arbeitsmarkt
jeder Bürger, vom Säugling bis zum Greis,
 ANDERS ARBEITEN
Bedingungsloses
Grundeinkommen
Ein Bürgergeld ohne Gegenleistung sei sinnvoll, finanzierbar
und die Lösung aller sozialstaatlichen Probleme, so die Be-
fürworter. Kritiker sprechen von Sozialutopie und Heilslehre.
Von der Kontroverse profitiert die Diskussion über die Zu-
kunft der Arbeit. | Andreas Pallenberg
H
artz IV steht mal wieder auf dem
Prüfstand. Kurz nachdem Sozial-
ministerin Ursula von der Leyen
den Begriff zumindest buchstäblich ger-
ne abgeschafft hätte, ist er wieder in aller
Munde und dürfte sich auch weiterhin
als Markenzeichen für die umfassendste
und gleichzeitig umstrittenste Sozialre-
form in der Geschichte der Bundesrepu-
blik Deutschland festigen. Denn gerade
erst haben unsere Verfassungsrichter
den Urhebern dieses mit der heißen
Nadel gestrickten Sozialgesetzes eine
Ohrfeige erteilt. Nicht nachvollziehbar
seien die Grundsicherungsbeträge für
Kinder und Jugendliche, sie seien will-
kürlich festgesetzt und entbehrten jeder
realen Grundlage. Also nachbessern!
IV
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Und wie reagieren die Parteien und In-
teressensverbände? So wie immer: Alle
fühlen sich bestätigt. Die einen freuen
sich über möglicherweise steigende
Zuwendungen, die anderen wollen diese
sogar eher noch senken. Das Gewursch-
tel um „fördern und fordern“ wird also
weiter gehen, und es wird mal wieder
nur kleine Veränderungen geben. Für
eine wirklich große Sozialreform fehlt
nach wie vor der Mut, obwohl quer durch
alle politischen Strömungen ein gar nicht
so neues Sozialstaatsmodell immer hef-
tiger diskutiert wird: Das bedingungslose
Grundeinkommen.
Unter diesem Stichwort gibt es viele
Modelle, die sich in Details zwar unter-
scheiden, allen gemeinsam ist aber, dass
arbeitsmarkt BILDUNG | KULTUR | SOZIALWESEN_08|2010
lebenslänglich einen im Einzelnen fest-
zulegenden Grundbetrag zur Sicherung
des Lebensunterhalts bezieht, und zwar
ohne Wenn und Aber, ohne Auflagen,
ohne Kontrolle und ohne Bürokratie.
Geld ohne Arbeit?
Die meisten, denen man diese Kurzfor-
mel als geniale und einfache Rettung
unseres Sozialstaats unterbreitet, lächeln
milde, weil sie sich an Sponti-Sprüche
und Sozialutopien aus revolutionären
Zeiten erinnert fühlen: „Geld ohne Arbeit
– schön wär‘s, aber wo gibt‘s denn so
was?“ Die verblüffende Antwort lautet:
Bei uns, und zwar schon lange. „Ohne
Arbeit“ sind bekanntlich recht viele, und
dass sie trotzdem Geld bekommen, dürf-
te ebenfalls geläufig sein. Nur wird dieser
Zustand einer anhaltenden und tolerier-
ten Arbeitslosigkeit von drei bis fünf Milli-
onen Mitbürgern als Makel empfunden
und entsprechend kommuniziert. Vollbe-
schäftigung oder zumindest eine weitge-
hende Verringerung der Arbeitslosigkeit
ist nämlich nach wie vor oberstes Ziel der
Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik.
Dabei wird die eigentliche Utopie,
nämlich die Vollbeschäftigung bei stetig
wachsender Wirtschaft, längst als solche
erkannt, selbst wenn Regierungschefs
und -chefinnen unbekümmert weiter
Wachstum als Allheilmittel predigen.
Alle Wirtschaftswissenschaftler sind
sich einig, dass es – ob mit oder ohne
Wachstum – in differenzierten und
hochtechnisierten Volkswirtschaften
immer weniger Arbeit gibt (vgl. Michael
Opielka: „Grundeinkommen als Sozialre-
form“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte
(APuZ) 52/2007). Die Produktivität
ist nicht zuletzt durch Arbeitsver-
dichtung, Automatisierung, Digita-
lisierung und Rationalisierung derart
gestiegen, dass es insgesamt immer
weniger Tätigkeiten gibt, die von Men-
schen geleistet werden müssen. Das
erleben Arbeitsuchende seit Jahren und
inzwischen auch die zunehmend ver-
 arbeitsmarkt

zweifelten Arbeitsvermittler in den Agen-
turen. Sie haben für die große Masse der
Arbeitslosen (Opielka spricht von einem
Arbeitsplatzdefizit von sieben Millionen)
keine Arbeit mehr. Sehr spezialisierte
Fachkräfte werden dagegen weiterhin
gesucht; aber es lässt sich eben nicht
aus jedem Gabelstaplerfahrer ein Inge-
nieur und nicht aus jedem Doktor der
Philosophie ein Informatiker basteln.
Was bleibt, ist eine unzufriedene Mas-
se an Arbeitslosen, die sich mit ihrem
Schicksal abfindet oder sich von einer
Fortbildungsmaßnahme bis zur nächsten
neue Hoffnungen machen lässt.
Erwerbsarbeit
als Lebenszweck
Hinzu kommt die große Unzufriedenheit,
die Stigmatisierung als Arbeitsloser in ei-
ner Gesellschaft zu leben, die Arbeit zum
Lebenszweck erkoren hat. Wer keine Ar-
beit hat, gilt als Problem, als Sozialfall
und ist „draußen“. Obwohl er es objektiv
eigentlich gut hat. Er hat nämlich Zeit,
sich um gute und wichtige, sinnvolle und
notwendige Dinge zu kümmern. Aber
nein, so will die Sache nicht gesehen
werden, denn ohne Erwerbsarbeit darf
man bei uns nicht glücklich sein.
Gerne werden zur Zeit in Talkshows
Kandidaten vorgeführt, die sich als über-
zeugte Faulpelze outen („Warum soll ich
arbeiten, mir geht es doch gut“) und mit
ihrer naiven Ehrlichkeit die Seele des
Fernsehvolkes zum Kochen bringen. Und
die Reflexe gegenüber diesen „Lebens-
künstlern“, die allen Transfergeldbezie-
hern einen Bärendienst erweisen, lauten
stets: runter mit den Fördersätzen, rauf
mit den Sanktionen. Und der aus solchen
– zugegeben kurzweiligen – Anekdoten
abgeleitete generelle Faulheitsvorwurf
gegenüber Arbeitslosen bzw. Hartz IV-
Beziehern festigt sich ein weiteres Mal.
Bewilligungsbürokratie
Und den Behörden, die sich um die ge-
rechte Verteilung der Transferleistungen
kümmern sollen, bleibt nichts anderes
als zu fordern, weil es meistens nichts
mehr zu fördern gibt. Auf jeden Fall, so
die weit verbreitete Haltung und die be-
stehende Gesetzeslage, hat sich ein
Leistungsbezieher anzustrengen, wieder
in Arbeit zu kommen. Das kann zu absur-
den Aktionismen gegenüber dem kon-
trollierenden Amt führen, das selbst in
ausweglosen Vermittlungssituationen
verlangt, dass sich der Arbeitslose be-
wirbt, allein um seine Mitwirkung unter
Beweis zu stellen. Unternimmt derselbe
Arbeitslose sinnvolle Dinge wie die Be-
treuung von Angehörigen, Mitwirkung in
ehrenamtlichen Organisationen oder ar-
beitet er unentgeltlich oder gar schwarz,
dann ist das ein Fehlverhalten, das mit
Reduktion der Sozialleistungen oder so-
gar mit Strafen geahndet wird.
Will ein Hartz-IV Bezieher etwas hin-
zuverdienen, sagt ihm eine kurze Über-
schlagsrechnung sehr schnell, dass sich
dies nicht lohnt. Bis auf kleine Freibeträ-
ge wird alles verrechnet. Es lohnt sich für
Arbeitslose kaum, auf legalem Weg klei-
ne und kurzfristige Arbeitsgelegenheiten
anzunehmen. Solcherlei Bürokratisierung
und Schikanierung kann jede Eigeninitia-
tive ersticken und dazu führen, dass sich
Arbeitslose mehr oder weniger geschickt
in ihrer Arbeitslosigkeit einrichten und
– das Beste daraus machen.
Die Zukunft der Arbeit
Dabei könnten sie viel mehr aus dieser
Situation machen, sofern man sie unbe-
helligt machen ließe. Befürworter eines
bedingungslosen Grundeinkommens
sehen die vielen Aufgaben, die in unserer
Gesellschaft geleistet werden müssen,
aber nicht über Lohnarbeit auf dem Ar-
beitsmarkt geregelt werden. Es könnte
einen Boom von Ehrenamtlichkeit und
Arbeit jenseits der Erwerbsarbeit geben,
der das ganze Land verändern könnte.
Wie jeder tagtäglich erlebt, gibt es genü-
gend Arbeit in der sozialen Betreuung, im
Umweltschutz, in der Erziehung, in der
Kultur, in der Gestaltung und Mitverant-
wortung des Wohnumfeldes usw., die
geleistet werden will und geleistet wer-
den könnte, wenn man dies zuließe.
Und genau diese Möglichkeit ergäbe
sich, wenn Menschen sanktionslos und
bedingungslos über ein Grundeinkom-
men verfügen könnten, sich also nicht
um den materiellen Grundbedarf küm-
mern müssten. Sie könnten ohne An-
rechnung hinzuverdienen, könnten sich
sinnvollen Aufgaben widmen und ihren
Teil beitragen zur Gemeinschaft nach
ihren Fähigkeiten, Kräften und Vorlieben.
Es gibt ja genug Arbeit, nur eben nicht
hinreichend Erwerbsarbeit. Wer dagegen
für den Arbeitsmarkt passend qualifiziert
ist, der nimmt auch dann noch gerne
einen Job an, bei dem er zum Grundein-
kommen deutlich hinzuverdienen kann,
denn ein Grundeinkommen lässt keine
großen Sprünge zu. Somit würde es sich
auch in diesem Modell lohnen zu arbei-
ten. Und wer kreativ ist und mit einer
guten Idee sein Geschäft machen will,
der wird es ebenfalls „unternehmen“,
da der Anreiz, mehr zu verdienen mit
dem Grundeinkommen ja keineswegs
versiegt. Im Gegenteil: Viel eher wäre ein
motivierter Mensch bereit, die Selbst-
ständigkeit zu wagen, wenn er im Fall des
Scheiterns immer weich fiele, weil eine
soziale Notlage über das Grundeinkom-
men zuverlässig verhindert würde.
Motivation
Natürlich könnte es auch ein Motivati-
onsproblem geben. Die Gegner des be-
dingungslosen Grundeinkommens se-
hen in der „Zahlung für Nichts“ auch eine
„Faulpelzprämie“, die von Leistungsver-
weigerern zwar gerne genommen wird,
denen aber nicht der Sinn nach eigenver-
antwortlichen Beiträgen zur Gemein-
schaft stehe. Aber warum sollte, so Mar-
tin Reichert schon 2006 in der taz, „dies
in höherem Maße der Fall sein als unter
den Bedingungen des bisherigen Sys-
tems? Und warum sollte ein faires Ange-
bot nicht im Gegenzug faire Reaktionen
hervorbringen?“ (taz 27.09.2006)

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 arbeitsmarkt
Klassische Mahnung vor dem Müßiggang – P. Breughels (d.Ä.) Schlaraffenland (1566)
Finanzierbarkeit
Die heftigste Gegnerschaft kommt aus
den Reihen der Finanzexperten. Die
Hauptfrage an alle, die Wohltaten für das
Volk verkünden, lautet ja stets: Und wie
finanziert man das? Im Gegensatz zu de-
nen, die derzeit Steuersenkungen ver-
sprechen und die damit verbundene
Verschuldung mal wieder mit dem zu-
künftigen Wachstum verrechnen wollen,
machen die Befürworter des bedin-
gungslosen Grundeinkommens eine kla-
re Rechnung auf: Die Bundesrepublik
Deutschland gibt schon jetzt für jeden
seiner insgesamt 82,5 Mio Bürger im
Durchschnitt 8.400 Euro pro Jahr aus,
und zwar in Form von sozialen Leistun-
gen wie Arbeitslosengeld, Wohngeld,
Kindergeld, Rente etc., pro Monat also
exakt 700 Euro. Je nach Ausgestaltung
bzw. Höhe eines bedingungslosen
Grundeinkommens würden sich die ho-
hen Kosten dafür in ähnlicher Größenord-
nung allein schon durch den Wegfall die-
ser Einzelleistungen aufbringen lassen.
Von den Gegnern des Grundeinkom-
mens wird solche Arithmetik gern als
Milchmädchenrechnung bezeichnet, da
die Veränderungen, insbesondere auf der
fiskalischen Seite, deutlich differenzierter
betrachtet werden müssten. Und das tat
z.B. das Hamburgische Weltwirtschaftsin-
stitut (HWWI). Ingrid Hohenleitner und
Thomas Straubhaar vom HWWI kommen
VI
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auch nach differenzierten Berechnungen
verschiedener Szenarien in ihrer 2007
veröffentlichten Studie zu der Auffas-
sung, dass das Grundeinkommen grund-
sätzlich finanzierbar sei.
Die vehementesten Vertreter des
bedingungslosen Grundeinkommens
kommen aber keineswegs aus dem lin-
ken Spektrum, aus Sponti-Kreisen oder
aus kreativen Kulturszenen. Es sind eher
biedere Geschäftsleute und konservati-
ve Politiker, die sich für die Umwandlung
unseres Sozialstaates stark machen.
Götz-Werner-Modell
Allen voran Drogerie-Magnat Götz Wer-
ner, der mit seiner Botschaft „Einkommen
für alle“ (Buchtitel) jedem Bürger bis zu
1.500 Euro im Monat zahlen will, lebens-
lang und ohne Einschränkungen. Der
überaus erfolgreiche und in der Beleg-
schaft sehr angesehene „Zahnpastamilli-
onär“ analysiert in seiner „Bibel“ sehr
scharf unser derzeitiges Wirtschaftssys-
tem und fordert ein radikales Umdenken.
Für ihn ist der Rückgang der Erwerbsar-
beit kein Problem, sondern eher ein Se-
gen, der durch fortschreitende Automati-
sierung und Rationalisierung erst ermög-
licht wurde. Paradiesische Zustände
könnte man haben, wenn man von dem
Gedanken an die Vollbeschäftigung, dem
„heiligen Gral der Wirtschaftspolitik“, end-
lich abließe. Die daraus resultierende Ar-
beitsmarktpolitik mit dem absurden
arbeitsmarkt BILDUNG | KULTUR | SOZIALWESEN_08|2010
Hartz-IV Programm geißelt er als „offenen
Strafvollzug“. Er fordert angesichts der
Tatsache, dass ohnehin nur noch ein Drit-
tel der erwerbsfähigen Bevölkerung die
ganze Last der Sozialsysteme trage, eine
Entkoppelung von Arbeit und sozialer
Absicherung.
Althausmodell
Dieter Althaus, ehemaliger Thüringer Mi-
nisterpräsident, schlug ein „Solidarisches
Bürgergeld“ vor. Ausgehend von der Tat-
sache, dass das bestehende Sozialsys-
tem von den meisten Bürgerinnen und
Bürgern als zunehmend ungerecht emp-
funden wird, würde ein bedingungsloses
Grundeinkommen viele Probleme des
Sozialstaates lösen. Danach würde jeder
Erwachsene ein Grundeinkommen von
800 Euro im Monat bekommen. Dieses
sinkt mit wachsenden eigenen Einkünf-
ten. Die Finanzierung erfolgt über die
Abschaffung aller anderen Sozialleistun-
gen. Ein Krankenversicherungsbeitrag in
Höhe von 200 Euro würde abgezogen,
und die Steuer auf Einkommen oberhalb
des Bürgergeldes würde 50 % betragen.
Für Kinder bis zum 18. Lebensjahr gäbe
es 500 Euro. Unter Berücksichtigung,
dass über dieses Modell die Arbeit brutto
billiger würde wegen des Wegfalls der
Sozialversicherungsbeiträge, würden
über eine Million Vollzeitarbeitplätze ent-
stehen. Allerdings wären diese in erster
Linie im Niedriglohnsektor angesiedelt
und würden einen Mindestlohn überflüs-
sig machen, so Althaus 2008 in der FAZ
(26.04 2008).
HWWI-Modell
Das Hamburgische Weltwirtschaftsinsti-
tut entwickelte daraus sein eigenes Mo-
dell. Danach bezöge jeder Bundesbürger
ein bedingungsloses Grundeinkommen
in Höhe eines „soziokulturellen Existenz-
minimums“ (in manchen Quellen, z.B.
IWD 6/2007, ist von 625 Euro/Monat die
Rede). Dafür würden alle anderen Sozial-
leistungen wie Arbeitslosengeld, Kinder-

geld und Rente abgeschafft. Zur Finan-
zierbarkeit hat das Institut umfangreiche
Studien und Berechnungen unternom-
men und kommt zu dem Fazit: „Das
Grundeinkommen ist finanzierbar“ (Aus
Politik und Zeitgeschichte 52/07).
Die Grünen
Das Modell des bedingungslosen Grund-
einkommens wird bei Bündnis 90/Die
Grünen schon seit Jahren diskutiert. Eine
bedingungslose Zustimmung ist daraus
aber noch nicht erwachsen. Seit 2008
entwickelte sich daraus eine „Grüne
Grundsicherung“, die von einer bedarfs-
gerechten Erhöhung der ALG II-Sätze auf
420 Euro für Erwachsene ausgeht und
recht vorsichtig eine Reform des bisheri-
gen Systems bedarfsgeprüfter Transfer-
zahlungen vorsieht. Eine bedingungslose
Grundsicherung für Kinder wird gefor-
dert, eine Existenzsicherung für Erwach-
sene mit Brückenfunktion (begrenzt auf
die Zeit bis zur möglichen Arbeitsaufnah-
me) wird ebenso diskutiert wie ein Ver-
zicht auf Sanktionen bei Leistungsbezie-
hern, die ein Absicken unter das Existenz-
minimum bewirken würden. (vgl. Bündis
90/Die Grünen, Bundestagsfraktion:
„Grüne Grundsicherung statt FDP-Bür-
gergeld“ 10.10.2009)
SPD
Die SPD tut sich schwer mit allen Überle-
gungen zu einem bedingungslosen
Grundeinkommen. Als wesentliche Urhe-
ber von Hartz IV verteidigen die Sozialde-
mokraten ihr Modell trotz aller bekannten
Schieflagen immer noch und werten es
grundsätzlich als Erfolg. Andrea Nahles,
Vorstandsmitglied in der SPD und Kritike-
rin der Grundeinkommensmodelle, arg-
wöhnt, dass über die Modelle von Götz
Werner und Dieter Althaus nichts ande-
res passiere, als einen staatlich subventi-
onierten Billiglohnsektor zu etablieren,
der den Unternehmen die Diskussion
um den Mindestlohn vom Hals schaffe,
so Nahles in einem Streitgespräch mit
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Katja Kipping von der Linksfraktion in der
taz.
Linke
Kipping will dagegen keinesfalls, dass ihr
Modell mit dem von Althaus in einen Topf
geworfen wird. Nach ihren Vorstellungen
soll es ein bedingungsloses Grundein-
kommen für alle geben, um die Umver-
teilung von Arbeit zu begünstigen. Wer
den Grundsockel erhalte, könne auf ei-
nen Teil der Erwerbsarbeit verzichten und
somit bezahlte Arbeit für andere freige-
ben. Aber Kippings Meinung wird nicht
von allen Linken getragen. Mindestens
genauso viele treten für ein „bedarfsori-
entiertes“ Grundeinkommen ein, das je-
dem Bürger ein Leben ohne Armut er-
möglicht und nur solchen Bürgern zu-
kommt, die es benötigen.
Das Bürgergeld der FDP
Seit über 15 Jahren will die FDP mit dem
Bürgergeld eine Vereinfachung des Sozi-
alsystems bewirken und sowohl viele
Sozialleistungen samt Hartz IV, als auch
Behörden wie die Bundesagentur für Ar-
beit weitgehend abschaffen. Der Unter-
schied zu den anderen Grundeinkom-
mensentwürfen liegt aber darin, dass da-
bei keine bedingungslose Entkoppelung
von Arbeit und Einkommen vorgesehen
ist. Versorgt mit einem Grundeinkom-
men, das sich an den derzeitigen Hartz-
IV-Sätzen (662 Euro mit allen Nebenkos-
ten) orientiert, soll Leistungsbeziehern,
die sich nicht um Arbeit bemühen, das
Geld weiterhin gekürzt werden können.
„Konsequente und bewehrte Verpflich-
tung mit Sanktionen“, nannte das Otto
Graf Lambsdorff, der inzwischen verstor-
bene Ehrenvorsitzende der FDP. Aller-
dings sollen nach dem FDP-Modell die
Hinzuverdienstmöglichkeiten verbessert
werden, so dass es sich auch bei kleinen
Jobs wieder „lohnt zu arbeiten“. In der
Regierungskoalition werden derzeit De-
tails zur Verbesserung der Zuverdienst-
möglichkeiten verhandelt, das schlanke
arbeitsmarkt
Bürgergeld-Konzept findet bei der Union
aber keine Zustimmung.
Gewerkschaften
Die Gewerkschaften polemisieren gegen
die „Frohe Botschaft“, die gerne auf Kir-
chentagen und von „notorischen politi-
schen Grenzgängern“ vorgetragen werde,
so Hans-Joachim Schabedoth (DGB). Er
entlarvt die Vorstellungen eines bedin-
gungslosen Grundeinkommens als popu-
läre „Zauberwaffe“ von hoher Suggestiv-
kraft, die angesichts der „jahrzehntelan-
gen Übersättigung mit Stückwerk-Refor-
men“, gerne aufgesogen würde. Die Ge-
werkschaften wollen „keine Stilllegungs-
prämien von Arbeitskräften, sondern die
Integration aller Arbeitswilligen in das Er-
werbsleben“. Weiterhin kritisiert Schabe-
doth, dass eine pauschale Unterstützung
auch von Nicht-Hilfsbedürftigen immer
auch zu Lasten der Hilfsbedürftigen
gehe. Die größten Bedenken gehen in
Richtung Finanzierung. Sofern sich ein
Grundeinkommen nicht durch hinrei-
chende Einsparungen bei den Sozialab-
gaben finanzieren ließe, ginge dies einher
mit einem „dreist getarnten Sozialabbau“,
da ein Grundeinkommen dann nur unter-
halb des Existenzminimums anzusetzen
wäre. Und die Mitfinanzierung über eine
Erhöhung der Verbrauchssteuern, wie
z.B. von Götz Werner empfohlen, würde
nur eine Umverteilung der Steuerlast be-
deuten und die Unternehmen und die
Vermögenden schützen. Weiterhin erklärt
er, dass eine individuelle Entscheidung,
nicht am Erwerbsleben teilnehmen zu
wollen, aus Gewerkschaftssicht nicht un-
terstützt werden dürfe.
Weitere Kritiker
Substanzielle Verhaltensänderungen er-
wartet Ulrich Walwei vom Institut für Ar-
beitsmarkt und Berufsforschung (IAB) in
seinem Beitrag „Leben auf Kosten ande-
rer“ in der Frankfurter Rundschau (01.09.
2007), sobald ein bedingungsloses
Grundeinkommen realisiert werden wür-
VII
 arbeitsmarkt
de. Aller Pflichten enthoben, gäbe es
kaum noch Anreize für die Aufnahme von
Erwerbsarbeit. Es gäbe immer mehr
Transfergeldbezieher und immer weniger
Selbstständigkeit, Eigenverantwortlichkeit
und Leistungsmotivation.
Weniger auf die Verhaltensverände-
rung des Einzelnen bezieht sich die Kritik
von Eberhard Eichenhofer, Professor für
Sozialrecht an der Universität Osnabrück.
In seinem Aufsatz „Sozialversicherung
und Grundeinkommen“ (APuZ 52/
2007) warnt er vor falschen Hoffnungen:
„Realismus und common sense haben es
stets schwer, sich gegen Erlösungshoff-
nungen zu behaupten.“ Er warnt vor der
vermeintlichen Einfachheit des Gedan-
kens und spricht von „Sozialutopie“. Statt
aus der komplizierten Welt auszusteigen
und sozialromantische Idyllen zu suchen,
empfiehlt er, sich an der weiteren Ent-
wicklung des „überkommenen Sozial-
staats“ im Rahmen der bestehenden
Sozialversicherungssysteme zu beteili-
gen, selbst wenn dies „unspektakulär,
kompliziert und mühsam“ sei.
Ausblick
Götz Werner ist sicher zufrieden, wenn er
die mit Erscheinen seines Buches ent-
fachte Diskussion um das bedingungslo-
se Grundeinkommen betrachtet. Beson-
ders in den Jahren 2005 bis 2007 wur-
den die verschiedenen Modelle durchde-
kliniert, verändert und modifiziert. Götz
Werner füllt seitdem mit seinen Vorträgen
inzwischen jeden Hörsaal, und in den
Talkshows wird mehr oder weniger pro-
fessionell, dabei so publikumsnah wie
möglich, über die Grundfesten unseres
Sozialstaates gestritten. Was fehlt, ist ei-
gentlich nur noch der große Bewährungs-
test, der Feldversuch, bei dem sich jen-
seits aller Modellrechnungen zeigen soll-
te, ob die Sache mit dem Grundeinkom-
men eine wirklich geniale Idee oder doch
nur eine Sozialutopie ist. Der SPIEGEL
berichtete in seiner Ausgabe 33/2009
unter dem Titel „Das Dorf der Zukunft“
von einem solchen Versuch, und zwar
VIII
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von einem Konzept zum bedingungslo-
sen Grundeinkommen in Otjivero, einem
kleinen Dorf in Namibia. Dort wurde über
ein Jahr lang an alle Bürgerinnen und
Bürger ein Grundeinkommen gezahlt.
Während sich die reiche Oberschicht ve-
hement gegen diesen Versuch wehrte
(„eine idiotische Idee, so erzieht man die
nicht zur Arbeit“), führte die regelmäßige
Grundsicherung zu geschäftigem Treiben
im Dorf. Auf einmal gab es Bäckereien,
Schulmaterial, Renovierungsarbeiten,
Viehzucht und eine bescheidene Infra-
struktur. Bezieht man die politische Bri-
sanz aufgrund der extremen Unterschie-
de zwischen Arm und Reich ein, so wurde
das Experiment auch als Befreiungs-
schlag gewertet, der den sozialen Frieden
ansatzweise wieder herstellte. Wäre
nichts passiert, so die Beobachter, „dann
müssen die Reichen bald ihre Elektrozäu-
ne erhöhen“.
Aber auch bei uns in Deutschland
will man Feldversuche starten. Die
Breuninger-Stiftung (www.breuninger-
stiftung.org) will ab Mitte 2010 jeweils
100 Teilnehmern aus dem reichen
Stuttgart und aus einer weniger reichen
Gemeinde in Brandenburg für zwei Jahre
monatlich ein Grundeinkommen von
800 Euro zukommen lassen. Die Ge-
samtkosten in Höhe von sieben Millionen
Euro werden eingesetzt, um herauszufin-
den, was Menschen machen, wenn sie
ein bedingungsloses Grundeinkommen
erhalten.
Es geht um den Mut zu einer sozi-
alpolitischen Revolution. Alle Parteien
diskutieren solche Modelle, und zwei
Drittel der Bevölkerung sympathisiert
damit, und deshalb bleibt das Thema
virulent. Auch Götz Werner hofft auf eine
neue Debatte und kann sogar dem in der
Regierungskoalition diskutierten Bürger-
geld der FDP etwas abgewinnen: „Das
Bürgergeld kann helfen, neu zu denken ...
Ein bedingungsloses Grundeinkommen
wäre das Bürgergeld noch nicht, aber es
wäre ein erster Schritt in diese Richtung.
Wenn wir den Perspektivwechsel erst ein-
mal vollzogen haben, dann werden sich
arbeitsmarkt BILDUNG | KULTUR | SOZIALWESEN_08|2010
die Einzelheiten auch noch auspendeln.“
(taz 9.10.09).
Petition mit Rekordergebnis
Spannend wird es, wenn es gelingt, den
Bundestag über den Weg einer Petition
zu zwingen, sich mit dem Thema Grund-
einkommen zu beschäftigen. Und da
stehen die Chancen nicht schlecht. Su-
sanne Wiest, Heilpädagogin aus Greifs-
wald, brachte den Stein ins Rollen, als sie
per Internet eine Petition (sinngemäß:
„Der Bundestag möge beschließen, ein
bedingungsloses Grundeinkommen ein-
zuführen.“) an den Bundestag formulier-
te. Die notwendige Anzahl von Zustim-
mungen in Höhe von 50.000 kam über-
raschend schnell zustande. Katja Kipping
von der Linksfraktion, die gleichzeitig
stellvertretende Vorsitzende des Petiti-
onsausschusses im Bundestag ist, will
Susanne Wiest helfen, ihre Idee persön-
lich vortragen zu können und meint laut
WELT-online vom 18.02 2010: „Eine Peti-
tion, die eine so große Zahl von Unter-
stützenden findet, verdient eine Anhö-
rung — und das unabhängig davon, wie
man im Detail zu den Inhalten der Peti-
tion steht.“
LINKS
www.wen-waehlen.de/btw09/ Platt-
form zu aktuellen Themen mit State-
ments der Parteien etc.
www.bpb.de/publikationen/apuz Heft
51/52 2007 als Download
www.grundeinkommen.de Plattform
von Grundeinkommensbefürwortern
www.basicincome.org weltweites Netz-
werk Grundeinkommen
www.epetitionen.bundestag.de mit
Stand der Petition und Diskussion
www.forum-grundeinkommen.de
www.archiv-grundeinkommen.de mit
weiteren Links und Downloadmöglich-
keit des Films „Grundeinkommen“ von
Daniel Häni und Enno Schmidt