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Die Firma Scholten Honig stellte Glukose mit hohem Fruchtzuckergehalt her.
1976 wurde eine Verordnung erlassen, gemäß der ab dem Wirtschaftsjahr
1977/78 die Produktionserstattung (= eine Beihilfe) für die Herstellung von
Glukose mit hohem Fruchtzuckergehalt abgeschafft werden sollte.
Die Firma Scholten Honig klagte mittels Nichtigkeitsklage auf die Aufhebung
dieser Verordnung.
Die Nichtigkeitsklage zielt auf die Nichtigerklärung von Gemeinschaftsrechtsakten
(Verordnung, Richtlinie, Entscheidung) ab – sie darf von Einzelnen allerdings nur
dann erhoben werden, wenn diese unmittelbar und individuell von einem
Rechtsakt betroffen sind.
Rat und Kommission argumentierten, dass die Klage unzulässig ist, weil eine VO
ein Akt mit allgemeiner Geltung ist und diese Voraussetzungen nicht gegeben
sind.
Definition der VO: „Die VO ist ihrer Rechtsnatur nach eine Maßnahme
allgemeiner Geltung im Sinne von Art. 249 (früher 189) EGV, da sie auf
- objektiv bestimmte Sachverhalte anwendbar ist und
- Rechtswirkungen für allgemein und abstrakt umrissene
Personengruppen zeitigt“.
In diesem Fall galten die Regelungen über die Erstattung für alle Unternehmen,
die Glukose mit hohem Fruchtzuckergehalt herstellen.
Zwar schien die Wirkung in diesem Fall tatsächlich nur oder fast nur Scholten
Honig zu betreffen – aber: eine VO verliert ihren Charakter nicht dadurch, dass
sie konkret nur auf eine bestimmte Anzahl von Personen anzuwenden ist, auch
wenn sich diese Personen namentlich bestimmen lassen. Der Tatbestand ist
objektiv bestimmt, daher liegt in diesem Fall eine VO vor.
Andrea Francovich (F) hatte für die Firma “CDN Elettronica SnC” in Vicenza
gearbeitet, dafür aber nur gelegentlich Abschlagszahlungen auf seinen Lohn
erhalten. Er erhob deshalb Klage vor der Pretura Vicenza, die die beklagte Firma
zur Zahlung von rund 6 Millionen Lire verurteilte. Die Vollstreckung scheiterte
jedoch mangels Masse des inzwischen in Konkurs gegangenen Unternehmens.
Das von F angerufene nationale Gericht legte dem EuGH die Frage vor, ob sich
1) ein Betroffener unmittelbar auf die Richtlinie berufen oder
2) Ansprüche wegen Staatshaftung geltend machen könne.
Francovich: Entscheidung des Gerichtshofs
Staatshaftung
Zur Beantwortung dieser grundsätzlichen Frage nahm der EuGH auf zahlreiche
Prinzipien der Gemeinschaftsrechtsordnung sowie richtungsweisende
Entscheidungen Bezug, um schließlich einen Haftungsanspruch zu bejahen.
Für eine Geltendmachung der Staatshaftung hat der EuGH folgende drei
Voraussetzungen genannt:
• ein Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte zu
verleihen bezweckt, muss vorliegen
• der Inhalt dieser Rechte muss auf Grundlage der Richtlinie eindeutig
bestimmbar sein
• Vorhandensein eines Kausalzusammenhanges zwischen dem
entstandenen Schaden und dem Rechtsverstoß
Brasserie du Pêcheur:
Die französische Brauerei Brasserie du Pêcheur durfte ihr Bier nicht nach
Deutschland exportieren, weil es nicht dem deutschen Reinheitsgebot für Bier
entsprach. 1987 hatte der EuGH schon entschieden, dass dieses Reinheitsgebot
gemeinschaftsrechtswidrig ist (verbotenes Handelshemmnis gem. Art. 28
EGV). Die Brasserie erhob Schadenersatzansprüche gegen Deutschland wegen
entgangenen Gewinns (= jener Gewinn, der ihr entging, weil sie am Export nach
Deutschland gehindert wurde).
Factortame:
Die britische Regelung der Fischfangquoten sah vor, dass Unternehmen, die
Fischfang betreiben, im britischen Seehandelsregister eingetragen sein mussten.
Nach einer Novellierung 1988 sah das britische Gesetz bestimmte
Vorraussetzungen vor, die für die Eintragung in neues Register notwendig sind –
u.a. mussten mind. 75% des Unternehmens in den Händen britischer
Staatsbürger sein.
Das spanische Unternehmen Factortame war noch nach der alten Fassung des
Gesetzes im britischen Seehandelsregister eingetragen. Dem
Staatsbürgerschaftserfordernis des neuen Gesetzes entsprach das Unternehmen
nicht – daher wurde ihm die Eintragung in das neue Register verweigert und der
Fischfang nicht mehr gestattet.
Factortame machte vor britischen Gerichten die Verletzung von
Gemeinschaftsrecht, insb. von Art. 43 EGV (Niederlassungsfreiheit) geltend und
beantragte die Erlassung einer einstweiligen Verfügung.
Gerichtshofs
Zur Begründung des Staatshaftungsanspruchs verwies der EuGH noch auf Art.
288 Abs. 2 EGV, der die außervertragliche Haftung der Gemeinschaft für
Schäden, die ihre Organe und Bediensteten in Ausübung ihrer Amtstätigkeit
verursacht haben, begründet. Dieser außervertragliche Haftungsanspruch wurde
entscheidend durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs weiterentwickelt. Dabei
hat der EuGH auch die Haftung der Gemeinschaft für normative (legisative)
Handlungen anerkannt.
„46 Hiernach ist festzustellen, daß der nationale Gesetzgeber, wie auch die
Gemeinschaftsorgane, nicht systematisch über ein weites Ermessen
verfügt, wenn er auf einem gemeinschaftsrechtlich geregelten Gebiet handelt.
Das Gemeinschaftsrecht kann ihm Ergebnispflichten oder Verhaltens- oder
Unterlassungspflichten auferlegen, die seinen Ermessensspielraum zuweilen
beträchtlich einschränken. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn der
Mitgliedstaat, wie es unter den im Urteil Francovich u. a. genannten Umständen
der Fall war, gemäß Artikel 189 des Vertrages verpflichtet ist, innerhalb einer
bestimmten Frist alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um das von
einer Richtlinie vorgeschriebene Ergebnis zu erreichen. In diesem Fall ist es
für die Begründung der Haftung des Mitgliedstaats wegen Nichtumsetzung der
Richtlinie irrelevant, daß die zu ergreifenden Maßnahmen dem nationalen
Gesetzgeber obliegen.
47 Handelt ein Mitgliedstaat dagegen auf einem Gebiet, auf dem er über ein
weites Ermessen verfügt, das mit dem vergleichbar ist, das die
Gemeinschaftsorgane bei der Durchführung der Gemeinschaftspolitiken
besitzen, so müssen die Voraussetzungen, unter denen seine Haftung ausgelöst
werden kann, grundsätzlich die gleichen sein wie die, von denen die Haftung der
Gemeinschaft in einer vergleichbaren Situation abhängt.
50 In diesen beiden Fällen waren also der deutsche Gesetzgeber und der
Gesetzgeber des Vereinigten Königreichs mit Situationen konfrontiert, die
Entscheidungen mit sich brachten, die mit denen vergleichbar sind, die die
Gemeinschaftsorgane beim Erlaß von Rechtsetzungsakten im Rahmen einer
Gemeinschaftspolitik treffen.
Ein Verstoß gegen das GemR ist dann als qualifiziert anzusehen, wenn der
MS die Grenzen seines Ermessens offenkundig und erheblich
überschritten hat.
Beurteilung obliegt dem zuständigen Gericht - dabei muss das zuständige
Gericht u.a. das Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten
Vorschrift sowie den Umfang des Ermessenspielraumes, der den
nationalen oder Gemeinschaftsbehörden durch die verletzte Vorschrift
eingeräumt wird, berücksichtigen.1
1
Weiters ist noch zu berücksichtigen, ob der Verstoß vorsätzlich oder nicht vorsätzlich begangen wurde, ob ein
entschuldbarer Rechtsirrtum vorliegt oder ob die Verhaltensweisen eines Gemeinschaftsorgans zu
rechtswidrigen nationalen Maßnahmen beigetragen haben, EuGH verb Rs C-46/93 und C-48/93 Rz 56, Slg
1996, I-1147 f.
Grundrechte im Gemeinschaftsrecht
Sachverhalt
Herr Stauder war Empfänger einer sozialen Beihilfe und als solcher zum
Empfang eines bestimmten Butterkontingents berechtigt. Er behauptete, dass er
durch die Pflicht, vor dem Verkäufer seinen Namen bekanntgeben zu müssen, in
seinen Grundrechten verletzt werde, die im deutschen Grundgesetz verbrieft
sind.
Das deutsche Gericht legte dem EuGH die Frage vor, ob diese Verpflichtung mit
den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts vereinbar sei.
Der EuGH legte die Bestimmung der Entscheidung - u.a. auch unter
Heranziehung der anderen Sprachfassungen - aus und kam dabei zu dem
Ergebnis, dass die Bestimmung die namentliche Bezeichnung des Berechtigten
nicht vorschreibt, sie aber auch nicht untersagt.
Bei dieser Auslegung enthalte die Vorschrift nichts, was die in den allgemeinen
Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung, deren Wahrung der EuGH zu
sichern hat, enthaltenen Grundrechte in Frage stellen könnte ->
Sachverhalt
Anschließend ging der Gerichthof noch einen Schritt weiter und berief sich zur
Ermittlung und Interpretation des Rechts auf Eigentum direkt auf das 4.
Zusatzprotokoll zur EMRK, denn die EMRK spiegele die gemeinsamen
Verfassungskonzeptionen der Mitgliedstaaten wider.
Große Bedeutung für die Interpretation von Grundrechten hat die EMRK. Ein
formeller Beitritt der EG zur EMRK wurde vom Gerichtshof jedoch ausgeschlossen
-> Gutachten 2/94, EMRK
Sachverhalt
Sowohl die Kommission als auch das Europäische Parlament hatten sich seit
geraumer Zeit wiederholt für einen Beitritt der EG zur EMRK ausgesprochen.
Im Rat bestanden jedoch Zweifel über die Vereinbarkeit des geplanten
Beitritts mit dem EG-Vertrag. Daher wollte er den Beschluss über die Aufnahme
von Verhandlungen deswegen erst fassen, nachdem der EuGH geprüft hat, ob
der geplante Beitritt mit dem Vertrag vereinbar sei. Noch bevor der Text des
geplanten Abkommens vorlag, beantragte der Rat beim EuGH ein Gutachten zu
der folgenden Frage:
“Ist der Beitritt der Europäischen Gemeinschaft zur Konvention zum Schutze der
Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 ... mit dem Vertrag
zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vereinbar?”
Entscheidung des Gerichthofs:
Art. 235 (jetzt Art. 308) EGV (die sog. „Lückenschließungsklausel“) soll einen
Ausgleich in Fällen schaffen, in denen
• den Gemeinschaftsorganen durch spezifische Bestimmungen des Vertrags
entweder ausdrücklich oder implizit verliehene Befugnisse fehlen und
• gleichwohl Befugnisse erforderlich erscheinen, damit die Gemeinschaft
ihre Aufgaben im Hinblick auf die Erreichung eines der vom Vertrag
festgelegten Ziele wahrnehmen kann.
Art 6 Abs 2 EUV – Kodifizierung der Rechtsprechung des EuGH - stellt klar, dass
die Grundrechte als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts in
allen Tätigkeitsbereichen der Union zu achten sind. Er verweist auch im
Besonderen auf die Bedeutung der EMRK als Orientierungsmaßstab für
Gehalt und Anwendungsbereich der Grundrechte im Gemeinschaftsrecht.
„Art. 6 (2) Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom
unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und
Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen
Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des
Gemeinschaftsrechts ergeben.“