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Berichte
Fußball in Geschichte und Gesellschaft
Jahrestagung der Sektionen Sportgeschichte und Sportsoziologie in der dvs
vom 29. September bis 1. Oktober 2004 in Münster
„Fußball in Geschichte und Gesellschaft"
war das Thema einer Fachtagung, die
vom 29. September 2004 bis zum 1. Ok-
tober 2004 im Franz-Hitze-Haus in Müns-
ter stattfand. Es war die erste gemein-
same Fachtagung der Sektionen Sport-
geschichte und Sportsoziologie der
Deutschen Vereinigung für Sportwissen-
schaft, die in Kooperation mit dem
Akademischen Fußball-Team der West-
fälischen Wilhelms-Universität Münster
und der Deutschen Arbeitsgemeinschaft
von Sportmuseen, Sportarchiven und
Sportsammlungen ausgerichtet wurde.
Unter Leitung der Münsteraner Sportwis
-senchaftlrDiH.JUTING,Mchael
KRÜGER und Bernd SCHULZE wurde die
Fachtagung organisiert, an der über 70
Wissenschaftler, Wissenschaftlerinnen
und Interessierte teilnahmen.
Ziel der ersten von Historikern und
Soziologen in der dvs gemeinsam aus-
gerichteten Fachtagung war die Anre-
gung eines interdisziplinären Dialogs
über den Fußballsport in seinem sozio-
logischen und historischen Kontext so-
wie die Schaffung eines Forums, in dem
aktuelle Forschungsarbeiten präsentiert
und diskutiert werden sollten. Die ins-
gesamt über zwanzig Projektpräsenta-
tionen, Ergebnis-, Werkstatt- und For-
schungsberichte sollten einen Ein- und
Überblick über den Ist-Zustand der
Forschungslage bieten und dabei dem
breiten Spektrum des Forschungsfeldes
SpW 34. Jg., 2004, Nr. 4
Fußball Rechnung tragen. Sowohl die
Einbeziehung sportsoziologischer und
sporthistorischer Ansätze, die auf der
Fachtagung gleichermaßen berücksich-
tigt wurden, als auch die unterschied-
lichen Schwerpunktsetzungen und Zu-
gangsstrategien der Forschenden tru-
gen dazu bei, die Pluralität des wissen-
schaftlichen Interesses am Fußball in
Deutschland zu verdeutlichen und ein
Forschungsfeld aufzuzeigen, das - ins-
besondere im Vorfeld der Weltmeister-
schaft 2006 - einiges zu bieten und vie-
les zu entdecken hat.
Eröffnet wurde die Fachtagung mit
einem Vortrag des Geschichts- und Sozi-
alwissenschaftlers Franz Josef BRÜGGE-
MEIER. Er fasste wesentliche Aspekte
seines diesjährig erschienenen Buches
„Zurück auf dem Platz. Deutschland
und die Fußball-Weltmeisterschaft 1954"
zusammen. Im Mittelpunkt des Referats
stand weniger die historische Rekapitu-
lation des Turnierverlaufs 1954 als viel-
mehr die Frage nach der tatsächlichen
Reichweite und Bedeutung des deut-
schen Finalsiegs bezüglich seiner (ver
Wirkung auf das-geminschaftd)
deutsche Bewusstsein sowie die kriti-
sche Betrachtung - und in gewisser
Weise auch die Entmystifizierung - der
Legende des ,Wunders von Bern". BRÜG-
GEMEIERs These lautete, dass die immer
wieder behauptete identitätsstiftende
Wirkung des WM-Sieges für die „Na-
Berichte
tionsbildung" der Bundesrepublik his-
torisch, d. h. an den Quellen selbst nicht
nachweisbar sei, sondern dass es sich
um eine soziale und nationale Rekon-
struktion der Nachgeborenen handle.
Das ,Wunder von Bern" war nicht - so
BRÜGGEMEIER - die eigentliche Geburts-
stunde der Bundesrepublik.
André GOUNOT und Ulf KALINOWSKI
beschäftigten sich in ihren Beiträgen
ebenfalls mit der Fußballweltmeister-
schaft 1954. Während GOUNOT über den
deutschen Weltmeisterschaftssieg 1954
aus französischer und schweizerischer
Perspektive referierte, machte KALINOW-
SKI die bundesdeutsche Rezeption zum
Thema seines Vortrags. Dabei fielen,
trotz der unterschiedlichen Blickwinkel
der Referenten, vor allem Gemeinsam-
keiten auf: ,Wie werden wir wieder wer ?"
war eine Phrase, die von beiden Vortra-
genden aufgegriffen wurde und die an
eine der klassischen Grundfragen der
Soziologie - nach der Entstehung und
den Mechanismen kollektiver Identität
- anknüpft. KALINOWSKis Fazit fiel ähn-
lich aus wie BRÜGGEMEIERS: Sowohl aus
sporthistorischer als auch aus sportso-
ziologischer Sicht seien die Thesen, die
dem „Wunder von Bern" eine Art natio-
nale Identitätsstiftung bescheinigen,
nicht ausreichend zu belegen; wenn
auch KALINOWSKI in seiner Quellenaus-
wahl eher zu Ergebnissen im Hinblick
auf die nationale Bedeutung des Er-
eignisses kommen konnte als BRÜGGE -
MEIER.
Die für die Soziologie relevanten ge-
sellschaftlichen, wirtschaftlichen und or-
ganisatorischen Rahmenbedingungen in
der Welt des Fußballs wurden in ver-
schiedenen Kontexten thematisiert. Von
einem eher ökonomischen Blickwinkel
aus fragte André BÜHLER nach der Be-
deutung des Fußballs in England und in
Deutschland und beschäftigte sich da-
bei insbesondere mit dem Bereich des
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Sponsoring. Torsten WOJCIECHOWSKI ging
in der Vorstellung seines Forschungs-
vorhabens auf mögliche Implikationen
und Folgen zeitgenössischer Entwick-
lungen ein und fragte nach den ver-
meintlichen Wirkungen des viel zitierten
Globalisierungsprozesses auf das Ein-
flusspotenzial und die Handlungsfähig-
keit nationaler Sportverbände. Dabei
lehnte er sich an die aus dem Bereich
der Sozialwissenschaften stammenden
globalisierungstheoretischen Ansätze an,
die es für die sportwissenschaftliche De-
batte aufzuarbeiten und zu operationa-
lisieren gilt, um, im Anschluss daran, die
formulierten Hypothesen mittels leitfa-
dengestützter Experteninterviews zu
überprüfen. Die sozialwissenschaftliche
Relevanz wird hier nicht nur anhand
der verwendeten Terminologie (Begriffe
wie Macht, Einfluss oder Voice) deut-
lich, sondern auch anhand des spezifi-
schen Blicks auf einen möglichen Wan-
del nationaler Einflussmöglichkeiten, wie
sie insbesondere in der politikwissen-
schaftlichen und soziologischen Globa-
lisierungsforschung bereits seit länge-
rem diskutiert werden.
„Fußball wird auf der ganzen Welt,
auf jedem Kontinent, in jedem Land
und in annähernd allen Kulturen ge-
spielt" hieß es in der Ausschreibung zur
Fachtagung. Die hier angesprochene
globale Dimension des Fußballs wurde
in dem Eröffnungsvortrag Christiane
EISENBERGS deutlich, die den diesjährig
erschienenen - und von ihr mitverfass-
ten - Jubiläumsband zum 100-jährigen
Bestehen der FIFA „FIFA 1904-2004.
100 Jahre Weltfußball" präsentierte. Sie
schilderte den Projektverlauf sowie die
Zusammenarbeit mit dem Weltfußball-
verband und machte dabei zugleich auf
Chancen und Schwierigkeiten interna-
tionaler Kooperation aufmerksam.
Könnten im Zuge von Globalisie-
rungsprozessen neben den hochforma-
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lisierten Organisationen oder Verbänden
(wie etwa der FIFA) auch kleinere, flach-
hierarchische Netzwerke an Relevanz
gewinnen? Soziologische (und politik-
wissenschaftliche) Analysen beschäfti-
gen sich seit längerem mit entsprechen-
den Fragen und sprechen im Zuge von
Glob alisierungsprozessen nicht nur von
Vereinheitlichung, sondern immer auch
von Diversifizierung und Informalisie-
rung. Ähnliches indiziert ein Beitrag
Vladimir BoRKovlcs, der einige Standorte
des inzwischen weltweiten Straßenfuß
vorstellte, die sich in dem-balprojekts
Netzwerk „streetfootballworld" zusam-
mengeschlossen haben. Dabei wurde
deutlich, dass Fußball nicht nur welt-
weit gespielt wird, sondern dass es sich
darüber hinaus um einen äußerst viel
(beispielsweise hinsicht--fältigenSpor
lich der Spielformen, des sozialräum-
lichen Kontexts oder der Organisations-
struktur) handeln kann.
Ein weiteres Thema, das einige Wis
und Wissenschaftlerinnen-senchaftlr
unter sportwissenschaftlichen und fuß-
ballspezifischen Gesichtspunkten behan-
delten, stammt aus dem Bereich der
Frauen- und Geschlechterforschung. Zu-
nächst referierte Gabriele SOBIECH über
die Herstellung gesellschaftlicher Ord-
nung in Spielräumen. Theoretische Über-
legungen und beobachtete Verhaltens-
weisen von Jungen und Mädchen im
Sport wurden auf den Fußballsport über-
tragen, wobei es nicht zuletzt um die
kritische Auseinandersetzung mit ko-
edukativen Maßnahmen ging. Vladimir
BORKOVic schloss mit einem Vortrag an
das Thema an. Er stellte Ergebnisse ei-
ner Studie vor, in der das brandenburgi-
sche Modellprojekt „Straßenfußball für
Toleranz" auch hinsichtlich geschlechts-
spezifischer Aspekte evaluiert wurde.
BORKOV[c berichtete nicht nur über in-
tendierte Effekte des Projekts, sondern
beispielsweise auch über geschlechts-
Berichte
spezifische Unterschiede hinsichtlich des
Zugangs zum Fußballsport, des generel-
len fußballspezifischen Sportengage-
ments und der Bewertung des gemein-
samen Zusammenspiels. Auch Ulrike
BURRMANN und Tina NoBis stellten erste
Evaluationsergebnisse für ein mädchen-
spezifisches Straßenfußballprojekt vor.
Die vorliegenden Zwischenergebnisse
behandelten weniger die vermeintlichen
Wirkungen koedukativer Maßnahmen
als vielmehr die Frage, welche Mädchen
(und Jungen) solche Angebote wahr-
nehmen.
Es wurden nicht nur informelle und
professionelle Fußballsportengagements
diskutiert. In mehreren Beiträgen ging
es um verschiedene Aspekte des Ama-
teurfußballs, über den, so hieß es in der
Ausschreibung, bisher relativ wenig be-
kannt ist. Bernd SCHULZE stellte Ergeb-
nisse einer qualitativen Studie vor, die
sich, im Rahmen der wissenschaftlichen
Begleitung eines DFB-Projekts zur För-
derung des Ehrenamtes, auf die Rekru-
tierung, die Bindung, die Motivation so-
wie die Arbeits- und Organisationswei-
sen Ehrenamtlicher im Amateurbereich
des Fußballs bezogen. Guido KELLER
konstatierte anhand einer Befra--MAN
gung von Amateurfußballspielern einen
positiven Zusammenhang zwischen der
Höhe des Sozialstatus und der Spielklas
SCHWA K stellte empirische Be--se.Jürgn
funde zum Amateurfußball vor. Seine
Analyse war sowohl eine sozialstruktu-
relle Einordnung über-40-jähriger Ama-
teure, als auch eine Kontextualisierung
der Zielsetzung, des Trainingspensums
und des ehrenamtlichen Engagements
der Sporttreibenden. Mit Marcel SCHIL-
LINGS Erläuterung der sozialen Rolle, des
Handlungswissens und rhetorischer
Strategien von Fußballtrainern wurde
ein eher praxisorientiertes, kommunika-
tionstheoretisch fundiertes Thema ex-
pliziert.
Berichte
In den parallel verlaufenden Block-
sitzungen wurden viele weitere sportso-
ziologische „Fußball-Themen" erörtert,
die nicht alle gehört werden konnten
und somit nur in Kürze erwähnt seien.
Sebastian BRAUN, Klaus CAcHAY, Daniela
PIEPGRAS und Désirée SCHRÖDER be-
schäftigten sich in ihren Vorträgen mit
integrations- und partizipationsspezifi-
schen Aspekten im Fußballsport. Der
Bereich des Spitzensports wurde mehr-
fach hinsichtlich verschiedener Frage-
stellungen näher beleuchtet: Ansgar
THIEL, Klaus CACHAY und Carmen BORG
gingen unter Zuhilfenahme sys--GREF
temtheoretischer Modelle auf die Inter-
aktion zwischen Trainern und Athleten
ein, Ansgar THIEL, Klaus CACHAY, Arne
HALLE und Hilke TEUBERT beschäftigten
sich mit der Nachwuchsförderung im
Spitzensport und Gregor HOVEMANN be-
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richtete über Lage und Perspektiven des
Profi-Fußballs in Deutschland. Auch
zahlreiche sporthistorische Vorträge
waren zu hören. Karl LENNARTZ erörter-
te die Geschichte der Fußballturniere
bei den Olympischen Spielen von 1896
bis 1912 und Hans Joachim TEICHLER,
Uta KLAEDKE, René WIESE und Jutta
BRAUN rückten den DDR-Fußball in den
Mittelpunkt des Interesses.
Zwei Stadtführungen und ein Emp-
fang durch den Bürgermeister der Stadt
Münster rundeten als Rahmenprogramm
die Tagung ab. Die gute Organisation er-
möglichte einen anregenden fachlichen
Austausch in angenehmer Atmosphäre.
TINA NOBIS
(Universität Potsdam,
Institut für Sportwissenschaft,
Sportsoziologie/Sportanthropologie)