibhaftiges Geben,
in dem sich der "conatus essendi" in sein Gegenteil umkehrt.

Entbindung, die das sein umkehrt: nicht Seinsverneinung, son-


dern Sich-vom-Sein-Lösen, ein Anders-als-sein, das übergeht zum
Für-den-Anderen, das für den Anderen brennt und dabei die
Grundlagen jeder Für-sieh-Position verzehrt und jegliches Sub-
stanzwerden, das durch diese Verzehrung noch Gestalt annehmen
könnte, ja noch die Asche dieser Verzehrung verzehrt, aus der am
Ende alles erneut zu entstehen droht. (JS 122)

Gerade als inkarniertes Subjekt, d. h. in seiner leibhaftigen Existenz ist


der Mensch qua Geschöpf bereits "hinausgetrieben aus ~em Se~n" (JS
129 f.), d. h. er ist verwundbar, sensibel "und so.. jaß Ihm, WIe de~
Einen in Platons Parmenides Sein nicht zugeschneben werden kann.
(JS 130) Das Subjekt ist in seiner Inkarniertheit durch das Altern, in ei-

175
JosefWohlmuth

ner letzten Müdigkeit, dem letztlich immer gewaltsamen Tod, schon


ausgesetzt, ehe es sich dazu bewußt verhält. Weiter unten (in Kapitel 4)
führt Levinas noch einmal mit Heidegger ein Gespräch, indem er auf die
absolute Passivität des Subjektes hinweist, der sich das Subjekt un-
möglich entziehen kann, so daß sogar die normale Reihenfolge: Leben
sich opfern, sterben, umgekehrt wird. Levinas wagt es von eine~
Sterbenkönnen zu sprechen, "das dem Opfer folgt" (JS 286).
In der Kernspaltung des Ich, in der Rekurrenz zum Sich, in der
äußersten Ausgesetztheit wird der "conatus essendi", der Egoismus des
Beharrens im Sein, der "Imperialismus des Ich" außer Kraft gesetzt. Die
für Heidegger so zentrale Sorge struktur des Daseins wird bei Levinas
durch die Sterblichkeit sinnlos. Wenn der Mensch dennoch sorgt und -
wie nach Tolstoi - noch an dem Abend, an dem er stirbt, Stiefel für die
nächsten 25 Jahre bestellt, wird er zu einer komischen und tragischen
Figur zugleich.
Die Umkehrung des "conatus essendi" geschieht nach Levinas in
der aller Entscheidung vorausgehenden Ausgesetztheit. Das Subjekt er-
lebt den Triumph des eigenen Werkes gar nicht mit, und ist so nicht
Zeitgenosse des eigenen Erfolges. lI Levinas nimmt mit seinen Refle-
xionen dem Tod nicht den Stachel:

Niemand wird so scheinheilig sein, zu behaupten, er habe dem


Tod seinen Stachel genommen - nicht einmal die Prediger der
Verheißung in den Religionen - , doch ist es möglich, daß wir Ver-
antwortungen und menschliche Bindungen haben, durch die der
Tod einen Sinn erhält - denn der Andere betrifft uns von Beginn
an gegen unseren Willen. (JS 287)

Am Schluß des Kapitels 4 beruft sich Levinas auf einen fundamentalen


Gedanken Kants, ohne dadurch freilich dessen gesamtes System zu
übernehmen:

Daß weder die Unsterblichkeit noch die Theologie den kategori-


schen Imperativ zu bestimmen vermögen, darin liegt das Neue
dieser kopernikanischen Wende: der Sinn bemißt sich nicht durch
das Sein oder das Nichtsein, im Gegenteil, das Sein bestimmt sich
vom Sinn her. (JS 287 f.)

Im Schlußkapitel von Jenseits des Seins, in dem Levinas das Ganze sei-
ner Philosophie noch einmal anders sagen will (,,Autrement dit"), kommt
auch die Todesfrage in nochmals anderer Fassung zu Wort. Im Rahmen
des Seins und des "conatus essendi" ist die Dialektik des Seins und des
Nichts Angst vor dem Nichts und folglich Kampf ums Dasein. Auf die
Ironie des Seinsgeschehens gehen nach Levinas möglicherweise sowohl

176
Zur Philosophie des Todes bei Emmanuel Levinas

di~. Komödie al.~ auc~ die Trag?die, aber selbst die eschatologischen
Trostungen zuruck, dIe dem Subjekt suggerieren, letztlich dem Tod und
dem. End~ zu ent~ommen (vg~. JS 376 f.). Levinas fragt, ob sich das
SubJ.ekt mcht vo.r eme AlternatIve gestellt sieht, ja in ihr eingesperrt ist.
Worm besteht dIese Alternative?

Der eine Teil der Alternative wird durch das Verständnis der
IrOJ:üe des sein: und durch die Möglichkeit gebildet, sich mit dem
Umversalen m dem Moment zu verschmelzen, in dem das
D~nken, da~ da~ Ganze umfängt, um darin unterzugehen, an
,mchts wemger denkt ,als an den Tod'. Eingeständnis der
Letztgültigkeit des sein der ausweglosen Immanenz seines ein-
schließenden Spiels; stoische Weisheit in ihren verschiedenen
Spielarten von Zenon bis Spinoza und bis Hegel; Weisheit der
Ergebung und der Sublimierung." (JS 377)

Das esse als ewiges, anonymes Seinsgeschehen I2 triumphiert so sehr


über den Tod des Subjekts, daß dieses sich im Schoß der Ewigkeit des
Seinsspiels geborgen fühlt. Die Eingeschlossenheit wird überspielt. Der
andere Aspekt der Alternative steht nicht weniger vor der Einge-
schlossenheit und Ausweglosigkeit. Aber jetzt wird eine andere
Konsequenz gezogen. Der Mensch läßt sich durch die Irrgänge des
Augenblicks verlocken und entzieht sich seinem retentionalen und pro-
tentionalen Zeitbewußtsein, indem er die "Zeit abstellt" und sich in
Rausch und Droge der Bewußtseinstrübung ergibt. Variationen epiku-
reischer Unschuld und Reinheit, in denen sich die Lust der Ver-
antwortung entzieht und die Liebe sich trennte vom Gesetz, woraus der
Eros hervordrang (JS 377). Beidemale geht es um Scheinlösungen, die
im Seinsgeschehen und dessen conatus und dessen Spiel verbleiben. Die
ganze Ausweglosigkeit des ins Sein eingesperrten Daseins erweist sich
in der Angst vor dem Tod, zu der sich der Abscheu vor der Fatalität
gesellt. Levinas schreibt rückblickend, das gesamte Werk sei darauf an-
gelegt worden, den "conatus essendi" und damit die beiden Teile dieser
eben vorgestellten Alternative in Frage zu stellen. Solange es allein um
das "esse" und "Inter-esse" ginge, bliebe der Krieg als Kampf ums
Überleben das letzte Wort in der Menschheit.
Was ist nun die von Levinas unterbreitete Alternative, wenn
nicht die Auflösung des Subjekts im Allgemeinen und nicht die
Bewußtseinstrübung in der Droge zur Todesbewältigung au.sreich.en? II?
Schlußkapitel von Jenseits des Seins (378 ff.) konzentrIert SIch dIe
Antwort auf die Todesproblematik noch einmal in erstaunlicher Weise.
Es gehe um die Überwindung einer Ontologie, in deren Mi~elpunkt das
Interessiertsein steht das selbst noch den auf das HeIl bedachten
Mystiker mit seiner Hdffnung auf das ewige Leben umtreibt. Es geht um

177
JosefWohlmuth

ein "Ignorieren des Seins und des Todes", um eine "Indifferenz gegen-
über dem sein", die aber die ganze Tragweite des "Sich-vom-Sein-Lösens"
zu ermessen hat. Diese Indifferenz ist nicht rein negativ, sondern bedeu-
tet in anderer Hinsicht zugleich eine "Nicht-Indifferenz", die im "anders
als Sein geschieht" letztlich die Beziehung zum Anderen, das "der-Eine-
für-den-Anderen" betrifft (380). Der eigentliche Durchbruch durch die
Phänomenalität des Seins oder dessen Erscheinen im Bewußtsein - und
somit die Durchbrechung der Ontologie - führt nicht in die zeitlose
Ewigkeit, sondern in die Diachronie, die in der creatio ex nihilo eine un-
vordenkliche Vergangenheit, im Tod eine unverfügbare Zukunft eröff-
net. Das Bewußtsein bleibt nicht "bei sich". In es hinein steht die
Unbehaustheit, die Obdachlosigkeit. Ein Raum tut sich auf, in dem das
Subjekt "auf dem Grunde seiner Substanz Lunge sein kann" (384). Das
Subjekt ist der "Atmosphäre ausgesetzt, bis dahin, daß der Wind der
Anderheit den Atem verschlägt" (385). Subjekt, das heißt Passivität, die
passiver ist als die Materie, es heißt ,,(sich) öffnen wie der Raum, sich
durch die Atmung aus der Geschlossenheit in sich befreien" (385). Alle
Philosophie reduziert das Gesagte auf das leibhaftige Sagen, "führt das
Gesagte auf das Atmen zurück, das sich dem Anderen öffnet ... " (386).
Levinas macht sich selbst den Einwand, ob eine solche Phänomenologie
des Atmens nicht etwas rein Animalisches sei (387). Aber er stößt sofort
zu einer Antwort vor, wenn er fragt, ob nicht die Inspiration durch den
Anderen zuletzt zu einer "Expiration" führt, die letztlich "die Seele aus-
haucht"? An dieser Stelle merkt Levinas dann an:

Die Weisen Israels erzählen in einem Gleichnis, Moses habe die


Seele ausgehaucht, als Gott ihn küßte. Sterben auf Gottes Gebot
hin heißt im Hebräischen (Dtn 34,5) "auf Gottes Mund" [hebrä-
isch: al pi adonail. Das vollkommene Aushauchen - "unter dem
Kuß Gottes" ist der Tod auf Geheiß - in der Passivität und im
Gehorsam - in der Inspiration durch den Anderen für den
Anderen. (JS 388 Anm. 1)

Damit läßt Levinas noch einmal anklingen, was er der Sache nach wie-
derholt schrieb: dem Subjekt müsse der Tod des Anderen mehr bedeuten
als der eigene Tod. Aber der letzte Atemzug wird zum Kuß der Tran-
szendenz, nicht zum verbissenen Opfer, das nur den "conatus essendi"
endgültig in Frage stellt. Insofern könnte man sagen, daß sich hinter der
phänomenalen Subjektivität eine Transzendenz eröffnet, die zuletzt in
der Substitution gründet und damit - für Levinas - in jener "creatio ex
nihilo", die dem Menschen mit der absoluten Grenze zugleich die
Möglichkeit erschließt, sich vom Sein zu lösen und das eigene Leben in
die Waagschale zu werfen, weil gerade die inkarnierte Subjektivität in
ihrer Materialität das Unendliche im Endlichen eröffnet: Die Subjekti-

178
Zur Philosophie des Todes bei Emmanuel Levinas

vität läßt sich nicht auf das Bewußtsein reduzieren sondern auf die
~ib~afti~keit des inkarn!erten Subjekts, in der die Angst umgekehrt
WIrd m em »Des-Interesse, das des permanenten Sich-selbst-Verlierens
im Altem nicht achtet (vgl. JS 237). "Creatio ex nihilo" die bei L~vinas
an verschiedenen Stellen auftaucht und ein ganz z~ntrales Theolo-
gumenon ist, bedeutet für das Subjekt nicht nur, den eigenen Anfang
nicht ableiten zu können - sei es auch von einer heimlichen, voraus-
liegenden Ewigkeit. Unzerstörbarkeit der Materie, von der Platon und
Aristoteies sprechen, wird in der Philosophie nach Levinas zum Inbegriff
der Verdinglichung, die von einer absoluten Passivität, die in der "Idee
der Schöpfung" liegt, nichts weiß:

Die Philosophen haben die Schöpfung immer in ontologischen


Begriffen denken wollen, das heißt, abhängig von einer präexi-
stenten und unzerstörbaren Materie. (JS 244)

Das Theorem der "creatio ex nihilo" schließt gerade aus, sich auf einen
gewissermaßen durchhaltenden Faktor berufen zu können, und
Schopenhauer hat das Problem, wie ich bereits oben anmerkte, glasklar
erkannt. Wenn »creatio ex nihilo", dann auch Tod. Gibt es bereits eine
Ewigkeit vor der Geburt, die meine Existenz bestimmt, dann ist der Tod
ein Scheingeschehen. Der Tod reicht letztlich an die mir zugrundelie-
gende Ewigkeit nicht heran. Doch damit stehe ich bereits am Ende mei-
ner Darstellung, die ich nun mit einigen Fragen zur Diskussion mit der
Todesphilosophie Schopenhauers beschließe.

3. Anregungen zur Diskussion 13

1. Schopenhauer ist nach seinem Hauptwerk Bd. 11, § 41 davon über-


zeugt, daß der Mensch - wie die Tierwelt - weder aus dem Nichts er-
schaffen ist noch im Tod dem Nichts verfällt. Ewigkeit ist das
Schlüsselwort. Die Zeit ist nur die Oberfläche. Das verborgene Wesen
hingegen, das Ding an sich oder der Wille, kennt keine Zeit, es sei denn
durch seine Vermischung mit dem menschlichen Bewußtsein.
Mir scheint Levinas denkt umgekehrt. Die Ewigkeit, das prä-
sente nunc stans i~t der Schein eines Bewußtseins, das selbst einer
Passivität ausgesetzt ist, die ohne unser Zutun altem läßt. Geburt und
Tod sind gleich unverfügbar. Zugleich radikalisiert das Theorem der
creatio ex nihilo" bei L~vinas die Philosophie des Todes, eröffnet aber
~uch - zumindest - die leibhaftig gestellte Frage nach der Andersheit.
2. Die Loslösung von der Oberfläche der Vergänglic~eit bed~ute~ für
Schopenhauer die Möglichkeit, sich der in uns befindlichen EWIgkeIt be-

179
JosefWohlmuth

wußt zu werden. Levinas hingegen sieht angesichts der Diachronie vor


der das menschliche Bewußtsein nicht nur am Anfang und am Ende
sondern mit jedem Atemzug steht, keine Möglichkeit, dem Subjekt
Ewigkeit zuzugestehen, die ihr substantiell zueigen ist. Insofern könnte
man sagen, hier sei jüdisches - und in diesem Punkt auch christliches _
Denken am Werk. Der Hiatus des Todes kann nur durch Wieder-
auferstehung überbrückt werden, aber diese liegt nicht in der Macht des
Subjekts.

3. Das Sterben ist inmitten des Lebens an jene Inkarniertheit des men-
schlichen Subjekts gebunden, in der das Subjekt zuerst gar nicht "Ich"
ist, sondern "Mich", so sehr, daß "Liebe ohne Eros" das Wunder der
Geschöpflichkeit ist, die nicht in die Grenzen des Seins verbannt, son-
dern zum Gutsein berufen ist. Indem Schopenhauer an einer Stelle sei-
ner Überlegungen davon spricht, daß der Geist der Liebe bis hin zur
Feindesliebe und die damit verbundene Bereitschaft, des eigenen Lebens
nicht zu achten, unmöglich "verfliegen und zu Nichts werden kann"l4,
trifft er sich in diesem Punkt engstens mit Levinas. Während jedoch
Levinas damit sein ganzes Philosophieren inszeniert, scheint mir der
Gedanke bei Schopenhauer leider systematisch folgenlos zu bleiben.

4. Könnte Schopenhauers Soteriologie mit Levinas darin übereinstim-


men, daß die Askese im Sinne Schopenhauers den "conatus essendi"
überwindet, so daß die Begründung einer humanen Ethik - wie Levinas
von Karit her sagt - letztlich nicht auf eine Philosophie des ewigen nunc
stans rekurrieren kann? Die eben zitierte Textstelle des zweiten Bandes
des Hauptwerks erscheint mir dafür als Fingerzeig, der aber m. E. durch
die Philosophie von Emmanuel Levinas besser eingelöst wird als durch
Schopenhauers Platonismus.

Anmerkungen
1. Thomas Regehly: Der "Atheist" und der "Theologe". Schopenhauer als Hörer
Schleiermachers. Schopenhauer-Jahrbuch 71 (1990), 7-16,8.
2. E. Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, FreiburgIMün-
chen 1992. (Franz. Autrement qu' etre ou au-dela de l'essence, Den Haag 1978.)
3. Vgl. E. Levinas, Die Zeit und der Andere, Hamburg 1984. (Franz. Le temps et
l'autre, Montpellier 1979 [1947])
4. Wolfgang N. Krewani, Emmanuel Uvinas. Denker des Anderen, Freiburg/
München 1992, 101. Krewani ist als Übersetzer und Interpret der Philosophie
von E. Levinas ohne Zweifel einer ihrer profundesten Kenner im deutsch-
sprachigen Raum.
5. Ebda., 102.

180
Zur Philosophie des .Todes bei Emmanuel Levinas

6. Vgl. E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit, FreiburgIMünchen 1987,416:


"Die Vollendung der Zeit ist nicht der Tod, sondern die messianische Zeit, in der
das Fortwährende sich in Ewigkeit verwandelt .... Ist diese Ewigkeit eine neue
Struktur der Zeit oder eine äußerste Wachsamkeit des messianischen Bewußt-
seins?" Levinas meint, diese Frage sprenge den Rahmen seines Buches. - An die-
ser Stelle wäre am ehesten eine gewisse Verwandtschaft mit Walter Benjamin
zu erkennen, den Levinas - wie er in einem Gespräch bekannte - jedoch in seiner
Philosophie nicht zur Kenntnis genommen habe. Doch darauf ist hier nicht nä-
her einzugehen.
7. Vgl. E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit, a. a. 0., 339-346 ("Der Wille und
der Tod").
8. Auf den schwierigen Begriff des Willens, der zumal im Gespräch mit Schopen-
hauers Philosophie wichtig wäre, kann ich hier nicht eingehen. Eine Art Defini-
tion liegt in Totalität und Unendlichkeit vor, wenn Levinas schreibt: "Ein Seien-
des, dessen Bedingung darin besteht, daEl Erste zu sein im Verhältnis zu seiner
Ursache, ohne Ursache seiner selbst zu sein, nennen wir Willen." (TU 76)
9. Vgl. W 11, 558 (Kap 41): "Die Annahme, daß der Mensch aus Nichts geschaffen
sei, fUhrt nothwendig zu der, daß der Tod sein absolutes Ende sei. Hierin ist also
das Alte Testament völlig konsequent; denn zu einer Schöpfung aus Nichts paßt
keine Unsterblichkeitslehre."
10. Hier erinnert Levinas an eine Stelle in Platons Gorgias (523 c-e). Das Gericht
ist dort eine Beziehung zwischen Toten, die aller Kleider und jeglicher Eigen-
schaft beraubt sind.
11. Vgl. E. Levinas, Humanismus des anderen Menschen, Hamburg 1989, 5.
12. In der deutschen Übersetzung ist die Schreibweise ~ein" als Seinsgeschehen
(essence) zu deuten. ..
13. Vgl. dazu den kurzen und informativen Beitrag von Alfred Schmidt, Uber
Tod und Metaphysik bei Schopenhauer, Schopenhauer-Jahrbuch 69 (1988), 75-
83.
14. W 11, 640.

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