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Der Mythos der Ganzheitlichkeit

Ulrike Müller

Der Mythos der Ganzheitlichkeit

Das Strukturmodell als Metapher moderner Ichzerfallenheit

Erscheinungsjahr 2001

Inhaltsverzeichnis:

Einführung...........................................................................................................................2
1. Bernes Auffassung von „Selbst“ und „Ich“ .......................................................................4
2. Das Ichzustandsmodell als Metapher für die Ichzerfallenheit des modernen Menschen;
das ist: Berne‘s Menschenbild .............................................................................................9
3. Die Zumutung des Ichzustandsmodells für die heutigen Transaktionsanalytiker ........... 12
Schlussbemerkung............................................................................................................ 13
Literatur............................................................................................................................. 14

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Der Mythos der Ganzheitlichkeit

Einführung

Ganzheitlichkeit
Spiritualität
Das Spirituelle Selbst
Das Selbst
Ganzheitliches Denken und Behandeln

Solche und ähnliche Begriffe haben in den letzten Jahren mehr und mehr den transakti-
onsanalytischen Diskurs besetzt. Wir finden sie in Zeitschriften- und in Kongressbeiträgen.
Es scheint, als ob der Mythos von der Ganzheitlichkeit in das transaktionsanalytische Den-
ken eingedrungen sei; als ob es eine Notwendigkeit gäbe, über Ganzheitlichkeit und Spiri-
tualität zu sprechen, um „den inwendigen Nihilismus moderner Zeiten ... zu übertünchen“
(Lange 1983, S. 121), als ob Transaktionsanalytiker auf dem „Jahrmarkt der Eitelkeit“ nach
einfachen Antworten suchten für die komplexen Probleme der Moderne.
Es sei hier nur erinnert an einen Kongressbeitrag der letzten Jahre, der den Titel hatte:
„Heil – Heilung – Heiligung“.
Heil und ganz werden ist ein archaischer Wunsch. Mit diesem Wunsch in therapeutischen
Beziehungen umzugehen, ist legitim angesichts einer zerbrochenen Sinnwelt. Wenn je-
doch Ganzheitlichkeit als Lösung und Heiligung als mögliche Erfahrung angeboten werden,
dann müssen wir nach dem Grund solcher Angebote fragen. Darüber hinaus müssen wir
fragen, was ihre weitverbreitete Akzeptanz verursacht.
Esoterischem Raunen Glauben zu schenken, ist einfacher als die harte Arbeit der Erkennt-
nis zu verrichten. Eine spirituelle Lösung zu versprechen, scheint mehr Anhänger zu ge-
winnen als Selbstreflexion einzufordern. Einer neuen Ordnung, gesetzt von einer Autori-
tätsfigur, zu folgen, vermittelt scheinbar mehr Sicherheit als die eigene Ordnung jeden Tag
neu erschaffen zu müssen.
Nur – mit Bernes Einstellung hat diese Haltung nichts zu tun! Im Gegenteil: Mit einer ge-
wissen Schärfe trennt Berne seinen Theorieentwurf vom spirituellen Bereich:
Die Strukturanalyse „befaßt sich nicht ... mit dem Wesen des Seins, dem Selbst. Sie stellt
ein Theoriekonzept zur Verfügung, das jenseits davon angesiedelt ist, nämlich die Kon-
struktion der Besetzungsenergie, innerhalb derer das Selbst zu finden ist. Sie läßt daher
einen weiten Bereich außer acht und überläßt diesen, der für jene in gewisser Hinsicht am
entscheidendsten ist, Philosophen, Metaphysikern, Theologen und Dichtern, damit sie sich
damit auf ihre Weise befassen. Sie hat in keinster Weise vor, in diesen wohldefinierten
Raum einzudringen, und erwartet im Gegenzug dieselbe Höflichkeit von denen, die sich mit
dem Problem des menschlichen Seins oder dem Selbst beschäftigen. Sie hat weder das
Bedürfnis, in den Elfenbeinturm, in die Kathedrale, in die Arbeit des Dichters noch in den
Gerichtssaal vorzudringen; aber sie erwartet andererseits auch, nicht gegen ihren Willen in
einen dieser Bereiche hineingezogen zu werden“ (Berne 1992, S. 448). Dieser entschie-
dene und durchaus ironische Ton verdeutlicht Bernes Position. Berne spricht nur von der
inneren Struktur des Ich, wofür er das Ichzustandsmodell entwickelte. Er entwickelte kein
Konzept von Ganzheitlichkeit. Er wollte viel eher begreifen, inwiefern der Begriff „Ich“ selbst
eine Konstruktion ist.

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Wenn wir die Tiefendimension der Transaktionsanalyse erkennen wollen, müssen wir Ber-
nes Einstellung zu den Begriffen „Selbst“ und „Ich“ verstehen und würdigen, wie er sie in
seinem Werk und vor allem in seinem Ichzustandsmodell entfaltet.
Die vorliegende Untersuchung befasst sich mit drei Aspekten:
Der erste Teil will anhand von Bernes Schriften folgende These erhärten: Was wir wahr-
nehmen als „Ich“, von dem wir sagen „Ich bin“, was wir wahrnehmen als „mein wirkliches
Selbst“, ist für Berne immer nur ein bestimmter Teil des psychischen Apparats Ich, ein Ich-
zustand, der in einem bestimmten Moment mit Energie besetzt ist. Die Erfahrung des
„Selbst“-Seins überschreitet nie die Ichgrenzen.
Der zweite Teil will zeigen, inwiefern das Ichzustandsmodell als metaphorische Antwort
gelesen werden kann auf die zentrale Frage des 20. Jahrhunderts: Wie erfährt sich der
Mensch 200 Jahre nach Kant? In ihr erschließt sich Bernes Menschenbild, das die Grund-
lage bildet für seine theoretischen und methodischen Gedanken über Psychotherapie.
Der dritte Teil versucht Antworten auf die Frage, weshalb Bernes Auffassung für viele
Transaktionsanalytiker heute so schwer nachvollziehbar zu sein scheint.

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1. Bernes Auffassung von „Selbst“ und „Ich“

Zu Beginn scheint mir nötig, die Selbstpsychologie nach ihrem Verständnis des Begriffs
„Selbst“ zu befragen. Kohut spricht vom „Selbst als einer körperlichen und geistigen Ein-
heit“ (Kohut 1990, S. 143) und betont, wie die Hinwendung der mütterlichen Aufmerksam-
keit auf „das ganze Kind zur Festigung seiner Erfahrung als totales körperlich – seelisches
Selbst führt“ (Kohut 1985, S. 257). – In gewisser Weise suggeriert der Begriff „Selbst“
Ganzheitlichkeit. All meine Gefühle sind Äußerungen des Selbst; das Bewusstsein, Ich zu
sein während meines ganzen Lebens, bedeutet, Ich selbst, jenseits aller Veränderungen,
die mir widerfahren mögen. Der Begriff „Selbst“ scheint eine gewisse Konstanz und Un-
verwundbarkeit zu beinhalten, feste Außengrenzen und ein gewisses Gleichgewicht nach
innen. Wenn dieser Zustand in Gefahr ist, droht das Selbst zu zerbrechen, fragmentiert zu
werden (Wolf 1996, S. 60).

In seinem letzten Buch, „Was sagen Sie ...?“, spricht Berne von dem „vollständigen Per-
sönlichkeitsdiagramm“ (Berne 1992, S. 27), wenn er das Ichzustandsmodell einführt. Er
umrandet sogar die drei Ichzustände (fehlt in der deutschen Ausgabe). Oberflächlich be-
trachtet, könnte der Leser versucht sein, dieses Diagramm als Beweis dafür zu nehmen,
dass die Strukturanalyse synonym gebraucht werden kann für Ganzheitlichkeit im Sinne
von „Selbst“, wie es Ted Novey tut, wenn er schreibt: „Die drei Typen von Ichzuständen ...
bilden DAS Selbst“ (Novey et al. 1993, S. 124). Tatsächlich weist das „vollständige Persön-
lichkeitsdiagramm“ nur darauf hin, dass in Bernes Sichtweise die theoretische Konstruktion
„Ich“ in verschiedene Ichzustände ausdifferenziert ist. Die innere Differenzierung des Ich ist
eine gänzlich entgegengesetzte theoretische Annahme, um die psychische Struktur zu ver-
stehen, als es dies die ganzheitliche Sichtweise des „Selbst“ ist.
In seinem frühen Buch „Transactional Analysis in Psychotherapy“ spricht Berne von der
„integrierten Persönlichkeit“ (Berne 1989, S. 211 f). Was hat es damit auf sich? Lässt sich
hier etwas dem Selbst Verwandtes ausmachen? Berne entwirft die Persönlichkeit, die so-
wohl ihren Eltern- als auch ihren Kind-Ich-Anteil in ihren Erwachsenen-Bereich integriert
hat. Gemeint ist, dass diese Person zu jeder Zeit alle Ichzustände der jeweiligen Situation
angemessen benutzen kann. Diese Vorstellung einer „integrierten Persönlichkeit“ kommt
dem ganzheitlichen Bild, wie es der Begriff „Selbst“ enthält, ziemlich nahe. Wie Ian Stewart
(1994) betont, vergaß Berne jedoch niemals, das Wort „integriert“ in Anführungszeichen zu
setzen. Und, als ob dies nicht genügte, beharrte Berne darauf, dass diese „Integration der
Ichzustände zu dem am wenigsten verstandenen (obscure) Bereich der Strukturanalyse
gehört“, und er fuhr fort: „Transaktionsanalytisch gesehen heißt das, dass jeder, der sich
als Erwachsener verhält, idealerweise dreierlei Seiten von sich zeigen sollte: persönliche
Anziehungskraft und Aufgeschlossenheit, objektive Datenverarbeitung und ethische Ver-
antwortlichkeit. Diese Seiten repräsentieren jeweils archäopsychische, neopsychische und
exteropsychische Elemente, die in den neopsychischen Ichzustand integriert sind ... Diese
zögerliche Formulierung ist in der nächsten Abbildung dargestellt“ (Berne 1989, S. 211f,
kursiv ergänzt).
Es ist wichtig zu sehen, dass Berne hervorhebt, dass es eine zögerliche Formulierung ist,
wenn er schreibt, „ein Erwachsener sollte idealerweise dreierlei Seiten von sich zeigen.“
Das Bild der integrierten Persönlichkeit ist für Berne ein ideales Postulat und ist nicht Chif-

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fre für den ganzheitlichen Menschen. Selbst das ideale Postulat hat nur ein integriertes Ich
im Blick und überschreitet die Ichgrenzen nicht, wie dies das Konzept vom Selbst für ge-
wöhnlich tut. Deshalb müssen wir fragen: Was ist Bernes Einstellung gegenüber dem Be-
griff Ganzheitlichkeit, und in welcher Weise ist das Ichzustandsmodell deren Manifestation?
Bereits in seinem ersten Buch, „A Layman´s Guide to Psychiatry and Psychoanalysis“
spricht Berne von den „drei Bereichen des Ich, die drei unterschiedliche Selbste bilden“
(Berne 1971, S. 97). Diese Auffassung steht im Gegensatz zu Ted Noveys These, dass
„die Ichzustände drei Bereiche des Selbst bilden“ (Novey et al. 1993). Bei der Vorstellung,
dass die verschiedenen Ichzustände das Selbst repräsentieren, wird von einem einzigen
Selbst als Ganzheit ausgegangen. Wenn Berne von drei unterschiedlichen Selbsten
spricht, zeigt bereits diese Formulierung, dass er etwas anderes und Ungewisseres meint.
Darauf müssen wir Bernes Behauptung „das Selbst ist das Ich“ beziehen. Nur in diesem
eingeschränkten Sinn benutzt Berne den Begriff „Selbst“. Und in seinem letzten Buch,
„Was sagen Sie ...“ kehrt er zu der Frage, was das Selbst sei, zurück. Wie bereits zitiert,
beantwortet er die Frage mit der Feststellung, dass die Strukturanalyse, also das Ichzu-
standsmodell, „ein Konzept bereit hält, welches jenseits des Reiches vom Selbst ist, näm-
lich die Konstruktion der frei fließenden Besetzungsenergie, in welcher jenes Selbst zu fin-
den ist“ (Berne 1992).
Zwischen diesen beiden Zitaten entwickelte Berne sein Ichzustandsmodell, das er selbst
lieber Strukturanalyse nannte. Das Besondere an dem Modell ist, dass es eine sehr ge-
naue innere Differenzierung der psychischen Instanz „Ich“ und seiner Dynamik ermöglicht.
Damit zeigt es aber „das ICH“ als Konstruktion unserer Wahrnehmung, ähnlich der Wahr-
nehmung des „SELBST“. Was gemeinhin als Ich aufgefasst wird, ist ein ständiger Konflikt
zwischen und innerhalb einzelner Ichanteile, den Ichzuständen, und Versöhnung ist weit
seltener als wir sie uns wünschen. Wenn wir Bernes Modell ernst nehmen wollen, müssen
wir darauf beharren, dass immer drei Kategorien von Ichzuständen gemeint sind, wie Ian
Stewart (1994, S. 26) nachweist. Für Berne ist die Struktur des Ich äußerst komplex: „Jeder
Mensch verfügt über ein begrenztes Repertoire an Ichzuständen, die wiederum in drei ver-
schiedene Arten aufteilbar sind“ (Berne 1994, S. 220; übers. U.M.), wörtlich, die in drei Ty-
pen zerfallen. – Drei Typen von Ichzuständen, die zahlreiche einzelne Ichzustände enthal-
ten.
Paul Federn benutzte als Erster den Ausdruck „Ichzustand“, um seine Beobachtungen bei
psychotischen Patienten zu beschreiben. Auf welche Weise modifizierte der Federn-Schü-
ler Eric Berne den Begriff zum Modell?
Federns Definition lautet: „Das »Ich« ist die dauernde oder sich wiederherstellende psychi-
sche Kontinuität von Körper und Seele in Bezug auf Raum, Zeit und Kausalität“ (Federn
1978, S. 87).
Obwohl Federn von unterschiedlichen Ichgefühlen und verdrängten Ichzuständen spricht,
die jederzeit wieder mit Energie besetzt werden und „ins Bewußtsein zurückkehren“ (S.
170) können, ist das Ichgefühl für ihn doch hauptsächlich Ausdruck der Erfahrung des Ichs
als einer Einheit. Deshalb kann er fortfahren: „Man ist genötigt, anzunehmen, dass das
Gefühl der Icheinheit durch eine, zusammenhängende Ichbesetzung bedingt ist“ (S. 211).
Von Federn ausgehend entwickelt Berne seinen eigenen Standpunkt. Er spricht nicht von
einer „zusammenhängenden Ichbesetzung“, sondern von einem Ichzustand als „einem
zusammenhängenden System von Gefühlen und den dazu gehörigen Verhaltensmustern“
(Berne 1989, S. xvii, übers. U.M.). Er benutzt sogar Federns Bemerkung, „dass das Gefühl

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der Icheinheit durch eine, zusammenhängende Ichbesetzung bedingt ist“, um seiner ande-
ren Sichtweise Gewicht zu verleihen, nämlich dass „der Ichzustand, der hauptsächlich mit
freier Energie besetzt ist, als das Selbst wahrgenommen wird“ (Berne 1989, S. 23). Das
heißt: Für Berne resultiert das Ichgefühl, die Erfahrung von Selbst sein aus dem Ichzu-
stand, der mit freier Energie besetzt ist. Hier ist ein erster Unterschied zu Federn feststell-
bar. Wenn wir verfolgen, wie Berne, ausgehend von Federns ganzheitlichem „Ichgefühl“,
seine spezifische Auffassung von der psychischen Instanz „Ich“ und vom Konstrukt „Selbst“
entwickelte, begreifen wir am Ende das Ichzustandsmodell als Symbol für die Ichzerfallen-
heit als Grunderfahrung der Moderne.
Die folgenden Sätze enthalten Bernes erste Aussagen über das Ich:
„Das Ich ist ein System, das sich selbst betrachten kann“, also das sich Objekt sein kann.
„Das Selbst ist das Ich“ (Berne 1971, S. 97; übers. U.M.).
Bereits in seinen Anfängen beschränkt Berne den Begriff „Selbst“ auf die psychische In-
stanz „Ich“. Und bereits zu dieser Zeit bezeichnet Berne das Ich als ein System, das ein
Bewusstsein von sich hat, wie gesagt, das sich zu sich ins Verhältnis setzen kann. Er
spricht nicht vom Ich als einer Einheit. Schließlich verknüpft er die beiden Äußerungen in
der Feststellung:
„Tatsächlich gibt es drei Bereiche im Ich ... [Sie] bilden drei verschiedene Selbste“ (Berne
1971, S. 97; übers. U.M.).
Das ist die Kernaussage, von der aus Berne sein Ichzustandsmodell entwickelt in Verbin-
dung mit der Frage, was das Selbst sei.
Wenn die einzelnen Ichanteile unterschiedliche Selbste präsentieren, liegt es nahe zu fra-
gen, wie die einzelnen Ichanteile aktiviert werden. Berne will also wissen, wie die psychi-
sche Energie, von Freud „Besetzungsenergie“ genannt, von einem Ichzustand in den ande-
ren wechseln und so unterschiedliche Wahrnehmungen von sich selbst bewirken kann. In
seinem Aufsatz „Ichzustände in der Psychotherapie“ geht Berne bereits davon aus, dass
die Annahme verschiedener Ichzustände eine Veranschaulichung der gleitenden psychi-
schen Energie im Ich ist: „Psychische Energie [kann] von einem Ich-Zustand auf einen an-
deren übertragen oder angezogen werden“ gemäß den „intrapsychischen Faktoren und
externen Beziehungen“ (Berne 1994, S. 166).
Aber wie werden die verschiedenen Ichbefindlichkeiten von der jeweiligen Person wahrge-
nommen? „So lange wie ein Selbst [ein Teil vom Ich] unabhängig von den anderen handelt,
empfindet sich das Individuum als eine Person; aber wenn zwei Ichanteile, Selbste gleich-
zeitig aktiv sind, dann betrachtet das eine das andere und fragt sich, was los ist“ (Berne
1971, S. 97; übers. U.M.). Diese frühe Bemerkung zugrunde legend, erläutert Berne einen
Fall von Waschzwang. In der Vignette führte der Kind-Ichzustand den Waschzwang aus.
Erlebt wurde die Handlung als ichfremd, als das falsche Selbst, wohingegen der Erwach-
senen-Ichzustand als ichsynton, als das wirkliche Selbst empfunden wurde, obwohl er nicht
in der Lage war, das Verhalten zu korrigieren. Bernes Erläuterung dieses Fallbeispiels
zeigt sehr deutlich seine Auffassung des Begriffs „Selbst“. Außerdem lässt sich daran se-
hen, wie er den Begriff „Selbst“ mit seinem differenzierten Modell vom Ich verbindet. Je
nach Art und Stärke der Besetzungsenergie kann ein Ichzustand der handelnde Ichanteil
sein, die Handlung kann beobachtet werden, und er wird dennoch nicht als „wirkliches
Selbst“ erfahren. Gleichzeitig wird ein anderer Ichzustand als „wirkliches Selbst“ empfun-
den, obwohl er keinerlei beobachtbare Reaktion zeigt. Zwei unterschiedliche Ichzustände
können auf eine Weise mit Energie besetzt sein, dass das Individuum beide wahrnimmt

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und einen als ichdyston (ichfremd) und den anderen als ichsynton, als wirkliches Selbst
erlebt: „Ob [Mrs. T.] in einem bestimmten Moment ihn [den Waschzwang] als ichdyston
oder -synton erlebte, hing davon ab, was in diesem Augenblick ihr ,wirkliches Selbst’ war“
(Berne 1989, S. 23). Das beschriebene Fallbeispiel zeigt, dass die Erfahrung „meines wirk-
lichen Selbst“ von der Energieverteilung innerhalb des Ich abhängt. Sowohl die Erfahrung
eines ichfremden Verhaltens als auch die Wahrnehmung eines einzelnen Ichzustandes als
„wirkliches Selbst“ stehen im Widerspruch zu der ganzheitlichen Auffassung vom „Selbst“.
Darüber hinaus weisen beide Erfahrungen auf die Komplexität und Vielfalt des psychischen
Apparats „Ich“ hin, statt seine Ganzheitlichkeit zu beweisen. Wenn die freie und ungebun-
dene Energie gleichermaßen einen Ichzustand besetzen, ist die Wahrnehmung meines
„wirklichen Selbst“ scheinbar eindeutig. Jedoch sind die anderen Ichzustände immer
gleichzeitig vorhanden und können jederzeit mit Energie besetzt werden, was gleichbe-
deutend ist mit der Veränderung der Wahrnehmung vom „Selbst“.
Es gibt also nicht das Selbst, sondern unterschiedliche Ichzustände werden als solches
wahrgenommen, je nachdem, wie die Energie von einem Ichzustand in den anderen wech-
selt. Zur Erinnerung: Berne sagt, dass „derjenige Ichzustand, in dem freie Energie über-
wiegt, als das Selbst wahrgenommen wird; oder, wie Federn es beschreibt: ,Die Energie
selbst wird als Ichgefühl wahrgenommen,’“ (Berne 1989, S. 23). Die einzelnen Ichzustände
und ihre jeweilige Energiebesetzung sind für Berne der Kern aller Erfahrung des „Selbst“.
Wenn wir uns wieder Paul Federn zuwenden, wird die grundlegende Differenz unmittelbar
deutlich:
Federn spricht davon, dass „das Ichgefühl ... die Sensation [ist], die man jederzeit von sei-
ner eigenen Person hat, das Eigengefühl des Ichs von sich selbst ... Das Ichgefühl ist also
das Gesamtgefühl der eigenen lebendigen Person“ (Federn 1978, S. 59 f). Das „Ichgefühl“,
das „Körper und Psyche“ miteinschließt, ist für Federn die Grunderfahrung des Seins. Ein
mit Energie besetzter Ichzustand, der als „wirkliches Selbst“ erfahren wird, ist eine völlig
andere psychische Realisation. Diese nimmt den Teil für das scheinbar Ganze. Bernes
präzise Analyse der Ichstruktur enthüllt die Annahme „der vereinigenden Erfahrung, ein
konsistentes Selbst wahrzunehmen“ (Massey 1990, S. 177; übers. U.M.), als eine Illusion,
die von dem gegenwärtig besetzten Ichzustand genährt wird. Oder, um mit Lacan zu spre-
chen: „Wir müssen jeder Formulierung mißtrauen, die innerhalb des Individuums zur Tota-
lität zurückführt“ (Lacan 1991, S. 135). Wir nehmen also den gegenwärtig mit Energie be-
setzten Ichzustand als unser „wirkliches Selbst“ wahr; dieser erzeugt das Ichgefühl. Inso-
fern enthüllt die Strukturanalyse das Selbstgefühl in einem ganzheitlichen Sinn als eine
subjektive Erfahrung. Indem Berne die Skripttheorie mit der Strukturanalyse verbindet, ver-
deutlicht er seine Überzeugung: „Ohne die Theorie von den einzelnen Ichzuständen ...
kann es zwar eine endlose Zahl von entsprechenden Feststellungen und Beobachtungen
geben, aber es kann keine Skripttheorie existieren. Um diesen Namen wirklich zu verdie-
nen, muss jede Theorie in jeder wissenschaftlichen Disziplin auf bestimmten Strukturele-
menten beruhen, denn ohne sie fällt sie wie ein Kartenhaus in sich zusammen“ (Berne
1992, S. 454). Dieser Satz impliziert ein Argument gegen die Möglichkeit einer theoreti-
schen Annäherung an den Begriff „Selbst“. Man kann nämlich beschreibend und beob-
achtend vorgehen, aber ohne Strukturelemente kann der Begriff nicht theoretisch gefasst
werden. Er bleibt eine bloße Annahme.
Nun gibt es in der Tat einen Satz, wo Berne das Selbst jenseits vom Skript vermutet:
„Wenn Menschen anfangen, sich gut zu kennen, dringen sie durch das Skript in die Tiefen,

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wo dieses wirkliche Selbst residiert“ (Berne 1996, S. 276; übers. U.M.; dt. Ausgabe hier
fehlerhaft). Berne beschreibt das Selbst hier wie eine konstante Eigenschaft des Men-
schen, die während echter Nähe zum Tragen kommt. Aber lässt sich nicht auch hier das
Strukturmodell anwenden? Dann befähigt uns der nicht beeinflusste frühe Kind-Ichzustand
zu echter Nähe. Also ist nicht einmal dieser Satz ein Widerspruch.

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2. Das Ichzustandsmodell als Metapher für die Ichzerfallenheit


des modernen Menschen; das ist: Berne‘s Menschenbild

Was für Schlussfolgerungen können aus Bernes Sichtweise des Ich als „Ichzustände“ ge-
zogen werden? Berne spricht von den Ichzuständen als „phänomenologisch wirklich“ und
meint damit, sich wahrzunehmen in der momentanen transitorischen Ichbefindlichkeit, die
gerade mit Energie besetzt ist und als „Ichgefühl“ erlebt wird. Icherfahrung als Teilerfah-
rung. Insofern kann das Ichzustandsmodell Metapher für die Moderneerfahrung des Sub-
jekts sein. Die Ichzustände sind phänomenologisch wirklich als subjektive Erfahrung des
Einzelnen, und sie haben eine metaphorische Qualität als ein Modell, das die Erfahrung
des Einzelnen als modernes Subjekt repräsentiert (Clarkson 1993; Loria 1990). Sich zu
erfahren als handelndes, denkendes, fühlendes Ich, hängt immer von zwei unmittelbaren
Ursachen ab: einmal von den Stimuli aus der äußeren Welt und zum anderen von dem
psychischen Zustand, der durch den erhaltenen Impuls stimuliert wird. In Bernes Begriff-
lichkeit heißt das: Ein bestimmter Ichzustand wird durch einen äußeren Stimulus aktiviert,
mit Energie besetzt. So gesehen bedeutet der Begriff „ego – state“ die momentane, transi-
torische psychische Befindlichkeit, die aufgrund der äußeren Stimuli aktiviert worden ist.
Dies „rechtfertigt die Annahme, dass jeder Ichzustand, jede Ichbefindlichkeit, in gewisser
Weise eine Einheit darstellt, die vom Rest der psychischen Inhalte unterschieden ist und
andere Ichbefindlichkeiten einschließt, die viele Jahre oder wenige Minuten zuvor da waren
oder zugleich aktiv sind“ (Berne 1989, S. 22; übers. U.M.), wie Berne diese Icherfahrung
erläutert. Wann immer wir von uns als „Ich“ sprechen, können wir uns nur beziehen auf
diese momentane Erfahrung eines besonders mit Energie besetzten psychischen Zustan-
des, einer Ichbefindlichkeit.
Konsequent weitergedacht heißt das, dass wir in jedem Augenblick unseres Lebens unser
„Selbst“, unsere Wahrnehmung von uns als „Ich“ neu konstruieren, als Reaktion auf äußere
Stimuli, besonders in der Beziehung zu anderen Menschen, die bestimmte Ichbefindlich-
keiten innerhalb unserer psychischen Struktur aktivieren und umgekehrt.
Folglich müssen wir dann die Vorstellung „Ich“ akzeptieren als ein Ergebnis sozialer Inter-
dependenz.
Wenn wir das Ichzustandsmodell auf diese Weise verstehen, wird seine Nähe zu Lacan
deutlich: „Für Lacan konstituiert sich das Subjekt ... durch die vorsprachliche Fixierung an
das eigene Spiegelbild, die das Ich zu einer imaginären Instanz der Täuschung macht ...
Nicht mehr Ichstärke (wie bei Freud) ist dann das Ziel der Psychoanalyse, sondern die Ein-
sicht, dass das eigene Ich nichts anderes ist als das Resultat einer imaginären Spiegelung
in ursprünglichen Bezugspersonen. Die Arbeit am Ich wird als eine negative aufgefasst, als
Abbau von Selbsttäuschungen ... [Daraus resultiert] die Bereitschaft zur Preisgabe des Ich
..., aus der das Subjekt [jedoch] nicht geschwächt, sondern gestärkt hervorgeht“ (Bürger
1998, S. 11). Oder, wie es der Psychoanalytiker Jürgen Hardt formuliert: „Der Kern [das
Ich], auf den man meinte, sich verlassen zu können, erwies sich als vielgestaltig“ (Hardt
1996, S. 6 f).
Nicht zu wissen, wer ich bin, noch wer Ich ist, ist die zentrale Erfahrung der Moderne, die
seit 200 Jahren das Denken der Philosophen beschäftigt. Bei Nietzsche lesen wir: „Die
Annahme des Einen Subjekts ist vielleicht nicht notwendig; vielleicht ist es ebensogut er-
laubt, eine Vielheit von Subjekten anzunehmen, deren Zusammenspiel und Kampf unse-

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rem Denken und überhaupt unserem Bewußtsein zu Grunde liegt ... Meine Hypothesen:
das Subjekt als Vielheit“ (Nietzsche, zit. in Bohrer 1983, S. 140). Erkennen zu müssen,
dass sowohl das Primat der Vernunft als auch das autonome, also selbstbestimmte Indivi-
duum eine Illusion ist, ist eine der größten Kränkungen für den Menschen in unserem
Jahrhundert. Und dieser Erkenntnis trägt Berne mit seinem Ichzustandsmodell Rechnung.
Es gibt nicht „das Ich“, sondern zahlreiche Ichzustände oder Ichbefindlichkeiten, wie der
Begriff „state“ auch zu übersetzen ist. Diese je anderen Ichbefindlichkeiten werden als
„wirkliches Selbst“ wahrgenommen, als „das bin ich“, je nachdem, welcher Ichzustand mit
Energie besetzt ist, was wiederum davon abhängt, welche Stimuli von außen empfangen
werden.
Wenn wir das Ichzustandsmodell auf diese Weise verstehen, steht es für eine moderne
Vorstellung vom Subjekt, das „zwischen Ich-Diffusion und Ich-Identität“ wechselt, wie es
Peter Bürger beschreibt. Er fährt fort: „Das zentrierte, handlungsfähige Ich ist das Resultat
eines dauernden Selbstzwangs und Bedingung für ein Minimum an Selbstbestimmung.
Und das vom Begehren gelenkte, diffundierende Wunsch-Ich ist zugleich Quelle des Le-
bendigen und Gegenstand der Angst“ (Bürger 1998, S. 233ff). Hier ist ebenfalls, nur mit
anderen Worten, vom Wechsel zwischen verschiedenen Ichbefindlichkeiten die Rede. So
wird Bernes Modell der Ichzustände zum Ausdruck für die Moderneerfahrung des Men-
schen, ständig zwischen extremen Befindlichkeiten zu wechseln. „Damit erweist sich der
erhoffte Halt als unverfügbar. So bleibt das aus allen Bindungen entlassene Ich seinen ei-
genen Befindlichkeiten ausgeliefert, als gehörten sie nicht zu ihm“ (Bürger 1998, S. 118).
Hier finden wir auch einen Hinweis darauf, wie wir Bernes Vorstellung von Autonomie und
integrierter Persönlichkeit verstehen können. Es handelt sich um die Wunschvorstellung
eines angstfreien, befriedeten Ich; und nicht umsonst bezeichnet Berne seinen entspre-
chenden Entwurf als idealtypisch. Es bleibt ein Wunsch.
In dieser Denktradition ist Berne mit seinem Ichzustandsmodell zu orten. Wenn Transakti-
onsanalytiker das Ichzustandsmodell ausschließlich als Pathologiemodell verstehen, geht
die eben entwickelte Dimension verloren. Dann bleibt in der Tat nur das therapeutische
Ziel, die verstreuten Anteile des Ichs zu integrieren, ganz zu machen und dadurch zu hei-
len.
Wenn wir das Ichzustandsmodell jedoch auch als Metapher für die Moderneerfahrung des
verlorenen Subjekts nehmen, können wir differenzierter damit umgehen. Dann können wir
es verstehen als eine metaphorische Antwort auf die Identitätskrise, die zum ersten Mal
bereits in der Romantik erfahren wurde und die die unmittelbare Reaktion auf das souve-
räne Vernunftsubjekt der Aufklärung war.
Weiter oben erwähnte ich, dass die Identitätskrise eine der größten Kränkungen für den
Menschen der Moderne war. Letztlich ist es die Kränkung des Menschen, seine Grandio-
sität als Vernunft- souverän über die Welt verloren zu haben, und damit auch die Hoffnung
auf Sinn und Ordnung innerhalb der Welt.
Kränkung meint aber nicht Krankheit. Dies zu sehen, verändert den Blick auf das Ichzu-
standsmodell. Dann geht es nicht mehr um Heilung; dann geht es darum, mit der entstan-
denen Kränkung auf angemessene Weise umgehen zu lernen.
Auf so existentielle Weise gekränkt zu sein, kann auch als Herausforderung verstanden
werden. Als Herausforderung insofern, die Theorien vom Selbst und der Ganzheitlichkeit
als Phantasma der Grandiosität zu durchschauen und dennoch nicht zu resignieren; er-
wachsen damit umzugehen und sie als Chance für Wachstum zu begreifen.

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Wie könnte das gemeint sein?


Statt ein „pathologisches“ Ich heilen zu wollen, könnte das Ziel die Versöhnung des Sub-
jekts mit der Erkenntnis sein, dass es verschiedene Ichbefindlichkeiten gibt, von denen
jede zeitweise als wirkliches Selbst empfunden wird, dass es aber kein ganzheitliches Ich
oder Selbst gibt. Im Gegenteil. Dass der Konflikt zwischen den verschiedenen Ichanteilen
bestehen bleiben wird und dass das „Ich [eben] nicht Herr im eigenen Haus ist“ (Freud).
Statt zurückzugreifen auf „die Substitute und Surrogate, die auf dem Jahrmarkt der Eitel-
keiten anstelle eines umfassenden symbolischen Weltbildes angeboten werden“ (Lange
1983, S. 121), müssen Transaktionsanalytiker zur Selbstaufklärung in der Lage sein und
ihren Klienten die Erlaubnis geben und den nötigen Schutz zur Verfügung stellen können,
die diese brauchen, um sich mit der narzisstischen Wunde auseinander setzen zu können,
die die Erkenntnis, nicht ganzheitlich zu sein, bedeutet. Das Ziel der therapeutischen Ar-
beit, besser des analytischen Aufklärungsprozesses darf nicht die Wiederherstellung des
souveränen Ichs sein; „er stünde damit ja nur im Dienste eines anderen Phantasmas“
(Rutschky 1983, S. 225).
Was könnte dann das Ziel des analytischen Prozesses, wozu sich am Ende alle therapeu-
tische Arbeit verstehen muss, sein?
Einige mögliche Antworten könnten sein:
Als Erstes müssen sich Therapeut und Klient der Kränkung, der narzisstischen Wunde be-
wusst werden.
Zweitens müssen sie akzeptieren, dass der Wunsch, ganz und heil zu werden, eine Illusion
bleibt, obwohl der Wunsch selbst völlig legitim ist. Schon Nietzsche wusste: „Um leben zu
können, bedarf es einer herrlichen Illusion“ (Nietzsche 1998, S. 155). Im Anschluss bezieht
sich Nietzsche auf Schopenhauers Satz, dass der Mensch von Grauen erfasst wird, wenn
er anfängt, an dem zu zweifeln, was er bislang für die Erscheinung der Wirklichkeit hielt, für
die scheinbar objektive Welt. Denn dann würde er den tatsächlichen Zustand der Welt
wahrnehmen, „den schrecklichen Teil des Lebens“. Nur das nicht aufgeklärte Individuum
weiß nichts von der „Welt, voll Leiden überall“ (Schopenhauer 1996, S. 482).
Erklärtermaßen ist Autonomie das Therapieziel transaktionsanalytischer Arbeit. Wenn Au-
tonomie nicht mehr in dem oben erwähnten grandiosen Sinne verstanden werden kann,
mag es erlaubt sein, Autonomie als ein anderes Wort für Aufklärung und Erkenntnis auf-
zufassen. Das bedeutet drittens, dass die therapeutische Arbeit Aufklärungsarbeit sein
muss, die die Sehnsucht von Klient und Therapeut nach Ganzheitlichkeit, Heilung und
kosmischer Ordnung als Illusion erkennt. Gleichzeitig muss die therapeutische Arbeit diese
Illusion als legitime, wenn nicht lebensnotwendige würdigen. Und sie muss hinnehmen,
dass es keine Antwort gibt auf die Frage, warum diese Illusion und Sehnsucht zu den Be-
dürfnissen des Menschen gehört. Der Begriff „Selbst“ ist dann zu verstehen als eine Meta-
pher für diese Sehnsucht; während das Ichzustandsmodell eine Metapher ist für die Er-
kenntnis, nicht ganzheitlich zu sein, sondern sich nur in transitorischen Ichzuständen erle-
ben zu können.
Diese Diskrepanz, diesen Widerspruch auszuhalten, wäre dann die eigentliche Autonomie.

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3. Die Zumutung des Ichzustandsmodells für die heutigen


Transaktionsanalytiker

„Die Moderne hat das Subjekt hervorgebracht als ein sich doppelt auf sich selbst bezie-
hendes Wesen, nämlich als Grund aller möglichen Erkenntnis und als Angst vor der Haltlo-
sigkeit dieses sich selbst setzenden Grundes. Mit diesem Wesen, das immer zugleich
grandios und hilflos ist, muß der einzelne leben“ (Bürger 1998, S. 95). Diese Beschreibung
des modernen Menschen kann helfen, die psychische Situation von Psychotherapeuten zu
verstehen. Zu wissen, dass es jenseits des Subjekts keinen Ursprung gibt, verursacht
Angst. Deshalb nehmen viele Psychotherapeuten lieber die Erscheinung für das Wahre
und die Illusion für die Wirklichkeit. Die Angst ihrer Klienten zwingt sie, mit ihrer eigenen
Angst in Berührung zu kommen. Eine Form der Abwehr ist es, nicht die Angst zu leugnen,
sondern den Grund für die Angst. Statt die Erfahrung von Unsicherheit und das Bewusst-
sein eines facettenreichen Ichs auszuhalten, womit die Therapeuten ihren Klienten helfen
würden, mit ihren Ängsten auf erwachsene Weise umzugehen, führen sie den Ursprung
jenseits des Subjekts wieder ein, mit anderen Worten, sie bieten Formen von Sinnstiftung.
Eine solche Sinnstiftung ist der Glaube an die Ganzheitlichkeit, daran, ein Selbst zu sein, ja
vom „spirituellen Selbst“ zu sprechen.
Der analytische Prozess schließt den Aufklärungsprozess mit ein, auch die Aufklärung über
das Bedürfnis nach Sinn. Das setzt jedoch voraus, dass Therapeuten bereit sind, an ihrer
Selbstaufklärung zu arbeiten. Angst und Leiden gehören zusammen. Möglicherweise ist es
für manch einen Therapeuten leichter, Heilung bis hin zu Heiligung anzubieten, anstatt
Angst und Leiden als Grundbefindlichkeit allen Lebens anzuerkennen. Wenn ihnen dies
gelänge, könnten sie sich Freuds Satz zu eigen machen, „dass viel damit gewonnen ist, ...
hysterisches Elend in gemeines Unglück zu verwandeln“ (Freud 1969, S. 312).

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Schlussbemerkung

Die Schlussfolgerung scheint erlaubt, dass Bernes Menschenbild weit mehr in die Moderne
eingebettet ist als es der eingeschränkte Blick eines medizinischen Verständnisses von
Psychotherapie zugeben mag.
So wird das Ichzustandsmodell zu einer Metapher für den modernen Menschen, der um
sein zerfallenes Ich weiß, um den transitorischen Charakter aller Ichgefühle und der aufge-
klärt genug ist zu wissen, dass seine Bedürfnisse nach Heilung und Ganzheit nicht erfüllt
werden können.
So verstanden, erhalten die Begriffe Selbst, integriertes Ich, Autonomie eine neue Bedeu-
tung:
Sich dessen bewusst zu sein und es auszuhalten!

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