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»Sohn Gottes« — ein messianischer Hoheitstitel Jesu

von Ulrich B. Müller


(Trillerweg 15, 66117 Saarbrücken)

/. Problemstellung
Es hat immer wieder Stimmen gegeben, die den Gottessohn-Titel als
jüdische Messiasbezeichnung für möglich gehalten haben1. Doch überwiegen
seit langem die skeptischen Töne: »Die jüdische Synagoge wird gegenüber
der Idee der Gottessohnschaft grundsätzlich zurückhaltend gewesen sein ...«2
Nachdem Belege wie äthHen 105,2; 4Esr 7,28; 13,32.37.52; 14,9 ausfallen,
weil sie spätere christliche Interpolationen darstellen3, ist schon seit langem
klar geworden, »daß wir nicht einen einzigen sicheren Beleg für diesen Mes-
siastitel aus der urchristlichen oder frühtannaitischen Zeit haben ... Die mes-
sianische Deutung von PS 2,7 ist in der rabbinischen Literatur nicht nur erst
spät bezeugt, sondern es begegnet auch dort nirgendwo der Titel >Sohn Gottes<
außerhalb einer direkten Zitierung vom PS 2,7.«4 Auch nach Kenntnis der
Qumrantexte ist der Befund (abgesehen von 4Q 246) nicht viel anders: »Der
Titel Sohn Gottes wird also in den Qumrantexten außerhalb des at.lichen Zita-
tes nicht gebraucht.«5 Als Schlußfolgerung ergibt sich: Das Judentum hat den
Titelgebrauch offenbar vermieden, »um dem naheliegenden Mißverständnis
dieser Bezeichnung in der außerjüdischen Welt vorzubeugen.«6 Es war be-
sorgt, mit dem Titel »Sohn Gottes« könnte sich »das Mißverständnis einer
physischen Gottessohnschaft verbinden, von der in der Welt des alten Orients«
die Rede war7.

1
Bill III, 20; F. Hahn, Christologische Hoheitstitel. Ihre Geschichte im frühen Christen-
tum, FRLANT 83, 41974, 284-287; M. Hcngcl, Der Sohn Gottes. Die Entstehung der
Christologie und die jüdisch-hellenistische Religionsgeschichte, Tübingen 21977, 71 f.
2
P. Volz, Die Eschatotogie der jüdischen Gemeinde, Tübingen 1934 (= Hildesheim 1966),
174.
3
J. Jeremias, Art. $ C., ThWNT 5, 1957, 676-698: 680 Anm. 196; F.Hahn,
a. a. 0., 285. Zu 4Esr und der dortigen lateinischen Lesart filius meus, die wahrscheinlich
auf zurückgeht, ist die alte richtige Überlegung bei B. Violet, Die Apokalyp-
sen des Esra und des Baruch in deutscher Gestalt, GCS 32, 1923, 74, zu vergleichen:
»Niemals hätte ein Christ in verwandelt, aber sehr leicht umgekehrt.«
4
W.G.Kümmel, Das Gleichnis von den bösen Weingärtnern (Mk 12,1—9), in: ders.,
Heilsgeschichte und Geschichte, MThSt 3, 1965, 215 f.
5
E. Lohse, Art. , ThWNT 8, 1969, 358-363: 362 f.
6
A. a. O., 363.
7
A. a. O., 361.

ZNW87. Bd., S. 1-32


© Walter de Gruyter 1996
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2 Ulrich B. Müller

Diese Einsicht wird sich noch bestätigen und präzisieren lassen, wenn
man weitere Überlegungen zum Charakter herrscherlicher Gesalbtenerwartung
des Judentums anstellt. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, daß sich die
Belege for die Messiashoffhung aus der Zeit vor dem Neuen Testament weitge-
hend auf Texte der Qumran-Literatur und die PsSal beschränken8. Für den
Zusammenhang aber ist wichtiger, daß Sohn-Gottes-Aussagen in einer Weise
auftreten, die eine Verbreitung des Titels für den Gesalbten unwahrscheinlich
machen. In 4Q 174 (Flor) 1,10-13 begegnet ein negativer Befund. Möglich ist
allein, 2Sam 7,14 a zu zitieren, unmöglich anscheinend, es auslegend so zu
entfalten, daß eine ausdrückliche Benennung des Sprosses Davids als »Sohn
Gottes« in der deutenden Aneignung des Psalmtextes geschieht9. Nach dem
Zitat aus 2Sam 7,11 — 14 folgt ja als Deutung nur der Satz: »Das ist der Sproß
Davids, der zusammen mit dem Erforscher der Tora auftreten wird .. .«10 Auch
wenn Unsicherheiten wegen des fragmentarisch erhaltenen Textes bleiben, liegt
doch die Überlegung nahe, daß die Zitation von 2Sam 7 nur besagen soll, daß
das Auftreten des Messias als Erfüllung des Schriftworts gesehen wird, nicht
aber daß irgendein Interesse besteht, den zukünftigen Sproß Davids mit göttli-
chen Prädikaten zu versehen - das Gegenteil scheint der Fall zu sein.
Wenn »Sohn Gottes« in jüdischen Texten als Titel für eine herausragende
Gestalt begegnet, dann am ehesten als frevelhafter und anmaßender Anspruch
eines heidnischen Königs (vgl. Dan 7,25; 11,36). Der viel diskutierte Text
4Q 246 ist hier zu nennen11. Bei ihm liegt wohl eine apokalyptische Epochen-
schilderung vor, wobei mit der Zeit der Bedrängnis das Auftreten eines hybri-
den Königs erfolgt, an den die Herrschaft des Volkes Gottes sich als Heilszeit
anschließt12. Von diesem König heißt es (11,1; vgl. auch 1,9):

8
l Hen 48,10; 52,4 dürften bereits dem 1. nachchristlichen Jahrhundert entstammen. Zur
Gesalbtenerwartung vgl. M. Karrer, Der Gesalbte. Die Grundlagen des Christustitels,
FRLANT 151, 1990, 242-267, bes. 247 f.; im übrigen A. S. van der Woude, Die messia-
nischen Vorstellungen der Gemeinde von Qumran, Assen 1957, und neuerdings F. Garcia
Martinez, Messianische Erwartungen in den Qumranschriften, in: I. Baldermann (Hg.),
Der Messias, JBTh 8, 1993, 171-208.
9
M. Karrer, a. a. O., 253.
10
IQ Sa II,11 f. ist wenig aussagekräftig, da der Text vom erhaltenen Buchstabenbestand
unsicher ist und am ehesten die Übersetzung hergibt: »... when God leads forth the
Messiah«, so die Übersetzung nach emendiertem Text bei J. H. Charlesworth (Hg.), The
Dead Sea Scrolls. Hebrew, Aramaic and Greek Texts with English Translations, Vol. 1,
Tubingen/Louisville 1994, 116f. Anm. 64. Auch wenn man bei anderer Lesung übersetzt
(»wenn Gott den Messias geboren werden läßt unter ihnen«, z. B. Lohse, Art. [s.
Anm. 5] 362), kommt es nicht zur Annahme einer besonderen Gottessohnschaft des Mes-
sias.
11
Edition und Übersetzung bei E. Puech, Fragment d'une apocalypse en arameen (4Q 246
= pseudo-Dand) et le »Royaume de Dieu«, RB 99, 1992, 98-131.
12
Vgl. im Anschluß an Puech, a. a. 0., 115f.127.129f. die Ausführungen bei H.-J. Fabry,
Neue Texte aus Qumran, BiKi 48, 1993, 25-27; K. Beyer, Die aramäischen Texte vom
Toten Meer. ErgBd., 1994, 109-111: Das Auftreten des Königs vor dem Herrschaftsan-

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»Sohn Gottes« - ein messianischer Hoheitstitel Jesu 3

»Sohn Gottes nennt er sich (oder: wird er genannt werden),


und als Sohn des Höchsten bezeichnet man ihn ...«
Von seiner Epoche gilt Schreckliches (11,3-4):
»... alles werden sie zertreten. Ein Volk wird das andere zertreten, und eine Stadt die
andere Stadt,
bis daß sich erhebt das Volk Gottes und alles ruht vor dem Schwert. Seine (= des
Volkes Gottes) Herrschaft wird eine ewige Herrschaft sein und alle seine Wege in
Wahrheit...« 13
Mit Col 11,4 ff. setzt die Heilszeit ein, bei der das Heilssubjekt wahr-
scheinlich »das Volk Gottes« ist, nicht jene Gestalt aus 11,1, die »Sohn Gottes«
heißt14. Der erkennbare Aufbau des Textes legt es nahe, in ihr eine Negativfi-

tritt des Volkes Gottes bezieht sich danach auf Antiochus IV. Epiphanes, der als
galt; vgl. auch P. Stuhlmacher, Der messianische Gottesknecht, in:
Der Messias (s. Anm. 8) 147-149.
13
Puech, a. a. O., 117, erwägt die Möglichkeit, 4Q 246 11,4 zu übersetzen: »... bis daß er
(der Messias) erhebt das Volk Gottes und läßt alles ruhen vor dem Schwert.« Garcia
Martinez, Erwartungen (s. Anm. 8), verteidigt das letztgenannte Verständnis und kann so
die These vertreten, wonach die in 11,1 genannten Titel zwar nicht auf den jüdischen
Messias, aber doch auf eine himmlische Gestalt analog Melchisedek (l IQ Melch) oder
den Menschensohn verweisen. Damit wäre »Sohn Gottes« dann doch wieder Titel einer
»messianischen« Gestalt des Judentums. Dagegen spricht schon, daß eine solche »Sohn
Gottes«-Benennung für das Frühjudentum weiterhin ohne rechte Parallele wäre. Beson-
ders aber widersetzt sich der innere Aufbau des Textes einer solchen Interpretation: Col
11,1 ist wohl noch Teil der Schilderung endzeitlicher Bedrängnis, die Zeile wird nicht
das Auftreten einer Gestalt der Heilszeit meinen, die doch erst 11,4 mit dem deutlichen
Einschnitt »bis daß ...«, der den Beginn der Heilszeit markiert, einsetzt.
14
Dieser Sachverhalt ist in der Forschung allerdings heftig umstritten. F. Garcia Martinez,
The Eschatological Figure of 4Q 246, in: ders., Qumran and Apocalyptic, Leiden u. a.
1992, 162-179, bezieht das Suffix der 3. Person Singular in Col 11,5 ff. nicht auf das
Volk Gottes, sondern auf die fragliche Gestalt, die er dann als himmlische Heilsgestalt
analog Michael oder Melchisedek interpretiert. Diese Lösung ist jedoch insofern schon
problematisch, als von der Gestalt in 11,7 dann gesagt wäre, daß Gott ihre Stärke sei.
J. A. Fitzmyer, 4Q 246: The »Son of God« Document from Qumran, Bib. 74, 1993, 169,
fragt deshalb zu Recht: »Would that be said of a heavenly figure? The thrust of the text,
however, is such that one would expect these titles to be ascribed to a human being.« In
der Tat dürfte mit der fraglichen Gestalt ein irdisches Wesen gemeint sein. Es geht ande-
rerseits auch nicht an, den Gebrauch von »Sohn Gottes« als eine frühe messianische
Interpretation der Gestalt »wie eines Menschensohnes« in Dan 7,13 anzusehen, wie J. J.
Collins es vorschlägt (The »Son of God« Text from Qumran, in: M. de Boer (Hg.), From
Jesus to John. Essays on Jesus and Christology in Honour of M. de Jonge, JSNT.S 84,
1993, 65 — 82). Dagegen spricht zu Recht das Argument von Fitzmyer, a. a. O., 173, »that
there is as yet nothing in the Old Testament or in the pre-Christian Palestinian Jewish
tradition that we know of to show that >Son of God< had a messianic nuance.«
Collins, a. a. O., 71, geht (wie Garcia Martinez) von der Annahme aus, daß das
Pronominalsuffix in Col 11,5 ff. sich nicht auf das Volk Gottes bezieht, sondern auf die
fragliche Gestalt, die er dann in positivem Sinne interpretiert. Eine wesentliche Rolle bei

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gur zu sehen, die vor der Herrschaft des Volkes Gottes erscheint. In den ihr
beigelegten bzw. von ihr beanspruchten Würdetiteln klingt wohl die gleiche,
für einen frommen Juden frevlerische, weil eigenmächtige Anmaßung an, die
schon gegenüber dem Fürsten von Tyrus in Ez 28,2 (vgl. Jes 14,13) Ablehnung
findet:
»Weil dein Herz sich überhoben hat und du gesprochen hast: Gott bin ich, am Götter-
sitz wohne ich mitten im Meer — wo du doch Mensch bist und nicht Gott; aber du hast dich
in deinem Sinn Gott gleich gedünkt...«
Jedenfalls ist es gedanklich ein weiter Weg — um dies vorgreifend zu
sagen — bis zu den Ankündigungsworten an Maria, in denen ganz ähnliche
Hoheitstitel für den geborenen Jesus gebraucht werden wie in 4Q 246: »Dieser
wird groß sein, und Sohn des Höchsten wird er genannt werden ...« (Lk 1,32;
ähnlich 1,35). Die Frage stellt sich sofort: Wie konnten Christen, die noch von
jüdischem Gedankengut geprägt sind, Hoheitstitel wie »Sohn Gottes« auf Je-
sus anwenden, die ansonsten als gottlose Anmaßung gelten mußten?
Zunächst aber ist der frühjüdischen Linie noch ein kurzes Stück zu folgen
und auf die PsSal zu verweisen, die ein herausragendes Zeugnis für die Erwar-
tung eines davidisch-königlichen Gesalbten darstellen, die im Gegenüber zum
hasmonäischen Königtum entfaltet wird (PsSal 17,5 f.)15. Die Verfasser von
PsSal 17 aktualisieren die Nathanverheißung von 2Sam 7,12, die in 17,4 deut-
lich anklingt: »... du (Gott) schworst ihm (David) für seinen Samen in Ewig-

seiner Argumentation spielt die Behauptung, vom Volk Gottes könnte nicht gesagt sein,
daß es die Erde in Wahrheit richten werde (11,5—6). Das sei Gott oder dem messianischen
König vorbehalten. Das ist nicht richtig, vgl. nur Weish 3,8; äthHen 91,12; 95,3; 98,12.
Im übrigen muß Collins, 81, selbst zugeben, daß das Fragment von 4Q 246 »lacks clear
allusions to Daniel's >one like a son of man<«; sie fehlen nämlich ganz und gar!
Die eigene Deutung von Fitzmyer, 173 f., überzeugt allerdings auch nicht: Der Text
spreche in positiver Weise von einem zukünftigen jüdischen Herrscher, »perhaps a mem-
ber of the Hasmonean dynasty, who be a successor to the Davidic throne, but who is not
envisaged as a Messiah.« Diese positive Zeichnung eines hasmonäischen Herrschers wäre
ebenfalls analogielos. Fitzmyer sieht hier Beziehungen zu den Aussagen von Lk l,32f.
Doch läßt sich der aramäische Text nicht von Lk l her interpretieren. Die messianische
Deutung von 2Sam 7 in Lk l,32f. ist nur als christliche Konzeption verstehbar, weil die
christologische Bedeutung des Kindes vorausgesetzt ist und den messianischen Schriftge-
brauch ermöglicht, jedoch nicht als jüdische Konzeption, die dann Konsequenzen für den
aramäischen Text hätte.
Die hier angeführten Deutungen von 4Q 246 gehen davon aus, daß in Col 11,5 ff.
das Pronominalsuffix der 3. Person Singular sich auf den »Sohn Gottes« von 11,1 bezieht,
nicht auf das Volk Gottes. Grammatisch ist das natürlich gut möglich. Es hat sich aber
gezeigt, daß sich dabei keine wirklich plausible Lösung für die fragliche Gestalt des
»Sohnes Gottes« ergibt. Anders steht es m. E. bei einer Negativdeutung der Gestalt und
einer Beziehung der folgenden Aussagen auf das Volk Gottes.
15
Vgl. U. B. Müller, Messias und Menschensohn in jüdischen Apokalypsen und in der
Offenbarung des Johannes, StNT 6, 1972, 77-79.

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»Sohn Gottes« — ein messianischer Hoheitstitel Jesu 5

keit, daß sein Königtum vor dir nicht aufhöre.« In 17,21 findet dann die An-
gabe der Nachkommenschaft (»Same«) eine Individualisierung auf den erhoff-
ten Davididen, den »Sohn Davids«. Ansonsten dominiert in PsSal 17 f. der
Titel »Gesalbter des Herrn« (17,32; 18,Superscriptio.5.7). Damit entsteht für
die Psalmenverfasser ein Titel, der der Einzigkeit Jahwes und damit dem Wür-
deabstand Jahwe - Gesalbter Rechnung trägt. Dieser schließt eine Adoptions-
aussage (wie in PS 2,7) aus: »Nur daß der Gesalbte Davids Sohn, nicht daß er
Jahwes Sohn sei, läßt sich aussagen. PS 2,7 und die Spitze von 2Sam 7,14 a
werden nicht rezipiert.«16
Zu berücksichtigen ist dabei, daß dieselbe Schrift gegen den »Übermut
des Drachen« polemisiert (PsSal 2,25), der im Osten des Römischen Reiches
göttliche Ehrungen entgegengenommen hat17. Gemeint ist Pompejus, gegen
dessen frevlerischen Versuch, sich göttliche Würden anzueignen, jüdische
Empfindlichkeit ihren Abscheu artikuliert. Im Anklang an Ez 28,2 ff. heißt es
über ihn (PsSal 2,28 f.):
»Er bedachte nicht, daß er ein Mensch sei,
und er bedachte nicht das Ende.
Er sprach: >Ich will Herr über Erde und Meer sein<,
und er erkannte nicht, daß Gott groß ist,
mächtig in seiner großen Kraft.«
Je länger und schmerzhafter die jüdischen Erfahrungen mit hellenisti-
schem und römischem Herrscherkult waren, umso anstößiger mußte »das my-
thologische Prädikat des Gottessohnes« sein und »eine einfache Herüber-
nahme der Königstitel von PS 2 in den Messiasglauben« unmöglich machen18.
Dem entspricht, daß nur im übertragenen Sinne — als Ausdruck der Zugehö-
rigkeit zu Gott — vom »heiligen Volk« Israel gesagt werden kann, »daß sie
alle Söhne ihres Gottes sind« (PsSal 17,27.31), ja, daß Gottes Züchtigung dem
Samen Abrahams gilt »wie für einen erstgeborenen, eingeborenen Sohn«
(PsSal 18,4). Hier wirkt (wie auch PsSal 13,9) alttestamentliche Tradition
nach, wonach dem Volk Israel insofern Gottessohnschaft zukommt (z. B. Dtn
14,1; Jes 54,13; Hos 2,25; 11,1), als dabei der Rechts- und Würdeabstand
Gottes gewahrt bleibt19. In diesem Zusammenhang besteht (wie in PsSal 17)
das Bestreben, 2Sam 7,14 a nicht messianisch zu deuten. Dementsprechend
gilt in Jub l,24f. die Verheißung aus 2Sam 7,14 dem auserwählten Volk, das
Gottes Gebote erfüllt. Speziell der gerechte Fromme kann also (wie ursprüng-
lich Israel überhaupt) Sohn Gottes heißen (z. B. Sir 4,10; Weish 2,18), wobei

16
Karrer, Der Gesalbte (s. Anm. 8) 253.
17
Vgl. M. Hengel, Die Zeloten, AGJU l, 21976, 104.
18
W. Bousset, H. Greßmann, Die Religion des Judentums im späthellenistischen Zeitalter,
4
1966, 228.
19
Zum Vater-Sohn-Verhältnis als Umschreibung der Beziehung Jahwes zu Israel vgl. G.
Fohrer, Art. uios, ThWNT 8, 1969, 340-355: 352 f., E. Schweizer, Art. uios, ThWNT 8,
1969, 355-357: 355 f. und E. Lohse, Art. uios (s. Anm. 5) 360 f.

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in Sir 4,10 die griechische Übersetzung abschwächt und nur schreibt: »und du
wirst wie ein Sohn des Höchsten sein.« In ganz anderer Hinsicht fungieren
die Glieder des himmlischen Hofstaats als bene älohim, als »Söhne Gottes«,
wobei »Sohn« hier als bloßer Zuordnungsbegriff dient — als Ausdruck der
Zugehörigkeit zum himmlischen Bereich; dennoch haben die hellenistischen
Juden, die hinter der LXX stehen, den Hofstaat-Namen »Söhne Gottes« meist
durch ersetzt, um allen polytheistischen Anklängen an die Vorstellung
von mehreren Göttern bzw. Söhnen der Götter zu wehren20.
Angesichts der deutlichen Zurückhaltung gegenüber 2Sam 7,14 oder PS
2,7 (vgl. auch PS 89,27 f.; IChr 17,13; 22,10; 28,6) im Frühjudentum muß die
Frage umso dringlicher werden, wie Jesus, der in Jerusalem auf schmachvolle
Weise hingerichtet worden ist, als »Sohn Gottes« geglaubt und bekannt wer-
den konnte, wenn dies, wie wahrscheinlich, eine exklusive Vollmachtsfunktion
und keine bloß generische Angabe über die Zugehörigkeit zum Volk Israel
bedeutet. Wie konnte er diese Bezeichnung als messianischen Titel erhalten,
wie Rom l ,3 f. nahelegt? Zwar wird man grundsätzlich mit inhaltlichen Modi-
fikationen der zugrundeliegenden Erwartung eines königlichen Messias, die in
sich bereits eine gewisse Vielfalt im Judentum kennt, rechnen dürfen, wenn
die frühen Christen diese Vorstellung auf Jesus bezogen haben. Doch bleibt
die Beanspruchung des Titels »Sohn Gottes« für Jesus ein Problem, da davon
auszugehen ist, daß der theonome Bedeutungsgehalt, so variabel er sein
mochte, frühen Christen voll bewußt ist.
Noch das Johannesevangelium läßt möglicherweise erkennen, daß das
Judentum die christliche Titulierung Jesu als Gottessohn als Lästerung empfin-
det: »Nicht wegen eines guten Werkes steinigen wir dich, sondern wegen Lä-
sterung, weil du, obwohl ein Mensch, dich zu Gott machst.« (Joh 10,33.36;
5,18; 19,7) Zwar geht es im Johannesevangelium bereits um »hohe Christolo-
gie«, um die Anschauung, daß Jesus von Uranfang an Gottes Sohn sei; doch
wird der Vorwurf eigenmächtiger Selbstüberhebung, der hier gegen Jesus Aus-
druck findet und die johanneische Gemeinde treffen soll, letztlich auch ältere
Artikulationen judenchristlicher Christologie im Blick haben, die noch keine
Präexistenzvorstellung implizieren. Um letzteres soll es im folgenden gehen.
Es geht um den Aufweis der grundlegenden theologischen Legitimation dafür,
daß frühe Christen, die doch zunächst auch fromme Juden sind, den Davids-
nachkommen Jesus, der zwar von Gott auferweckt ist, einen Würdetitel zuer-
kennen (Rom 1,3 f.), der dem Frühjudentum angesichts des antiken Gebrauchs
(etwa im Herrscherkult) suspekt ist. Ziel dieser Untersuchung ist also der
Gebrauch des Titels, der sich im Gefolge der Glaubensformel von der Einset-
zung Jesu zum Gottessohn gebildet haben dürfte (Rom l,3 f.); jene ebenfalls
schon vorpaulinische Verwendung, die in der sog. Sendungsformel begegnet

20
M. Mach, Entwicklungsstadien des jüdischen Engelglaubens in vorrabinischer Zeit,
TSAJ 34, 1992, 81 f. Ausnahmen von dieser Übersetzung als : LXX 28,1; LXX
88,7; Dtn 32,43.

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(Gal 4,4 f.; Rom 8,3 f.; Job 3,16 f.; l Job 4,9) und den Gedanken des präexisten-
ten Ursprungs des Gottessohnes im Anschluß an die jüdische Gestalt der
himmlischen Weisheit voraussetzt, steht hier nicht zur Diskussion21. Mögli-
cherweise hat ja die Einfuhrung des Titels »Sohn Gottes« in Rom 1,3 f. eine
bahnbrechende Wirkung gehabt, die der Entfaltung des Titels auch im Zusam-
menhang anderer vorstellungsmäßiger Implikationen gedient hat.

//. »Sohn Gottes« in Rom 1,3f.


Zunächst stellt sich speziell anhand von Rom l ,3 f. das Problem, warum
das früheste Christentum den Titel »Sohn Gottes« überhaupt verwenden
konnte. In Rom 1,3 f. ist dabei wohl die traditionsgeschichtlich älteste Verwen-
dung von »Sohn Gottes« zu finden. Das hohe Alter der Aussagen von Rom
1,3 f. zeigt sich daran, daß Paulus hier formelhaftes Überlieferungsgut bereits
zitiert, was weithin unbestritten ist. Für Traditionsgut spricht zunächst der
dafür typische Partizipialstil, der das partizipial konstruierte Verb zweimal
betont voranstellt22:
»der geboren ist aus dem Samen Davids dem Fleisch nach,
eingesetzt zum Sohne Gottes in Macht dem Geist der Heiligkeit nach aus/aufgrund der
Auferstehung der Toten.«
Wichtig ist auch die für Paulus ungewöhnliche Wortwahl im zitierten
Text, besonders bedeutsam aber die inhaltliche Eigentümlichkeit, wonach der
Auferweckte in die endzeitliche Vollmachtstellung als Sohn Gottes eingesetzt
ist, während doch für Paulus längst Geltung hat, daß Gott den präexistenten
»Sohn Gottes« zu den Menschen gesandt hat, was in Rom 1,3 f. in bezeichnen-
der Weise fehlt. Der vorpaulinische Charakter der Formel kommt allerdings
erst dann klar zum Vorschein, wenn man das Gegensatzpaar als solches
- als paulinische Eigentümlichkeit erkannt hat23, wobei
eine ursprüngliche, weil unpaulinische Genitivverbindung »Geist der Heilig-
keit« zugrundeliegt24, so daß möglicherweise die vorgegebene Wendung der

21
Vgl. W. Kramer, Christos, Kyrios, Gottessohn, AThANT 44, 1963, 108-112;
E. Schweizer, Zum religionsgeschichtlichen Hintergrund der »Sendungsformel« Gal
4,4 f.; Rom 8,3 f.; Joh 3,16 f.; Uoh 4,9, in: ders., Beiträge zur Theologie des Neuen
Testaments, Zürich 1970, 83-95.
22
J. Becker, Auferstehung der Toten im Urchristentum, SBS 82, 1976, 18.
23
Vgl. K. Wengst, Christologische Formeln und Lieder des Urchristentums, StNT 7, 1972,
113.
24
Richtig Becker, Auferstehung (s. Anm. 22) 22: »Mir scheint die Hypothetik dann besser
kalkulierbar, wenn man >Geist der Heiligkeit und >nach dem Fleisch ... nach ...< zwei
verschiedenen Stufen zuweist, also für die Doppelung der Wendung Paulus und für die
Genitivverbindung die Tradition verantwortlich macht.« Ähnlich M. Theobald, »Dem Ju-
den zuerst und auch dem Heiden«, in: Kontinuität und Einheit, FS F. Mußner, Freiburg
1981,376-392: 381 f.

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8 Ulrich B. Müller

zweiten Zeile lautet: »eingesetzt zum Sohn Gottes im Geist der Heiligkeit...«
Nimmt man den Satzteil auch noch als ursprünglich an, würde
sich als traditionelle Formulierung der Formel ergeben: »eingesetzt zum Sohne
Gottes in der Macht des Geistes der Heiligkeit«25. Wie dem auch sei, »in
beiden Fällen wäre der Geist das Mittel der Regentschaft des Sohnes Got-
tes«26; denn die präpositionale Wendung (»im Geist der Heiligkeit« bzw. »in
der Macht des Geistes der Heiligkeit«) ist kaum adverbiale Bestimmung zum
Verbum, sondern modales Attribut zu »Sohn Gottes«, das die Art und Weise
der Ausübung der Sohnschaft bestimmt — eben als Sohnschaft in neuer Macht.
Auf jeden Fall aber ist die präpositionale Wendung »seit/aufgrund der Aufer-
stehung der Toten« betontes Schlußglied der geprägten Formel; sie bezeichnet
»den Akt, durch den (und damit seit dem) Jesus Gottessohn wurde.«27
Die rekonstruierte ursprüngliche Formel ist deutlich zweigliedrig. Die
erste Zeile nennt die genealogische Voraussetzung für die entscheidende Aus-
sage der zweiten Zeile, die ihren Grund im Ereignis der Auferstehung Jesu
hat. Aus der Nachkommenschaft Davids stammend, ist Jesus nicht im Tode
geblieben, sondern von Gott zum Sohn Gottes eingesetzt und seitdem zu be-
sonderer Vollmachtsfunktion erhöht. Klar ist inzwischen, daß hier keine
»Zweistufenchristologie« vorliegt, weil die Angabe über die Herkunft »aus
Davids Samen« kein Eigengewicht hat und aller Ton auf der zweiten Zeile
liegt28. Es geht um die Legitimität des von den Jüngern geglaubten Jesus,
dessen Botschaft durch sein tödliches Scheitern widerlegt schien, dessen Auf-
erweckung sein irdisches Wirken grundsätzlich legitimiert hat, was in der
Überzeugung von seiner Einsetzung zum »Sohn Gottes« einen besonderen
Ausdruck findet.
Zu einer solchen Interpretation fuhrt die Erkenntnis, daß die in Rom
1,3 f. vorgegebene Formel ihre nächste Formparallele wohl in der partizipialen
Gottesprädikation hat: »(Gott), der Jesus/ihn von den Toten auferweckte«, die
hinter den Ausführungen in Rom 4,24 b; 8,11; 2Kor 4,14; Gal 1,1; Eph 1,20;
Kol 2,12; IPetr 1,21 noch als bereits vorgegebene alte Formel erkennbar ist,
die zu den ersten Artikulationen christlichen Glaubens gehört hat29. Wird in
25
E. Linnemann, Tradition und Interpretation in Rom 1,3 f., EvTh 31, 1971, 273 f.
26
Becker, Auferstehung (s. Anm. 22) 23.
27
Wengst, Formeln (s. Anm. 23) 115. Diese Aussage oben im Text gilt ganz unabhängig
davon, ob Rom l ,3 f. von der Auferstehung Jesu als Beginn der allgemeinen Totenaufer-
stehung redet oder exklusiv christologisch denkt. Es ist deshalb in diesem Zusammen-
hang auch unerheblich, ob die in der Formel gebrauchte griechische Formulierung sprach-
lich eine Kurzform für ( ) . ( $) darstellt oder nicht. Für das
erstere sprechen sich nach dem Vorgang von H. Lietzmann, An die Römer, HNT 8,
5
1971, 25, sowohl Wengst, Formeln, 114 Anm. 16, als auch H. Merklein, Die Auferwek-
kung Jesu und die Anfange der Christologie (Messias bzw. Sohn Gottes und Menschen-
sohn), in: ders., Studien zu Jesus und Paulus, WUNT 43, 1987, 233 f. Anm. 48, aus.
28
Wengst, a. a. O., 115.
29
J. Becker, Das Gottesbild Jesu und die älteste Auslegung von Ostern, in: Jesus Christus
in Historic und Theologie, FS H. Conzelmann, Tübingen 1975, 105-126.

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»Sohn Gottes« - ein messianischer Hoheitstitel Jesu 9

dieser Gott als der gepriesen, der den den Schmachtod gestorbenen Jesus
durch die Auferweckung neu autorisiert hat, so prädiziert jene — darüberhin-
ausgehend und christologisch ausgerichtet — den Davidsnachkommen Jesus
als den »Sohn Gottes«. Beide Male gilt die Auferweckung als legitimierender
Grund, auch wenn die zeitliche Komponente in Rom l ,3 f. den Ton tragen
sollte (»seit der Auferstehung der Toten«). Erst mit der Auferweckung, die
hier mit der Erhöhung zusammengehört, wird der Davidssohn zum »Sohn
Gottes« in Macht.
Hier hat man allerdings vorsichtig zu sein und mögliche Einwände zu
Rom l ,3 f. zu berücksichtigen. »Aus dem Samen Davids«, d. h. aus seiner
Nachkommenschaft, ist bloß als genealogischer Hinweis zu interpretieren, der
hier — vortitular — nicht mit dem expliziten Gesalbtenbegriff verbunden ist,
so daß der durch davidische Herkunft Bestimmte nur im weiteren Sinne »in
seiner singulären Gottzugehörigkeit deklariert« wäre30. Allerdings fragt sich,
ob man wirklich so offen und vage interpretieren muß. Schließlich deutet die
auffällige Verbindung von davidischer Herkunft und Einsetzung in exklusive
Gottessohnschaft in messianische Zusammenhänge herrscherlicher Gesalbten-
hoffhung. Es geht um die Einsetzung des Erhöhten in endzeitliche Vollmachts-
funktion, die eine Aufnahme und Umprägung ursprünglich jüdisch-messiani-
scher Erwartungen darstellt. Doch in welcher Weise? Gehört die zum Hoheits-
titel »Sohn Gottes« hinzutretende modale Bestimmung »im heiligen Geist«
bzw. »in der Macht des heiligen Geistes« noch zur alten Formel, so beschreibt
sie die Art und Weise dieser neuen Würde — eben als einer Ausübung der
Sohnschaft im Geist, wie die wahrscheinliche Zuordnung der präpositionalen
Wendung es nahelegt. Seit der Auferstehung herrscht Christus durch den Geist
auf Erden31, indem er nämlich als Erhöhter unter den Völkern verkündet wird
(vgl. l Tim 3,16) und im Geist in der Gemeinde wirkt32. Ist dies richtig, ergäbe
sich eine frühchristliche Umprägung jüdisch-messianischen Denkens, insofern
der ursprüngliche Herrschaftsgedanke zwar aufgenommen (vgl. l Kor 15,25),
doch sich im Geist realisierend verstanden wird. Die hinter Rom l ,3 f. ste-
hende Formel enthält also primär eine Aussage über Jesu neue messianische
Funktion, nicht so sehr über seine Machtstellung im Himmel - ein zwar mög-
licher Aspekt, der sich allerdings in keiner Weise andeutet33. Eine Analogie zu

30
Karrer, Gesalbter (s. Anm. 8) 273 und 274 Anm. 186.
31
Vgl. schon die Geistbegabung des Messias in PsSal 17,37; 18,7; IQSb 5,25.
32
Vgl. Becker, Auferstehung (s. Anm. 22) 29 f.; ihm folgend Theobald, Juden (s. Anm. 24)
384.
33
Bei der Anschauung, die Rom l ,3 f. voraussetzt, ist an eine Einsetzung in eine Funktion
als Gottessohn gedacht, die der erhöhte Jesus »irn heiligen Geist« bzw. »in der Macht
des heiligen Geistes«, d. h. auf Erden ausübt. Die hier vorliegende Aussage unterscheidet
sich deshalb von der Inthronisationsformulierung, die im Gefolge von PS 110,1 ein
Sitzen zur Rechten Gottes meint (Rom 8,34; Hebr 1,3.13; 8,1; 10,12f; IPetr 3,22 u. ö.).
Es geht dort um eine Erhöhung als Throngenosse zur Rechten Gottes, also um eine
Aussage, die Jesu neue Stellung im Verhältnis zu Gott, d. h. im Himmel bestimmt. Des-

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10 Ulrich B. Müller

himmlischen Gestalten des Judentums (Melchisedek, Michael, Menschensohn)


liegt nicht vor.
Angesichts der Reserven, die das Frühjudentum gegenüber dem Titel
»Sohn Gottes« empfunden hat, bleibt aber trotz aller Modifikationen des zu-
grundeliegenden Denkens zu diskutieren, inwiefern frühe Christen, die noch
in engem Zusammenhang mit dem Judentum standen, diesen Titel überhaupt
messianisch verwenden konnten: »Warum hat das Bekenntnis an dieser ent-
scheidenden Stelle (d. h. Rom 1,3 f.) >Sohn Gottes< und nicht >Menschensohn<,
>Messias< oder auch >Herr<?«34 - christologische Titel, die (bis auf »der
Herr«) für ein Denken, das noch stark jüdisch geprägt war, erträglicher gewe-
sen wären. Eine erste Antwort wird hier auf die geistige Produktivität früh-
christlicher Schriftdeutung verweisen, die schon bei der alten Glaubensformel

halb wird dabei auch das Verhältnis zu den Engeln erwähnt (Hebr 1,13; IPetr 3,22).
Einen Schritt weiter geht noch der Philipperhymnus Phil 2,6—11: Der Erniedrigte wird
über alle kosmischen Mächte, auch die himmlischen Wesen, erhöht und erhält Gottes
eigenen Namen. Ihren Sitz im Leben haben solche Aussagen wohl im urchristlichen
Hymnus. Anders die bekennmisartige Bestimmung in Rom 1,3 f., die eine funktionale
Auskunft darüber gibt, wie und aufweiche Weise der Erhöhte seine Vollmacht auf Erden
ausübt: »im heiligen Geist« o. ä. Die hier versuchte Unterscheidung im Blick auf die
Inthronisationsaussagen widerspricht der Meinung M. Hengels, »Setze dich zu meiner
Rechten!« Die Inthronisation Christi zur Rechten Gottes und Psalm 110,1, in: M. Philo-
nenko, Le Tröne de Dieu, WUNT69, 1993, 139, der die Einsetzung Jesu zum Sohn
Gottes in Rom l ,3 f. für identisch mit seiner Erhöhung als Throngenosse zur Rechten
Gottes hält (so schon ders., Psalm 110 und die Erhöhung des Auferstandenen zur Rechten
Gottes, in: Anfänge der Christologie, FS F. Hahn, Göttingen 1991, 43-73: 49 f.). Dage-
gen spricht eben der Sachverhalt, daß Inthronisationsaussagen im Gefolge von PS 110
Jesu Hoheitsstellung im Himmel bestimmen wollen, Rom l,3 f. aber seine endzeitliche
Funktion auf Erden im Blick hat. Wie der jüdische Gesalbte Gottes Aufgaben gegenüber
Israel und den Völkern hat, so besitzt der messianische Sohn Gottes in Rom l ,3 f. entspre-
chende Aufgaben gegenüber der Gemeinde und eben auch den (Heiden)völkern. Die
genaue Bestimmung seiner neuen Stellung im Himmel steht hier (noch?) nicht zur Dis-
kussion. Wir haben durchaus damit zu rechnen, daß verschiedene christologische Aussa-
gen nebeneinander und gleichzeitig gemacht werden, die verschiedenen Aussageabsich-
ten dienen sollten. Von Rom l ,3 f. sind wohl gerade solche Gedanken fernzuhalten, wo-
nach etwa der Menschensohn am Ende der Tage Gottes Thron einnehmen wird (äthHen
51,3; 55,4; 61,8; 66,2 f.) - Aussagen, bei denen der Einfluß von PS 110,1.5 f. deutlich
ist. Das gilt auch für andere Konzeptionen, daß eine (wie auch immer geartete) »messia-
nische Gestalt« die Erhöhung im Kreis der himmlischen Engel auf »einen starken Thron
in der Versammlung der elim« erfahrt (4Q 491, ediert von M. Baillet, Qumran Grotte 4,
DJD 7, 1982, 26-29). Jedenfalls wird man in Rom 1,3 f. nicht sogleich solche dezidier-
ten Erhöhungskonzepte voraussetzen dürfen, die Jesu Rangstellung im Kreis der Him-
melswesen umschreiben (gegen M. Hengel, »Setze dich...«, a.a.O., 161-164.175-
177). Denn die Zuordnung zu den Engeln als Gliedern des himmlischen Hofstaats ist in
Rom 1,3 f. nicht im Blick.
34
M. Hengel, Der Sohn Gottes, Tübingen 21977, 98.

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»Sohn Gottes« - ein messianischer Hoheitstitel Jesu 11

l Kor 15,3-5 greifbar ist. Diese wird auch in Rom l,3 f. eine Rolle spielen.
Dabei konnte man möglicherweise aus der Nathanweissagung 2Sam 7,12—14
sogar das Junktim von Auferweckung und Gottessohnschaft Jesu herausle-
sen35:
»... und ich will deinen Samen nach dir auferwecken [wahaqimoti = ] ...,
und ich werde sein Königreich aufrichten ... Ich werde ihm zum Vater, und er wird
mir zum Sohn werden.«
Neben 2Sam 7 mußte speziell PS 2 bedeutsam sein, da auch dort die
Verbindung von königlichem Gesalbten und Gottessohn deutlich ist. Trotz
einer solchen Auskunft scheint aber die Frage immer noch nicht zureichend
beantwortet zu sein, warum das früheste Christentum tun konnte, was das
Judentum gemieden hat, den Titel »Sohn Gottes« zu gebrauchen, ohne die
heidnischen Implikationen des Begriffes zu fürchten, die dem Titel zur Zeit
Jesu anhaften. Der bloße Verweis auf den frühchristlichen Schriftgebrauch
wird nicht genügen; hinzutreten muß eine Antwort darauf, was diesen Schrift-
gebrauch ermöglicht hat.
Die grundlegende Denkbewegung der Doppelwendung in Rom 1,3 f. be-
steht in der Aussage, daß Gott den Jesus, der im Raum Israels und seiner
Geschichte als Davidssohn gelten konnte, dessen Anspruch aber durch seinen
Tod widerlegt schien, rehabilitiert hat und mit der Auferweckung in die Stel-
lung des Sohnes Gottes eingesetzt hat. Die christologische Präzisierung der
alten partizipialen Gottesprädikation ist damit deutlich. Es läßt sich nun zei-
gen, auf welche Weise alttestamentliche Schriftstellen bei dieser Denkbewe-
gung aktualisiert werden konnten: — indem man die frühe Deutung der Pas-
sion Jesu mit Hilfe der Vorstellung vom leidenden Gerechten mit der besonde-
ren Erwartung aus 2Sam 7 oder PS 2,7 verbunden hat.
In der Tat ist ja unbestritten, daß die älteste noch faßbare Schicht im
Passionsbericht Mk 14 f. von der Interpretation Jesu als leidendem Gerechten
geprägt ist, der wegen seines Gehorsams von Gott rehabilitiert wird. Ähnlich
steht es in Rom l,3 f. Folgende für die frühesten Christen neue Erkenntnis
prägt wohl die Formel: Gott hat Jesus, der als Davidsnachkomme und Träger
messianischer Hoffnungen galt, aufgrund seiner Bewährung als leidender und
sterbender Gerechter durch die Auferstehung legitimiert und sich zu ihm in
einzigartiger Weise bekannt. Er hat ihn nicht nur als erprobten Gerechten, als
einen wahren »Gottessohn« Israels angenommen, sondern ihn zum einzigen
Sohn Gottes bestellt gemäß der Verheißungen, die man in 2Sam 7,12-14
und PS 2,7 lesen konnte. Die alte Legitimationszusage bei der königlichen
Thronbesteigung ist in Rom 1,3 f. auf den erhöhten Jesus bezogen, in dem sich
die messianische Erwartung der frühen Gemeinde erfüllt.

35
Ders., a. a. O., 100 f., im Gefolge von O. Betz, Was wissen wir von Jesus?, 1965, 64 ff.
(jetzt erw. NeuaufL, Wuppertal/Zürich 1991, 109-112); vgl. auch H.-W. Kühn, Rom
1,3 f. und der davidische Messias als Gottessohn in den Qumrantexten, in: Lese-Zeichen
für A. Findeiß zum 65. Geburtstag, Heidelberg 1984, 111.

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12 Ulrich B. Müller

Zu beachten ist dabei jedoch, daß erst die Bewährung als leidender Ge-
rechter Jesus dazu legitimiert, in dieser exklusiven Weise als Sohn Gottes
bezeichnet zu werden. Nur diese Voraussetzung rechtfertigte die besondere
Schriftdeutung, die diesen messianischen Hoheitstitel auf ihn übertrug. Ohne
sie bleibt es letztlich unerfindlich, wie dieser gewagte Schriftgebrauch mög-
lich wurde. Das jüdische Denkmodell vom leidenden Gerechten, den Gott ins
Recht setzt, auf Jesus übertragen, erlaubte es, ihn den bewährten Frommen als
einen »Sohn Gottes« zuzuordnen, die genannte Schriftdeutung aber machte
ihn zu dem »Sohn Gottes« im exklusiven Sinne.
Am besten läßt sich dieser Vorgang am Beispiel von Weish 2—3 zeigen,
insofern dort von der Rehabilitierung des Gerechten die Rede ist und dabei
sein Anspruch, Gottes Sohn zu sein, eine Rolle spielt, wenn auch noch anders
als in Rom l,3 f. In der Rede der Frevler Weish 2, l Off. greifen diese den
Gerechten an, weil er ihnen im Wege ist (2,12):
»Laßt uns dem Gerechten auflauern; denn er ist schädlich für uns;
auch widersteht er unseren Werken,
und er schmäht uns wegen der Übertretungen des Gesetzes ...«

Besonders aber bringt sein Erwählungsbewußtsein die Gegner gegen ihn


auf, so daß sie seinen Untergang planen (2,20). Der Gerechte behauptet näm-
lich, »Erkenntnis Gottes zu besitzen und nennt sich ein Kind des Herrn (
)« (2,13). Sein Anspruch spielt auf das Geschick des leidenden Gottes-
knechts an (Jes 52,13; 53,11), wobei das Anstößige für die Gegner darin liegt,
daß der Gerechte aus ihrer Sicht damit prahlt, »daß Gott (sein) Vater (sei)«
(2,16). Daran erkennen sie, daß er sich in sie ausschließender Weise als ein
»Sohn Gottes« versteht (uio$ ) (Weish 2,18). Diese als Provokation emp-
fundene Vater-Sohn-Beziehung zwischen Gott und dem Gerechten möchten
die Frevler auf die Probe stellen, ja ad absurdum fuhren durch ein von ihnen
selbst inszeniertes schmähliches Ende des Gerechten (2,17f.20):
»Laßt uns sehen, ob seine Worte wahr sind,
und prüfen, wie es mit ihm ausgeht.
Denn wenn der Gerechte wirklich ein Sohn Gottes ist,
dann wird er sich seiner annehmen und ihn der Hand der Gegner entreißen ...«

Doch es kommt anders. Bei der eschatologischen Wende, die eine Um-
kehrung gegenwärtiger Verhältnisse mit sich bringt, werden die Gottlosen we-
gen des dann offensichtlichen Triumphes des Gerechten überrascht feststellen
und fragen (5,5):
»Wieso wurde er unter die Söhne Gottes gerechnet und bei den Heiligen (d. h. Engeln)
ist sein Erbteil?«

Gott bekennt sich also zu dem Gerechten: Er wird zur himmlischen


Sphäre erhöht und der Schar der Engel eingegliedert. In den Frevlerreden
Weish 2 und 5 findet sich eine Art »Diptyphon« vom gewaltsamen Tod und

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»Sohn Gottes« — ein messianischer Hoheitstitel Jesu 13

der postmortalen Erhöhung des exzeptionell Gerechten gestaltet, und zwar als
ein Paradigma für das Geschick eines jeden Gerechten36.
Diese besondere Ausprägung des Denkmodells vom leidenden, aber von
Gott rehabilitierten Gerechten scheint nun die markinische Passionsgeschichte
bestimmt zu haben, ja möglicherweise das Markusevangelium als ganzes zu
beeinflussen37. Sie dürfte aber schon hinter der Grundaussage von Rom 1,3 f.
stehen, wobei auch die Bezeichnung »Sohn Gottes« für den Gerechten zum
Zuge kommt. Wie der exemplarische Gerechte sich der besonderen Vaterschaft
Gottes rühmen kann (Weish 2,13.16; vgl. auch Sir 51,10), die sich in der
postmortalen Erhöhung in den Himmel als gerechtfertigt erweist, so wird Jesus
zum Sohn Gottes eingesetzt. Die Besonderheit der jüdischen Weisheitsaussa-
gen ist aber herauszustellen. In Weish 2,13.16 gilt der Typus des Gerechten
als Sohn Gottes, wobei die vorliegende Betrachtungsweise unter Einfluß von
Jes 53 stehen wird (erkennbar in der Bezeichnung 2,13). Was sonst
vom auserwählten Volk Israel Geltung hat: »Dieses Volk ist Gottes Sohn«
(Weish 18,13), ist jetzt dem einzelnen Gerechten zugesprochen (vgl. auch
Weish 9,7; 12,21; 16,10.26; 18,4). Die alttestamentliche Auffassung von den
Israeliten als Söhnen Gottes wird in Weish 2 und 5 auf einzelne eingeschränkt:
»In diesem Sinne ist nicht Gesamtisrael Sohn Gottes, sondern alle die Israeli-
ten, die ein solch enges Verhältnis zu Gott haben wie der in 2,13.«38
Im Vergleich zu Rom 1,3 f. drängt sich jedoch der Schluß auf: Von die-
sem generischen Gebrauch der Bezeichnung Sohn Gottes, die dem Typus des
leidenden Gerechten in Israel zukommt, ist kein direkter Weg zu Jesus als
dem einzigen Sohn Gottes zu finden. Zwar wartet auf den Gerechten ein
außergewöhnliches Geschick, die himmlische Erhöhung und Versetzung in die
Gemeinschaft der Engel (Weish 5,5). Doch bleibt dieses Geschick grundsätz-
lich wiederholbar, ja ist als Ansporn für jeden Gerechten geschildert. In Rom
l ,3 f. aber erweist sich der von Gott auferweckte Davidsnachkomme Jesus,
der in schmählicher Weise getötet und von Gott rehabilitiert ist, in einzigarti-
ger Weise als »der Sohn Gottes«. Hier hat erst die messianische Schriftdeutung
von 2Sam 7,12-14 und PS 2,7 es ermöglicht, in dem durch gerechtes Leiden
bewährten Jesus nicht nur einen vorbildlichen Sohn Gottes zu sehen, der wie
jeder fromme Israelit Gott seinen Vater nennen kann, sondern »den Sohn Got-
tes« analog der Verheißung der Schrift. Vor allem aber gilt auch das Umge-

36
Vgl. L. Ruppert, Gerechte und Frevler (Gottlose) in Sap 1,1-6,21, in: H. Hübner (Hg.),
Die Weisheit Salomos im Horizont biblischer Theologie, BSt22, 1993, 1-54: 35.
37
Vgl. L. Ruppert, Jesus als der leidende Gerechte?, SBS 59, 1972; D. Lührmann, Biogra-
phie des Gerechten als Evangelium, WuD.NF 14, 1977, 25 — 50, besonders dort die Frage
(39): »Liest sich das [d. h. Weish 2,12-20] nicht wie die Geschichte Jesu aus der Sicht
seiner Gegner, nicht nur derjenigen, die ihn noch am Kreuz verspotten (15,29—32), son-
dern auch derjenigen, die ihm von Anfang seines Weges an nachstellen (3,6!)?«
38
A. Strotmann, »Mein Vater bist du!« (Sir 51,10). Zur Bedeutung der Vaterschaft Gottes
in kanonischen und nichtkanonischen frühjüdischen Schriften, FThSt 39, 1991, 116.

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kehrte: Erst die Anwendung des Denkmodells vom leidenden Gerechten auf
das Geschick Jesu konnte für die frühe Gemeinde die legitimierende Voraus-
setzung schaffen, jene für das Judentum ungewöhnliche Schriftdeutung zu wa-
gen und möglicherweise aus 2Sam 7,12—14 sogar das Junktim von Auf-
erweckung und exzeptioneller Gottessohnschaft Jesu herauszulesen. Wie
2Sam 7 ist gerade auch PS 2 bedeutsam gewesen: Gott hat Jesus nicht nur als
erprobten Gerechten, als einen der wahren Gottessöhne Israels angenommen,
sondern ihn zu dem einen »Sohn Gottes« bestellt gemäß dem exklusiven
Gottesentscheid aus PS 2,7: »Mein Sohn bist du, ich selbst habe dich heute
gezeugt.«39

///. »Sohn Gottes« in markinischer Tradition


Will man dem Gebrauch des Gottessohn-Titels, der unabhängig von der
Präexistenzidee frühchristliche Verwendung gefunden hat, noch ein Stück weit
näherkommen, ist man auf die synoptische Erzählüberlieferung verwiesen40.
Man wird sofort an Tauf- und Verklärungsbericht im Markusevangelium den-
ken, insofern dort Traditionen begegnen, die wohl ein hohes Alter haben. Auch
die Nähe des dortigen Gottessohn-Titels zu Rom 1,3 f. drängt sich auf, wenn
auch ein bereits weiter entwickeltes Traditionsstadium vorliegt, da die Auffas-
sung Jesu als Gottessohn mit einem früheren Datum als der Auferweckung
von den Toten verbunden ist, nämlich mit der Verklärung (Mk 9,2-8) bzw.
der Taufe Jesu (Mk 1,9—11). Zu erinnern ist an die bekannte These: Die
Tauferzählung ist »als einheitliche Komposition anzusehen, die unter Verwen-
dung traditioneller eschatologischer Elemente ... und einer an PS 2,7 anklin-
genden Adoptionsformel die Einsetzung Jesu zum König der Endzeit aussagt,
also den gleichen >Gottessohn<-Begriff verwendet wie Rom l,3 f., jedoch die

39
Vgl. Fohrer, Art. $ (s. Anm. 19) 351.
40
Eine weitere Präzisierung des Sohn-Gottes-Titels, wie er in Rom l ,3 f. vorliegt, ist kaum
möglich, da weitere vor- bzw. nebenpaulinische Belege fehlen, wenn man von der soge-
nannten Sendungs- und Dahingabe-Formel absieht, die aber ganz eigene traditionsge-
schichtliche Wurzeln hat (vgl. Kramer, Christos [s. Anm. 21] 108-123). Ein besonderer
Text, der hier wichtig ist, könnte in der alten Formel zu finden sein, die hinter den
traditionellen Topoi urchristlicher Missionspredigt steht (IThess l,9f.). Doch ist dort die
traditionsgeschichtliche Einordnung des Sohn-Gottes-Titels sehr ungewiß und deshalb
umstritten. Zwei Erklärungsmodelle wären denkbar:
1. Der judenchristliche Gottessohntitel wäre hier aus dem Traditionsbereich der
Einsetzung Jesu zum Gottessohn bei der Auferstehung (Rom l ,3 f.) auf den zur Parusie
Kommenden übertragen (vgl. Kramer, Christos, a. a. O., 122). Dafür könnte die Verbin-
dung von Parusieerwartung und Aufweckungsaussage sprechen: »... und zu erwarten
seinen Sohn aus den Himmeln, den er [Gott] von den Toten auferweckt hat...«
2. Es wäre denkbar, daß »Gottessohn« sehr früh ein ursprüngliches »Menschen-
sohn« (vgl. aus der synoptischen Tradition besonders Mt 10,23) im griechischen Bereich
ersetzt hätte (Wengst, Formeln [s. Anm. 23] 41).

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»Sohn Gottes« - ein messianischer Hoheitstitel Jesu 15

Einsetzung in diese Würde von der Auferstehung auf die Taufe Jesu ver-
legt ...« 41
Zu fragen ist also, ob die Grundthese stimmt, ob bzw. in welcher modifi-
zierten Form sich die traditionsgeschichtliche Nähe zwischen dem Gottessohn-
Titel in Rom l ,3 f. und den markinischen Berichten halten läßt.
Eines aber läßt sich jetzt schon sagen. Für Tauf- und Verklärungsge-
schichte ist es — vom Erzählduktus der jeweiligen Geschichte betrachtet —
entscheidend wichtig, daß die Himmelsstimme in Mk 1,11 und 9,7 Jesus als
einzigen Gottessohn autorisiert. Es bedarf also der außergewöhnlichen Legiti-
mationsform, um dem irdischen Jesus den Titel »Sohn Gottes« zuzuschreiben.
Trotz der bereits frühchristlich vorgegebenen Tradition in Rom 1,3 f. ist diese
Gottessohnaussage für den Irdischen nicht selbstverständlich. Dabei wird rele-
vant sein, daß der Vorstellungshorizont der jeweils ursprünglichen Geschichte
durchaus jüdisch geprägt ist: Jesus wird mit Johannes dem Täufer bzw. mit
Mose und Elia in Verbindung gebracht. In beiden Erzählungen wird die jü-
disch bestimmte Zurückhaltung gegenüber dem Titel »Sohn Gottes« eine Rolle
spielen. Sie wird durch die göttliche Legitimation der Himmelsstimme über-
wunden. Zwar wird sich zeigen, daß der primäre Legitimationsbedarf bei der
Aussage besteht, daß gerade dieser Jesus »Sohn Gottes« ist; doch verrät noch
die Darstellung des Evangelisten Markus, daß seiner Meinung nach Jesu
Selbstbekenntnis als »Sohn des Hochgelobten« (= »Sohn Gottes«) in jüdi-
schen Ohren Blasphemie darstellt (Mk 14,61—64).
Bei diesen Überlegungen ist impliziert, daß der erste Teil der Himmelsstimme bei
Tauf- und Verklärungsgeschichte (Mk 1,11; 9,7) jeweils PS 2,7 voraussetzt, nicht aber Jes
42,1, das erst bei der zweiten Aussage in Mk 1,11 in Frage kommt. Dieser Befund ist in
einer gründlichen Untersuchung längst abgesichert worden42, die u. a. zeigt, daß die LXX in
ihrem Sprachgebrauch und uio$ nicht wahllos miteinander vertauscht, sondern genau
zwischen diesen beiden Wörtern unterscheidet. Es liegt deshalb nicht nahe, in Mk 1,11 (uio$)
eine Wiedergabe von hebräischem »Knecht« anzunehmen; vielmehr ist es noch immer die
einfachste Verständnismöglichkeit, PS 2,7 als Hintergrund von Mk 1,11 zu begreifen. Auch
Weish 2,13 ff. weist nicht in eine andere Richtung43. Jedenfalls wird dort nicht
(2,13) gleichwertig neben (2,18) gebraucht. In 2,13 liegt in der Tat ein Anklang an
die Gottesknechtstradition vor (ob speziell an Jes 42,1, ist schon zweifelhaft); in 2,18 wird
die vorgegebene Aussage von 2,13 aber neu interpretiert mit Hilfe der Tradition vom exem-
plarischen Gerechten, der (wie ursprünglich das auserwählte Volk Israel) als ein Sohn Gottes
galt. 2,18 mit $ ist also keine Übersetzung von Jes 42,1 oder einem anderen Gottes-
knechtstext, so daß Weish 2 keinen Beleg dafür darstellt, daß man »Knecht« aus Jes 42, l
mit uio$ übersetzen konnte44.

41
Ph. Vielhauer, Zur Frage der christologischen Hoheitstitel, ThLZ 90, 1965, 569-588:
584; ähnlich auch ders., Erwägungen zur Christologie des Markusevangeliums, in: ders.,
Aufsätze zum Neuen Testament, TB 31, 1965, 199-214: 205 f.
42
H.-J. Steichele, Der leidende Sohn Gottes, BU 14, 1980, 125-135.
43
Anders D. Lührmann, Das Markusevangelium, HNT 3, 1987, 38.
44
Anders ders., ebd.

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16 Ulrich B. Müller

Dazu tritt die grundsätzliche Erwägung. Der Gebrauch von »Sohn Gottes« als exklusi-
ver Titel für Jesus in Mk 1,11 weist schon aufgrund dieser christologischen Besonderheit auf
einen direkten Zusammenhang mit der Aufnahme von PS 2 bzw. 2 Sam 7 in Rom 1,3 f. Jeden-
falls schließt diese Exklusivität eine Abhängigkeit von der generischen Verwendung von
»Sohn Gottes« für den exemplarischen Gerechten aus. Jesus ist der einzige Sohn Gottes,
nicht typischer Frommer und insofern ein »Sohn Gottes«. Deshalb ist ein Bezug von Mk
1,11 (»Sohn Gottes«) zu Jes 42,1 (»mein Knecht«) unwahrscheinlich, insofern die Gottes-
knechtstradition in Weish 2 in der Konzeption vom leidenden Gerechten aufgegangen ist.

1. Die Bedeutung des Titels in der Taufgeschichte Mk 1,9—11


Die Taufgeschichte Mk 1,9—11 wird sich als ein dem markinischen Re-
daktor vorgegebenes Traditionsstück erweisen45, der wahrscheinlich nur mit
der Zeitangabe in V. 9, der Ortsangabe Galiläa und dem bekannten
(V. 10) in den Text eingegriffen hat. Formkritisch ist sie als Epiphanieerzäh-
lung einzuordnen, bei der »die Göttlichkeit einer Person nicht nur an ihren
Auswirkungen oder Begleiterscheinungen (evtl. Wunder), sondern an dieser
Person selbst erscheint.«46
Auf die knappe Schilderung der Taufe Jesu folgen als Erzählmomente,
die die göttliche Erscheinung Jesu deuten sollen, die Spaltung der Himmel,
die Herabkunft des Geistes und die entscheidende Offenbarung durch die Him-
melsstimme. Wichtig ist nun die genaue Funktionsbestimmung der Himmels-
stimme: »Du bist mein geliebter Sohn; an dir habe ich Wohlgefallen.« Man
hat zu Recht festgestellt, daß es dabei nicht um Adoption geht, sondern um
eine Prädikation Jesu für den Leser, der damit erfährt, wer der ist, von dem
im folgenden die Rede ist47. Im Unterschied zur zugrundeliegenden Legitima-
tions- bzw. Adoptionsformel aus PS 2,7 (»mein Sohn bist du«) liegt der Ton
der Himmelsstimme nicht auf dem Prädikatsnomen, sondern auf dem »du
bist...« (bzw. »an dir ...«), also darauf, »daß dieser Jesus der geliebte Sohn
Gottes ist.«48 Die Erzählung ist nicht am Gedanken der Adoption interessiert,
also der jetzt erfolgenden Einsetzung Jesu in die Gottessohnschaft, sondern an
der betont identifizierenden Anrede Jesu. Es geht um die Bekräftigung, daß
dieser Jesus, der die Johannestaufe auf sich genommen hat, daß also er, nicht
ein anderer der Sohn Gottes ist. im Kontext der Taufgeschichte liegt es nahe,
an den Täufer zu denken, von dem die Abgrenzung erfolgt: nicht im Sinne
einer Polemik gegen eventuelle Täuferkreise und ihre messianischen Vorstel-
lungen, sondern als eine besondere Herausstellung Jesu, der, obwohl von Jo-
hannes getauft, eben mehr als der Täufer ist, eben »der geliebte Sohn«, an

45
Ähnlich Steichele, Sohn Gottes (s. Anm.42) 115 f.
46
G. Theißen, Urchristliche Wundergeschichten, StNT 8, 1974, 102; anders M. Dibelius,
Die Formgeschichte des Evangeliums, Tübingen 31959, 271.
47
Vgl. Lührmann, Markusevangelium (s. Anm. 43) 38.
, 48 A. Vögtle, Die sogenannte Taufperikope Mk 1,9-11, in: EKK.V4, 1972, 135. Ihm fol-
gend R. Pesch, Das Markusevangelium 1. Teil, HThK 2/1, 51989, 92-94.

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»Sohn Gottes« — ein messianischer Hoheitstitel Jesu 17

dem Gott Wohlgefallen hat. Es liegt die auch sonst belegte christologische
Gedankenbewegung vor, die im Kern schon auf den historischen Jesus zurück-
geht: »Hier ist mehr als Salomon« — »hier ist mehr als Jona« (Lk 11,31 f.).
Die Epiphanieerzählung von der Taufe will die gegenüber Johannes dem Täu-
fer höhere, ja ganz neue heilsgeschichtliche Würde Jesu verkünden.
Dabei dürfte die jetzige Fassung der Himmelsstimme, die den Ton nicht auf die Verlei-
hung der Sohnschaft an Jesus legt und die Fortsetzung von PS 2,7 bezeichnenderweise nicht
kennt (»heute habe ich dich gezeugt«, so aber Act 13,33; Hebr 1,5; 5,5), keinesfalls erst
markinische Redaktion darstellen, sondern vorgegeben sein. Bereits der gedankliche Duktus
der Einzelerzählung, nicht erst die Einordnung in die markinische Konzeption verlangt eine
präzisierende Verhältnisbestimmung bzw. Abgrenzung Jesu vom Täufer: Jesus, der von Jo-
hannes im Jordan getauft wurde (1,9), ist gleichwohl der Sohn Gottes, an dem sich die
Geister scheiden.
Auch die enge formale Parallele zur Taufstimme in äthHen 71,14 legt nahe, daß Mk
1,11 in der dem Evangelisten überkommenen Gestalt keine Einsetzung zum Gottessohn inten-
diert. Die Anrede an Henoch: »Du bist der Menschensohn, der zur Gerechtigkeit geboren ist,
und Gerechtigkeit wohnt über dir, und die Gerechtigkeit des Hauptes der Tage verläßt dich
nicht« zielt ebenfalls kaum auf eine entsprechende Einsetzung Henochs zum Menschensohn.
Vielmehr will das mehrfach wiederholte funktionsgleiche, nämlich identifizierende »Du« der
Anrede in äthHen 71,14—16 ähnlich wie Mk 1,11 eine abgrenzende und identifizierende
Aussage machen. Henoch, nicht ein anderer ist die entscheidende Orientierungsfigur. Auf
seinem Wege zu wandeln (71,16), hat die göttliche Verheißung für sich, weil ihn die Gerech-
tigkeit nicht verläßt und bei ihm die Wohnungen der Frommen sein werden.
Dem Epiphaniecharakter des Taufberichts dienen die Zeichen der anbre-
chenden Heilszeit, die der Himmelsstimme vorangehen: Zerreißen der Himmel
und Herabkunft des Geistes. Zu beachten ist dabei, daß die Himmelsöffmmg
nicht nur die Schau des vom Himmel herabkommenden Geistes ermöglichen
soll (vgl. Ez 1,1). Es heißt ja nicht Mk 1,10: »Da öffneten sich die Himmel,
und er sah ,..« 49 Vielmehr schaut der aus dem Wasser heraufsteigende Jesus
die »sich spaltenden Himmel« und den herabsteigenden Geist. Beide Objekte
sind gleichgewichtig nebeneinander gestellt. Sie erscheinen als je selbständige
Epiphaniephänomene, wobei das erstere nicht nur der Ermöglichung des zwei-
ten dient. Wenn dies stimmt, verdient diejenige Interpretation den Vorzug, die
in beiden Ereignissen die eschatologische Heilszeit eröffnende Phänomene
sieht. Die Himmelsspaltung nimmt dann den alten Wunsch nach Gottes retten-
dem Eingreifen auf, wie er in Jes 63,19 formuliert ist: »Ach, daß du die Him-
mel zerrissest und führest herab, daß vor dir die Berge erbebten ...« Zerreißen
der Himmel und Herabkommen Gottes sind dort verbunden wie die entspre-
chenden Zeichen in Mk 1,10. Dabei liegt der Ton auf der bloßen Tatsache der
Katabase des Geistes auf Jesus sowie seiner gestalthaften Erscheinung (»wie
eine Taube«), nicht aber darauf, daß die Herabkunft des Geistes Jesus erst zu
dem macht, was die folgende Himmelsstimme formuliert. Hier liegt keine mit

49
Vgl. zutreffend Vögtle, a. a. O., 135.

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18 Ulrich B. Müller

der Geistbegabung erfolgende Einsetzung zum Gottessohn vor. Zerreißen der


Himmel sowie gestalthaftes Herabsteigen des Geistes auf Jesus sind nur paral-
lele Zeichen der anbrechenden eschatologischen Zeit. Erst die Himmelsstimme
sagt das alles Entscheidende aus:
»Du bist mein geliebter Sohn,
an dir habe ich Wohlgefallen.«
Daß hier kein Adoptionsvorgang im Blick ist, hat sich schon nahegelegt
aufgrund der Beobachtung, daß im Unterschied zu PS 2,7 das Gewicht nicht
so sehr auf der Aussage liegt, was Jesus ist oder welche Würdestellung er
einnehmen soll, sondern daß gerade er sie innehat, nicht ein anderer. Diese
Interpretation läßt sich noch absichern durch die Erkenntnis des Parallelismus
membrorum der beiden Teile der Himmelsstimme. Die Erwählungsaussage
der zweiten Zeile sichert das Verständnis der ersteren. Bei der zweiten Zeile
wird Jes 42,1 im Hintergrund stehen. Wichtiger aber ist, welche Bedeutung
der Aorist der zweiten Zeile hat50. Entweder drückt eine Handlung
aus, die nach der Taufe geschehen ist: »An dir habe ich Wohlgefallen gefun-
den.« Jesus wäre dann derjenige, der im Gefolge der Taufe und zu diesem
Zeitpunkt von Gott erwählt, d. h. zum Sohn Gottes eingesetzt wurde entspre-
chend dem ursprünglichen Sinn von PS 2,7: »Heute habe ich dich gezeugt.«
Oder aber — und dafür spricht alles — ist der Aorist im Sinne des hebräischen
Perfectum praesens verstanden, das die LXX mit dem Aorist übersetzt. Dieser
Aorist gibt dann einen gegenwärtigen Zustand wieder, der aus einer abge-
schlossenen Handlung hervorgeht51. Jesus hat bereits grundsätzlich (und damit
vor der Taufe) Gottes Wohlgefallen gefunden. Aufgrund der Parallelität der
beiden Zeilen in V. 11 folgt daraus für das Verständnis der ersteren, daß auch
sie nicht darauf abzielt, daß Jesus gerade im Anschluß an die Taufe zum Got-
tessohn installiert wird. Vielmehr bestätigt sich die Erkenntnis darüber, was
bisher schon als Skopos der ganzen Epiphanieszene sich abzeichnete: Er, nicht
ein anderer (etwa Johannes) ist Gottes einziger Sohn, »die entscheidende Ge-
stalt der Heilsgeschichte.«52
Der Sinn der zugrundeliegenden Legitimations- bzw. Adoptionsformel
PS 2,7 ist damit entscheidend verändert. Es ist zwar ziemlich sicher, daß PS
2,7 im Blick ist, auch wenn mit der Änderung der Wortstellung der Ton vom
Prädikatsnomen (»mein Sohn«) auf das Subjekt (»du bist«) verlegt ist; auch
Jes 42,1 spielt eine Rolle, weil Geistausrüstung dort mit der Erwählungsaus-
sage verbunden ist. Entscheidend aber ist, daß mit der Übernahme des Gottes-

50
Vgl. zum folgenden die richtig aufgezeigte Alternative bei Steichele, Sohn Gottes (s.
Anm.42) 150 f.
51
Vgl. zu diesem Gebrauch Gen 22,2 LXX: »Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du
(liebgewonnen hast, d. h. jetzt) liebst.« Derselbe Aorist liegt in Mt 17,5 vor. Bl.-Debr.-
R. § 333,2.
52
Pesch, Markusevangelium (s. Anm. 48) 94.

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»Sohn Gottes« — ein messianischer Hoheitstitel Jesu 19

sohn-Titels doch wohl jene christologische Tradition in Mk 1,11 nachwirkt,


die schon in Rom l,3 f. ihren Ausdruck gefunden hat. Trotz des Zusammen-
hangs mit Rom 1,3 f., wo ursprünglich königliche Funktionen Jesu als des
Sohnes Gottes noch in umgeprägter Form erkennbar sind, insofern er durch
den heiligen Geist auf Erden herrscht (s. o.), sind solche Aufgaben Jesu in der
Taufgeschichte nicht direkt faßbar. Es geht allein um die ganz grundsätzliche
Bestimmung, daß sich allein in Jesus als dem einzigen Sohn Gottes das escha-
tologische Heil vermittelt. So signalisieren die eschatologischen Epiphanie-
phänomene der Erzählung, daß Gott in letztgültiger Weise die Person Jesu als
Heilsgaranten erwählt hat. Die Abgrenzung gegenüber Johannes dem Täufer
hat dabei nur dienende Funktion.
Einen Zusammenhang zwischen Rom 1,3 f. und Mk 1,9—11 hat gerade
jene These der Forschung gesehen, die in Mk 1,9-11 eine Art Vordatierung
des Gottessohn-Titels von der Auferstehung Jesu auf die Taufe angenommen
hat53. Dieser Sachverhalt ist insofern gegeben, als derselbe Gottessohn Jesus,
der mit der Auferstehung in das Amt des in der Macht des Geistes herrschen-
den Gesalbten eingesetzt wird (Rom l,3 f.), dieses Amt jetzt bereits als irdi-
scher besitzt, was in der Epiphanieerzählung der Taufe Jesu offenbart wird.
Diese Vordatierung ist nicht bewußte Absicht der Taufperikope, sie ist nicht
um dieses Gedankens willen erzählt. Doch setzt sie faktisch eine theologiege-
schichtliche Entwicklung voraus, die im Glauben an den mit der Auferstehung
zum Sohn Gottes eingesetzten Jesus ihren Anfang nahm.
Diese Annahme würde an Plausibilität gewinnen, wenn man Zwischen-
glieder einer solchen Entwicklung nennen könnte, die die Entfaltung dieser
Christologie an besonderen Stationen anschaulich machte. Der Blick wird da-
bei sofort auf die Verklärungsgeschichte Mk 9,2-8 fallen, weil Jesus dort zu
einem Zeitpunkt als Gottessohn prädiziert wird, der der Auferstehung näher-
steht als die Taufe. Gleicherweise wird man an die Versuchungsgeschichte der
Spruchquelle denken, wenn Jesus schon zum Auftakt seiner Wirksamkeit
(nach der Taufe?) sich als gehorsamer Gottessohn bewährt (Mt 4,1-10; Lk
4,1-12).

2. Die Bedeutung des Titels in der Verklärungsgeschichte Mk 9,2-8


Was die Verklärungsgeschichte angeht, ist zunächst auf die Nähe zur
Taufgeschichte zu verweisen54. Wieder liegt eine Epiphanieerzählung vor, die

53
Vgl. oben S. 14 f.
54
Vgl. R. Pesch, Das Markusevangelium 2. Teil, HThK 2/2,41991, 77: »Die Beziehungen
zwischen Tauf- und Verklärungsgeschichte sind nicht im Sinne der Abhängigkeit der
einen von der anderen (auf welcher Stufe von Tradition und Redaktion auch immer) zu
lösen; vielmehr werden beide Erzählungen in denselben Tradentenkreis ... gehören.«
Anders anscheinend Lührmann, Markusevangelium (s. Anm. 43) 155, die Anrede Jesu
als Sohn Gottes sei in 1,11 als aus der Verklärungsgeschichte vorgezogen anzusehen.

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20 Ulrich B. Müller

in einer Himmelsstimme kulminiert, die Jesus als geliebten, d. h. einzigen


Sohn Gottes prädiziert. Charakteristische Motive sind dabei »die wunderbare
optische und akustische Erscheinung, die erschrockene Reaktion des Men-
schen, das Offenbarungswort, der wunderbare .«55
Der Beginn der Geschichte ist durch die besondere Zeitangabe, die an
Ex 24,16 f. (epiphanialer Hinweis) erinnert, deutlich markiert, ebenso der
Schluß mit dem Verschwinden der himmlischen Gestalten in V. 8. Drei grund-
legende Motive prägen den Aufbau der Erzählung:
a) Jesus verwandelt sich, nimmt himmlische Gestalt an.
b) Mose und Elia erscheinen ihm als die Gestalten, von denen man eine Ent-
rückung zu erzählen wußte. Jesus wird in ihren Kreis aufgenommen, sie
sprechen mit ihm.
c) Jesus wird diesen Gestalten gegenüber ausgezeichnet. Er wird ihnen vor-
geordnet: »Dieser ist mein geliebter Sohn, ihn hört.«
Bei dieser Übersicht sind die Petrusrede V. 5 und ihre Kommentierung
in V. 6 vernachlässigt. Beide Aspekte sind Züge, die die sonstige Erzählfolge
zu unterbrechen scheinen; deutlich wird der Übergang von der »erzählenden«
Sprechhaltung zur »besprechenden« der direkten Rede (samt deren Kommen-
tierung)56. Hier liegt wohl bereits vorgegebene Deutung der ältesten Tradition
vor, die deshalb auch primär aus der eigentlichen Erzählabfolge zu erheben
ist, ohne daß diese Deutung als ganze erst markinisch redaktionell sein wird.
Es spricht alles dafür, daß bis auf wenige Eingriffe die Verklärungserzählung
dem Evangelisten vorgegeben ist57. Auf den Evangelisten, der Vorgegebenes
weitergibt, weist der sprachlich ungeschickte Nachsatz in V. 6b: Diese Erläu-
terung verrät einen Erzähler, der kommentieren zu müssen glaubt, was er
nacherzählt58. Traditionell vorgegeben ist das Auftreten des Elia (wie das des
Mose), der für die Verklärungsgeschichte der in den Himmel entrückte Prophet
ist, für die markinische Redaktion aber der eschatologische Vorläufer Jesu, der
in Johannes dem Taufer bereits aufgetreten ist, was die Redaktion in 9,11 —13
korrigierend herausstellt.

55
Theißen, Wundergeschichten (s. Anm. 46) 103; auf ein ursprüngliches Verschwinden
aller Gestalten deutet der merkwürdige Schluß hin (Mk 9,8).
56
Näheres dazu bei U. B. Müller, Die christologische Absicht des Markusevangeliums und
die Verklärungsgeschichte, ZNW 64, 1973, 178 f.
57
Für ein bereits vorgegebenes Traditionsstück spricht, daß die Geschichte aus dem marki-
nischen Zusammenhang gelöst werden kann; dafür sprechen auch die Fülle der Hapaxle-
gomena, die sich auf alle Verse verteilen sowie die ziemlich einheitliche Motivik, dazu
vgl. nur Steichele, Sohn Gottes (s. Anm. 42) 92-95.163-167; C. Breytenbach, Nach-
folge und Zukunftserwartung nach Markus, AThANT 71, 1984, 238-251, bes. 250. Re-
daktionelle Ergänzung dürften V. 6 b, ' in V. 2 sowie die Reihenfolge der Namen
in V. 4 sein: Aufnahme spezifisch markinischer Themen.
58
Lührmann, Markusevangelium (s. Anm. 43) 154, der allerdings V. 5—6 als redaktionell
erklärt.

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»Sohn Gottes« — ein messianischer Hoheitstitel Jesu 21

Die Epiphanieerzählung von der Verklärung Jesu hat Züge, die an eine
Inthronisation Jesu erinnern: »Mit der Gottesrede wird Jesus in sein Amt ein-
gesetzt, inthronisiert ... Vom Gottessohntitel und der königlichen Messianolo-
gie her rückt die Szene an Rom 1,3 f. heran ,..« 59 Dennoch sollte (wie bei
der Taufe) der identifizierende Prädikationsstil der Himmelsstimme vor einer
solchen, einseitig durchgeführten Interpretation warnen, da die Geschichte
nicht darauf abzielt, daß Jesus mit der Verklärung allererst installiert wird -
dies scheint vorausgesetzt —, sondern darauf: Jesus, nicht ein anderer ist die
entscheidende Heilsgestalt, nämlich der einzige Sohn Gottes60. Die Besonder-
heit von Mk 9 ist die Vorordnung Jesu vor Mose und Elia. Beide gelten im
Judentum als prophetische Offenbarungsmittler, Mose als Offenbarer des Ge-
setzes - Elia als ehemaliger wie wiederkommender Gerichts- bzw. Bußpredi-
ger (Sir 48,1-10). Dementsprechend fordert die Himmelsstimme dazu auf,
Jesus als letztgültigen Offenbarungsmittler zu hören61. Die wohl zugrundelie-
gende Tradition von der Einsetzung Jesu zum Gottessohn analog Rom l,3 f.
wäre umgeprägt in seine Installierung und in der Geschichte epiphan werdende
Stellung als einziger Offenbarungsmittler Gottes.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Deutung der besonderen Ver-
klärung Jesu62. Sie gleicht weitgehend der Verwandlung eines außergewöhn-
lichen Propheten zum entscheidenden Offenbarungsträger — eine Vorstellung,
die zentral in der Mosetradition verankert ist. Mose erwirbt bei seinem Auf-
stieg zum Sinai (Ex 24,1 ff.) als Pneumatiker eine Vergöttlichung (»transmuta-
tur in divinum ...« Philo, Quaest in Ex 11,29), oder er erfahrt eine Verwandlung
im Anschluß an die Darstellung von Ex 34,29 ff. (Philo, VitMos 11,67-70).
Bedeutsam ist dabei die Installierung eines Nachfolgers für Mose und Offenba-
rungsmittlers für Israel, wie sie in dem pseudophilonischen Liber antiquitatum
biblicarum (LibAnt) ihre Entfaltung findet, in der Forschung bisher aber wenig
beachtet wurde bei der Deutung der Verklärung Jesu. Zu dieser Installierung

so J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus (Mk 8,27-16,20), EKK 2/2, 1979, 36.
60
Pesch, Markusevangelium (s. Anm. 54) 77.
61
Auch wenn die Aufforderung »Hört auf ihn!« im jetzigen markinischen Kontext eine
redaktionelle Bedeutung hat im Blick auf das Hören bzw. Nichthören der Botschaft Jesu
seitens der Jünger und ein deutlicher Bezug besteht zu der vorher erfolgten Lehre Jesu
über die Notwendigkeit seines Leidens und der Leidensnachfolge der Jünger (Mk
8,31 ff.34ff.), so ist dieser Aufruf der Himmelsstimme damit noch nicht der ursprüngli-
chen Verklärungsgeschichte abzusprechen. Er ist vielmehr dem Duktus der vorgegebenen
Geschichte voll integriert (anders noch U. B. Müller, Absicht [s. Anm. 56] 179-181).
62
Bei Mk 9,2—8 hat man zu differenzieren. Die hier geschilderte Verwandlung Jesu ist
nicht identisch mit der eschatologischen Verklärung der Gerechten überhaupt, die leuch-
ten werden wie der Glanz der Himmelfeste und wie die Sonne und Sterne (Dan 12,3;
4Esr 7,97). Daß die Erfüllung dieser Erwartung in der Verklärung Jesu geschehe und
damit das Eschaton angebrochen sei, dürfte gerade Mk 9,6 zurückweisen. Eher erinnert
die Verwandlung an eine Veränderung in die Gestalt himmlischer Engel (vgl. Mk 16,5;
Act 1,10).

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gehört die Verwandlung in eine neue Gestalt. Geschildert wird dieser Vorgang
zunächst beim sterbenden Mose als erstem und vorrangigen Offenbarungsmitt-
ler für Israel. Von ihm heißt es in der genannten frühjüdischen Schrift63: »Und
als Mose (das) hörte, wurde er mit Verständnis erfüllt, und seine Gestalt ver-
wandelte sich in Herrlichkeit (mutata est effigies eins in gloria) ...« (19,16).
Dies geschieht, nachdem er auf den Berg Abarim gestiegen ist und dort die
letzten Offenbarungen erhalten hat (l9,8 ff). Doch nicht nur der sterbende
Mose erfahrt diese Verwandlung, die seinen Tod zu einer Art Erhöhung macht,
sondern auch einzelne Führungsgestalten in Israel, die nach ihm als lebende
Offenbarungsmittler fungieren.
Gott spricht deshalb zu Josua, Moses Nachfolger: »... nimm die Gewänder seiner
eigenen (des Mose) Weisheit und zieh dich an, und mit dem Gürtel seines Wissens umgürte
deine Lenden, und du wirst verwandelt werden und wirst zu einem anderen Mann werden
(et immutaberis et eris in virum alium)« (20,2; vgl. l Sam 10,6). Eine entsprechende Glorifi-
zierung erfährt die Gestalt des Kenas, des kriegerischen Nachfolgers Josuas, der den »Geist
der Stärke« anzieht und seinerseits verwandelt wird (transmutatus in virum alium) (27,10;
vgl. l Sam 10,6). Der heilige Geist der Prophetie, der in Kenas wohnt, springt danach auf,
erhebt seinen Sinn, und er beginnt zu weissagen (28,6). Besondere Beachtung findet Samuel
als Prophet, als Licht, der sein Volk Israel erleuchtet (51,3 f.6 f.), der Mose und Aaron gleich-
gestellt ist. Von ihm gilt: »Mose und Aaron unter seinen Priestern« (vgl. PS 99,6). Er ist
geliebt vor Gottes Angesicht, ja Gott wird als Gott zu ihm reden (53,2). Wie einst Mose als
Prophet und Diener Gottes zu Israel sprach, muß Samuel jetzt weissagen (53,8.12 f.). Nach
dem Tode Samuels läßt Saul eine Wahrsagerin den verstorbenen Samuel »heraufholen« (vgl.
l Sam 28,11.13 f.), weil kein Prophet mehr da ist, um ihn zu befragen. Dabei beschreibt das
Wort der Frau die Erscheinung Samuels wie folgt: »Du (Saul) befragst mich über Götter (de
divis). Denn siehe, (sein) Aussehen ist nicht (das) eines Menschen. Er ist nämlich mit einem
weißen Gewand (und) einem darübergelegten Mantel bekleidet, und zwei Engel begleiten
ihn« (64,6). Anscheinend schildert der Text eine Epiphanie des (verstorbenen) Samuel, der
himmlische Gestalt annimmt und in Begleitung von Engelwesen auftritt. Der Tod des Samuel
und die Annahme einer Gemeinschaft mit Engeln stehen hier unausgeglichen nebeneinander,
da eine Entrückung Samuels fehlt (anders bei Pinehas 48,1). Gerade deshalb muß die Epipha-
nie Samuels in Gemeinschaft mit zwei Engeln auffallen. Daran liegt offenbar das Interesse
des Textes.
In diesen frühjüdischen Aussagen geht es einmal um die Präsentation des
verbindlichen Offenbarungsträgers Mose, der eine außergewöhnliche Ver-
wandlung erfährt, sodann um die Berufung eines Nachfolgers, der Ähnliches
empfängt, um für seine Aufgaben gerüstet zu sein. Das erinnert doch sehr an
die Verklärung bei Jesus, dem nach Verwandlung und Zuordnung zu Offenba-
rungsgestalten wie Mose und Elia die entscheidende Bedeutung für die Jünger
zukommt: »Ihn hört.« (Mk 9,7). Der bewußte Anklang afa Dtn 18,15 bei dieser

63
Zum LibAnt vgl. C. Dietzfelbinger, Pseudo-Philo: Antiquitates Biblicae, JSHRZ 2/2,
2
1979, und neuerdings E. Reinmuth, Pseudo-Philo und Lukas. Studien zum Liber Anti-
quitatum Biblicarum und seiner Bedeutung für die Interpretation des lukanischen Doppel-
werks, WUNT 74, 1994.

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Aufforderung läßt zunächst an Jesus als einen Propheten wie Mose denken.
Doch gilt für die dem Evangelisten vorgegebene Tradition das allgemeinere
Interesse, den irdischen Jesus in der Weise als letztgültigen Offenbarungs-
mittler auszuweisen, daß man ihn solchen jüdischen Gestalten zuordnet, denen
die Überlieferung eine vergleichbare Verwandlung zuschreibt, ihn aber ihnen
gegenüber dadurch vorzuordnen, daß die Himmelsstimme ihn als einzigen
»Sohn Gottes« prädiziert.
Nach dieser Darstellung wird deutlich sein, daß die vormarkinische Ver-
klärungsgeschichte durch ihre konstitutiven Einzelmotive den irdischen Jesus
in einer vergleichbaren Weise herausstellt wie die Taufgeschichte. Gilt dort
die prinzipielle heilsgeschichtliche Qualifikation Jesu als Thema, der sich vom
Täufer als »einziger« Sohn Gottes abhebt, so in der Verklärungsgeschichte die
einzigartige Stellung Jesu als Offenbarungsmittler. Die beiden Erzählmotive,
Verwandlung Jesu in überirdische Gestalt und Erscheinung von Mose und
Elia als (in den Himmel entrückte) Offenbarungsträger Israels, bereiten diese
Aussage vor. Mose ist dabei die wichtigere Gestalt, wie die Voranstellung in
Mk 9,5 zeigt. Überhaupt ist der Beginn der Erzählung durch die Entsprechung
zur Mosetradition bestimmt (Ex 24). Mose bleibt danach sechs Tage auf dem
Berg Gottes; am siebten Tage ergeht die Stimme Gottes (Ex 24,16). Von daher
erklären sich wohl die sechs Tage, nach denen Jesus auf den hohen Berg steigt
(Mk 9,2). Daß dagegen in Ex 24,16 Mose sechs Tage auf dem Berg verweilt,
ist gegenüber dem gemeinsamen siebten Tag als entscheidendem Zeitpunkt
der Offenbarung unwesentlich64.
Trotz aller Besonderheiten gehört die Erzählung von der Verklärung Jesu
in jene Tradition hinein, die im Anschluß an die grundlegende Inthronisations-
aussage von Rom 1,3 f. neu zu interpretieren sucht, was die Prädizierung Jesu
als irdischer Sohn Gottes jeweils meint. In Rom l,3 f. hat es die früheste
Gemeinde gewagt, den problembeladenen Begriff »Sohn Gottes« auf Jesus
zu beziehen, auch wenn dies eine grundlegende Umprägung erforderte. Der
Herrschaftsaspekt blieb in Rom l ,3 f. noch erhalten. Es war eben eine Herr-
schaft »im heiligen Geist« o. ä.; möglicherweise bedeutete dies ja, daß man
in Jesu Herrschaft bis zur Parusie (vgl. l Kor 15,24 b.25) die Macht dessen
angebrochen sah, der in der Wirksamkeit des Geistes in Mission und christli-
chem Gemeindeleben wirksam war65. Weitere Neuinterpretationen des Herr-
schaftsgedankens folgten: der irdische Jesus als die entscheidende heilsge-
schichtliche Orientierungsfigur (nicht Johannes der Taufer) - Jesus als der
einzige Offenbarungsträger (nicht Mose und Elia). Es bleibt die Fixierung an
PS 2,7, jedoch nicht in der Form einer Inthronisationsaussage mit Ton auf dem
Prädikatsnomen (»mein Sohn bist du ...«), sondern als Identifikation Jesu als
des allein entscheidenden Garanten des Heils.

64
Gnilka, Markus (s. Anm. 59) 32, gegenüber einem Einwand von M. Horstmann, Studien
zur markinischen Christologie, NTA 6, 21973, 100.
65
Vgl. J. Becker, Das Urchristentum als gegliederte Epoche, SBS 155, 1993, 60.

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24 Ulrich B. Müller

3. Zur Verwendung des Titels in der markinischen Redaktion


Zur Absicherung des bisher Gesagten ist noch die Frage anzuschneiden,
in welcher Weise der Evangelist Markus diese Akzente christologischen Den-
kens in seinem Evangelium aufgenommen und verarbeitet hat, auch wenn
diese Thematik hier nur kurz erörtert werden kann. Dies betrifft den Gebrauch
des Gottessohn-Titels durch den Evangelisten. Auszugehen ist von der Fest-
stellung, daß der Adoptions- bzw. Inthronisationsgedanke nur im Hintergrund
der Traditionsstücke Mk 1,9—11 und 9,2-8 zu stehen scheint, jedenfalls nicht
mehr die eigentliche Zielaussage bildet. Dementsprechend ist auch der Aufbau
des ganzen Markusevangeliums nicht vom Inthronisationsgedanken geprägt,
wie man gemeint hat66. Der Gebrauch des Sohn-Gottes-Titels bei den drei
Szenen, Taufe, Verklärung und Kreuzigung, dient wohl anderen Absichten.
Sollte die zusammenfassende Überschrift 1,1 zum einleitenden Abschnitt Mk
1,1-15 den Titel ursprünglich im Text haben (»Anfang des Evangeliums von
Jesus Christus dem Sohn Gottes«), so würde schon hier auf den einzigen Sohn
Gottes verwiesen, der dann Johannes der Täufer gegenüber hervorgehoben
wird, wie schon die vorgegebene Tradition es tut (1,9—11), was aber ange-
sichts der Transparenz der Tradition eine weitergehende Bedeutung hat und
der Abgrenzung gegenüber allen hellenistischen Heilsangeboten zur Zeit des
Markus dienen mag. Zunächst aber ist der christologischen Selbstvergewisse-
rung des Evangelisten nachzuspüren, der darstellen will, wer dieser Jesus Chri-
stus für die christliche Gemeinde in Wahrheit ist.
Jesus ist als der Irdische legitimer Sohn Gottes im Markusevangelium.
Die Dämonen erkennen ihn zunächst als solchen (3,11; 5,7). Doch bleibt den
Jüngern Jesu Gottessohnschaft noch verborgen; für sie wird das Messiasge-
heimnis noch nicht gelüftet. Immerhin prägt die Frage: »Wer ist dieser, daß
ihm der Sturm und das Meer gehorchen?« (4,41) den Spannungsbogen des
Evangeliums (6,2 f.), und der Evangelist läßt Jesus selbst die Frage stellen:
»Wer sagen die Leute, daß ich sei?« (8,27.29). Die theologisch legitime Ant-
wort auf die christologische Frage gibt der Evangelist zunächst mit der ersten
Leidensankündigung Jesu (8,31), die die Aussage des Petrusbekenntnisses prä-
zisiert (8,29). Wenn nun Markus die Epiphanieerzählung von der Verklärung
Jesu aufnimmt, so bestätigt diese, was Jesus über sein Leiden und das Leiden
der Jünger vorher gelehrt hat (8,31.34 ff.). Mit der Himmelsstimme wird für
den Leser Jesu Ankündigung, daß der Menschensohn selbst als Leidender
sterben müsse und auferstehen werde (8,31) und Jüngerexistenz in der Kreu-
zesnachfolge besteht (8,34), himmlisch autorisiert: »Hört auf ihn!« (9,7). Der
Gedanke des Leidens des Menschensohnes wird damit redaktionell in die
Christologie vom Sohne Gottes integriert. Hatte die vorgegebene Verklärungs-
geschichte Jesus als den Mose und Elia überragenden Offenbarungsmittler

66
Vgl. Ph. Vielhauer, Erwägungen zur Christologie des Markusevangeliums, in: ders., Auf-
sätze (s. Anm. 41) 213 f.

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»Sohn Gottes« - ein messianischer Hoheitstitel Jesu 25

prädiziert, so benutzt der Evangelist diese Position dazu, den Leidensgedan-


ken, der der hier zugrundeliegenden Sohn-Gottes-Konzeption nicht anhaftete,
in diese als grundlegenden Inhalt einzuführen; denn Jesu Lehre vom notwendi-
gen Leiden und Sterben des Menschensohnes (8,31) wird ja himmlisch legiti-
miert und als Rede des »einzigen« Sohnes Gottes bestimmt (9,7). In Mk
12,1-12 fugt der Evangelist das Gleichnis von den bösen Weingärtnern in
seine Gesamtkonzeption ein und setzt damit die eingeschlagene Linie fort:
»Der geliebte Sohn« (12,6) ist zugleich der ans Kreuz gesandte Sohn, der das
gewaltsame Geschick aller zu Israel gesandten Propheten übernimmt und der
zugleich alle übertrifft. Zum Abschluß kommt dieser Gesamtzug markinischer
Christologie, wenn der römische Centurio bekennt: »Wahrlich, dieser Mensch
war ein Sohn Gottes« (15,39). Diese auffällige Aussage aus dem Munde des
heidnischen Römers ist zwar auf der Erzählebene noch kein vollgültiges Be-
kenntnis zu Jesus als gekreuzigtem und erhöhtem Gottessohn; dagegen spricht
wohl der im Imperfekt formulierte Satz. Eher schon läßt der Evangelist hier
bewußt einen Heiden sprechen, weil nach PS 22,28 f. die Heiden sich zum
Herrn wenden werden. Für den christlichen Leser aber ist damit deutlich: Jesus
wird sogar von einem Römer als leidender und letztlich ins Recht gesetzter
Gerechter benannt, der in der Art seines Sterbens ( ) demon-
striert, was er von Anfang seines Wirkens an war: »der Sohn Gottes«67.
Grundsätzlich läßt sich ja feststellen, daß der Evangelist durch die Übernahme
eines älteren Passionsberichts die Konzeption vom leidenden Gerechten be-
nutzt hat, um die Christologie vom Sohn Gottes mit den ihn interessierenden
Akzenten zu versehen. Doch ist dies erst seine Leistung, noch nicht die der
vorgegebenen Tradition in Mk 1,9—11 bzw. 9,2—8, die sich an der christologi-
schen Interpretation von PS 2 orientiert68.
Für Markus ist der irdische Jesus betontermaßen »der geliebte Sohn Got-
tes«, dessen Vollmacht sich auf der literarischen Erzählebene des Evangeliums
in seinem lehrhaften Wort und seinen Wundertaten zeigt (1,27; 2,10 f.; 4),
dessen Wirkkraft für die angeschriebene Gemeinde und damit die Gegenwart
des Evangelisten in der Verkündigung des Evangeliums Realität wird (13,10).
In der missionarischen Verkündigung seiner Lehre, seiner Machttaten ist er in
der Gemeinde als Erhöhter präsent. Für die jüdischen Gegner aber ist erst der
kommende Menschensohn der Inthronisierte, der zur Rechten Gottes sitzt und
kommen wird mit den Wolken des Himmels (l4,62 f.). Der Evangelist will
damit deutlich machen, daß die jüdischen Richter »in Jesus über den urteilen,
der, von Gott gerechtfertigt und zu seiner Rechten erhöht, im Auftrag Gottes
das Weltgericht in Gang bringen und die eschatologische Weltvollendung ein-
leiten wird.«69

67
Vgl. Lührmann, Markus (s. Anm. 43) 264.
68
Anders ders., a. a. O., 38.
69
G. Dautzenberg, Zwei unterschiedliche »Kompendien« markinischer Christologie?, in:
B. Jendorff/G. Schmalenberg (Hg.), Evangelium Jesu Christi heute verkündigen, GSTR,
1989, 26.

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26 Ulrich B. Müller

Abschließend wird sich die Frage stellen, ob die betonte Herausstellung


Jesu als »geliebter«, d. h. als einziger Sohn Gottes, die an markanten Stellen
des Buches begegnet (1,11; 9,7; 12,6; vgl. 15,39), sich lediglich innerchrist-
licher Identitätsfmdung und Theoriebildung verdankt, nämlich dem Bestreben
(vgl. besonders die Beziehung von Mk 9,7 zu 8,31.34 if.), Leiden und Sterben
Jesu theologisch zu integrieren, oder ob nicht zugleich eine Abgrenzung nach
außen — zur heidnischen Umwelt etwa — vorliegt. Sicher haben Tauf- und
Verklärungsgeschichte in sich schon eine ursprüngliche Abgrenzungsfunktion
(Johannes der Täufer, Mose und Elia), doch liegt hier nicht mehr das eigentli-
che Interesse des Evangelisten. Vielmehr will er durch die Transparenz des
Traditionsmaterials an eine Problemlage appellieren, die für seine eigene Si-
tuation charakteristisch ist. Besonders in der Endzeitrede Mk 13 wird diese
deutlich. Markus warnt vor Pseudogesalbten und Pseudopropheten, die die
christliche Gemeinde durch Zeichen und Wunder in die Irre zu führen suchen
(l3,21 f.). Zwar sind dabei ursprünglich jüdische Messiasprätendenten und
Heilspropheten gemeint, die im Zusammenhang des Jüdischen Krieges aufge-
treten sind. Doch ist fraglich, ob diese wirklich noch das ausschließliche Pro-
blem des Markus darstellen, wenn dieser, wie wahrscheinlich, unmittelbar
nach dem Jüdischen Krieg sein Evangelium verfaßt hat. Auffällig ist dabei die
pauschale Kennzeichnung dieser Gestalten (als viele, ja massenhafte Verführer
der Endzeit 13,6). Jeder mit Jesus Christus konkurrierende Propagandist wird
so für den Evangelisten anscheinend zum Lügenchristus, der faktisch bean-
sprucht, »Heilbringer und damit >Christus< zu sein«70. Markus dürfte — indi-
rekt durch die Transparenz des Traditionsmaterials (13,21 f.) - vor der Ver-
führung durch Zeichen und Wunder von Seiten hellenistischer Heilsmittler
überhaupt warnen71. Gerade die Propaganda für Kaiser Vespasian könnte ei-
nen (zusätzlichen) konkreten Erfahrungshintergrund für Markus bilden, der zu
beachten ist72. Diese Propaganda stützte sich auf Prophetien und Wunder. Dem
Usurpator Vespasian, dem anfangs noch maiestas et auctoritas fehlten (Sue-
ton, Vesp 7), wurden Heilungswunder zugeschrieben (Heilung eines Blinden

70
E. Brandenburger, Markus 13 und die Apokalyptik, FRLANT 134, 1984, 158.
71
A.a.O., 159.
72
G. Theißen, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien, 8, 1989, 279-
281; H. Schwier, Tempel und Tempelzerstörung, NTOA 11, 1989, 293-307. Theißen
(283 f.) hat darauf hingewiesen, daß die betonte Erwähnung des Evangeliums von Jesus
Christus (Mk l ,1) in einem Kontext erneut auftaucht, der von der bedrängten und verfolg-
ten christlichen Gemeinde handelt (13,10). Um 70 n. Chr., nachdem Vespasian seine
Herrschaft gerade angetreten und das Reich aus seiner schweren Krise nach Neros Tod
gerettet hat, mußte die Verkündigung eines Evangeliums von Jesus Christus einen beson-
deren Klang haben. Nach den furchtbaren Schrecken der vorangegangenen Bürgerkriege
feierte die kaiserliche Reichspropaganda Vespasian als von Gott gesandten Retter: »In
dieser Lage schreibt der Verfasser des MkEv eine Art >Gegenevangelium<: die Botschaft
von dem Gekreuzigten, der zum Weltenherrscher bestimmt ist.« Theißen, a. a. O., 284.

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»Sohn Gottes« - ein messianischer Hoheitstitel Jesu 27

und Lahmen in Alexandria), um seine göttliche Legitimität zu erweisen. In


Ägypten wird er als »Gott« akklamiert (" Pap. Fouad 8). In dieser
Situation schrieb aller Wahrscheinlichkeit nach Markus sein Evangelium.
Wenn man solche zeitgeschichtlichen Umstände berücksichtigt, könnte
dies auch Folgen für das Gottessohn-Verständnis des Evangelisten haben. Si-
cher wird der Gebrauch des Kaiserkultes für ihn nicht Vorbild gewesen sein
- er folgt ja einer frühchristlichen Verwendung, die ihren Haftpunkt in PS 2,7
besitzt -, doch kann die betonte Entfaltung der markinischen Christologie,
die Jesus als einzig legitimen Sohn Gottes herausstellt, einen negativen Anstoß
in der Herrschaftspropaganda Vespasians gefunden haben73. In der durch viel-
fältige Propaganda gefährdeten Lage markinischer Gemeinden entstand die
Notwendigkeit, Jesus Christus als den alleinigen Sohn Gottes zu proklamieren.

IV. Die Frage nach der Gottessohnschaft in der


Versuchungsgeschichte der Logienquelle
Die voranstehenden Überlegungen haben zuletzt die Frage berührt, ob
der markinische Gottes-Sohn-Begriff sich auch einer Abgrenzung nach außen,
eben gegenüber der Herausforderung des Herrscherkults verdankt. Ein ähn-
liches Problem wird sich bei der Versuchungsgeschichte der Logienquelle er-
geben (Mt 4,1 -10; Lk 4,1 -12). Jedenfalls ist dieser Text von der Frage nach
der Gottessohnschaft Jesu geprägt, die der Satan zur Diskussion stellt (Mt
4,3.6). Es geht um die Bewährung Jesu als Gott gehorsamer Frommer, der
sich wie der jüdische Gerechte als wahrer Gottessohn erweist. Dieses Thema
ist schon in der markinischen Versuchungsgeschichte behandelt (Mk
1,12—13), wenn der von der Himmelsstimme als Sohn Gottes prädizierte Jesus
die satanische Versuchung erfolgreich besteht und die Engel ihm deshalb die-
nen (vgl. TestNaph 8,4)74. Der entsprechende Text der Logienquelle wird diese
Thematik auf seine Weise erörtern. Dabei könnte der zweimal wiederholte
Gottessohntitel zeigen (Mt 4,3.6), daß auch der Text in Q eine Form der Tauf-
geschichte voraussetzt (wie das Markusevangelium), die den Gottessohntitel
enthält, auf die sich die Wiederaufnahme des Titels in der Versuchungsge-
schichte bezieht75. Jedenfalls legt es sich nahe, eine gleiche inhaltliche Fas-
sung des Titels als vorgegeben anzunehmen wie in Mk 1,11, so daß auch hier

73
Vgl. auch M. Hengel, Der Sohn Gottes, Tübingen 21977, 50.
74
Dieser Gedanke entsteht in Mk 1,12—13 aufgrund der redaktionellen Verbindung von
Tauf- und Versuchungsgeschichte. Er ist in der ursprünglichen Taufperikope mit ihrer
Gottessohn-Prädikation noch nicht impliziert, da dort der Bezug zur christlichen Umdeu-
tung von PS 2,7 bestimmend ist; vgl. anders Lührmann, Markusevangelium (s. Anm. 43)
38 f., der Taufperikope wie Versuchungsgeschichte aus der weisheitlichen Tradition ablei-
tet.
75
Die Frage ist umstritten, vgl. dazu U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus. 1. Teilband,
EKK l/l, 1985, 160; H. Schürmann, Das Lukasevangelium. Erster Teil, HThK 3/1, 1969,
218.

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28 Ulrich B. Müller

eine christliche Umdeutung von PS 2,7 zu vermuten ist. Wichtiger aber ist
das andere. Die besondere Kontur gewinnt der Titel »Sohn Gottes« in der
Versuchungsgeschichte von Q nur dadurch, daß Jesus (wie der exemplarische
Gerechte des Judentums) sich durch seinen Gehorsam Gott gegenüber als legi-
timer Sohn Gottes ausweist.
Die formale Geschlossenheit des Textes bei Mt 4,1 — 10, der die für Q
ursprüngliche Reihenfolge der Versuchungsgänge mit dem Höhepunkt der
Teufelsversuchung auf dem Berge enthält76, legt nahe, daß er in einem Zuge
konzipiert ist. Dabei fallt auf, daß der Teufel sich zweimal auf die Gottessohn-
schaft Jesu bezieht (»wenn du Gottes Sohn bist« Mt 4,3.6); es geht also um
Jesu Erprobung im Blick auf diese seine Stellung, die er bei der Taufe erhalten
hat. Beide Male wehrt Jesus im Gehorsam gegenüber Gottes Wort die Versu-
chung zum Machterweis ab und zeigt damit, daß er seine besondere Stellung
Gott gegenüber zu recht innehat. In der dritten Versuchung fehlt der Gottes-
sohntitel; doch spricht dies nicht dagegen, daß er für die ganze Versuchungs-
geschichte konstitutiv ist. Er muß hier fehlen, weil es bei der dritten Versu-
chung nicht um ein Erweiswunder bzw. Schauwunder geht77 (wie die Ver-
wandlung von Steine in Brot und die Bewahrung durch Engel), bei der Jesus
seine bisherige Stellung unter Beweis stellen soll.
In den ersten beiden Versuchungen der Wüsten- und Tempelszene erfolgt
Jesu Erprobung durch Beschwörung seines Status als Gottessohn. Es geht
jeweils um einen vergleichbaren Fall: Der Satan will, daß Jesus eigene bzw.
fremde Wundermacht, die ihm schon jetzt zur Verfügung steht, durch ein
Schauwunder demonstriert. Als dies fehlschlägt, versucht es der Satan zuletzt
mit einem besonderen Angebot. Er verspricht Jesus einen neuen Status: Jesus
soll alle irdischen Reiche als Herrscher erhalten. Der Satan bezieht sich jetzt
nicht auf einen schon vorhandenen Status Jesu als Gottessohn; der Titel fehlt
dieses Mal. Vom Standpunkt des Erzählers der ganzen Versuchungsreihe ge-
schieht dies wohl deshalb, weil sein Verständnis von Gottessohnschaft den
Gedanken der irdischen Weltherrschaft gar nicht umfaßt. Dieser Aspekt wird
nur vom Teufel in versucherischer Absicht an Jesus herangetragen. Anschei-
nend werden hier zwei Konzeptionen von Gottessohnschaft implizit einander
gegenübergestellt: einmal die Herrschaft über irdische Königreiche, die der
Teufel v/ie der römische Kaiser an jene verleiht, die vor ihm die Proskynese
vollziehen — zum anderen die Gottessohnschaft, die sich im bedingungslosen
Gehorsam gegenüber dem einen Gott bewährt (4,10). Ihre besondere Ausprä-
gung hat die zuletzt genannte Konzeption in der jüdischen Weisheitstradition.
Dies wird daran sichtbar, daß jene Gedankenbewegung, wie sie die versucheri-
sche Frage des Teufels bestimmt: »Wenn du Gottes Sohn bist...« (Mt 4,3.6),
auch für die Erprobung des (leidenden) Gerechten grundlegend ist. In der

76
S. Schulz, Q - Die Spruchquelle der Evangelisten, Zürich 1972, 177-181.
77
Vgl. U. Luz, Matthäus (s. Anm. 75) 160 Anm. 8, der zu Recht darauf hinweist: »Der
Satan kann ja kaum sagen: >Bist du Gottes Sohn, so falle auf die Knie und bete mich
an<!«

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»Sohn Gottes« — ein messianischer Hoheitstitel Jesu 29

Frevlerrede in Weish 2, die dabei der Rede des Satans in der Versuchungsge-
schichte entspricht, heißt es (2,16—18):
»Er (der Gerechte) preist das Ende der Gerechten und prahlt, daß Gott (sein) Vater
(sei). Laßt uns sehen, ob seine Worte wahr sind und prüfen ( ), wie es mit ihm
ausgeht. Denn wenn der Gerechte ein Sohn Gottes ist, wird Gott sich seiner annehmen und
ihn der Hand der Gegner entreißen.«
Wie bei der eben zitierten Erprobung des Gerechten durch die frevelhaf-
ten Gegner geht es bei der Versuchungsgeschichte Jesu um die Bewährung
des Gott gehorsamen Gottessohnes; die Geschichte setzt dabei zunächst jenen
Gottessohn-Titel voraus, den die Taufgeschichte mit ihrer Orientierung an PS 2
kennt und an den die Versuchungsgeschichte mit den Fragen Mt 4,3.6 sich
anschließt; doch findet der Titel seine spezifische inhaltliche Kontur durch
den Einfluß der jüdischen Weisheitstradition, die Jesus zum gehorsamen Sohn
Gottes werden läßt.
Demgegenüber nun macht der Satan deutlich, daß es ihm bei seinem
teuflischen Angebot um etwas ganz anderes geht. Die dritte Versuchung läßt
erkennen, daß der Teufel wie der römische Kaiser an Jesus herantritt und ihm
die Königreiche der Welt anbietet, wenn er die Proskynese vollzieht und den
Teufel als göttlichen Oberherrn anerkennt. Dieser Aussagesinn zeichnet sich
schon in Mt 4,8 f. ab, ergibt sich aber in deutlicherer Weise, wenn man die
Formulierung in Lk 4,6 als für Q ursprünglich ansieht78:
»Dir will ich diese ihre ganze Macht und Herrlichkeit geben, denn mir ist sie überge-
ben, und ich gebe sie, wem ich will.«
Das Bewußtsein, die Macht über die Königreiche der Erde zu besitzen
und sie nach eigenem Gutdünken zu verleihen, findet sich deutlich als römi-
sche Herrschaftsidee. Bei Augustus ist sie ausgedrückt in seinem Tatenbericht
(res gestae 33). Der entsprechende Eindruck konnte sich bei den Menschen
damals auch bei Caligula einstellen, der in seiner Regierungszeit sechs Klien-
telkönige im Osten einsetzte, und der Gedanke wird als Überzeugung auch
von Nero berichtet (Dio Cass 63,5,3)79. Weil dieser Anspruch auf solch unbe-

78
Dies entspricht zwar nicht der herrschenden Meinung. Doch hat Schürmann, Lukasevan-
gelium (s. Anm. 75) 211 f., gute Gründe genannt, die es wahrscheinlich machen, daß Lk
4,6 nicht lukanisch ist: a) sprachlich-stilistische Beobachtungen sprechen nicht dafür, daß
V. 6 b lukanische Erweiterung gegenüber Mt 4,9 ist; b) das diabolische Verständnis des
römischen Imperiums, das sich in Lk 4,6 ausspricht, entspricht nicht lukanischer Staats-
auffassung, die von einer Loyalitätshaltung geprägt ist; c) Mt dürfte die entsprechende
Q-Aussage (Lk 4,6) weggelassen haben, weil nach ihm Jesus alle Macht im Himmel und
auf Erden hat (Mt 28,18); ähnlich auch G. Schneider, Das Evangelium nach Lukas.
Kapitel 1-10, ÖTK 3/1, 31992, 101.
79
Diesen Sachverhalt hat Theißen, Lokalkolorit (s. Anm. 72) 222-225, überzeugend her-
ausgestellt. Im übrigen hat bereits der Verfasser von IMakk 8,11 — 13 der Oberzeugung,
daß die Römer vernichteten, wen sie wollten, und erhöhten, wen sie wollten, Ausdruck
verliehen, dies aber dort in positivem Sinne gewertet.

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schränkte Macht nach jüdischem Verständnis dem allein wahren Gott zu-
kommt, ist er, vom Menschen erhoben, in besonderer Weise frevelhaft und
kann in der Versuchungsgeschichte nur vom Teufel selbst gesprochen werden,
der so die gottlose Macht des römischen Imperiums symbolisiert. Dieser
Schluß drängt sich auf, wenn man Aussagen des Danielbuches berücksichtigt:
»Er (Gott) läßt wechseln Zeiten und Stunden, setzt Könige ab und setzt Könige ein ...«
(Dan 2,21).
Der Höchste ist Herrscher über das Reich der Menschen, »und wem er
will, kann er es geben, und den niedrigsten der Menschen kann er darüber
setzen« (4,14). Der heidnische König soll erkennen, »daß der Höchste Herr-
scher ist über das Reich der Menschen, und daß er es gibt, wem er will«
(4,22) (ganz ähnlich 5,18 f. mit der wiederholten Betonung, Gott erhöht oder
erniedrigt, »wen er wollte«).
Auf diesem Hintergrund wird die Frevelhaftigkeit des satanischen An-
spruchs »und ich gebe sie (die Macht), wem ich will« (Lk 4,6) als Usurpation
eines göttlichen Vorrechts anschaulich (Dan). Umso schrecklicher ist das An-
gebot des Teufels, Jesus eine derartige Herrschaft über Königreiche zu übertra-
gen. Von der Dramaturgie der Erzählung her und insofern vom Standpunkt
des Erzählers aus kommt es de facto zu einer Kontrastierung des Konzepts
vom gehorsamen Gerechten als Sohn Gottes, als der sich Jesus erweist, mit
jener Herrschaftsideologie, wonach der teuflische Widergott Jesus in eine Ab-
hängigkeit zu sich bringen will, die einer Gottessohnschaft im Sinne hellenisti-
scher Herrschaftsidee nahekommt, ohne daß bei der dritten Versuchung der
Gottessohn-Titel explizit fällt.
Die Versuchungsgeschichte von Q argumentiert mit solchen Optionen,
um ihre christologische Aussage zu machen. Sie will Jesu vorbildlichen Ge-
horsam gegenüber dem Wort Gottes herausstellen, womit er die Gottessohn-
schaft, die ihm die Taufstimme zuspricht, bewährt. Er besteht den »qualifying
test« der drei Versuchungen und legitimiert sich damit als der legitime Lehrer
dessen, was in der Spruchquelle gesagt wird80.

V. Schluß
Die vorliegende Untersuchung hat sich auf den Bereich christologischer
Aussagen beschränkt, die dem irdischen Jesus den Titel »Sohn Gottes« beile-
gen, die dabei nicht den Gedanken der Präexistenz implizieren, wie dies schon
sehr früh im Rahmen der sog. Sendungsformel geschehen ist und wie dies
die Christologie des Paulus voraussetzt. Ausgangspunkt ist die vorpaulinische
Formel Rom l,3 f., wo sich die Frage gestellt hat, wie frühe Christen den
hingerichteten, aber von Gott auferweckten Jesus Sohn Gottes nennen konn-

80
Vgl. Theißen, a. a. O., 215, mit Verweis auf D. Zeller, Die Versuchungen Jesu in der
Logienquelle, TThZ 89, 1980, 63 f.

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»Sohn Gottes« — ein messianischer Hoheitstitel Jesu 31

ten, während das Judentum dieser Zeit diesen messianischen Titel gemieden
hat. Dabei zeigt sich, daß erst die Deutung Jesu als leidender, aber von Gott
rehabilitierter Gerechter es ermöglicht hat, 2Sam 7,14 und PS 2,7 auf ihn zu
beziehen und ihn als den erhofften messianischen Sohn Gottes zu verstehen.
Als solcher herrscht er »im heiligen Geist« etwa in der Mission auf Erden
(Rom 1,3 f.). Diese Konzeption ist nun in mancherlei Hinsicht offen gewesen
für weitere Interpretationen. Die Taufgeschichte (Mk 1,9-11) stellt Jesu ein-
zigartige heilsgeschichtliche Qualifikation heraus, die sich gerade von der Be-
deutung Johannes des Täufers abhebt. Die Verklärungsgeschichte Mk 9,2 — 8
prädiziert ihn als den entscheidenden Offenbarungsmittler, dessen Gewicht
sich in der Abgrenzung von Mose und Elia zeigt. Im Gefolge der grundlegen-
den Aussage von Rom l,3 f. erweist sich jeweils neu die Bedeutung von PS
2,7 bei der Präzisierung dessen, welche Aussagekraft die Vorstellung Jesu als
irdischer Sohn Gottes gehabt hat. Im Rahmen der Christologie des Evangeli-
sten Markus wie auch bei der Versuchungsgeschichte der Logienquelle zeich-
net sich darüber hinaus die Möglichkeit ab, daß die frühchristliche Beanspru-
chung Jesu als Sohn Gottes sich von der heidnischen Umwelt bewußt abhebt,
die den Titel als Legitimationsinstrument im Herrscherkult benutzt.
Die Implikationen jüdischer Messiaserwartung, die sich mit den herr-
scherlichen Funktionen des königlichen Gesalbten verbunden haben (PsSal
17,21 ff.30f), sind nur noch in Rom l,3 f. greifbar, wenn auch grundlegend
verändert im Blick auf die missionarische Ausrichtung auf die Völker. Anson-
sten liegt eine vollständige Neuinterpretation von PS 2 im Rahmen der christli-
chen Verwendung des Titel Sohn Gottes vor. Umso mehr muß erstaunen, daß
in der Geburtsankündigung an Maria Lk l,32 f. eine durch und durch jüdische
Terminologie begegnet, die 2Sam 7,12—16 messianisch aufzunehmen
scheint81. Ja, die Formulierung erinnert auf den ersten Blick an den Text
4Q 246 11,1, der oben allerdings als jüdische Kennzeichnung des Messias aus-
scheiden mußte, vielmehr als frevelhafte Anmaßung eines heidnischen Herr-
schers charakterisiert wurde. In Lk l,32f.35 taucht nun der Titel »Sohn des
Höchsten« in messianischem Sinne wie selbstverständlich auf. Möglich ist
diese Konzeption nur als eine traditionsgeschichtlich späte christliche Bildung,
die die betonte Gottessohnschaft des Kindes Jesus mit der besonderen Art der
geistgewirkten Empfängnis legitimiert und begründet82. Wie schon in Rom
l ,3 f. kann Jesus als legitimer Christus die messianischen Titel im Anschluß
an alttestamentliche Verheißungen tragen. Ein Anstoß, wie ihn jüdische Texte
empfunden haben, ist nicht mehr gegeben. Die christologische Bedeutung des
Kindes Jesus ist vorausgesetzt; sie ermöglicht die messianische Deutung altte-
stamentlicher Schriftstellen. Ansonsten läßt Lk l,32f. ein verchristlichende
Transzendierung der messianischen Herrschaftsankündigung erkennen. Nicht
der ewige Bestand der davidischen Königsdynastie steht im Blick (2Sam

81
F. Bovon, Das Evangelium nach Lukas. 1. Teilband, EKK 3/1, 1989, 69.
82
Vgl. nur Hahn, Hoheitstitel (s. Anm. 1) 275 f.

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32 Ulrich B. Müller

7,16), sondern die ewige Herrschaft Jesu83. Im Unterschied zu Rom l,3 f. ist
Jesu Gottessohnschaft fast »seinshaft« verstanden: Das Kind wird von seinem
von Gott gewirkten Ursprung her »heilig« sein (geistgewirkte Empfängnis)
und insofern »Sohn Gottes« heißen (1,34 f.)84. Die Schlußfolgerung erscheint
unausweichlich. Trotz aller altertümlich klingenden Christologie in Lk l,32 f.
entfällt der Text bei der Frage nach den frühen Entstehungsbedingungen des
Titels »Sohn Gottes« für den irdischen Jesus.

83
Schneider, Lukas (s. Anm. 78) 50.
84
A. a. O., 51.

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