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In §23 Abs.2 Nr.3, §§38, 67, 80 Abs.2 Satz 2 des Besonderen Teils der
Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO II) ist festge-
legt, daß das Bundesministerium der Justiz für die Rechtsprüfung der Recht-
setzungsaktivitäten der einzelnen Bundesministerien zuständig ist. Diese Prü-
fungszuständigkeit des Bundesjustizministeriums bezieht sich sowohl auf die
Inhalte als auch auf die Form von Gesetz- und Verordnungsentwürfen. Sie
beginnt bei der Frage, ob und in welchem Maße überhaupt ein gesetzlicher
Regelungsbedarf besteht und ob ein vorgeschlagener Regelungsentwurf die-
sem Bedarf in adäquater Weise gerecht wird.
Die inhaltliche Prüfung eines Gesetzentwurfs bezieht sich auf die Frage,
ob eine gesetzliche Regelung mit höherrangigem Recht wie z. B. der Verfas-
sung, dem Europäischen Gemeinschaftsrecht oder dem Völkerrecht vereinbar
ist und ob sie mit der bestehenden Rechtsordnung konsistent ist.
Die Prüfung der Regelungsform bezieht sich zum einen auf einheitliche
Richtlinien für die formale Gestaltung einer Rechtsverordnung, die z. B.
Eingangs- und Schlußformeln, Überschriften, Bekanntmachungserlaubnis,
Geltungszeitregeln, Zitierweisen, Inkrafttretensregelungen, Arten der Ver-
weisung etc. betreffen. Sie bezieht sich aber auch auf die sprachliche Gestal-
tung von Gesetzen und Rechtsverordnungen und konzentriert sich dabei ins-
besondere auf Kategorien wie Klarheit, Verständlichkeit und Anwendbarkeit
von Vorschriftentexten.
Die Kriterien der Rechtsprüfung hat das Bundesministerium der Justiz in
dem 1991 herausgegebenen Handbuch der Rechtsförmlichkeit systematisch
zusammengestellt. Die zweite und aktualisierte Ausgabe aus dem Jahre 1999
ist um das Recht der Europäischen Union sowie um Empfehlungen zur sprach-
lichen Gestaltung erweitert.1
die Legislative die Gesetzgebung an die Judikative, was dem Prinzip der
Gewaltenteilung und damit den Grundlagen des Rechtsstaats widerspricht
(Hassemer 1992). Aufgrund der Rechtsunsicherheit, die durch sprachliche
Unbestimmtheit gesetzlicher Bestimmungen hervorgerufen wird, wird die
Frage der sprachlichen Gestaltung von Gesetzen verfassungsrelevant. Para-
graph 240 StGB, der den Tatbestand der Nötigung regelt, wurde in diesem
Sinne von dem ehemaligen Bundesverfassungsrichter Simon als verfassungs-
widrig angesehen. Die gängige Kritik an der Sprache des Rechts erstreckt sich
nach Hoffmann (1992) auf die fachsprachliche Verwendung umgangssprach-
licher Termini, den Gebrauch von unbestimmten und archaischen Ausdrük-
ken, auf einen komprimierten Stil (komplexe Nominalgruppen, Nominalisie-
rungen, mehrfache Satzeinbettungen etc.), sowie auf die undurchsichtige
Formulierung semantischer Relationen (Disjunktionen, Negationen etc.).
Stellt man sich die Frage, inwieweit die gängige Kritik der Rechtsspra-
che Konsequenzen gezeitigt hat, so scheint also Anlaß zu Optimismus zu
bestehen. Paragraph 35 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesmi-
nisterien, demzufolge Gesetze sprachlich einwandfrei sein müssen und soweit
wie möglich für jedermann verständlich gefaßt sein sollen (GGO II § 35
Abs. 1), zeigt, daß sich der Gesetzgeber des Problems angenommen hat, und
die im Bundestag institutionalisierte linguistische Rechtsprüfung repräsen-
tiert eine konkrete Maßnahme zur Lösung dieses Problems. Ich möchte im
folgenden darstellen, daß die Problematik differenzierter zu betrachten ist.
Sie hat eine sprachpolitische und eine sprachwissenschaftliche Dimension.
Die sprachpolitische Dimension wird klar, wenn man die realen Gege-
benheiten der institutionalisierten linguistischen Rechtsprüfung genauer be-
trachtet. In den vier Jahren der 13. Legislaturperiode sind 443 Gesetze be-
schlossen und verkündet worden. Darunter waren 285 Stammgesetze; größ-
tenteils handelte es sich um Änderungsgesetze.4 So wurde z. B. das Einkom-
mensteuergesetz im Laufe dieser Legislaturperiode insgesamt neunzehn mal
geändert. Jährlich gelangen etwa 300–400 Gesetzentwürfe einschließlich Än-
derungsvorschläge sowie ca. 300 Verordnungsentwürfe in den Bundestag.
Der für die sprachliche Rechtsprüfung zuständige Redaktionsstab der Gesell-
schaft für deutsche Sprache erhält jährlich ungefähr 50–70 dieser Entwürfe
zur Durchsicht, deren Umfang zwischen 10 und 800 Seiten beträgt.5 Darüber
hinaus bietet der Redaktionsstab den Mitgliedern des Bundestages für Reden
und Vorträge eine Sprachberatung an, die sich auf Zweifelsfälle der deut-
blematisch. Was ist z. B. das Kriterium für einen einfachen Satz? Ist ein Satz
mit einem transitiven Verb einfacher als ein Satz mit einem ditransitiven
Verb? Sind Sätze ohne Quantoren einfacher als Sätze mit Quantoren? Ist ein
Infinitiv einfacher als ein konjunktional eingeleitet finiter Nebensatz? Ist ein
konjunktional eingeleiteter finiter Nebensatz einfacher als ein Verbzweit-
komplement? Ich bezweifle, daß es auf diese Fragen generelle Antworten
gibt. Auch Einfachheit ist auf Kommunikationszwecke zu relativieren und
nicht als eine generelle Eigenschaft von Sätzen zu bestimmen.
Ähnlich verhält es sich mit der Prägnanz. Die darunter subsumierten
Eigenschaften der Genauigkeit und Eindeutigkeit sind nicht nur unklar, sie
rekurrieren nicht einmal auf die einschlägige Begrifflichkeit der Semantik.
Daß Texte mißverständlich (nicht prägnant) sind, hat eine häufige Ursache in
den Eigenschaften der Mehrdeutigkeit und Vagheit. Um prägnante Texte zu
verfassen, sollte man die Quellen von Mehrdeutigkeit kennen. Sie kann in der
Mehrdeutigkeit von Wörtern wie in (1) (»lexikalische Mehrdeutigkeit«) oder
in der Mehrdeutigkeit von Strukturen wie in (2) (»strukturelle Mehrdeutig-
keit«) begründet liegen:
(1) Bank, Vorgang, Lösung, aufsetzen, unterhalten, kosten, scharf, billig,
vor, nach etc.
(2) a. Hans beobachtete den Mann mit dem Fernglas.
b. Jeder Minister traf einen führenden Wirtschaftsvertreter.
Sie kann aber auch darin begründet liegen, daß ein Text über sein »wörtli-
ches« Verständnis hinaus Verständnismöglichkeiten eröffnet, die durch spe-
zifische Kontexteigenschaften determiniert sind. So ist z. B. aus dem Satz (3)
(3) Einige Bayern sind konservativ.
in gewissen Kontexten zu schließen, daß nicht alle Bayern konservativ sind,
obwohl dieser Schluß im rein logischen Sinne nicht zulässig ist, d. h. von der
Semantik der verwendeten Begriffe nicht impliziert wird (Grewendorf 1992a).
Derartige über die »wörtliche« Bedeutung hinausgehende Verständnismöglich-
keiten lassen sich als sog. »konversationelle Implikaturen« mit Hilfe von Grices
Theorie der Konversationsmaximen erschließen (Grice 1975, Rolf 1994).
Eine weitere Quelle für Mißverständlichkeit ist die Vagheit von Aus-
drücken, Texten oder Äußerungen. Z. B. ist der Anwendungsbereich von
Begriffen nicht für jeden Einzelfall festgelegt. Man versetze sich in Max
Blacks imaginäres Museum, in dem eine Reihe von Stühlen aufgestellt ist. An
dem linken Ende der Reihe steht ein »normaler« Stuhl, am rechten Ende der
Reihe ein Stück Holz. Nach dem »normalen« Stuhl kommen Stuhlexemplare,
die im Verlauf der Reihe immer mehr verändert werden, wobei die Verände-
rung von Exemplar n zu Exemplar n+1 jeweils minimal ist. Der immer mehr
veränderte Stuhl resultiert am Schluß in dem Stück Holz. Wenn man nun
sagen soll, an welcher Stelle n der »Stuhl« aufhört, ein Stuhl zu sein, so daß er
an der Stelle n-1 noch ein Stuhl war, so ist klar, daß das nicht möglich ist. Wie
102 Günther Grewendorf
Nach HdR §44 ist Kennzeichen jeder Fachsprache »eine klare und ein-
deutige, zugleich formalisierte und vereinheitlichte Ausdrucksweise«. Wenn
diese Bestimmung zuträfe, sollten sich bei der Charakterisierung fachsprach-
licher Ausdrücke keine Probleme ergeben. Nun liest man aber z. B. in Ab-
schnitt 1.1.2 der Fingerzeige, daß der Begriff »Vorgang« in der Gemeinspra-
che die Bedeutung von »Ereignis« und in der Fachsprache die Bedeutung von
»Akte« habe. Dem könnte man jedoch – durchaus mit Recht, wie ein Blick in
deutsche Wörterbücher zeigt- entgegenhalten, daß es zur Bedeutung des
Wortes »Vorgang« in der Gemeinsprache gehört, daß dieses Wort sowohl das
eine als auch das andere bedeuten kann. Was also sind die Kriterien dafür, daß
ein Begriff ein fachsprachlicher Begriff ist?
Das Kriterium einer formalisierten Ausdrucksweise ist inadäquat, wenn
damit gemeint ist, daß fachsprachliche Begriffe durch explizite Definitionen
eingeführt werden; es ist zu erläutern, wenn damit etwas anderes gemeint ist.
Obwohl fachsprachliche Ausdrücke mit Hilfe der Umgangssprache erläuter-
bar sind, sind sie nicht immer in allen Kontexten durch umgangssprachliche
Ausdrücke ersetzbar. Dies gilt z. B. für Dispositionsprädikate als auch für die
sog. »theoretischen Begriffe« einer Wissenschaftssprache (cf. z. B. v. Savi-
gny 1975). Man braucht also ein anderes Kriterium dafür, fachsprachliche
Ausdrücke gegenüber Ausdrücken der »Gemeinsprache« abzugrenzen. Dazu
sind wissenschaftstheoretische und sprachphilosophische Klärungen erfor-
derlich, ohne die eine Empfehlung wie die folgende aus HdR §46 unwirksam
bleiben muß: »Damit kein für Laien mißverständlicher oder gar unverständli-
cher Vorschriftentext entsteht, müssen die Eigenheiten der Fachsprache beim
Abfassen von Gesetzen und Rechtsverordnungen im Auge behalten werden.«
Sie bewegen sich auf dem theoretischen Niveau des Aufsatzunterrichts für
Schulkinder, und man kann sich kaum vorstellen, daß der Gesetzgeber Emp-
fehlungen von dieser Allgemeinheit und Selbstverständlichkeit tatsächlich
benötigt.
Warum man etwa den Begriff »Steuerpaket« durch die Formulierung
»Vorschläge (Maßnahmen) zur Änderung des Steuerrechts« ersetzen sollte,
wie es in den Fingerzeigen nahegelegt wird, dürfte sowohl dem Laien als auch
dem Linguisten schwer verständlich zu machen sein. Dasselbe gilt für die
Empfehlung, das Begriffspaar »ersterer« und »letzterer« durch die Begriffe
»jener« und »dieser« zu ersetzen (Fingerzeige S. 63), und geradezu grotesk
erscheint der Hinweis, bei der Wortwahl von Verben empfehle es sich, auf
Präfixe zu verzichten, also statt den Ausdrücken in (4) die jeweiligen Alterna-
tiven in (5) zu wählen (Fingerzeige, Abschn. 3.5.2.):
(4) a. die Umleitungen (5) a. durch Schilder auf Umleitungen
beschildern hinweisen
b. einsparen b. sparen
c. abkaufen c. kaufen
d. anmahnen d. mahnen
Hier stehen offenkundig stilistische Präferenzen im Hintergrund, die wohl
eher auf einen Sprachpurismus zurückzuführen sind als auf Einsichten dar-
über, wie die Sprache funktioniert. Anders ist nicht zu erklären, warum die
Amtssprache die Möglichkeiten der Sprache nur eingeschränkt nutzen sollte
und warum z. B. die Verben auf »-stellen« wie z. B. »freistellen«, »erstellen«,
»fertigstellen«, »herausstellen«, »klarstellen« eine Modeerscheinung sein sollen
(Fingerzeige S. 59), die man tunlichst vermeide, da die jeweiligen Alternati-
ven »kündigen«, »abfassen«, »beenden«, »betonen« und »klären« »besser«
seien. Angesichts der Großzügigkeit und Nachlässigkeit, mit der bei diesen
Empfehlungen zur Wortwahl über Bedeutungsunterschiede hinweggegangen
wird, kann man dem Gesetzgeber nur raten, bei der Wahl seiner Worte mehr
Sorgfalt walten zu lassen als es bei diesen Empfehlungen geschehen ist. Ich
möchte jedenfalls klarstellen (und nicht klären), daß ich mich an solche
Empfehlungen nicht halten würde.
Die morphologischen Empfehlungen des HdR (wie auch der Fingerzei-
ge) beziehen sich primär auf die Vermeidung des sog. Nominalstils. »Haupt-
wortphrasen« sollten vermieden werden; statt »Verwendung finden« sollte
man das Wort »verwenden« im Passiv gebrauchen (HdR §59), und auf Kom-
posita (»Wortungetüme«) sollte verzichtet werden, wenn sie nicht der begriff-
lichen Differenzierung und einem ökonomischen Sprachgebrauch dienen. In
den Fingerzeigen wird empfohlen, Kettenbildungen von Genitiven, Substan-
tiven, Präpositionen und abhängigen Sätzen zu vermeiden.
Obwohl unklar ist, warum »Verwendung finden« durch das Passiv von
»verwenden« ersetzt werden soll (noch dazu, wo in den syntaktischen Emp-
fehlungen eine Präferenz für aktivische Ausdrucksweise nahegelegt wird),
Die sprachliche Pflege des Rechts. Linguistische Aspekte der Rechtsprüfung 105
8 Daß bei der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts anläßlich des Urteils zur
vorzeitigen Auflösung des 9. Deutschen Bundestages der halb-deskriptive Charak-
ter des sprachlichen Ausdrucks von Mißtrauen eine Rolle gespielt hat, ist ausge-
führt in Grewendorf G. (1985), »Vertrauen ins Mißtrauen. Linguistische Analysen
zur Argumentation des Bundesverfassungsgerichts anläßlich des Urteils zur vor-
zeitigen Auflösung des 9. Deutschen Bundestages«. in: J. Dyck (hrsg.), Rhetorik.
Ein internationales Jahrbuch. Band 4, S. 101–115, Stuttgart.
106 Günther Grewendorf
Es kann aber auch eine dispositionelle Lesart haben, also eine Relation
ausdrücken, die aufgrund körperlicher Dispositionen besteht wie z. B. in (9)
(9) Sie mußte ihrer Leidenschaft durch Schwitzen und Zähneknirschen Aus-
druck verleihen, als sie merkte, daß er splitternackt war.
Schließlich gibt es auch buletische Modale, also Modale, die gewisse Wün-
sche voraussetzen wie z. B. in (10) (v. Stechow 1988)
(10) So wahr ich Amaranta heiße, die beiden können nicht heiraten.
Analoges gilt für andere Modalverben. Darüber hinaus unterscheiden sich
Modalverben im Grad der durch sie ausgedrückten deontischen Kraft. Die
durch »müssen« ausgedrückte Verpflichtung ist in der Regel verbindlicher als
die durch »sollen« ausgedrückte Verpflichtung, obwohl dieser Unterschied
kontextabhängig ist und in geeigneten Kontexten neutralisiert sein kann. Man
vgl. z. B. (11) und (12)
(11) Der Schüler soll die Schule verlassen.
(12) Der Schüler muß heute zum Friseur gehen.
Diese Kontextabhängigkeit hängt mit der Relativität der von diesen Verben
ausgedrückten Modalität zusammen. Die Art der von einem Modal ausge-
drückten deontischen Situation hängt von dem »Redehintergrund« ab, relativ
zu dem ein Verb wie »müssen« eine gesetzliche, physikalische, politische
oder logische Notwendigkeit ausdrückt (Kratzer 1991).
Die besonderen Hinweise des HdR zur Wortwahl in Vorschriftentexten
beschränken sich im großen und ganzen auf Vorsichtsmaßnahmen: »Bei der
Wahl des Wortes ›können‹ ist Vorsicht geboten, da dieses Wort verschiedene
Bedeutungen haben kann« (HdR §64). Die Notwendigkeit zur Vorsicht wird
darin begründet gesehen, daß gemeinsprachliche und fachsprachliche Bedeu-
tung auseinander fallen. Es findet sich allerdings kein Hinweis darauf, inwie-
fern diese Bedeutungen auseinander fallen. Es wird lediglich darauf hinge-
wiesen, daß mit dem Verb »können« ein Ermessen eingeräumt wird, während
»müssen« zu verwenden ist, wenn es um Verbote und Gebote geht. Schließ-
lich könne die Verpflichtung einer Behörde »auch mit dem imperativen
Präsens ausgedrückt werden (›Die zuständige Behörde erteilt …, übersen-
det…‹)« (ibid.) Weder werden hier unterschiedliche Lesarten des Modalverbs
»können« illustriert, noch wird auf die relative Modalität der Modale hinge-
wiesen, die insbesondere bei Vorschriftentexten als Quelle von Unklarheiten
fungieren kann.9 Es ist zu hoffen, daß der Gesetzgeber des aufschlußreichen
Hinweises, er habe das Modalverb »müssen« anstelle von »können« zu ver-
wenden, wenn es um Verbote und Gebote gehe, nicht bedurfte. Höchst rele-
9 Eine Illustration der Ambiguität von »sollen« anhand verschiedener Artikel des
Grundgesetzes findet sich in Klein (1999).
Die sprachliche Pflege des Rechts. Linguistische Aspekte der Rechtsprüfung 107
zes stehen sollten, ist offenkundig an die Operation der Extraposition gedacht,
bei der Nebensätze in das Nachfeld gestellt werden. Nur: Das weiß der
linguistische Laie nicht, so daß er bei einem Verb-Zweit Satz wie (14), in dem
die rechte Satzklammer durch keinen Prädikatsteil besetzt ist, die Empfeh-
lung dahingehend mißverstehen muß, daß er den Satz wie in (15) formulieren
soll:
(14) Der Richter behauptete gestern in Berlin gegenüber dem Angeklagten
aus Potsdam, daß der Wagen gestohlen sei.
(15) Der Richter behauptete, daß der Wagen gestohlen sei, gestern in Berlin
gegenüber dem Angeklagten aus Potsdam.
Dieses Mißverständnis wird auch dadurch nicht aus dem Weg geräumt, daß
ein Beispiel mit einem infiniten Verb in der rechten Satzklammer und einem
extraponierten Relativsatz angeführt wird.
Überraschenderweise kommt in §83 HdR der einschlägige Fachterminus
aus der topologischen Theorie des deutschen Satzes vor: »Vielfach können
eingeschobene Satzglieder ins Nachfeld des Satzes oder in einen eigenen Satz
gestellt werden.« Diese Feststellung findet sich im Rahmen der Empfehlung,
die Satzglieder innerhalb der Satzklammern nicht zu umfangreich werden zu
lassen. Leider enthält der Satz (17), mit dem die bessere Formulierungsalter-
native zu (16) illustriert werden soll, keine rechte Satzklammer, so daß sich
der Laie vergeblich fragen wird, wo er das Nachfeld findet:
(16) Der Medizinische Dienst hat Maßnahmen zur Rehabilitation, Art und
Umfang von Pflegeleistungen sowie einen individuellen Pflegeplan zu
empfehlen.
(17) Der Medizinische Dienst empfiehlt Maßnahmen zur Rehabilitation…
Das unvermutete Eindringen linguistischer Fachterminologie in eine An-
sammlung linguistischer Trivialitäten oder Absurditäten findet sich auch in
den Fingerzeigen. In Abschnitt 1.8. über Wortstellung begegnet man in einem
Absatz über Pronominalisierung den Fachtermini »kataphorischer Gebrauch«
und »anaphorischer Gebrauch«, die man dem Leser zugunsten von etwas
einsichtigeren Empfehlungen zur Wortstellung besser erspart hätte. Nach der
einleitenden Feststellung, daß der Beginn eines Satzes häufig wie eine Über-
schrift wirke, womit sich die erläuternden Ausführungen über die Wortstel-
lung erschöpfen, ist zumindest der Linguist nicht mehr verwundert, wenn Satz
(19) als ein Beispiel für »gute Wortstellung« gegenüber (18) als offenkundig
schlechter Wortstellung empfohlen wird:
(18) Die Polizei konnte im Bahnhofsgelände gestern abend den lange ge-
suchten Betrüger festnehmen.
(19) Die Polizei konnte gestern abend den lange gesuchten Betrüger im
Bahnhofsgelände festnehmen.
Die sprachliche Pflege des Rechts. Linguistische Aspekte der Rechtsprüfung 109
durch, seitens in Erscheinung tritt«. Man fragt sich in der Tat, warum natürli-
che Sprachen über derart unnötige Konstruktionstypen verfügen, die noch
dazu als »hölzern« und »trocken« (ibid.) anzusehen sind. Die Tatsache, daß es
Bedeutungsunterschiede zwischen Aktiv- und Passivkonstruktionen gibt, daß
mit diesen Konstruktionen unterschiedliche informationsstrukturelle Eigen-
schaften verbunden sind, die es bei der Formulierungswahl zu berücksichti-
gen gilt, scheint denjenigen entgangen zu sein, die bislang die sprachliche
Pflege des Rechts zu ihrer Sache gemacht haben.
In den HdR wird das Passiv etwas weniger metaphorisch charakterisiert,
aber auch hier wird empfohlen, aktivisch zu formulieren, wenn bei passivi-
scher Verbform der Hinweis auf den Handelnden mit einer Präpositionalphra-
se angeschlossen wird. Zur Illustration dieser Empfehlung wird angeführt,
daß man statt (25) besser die Formulierung (26) wählen sollte:
(25) Der Aufbau des Bundesamtes für Güterverkehr wird durch das Bundes-
ministerium für Verkehr geregelt.
(26) Den Aufbau des Bundesamtes für Güterverkehr regelt das Bundesmini-
sterium für Verkehr.
Wie will man diese Empfehlung dem Laien (und dem Linguisten) plausibel
machen? Hier waren offenkundig Sprachschurigler am Werke, die sachlich
vernünftige und fachlich fundierte »Sprachpflege« durch linguistische Ah-
nungen und idiosynkratische Stilpräferenzen ersetzen.
Die Hinweise zum Textaufbau beschränken sich auf Empfehlungen für
den Schulaufsatz: folgerichtiger Aufbau und klare Gliederung, übersichtliche
Aufzählungen, Weglassen von Überflüssigem, rhetorische Figuren. Die prak-
tischen Beispiele für die Tilgung von Überflüssigem entbehren jeder lingui-
stischen Plausibilität. Statt (27) solle man besser (28) formulieren und statt
(29) besser (30):
(27) Statt: Die Vorschriften der §§ 10 und 11 sind entsprechend anzuwenden.
(28) Besser: Die §§ 10 und 11 sind entsprechend anzuwenden.
(29) Statt: ohne die mit Rücksicht auf den Familienstand gewährten Zuschüsse
(30) Besser: ohne die Zuschüsse für den Familienstand
Ob die schlechteren Alternativen inhaltlich Überflüssiges enthalten, muss der
Jurist beurteilen. Linguistisch gesehen bestehen zwischen den jeweiligen
Alternativen jedenfalls semantische Unterschiede, für die man sich ohne
Schwierigkeit unterschiedliche juristische Konsequenzen vorstellen kann.
Wenn die Sprachwissenschaft nicht mehr zu bieten hätte als das, was in den
hier besprochenen Empfehlungen zur sprachlichen Gestaltung von Rechts-
vorschriften Niederschlag gefunden hat, würden sich interdisziplinäre Projek-
Die sprachliche Pflege des Rechts. Linguistische Aspekte der Rechtsprüfung 111
zum Thema Sprache und Recht. So hat sich z. B. an der Berliner Akademie
eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe konstituiert12, die sich auf der Basis von
drei Bedingungen mit der Sprache des Rechts auseinandersetzt: (a) interdiszi-
plinäre Kompetenz aus den Bereichen der Rechtswissenschaft, der Sprach-
wissenschaft, der empirischen Sozialforschung und der experimentellen Sprach-
psychologie, (b) empirische Validierung sprachlicher Hypothesen über Text-
eigenschaften (wie z. B. Verständlichkeit oder Ambiguität), (c) theoretische
Fundierung anwendungsbezogener Aussagen. Diese Arbeitsgruppe befaßt sich
mit drei Projekten: der Entstehung von Gesetzestexten, den sprachlichen
Spielräumen der Gesetzesauslegung und den rechtlichen Anforderungen an
die Sprache wie sie durch das Transparenzgebot und das Gesetz über den
Schutz von Marken und sonstigen Kennzeichen gegeben sind.13
Wie notwendig Projekte dieser Art sind, sollten die vorangehenden Aus-
führungen unterstreichen. Es bleibt zu hoffen, daß sich ihre Ergebnisse nicht
nur in den einschlägigen Fachzeitschriften niederschlagen sondern auch in
praktischen Anleitungen, wie sie nicht nur der Redaktionsstab im Deutschen
Bundestag für seine sprachliche Prüfung von Rechtsvorschriften sondern
auch das Bundesministerium für Justiz für seine nächste Auflage des Hand-
buchs der Rechtsförmlichkeit zugrundelegen kann.
Summary
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