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Band 3
OEUVRES DE SSAINT
AINT FRANÇOIS DE SSALES
ALES
der Heimsuchung Mariä in Annecy (1892-1931)
Erster TTeil
eil (I. - VI. Buch)
4
ISBN 3-7721-0128-3
© Franz-Sales-Verlag, Eichstätt
3. Auflage 2002
Alle Rechte vorbehalten
Herstellung: Brönner & Daentler, Eichstätt
5
Die deutsche Ausgabe der Werke des hl. Franz von Sales bereichert
sich, nach langer Unterbrechung, mit dem ersten Band des Hauptwerkes
des großen Kirchenlehrers, der „Abhandlung über die Gottesliebe”, auch
„Theotimus” genannt. Der zweite Band wird eine Gesamtwürdigung
dieses klassischen Buches bringen, sowie ausführliche Sach- und Perso-
nenregister (mit den notwendigen Angaben über die von Franz von Sa-
les angeführten Schriftsteller) und Erklärungen einzelner Stellen im ersten
und zweiten Band, soweit sie für das Verständnis des Buches nützlich
erscheinen.
Hier nur eine kurze Bemerkung über den bei Franz von Sales oft
zitierten D i o n y s i u s, den das ganze Altertum, Mittelalter und die
Neuzeit bis 1895 für den vom hl. Paulus bekehrten Areopagiten hielt,
dessen Werke daher höchstes Ansehen genossen. Heute wissen wir, daß
der Verfasser dieser Werke, ein Neuplatoniker, im 5. Jahrhundert gelebt
hat, also den Namen des Areopagiten Dionysius nur als Deckmantel
mißbrauchte, um seinen Schriften größeres Ansehen zu verschaffen, was
ihm auch gelungen ist.
Wie in der Philothea führt Franz von Sales auch im Theotimus viele
naturwissenschaftliche Beispiele an, die er der „Naturgeschichte“ des la-
teinischen Schriftstellers P l i n i u s entnommen hat, einer Sammlung
unwahrscheinlichster Dinge, die zur Zeit des hl. Franz von Sales in
hohem Ansehen stand. Man darf sich an diesen Geschichten nicht stoßen,
mögen sie uns auch reichlich naiv erscheinen. Wir haben sie nur als
Vergleiche und Bilder zu werten; als solche sind sie sehr anschaulich
und machen manche schwierige theologische Frage leichter verständlich
(z. B. die Geschichte von den „Apoden“).
Derlei durch die Zeit bedingte kleine Schönheitsfehler dieses Werkes
wie auch die barocke Länge und Überfülle von Bildern, und von Bildern,
die wir heute nicht mehr gebrauchen würden, ferner die uns oft seltsam
dünkenden Anwendungen des „Hoheliedes“ und ähnliches – das alles
darf uns nicht den überaus kostbaren Inhalt dieses Werkes übersehen las-
6
sen, das von den Päpsten mit den höchsten Lobsprüchen bedacht wurde
und jedenfalls eines der großen Meisterwerke katholischer Mystik ist.
In dieser Übersetzung war ich bestrebt, den Sinn der Worte des
großen Kirchenlehrers so genau als möglich wiederzugeben, ohne Kür-
zungen, die ja in einer Gesamtausgabe der Werke des hl. Franz von Sales
nicht statthaft wären. Mein Bestreben ging besonders dahin, die langen
Perioden zu zerlegen und so verständlich zu machen, ohne auch nur im
geringsten die Gedankenfolge zu ändern.
Es obliegt mir nur noch die Pflicht, den ehrwürdigen Schwestern der
Heimsuchung Mariä in Wien für ihre wertvollen Vorarbeiten Dank zu
sagen, die mir diese schwierige Arbeit wesentlich erleichtert haben.
Wien, am 29. Januar 1957
P. Dr. Franz Reisinger OSFS.
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INHALTSÜBERSICHT
INHALTSÜBERSICHT
Ein kurzes Wort zur Einführung 5
Widmungsgebet des Verfassers 33
Vorwort 35
1. Wenn auch die heilige Liebe Kern und Inhalt jeder christlichen
Verkündigung ist, so – 2. beschäftigt sich doch die theologische Ab-
handlung von der Liebe im besonderen mit dem Ursprung, den Ei-
genschaften und Wirkungen der Liebe. Paulus, Kirchenväter, Theo-
logen und auch heilige Frauen haben darüber viel Schönes geschrie-
ben – 3. Ebenso Schriftsteller zur Zeit des hl. Franz von Sales, –
4. der sich aber hier besondere Aufgaben gestellt hat, nämlich
Entstehung, Fortschritt und Verfall der Liebe, ihre Werke, Vor-
züge und Erhaben h e i t d a r z u s t e l l e n – 5 . E r k o m m t m ö g l i c h e n
K r i t i k e n z u v o r . – 6 . E r w i l l wohl einiges sagen, das nicht so
leicht verständlich ist, aber Streitfragen und Spitzfindigkeiten mei-
den. – 7. Er erklärt, was er b i s h e r v e r ö f f e n t l i c h t h a t – 8 . u n d
was er für dieses Buch den Schwestern der Heimsuchung, und
v o r a l l e m i h r e r M u t t e r v e r d a n k t . – 9. Schließlich sagt er, warum
er dieses Buch Maria und St. Josef gewidmet hat.
2. Kapitel: Der Wille herrscht über die Kräfte der Seele auf ver-
schiedene Weise. 52
1. Er herrscht über die Fähigkeiten, uns zu bewegen, wie der Herr
über den Sklaven; – 2. über die Sinne und die Fähigkeit, uns zu
nähren, zu wachsen, uns fortzupflanzen durch verschiedene Mittel
und Kunstgriffe; – 3. auch über Verstand und Gedächtnis, – aber nur
in beschränktem Maße.
8. Kapitel: Welcher Art ist die innere Beziehung, die Liebe weckt? 68
1. Die Wurzel der Liebe liegt in einer inneren Beziehung zu dem,
was man liebt. – 2. Dies ist aber nicht nur Ähnlichkeit, sondern –
3 . eine gewisse Zuordnung zueinander, ein gegenseitiges Sicher-
gänzen. – 4. Tritt Ähnlichkeit hinzu, dann ist der Liebesdrang noch
mächtiger.
9. Kapitel: Liebe strebt nach Vereinigung. 70
1. Ihre Sehnsucht nach Vereinigung mit dem Bräutigam möchte die
Braut im Hohelied durch Küssen stillen. – 2. Der Kuß war von
jeher das Zeichen inniger Liebe, d. h. der Herzensvereinigung, –
3. wohin ja die Liebe strebt.
10. Kapitel: Die Vereinigung, nach der Liebe strebt, ist geistiger
Natur. 73
1. Liebe strebt nach Vereinigung, ob sie auf natürlichen Banden be-
ruht oder frei eingegangen wird. – 2. Die menschliche Liebe muß
nach geistiger Vereinigung streben. – 3. Vermischung mit sinnlicher
Liebe schwächt die eigentliche menschliche Liebe. – 4. Daher muß
diese in der Seele herrschen. „Ekstase“, die uns über uns selbst
erhebt, muß unser Ziel sein. – 5. Wenn die Seele sich sinnlicher
Liebe hingibt, verfällt die himmlische Liebe. – 6. Dagegen wächst
die himmlische Liebe, je mehr man sich der sinnlichen Liebe ent-
hält.
11. Kapitel: Die beiden Bereiche der Seele. 79
1. In unserer Seele gibt es drei Stufen, sie ist lebend, empfindend und
ve r s t e h e n d . J e d e r S t u f e e n t s p r e c h e n d s t r e b t d i e S e e l e n a c h
gewissen Dingen oder flieht sie. – 2. In der höchsten Stufe der
S e e l e gibt es noch zwei weitere Stufen, die niederer und höherer
Seele n t e i l g e n a n n t w e r d e n . – 3 . B e i s p i e l e d a f ü r a u s d e r B i b e l
u n d – 4 . a u s dem Leben. – 5. Das Beispiel Christi.
12. Kapitel: Die vier Stufen der Vernunft. 82
1. Wie es im Tempel Salomos drei Vorhöfe und darüber das Allerhei-
ligst e g a b , s o g i b t e s a u c h in d e r S e e l e drei S t u f e n u n d d a r ü -
b e r die höchste Seelenspitze. – 2. Diese wird mit fünf Vergleichs-
punkten treffe n d d u r c h d a s A l l e r h e i l i g s t e d e s Te m p e l s v e r s i n n -
bildet. – 3. Die S eele gibt sich dort einfach liebend Gott hin, –
4. was aber nicht hindert, daß der Verstand weitere Erörterungen
aus dem Glauben heraus anstellen kann.
13. Kapitel: Die verschiedenen Arten der Liebe. 85
1. Liebe des Wohlwollens und des Begehrens; – 2. Liebe des Wohl-
gefallens und der Sehnsucht; – 3. Liebe einfachen Wohlwollens und
der Freundschaft; – 4. Freundschaft schlechthin und erlesene Freund-
schaft; – 5. erlesene und einzig große Freundschaft. – 6. Ganz große
Liebe und unvergleichliche Liebe, Caritas.
10 Inhaltsübersicht I. Buch
14. Kapitel: Liebe zu Gott (Caritas) soll mit „Liebe“ bezeichnet wer-
den. 86
1. Trotz Origines ist nach Augustinus das Wort „Amor = Liebe“ für
die Caritas, die Gottesliebe geeignet. – 2. Es wurde sogar im Alter-
tum vorgezogen, um ihm den üblen Geruch sündhafter Leidenschaft
zu entziehen.
15. Kapitel: Die innere Beziehung zwischen Gott und Mensch. 87
1. Freude an Gott und Vertrauen zu Gott beweisen, daß eine innige
Beziehung zwischen Gott und Mensch besteht. – 2. Der Mensch,
Eb enbild Gottes – 3. Gegenseitige Ergänzung des Überflusses und
Mangels. – 4. Gott drängt die Liebe, sich zu schenken, uns die
Armut, uns beschenken zu lassen. – 5. Wir sind für Gott geschaffen.
16. Kapitel: Wir neigen natürlicherweise dazu, Gott über alles zu
lieben. 90
1. Gäbe es Menschen, in Heiligkeit geschaffen wie Adam, so würde
der allgemeine Beistand, den Gott allen Geschöpfen gibt, genügen,
daß sie Gott über alles lieben. – 2. Diese Liebe wäre eine natür-
l i c h e , wenngleich ihre Natur in den Gnadenzustand erhoben wäre. –
3. Obwohl wir den Gnadenzustand verloren haben, verbleibt uns ein
N a t u r t r i e b , G o t t z u l i e b e n . – 4 . D i e s e r Tr i e b e r w a c h t , s o b a l d e r
G o t t e s gewahr wird.
17. Kapitel: Natürlicherweise sind wir ohnmächtig, Gott über alles
zu lieben. 92
1. Wegen seiner Schwäche folgt der Wille so oft nicht der Erkenntnis
und dem Antrieb zu Gott hin. – 2. Die alten Philosophen hatten
wohl richtige Erkenntnis von Gott, aber nicht den Mut, sich zu dem
einen Gott zu bekennen. – 3. Daher bringt unsere durch die Sünde
geschwächte Natur aus sich heraus nur Ansätze der Gottesliebe her-
vor, nicht aber die eigentliche Reife der Liebe.
men lassen, weswegen er die Menschen und die Engel erschuf. – 4. Aus
den verschiedenen Möglichkeiten, die Menschheit mit der Gottheit
zu vereinigen, wählte Gott die Zeugung durch eine Frau ohne Mann;
er erkor dafür Unsere Liebe Frau. – 5. Gott beschloß, alle Dinge
unseres Herrn wegen ins Dasein zu rufen, und so erschuf er die
Engel und Menschen in ursprünglicher Gerechtigkeit, – 6. aber
mit Freiheit begabt, so daß sie die Gerechtigkeit verlieren konnten.
Tats ä c h l i c h v e r l o r s i e e i n Te i l d e r E n g e l u n d w u r d e a u f e w i g
versto ßen. – 7. Gott sah auch voraus, daß der erste Mensch seine
Frei heit mißbrauchen würde, wollte aber infolge vieler mildernder
Umstände nicht mit gleicher Strenge gegen ihn vorgehen und be-
schloß, ihm Verzeihung zu gewähren. – 8. Damit aber das Erbar-
men nicht der Gerechtigkeit entbehrte, beschloß er die Rettung
der Menschen auf dem Weg eines gestrengen Loskaufes durch eine
Erlösung, die überreichlich alle Mittel erwerben sollte, damit wir zur
Herrlichkeit gelangten.
5. Kapitel: Die himmlische Vorsehung hat den Menschen eine über-
reiche Erlösung geschenkt. 111
1. Wenn wir von mehreren Beschlüssen Gottes sprechen, so reden
wir nach unserer Art; in Gott gibt es ja nur einen Akt, der alles
u m f a ß t . – 2 . Wi r z e r g l i e d e r n d i e s e n A k t i n v e r s c h i e d e n e , w e i l
wir nicht anders können, und sagen also, daß die göttliche Vorsehung
im Schöpfungsplan als das Liebenswerteste zuerst den Erlöser woll-
te und alles auf ihn hinordnete. – 3. Die Sünde der ersten Menschen
besiegte nicht die Barmherzigkeit Gottes, diese wurde dadurch nur
noch mehr herausgefordert. O glückliche Schuld! – 4. Es bleiben
wohl Leid und Drangsal, aber auch dieses gereicht jenen, die Gott
lieben, zum Besten. Besprengt durch Jesu Blut, werden wir
leuchtender weiß als durch den Schnee der Unschuld.
6. Kapitel: Einige besondere Gnadenerweise der Vorsehung in der
Erlösung der Menschen. 113
1. Gott läßt noch herrlicher als die Natur die Schätze seiner
Gnadengaben in der Mannigfaltigkeit der Gnadengaben aufscheinen. –
2. Vor allem sollte Maria der Strom der Sünde nicht erreichen,
außerdem sollte sie mit allen Blüten der Vollkommenheit beschenkt
werden und von jeder Gefahr der Verdammnis und der Sünde er-
löst sein. – 3. Auch andere Menschen sollten von der Gefahr der
Verdammnis bewahrt werden (der Täufer, Jeremia). – 4. Ande-
ren sicherte Gott nicht die Liebe für das ganze Leben, sondern
nur für das Ende und eine Zeit zuvor.
7. Kapitel: Die Mannigfaltigkeit der Gnadengaben. Wunder-
bare Offenbarung der göttlichen Vorsehung. 115
1. Außer diesen besonderen Gnaden ergoß die göttliche Güte eine
Fülle von Segnungen über die Menschen und Engel – 2. u.
z w . i n g r ö ß ter Mannigfaltigkeit, so daß es nicht zwei Menschen gibt,
die sich an übernatürlichen Gaben vollkommen gleichen. – 3. Die
Inhaltsübersicht II. Buch 13
Elija nur so viel Öl empfing, als sie leere Gefäße hatte. – 5. Warum
sind wir nicht Heilige? Weil wir unsere Freiheit mißbrauchen. –
6 . D e r hl. Franziskus hielt sich für den größten Sünder, er glaubte,
wenn andere dieselben Gnaden empfangen hätten, hätten sie Gott
viel besser gedient als er. – 7. Wenn manche nicht über den Zustand
der Ruhe hinausgelangen, sagt die hl. Theresia, liegt es nicht an Gott,
sondern an uns, die der Gnade Hindernisse in den Weg legen.
12. Kapitel: Die göttlichen Lockungen lassen uns volle Freiheit
ihnen zu folgen oder sie abzulehnen. 128
1. Franz von Sales spricht hier nicht von den Wundern der Gnade,
die fast in einem Augenblick Wölfe in Hirten verwandelt, – 2. wenn
die göttliche Güte aus ihren Schranken tritt und förmlich die Seele
mit Gnaden überschüttet. – 3. Für gewöhnlich zieht aber Gott die
Menschen mit den Banden der Liebe an, er lockt sie an sich mit
Gefühlen der Freude und Lust. – 4. So wird auch unsere Freiheit nicht
vergewaltigt. Die Gnade wirkt kraftvoll, aber milde. – 5. Der Wille
k a n n d e m Z u g d e r G n a d e f o l g e n o d e r i h m Wi d e r s t a n d l e i s t e n .
– 6 . S o sagt Jesus der Samariterin: „Du würdest ihn vielleicht ge-
beten haben.“ Es bleibt die Freiheit, zu bitten oder nicht zu bitten. –
7. Wir können aber nicht verhindern, daß Gott auch weiterhin zu
unseren Herzen spricht. Gottes Gnade kommt uns zuvor, es steht
aber bei uns, ihr beizustimmen und zu folgen.
13. Kapitel: Erste Empfindungen der Liebe, die Gottes Lockun-
gen in der Seele wecken, bevor sie den Glauben hat. 132
1. Wie der Wind ins Gefieder der Apoden fährt und sie hebt, so
rüttelt auch die Eingebung den Willen wach. Die göttliche Güte
kommt uns zuvor. Es geschieht „in uns“, aber „ohne uns“. – 2. Geben
wir eine noch so geringe Zustimmung, wird die Gnade ihre Tätigkeit
mit unserer Einwilligung vereinen und uns von Stufe zu Stufe der Lie-
be hinaufhelfen. – 3. Die ersten Liebesregungen sind erst eine be-
ginnende Liebe, noch nicht Frucht, aber fruchtverheißende Blüten. –
4. So weckte die Gnade im späteren hl. Pachomius, als er die liebe-
volle Hilfe von Christen gewahrt, die ersten Regungen des Glaubens
und der Liebe, – 5. denen er entsprach, so daß er zu Gott um tie-
feres Wissen betete. – 6. So stärkt Gott sachte seine Gnade in den
Menschen, wenn sie ihr beistimmen. Mächtig sind Gottes Lockungen,
sie zwingen aber nicht.
14. Kapitel: Empfindungen göttlicher Liebe, die mit dem Glauben
empfangen werden. 135
1. Wenn Gott uns den Glauben schenkt, so geschieht dies nicht auf
dem Weg von Darlegungen, sondern durch göttliche Eingebungen.
Gott zeigt, wie liebenswert das ist, was wir glauben sollen. – 2.
Dabei legt Gott der Seele die Geheimnisse des Glaubens in Dunkel
gehüllt vor; wir sehen nicht, sondern ahnen nur diese Wahrheiten.
Trotzdem verschafft dieses Hell-Dunkel des Glaubens sich Glau-
ben und Gehorsam, – 3. so daß der Glaube mit der Braut im Hohe-
Inhaltsübersicht II. Buch 15
lied sagen kann: „Schwarz bin ich, aber schön.“ – 4. Beweise ma-
chen die Religion glaubwürdig, aber nur die Gnade des Glaubens
bewirkt tatsächlichen Glauben. – 5. So wie bei Konzilien die
Diskus sionen vorausgehen, die Entscheidung aber der Heilige Geist
fällt, – 6. so beginnt der Glaube durch die göttliche Einwirkung,
die seine Schönheit der Seele vorstellt, dadurch in ihr Wohlgefal-
len daran auslöst und damit einen Beginn der Liebe einschließt.
15. Kapitel: Das große Liebesempfinden, das wir durch die heilige
Hoffnung empfangen. 138
1. Da wir eine natürliche Neigung für das höchste Gut haben, emp-
finden wir Liebe zu ihm, sobald der Glaube es uns zeigt. – 2. Das
menschliche Herz strebt auf Gott hin, ohne recht zu wissen, wie er
ist. Findet es ihn im Born des Glaubens, welch heiliges Verlangen
nach Vereinigung mit ihm! – 3. So wie es auch sonst Vorgefühle
von Freuden gibt, die man noch nicht kennt und die die Freude um so
größer machen, wenn sie eintreten, so empfindet auch die Seele
frohes Glück, wenn sie Gott findet, nach dem sie unbewußt strebt. –
4. Welche Freude, wenn ihr Durst nach Glück jetzt gelöscht wird,
da sie das höchste Gut gefunden hat.
16. Kapitel: Wie die Liebe in der Hoffnung tätig ist. 140
1. Der Glaube weckt Wohlgefallen an Gott, und dieses weckt Sehn-
sucht nach seiner Gegenwart. – 2. Diese Sehnsucht aber würde zur
Qual, wären wir nicht sicher, sie stillen zu können. – 3. Gott hat
uns aber diese Sicherheit gegeben; dadurch wird unsere Sehnsucht
auch gestärkt, ihr aber das Quälende genommen und dem Herzen
Friede geschenkt. Das ist die Wurzel der Hoffnung. – 4. Dieses Hof-
fen ist in uns vom Streben begleitet, weil Gott unser Mitwirken
verlangt; – 5. das Streben ist ein Sprößling der Hoffnung. Beide
aber gehören unzertrennlich zusammen und beide haben ihre Wurzel
in der sehnsüchtigen Liebe nach dem höchsten Gut. – 6. Alles darin
ist aber Liebe: Glaube weckt Liebe, diese die Sehnsucht, diese die
Hoffnung und das Streben; so zielt die Hoffnung in jeder Hinsicht
auf Gott hin und ist folglich eine göttliche und theologische Tugend.
17. Kapitel: Die Liebe der Hoffnung ist wohl sehr wertvoll, aber
doch noch unvollkommen. 143
1. In der Hoffnung lieben wir Gott, nicht weil er in sich selber
gut ist, sondern weil er gut gegen uns ist. – 2. Wohl wird in der
Hoffnung Gott nicht nur um unserer selbst willen geliebt – sonst
wäre ja die Selbstliebe das Ziel der Gottesliebe; – 3. aber sie ist
doch eine Liebe des Begehrens, wohl eines heiligen Begehrens; unser
Interesse spielt auch mit, aber Gott hat den Vorrang, er ist unser
Ziel, in dessen Besitz die ganze Seligkeit besteht. – 4. Wir lie-
b e n Eltern, Vorgesetzte, nicht weil sie Eltern usw. sind, sondern
weil sie unsere Eltern sind. – 5. So lieben wir Gott auch in der
Tugend der H o f f n u n g , w e i l e r u n s e r h ö c h s t e s G u t i s t , – 6 . u n d
wir lieben ihn auf höchste, weil er eben unser höchstes Gut ist. –
16 Inhaltsübersicht II. Buch
da ist. Das Ende der Reue bringt damit den Beginn der Liebe. –
8. Diese liebende Reue äußert sich dann gewöhnlich in Herzenser-
hebungen zu Gott, in Stoßgebeten.
21. Kapitel: Die liebevollen Lockungen des Herrn helfen und be-
gleiten uns bis zum Glauben und zur Liebe. 155
1. Zwischen dem ersten Erwachen von der Sünde bis zum festen
Entschluß, zu glauben, liegt oft eine lange Zeit, während der es
gut ist zu beten, – 2. wie es Augustinus getan, dessen Bekehrung
sich so viele Schwierigkeiten entgegensetzten. – 3. Der Herr lockt
uns, aber auch die Versuchungen locken und der Mensch bleibt frei,
dem einen oder den anderen zu folgen. – 4. Weisen wir die Gnade
nicht zurück, so erweitert sich die Seele, bis sie ganz umgewandelt
ist. So erging es dem Apostel Petrus. – 5. All dies ist Gnade: erstes
Wecken der Seele, das Beten, das L aufen zu Gott, die Liebe. –
6. Lassen wir nicht von der Gnade, dann läßt sie nicht von uns,
bis sie uns in den Hafen der göttlichen Liebe gebracht hat.
22. Kapitel: Kurze Beschreibung der Gottesliebe. 158
1. So geleitet Gott die Seele von Liebe zu Liebe, – 2. die echte
Freundschaft mit Gott ist, – 3. weil sie gegenseitige Liebe ist, –
4 . aber eine Freundschaft auserlesener Art, – 5. daher kann nur
Gott sie verleihen, – 6. und sie thront auf der höchsten Spitze
u n seres Geistes als Königin, Krone und Sonne unserer Seele.
Hauch eben auch nur unendlich sein kann, daher wahrer Gott mit
dem Vater und Sohn und – 4. eine dritte Person neben Vater und
Sohn, ein einziger Gott mit ihm? – 5. Wenn schon menschliche
Freundschaft so schön ist, wie schön muß erst die ewige Freundschaft
z w i s c h e n Va t e r u n d S o h n s e i n , d i e d e r g l e i c h e G o t t m i t i h n e n
ist.
14. Kapitel: Das Licht der Glorie dient bei den seligen Geistern im
Himmel zur Vereinigung mit Gott. 196
1. Wir werden im Himmel Gott schauen ohne Bild, aber nicht ohne
ein wunderbares Licht, das unsere Erkenntniskraft zur erhabenen
Schau Gottes bereitet, erhöht und steigert. Der Verstand aus sich
heraus kann es nicht. – 2. Daher schenkt uns Gott das Glorienlicht,
das uns fähig macht, die göttliche Lichtfülle geraden Blickes zu be-
trachten – 3. und nicht nur aus der Ferne. Wir werden, in diese
Quelle hineingetaucht und versenkt, sie kraft des Lichtes der Glo-
rie schauen.
15. Kapitel: Die Vereinigung der Seligen mit Gott wird verschie-
dene Grade haben. 197
1. Dieses Glorienlicht wird den Seligen das Maß ihrer Schau geben. –
2. Alle schauen im Himmel Gottes ganze Wesenheit, aber keiner
schaut sie in ihrer ganzen Unermeßlichkeit. – 3. So ist es ja auch
mit unseren Sinnen, wir hören, sehen und schmecken dasselbe ver-
schiedentlich gut, je nach der Beschaffenheit unserer Sinne. – 4. Nun
umfaßt Gottes Unendlichkeit unendlich mehr Vollkommenheiten als
wir Aufnahmefähigkeit besitzen, und auch das zu wissen, wird zu
unserer Seligkeit gehören. – 5. Wie die Fische die Ozeane nicht aus-
schwimmen und die Vögel nicht die ganze Luft durchfliegen, so be-
wegen sich die Seelen der Seligen im unendlichen Ozean Gottes;
es ist aber ihre ewige Freude, zu wissen, daß dieser noch unendlich
größer ist als sie ihn genießen können. – 6. Die zwei Wirklichkei-
ten reißen die seligen Geister zur Bewunderung hin: die unendliche
Schönheit Gottes, die sie schauen, und der Abgrund der Unendlich-
keit, den es noch in dieser Schönheit zu sehen gibt. So ist ihnen
die höchste Freude, zu sehen, daß die von ihnen geliebte Schönheit
so groß ist, daß sie nur durch sich selbst erkannt werden kann.
IV
V.. Buch: Ver
Ver fall und Untergang der Liebe.
erfall
1. Kapitel: Wir können die Gottesliebe verlieren, solange wir in
diesem sterblichen Leben sind. 202
1. Das gilt für die große Mehrzahl der Gläubigen, – 2. die auch
nicht beständiger sind als Luzifer, Adam, David, Petrus ... –
3. Aber wie ist so etwas Furchtbares möglich? – 4. Unsere Seele
ist in diesem Leben nicht so von Liebe erfüllt, daß sie sie nicht
durch eine Versuchung verlieren könnte. – 5. So leicht erliegen
wir Einflüssen, so leicht werde n wir von Scheingütern getäuscht
und überrumpelt.
22 Inhaltsübersicht IV. Buch
hen, – 7. aber e s b e w i r k t j e t z t s c h o n , d a ß w i r G o t t ä h n l i c h w e r -
d e n , – 8 . w i e e s bei St. Paulus der Fall war, der seinen Ruhm, d.
h. sein Wohlgefallen nur im Kreuz Christi fand.
2. Kapitel: Durch das heilige Wohlgefallen werden wir gleich klei-
nen Kindern an der Brust des Herrn. 236
1. Im heiligen Wohlgefallen der Liebe hält der himmlische Bräutigam
Gastmahl mit uns und wir mit ihm. – 2. Wir gefallen uns an ihm
un d e r g e f ä l l t s i c h a n u n s e r e m Wo h l g e f a l l e n . – 3. S o z i e h e n w i r
das Herz Gottes in das unsere hinein und machen uns alle Güter
und Freuden des Bräutigams zu eigen. – 4. Wir empfangen von sei-
nen reichen Schätzen, – 5. die vergleichbar sind mit der Milch, dem
Herzblut der Mutter, mit dem sie ihr Kind stillt, – 6. und gleich
dieser der Seele Freude ohne Übermut, heiligen Rausch ohne Ver-
wirrung und Belebung schenken.
3. Kapitel: Herzenshingabe an Gott und dauernde Sehnsucht nach
seinem Besitz als Wirkung heiligen Wohlgefallens. 240
1. Durch das Wohlgefallen ist Gott unser und wir sind sein, – 2. wir
werden Besitzer Gottes und Gottes Besitz. – 3. Wir sättigen da-
durch unsere Seele mit Freude, wünschen aber immer noch mehr,
uns an Gott zu sättigen. – 4. Weil Gott ein unbegrenztes Gut ist,
h e r r s c h t d a s Ve r l a n g e n i m B e s i t z u n d d e r B e s i t z i m Ve r l a n g e n . –
5 . Die Seele ruht in Gott, trotzdem bleibt die Sehnsucht, Gott noch
m e h r z u l i e b e n ; s o i s t Ru h e i n d e r B e w e g u n g d e r A f f e k t e u n d
Bewegung in der Ruhe in Gott, – 6. nicht Bewegung, um Gott zu
su chen, sondern um sich in Gottes Liebe zu ergehen.
4. Kapitel: Das liebevolle Mitleid, ein noch deutlicher Aus-
druck der Liebe des Wohlgefallens. 244
1. Mitleiden ist Teilnahme am L eiden. – 2. Die Größe des Mit-
leidens hängt von der Liebe, ihrem Ursprung ab, – 3. auch von der
Größe der L eiden. – 4. Es wird erhöht durch die Gegenwart des
Leidenden. – 5. Mitleiden und Freude am Beispiel des Patriarchen
J a k o b . – 6. Freude, die selbst den Tod überwindet.
5. Kapitel: Leid und Freude der Liebe im Leiden des Herrn. 247
1. Mitleiden aus Liebe beim Anblick des Leidens Christi. – 2. Liebe
heiligen Wohlgefallens, da Jesus aus Liebe leidet. – 3. Leiden und
Liebe in Jesus und in der Seele, die Jesus liebt. – 4. Daher die
Wundmale des hl. Franziskus und der hl. Katharina. – 5. Durch sein
liebevolles Leiden will Jesus in unserer Seele einkehren.
6. Kapitel: Die Liebe des Wohlwollens, die sich Gott gegenüber in
Wünschen äußert. 250
1. Gott kommt uns mit seinem Wohlwollen zuvor, bei uns folgt es
dem Wohlgefallen. – 2. Die Liebe des Wohlwollens kann sich bei
uns nur in bedingten Wünschen äußern – 3. und im begeisterten
Gebet, wie auch im Wunsch nach größerer Liebe zu Gott.
26 Inhaltsübersicht V. Buch
und weil sie bis zum innersten Grund des Wissens vordringt, sagt
man, sie verwunde das Herz; und da sie verwundet, bereitet sie
folglich Schmerz. So ist die Liebe süß und herb zugleich. – 3. Wie
verwundet sie und bereitet sie Schmerz? Zunächst wenn der Geliebte
abwesend ist, läßt er im Herzen den Stachel der Sehnsucht zurück.
– 4. Noch andere Wunden schlägt die Liebe: a.) wer liebt, gibt sich
hin, trennt sich also von sich selbst, – b.) die Sehnsucht, c.) noch
andere Wunden, die die heilige Liebe verursacht, – 5. und zwar zu-
nächst den Zwiespalt von Sehnsucht und Unvermögen, – 6. Sehn-
sucht, der kein Erfolg beschieden ist, – 7. was im Himmel nicht sein
wird, – 8. auf Erden aber immer größer wird, denn wer sich unter
den Sterblichen nicht danach sehnt, die göttliche Güte inniger zu
lieben, liebt sie nicht genug.
14. Kapitel: Andere Weisen der heiligen Liebe, die Herzen zu
verwunden. 311
1. Nichts verwundet ein liebendes Herz mehr, als wenn es weiß,
daß ein anderes Herz aus Liebe zu ihm verwundet ist. Wie können
wir Jesus verwundet sehen bis zum Tod am Kreuz, ohne selbst auch
aus Liebe verwundet zu werden. – 2. Eine andere Liebeswunde ist,
wenn die Seele Gott liebt, aber von ihm behandelt wird, als wüßte
er nicht von ihrer Liebe und als brächte er ihr Mißtrauen entge-
gen. – 3. Manche lieben Gott über alles, aber fühlen nicht einen
Funken Eifer, sondern nur Kälte, und begehen viele Unvollkommen-
heiten. I h r e S e e l e n s i n d g a n z w u n d . – 4 . E i n e w e i t e r e L i e b e s -
wunde ist die Erinnerung, einst Gott nicht geliebt zu haben, – 5. wie
auch der Gedanke an die Vielen, die Gottes Liebe verachten. –
6. Aber bei all diesen Liebeswunden wird der Schmerz als wohltu-
end empfunden. In der Liebe gibt es kein Leid, oder wenn es ein
Leid gibt, ist es ein geliebtes Leid (Augustinus).
15. Kapitel: Das Liebessiechtum des von der Liebe verwundeten
Herzens. 314
1. Die Liebe hat die Kraft, auch den Leib in tödliche Krankheit zu
stürzen. – 2. Darum das Wort Platons: Die Liebe ist arm, zerris-
sen, nackt, barfuß, armselig, liegt auf bloßer Erde, vor den Türen
und ist immer bedürftig. Das gilt von der menschlichen, – 3. aber
auch v o n d e r g ö t t l i c h e n L i e b e , w i e d a s B e i s p i e l d e r H e i l i g e n
z e i g t . – 4 . D i e Braut des Hoheliedes ist schön, aber schwarz, ver-
sengt durch d i e G l u t d e r L i e b e . – 5 . We n n d i e L i e b e t i e f e Wu n -
d e n s c h l ä g t , versetzen diese uns in einen Zustand des Siechtums,
wie es wieder Heilige zeigen – und besonders der hl. Franziskus, da
er die heiligen Wundmale Jesu empfing, – 6. und die Heiligen: Phil-
ipp Neri, Stanislaus Kostka, Franz Xaver ...
32
33
daß der Heilige Geist meine Seele und die Seelen der Leser dieser
Schrift belebe, damit wir von nun an alle unsere Neigungen seiner
göttlichen Güte als Brandopfer darbringen, um zu leben, zu sterben und
auf ewig wieder aufzuleben in den Gluten jenes himmlischen Feuers,
das unser Herr und Euer Sohn so sehnlichst in unseren Herzen zu
entzünden verlangte (Lk 12,49), ein Wunsch, für den er wirkte und litt
bis zum Tod, „ja bis zum Tod am Kreuz“ (Phil 2,8).
35
V or wor t
1. Der Heilige Geist lehrt, daß die Lippen der göttlichen Braut dem
Purpur und der Honig träufelnden Wabe gleichen (Hld 4,3.11). So soll es
jedermann wissen, daß die von ihr verkündete Lehre nichts anderes als
die heilige Liebe ist. Ihr Glanz überstrahlt ja den des Purpurs, da sie vom
heiligen Blut des Erlösers entflammt ist. Sie ist auch süßer als Honig
durch die Güte des Vielgeliebten, der sie mit Freuden überschüttet (Hld
8,5).
Als ihr göttlicher Bräutigam sich anschickte, sein Gesetz weithin zu
verkünden, sandte er feurige Zungen über die Jünger herab, die er dafür
bestimmt hatte. So wollte er kundtun, daß die Predigt des Evangeliums
nichts anderes wolle, als die Herzen für Gott zu entflammen.
Betrachtest du schöne Tauben im Sonnenschein, so wirst du sehen,
wie die Farben ihres Gefieders verschieden schillern, je nach der Richtung,
von der du sie betrachtest. Ihr Gefieder ist so empfänglich für den Glanz
der Farben, daß der Sonnenschein auf ihren Federn eine Fülle von Spie-
gelungen hervorruft, die wieder ein mannigfaltiges Farbenspiel im Ge-
folge haben. Und diese Farben sind so lieblich anzuschauen, daß ihre
Schönheit allen Glanz und allen Schmelz der kostbarsten Edelsteine über-
trifft. Wie von zartem Gold ist diese Buntheit überhaucht, so daß der
goldene Schimmer die Farbenpracht noch lebendiger erscheinen läßt.
Dies wollte der königliche Prophet wohl andeuten, als er den Söhnen
Israels zurief:
Als ihr bei den Hürden der Herde geruht,
da glänzten die Flügel der Tauben von Silber,
ihre Federn vom rötlichen Gold (Ps 68,14).
Gewiß schmückt eine herrliche Fülle von Lehren, Predigten, frommen
Abhandlungen und Büchern die Kirche. Sie sind alle sehr schön und von
erfreulichem Anblick; es vereinigen sich ja in ihnen die Strahlen der
Sonne der Gerechtigkeit mit den Worten der kirchlichen Hirten, die
gleichsam das glanzvolle Gefieder dieser mystischen Taube sind (s. Ps
45,2). Aber mögen auch die Färbungen der Lehre, die sie verkünden, noch
so verschieden sein, auf allen ruht doch der Glanz des herrlichen Gol-
des der heiligen Liebe. Überall kann man sehen, wie es mit seinem un-
vergleichlichen Schimmer alle Wissenschaft der Heiligen verklärt
und sie über jede andere Wissenschaft erhebt.
36 Vorwort
Alles gehört der Liebe, alles liegt in der Liebe, alles ist für die Liebe,
alles ist aus Liebe in der heiligen Kirche.
2. Wir wissen, daß das Tageslicht nur von der Sonne kommt. Trotzdem
sagen wir für gewöhnlich, die Sonne scheine nicht, wenn wir sie nicht
unverhüllt strahlend am Himmel sehen. So handelt wohl auch die ganze
christliche Lehre von der heiligen Liebe, – wir geben aber nicht der ge-
samten Theologie diesen Ehrentitel, sondern nur jenen theologischen
Abhandlungen, die zum Gegenstand den Ursprung, die Natur, die Eigen-
schaften und Tätigkeiten der Liebe haben.
Verschiedene Schriftsteller haben nun tatsächlich Herrliches darüber
geschrieben, besonders die alten Väter, die selbst Gott mit glühender
Liebe dienten und daher auch auf göttliche Weise von seiner Liebe
zu sprechen wußten. Wie erhebend ist es, den hl. Paulus von himmli-
schen Dingen reden zu hören, die er im Himmel selbst gelernt (2 Kor
12,4). Und wie wohltuend ist es, Menschen, die aus dem Schoß der gött-
lichen Liebe ihre Nahrung empfangen, von deren heiliger Wonne reden
zu hören. Deshalb haben auch die Theologen der Scholastik, die am
schönsten und eingehendsten über die Gottesliebe schrieben, an Fröm-
migkeit besonders hervorgeleuchtet. Der hl. Thomas von Aquin z. B.
verfaßte eine Abhandlung, die dieses Heiligen würdig ist; ebenso schrie-
ben auch der hl. Bonaventura, der selige Dionysius der Kartäuser mehre-
re ausgezeichnete Werke darüber. Von Johann Gerson, dem Kanzler
der Pariser Universität, sagt Sixtus von Siena: „Er erörterte so vorzüg-
lich die fünfzig Eigenschaften der göttlichen Liebe, die da und dort im
Hohelied angedeutet sind, daß es scheint, nur ihm sei es vorbehalten
gewesen, die Regungen der göttlichen Liebe so genau aufzuzählen.“
Was war das doch für ein überaus gelehrter, weiser und frommer Mann!
Damit jedoch offenbar werde, daß solche Schriften eher der Frömmig-
keit Liebender, als der Wissenschaft Gelehrter entstammen, gefiel es
dem Heiligen Geist, mehrere Frauen dazu anzuregen, die dann auch
Wundervolles über die heilige Liebe schrieben. Wer vermochte es je, die
himmlischen Gluten dieser heiligen Liebe besser zu schildern, als eine
hl. Katharina von Genua, eine hl. Angela von Foligno, eine hl. Katharina
von Siena, eine hl. Mechthild?
3. Auch in unseren Tagen haben manche darüber geschrieben, doch
konnte ich ihre Schriften nicht genau durchstudieren, wiewohl ich sie so
weit durchsah, um entscheiden zu können, ob für meine Schrift noch
Raum wäre.
Vorwort 37
wissend erscheinen und nach vielen gelehrten Bemühungen müssen sie voll
Beschämung gestehen, daß sie von dem nichts verstehen, was diese heilige Frau
auf so treffende und tiefe Weise von der Übung der heiligen Liebe geschrie-
ben hat. Gott schlägt auf diese Weise den Thron seiner Macht auf dem
Schauplatz menschlicher Schwäche auf, indem er sich der Schwachen
bedient, um das Starke zu beschämen (1 Kor 1,27).
4. Diese Abhandlung, die ich dir, mein lieber Leser, vorlege, folgt
all jenen ausgezeichneten Büchern nur von ferne, ohne Hoffnung, sie je
erreichen zu können. Dennoch vertraue ich, daß die Gunst jener beiden von
Liebe entflammten Herzen, denen ich sie widme, dich einigen Nutzen daraus
schöpfen läßt. Ich hoffe, daß du darin viele gute Erwägungen finden wirst,
die dir sonst nicht so leicht begegnen, während du anderswo so manches
Schöne lesen wirst, das sich hier nicht findet.
Es scheint mir sogar, daß ich nicht dasselbe vorhabe, wie die Verfasser
dieser Schriften, abgesehen davon, daß wir alle die heilige Liebe ver-
herrlichen wollen. Aber davon wird dich das Buch selbst überzeugen. Ich
habe nur daran gedacht, einfach und schlicht, ungekünstelt und unge-
schminkt die Geschichte der Entstehung, des Fortschritts und Verfalls
der göttlichen Liebe, ihrer Werke, Eigenschaften, Vorzüge und Erhaben-
heit zu beschreiben. Wenn du hier außerdem noch anderes findest, so
sind es Ausweitungen, die beinahe unvermeidlich sind, wenn man, wie
ich, unter vielen Ablenkungen schreiben muß. Ich glaube aber, daß auch
sie von einigem Nutzen sein werden. Auch die Natur, die so weise
Werkmeisterin, läßt gleichsam aus kluger Unachtsamkeit den Weinstock
nicht nur Trauben hervorbringen, sondern mit ihnen viel überflüssiges
Blätter- und Rankenwerk. Es gibt wenige Weinstöcke, die nicht zu be-
stimmten Zeiten ausgeputzt und beschnitten werden müssen.
5. Man behandelt manchmal die Schriftsteller zu hart. Man fällt sehr
rasch ein strenges Urteil über sie und offenbart dabei selbst mehr an
Taktlosigkeit, als jene an Unklugheit, da sie ihre Schriften voreilig ver-
öffentlichten. Dieses unüberlegte Urteilen gefährdet schwer sowohl das
Gewissen der Urteilenden als auch die Unschuld der Angeklagten. Man-
che schreiben Albernheiten, andere gefallen sich wieder in plumpem Tadel.
Das freundliche Interesse des Lesers macht die Lektüre nützlich und
angenehm. Um dich daher, mein lieber Leser, günstig zu stimmen, will ich
dich über einige Punkte aufklären, die dir sonst Ärger bereiten könnten.
Einige werden vielleicht finden, ich sei zu weitschweifig und es wäre
überflüssig, den Gegenstand bis zu seiner Wurzel hin zu verfolgen. Mir
Vorwort 39
jedoch scheint die göttliche Liebe einer Pflanze vergleichbar, die wir
Angelica nennen und deren Wurzel ebenso wohlriechend und heilkräftig
ist wie ihr Stamm und ihre Blätter. Allerdings könnten die vier ersten
Bücher und auch manche andere Kapitel von jenen übergangen werden,
die nur über die Übung der heiligen Liebe belehrt werden wollen; doch
werden sie auch ihnen von Nutzen sein, wenn sie in der rechten Verfas-
sung an die Lektüre herangehen. Vielleicht hätten sich wieder andere
daran gestoßen, nicht eine vollständige Abhandlung über alles zu fin-
den, was zur himmlischen Liebe gehört.
Natürlich berücksichtigte ich die Geistesverfassung unserer Zeit. Ich
mußte es tun; es ist sehr wichtig zu wissen, in welcher Zeit man schreibt.
Bisweilen zitiere ich Worte aus der Heiligen Schrift etwas anders, als
sie sich in den gebräuchlichen Ausgaben finden. Ich bitte dich, lieber
Leser, glaube nicht, daß ich deshalb diese Ausgaben für gering achte
oder mich von ihnen entfernen wolle. Ich weiß, daß der Heilige Geist
sie durch das Konzil von Trient bestätigt hat und wir daher die Pflicht
haben, uns daran zu halten. Ich benutze daher andere Übersetzungen
nur, um die gebräuchlichen zu bestätigen und den wahren Sinn derselben
zu erhellen und zu bekräftigen. So werden z. B. die Worte des himmli-
schen Bräutigams zu seiner Braut: „Du hast mein Herz verwundet“ (Hld
4,9), durch eine andere Übersetzung, „du hast mein Herz davongetragen“,
beziehungsweise, „du hast mein Herz an dich gezogen und geraubt“
(griechische Übersetzung), besser beleuchtet. Ebenso verhält es sich z. B.
mit den Worten des Erlösers: „Selig sind die Armen im Geiste“ (Mt 5,3);
denn auch sie gewinnen an Bedeutung, wenn man daneben den grie-
chischen Text liest: „Selig sind die Bettler im Geiste.“
Die Psalmen Davids zitiere ich oft in Versen, um sie dir ansprechend
zu machen; ich hatte dabei die treffliche Übersetzung des Abtes von
Thiron, Philipp des Portes, vor mir. Manchmal wich ich jedoch auch
davon ab; nicht weil ich denke, bessere Verse schmieden zu können – das
wäre anmaßend von mir, da ich nie gedacht, derartiges zu können, und
jedenfalls in meinem Stand und Alter davon lassen müßte, wenn ich mich je
damit beschäftigt hätte. Wenn ich also anders übersetzt habe, so geschah
es, weil mir seine Übersetzung nicht richtig erschien. So übersetzt er z. B.
im 133. Psalm ein lateinisches Wort mit „Fransen am Saum eines Ge-
wandes“, das meiner Ansicht nach besser mit „Halskragen“ (Ps 133,2)
übersetzt werden soll. Ich habe also die Übersetzung gewählt, die ich für
die richtige hielt.
40 Vorwort
Ich schreibe nichts, was ich nicht von anderen gelernt hätte, jedoch
wäre es mir unmöglich, im Einzelnen anzugeben, was ich anderen ver-
danke. Doch kann ich dir versichern, lieber Leser, daß ich es mir zur
Pflicht machen würde, jedem Schriftsteller, dem ich größere und be-
deutendere Stellen entnommen hätte, die ihm gebührende Ehre zu er-
weisen. Und da möchte ich dir gleich sagen, um jeden Argwohn zu zer-
streuen, daß das 13. Kapitel des siebenten Buches aus einer Predigt
stammt, die ich im Jahre 1602 zu Paris in der Kirche St. Johann am
Gestade am Fest Mariä Himmelfahrt gehalten habe.
Den Aufbau des Buches im Einzelnen (d. h. die Aufeinanderfolge der
Kapitel) habe ich nicht ausdrücklich hervorgehoben, doch wirst du bei
einiger Aufmerksamkeit den Zusammenhang leicht entdecken. In diesen
und auch vielen anderen Belangen habe ich mich bemüht, sowohl meine
Zeit als auch deine Geduld nicht zu sehr in Anspruch zu nehmen.
Nach Drucklegung meines Buches „Anleitung zum frommen Leben“
hat der Herr Erzbischof von Vienne, Peter von Vilars, sich so gütig
über mein Buch und über mich selbst geäußert, daß ich es nicht wagen
dürfte, seinen Ausspruch zu wiederholen. Er bewog mich gleichzeitig
zur Abfassung ähnlicher Schriften und gab mir unter anderen den Rat,
die einzelnen Kapitel so kurz zu halten, als es nur immer der Gegen-
stand erlaube. „Wanderer,“ so sagte er, „lassen sich gern von ihrem Weg
ablenken, wenn sie wissen, daß ein schöner Garten nur zwanzig oder
fünfundzwanzig Schritte entfernt liegt; wäre der Garten entfernter, so
würden sie ihn wohl nicht aufsuchen. So entschließt man sich leichter,
ein Kapitel zu lesen, das nicht zu lang ist, als eines, dessen Gegenstand
zwar anziehend wäre, dessen Lesung aber zuviel Zeit beanspruchte.“
Ich hatte also recht, hier meiner eigenen Neigung zu folgen, weil dieser
große Mann auch so dachte, der einer der heiligsten Prälaten wie der
größten Theologen unserer Zeit ist, und als er mich mit seinem Schreiben
beehrte, Senior der Doktoren der Pariser Universität war.
Ein großer Diener Gottes machte mich vor einiger Zeit darauf auf-
merksam, daß viele Männer meine „Anleitung zum frommen Leben“
nicht lesen wollten, weil ich mich dort an eine „Philothea“ wende. Sie
meinten, Unterweisungen, die an Frauen gerichtet seien, paßten nicht
für Männer. Ich wunderte mich darüber, daß es Männer gibt, die so
männlich tun und dabei so unmännlich sind. Urteile selbst, mein lieber
Leser, ob die Frömmigkeit nicht Männern ebenso wertvoll ist als Frau-
en, und ob man den zweiten Brief des hl. Johannes, der an die heilige
Vorwort 41
Matrone Electa gerichtet ist, nicht mit der gleichen Ehrfurcht und Auf-
merksamkeit lesen soll wie den dritten, der sich an Gajus wendet; ferner,
ob man die tausend und abertausend Briefe und ausgezeichneten Ab-
handlungen der Kirchenväter als unnütz für Männer ansehen soll, weil sie
für heilige Frauen der damaligen Zeit verfaßt worden sind. Überdies be-
zeichne ich mit dem Namen „Philothea“ einfachhin nur die Seele, die
nach Frömmigkeit strebt. Eine Seele aber hat wohl der Mann so gut wie
die Frau.
Nichtsdestoweniger will ich hier doch dem großen Apostel nachfolgen,
der sich für einen Schüler aller hielt (Röm 1,14), und wende mich in
dieser Schrift an einen „Theotimus“. Falls aber nun wieder Frauen diese
Schrift nicht lesen wollten, weil sie an einen Mann gerichtet ist (ihnen
wäre diese Schwäche eher zu verzeihen), so bitte ich sie zu glauben,
daß der „Theotimus’’, zu dem ich spreche, der menschliche Geist ist, der
in der heiligen Liebe vorankommen will. Geist aber haben die Frauen
doch ebensogut wie die Männer.
6. Diese Abhandlung soll also bereits frommen Seelen helfen, noch
weiter voranzukommen. Ich war daher gezwungen, manches zu sagen, was
vielen noch unbekannt ist und deshalb etwas dunkel erscheinen wird.
Es ist immer etwas schwierig, einer Wissenschaft auf den Grund zu gehen.
Wieviele Taucher gibt es, die bereit und imstande sind, Perlen und kost-
bare Gesteine aus dem Meeresgrund heraufzuholen? Hast du aber fri-
schen Mut, in diese Schrift einzudringen, so wird es dir gehen wie den
Tauchern. Von ihnen berichtet Plinius (Hist.nat. 2,42), sie hätten in den
tiefsten Abgründen des Meeres deutlich das Licht der Sonne gesehen.
So wirst auch du in den schwierigsten Stellen eine liebe, freundliche
Klarheit finden.
Ich habe nicht jenen folgen wollen, die Bücher verachten, welche von
einem übererhabenen Leben der Vollkommenheit handeln. Selber wollte
ich aber von dieser Art Vollkommenheit nicht schreiben. Ich möchte we-
der die Verfasser solcher Bücher tadeln, noch den Tadlern einer Sache
beistimmen, die ich nicht verstehe.
Ich habe viele theologische Probleme berührt, aber ohne mich in Streit-
fragen einzulassen. Meine Darlegungen habe ich ganz schlicht und ein-
fach abgefaßt. Ich brachte dabei weniger das, was ich einst bei öffentli-
chen Streitreden gelernt hatte, sondern was ich in der Sorge um die Seelen
und aus meiner zwanzigjährigen Erfahrung als Prediger für das Ge-
eignetste zur Verherrlichung des Evangeliums und der Kirche hielt.
42 Vorwort
Bald darauf kam Se. Durchlaucht, der Herzog von Savoyen, in dieses
Land diesseits der Alpen. Da er die Genf benachbarten Gebiete (Chablais,
Gaillart, Ternier) halb und halb bereit fand, die katholische Religion wie-
der anzunehmen – sie war durch die Folgen des Krieges und eines Auf-
standes vor mehr als 70 Jahren verdrängt worden, – beschloß er, die
öffentliche Ausübung des katholischen Glaubens in allen Pfarrgemeinden
wieder einzuführen und die des Irrglaubens abzuschaffen. Diesem Vor-
haben standen große Hindernisse entgegen: sowohl das, was man Staatsin-
teresse nennt, als auch persönlicher Widerstand einiger in der Wahrheit
noch nicht unterrichteter Menschen. Der Herzog überwand aber diese
Schwierigkeiten mit unerschütterlicher Energie, wie mit Sanftmut und
großer Klugheit. Er versammelte die bedeutendsten und hartnäckigsten
Gegner und sprach zu ihnen mit einer so eindringlichen, zu Herzen
gehenden Freundlichkeit, daß fast alle, überwunden von der sanften
Gewalt seiner väterlichen Liebe, die Waffen ihres Widerstandes ihm zu
Füßen legten und ihre Seelen der heiligen Kirche anvertrauten.
Es sei mir gestattet, noch Folgendes kurz zu streifen. Es gäbe viele
große Taten dieses Fürsten zu loben, z. B. seine hervorragende Tapfer-
keit, wie sein militärisches Können, das soeben ganz Europa bewundert
hat. Ich selber kann mich freilich nie genug über die Wiederherstellung
der heiligen Religion in den drei Landschaften freuen, die ich oben
erwähnt habe. Ich konnte doch an dem Fürsten soviel Frömmigkeit, ver-
bunden mit soviel Klugheit, Gerechtigkeit, Großmut und Güte beobach-
ten, daß es mir vorkam, als wäre dort wie auf einem Miniaturbild
alles zu sehen gewesen, was man je an Fürsten gelobt hat, die am eifrig-
sten für die Ehre Gottes und der Kirche gearbeitet haben.
Der Schauplatz war zwar klein, die Taten jedoch groß. Und wie je-
ner Künstler des Altertums wegen seiner großen Meisterstücke nie so viel
Bewunderung erntete wie wegen eines Schiffleins, das er mit allem, was
dazu gehörte, aus Elfenbein in so kleinem Ausmaß verfertigt hatte, daß
die Flügel einer Biene das Ganze bedeckten, so achte auch ich die Taten
jenes Fürsten in dem kleinen Winkel seiner Gebiete weit höher, als viele
seiner anderen großartigen Taten, die manche Leute in den Himmel he-
ben.
Damals wurde das siegreiche Zeichen des heiligen Kreuzes auf allen
Wegen und öffentlichen Plätzen wieder errichtet. Auch in Annemasse un-
weit Genf war dies mit großer Feierlichkeit geschehen. Deshalb verfaßte
ein reformierter Prediger eine kleine Schmähschrift voll giftiger Lä-
44 Vorwort
sterungen. Man hielt es für gut, daß darauf geantwortet werde, und der
damalige Bischof von Genf, Claudius von Granier, mein Vorgänger seli-
gen Andenkens, gab mir den Auftrag dazu. Er vermochte viel über mich,
nicht nur, weil er mein Bischof war, sondern auch, weil ich in ihm
einen heiligen Diener Gottes verehrte. Ich schrieb also diese Antwort
unter dem Titel „Verteidigung der Kreuzesfahne“ und widmete sie dem
Herzog als Zeichen meiner Ergebenheit und Dankbarkeit für die Sorge,
die er der Kirche in jener Gegend zugewendet hat. Diese Schrift erlebte
vor kurzem eine Neuauflage, jedoch mit dem schwulstigen Titel „Pantalo-
gie oder der Schatz des Kreuzes“ – ein Titel, der mir nie in den Sinn
gekommen wäre, besitze ich doch weder Gelehrsamkeit noch Muße und
Gedächtnis, um so viele wertvolle Gedanken zu sammeln und in einem
Werk zusammenzufassen, das man mit Recht „Pantalogie oder Schatz“
nennen könnte. Derartige Titel sind mir überhaupt verhaßt. „Der Archi-
tekt, der den Verstand verlor, erbaute größer als das Haus das Tor.“ –
Im Jahre 1602 hielt man in Paris, wo ich damals gerade weilte, mit
großem Gepränge das Begräbnis des Fürsten Emmanuel von Lothringen, Her-
zogs von Mercoeur, der sich durch seine Heldentaten gegen die Türken in
Ungarn so sehr hervorgetan hatte, daß sein Andenken es wohl verdiente,
bei der ganzen Christenheit in Ehren zu stehen. Seine erlauchte Witwe,
Maria von Luxemburg, bot zur feierlichen Gestaltung des Begräbnisses
alles auf, was Edelsinn und Liebe ihr eingeben konnten. Da mein
Vater, Großvater und Urgroßvater als Edelknaben am Hofe ihrer
erlauchten Ahnen, der Fürsten von Martigues, erzogen worden waren,
sah sie auch mich als angestammten Diener ihres Hauses an und beauftragte
mich, die Leichenrede zu halten. Mehrere Kardinäle und Prälaten sowie
eine große Anzahl Fürsten, Fürstinnen, Marschälle von Frankreich, Or-
densritter und der ganze Parlamentshof sollten sich dazu einfinden. Ich
schrieb also jene Leichenrede und hielt sie dann vor dieser erlauchten
Versammlung in der Kathedrale von Paris. Da sie alle Heldentaten des
verstorbenen Fürsten aufzählte, willigte ich gerne ein, sie drucken zu las-
sen, verlangte es doch die fürstliche Witwe, deren Wunsch für mich Befehl
ist. Ich widmete die Schrift der Herzogin von Vendome, die damals,
obwohl noch sehr jung und unvermählt, bereits unverkennbare Anzei-
chen hoher Tugend und Frömmigkeit offenbarte, die, jetzt in ihr entfaltet,
zeigen, wie würdig sie der Abkunft und Erziehung einer so frommen,
gottesfürchtigen Mutter ist.
Vorwort 45
Während der Drucklegung dieser Leichenrede bekam ich die Nachricht, daß
ich zum Bischof ernannt worden sei. Ich kehrte daher sogleich hierher
zurück, um die Weihe zu empfangen und mein Amt anzutreten. Bald
darauf trug man mir die Notwendigkeit vor, den Beichtvätern einige wich-
tige Punkte wieder in Erinnerung zu bringen. Ich schrieb darüber 25 „Er-
mahnungen“ und ließ sie drucken, um sie leichter allen zukommen zu
lassen, an die sie gerichtet waren. Seit jener Zeit aber sind sie schon öfter
und an verschiedenen Orten nachgedruckt worden.
Drei oder vier Jahre später gab ich die „Anleitung zum frommen
Leben“ heraus. Ich habe im Vorwort dieses Buches gesagt, bei welcher
Gelegenheit es entstanden ist und zu welchem Zweck ich es geschrieben
habe. Darüber habe ich dir, lieber Leser, nichts mehr zu sagen, als daß
es im allgemeinen gut aufgenommen wurde, selbst von den bedeutend-
sten Bischöfen und Theologen. Trotzdem wurde es einer strengen Kritik
unterzogen; ich wurde nicht nur getadelt, sondern öffentlich bekämpft,
weil ich der „Philothea“ sage, daß Bälle eine an sich indifferente Sache
seien und daß man sich zur Erholung auch Späße erlauben dürfe.
Da ich nun diese Kritiker kenne, muß ich wohl annehmen, daß sie gute
Absichten dabei hatten; sie hätten aber wohl bedenken sollen, daß der
erste Satz der allgemeinen und wahren Lehre der heiligsten und ge-
lehrtesten Theologen entnommen ist und daß ich für Menschen geschrie-
ben habe, die mitten in der Welt, ja sogar am Hofe leben. Außerdem
schreibe ich ausführlich von der großen Gefahr, die das Tanzen mit sich
bringt. Was aber das Zweite betrifft, so mögen sie bedenken, daß der
Ausdruck „Späße“ nicht von mir, sondern vom heiligen, bewunderungs-
würdigen König Ludwig stammt, also von einem wohl zuverlässigen
Lehrer in der Kunst, die Hofleute zur Frömmigkeit anzuleiten. Es scheint
mir, wenn sie das alles beachtet hätten, so hätten Liebe und Takt ihrem
Eifer, mochte er noch so unerbittlich und streng sein, nie gestattet, sich
mit solcher Entrüstung gegen mich zu wenden.
8. Ich bitte dich inständig, lieber Leser, um Güte und Wohlwollen
bei der Lektüre dieser Abhandlung. Findest du den Stil dieser Schrift
verschieden von dem der „Philothea“ (der Unterschied wird jedoch nur
gering sein) und fällt es dir auf, daß beide Schriften abweichen von der Art, in
der die „Verteidigung der Kreuzesfahne“ abgefaßt ist, so bedenke, daß
man in 19 Jahren vieles lernt und verlernt, daß die Sprache des Krie-
ges anders ist als die des Friedens und daß man anders mit Anfängern als
mit alten Gefährten spricht.
46 Vorwort
In dieser Schrift spreche ich zu Seelen, die auf dem Weg der Fröm-
migkeit fortgeschritten sind.
Ich muß dir nämlich mitteilen, daß wir in der Stadt eine Genossen-
schaft von Jungfrauen und Witwen besitzen, die sich von der Welt zurück-
gezogen haben, um unter dem Schutz der Mutter Gottes ein gemeinsames,
dem Dienste Gottes geweihtes Leben zu führen. Ihre Reinheit und Fröm-
migkeit hat mir viel Trost geschenkt; so war auch ich bemüht, ihnen dafür
Freude zu bereiten, indem ich ihnen oft das Wort Gottes verkündete,
sowohl in öffentlichen Predigten als in geistlichen Unterweisungen. Es
waren dabei fast immer Ordensmänner oder andere Personen von großer
Frömmigkeit anwesend, in deren Gegenwart ich öfters schwierige Dinge
des geistlichen Lebens erörtern mußte, die weit über das in der „Philothea“
Gesagte hinausgingen.
Einen bedeutenden Teil dessen, was ich hier in diesem Buch erörtere,
verdanke ich dieser gottgesegneten Gemeinschaft. Ihre Mutter und Oberin wuß-
te, daß ich diese Schrift vorhatte, sie aber ohne besondere Hilfe Gottes nur
schwer vorwärts bringen könnte, und nur, wenn ich dazu ständig angetrie-
ben würde. So betete sie selbst für ein gutes Gelingen, ließ auch dafür
beten und bat mich immer wieder, die wenigen freien Augenblicke, die
mir im Dienste meiner Amtsgeschäfte übrig blieben, für diese Schrift zu
verwenden. Bei der Hochschätzung, die ich für diese Seele, Gott weiß es,
hege, hatte sie keine geringe Macht, mich in dieser Hinsicht zu beeinflus-
sen.
Ich hatte schon längere Zeit vor, über die Gottesliebe zu schreiben, aber was
mir damals vorschwebte, ist nicht mit dem zu vergleichen, was nun, durch
die erwähnten Umstände gefördert, zustande gekommen ist.
Ich gestehe dir das ganz aufrichtig und einfach nach Art unserer Ah-
nen, damit du wissest, daß ich nur geschrieben habe, wenn es mir gerade
die Zeit und meine Geschäfte erlaubten. So hoffe ich, daß du mir günstiger
gesinnt wirst.
Nach Ansicht der Griechen stellte Phidias nichts so meisterhaft
dar wie die Götter, und von Apelles hieß es, nichts sei ihm so gelun-
gen wie sein „Alexander der Große“. Es gelingt nicht jede Arbeit gleich
gut. Wenn diese Abhandlung nicht entspricht, so möge deine Güte, lieber
Leser, um so größer sein und Gott wird seinen Segen dazu geben.
9. Um dir diesen Segen zu erflehen, widme ich dieses Werk der Mutter,
die so innig liebte, und dem Vater, dessen Liebe so herzlich war, wie
Vorwort 47
ich meine „Anleitung“ dem göttlichen Kind als dem Erlöser der Lieben-
den und der Liebe der Erlösten gewidmet habe.
Wenn eine gesunde, kräftige Frau ein Kind zur Welt bringt, wählt sie
den Taufpaten gewöhnlich aus ihrem irdischen Freundeskreis. Wenn aber
die Geburt des Kindes wegen ihrer Schwäche oder Kränklichkeit schwie-
rig und gefährlich ist, dann ruft sie die Heiligen des Himmels an und
macht ein Gelübde, ihr Kind von irgendeinem Armen oder einer from-
men Person im Namen des hl. Josef, des hl. Franziskus von Assisi, des
hl. Franziskus von Paula, des hl. Nikolaus oder irgend eines anderen
Heiligen aus der Taufe heben zu lassen, damit alles gut gehe und das
Kind am Leben bleibe. So habe auch ich, ehe ich Bischof war und mehr
Muße und weniger Angst vor dem Schreiben hatte, meine kleinen Schrif-
ten den Fürsten dieser Erde gewidmet. Jetzt aber, da ich mit Amtsge-
schäften überlastet bin und mir das Schreiben nicht leicht fällt, widme ich
meine Bücher nur mehr den Fürsten des Himmels. Ich bitte sie, mir die
nötige Erleuchtung von Gott zu erflehen, damit, wenn es dem göttlichen
Willen gefällt, diese Schriften Frucht bringen und manchem eine Hilfe
seien.
Gott segne dich, mein lieber Leser, und mache dich reich an seiner
heiligen Liebe!
Von ganzem Herzen unterwerfe ich jederzeit meine Schriften sowie
meine Worte und Werke dem Urteil der heiligen römisch-katholischen
Kirche, wissend, daß sie die Säule und Grundfeste der Wahrheit ist (1
Tim 3,15), in der sie weder irren noch wanken kann; ferner „daß nie-
mand Gott zum Vater haben wird, der diese Kirche nicht zu seiner Mut-
ter hat“ (Augustinus zugeschr. 3. Band zum Glaubensbek.).
ERSTES BUCH
1. Kapitel
Gott hat um der Schönheit der menschlichen Natur
willen die Herrschaft über alle Fähigkeiten der
Seele dem Willen gegeben.
faltigkeit, noch Einheit, noch Ebenmaß. Deshalb sagt auch der hl. Dio-
nysius (De div. nom.4): „Gott, die höchste Schönheit, ist Urheber der
schönen Ordnung, des Glanzes und der Anmut, die überall sichtbar sind,
da sein Leuchten sich als Licht auf alle Dinge ergießt und in ihnen
aufstrahlt.“ So wird alles schön, da Gott Schönheit durch Ebenmaß,
Klarheit und Anmut schaffen wollte.
Schönheit ist wirkungslos, wertlos und tot, wenn nicht Klarheit und
Glanz sie beleben und ihr Wirkung verleihen. Deshalb nennen wir auch
Farben lebhaft, wenn sie leuchten und glänzen.
3. Beseelte, lebende Wesen werden aber nicht vollendet schön sein,
wenn ihnen Anmut fehlt. Diese fügt zum Ebenmaß der einzelnen form-
vollendeten Teile auch noch das Ebenmaß der Bewegungen, Gebärden,
und Handlungen hinzu. Und das ist gleichsam Seele und Leben in der
Schönheit lebender Wesen.
4. So sehen wir in der alles überragenden Schönheit Gottes die Einheit
der Natur in der Verschiedenheit der Personen, dazu eine unendliche
Lichtfülle, verbunden mit einem unfaßbaren Ebenmaß aller Vollkommen-
heiten in Handlungen und Bewegungen. Diese sind in erhabenster Weise
zusammengefaßt und sozusagen miteinander verbunden und aufeinander
abgestimmt in der ganz einzigen, ganz einfachen Vollkommenheit der
reinen göttlichen Wirklichkeit, die Gott selbst ist, der Unwandelbare
und Unveränderliche (wovon wir später reden werden, s. 2.Buch, 2.Kap.).
5. Da also Gott wollte, daß alles gut und schön sei, hat er die vielen
und verschiedenen Dinge zu einer vollkommenen Einheit zusammen-
gefaßt. Er hat sie sozusagen zu einem einheitlichen Reich geformt. So
sollten sie einander stützen und alle in ihm, dem allerhöchsten Herrscher,
ihren Halt haben. Alle Glieder fügt er zu einem Leib zusammen und
stellt sie unter ein Haupt. Aus mehreren Menschen bildet er eine Familie,
aus mehreren Familien eine Gemeinde, aus mehreren Gemeinden eine
Provinz, aus mehreren Provinzen ein Reich, und dieses unterstellt er
einem Herrscher.
6. So hat Gott auch in jedem Menschen eine natürliche Monarchie
errichtet. In jedem Menschen gibt es eine unermeßliche Menge und Man-
nigfaltigkeit von Handlungen, Regungen, Gefühlen, Neigungen, Gewohn-
heiten, Leidenschaften, Fähigkeiten und Kräften. Über diese alle hat Gott
den Willen als Herrscher gesetzt, der alles lenkt und leitet und allem,
was es in dieser kleinen Welt gibt, seine Befehle erteilt. Es ist, wie wenn
Gott zum Willen gesprochen hätte, wie Pharao zu Josef: „Du wirst über
52 I, 2
meinem Haus stehen, das ganze Volk wird den Befehlen deines Mundes
gehorchen, ohne dein Geheiß darf keiner sich rühren“ (Gen 41,40.44).
Diese Herrschaft übt aber der Wille in sehr verschiedener Weise aus.
2. Kapitel
Der Wille herrscht über die Kräf
Wille te der Seele auf verschiedene W
Kräfte eise.
Weise.
1. Der Hausvater führt Frau, Kinder und Diener durch seine Weisun-
gen und Befehle, denen zu gehorchen sie verpflichtet sind, obgleich sie
auch ungehorsam sein können. Hat er Leibeigene und Sklaven, so
herrscht er über sie durch seine Macht, der sie keinen Widerstand zu lei-
sten vermögen. Seine Pferde, Ochsen und Maultiere aber lenkt er durch
bestimmte Mittel, er bindet sie an, zügelt sie, gibt ihnen die Sporen,
sperrt sie ein, läßt sie frei ...
So herrscht der Wille über die Fähigkeit, uns zu bewegen, wie über
einen Leibeigenen oder Sklaven. Sie gehorcht immer, außer sie wäre von
außen her behindert. Wir öffnen und schließen den Mund, bewegen die
Zunge, die Hände, Füße, Augen und alles, was wir bewegen können,
wie wir wünschen und wollen, ohne Widerstand zu finden.
2. Über unsere Sinne aber, und die Fähigkeit, uns zu nähren, zu
wachsen und uns fortzupflanzen, können wir nicht so leicht herrschen.
Es ist nur möglich, wenn wir bestimmte Mittel und Kunstgriffe anwen-
den.
Ruft man einen Sklaven, so kommt er; sagt man ihm, er solle stehen
bleiben, so steht er. Einen solchen Gehorsam kann man aber nicht von
einem Sperber oder Falken erwarten. Will man, daß er zurückfliege,
so muß man ihm die Lockspeise zeigen; will man ihn beruhigen, so muß
man ihm die Haube aufsetzen. – Man sagt dem Knecht: Geh nach rechts
oder nach links, und er tut es; um aber ein Pferd dazu zu bewegen,
muß man die Zügel gebrauchen.
So können wir auch den Augen nicht das Sehen verbieten, noch den
Ohren das Hören, noch den Händen das Fühlen, noch dem Magen die
Verdauung, noch dem Leib das Wachsen und das Gebären. Alle diese
Fähigkeiten haben keinen Verstand und können daher nicht gehorchen.
Niemand kann seiner Größe auch nur eine Elle hinzufügen (Mt 6,27).
Rahel wollte Kinder haben, es war ihr aber versagt (Gen 30,1). Wir essen
oft, ohne daß es uns wirklich nährt und ohne daß wir zunehmen.
I, 2 53
Wer diese Fähigkeiten beherrschen will, muß die richtigen Mittel an-
wenden. Wenn der Arzt einen Säugling behandelt, erteilt er ihm keine
Befehle, sondern sagt der Mutter oder der Amme, was sie mit ihm tun
sollen, oder heißt sie selbst das oder jenes essen, diese oder jene Arznei
einnehmen. Die in der Nahrung oder Arznei enthaltenen Stoffe gehen
dann in die Milch über und durch die Milch in den Leib des kranken
Säuglings, der so dem Willen des Arztes folgt, ohne auch nur daran
denken zu können.
Es hat keinen Sinn, dem Magen, dem Gaumen, dem Schoß Enthalt-
samkeit, Nüchternheit und Zurückhaltung zu predigen. Man muß viel-
mehr den Händen befehlen, daß sie dem Mund Nahrung und Trunk nur
maßvoll zuführen; man muß der Zeugungskraft Gegenstände, Gelegen-
heiten und Nährstoffe entziehen oder zuführen, je nach dem Gebot der
Vernunft; man muß die Augen abwenden oder schließen, will man, daß
sie nicht sehen. Mit diesen Mitteln wird man das erreichen, was der
Wille verlangt.
So, Theotimus, lehrt der Herr, daß es Ehelose gibt, die es um des
Himmelreiches willen sind (Mt 19,12). Sie sind es nicht aus einer natür-
lichen Unfähigkeit heraus, sondern weil der Wille Mittel gebraucht, die
ihm helfen, enthaltsam zu bleiben.
Es ist unsinnig, dem Pferd zu befehlen, daß es nicht fett werden, nicht
wachsen, nicht ausschlagen dürfe. Wenn du das haben willst, dann gib
ihm weniger Futter. Es hat keinen Sinn, ihm Befehle zu geben; du mußt
es zügeln, willst du es zahm haben.
3. Der Wille hat sogar über Verstand und Gedächtnis eine gewisse
Macht. Es gibt Verschiedenes, was der Verstand untersuchen, dessen
das Gedächtnis sich erinnern kann. Der Wille kann nun bestimmen,
welchen Gegenständen diese Fähigkeiten sich zuwenden und von welchen
sie sich abwenden sollen.
Es ist wohl wahr, daß der Wille mit diesen Fähigkeiten nicht so un-
umschränkt schalten und walten kann wie mit Händen, Füßen oder
Zunge. Gedächtnis und Verstand bedürfen ja der sinnenhaften Fähigkei-
ten und besonders der Einbildungskraft, um tätig zu sein; diese aber
gehorchen nicht so rasch und unfehlbar dem Willen. – Trotzdem setzt der
Wille Gedächtnis und Verstand in Bewegung, gebraucht und verwendet
sie, wie es ihm gefällt. Allerdings gelingt ihm dies nicht unbedingt und
unfehlbar. Die unbeständige und flatterhafte Einbildungskraft lenkt
zuweilen Gedächtnis und Verstand ab und treibt sie anderswohin.
54 I, 3
Der Apostel ruft daher aus: „Ich tue nicht das Gute, das ich will, son-
dern das Böse, das ich hasse’’ (Röm 7,15). Auch wir müssen es oft bekla-
gen, daß wir nicht an das Gute denken, das wir lieben, sondern an das
Böse, das wir hassen.
3. Kapitel
Die Herrschaf
Herrschaftt des W illens über das sinnenhaf
Willens te Begehren.
sinnenhafte
fe zurück und hindert sie daran, etwas zu erreichen. Zum mindesten versagt
er ihnen kraftvoll seine Zustimmung; ohne diese können sie ihm nicht
schaden; wird sie verweigert, so werden sie besiegt, ja mit der Zeit ge-
schwächt, entkräftet, lahmgelegt, unterdrückt und, wenn auch nie ganz
tot, so doch gedämpft und abgetötet.
3. Diese Vielzahl von Leidenschaften verbleibt in unserer Seele, Theo-
timus, um unseren Willen in der Tugend und geistlichen Tapferkeit zu
üben. Die Stoiker leugneten, daß der Weise von ihnen befallen würde;
sie täuschten sich aber schwer, um so mehr als sie das, was sie in Reden
verneinten, durch ihre Taten bestätigten.
Augustinus (St.G. 9,4) erzählt darüber eine hübsche Geschichte. Aulus
Gellius hatte sich mit einem berühmten Stoiker eingeschifft. Da erhob
sich ein gewaltiger Sturm und der Stoiker wurde in seinem Schrecken
aschfahl und leichenblaß und begann heftig zu zittern, so daß alle auf
dem Schiff es sahen und interessiert betrachteten, obwohl sie in gleicher
Gefahr waren. Als schließlich das Meer wieder besänftigt und die Gefahr
vorüber war und man wieder beruhigt frei zu plaudern und zu scher-
zen begann, machte sich ein asiatischer Lebemann an den Stoiker heran
und warf ihm spöttisch vor, daß er doch auch vor Angst in der Gefahr
ganz bleich geworden war, während er selbst furchtlos und ruhig geblie-
ben sei. Darauf antwortet ihm der Stoiker mit der treffenden Erwi-
derung des Aristippus, eines Philosophen aus der Schule des Sokrates,
dem man das Gleiche vorgeworfen hatte: „Du hast recht gehabt, dich
nicht um das Leben eines schlechten Wirrkopfes zu sorgen; ich aber hätte
wohl nicht recht gehandelt, hätte ich nicht um den Verlust der Seele des
Aristippus gebangt.“
Das Schöne an der Geschichte ist, daß Aulus Gellius sie als Augenzeu-
ge erzählt. Freilich, was die Antwort selbst betrifft, so zeigt sie wohl
eher die Schlagfertigkeit des Stoikers als die Richtigkeit seiner Auffas-
sung. Da er noch einen Genossen seiner Angst anführt, beweist er mit
zwei untadeligen Zeugen, daß die Stoiker auch von Furcht ergriffen wa-
ren, und zwar von einer Furcht, die ihren Stempel den Augen, dem Ge-
sicht und der ganzen Haltung aufgedrückt hatte, also doch eine Lei-
denschaft war.
4. Wie verrückt ist es doch, weise sein zu wollen nach einer un-
möglichen Weisheit. Die Kirche hat den Wahnsinn dieser Weisheit ver-
urteilt, die seinerzeit eingebildete Einsiedler verbreiten wollten und gegen
die die ganze Heilige Schrift und besonders der große Apostel ausruft,
I, 4 57
daß wir „ein Gesetz“ in unserem Leib haben, „das dem Gesetz des Geis-
tes widerspricht“ (Röm 7,23).
„Unter uns Christen,“ sagt der große hl. Augustinus (St.G. 14,9),
„steht es nach den Heiligen Schriften und nach der gesunden Lehre fest,
daß die Bürger der heiligen Stadt Gottes sich fürchten, wünschen, trauern
und sich freuen.“ Ja sogar der erhabene König dieser Stadt hat sich
gefürchtet, hat Wünsche gehegt, hat sich gefreut, hat gelitten, und so
schwer gelitten, daß er weinte, erblaßte, zitterte und Blut schwitzte.
Diese Regungen waren allerdings in ihm nicht Leidenschaften gleich den
unseren; deshalb wagen auch Hieronymus (zu Mt 5,28 und 26,37) und
nach ihm die Theologen sie aus Ehrfurcht vor dem, der sie erlitt, nicht
mit dem Namen „Leidenschaften“ (passiones) zu bezeichnen, sondern ge-
ben ihnen den ehrfurchtsvollen Namen „propassiones“. Sie wollten damit
sagen, daß diese fühlbaren Regungen des Herrn, obwohl keine wirklichen
Leidenschaften, ihn doch an ihrer statt bewegten. Er erlitt sie ja nur, so
weit es ihm gut schien und wie es ihm gut schien, er hatte sie in seiner
Hand und beherrschte sie nach Belieben, was wir Sünder nicht tun.
Bei uns entstehen nämlich diese Regungen gegen unseren Willen. Wir
erleiden und erdulden sie. Bei uns sind sie ungeregelt und fügen der
Gesundheit und Ordnung unserer Seele oft großen Schaden zu.
4. Kapitel
Die Liebe beherrscht alle Affekte und Leidenschaften
und sogar den Willen, obwohl der Wille auch Gewalt über sie hat.
1. Durch die Liebe finden wir zunächst Gefallen an etwas Gutem, wie wir
später noch sehen werden; daher geht die Liebe gewiß auch dem Wunsch
voraus. Was wünscht man sich denn tatsächlich, als das, was man lieb
hat? Die Liebe geht auch der Freude voraus; denn wie könnte man am
Genuß einer Sache Freude haben, wenn man sie nicht liebte? Sie geht der
Hoffnung voraus; denn man erhofft sich nur das Gute, das man liebt. Sie
geht dem Haß voraus, denn wir hassen das Schlechte nur, weil wir das Gute
lieben; das Schlechte ist ja auch nur schlecht, weil es dem Guten entge-
gengesetzt ist.
Das Gleiche, Theotimus, ist von allen Leidenschaften und Affekten zu
sagen, denn sie alle kommen aus der Liebe, ihrer Quelle und Wurzel.
Daher sind die anderen Leidenschaften und Affekte gut oder schlecht,
lasterhaft oder tugendhaft, je nachdem die Liebe, aus der sie stammen,
58 I, 4
gut oder schlecht ist; sie prägt ihnen ihre Eigenheiten so stark auf, daß sie
nichts anderes als diese Liebe selbst zu sein scheinen.
2. St. Augustinus (St. G. 14,7 u. 9) führt alle Leidenschaften und
Affekte auf vier zurück, wie Boethius (De consol. 1,7), Cicero (Tusc.
Disp. 3,11; 4,6), Virgil (Aen. 6,733) und die meisten antiken Den-
ker. „Wenn die Liebe,“ so sagt er, „zum Besitz dessen hinstrebt, was sie
liebt, heißt sie Begierde oder Wunsch; hat sie es in ihrem Besitz, so
heißt sie Freude, flieht sie das, was ihr entgegengesetzt ist, so heißt
sie Furcht, stößt ihr aber dieses von ihr Befürchtete zu und fühlt sie es,
so heißt sie Traurigkeit. Daher sind diese Leidenschaften schlecht, wenn
die Liebe schlecht ist, aber gut, wenn die Liebe gut ist.“
„Die Bürger der Stadt Gottes,“ sagt er weiter, „fürchten, wünschen,
trauern, freuen sich – und weil ihre Liebe in Ordnung ist, so sind es
auch ihre Leidenschaften.“ „Die christliche Lehre unterwirft den Geist
unserem Gott, damit er ihn führe und ihm helfe. Sie unterwirft dem
Geist alle diese Leidenschaften, damit er sie zügle und mäßige und sie
so der Gerechtigkeit und der Tugend dienen“ (St.G. 9,5). „Gerader Wille
ist gute Liebe, schlechter Wille ist schlechte Liebe“ (ebd 9,7), das heißt
mit einem Wort, Theotimus, die Liebe beherrscht den Willen so stark,
daß sie ihn zu dem macht, was sie selbst ist.
Die Frau nimmt gewöhnlich den Stand ihres Mannes an. Ist er von
Adel, so wird sie es auch; ist er König, so wird sie Königin; ist er
Herzog, so wird sie Herzogin. Umgekehrt ist es beim Willen: er nimmt
die Eigenschaften der Liebe an, die er sich vermählt.1 Ist diese Liebe
fleischlich, so wird er es auch; ist sie geistig, so wird auch er geistig. Und
da alle Affekte des Verlangens, der Freude, Hoffnung, Furcht und Trau-
rigkeit gleichsam Kinder aus dieser Ehe sind, so empfangen sie folglich
ihre Eigenschaften von der Liebe. Mit einem Wort, Theotimus, der Wille
wird nur von seinen Affekten bewegt, unter denen die Liebe als erste
Triebfeder und als erster Affekt alles andere in Bewegung setzt und
Ursache aller Regungen der Seele ist.
4. Aus all dem folgt aber nicht, daß der Wille nicht mehr über
die Liebe herrscht. Denn der Wille liebt nur, wenn er lieben will, und unter
verschiedenen Arten von Liebe, die sich ihm anbieten, kann er nach Be-
lieben wählen; sonst gäbe es weder eine verbotene, noch eine gebotene
Liebe.
So ist der Wille Herr über die Liebe, wie es einem Mädchen freisteht,
sich unter jenen, die sie umwerben, den zu wählen, der ihr am besten
gefällt. Das Mädchen verliert durch die Trauung seine Freiheit, gibt seine
Selbständigkeit auf, wird dem Manne untertan, den sie gewählt hat, und
so Gefangene dessen, den sie gefangen hat. So wird auch der Wille, der
sich seine Liebe frei gewählt hat, dieser untertan, sobald er sich für sie
entschieden hat.
Die Frau bleibt dem Manne, den sie erkoren, untertan, solange er lebt;
stirbt er, so gewinnt sie ihre frühere Freiheit wieder (1 Kor 7,39) und
kann einen anderen Mann heiraten. So herrscht auch eine Liebe im Wil-
len, solange sie noch in ihm lebt, und der Wille bleibt ihren Regungen
unterworfen. Stirbt aber die Liebe, so kann der Wille eine andere Liebe
wählen.
Aber eine Freiheit besitzt der Wille, die die verheiratete Frau nicht hat.
Er kann sich der Liebe entledigen, wann er will. Er braucht nur seinen
Verstand auf Beweggründe zu lenken, die ihm die Liebe verekeln, und sich
für einen anderen Gegenstand seiner Liebe entschließen.
5. So müssen wir die Eigenliebe niederringen, soll die Liebe zu Gott
in uns leben und herrschen. Können wir sie nicht ganz vernichten, so
schwächen wir sie doch; sie wird dann, wenn sie auch noch weiterlebt,
doch nicht unsere Herrin sein. Wir können aber auch umgekehrt die
heilige Liebe fallen lassen und uns den Geschöpfen ganz zuwenden –
und das ist dieser schändliche Ehebruch, den der göttliche Bräutigam
so oft den Sündern vorwirft.
5. Kapitel
Die Willensregungen.
1. Im geistigen und verstandesmäßigen Begehren, das wir Wille nen-
nen, gibt es nicht weniger Regungen als im sinnenhaften oder sinnlichen.
Jene nennt man aber gewöhnlich Affekte, diese Leidenschaften.
Philosophen und Heiden haben auf irgendeine Weise Gott, Vaterland,
Tugend und Wissenschaft geliebt, Laster gehaßt, Ehren erhofft, waren
60 I, 5
darüber verzweifelt, daß sie dem Tod und der Verleumdung nicht entge-
hen konnten, haben Wissen und Seligkeit nach dem Tod begehrt. Sie
haben Mut gefaßt, um Schwierigkeiten zu überwinden, die das Tugend-
streben mit sich bringt, sie haben den Tadel gefürchtet, größere Fehler
zu meiden und öffentliches Unrecht zu rächen gesucht, waren gegen
Tyrannen ohne eigennützige Absichten empört.
Alle diese Regungen haben aber ihren Sitz in der Vernunft, da die
Sinne und daher auch das sinnliche Begehren unfähig sind, sich diesen
Gegenständen zuzuwenden. Sie waren also Regungen des geistigen und
verstandesmäßigen Verlangens und nicht Leidenschaften des sinnlichen
Begehrens.
2. Wie oft haben wir Leidenschaften im sinnlichen Begehren, in der
Begierlichkeit, die entgegengesetzt sind den Regungen, die wir zu glei-
cher Zeit im vernünftigen Begehren, im Willen fühlen.
St. Hieronymus erzählt von einem jungen Mann, der seine eigene Zun-
ge abbiß und dem schlechten Weibe, das ihn verführen wollte, ins Gesicht
spie. Offenbarte dieser nicht damit den äußersten Abscheu seines Willens, wäh-
rend er zu gleicher Zeit gezwungenerweise im sinnlichen Begehren Wol-
lust empfinden mußte?
Wie oft zittern wir vor Angst in den Schwierigkeiten, in die uns der
Wille hineinführt und verbleiben heißt! Wie oft hassen wir die Lust,
in der unser sinnliches Begehren sich gefällt, da wir doch die geistlichen
Güter lieben, die ihm mißfallen!
Darin besteht ja der Krieg zwischen Geist und Fleisch, den wir Tag
für Tag fühlen müssen, zwischen unserem äußeren Menschen, der von
den Sinnen, und unserem inneren Menschen, der von der Vernunft ab-
hängt, zwischen dem alten Adam, der dem Begehren seiner Eva, seiner
Begierlichkeit nachgibt, und dem neuen Adam, der der himmlischen Weis-
heit und der geheiligten Vernunft folgt.
3. Die Stoiker leugneten nach St. Augustinus (St.G. 14,8) wohl, daß der
Weise Leidenschaften haben könne, sie gaben aber anscheinend zu, daß er
Empfindungen habe, die sie „Eupathien“, d. h. gute Leidenschaften, oder
nach Cicero „Beständigkeiten“ nannten. Sie sagten, der Weise begehre nicht,
sondern er wolle, er juble nicht, sondern er freue sich; er fürchte sich
nicht, sondern sei vorsichtig und fürsorglich, so daß er nur für Vernünfti-
ges und auch nur vernünftigerweise bewegt werde.
I, 5 61
Deshalb leugneten sie besonders, daß der Weise je traurig sein könne;
traurig sei man ja nur über ein zugestoßenes Übel; dem Weisen stoße
aber kein Übel zu, er könne sich nur selber Schaden zufügen.
Sie waren gewiß im Recht, wenn sie in der menschlichen Vernunft
„Eupathien“, gute Empfindungen, feststellten; ihr Unrecht war, zu sa-
gen, daß es im sinnlichen Begehren keine Leidenschaften gebe und
daß Traurigkeit das Herz des Weisen nicht berühre. Davon abgesehen,
daß sie doch sich selber davon verwirren ließen, wie oben (Kap.3) gezeigt
wurde, ist es denn möglich, daß die Weisheit uns der Barmherzigkeit
beraube, dieser tugendhaften Traurigkeit des Herzens, die uns antreibt
den Mitmenschen von einem Übel zu befreien, das er erduldet? Daher
nahm auch Epiktet, der anständigste Mensch unter den Heiden, diesen
Irrtum nicht an, wie St. Augustinus (St.G. 9,4 u. 5) bezeugt, der auch
darlegt, daß der Gegensatz der Stoiker zu den anderen Philosophen in
dieser Frage kein bloßes Wortgefecht war.
4. Diese Affekte aber, deren Sitz die vernunftbegabte Seele ist, sind
mehr oder minder edel und geistig je nach der Erhabenheit ihres Gegen-
standes und der mehr oder minder hohen Geistesstufe, von der sie kom-
men.
Manche Affekte entspringen Gedankengängen, die aus der Erfahrung
der Sinne kommen. Bei anderen sind Gedanken maßgebend, die aus
menschlichem Wissen stammen, bei anderen sind Glaubensgedanken
entscheidend. Endlich gibt es solche, deren Ursprung in der einfachen
und innigen Hingabe der Seele an die Wahrheit und an den Willen Got-
tes liegt.
Die ersten heißen natürliche Affekte; denn wer wünscht sich nicht na-
türlicherweise, gesund zu sein, das Notwendigste an Kleidung und Nah-
rung zu haben, sich eines freundlichen und angenehmen Umganges zu
erfreuen?
Die zweiten nennt man verstandesmäßige Affekte; sie beruhen ja voll-
ständig auf dem geistigen Verstandeswissen, durch das unser Wille ange-
trieben wird, Herzensruhe, sittliche Tugenden, wahre Ehre, philosophi-
sche Schau ewiger Werte anzustreben.
Die dritte Art von Affekten heißen christliche; sie haben ihren Ur-
sprung in Erwägungen, die der Lehre unseres Herrn entstammen, und
lassen uns freiwillige Armut, vollkommene Keuschheit, die Paradieses-
herrlichkeit lieben.
62 I, 6
Die Affekte der höchsten Stufe nennt man göttliche und übernatürliche;
denn Gott selbst legt sie uns in den Geist und sie beziehen sich auf Gott
und zielen auf ihn hin, ohne Zutun irgendwelcher Erwägungen oder irgend-
eines natürlichen Lichtes. Was wir später (Kap.12) über die Hingabe und
die Empfindungen sagen werden, die im Heiligsten der Seele entstehen,
wird uns dies verständlich machen.
Solcher übernatürlicher Affekte gibt es besonders drei: die Liebe des
Geistes zu den Schönheiten der Glaubensgeheimnisse, die Liebe zu den
wertvollen Gütern, die uns im anderen Leben verheißen sind, und die
Liebe zur hocherhabenen Güte der allheiligen und ewigen Gottheit.
6. Kapitel
Vorherrschaf
orherrschaftt der Gottesliebe über jede andere Liebe.
3. Isaak, Jakob und Josef waren Kinder der Gnade; denn ihre Mütter
Sara, Rebekka und Rahel, unfruchtbar von Natur, empfingen sie durch
die Huld himmlischer Güte, weshalb sie auch zu Herren ihrer Brüder
bestellt wurden. So ward auch die heilige Liebe durch ein Wunder gebo-
ren, da der menschliche Wille sie nicht empfangen kann, wenn nicht der
Heilige Geist sie in unsere Herzen eingießt. Als übernatürliche Liebe
muß sie aber den Vorrang und die Herrschaft über jede Liebe, ja sogar über
den Verstand und den Willen haben.
Es gibt wohl noch andere übernatürliche Regungen in der Seele, wie
Furcht, Frömmigkeit, Stärke, Hoffnung. Es wurden ja auch Esau und
Benjamin von Rahel und Rebekka übernatürlicherweise empfangen. Die
göttliche Liebe ist aber Herrin, Erbin und Gebieterin, da sie ein Kind der
Verheißung ist: wurde doch der Himmel den Menschen um ihretwillen
verheißen (Gal 4,28).
Das Heil ist dem Glauben gezeigt, der Hoffnung bereitet, aber nur der
Liebe geschenkt. Der Glaube zeigt den Weg zum verheißenen Land wie ei-
ne Wolken und Feuersäule, das heißt im Hell-Dunkel, die Hoffnung
nährt uns mit köstlichem Manna, aber die Liebe führt uns hinein. Der
Bundeslade gleich sichert sie den Durchgang durch den Jordan, das heißt
durch das Gericht. Sie wird inmitten des Volkes in den himmlischen
Gefilden verbleiben, die den wahren Israeliten versprochen sind, wo nicht
mehr die Wolkensäule des Glaubens Führerin ist und das Manna der
Hoffnung nicht mehr die Seele nährt.
4. Die heilige Liebe hat ihren Sitz in der höchsten und erhabensten
Zone des Geistes, wo sie ihre Lob- und Brandopfer der Gottheit dar-
bringt, wie einst Abraham das seine (Gen 22,2) und wie der Herr auf der
Höhe des Kalvaria sich selbst als Opfer darbrachte. An solch erhabener
Stätte thront die Liebe, damit ihr Volk ihr Gehör und Gehorsam schen-
ke; ihr Volk, das heißt alle seelischen Fähigkeiten und Affekte, über die sie
mit unvergleichlicher Milde herrscht. Denn die Liebe hält keine Sträflinge
und keine Sklaven, sondern stellt alles unter ihren Gehorsam mit einer
so bezaubernden Kraft, daß zwar nichts so stark ist wie die Liebe, aber
auch nichts so liebenswert wie ihre Kraft.
Die Tugenden sind in der Seele, um ihre Regungen zu ordnen; die
Liebe aber, als erste aller Tugenden, leitet und regelt sie alle, nicht nur
weil „das erste in jeder Art von Dingen Regel und Maß für alles übrige
ist“ (Aristoteles, Physik 4,14), sondern auch weil Gott, der den Menschen
nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen hat, es so will, daß im Men-
64 I, 7
schen wie in ihm selbst alles durch die Liebe und auf die Liebe hin geord-
net sei.
7. Kapitel
Allgemeine Beschreibung der Liebe.
1. So wesentlich ist der Wille auf das Gute ausgerichtet, daß er sich ihm
sofort zuwendet, sobald er seiner gewahr wird, um sein Wohlgefallen an
ihm zu finden, das ja sein ihn stets befriedigender Gegenstand ist. Er ist
mit ihm so innig verwandt, daß man sogar sein Wesen nur durch diese
Bezogenheit auf das Gute erklären kann, wie man auch das Wesen des
Guten nur erklären kann durch seine Verbundenheit mit dem Willen.
Ich bitte dich, Theotimus: Was ist denn das Gute? Doch das, was jeder-
mann will. Und was ist der Wille anderes als die Fähigkeit, die zu dem
Guten, oder was man für gut hält, hindrängt und hinstreben läßt?
2. Wenn also der Wille durch die Vermittlung des Verstandes, der ihm
das Gute zeigt, dessen gewahr und bewußt wird, fühlt er sofort Freude
und Gefallen an dieser Begegnung. Und dies erregt ihn und zieht ihn,
lieblich aber mächtig, zu diesem liebenswerten Gegenstand hin, um sich
mit ihm zu vereinigen, und läßt ihn alle dafür geeigneten Mittel suchen,
um diese Vereinigung zu vollziehen.
Der Wille hat also eine sehr innige Beziehung zum Guten. Dieser
Beziehung zum Guten entspringt das Wohlgefallen, das der Wille emp-
findet, wenn er das Gute spürt und es schaut. Weil es ihm gefällt, wird
der Wille zum Guten hin bewegt und gedrängt.
Dieses Bewegtsein des Willens zielt darauf hin, sich mit dem Guten zu
vereinigen.
Schließlich sucht der jetzt in Bewegung gekommene und zur Vereini-
gung hinstrebende Wille alle geeigneten Mittel, um diese Vereinigung
zu erreichen. Das alles umfaßt gewiß die Liebe. Sie ist wie ein schöner Baum,
dessen Wurzel die Bezogenheit des Willens auf das Gute ist, dessen Fuß das
Wohlgefallen am Guten, der Stamm die Bewegung zum Guten hin, die
Äste all das Streben, Suchen, Bemühen hinzugelangen, die Frucht aber
die Vereinigung mit ihm und sein beglückender Besitz.
So scheint die Liebe aus diesen fünf Wesenselementen zu bestehen,
die aber wieder viele andere kleine Einzelheiten einschließen, wie wir
noch sehen werden.
3. Nehmen wir zum Vergleich das Verhalten des Eisens zum Magnet,
das man als unbewußte Liebe bezeichnen könnte. Es ist ein gutes Bild
I, 7 65
der fühlbaren und bewußten Liebe, von der wir sprechen. Das Eisen hat eine
so innige Beziehung zum Magnet, daß es sich ihm zuwendet, sobald es seine
Kraft verspürt. Es regt sich, rührt sich in leisen Zuckungen, wie wenn es
Gefallen am Magnet fände, bewegt sich zum Magnet hin, strebt ihm zu
und scheint alle Mittel anwenden zu wollen, um sich mit ihm zu vereini-
gen.
Sehen wir nicht an diesem leblosen Wesen alle Einzelheiten einer le-
bendigen Liebe schön dargestellt?
Liebe ist doch, Theotimus, eigentlich Wohlgefallen am liebenswerten
Wesen und Bewegung oder Überströmen des Willens zu ihm hin.
Wohlgefallen ist aber erst der Anfang der Liebe. Das Bewegtsein
oder das Hinströmen des Herzens, das sich aus dem Wohlgefallen ergibt, ist
die wahre, wesenhafte Liebe. Das eine wie das andere kann man Lie-
be nennen, aber in verschiedenem Sinn.
Wie man die Morgendämmerung Tag nennen kann, so kann man auch
das erste Wohlgefallen des Herzens am geliebten Wesen als Liebe be-
zeichnen, weil es ja dessen erste Regung ist. Wie man aber eigentlich
unter Tag nur die Zeit vom Ende der Morgendämmerung an bis zum
Sonnenuntergang versteht, so ist auch das eigentliche Wesen der Liebe
das Bewegtsein und Überströmen des Herzens, das dem Wohlgefallen
sofort folgt und in der Vereinigung zur Vollendung kommt.
Mit einem Wort, das Wohlgefallen am Guten ist der erste Aufbruch,
die erste Regung, die das Gute im Willen hervorruft. Ihm folgt auf dem
Fuß das Sichhinbewegen, das Hinströmen des Willens, wodurch dieser vor-
wärtsstrebt und sich dem geliebten Wesen nähert – und das ist die wahre
und eigentliche Liebe.
Sagen wir es so: Dadurch, daß es gefällt, ergreift das Gute das Herz,
packt und fesselt es; durch die Liebe aber zieht es das Herz an, reißt es
an sich und vereinigt es mit sich. Dadurch, daß es gefällt, lockt es das
Herz an, aus sich herauszutreten, durch die Liebe treibt es aber das Herz
an, den Weg zu gehen, die Reise zu unternehmen. Wohlgefallen ist das
Erwachen des Herzens, Liebe ist seine Tat; Wohlgefallen bestimmt es, sich
zu erheben, Liebe, vorwärtszustreben. Das Herz spannt im Wohlgefallen seine
Flügel zum Flug aus, Liebe aber ist sein Flug. Liebe ist also, klar und
eindeutig gesagt, Bewegung, Überströmen, Hinstreben des Herzens zum
Guten.
4. Mehrere große Theologen haben gemeint, daß Liebe nichts anderes sei
als Wohlgefallen. Es scheint viel dafür zu sprechen. Tatsächlich hat die
66 I, 7
Liebesregung ihren Ursprung im Wohlgefallen, das das Herz bei der ersten
Begegnung mit dem Guten empfindet. Sie läuft schließlich in einem zwei-
ten Wohlgefallen aus, das das Herz in der Vereinigung mit dem gelieb-
ten Wesen findet. Außerdem verdankt sie ihre Fortdauer dem Wohlgefal-
len, ohne das sie nicht sein kann, das ihr Mutter und Amme ist, so daß die
Liebe zugrundegeht, wenn das Wohlgefallen aufhört.
Wie die Biene im Honig geboren wird, sich vom Honig ernährt und
nur des Honigs wegen ausfliegt, so entsteht die Liebe aus dem Wohl-
gefallen, erhält sich durch das Wohlgefallen und strebt zum Wohl-
gefallen hin. Die Schwerkraft setzt Gegenstände in Bewegung, bewegt
sie vorwärts und hält sie wieder auf; die Schwerkraft gibt dem Stein den
Antrieb, in die Tiefe zu fallen, sobald das Hindernis weg ist; dieselbe
Schwerkraft ist Ursache, daß er immer tiefer fällt, und wieder ist es
die Schwerkraft, die ihn zum Stehen und zur Ruhe bringt, sobald er an
seinem Ort angekommen ist.
So ist es auch mit dem Wohlgefallen; es setzt den Willen in Bewegung,
es treibt ihn weiter an und läßt ihn seine Ruhe im geliebten Wesen
finden, wenn er mit ihm vereinigt ist. Da also diese Liebesregung so
vom Wohlgefallen abhängt, sowohl in ihrem Ursprung wie in ihrer
Fortdauer und Vollendung, und immer und untrennbar mit ihm ver-
bunden ist, so ist es nicht zu verwundern, wenn diese großen Den-
ker Liebe und Wohlgefallen für dasselbe hielten.
5. Trotzdem ist in Wahrheit zu sagen, daß die Liebe als wirkliche
Leidenschaft der Seele nicht bloß einfaches Wohlgefallen sein kann, son-
dern in der Willensregung bestehen muß, die ihm entspringt.
Diese Liebesregung aber, vom Wohlgefallen verursacht, dauert fort bis
zur Vereinigung und zum frohen Besitz.
Handelt es sich daher um ein gegenwärtiges Gut, so drängt die Lie-
besregung das Herz zum geliebten Wesen hin, so daß es sich ihm an-
schmiegt, sich mit ihm aufs innigste verbindet und vereinigt und so sich
seines Besitzes erfreut. Man nennt sie dann „Liebe des Wohlgefallens“,
denn kaum ist sie aus dem ersten Wohlgefallen geboren, ist sie schon
im zweiten Wohlgefallen vollendet, das ihr durch die Vereinigung mit
dem gegenwärtigen geliebten Wesen geschenkt wird.
Zuweilen ist aber das Gute, zu dem das Herz hinstrebt, hinneigt und
von dem es angezogen wird, entfernt, abwesend, oder es liegt in der Zu-
kunft, oder die Vereinigung kann nicht so vollkommen sein, wie man
es wünscht. Dann wird die Liebesregung, mit der das Herz diesem abwe-
I, 7 67
senden Gegenstand zustrebt, sich ihm nähert und nach ihm sich sehnt,
eigentlich „Verlangen“ genannt. Verlangen ist nichts anderes als Sehn-
sucht, Begehren, Streben nach etwas, das wir nicht haben, aber dessen
Besitz wir uns wünschen.
6. Es gibt auch noch gewisse Liebesregungen zu Dingen, die wir kei-
neswegs erwarten und anstreben, so wenn wir sagen: Wäre ich doch
schon im Himmel! Oder wäre ich doch ein König! Oder könnte ich doch
jünger sein! Hätte ich doch nie gesündigt, und ähnliches. Das sind
wohl auch Wünsche, aber unvollkommene; man könnte sie Halbwünsche
nennen. Tatsächlich drückt man sie nicht so aus wie wirkliche Wünsche.
Wenn wir wirklich etwas wünschen, sagen wir: „Ich wünsche es,’’ aber bei
so unvollkommenen Wünschen sagen wir: „Ich würde es wünschen, ich
möchte es.“ Wir können wohl sagen: „Ich möchte jung sein,“ aber wir
werden nie sagen: „Ich wünsche, jung zu sein“; – denn das ist ja nicht
möglich.
Einen solchen Halbwunsch nennen die Theologen „velleitas“, das heißt
einen Willensansatz ohne Folgen. Der Wille sieht, daß er diesen Gegen-
stand nicht erreichen kann, weil er entweder unmöglich oder äußerst
schwer erreichbar ist; so stellt er die Bewegung zu ihm hin ab und been-
digt sie mit diesem einfachen Wunschaffekt. Es ist, wie wenn er sagen
möchte: Dieses Gute, das ich sehe, das ich aber nicht anstreben kann, wäre
mir sehr liebenswert. Ich kann es zwar nicht wollen und erhoffen; könnte
ich aber, so würde ich es wünschen und gerne haben.
So sind solche Wunschansätze eigentlich nur eine geringfügige Liebe, die
man „Liebe einfacher Billigung’’ nennen kann, weil die Seele, ohne
etwas zu wollen, diesen Gegenstand gutheißt, und da sie ihn nicht eigent-
lich wünschen kann, doch bekennt, daß sie ihn wünschen möchte und
daß er wirklich wünschenswert ist.
7. Das ist noch nicht alles, Theotimus. Es gibt andere noch unvollkom-
menere Wünsche, bei denen die Bewegung des Willens zum Guten hin
nicht durch die Unmöglichkeit oder übermäßige Schwierigkeit aufgehalten wird,
sondern nur durch ihre Unverträglichkeit mit einem anderen stärkeren
Wunsch oder Willen. Ein Kranker z. B. wünscht Kürbisse oder Melonen zu
essen; sie stehen ihm zur Verfügung; er will sie aber doch nicht essen, weil
er eine Verschlechterung der Krankheit befürchtet. Man sieht, daß er zwei
Wünsche hat: den, Kürbis zu essen, und den, gesund zu werden. Weil aber
der Wunsch, gesund zu werden, stärker ist, erstickt und überwindet er
den anderen, so daß er wirkungslos bleibt.
68 I, 8
Jiftach (Ri 11,30ff) wünschte, daß seine Tochter am Leben bleibe; weil
dies aber mit dem Wunsch, sein Gelübde zu halten, unvereinbar war, so
wollte er, was er nicht wünschte, nämlich seine Tochter opfern, und
wünschte, was er nicht wollte, seine Tochter am Leben zu erhalten.
Pilatus (Joh 19,12) und Herodes (Mk 6,26) wünschten, der eine den
Heiland, der andere den Vorläufer freizulassen. Weil aber ihre Wünsche
unvereinbar waren mit dem Wunsch, den Juden oder dem Kaiser oder
Herodias und deren Tochter zu gefallen, waren sie leer und vergeblich.
Diese Wünsche sind um so unvollkommener, je wertloser die mit ihnen
unvereinbaren Dinge sind, da sie durch so schwache Gegenwünsche da-
von aufgehalten und erstickt werden.
So war der Wunsch des Herodes, den hl. Johannes nicht zu töten, noch
unvollkommener als der des Pilatus, den Herrn freizugeben, denn dieser
fürchtete die Verleumdung und die Wut des Volkes und des Kaisers,
jener nur den Ärger einer einzigen Frau.
Solche Wünsche, die aufgehalten werden, nicht weil ihre Erfüllung
unmöglich, sondern weil sie mit stärkeren Wünschen unvereinbar sind,
nennt man wohl auch Wünsche, aber eitle, erstickte und sinnlose. Bei
Wünschen nach unmöglichen Dingen sagt man: „Ich wünsche, aber ich
kann nicht.“ Bei Wünschen möglicher Dinge: „Ich wünsche, aber ich will
nicht.“
8. Kapitel
W elcher Ar
Artt ist die innere Beziehung, die Liebe weckt?
1. Wir sagen: Das Auge sieht, das Ohr hört, die Zunge spricht, der Ver-
stand erwägt, das Gedächtnis erinnert sich und der Wille liebt. Wir wissen
aber doch, daß eigentlich der ganze Mensch diese mannigfachen Tätigkei-
ten durch verschiedene Fähigkeiten und Organe ausübt. Der Mensch
ist es also auch, der durch die Fähigkeit, zu lieben, die wir Willen nen-
nen, nach einem Gut hinstrebt und sein Wohlgefallen daran findet;
der Mensch hat diese starke innere Beziehung zum Guten – und das ist
Quelle und Ursprung der Liebe.
2. Nun haben jene nicht richtig geurteilt, die meinten, Ähnlichkeit sei
die einzige innere Beziehung, die Liebe wecke.
Sieht nicht jedermann, wie die verständigsten Greise kleine Kinder
zart und innig lieben und auch wieder von Kindern geliebt werden?
Sieht man nicht auch, wie Gelehrte Unwissenden, sofern diese lernen wol-
len, und Ärzte ihren Kranken Liebe erweisen?
I, 8 69
Oder wenn wir der leblosen Welt ein Gleichnis entnehmen: Kraft wel-
cher Ähnlichkeit strebt denn Eisen zum Magnet hin? Hat ein Magnet nicht
größere Ähnlichkeit mit einem anderen Magnet oder mit einem anderen
Stein als mit Eisen, das von ganz anderer Art ist? Jene, die behaupten, daß
jede Zusammengehörigkeit auf Ähnlichkeit zurückzuführen ist, versichern
zwar, daß Eisen von Eisen und Magnet von Magnet angezogen wird, aber
sie können nicht erklären, warum der Magnet das Eisen kräftiger anzieht,
als Eisen das Eisen. Überdies, welche Ähnlichkeit besteht wohl zwischen
Kalk und Wasser oder zwischen Wasser und einem Schwamm? Dennoch
nehmen beide das Wasser äußerst begierig auf und offenbaren damit sozu-
sagen eine zwar nicht gefühlte, aber doch außerordentlich starke Liebe
zu diesem.
Ebenso verhält es sich mit der menschlichen Liebe. Oft ist die Liebe
zweier Menschen verschiedener Wesensart zueinander viel stärker als die
Liebe solcher, die einander sehr ähnlich sind.
3. Die innere Beziehung also, die Ursache der Liebe ist, besteht nicht
immer in der Ähnlichkeit, sondern vielmehr darin, daß der Liebende zum
geliebten Wesen in einem bestimmten Verhältnis steht, daß sie einander
in gewisser Hinsicht entsprechen, miteinander irgendwie übereinstim-
men.
So ist nicht Ähnlichkeit zwischen dem Arzt und dem Kranken
Ursache, daß der Kranke den Arzt lieb hat, sondern seine Not, der das
Können des Arztes entspricht. Der eine braucht Hilfe, der andere kann
sie leisten. Aus demselben Grund liebt auch umgekehrt der Arzt den
Kranken und der Gelehrte seinen Schüler, weil sie an ihnen ihre Fähig-
keiten anwenden können.
Alte Menschen lieben Kinder nicht aus einem Gefühl der Gleichheit
heraus, sondern weil durch deren Einfalt, Zartheit und Schwäche ihre
eigene Klugheit und Sicherheit mehr hervortritt und in helles Licht ge-
rückt wird; und eine solche Unähnlichkeit macht einem doch Freude.
Umgekehrt lieben auch Kinder alte Leute, weil diese sich mit ihnen ab-
geben und beschäftigen und weil sie dunkel fühlen, daß sie ihrer Führung
bedürfen.
Musikakkorde entstehen aus vielen ungleichen Tönen, die aber in ei-
nem solchen Verhältnis zueinander stehen, daß sie zusammen einen har-
monischen Klang hervorbringen. Verschiedenartige Edelsteine und Blu-
men bilden in feinsinniger Zusammenstellung die Schönheit des Ge-
schmeides oder des Blumengebindes.
70 I, 9
Ebenso entspringt auch die Liebe nicht immer der Ähnlichkeit oder
dem gleichen Empfinden zweier Wesen, sondern der Tatsache, daß diese
einander entsprechen und zueinander passen und so durch ihre Verbin-
dung einander Wertvolles geben und dadurch besser werden können.
Das Haupt gleicht nicht dem Leib, die Hand nicht dem Arm; trotzdem
gehören sie so zusammen und passen so gut zueinander, daß sie, mitein-
ander verbunden, sich gegenseitig sehr viel nützen. Hätte jedes dieser
Glieder eine eigene Seele, so würden sie einander vollkommen lieben;
nicht wegen ihrer Ähnlichkeit, die vollständig fehlt, sondern weil sie so
geeignet sind, einander zu ergänzen.
Daher haben auch oft melancholische und heitere, aufbrausende und
sanfte Menschen einander so gerne, weil sie fühlen, wie wohltuend sich
ihre gegenseitige Beeinflussung auswirkt und wie sie dadurch in ihren
Gemütsstimmungen maßvoller werden.
4. Tritt aber zu dieser inneren Beziehung noch Ähnlichkeit hinzu, dann
wird die Liebe noch viel mächtiger geweckt. Ähnlichkeit ist ja ein wahres
Bild der Einheit. Man kann hier mehr von Einheit als von Vereinigung
sprechen, wenn zwei einander ähnliche Wesen, sich gegenseitig ergän-
zend, gemeinsam auf das gleiche Ziel hinstreben.
So ist also die innere Beziehung des Liebenden zum geliebten Wesen
die erste Quelle der Liebe. Diese Beziehung besteht aber darin, daß sie
einander ergänzen. Das heißt, ihr Verhältnis zueinander muß so sein,
daß sie fähig werden, sich durch ihre Vereinigung Wertvolles mitzuteilen.
Dies wird sich aus dem Folgenden noch deutlicher ergeben.
9. Kapitel
Liebe strebt nach V ereinigung.
Vereinigung.
1. Der große König Salomo beschreibt die Liebe zwischen dem himm-
lischen Bräutigam und der frommen Seele auf eine so ansprechend lieb-
liche Weise, daß dieses göttliche Werk wegen seiner wunderbaren Innig-
keit das „Hohelied“ genannt wird. Er führt uns stets die Liebe eines
keuschen Hirten und einer reinen Hirtin vor Augen, um uns ganz sachte
zur Betrachtung jener geistlichen Liebe emporzuheben, die dann zwischen
Gott und uns besteht, wenn unsere Herzensregungen mit den Gnaden-
anregungen der göttlichen Majestät übereinstimmen.
Er läßt die Hirtin zuerst sprechen. Gleichsam von Liebe überrascht, ruft sie
aus: „Er küsse mich mit dem Kuß seines Mundes“ (Hld 1,1).
I, 9 71
zu ermahnen (Mt 18,1–10; Mk 9,35), das nach Jansenius (Zu Conc. 70)
viele für den hl. Martialis halten.
3. Da also der Kuß das lebendige Zeichen der Herzensvereinigung ist,
ruft die Braut, deren ganzes Streben und Verlangen nur der Vereinigung
mit ihrem Vielgeliebten gilt, aus: „Er küsse mich mit dem Kuß seines
Mundes.“ Ist es nicht, als ob sie damit sagte: Werden die zahllosen Liebes-
worte und flammenden Pfeile, die meine Liebe unablässig entsendet, das nie-
mals erreichen, wonach meine Seele sich sehnt? Lange schon laufe ich
und eile; soll ich denn nie den Preis erringen, nach dem ich mit aller Kraft
strebe: von Herz zu Herz, von Seele zu Seele mit meinem Gott, meinem
Bräutigam, meinem Leben vereint zu sein? Wann werde ich meine See-
le in sein Herz ergießen, wann wird sein Herz in meine Seele einströ-
men, wann werden wir selig, vereint, unzertrennlich beisammen leben?
Wenn der Heilige Geist von vollkommener Liebe sprechen will, ge-
braucht er meistens die Ausdrücke „Einigung“ und „Vereinigung“. Die
Menge der Gläubigen, so sagt der hl. Lukas, „war ein Herz und eine
Seele“ (Apg 4,32); der Herr fleht zu seinem Vater, daß alle „eins“ seien
(Joh 17,21 f); der hl. Paulus mahnt uns, die Einheit des Geistes durch die
Eintracht des Friedens zu bewahren (Eph 4,3). Einheit des Herzens, der
Seele und des Geistes bezeichnet also jene vollkommene Liebe, die meh-
rere Seelen zu einer einzigen verschmilzt. So lesen wir auch, daß die
Seele Jonatans mit der Davids aufs innigste verbunden war; das heißt, wie
die Schrift hinzufügt, „er liebte David wie seine eigene Seele“ (1 Sam 18,1).
Frankreichs großer Apostel, der hl. Dionysius, schreibt, wobei er
sowohl seine eigene Ansicht, als auch die seines heiligen Lehrers aus-
spricht, – hundertmal in einem einzigen Kapitel (Kap. 4) seines Buches
„Die göttlichen Namen“, daß die Liebe alles einigt, vereinigt, zusammen-
faßt, verbindet, sammelt und zur Einheit verschmilzt. Der hl. Gregor von
Nazianz (Reden 43,20) und der hl. Augustinus (Bek. 4,6) sagen, daß sie
mit ihren Freunden nur eine Seele hatten; Aristoteles, der schon damals
diese Redensart gut heißt, sagt: „Wenn wir ausdrücken wollen, wie sehr
wir unsere Freunde lieben, so sagen wir, die Seele jenes Menschen und
meine sind nur eine“ (M. Mor. 2,11).
Der Haß trennt, die Liebe vereint. Das Ziel der Liebe ist also kein
anderes als die Vereinigung des Liebenden mit dem geliebten Wesen.
I, 10 73
10. Kapitel
Die Vereinigung, nach der die Liebe strebt, ist geistiger Natur
Vereinigung, Natur..
Jene, die, von göttlichen und geistigen Wonnen berührt, ihr Herz
von diesen Empfindungen mitreißen lassen, haben sich wahrhaftig über
ihren naturgegebenen Stand erhoben; sie treten durch dieses glückselige,
aller Sehnsucht würdige Herausgehen aus sich selbst in einen höheren
und edleren Stand hinein; sie werden ebensosehr Engel durch ihre seeli-
sche Tätigkeit, wie sie Menschen durch ihre wesenhafte Natur sind. Man
kann sie darum engelhafte Menschen oder menschliche Engel nennen.
Jene dagegen, die, von sinnlichen Vergnügungen angelockt, ihre Seele
dem Genuß sinnlicher Lust hingeben, steigen dadurch aus ihrer mittleren
Stellung zum vernunftlosen Tier hinab und verdienen wegen ihrer Hand-
lungen ebenso tierisch genannt zu werden, wie sie ihrer Natur nach den
Namen „Mensch“ tragen. Unglückselige, die aus sich nur herausgehen, um
in eine Lage zu geraten, die ihres naturgegebenen Standes total unwürdig
ist.
Je größer nun diese Ekstase ist, ob sie uns über uns emporhebt oder
unter uns erniedrigt, desto mehr verhindert sie die Seele, zu sich selbst
zurückzukehren und in einer dieser Ekstase entgegengesetzten Weise
zu handeln. So verlieren jene engelhaften Menschen, die in Gott oder
himmlische Dinge entrückt sind, während der Dauer dieser Ekstase den
Gebrauch und das Bewußtsein ihrer Sinne, Bewegungen und aller äußer-
lichen Handlungen. Um ihre Kraft und Tätigkeit vollständiger und
aufmerksamer diesem göttlichen Gegenstand zu widmen, zieht ihre Seele
sie von allen anderen Fähigkeiten zurück. Sie rafft sie so ganz zusam-
men, um sie auf Gott allein zu richten.
Auf gleiche Weise verlieren auch jene tierischen Menschen, die sinn-
licher Lust ergeben sind (besonders jener, die mit diesem allgemeinen
Namen bezeichnet wird), ganz und gar den Gebrauch der Vernunft und
des Verstandes sowie jede Aufmerksamkeit darauf. Um die tierische Lust
besser und aufmerksamer verkosten zu können, hat sich ihre erbärmli-
che Seele von den geistlichen Tätigkeiten abgewendet, damit sie sich
in die bestialischen und tierischen versenken und sich ihnen ganz hinge-
ben könne.
So ahmen die ersten in mystischer Weise dem Propheten Elija nach,
der auf flammendem Wagen, umgeben von Engeln, entrückt wurde (2
Kön 2,11) – die anderen dagegen dem König Nebukadnezzar (Dan 4,30),
– der ganz vertierten und wilden Bestien gleich wurde.
5. Nun sage ich, daß die Seele im selben Maß in der Betätigung der
höheren Liebe nachläßt, als sie sich der sinnlichen Liebe ergibt, die sie
I, 10 77
unter sich hinabzieht. Die wahre und wesenhafte Liebe, das heißt eben
jene, die allein den Namen Liebe verdient, wird durch die Vereinigung,
nach der die sinnliche Liebe strebt, weder gefördert noch bewahrt, son-
dern geschwächt, aufgelöst und gänzlich vernichtet.
Die Ochsen des Ijob pflügten die Erde, während die nutzlosen Esel
die Weide kahl fraßen, die jenen arbeitsamen Tieren gebührte (Ijob
1,14). Während der geistige Teil unserer Seele um ehrbare und tugend-
hafte Liebe ringt und sie auf einen ihrer würdigen Gegenstand richtet,
kommt es oft vor, daß die Sinne und die Fähigkeiten des niederen Teils
der Seele nach der Vereinigung zielen, die ihnen entspricht, die ihre
Weide ist. Dies geschieht, obwohl doch Vereinigung nur dem Herzen
und dem Geist gebührt, die allein es vermögen, wahre und wesenhafte
Liebe zu hegen.
Elischa lehnte alle Geschenke, Gold, Silber und alles andere ab, das
Naaman ihm nach seiner Heilung geben wollte. Er begnügte sich mit der
Freude, ihm geholfen zu haben. Gehasi aber, sein treuloser Diener, lief
jenem nach, verlangte und nahm gegen den Willen seines Herrn alles,
was dieser ausgeschlagen hatte (2 Kön 5,14ff). So schlägt auch die geisti-
ge Liebe des Herzens, die in unserer Seele herrscht oder doch herrschen
soll, jede Art körperlicher und sinnlicher Vereinigung aus und begnügt sich mit
dem einfachen Wohlwollen. Die Kräfte des sinnlichen Seelenteils jedoch,
die dem Geist dienen oder doch dienen sollen, verlangen, suchen und
nehmen, was die Vernunft verweigert hat, und schicken sich an, ohne deren
Erlaubnis ihre abscheulichen und erniedrigenden Verbindungen einzu-
gehen. Sie entehren so gleichsam die reine Absicht des Geistes, wie Gehasi
die seines Herrn, und wenden sich im selben Maße, als die Seele sich
diesen grob-sinnlichen Verbindungen ergibt, von der zarten, geistigen
Vereinigung des Herzens ab.
Du siehst also, Theotimus, daß diese nur auf sinnliches Gefallen und
tierische Leidenschaften gerichteten Verbindungen keineswegs helfen, die
Liebe zu wecken und zu bewahren, sondern ihr ungemein schaden und sie äu-
ßerst schwächen.
Als der Blutschänder Amnon, der vor Liebe zu seiner Schwester Tamar
verging, schließlich zur sinnlichen, tierischen Vereinigung mit ihr über-
gegangen war, schwand in ihm die Liebe des Herzens so sehr dahin, daß er
Tamar nicht einmal mehr ansehen konnte, sie schmählich hinausstieß und
damit das Recht der Liebe ebenso grausam verletzte, wie er vorher das
Gesetz des Blutes schamlos übertreten hatte (2 Sam 13,1–19).
78 I, 10
Wesen zerstört hat, als sie zur Vollendung gebracht werden sollte.
Jener große Philosoph (Aristoteles, Probl. 4,6) sagt daher auch, daß fast
jedes Tier nach dem Genuß seiner glühendsten und heftigsten körperli-
chen Lust traurig, verdrießlich und niedergeschlagen wird. Es gleicht ei-
nem Kaufmann, der auf großen Gewinn hoffte und sich nicht nur in sei-
nen Hoffnungen betrogen, sondern überdies in große, unvorhergesehene
Verluste verstrickt sieht.
Die geistige Liebe aber findet in der Vereinigung mit dem geliebten
Wesen mehr Befriedigung, als sie erwartet hatte. So gefällt sie sich immer
mehr in ihm; sie verbleibt eins mit ihm dadurch, daß sie sich immer
wieder mit ihm vereinigt, und sie vereinigt sich immer wieder mit ihm
dadurch, daß sie mit ihm eins bleibt.
11. Kapitel
Die beiden Bereiche der Seele.
1. Wir haben nur eine Seele, Theotimus, und diese ist unteilbar. In
dieser Seele gibt es aber verschiedene Stufen der Vollkommenheit; denn
sie ist lebend, empfindend und verstehend. Den verschiedenen Stufen
entsprechend besitzt sie auch verschiedene Eigenheiten und Neigungen,
durch die sie angetrieben wird, gewisse Dinge zu fliehen oder sich mit
ihnen zu vereinigen.
Erstens: Der Weinstock liebt sozusagen den Ölbaum, haßt dagegen
gleichsam gewisse Pflanzen, flieht sie und manchmal schaden sogar er
und diese einander. So besteht auch von Natur aus eine gegenseitige Ab-
neigung zwischen dem Menschen und der Schlange. Diese Abneigung ist so
groß, daß schon der bloße Speichel eines nüchternen Menschen die Schlan-
ge töten kann (Plin., H.n.7,2). Umgekehrt aber haben der Mensch und
das Lamm eine besondere Zuneigung zueinander, die sie gerne beisammen
sein läßt. Diese Zu- oder Abneigung rührt nicht von der Erfahrung her, daß
etwas nützt oder schadet, sondern von einer verborgenen und geheimen
Eigenheit, die den Menschen bestimmt, gegen manche Dinge Abneigung,
zu manchen dagegen Zuneigung zu empfinden.
Zweitens haben wir noch den sinnenhaften Begehrungstrieb, der uns
antreibt, einiges zu suchen und anderes zu fliehen. Seine Quelle ist die
sinnenhafte Kenntnis. Wir haben ihn mit den Tieren gemeinsam, von
denen auch einige dies, andere jenes haben wollen, je nachdem sie es als
80 I, 11
nützlich oder schädlich erkennen. In diesem Trieb wohnt und von ihm
stammt die sinnliche Liebe, die aber nicht Liebe, sondern Begierde heißen soll.
Drittens haben wir als vernünftige Geschöpfe auch einen Willen, durch
den wir angeregt werden, nach einem Gut zu streben, das wir als Gut
durch unser Denken erkennen oder auffassen.
2. Nun beobachten wir, daß es in unserer Seele, als vernunftbegabte
Seele gesehen, offenbar zwei Vollkommenheitsstufen gibt, die der
hl. Augustinus (Zu Ps 145, § 5) und nach ihm alle anderen Kirchen-
lehrer den niederen und höheren Seelenteil nennen: Den niederen, dessen
Gedankengänge und Schlußfolgerungen sich auf die Erkenntnisse und
Erfahrungen der Sinne stützen, den höheren, der erwägt und Schlußfol-
gerungen entsprechend seinen geistigen Erkenntnissen zieht. Diese
beruhen aber nicht auf der sinnenhaften Erfahrung, sondern auf dem
Scharfsinn und auf der Urteilskraft des Geistes.
Der höhere Teil wird gewöhnlich Geist, der niedere Gefühl, Emp-
findung und menschliche Vernunft genannt.
Dieser höhere Teil der Seele kann seine Erwägungen, erleuchtet durch
ein zweifaches Licht, anstellen: Durch das natürliche – so haben die Phi-
losophen und Wissenschaftler gearbeitet – oder durch das übernatürliche,
wie es alle gläubigen Christen und die Theologen tun, sofern Glaube
und Offenbarung Grundlage ihres Denkens sind. In besonderer Weise
aber folgen jene dem übernatürlichen Licht, deren Geist unter der Lei-
tung besonderer Erleuchtungen, Einsprechungen und himmlischer An-
regungen steht. Darum erklärt der hl. Augustinus, der höhere Teil der
Seele sei jener, durch den wir dem ewigen Gesetz anhangen und bemüht
sind, ihm zu gehorchen (zu Ps 145, § 5).
3. Von der äußersten Not seiner Familie bedrängt, ließ Jakob seinen
geliebten Benjamin mit seinen Brüdern nach Ägypten ziehen. Wie die
Heilige Schrift berichtet (Gen 43,6–14), tat er dies gegen seinen Willen.
Daraus ist ersichtlich, daß Jakob offenbar zwei Willen besaß: einen nie-
deren, durch den es ihm leid tat, Benjamin fortziehen zu lassen, und einen
höheren, der ihn beschließen ließ, ihn wegzusenden. Weil er große Freu-
de daran hatte, ihn um sich zu sehen, ließ er ihn nur ungern gehen
und litt unter der Trennung. Diese Gründe gehören aber dem
Erfahrungs- und Sinnenbereich an, wogegen der Entschluß, ihn trotzdem
fortziehen zu lassen, der Erkenntnis einer baldigen, ja bereits heranna-
henden Notlage seiner Familie entsprang. Der niedere Teil der Seele war
es auch, der Abraham dem Engel, der ihm einen Sohn ankündigte, ant-
I, 11 81
worten ließ: „Glaubt ihr, daß einem Hundertjährigen ein Sohn geboren
werden könne?“ (Gen 17,17). Diese Antwort könnte nach Mißtrauen
aussehen, jedoch der höhere Seelenteil „glaubte Gott, und dies wurde ihm
zur Gerechtigkeit angerechnet“ (Gen 15,6). Dem niederen Teil nach war er
sehr bestürzt (ebd. 22,2), seinen Sohn als Opfer darzubringen, dem höhe-
ren nach entschloß er sich jedoch mutig dazu.
4. Täglich machen wir die Erfahrung, daß wir in uns verschiedene,
einander widerstrebende Willensregungen haben. Wenn ein Vater sei-
nen Sohn an den Hof und zur Ausbildung wegsendet, kann er beim
Abschied die Tränen nicht zurückhalten. Dadurch zeigt er, daß der nie-
dere Teil seiner Seele der Trennung widerstrebt, obwohl der höhere Teil
diese im Interesse der Ausbildung des Sohnes will. Ebenso werden die
Eltern, wenn sie auch mit der Heirat ihrer Tochter einverstanden sind,
dennoch bei Erteilung des Segens bis zu Tränen gerührt. Das heißt nichts
anderes, als daß der höhere Seelenteil zwar in die Trennung einwilligt,
aber der niedere ihr widerstrebt.
Damit ist jedoch nicht gesagt, daß der Mensch zwei Seelen oder zwei
Naturen habe, wie die Manichäer meinten. „Nein,“ sagt der hl. Augusti-
nus (Bek. 8,10), „wenn der Wille von verschiedenen Reizen angelockt
wird, wenn verschiedene Beweggründe auf ihn einwirken und er so
nach beiden Seiten gezogen wird, scheint es, als ob er in sich selbst
entzweit wäre. Das aber nur solange, bis er schließlich von seiner Frei-
heit Gebrauch macht und sich für das eine oder das andere entscheidet.“
In diesem Fall gewinnt nämlich der stärkere Wille siegend die Ober-
hand und läßt in der Seele nur ein unangenehmes Gefühl zurück, das
durch den innerlichen Kampf hervorgerufen wurde und das wir „Wider-
willen“ nennen.
5. Vor allem gibt uns der Heiland in dieser Hinsicht ein so wunder-
bares Beispiel, daß man bei dessen Betrachtung nicht mehr an der Un-
terscheidung eines oberen und eines unteren Teiles der Seele zweifeln
kann. Welcher Theologe wüßte nicht, daß der Herr vom ersten Augen-
blick seiner Empfängnis an im jungfräulichen Leib der allerseligsten Jung-
frau sich des Besitzes vollkommener Himmelsseligkeit erfreute? Trotz-
dem war er gleichzeitig der Traurigkeit, dem Leid und den Herzensängsten
unterworfen. Man darf auch nicht sagen, daß nur sein Leib und der den
Sinnen unterworfene Teil seiner Seele litt; bezeugt er doch selbst, seine
Seele sei betrübt bis in den Tod (Mt 26,38), und das noch bevor sein
körperliches Leiden begann, ja noch ehe er seine Peiniger zu Gesicht be-
82 I, 12
kommen. Nachher betete er, daß der Kelch des Leidens an ihm vorübergehe,
daß er davon befreit werde. Damit drückte er offenbar das Wollen des nie-
deren Seelenteiles aus. Dieser erging sich in Gedanken über die entsetz-
lichen Einzelheiten des ihm bevorstehenden Leidens und malte sie ihm so
lebhaft aus, daß er den vernünftigen Schluß daraus zog, sie fliehen und weit
weg von sich haben zu wollen. Daher sein flehentliches Gebet zum Vater.
Es zeigt sich hier so deutlich, daß der niedere Seelenteil nicht zu
verwechseln ist mit dem sinnlichen Seelenbereich, noch der Wille des nie-
deren Seelenteils mit dem sinnlichen Begehren. Weder dieses noch jener
sind fähig zu einer Bitte oder einem Gebet. Es sind dies Tätigkeiten des
Geistes, der allein fähig ist, sich im Gebet zu Gott zu erheben. Die
Sinne vermögen Gott nicht zu erreichen und können daher auch dem
Begehren keine Kenntnis von ihm geben.
So hat also der Heiland erwiesen, daß sein Wille, entsprechend dem
niederen Seelenteil und dessen Erwägungen, dahin neigte, sich Leiden
und Mühen zu entziehen. Aber nachher zeigt er, daß seine Seele auch
einen höheren Bereich hatte, in welchem er, dem ewigen Willen und Rat-
schluß seines himmlischen Vaters unverbrüchlich anhangend, den Tod frei-
willig auf sich nahm. Auf den Widerwillen des niederen Seelenteils nicht
achtend, spricht er: „Nicht mein Wille geschehe, sondern der Deine“
(Lk 22,42). Das Wort „mein Wille“ gilt dem Willen des niederen Seelen-
teils. Da er dies freiwillig aussprach, bestätigte er damit das Vorhanden-
sein eines höheren Willens in ihm.
12. Kapitel
Die vier Stufen der V ernunf
Vernunf t.
ernunft.
1. Der Tempel Salomos hatte drei Vorhöfe. Der erste war für die Hei-
den und Fremden bestimmt, die nach Jerusalem kamen, um Gott anzube-
ten; im zweiten versammelten sich die Israeliten beiderlei Geschlechts
(denn die Trennung der Geschlechter bestand unter Salomo noch nicht);
der dritte endlich diente den Priestern und Leviten. Außerdem gab es
noch das Allerheiligste, in das nur der Hohepriester einmal im Jahr ein-
treten durfte (Hebr 9,7).
Unser Verstand oder, um es besser zu sagen, unsere Seele, insofern
sie vernunftbegabt ist, ist der wahre Tempel des allerhöchsten Gottes, der
auf ganz besondere Weise darin wohnt. „Ich suchte dich außer mir“ sagt
I, 12 83
der hl. Augustinus (Bek. 10,27), „und ich fand dich nicht, denn du
warst in mir.“
In diesem mystischen Tempel gibt es auch drei Vorhöfe, nämlich
drei Stufen der Vernunft. Auf der ersten überlegen und urteilen wir nach
der Erfahrung der Sinne; auf der zweiten nach den Grundsätzen mensch-
licher Wissenschaften; auf der dritten nach dem Glauben.
Außerdem steht über diesen drei Stufen, sie hoch überragend, die
höchste Spitze der Vernunft und geistigen Fassungskraft, die nicht durch
das Licht der Überlegung, noch durch die Vernunft geleitet wird, sondern
durch ein einfaches Schauen des Verstandes und ein einfaches Empfinden
des Willens, wodurch der Geist sich der Wahrheit und dem Willen Gottes
hingibt und unterwirft.
2. Diese erhabene Höhe, dieser höchste Gipfel, diese höchste Spitze
unserer Seele wird durch das Allerheiligste im Tempel treffend versinn-
bildet, und zwar aus folgenden Gründen:
1) Das Licht, das im Allerheiligsten leuchtete, drang nicht durch die
Fenster ein. Ebenso empfängt auch die Seelenspitze ihr Licht durch kei-
nerlei schlußfolgernde Erwägung.
2) Das Licht kam vielmehr durch die Pforte. Ebenso empfängt die
Seelenspitze all ihr Licht vom Glauben, in dessen Strahlen sie die Schön-
heit und Güte des göttlichen Wohlgefallens wahrnimmt und empfindet.
3) Niemand außer dem Hohepriester betrat das Heiligtum. Ebenso hat
auch zu jenem Gipfel der Seele die Überlegung keinen Zutritt, sondern
nur jenes große, erhabene, alles umfassende Empfinden, daß der göttli-
che Wille über alles geliebt, angenommen und umfaßt werden soll, nicht
nur in diesem oder jenem Fall, sondern überall ohne Ausnahme, und
nicht nur im allgemeinen, für alles, sondern auch im besonderen für jede
Angelegenheit.
4) Der Hohepriester verdunkelte bei seinem Eintritt in das Heiligtum
noch das Licht, das durch die Pforte einfiel. Er warf soviel Räucherwerk
auf das Rauchfaß, daß der Qualm das Licht hinderte, durch die Öffnung
der Pforte einzudringen. Ebenso wird auf diesem Gipfel der Seele in gewis-
ser Hinsicht auch der geistige Blick durch die Entsagung und den Verzicht
der Seele „verdunkelt“. Sie ist ja nicht so sehr darauf bedacht, die Schön-
heit der Wahrheit und die Wahrheit der Schönheit, die sich ihr zeigt, zu
schauen, als sie zu umfangen und anzubeten. Sobald die hocherhabene
Würde des göttlichen Willens sich ihr entschleiert, möchte sie fast die
Augen schließen, um, ohne sich mehr mit ihrer Betrachtung zu befassen,
84 I, 13
13. Kapitel
Die verschiedenen Ar ten der Liebe.
Arten
1. Man unterscheidet zwei Arten von Liebe: Die „Liebe des Wohlwol-
lens“ und die „Liebe des Begehrens“. Diese besteht darin, ein Ding der
Vorteile wegen zu lieben, die wir von ihm erwarten, jene aber darin,
ein Ding um seines Wohles wegen zu lieben. Was ist denn die Liebe des
Wohlwollens anderes, als das Wohl einer Person zu wollen?
2. Wenn nun derjenige, dem wir Gutes wollen, dies schon besitzt,
so besteht unser Wohlwollen darin, daß wir darüber Freude und Zu-
friedenheit empfinden. So entsteht die Liebe des Wohlgefallens, die nichts
anderes ist als ein Akt des Willens, sich mit der Freude, Lust und dem
Wohle des geliebten Gegenstandes zu vereinigen. Hat aber jener, dem
wir Gutes wollen, dies Gute noch nicht, so wünschen wir es ihm.
Daraus entsteht die „Liebe des Wunsches“.
3. Bleibt die Liebe des Wohlwollens ohne Gegenliebe, so heißt sie
Liebe des einfachen Wohlwollens. Ist das Wohlwollen gegenseitig, so
86 I, 14
erhält es den Namen „Freundschaft“. Dazu aber sind drei Dinge erforder-
lich: Freunde müssen einander lieben, müssen ferner um diese gegensei-
tige Liebe wissen und vertraut miteinander verkehren.
4. Lieben wir den Freund, ohne ihn aber anderen vorzuziehen, so
spricht man von Freundschaft schlechthin. Ziehen wir ihn aber an-
deren vor, so handelt es sich um eine „erlesene Zuneigung“, weil wir
aus mehreren geliebten Menschen einen auserlesen haben, dem wir mit
besonderer Liebe zugetan sind.
5. Bevorzugen wir einen Freund nicht sehr stark, so sprechen wir
einfach von erlesener Zuneigung. Ist aber die Bevorzugung, die wir
einem Freund angedeihen lassen, sehr bedeutend, so sprechen wir von
einer „selten großen Liebe“.
6. Läßt die Achtung und Bevorzugung, mit der wir einen Freund aus-
zeichnen, ungeachtet ihrer Größe, doch einen Vergleich zu, so spricht man von
ganz großer Liebe. Ist aber die Erhabenheit einer Freundschaft mit nichts
zu vergleichen, so heißt sie unvergleichliche, über alles erhabene, „alles
überragende Liebe“. Wir bezeichnen sie mit dem lateinischen Wort „Ca-
ritas“ und verstehen darunter jene Liebe, die Gott allein gebührt.
In der Tat kommt das Wort „Caritas“ von carus - teuer, womit wir eine
ganz besondere Hochschätzung, einen hohen Preis, einen großen Wert
bezeichnen. Deshalb wird auch das Wort „Caritas“ nur gebraucht, um die
höchste und erhabenste Liebe, die Liebe zu Gott, auszudrücken; ähnlich
wie (im Französischen) das Wort „Mensch“ oft nur das männliche Ge-
schlecht als das höher gestellte bezeichnet und das Wort „Anbetung“ in
der Regel nur Gott als dem höchsten Gegenstand derselben zukommt.
14. Kapitel
Liebe zu Gott (Caritas) soll mit „Liebe“ bezeichnet werden.
1. Nach der Meinung des Origenes (Hom. 1 zum Hld) habe die Heilige
Schrift verhüten wollen, daß der Ausdruck „Liebe“ (Amor) unverständige Gei-
ster zu schlechten Gedanken verleite, da dies Wort geeigneter schiene, eine
sinnliche Leidenschaft als eine geistige Regung der Seele auszudrücken;
deshalb habe sie zwei andere, treffendere Worte gewählt: Caritas und Dilectio
(erlesene Liebe).
Dagegen zeigt der hl. Augustinus (St.G. 14,7), der den Wortgebrauch
der Heiligen Schrift besser kennt, daß der Ausdruck „Liebe“ genau so
I,1 5 87
heilig ist wie Dilectio. Beide Worte wurden sowohl für heilige Liebe wie
für sündhafte Leidenschaft gebraucht. Er weist dies an mehreren Stellen der
Heiligen Schrift nach.
Der große hl. Dionysius endlich, der die Bedeutung der göttlichen
Worte so treffend darzustellen versteht, verteidigt das Wort „Liebe“
(Göttl. N. 4). Er lehrt, daß die Gottesgelehrten seiner Zeit, also die Apo-
stel und deren Schüler, denn andere hat er nicht gekannt, in göttlichen
Dingen den Ausdruck „Liebe“ jedem anderen Wort vorzogen. Damit
wollten sie dem Volk den Wahn nehmen, daß „Liebe“ nur sinnliches Be-
gehren bezeichne. Obwohl sie meinten, daß Amor und Dilectio dasselbe
sagten, so schien es doch manchen, daß Amor, Liebe, für Gott mehr passe
als Dilectio. Deshalb schrieb auch der hl. Ignatius ausdrücklich: Meine
„Liebe“ ist gekreuzigt.
2. Wie also jene Theologen der Vorzeit das Wort „Liebe“ auf Gott
und göttliche Dinge anzuwenden pflegten, um es vom üblen Geruch der
Unreinheit zu befreien, der ihm anhaftete, so verwenden sie auch
für menschliche Zuneigungen mit Vorliebe die Bezeichnung „Dilectio“,
mit dem die Vorstellung von etwas Unsauberem nicht verbunden war.
Einer aus ihnen, erzählt Dionysius, sagte: „Deine erlesene Liebe
(Dilectio) drang wie Frauenliebe in meine Seele“ (Göttl. N. 4). Weil aber
das Wort Amor (Liebe) in der lateinischen Sprache mehr Feuer, Wirk-
samkeit und Aktivität ausdrückt als das Wort Dilectio (Zuneigung), dar-
um sagt der berühmteste römische Redner Cicero (Briefe an Brutus, 1,1):
„Clodius ist mir besonders zugeneigt (diligit), und um mich noch besser
auszudrücken, er liebt mich“ (amat).
Daher wurde auch der Name „Liebe“ als der erhabenste mit vollem
Recht der Caritas, der Gottesliebe, als der wirklichsten und höchsten
Liebe gegeben. Aus all diesen Gründen und weil ich hauptsächlich vom
Wesen und der Wirksamkeit dieser höchsten Liebe sprechen wollte, habe
ich diese kleine Schrift „Abhandlung über die Gottesliebe“ genannt.
15. Kapitel
Die innere Beziehung zwischen Gott und Mensch.
1. Sobald der Mensch ein wenig aufmerksam an Gott denkt, fühlt sein
Herz eine gewisse beglückende Erregung, die Zeugnis gibt, daß Gott der
Gott des menschlichen Herzens ist. Unser Verstand fühlt nie größere Be-
88 I, 15
friedigung als im Gedanken an Gott. Die geringste Kenntnis von ihm ist –
wie Aristoteles, der Fürst der Philosophen (De part. animal. 1,5) sagt,
wertvoller als das tiefste Wissen von allen übrigen Dingen; wie auch der
schwächste Sonnenstrahl eine größere Lichtfülle enthält als Mond und
Sterne zusammen.
Erschrickt unser Herz über irgend einen Vorfall, so nimmt es sogleich
seine Zuflucht zu Gott. Damit bekennt es, daß, wenn auch alles ihm
übel will, er allein ihm gütig bleibt, und wenn es in Gefahr ist, er allein
als das höchste Gut die Macht hat, es zu erretten und zu schützen.
Diese Freude, die das Herz des Menschen von Natur aus an Gott hat,
und dieses Vertrauen zu ihm, können ihre Wurzel nur in jener inneren
Beziehung haben, die zwischen der göttlichen Güte und unserer Seele
waltet. Diese Beziehung ist mächtig, aber geheimnisvoll, von allen
gekannt, aber von wenigen verstanden, nicht zu leugnen, aber doch auch
nicht ganz zu ergründen.
2. Wir sind erschaffen nach Gottes Ebenbild und Gleichnis (Gen 1,26).
Was heißt dies anderes, als daß unsere Seele in innigster Beziehung zur
Göttlichen Majestät steht?
Unsere Seele ist geistig, unteilbar und unsterblich. Sie erkennt, will
und will in aller Freiheit. Sie ist fähig zu urteilen, zu überlegen, zu
wissen und Tugenden zu besitzen. Damit ist sie gottähnlich. – Sie hat
ihren Wohnsitz im ganzen Körper und ungeteilt in jedem seiner Teile,
wie auch Gott in der ganzen Welt und in jedem ihrer Teile ungeteilt
gegenwärtig ist.
Der Mensch erkennt sich selbst und liebt sich durch Akte, die Verstand
und Wille hervorbringen; Fähigkeiten, die voneinander verschieden
sind. Trotzdem bleiben diese Akte unzertrennlich vereint in der Seele
und in den Fähigkeiten, aus denen sie hervorgehen. So geht auch der
Sohn vom Vater aus, gleichsam als Ausdruck seines Selbsterkennens, –
und der Heilige Geist geht als die wechselseitige Liebe des Vaters zum
Sohn und des Sohnes zum Vater aus diesen zwei göttlichen Personen aus.
Trotz der Verschiedenheit der drei göttlichen Personen bilden sie aber
eine unzertrennliche Einheit, oder vielmehr, sie sind die gleiche, einzige,
einfache und höchst einige, unzertrennliche Gottheit selbst.
3. Gott und Mensch sind sich aber nicht nur ähnlich, sie ergänzen sich
auch auf wunderbare Weise, um einander zu vervollkommnen. Gott
kann zwar vom Menschen keine Vollkommenheit empfangen, aber so
wie der Mensch nur durch die göttliche Güte vervollkommnet werden
I, 15 89
16. Kapitel
W ir neigen natürlicher weise dazu, Gott über alles zu lieben.
natürlicherweise
17. Kapitel
Natürlicher weise sind wir ohnmächtig, Gott über alles zu lieben.
Natürlicherweise
1. Kühn und mächtig erhebt sich der Adler in die Luft, seine Sehkraft
jedoch übertrifft noch bei weitem die Schwungkraft seiner Fittiche.
Sein Blick reicht weit über seine Flügel hinaus. So hat auch unser Herz,
von Natur aus zu Gott hingeneigt, weit mehr Klarheit im Verstand,
um ihn als höchst liebenswürdig zu erkennen, als Kraft im Willen, ihn zu
lieben; denn die Sünde hat viel mehr den Willen geschwächt, als sie den
Verstand verfinstert hat.
Gewiß, die Empörung des sinnlichen Begehrungstriebes, die wir Begier-
lichkeit nennen, verdunkelt den Verstand, aber ihre Verführung und
Aufwiegelung ist doch hauptsächlich gegen den Willen gerichtet. So kann
also dieser arme, ohnedies schon geschwächte und nun noch von den
Stürmen der Begierlichkeit bedrängte Wille in der Liebe Gottes nicht so
vorwärtsschreiten, als es ihm Vernunft und natürliche Neigung einge-
ben. –
2. O Theotimus! Welch schönes Zeugnis einer großen Gotteserkenntnis
und Hinneigung zu Gott haben uns die heidnischen Philosophen Sokra-
tes, Platon, Trismegistos, Aristoteles, Hippokrates, Epiktet und Seneca
hinterlassen!
Sokrates, der gepriesenste unter allen, hatte eine tiefe Erkenntnis der
Einheit Gottes und eine so große Liebe zu ihm, daß er nach der Meinung
mehrerer, wie Augustinus bezeugt (St.G. 8,3), die Moralphilosophie nur
deshalb gelehrt hat, damit er die Herzen läutern und sie so der Erkenntnis
Gottes als des höchsten und einzigen Gutes fähiger machen könnte. Of-
fenbart sich Platon nicht ganz deutlich in seiner berühmten Definition der
I,17 93
Philosophie und des Philosophen (bei Aug., St. G. 8,9): Philosophieren sei
nichts anderes, als Gott lieben, und der wahre Philosoph nichts anderes
als ein wahrer Liebhaber Gottes? – Was soll ich aber erst von dem großen
Aristoteles sagen, der mit so viel Nachdruck die Einheit Gottes beweist
(Mt 12,10) und an so vielen Stellen mit großer Ehrfurcht von ihm spricht?
Aber, o ewiger Gott! Allen diesen großen Geistern, die eine so tiefe
Erkenntnis Gottes und eine so große Hinneigung zur Liebe Gottes hatten,
fehlte die Entschlossenheit und Kraft, ihn wirklich zu lieben. Durch die
sichtbare Kreatur „haben sie den Unsichtbaren Gott erkannt, seine ewige
Macht wie seine Göttlichkeit“, sagt der große Apostel. „Deshalb sind
sie nicht zu entschuldigen. Obwohl sie Gott erkannten, haben sie ihn
doch nicht als Gott verehrt, noch ihm gedankt“ (Röm 1,18–21). Sie
verherrlichten ihn zwar irgendwie durch Ehrentitel, aber nicht nach Ge-
bühr, da ihnen der Mut fehlte, der Abgötterei Einhalt zu gebieten. Im
Verkehr mit Götzendienern hielten sie ungerechterweise die erkannte
Wahrheit als Gefangene in ihrem Herzen zurück und wurden „eitel
in ihren Gedanken“ (ebd.), weil sie ihre eigene Ehre und ein bequemes,
nutzloses Leben der Ehre Gottes vorzogen.
Theotimus, ist es nicht traurig zu hören, daß der sterbende Sokrates
von Göttern spricht, als gäbe es deren viele? (Aug., St.G.8,12). Er, der so
gut wußte, daß nur ein Gott ist? Ist es nicht betrüblich, daß Platon be-
fiehlt, mehreren Göttern zu opfern (ebd.), obwohl er überzeugt war, daß
es nur einen Gott gibt? Und ist es nicht kläglich, daß Mercurius
Trismegistos so feig über die Abschaffung der Abgötterei klagt (Aug.,
St.G. 8,23.24), er, der doch an so vielen Stellen seiner Schriften so wun-
dervoll von der Gottheit spricht? – Besonders aber wundere ich mich
über den armen guten Epiktet, dessen Lehr- und Denksprüche so schön
zu lesen sind und ein so deutliches Zeugnis von seiner Begeisterung für
Gott ablegen. Man könnte ihn für einen Christen halten, der von einer
tiefen und heiligen Betrachtung zurückkehrt. Trotzdem erwähnt er bei
Gelegenheit die Götter wie die anderen Heiden. Warum hatte dieser
treffliche Mann, der eine so große Erkenntnis von dem einen Gott und
ein so feines Empfinden für dessen Güte hatte, nicht so viel heiligen Eifer
für Gottes Ehre, seine Ansichten über etwas so Wichtiges frei und unver-
hohlen zu bekennen?
3. Man sieht also, mein Theotimus, daß unsere arme, durch die Sünde
geschwächte Natur den Palmbäumen vergleichbar ist, die aus ihrer Hei-
mat zu uns gebracht wurden und hier nur kümmerliche Früchte zu tragen
94 I, 18
18. Kapitel
Die natürliche Neigung, Gott zu lieben, ist nicht zwecklos in uns.
1. Es erhebt sich nun die Frage, warum wir eine natürliche Neigung
fühlen, Gott über alles zu lieben, wenn wir doch dieser Neigung in der
Tat nicht folgen können. Handelt die Natur nicht sinnlos, uns zu einer
Liebe anzutreiben, die sie uns nicht geben kann? Warum erregt sie in
uns den Durst nach einem so kostbaren Wasser, ohne aber die Macht
zu besitzen, ihn zu stillen?
2. O, Theotimus, wie groß ist Gottes Güte gegen uns! Die Treulosigkeit,
die wir durch die Sünde begangen haben, verdiente es wohl, daß er uns alle
Beweise der Huld und des Wohlwollens wieder entzöge, die er unserer
Natur gewährt hatte. Welche Güte erwies er ihr doch, da er ihr das Licht
seines Antlitzes einprägte und unser Herz die Freude verkosten ließ (Ps
4,7), sich zur Liebe der göttlichen Güte hingezogen zu fühlen! Hätten die
Engel nicht allen Grund, beim Anblick dieses so tief gesunkenen Men-
schen voll Mitleid auszurufen: „Ist dies das Geschöpf von so hoher Schön-
heit; ist dies die Ehre der Erde?“ (Klgl 2,15).
I, 18 95
Doch die grenzenlose Huld Gottes konnte am Werk ihrer Hände keine
so furchtbare Strenge üben. Sie sah, daß wir Fleisch sind und ein Hauch,
der dahinfährt und nicht wiederkehrt (Ps 78,39). Deshalb wollte Gottes
herrliches Erbarmen uns nicht ganz verderben, noch das Zeichen der
Gnade, die wir verloren haben, hinwegnehmen. Wenn wir es sähen und
in uns den Antrieb und die Neigung, Gott zu lieben, fühlten, sollte
es uns ein Ansporn sein, dies auch zu verwirklichen, damit uns niemand
gerechterweise sagen könne: „Wer wird uns das Gute zeigen?“ (Ps 4,6).
Können wir auch durch diese natürliche Neigung allein nicht zur Se-
ligkeit gelangen, Gott nach Gebühr zu lieben, so spendet Gottes Güte
uns doch Hilfe zu weiterem Fortschritt, wenn wir dieser Neigung mit
Treue folgen. Entsprächen wir dieser ersten Gnadenhilfe, so würde
uns die väterliche Güte Gottes eine zweite, mächtigere verleihen und
uns in aller Milde von Stufe zu Stufe bis zu jener höchsten Liebe führen,
zu der unsere natürliche Neigung uns hindrängt. Ist es doch außer
Zweifel, daß die Güte Gottes dem Menschen, der über weniges getreu ist
(Mt 25,21–23) und tut, was er kann, jenen Beistand nicht versagt, der
ihn immer weiter vorwärts führt.
4. Die natürliche Neigung unserer Herzen, Gott über alles zu lieben,
ist also nicht sinnlos. Gott bedient sich ihrer, um sich unser um so
liebevoller zu bemächtigen und uns an sich zu ziehen. Wie man kleine
Vögel an zarten Banden hält, so hält auch er unsere Herzen gleichsam am
zarten Band dieser Neigung, durch das er uns anziehen kann, wenn es
seiner Barmherzigkeit gefällt, sich unser zu erbarmen. Uns aber ist
diese Neigung ein Zeichen und eine Erinnerung an unseren ersten Ur-
sprung und unseren Schöpfer. Sie eifert uns an, ihn zu lieben, indem sie
uns leise darauf aufmerksam macht, daß wir seiner göttlichen Güte ange-
hören.
Große Fürsten pflegen bisweilen den von ihnen gefangenen Hirschen
Halsbänder mit ihrem Wappen umzuhängen und ihnen dann wieder die
Freiheit zu schenken. Sie sollten jedem, der sie antreffen würde, be-
zeugen, daß sie nicht nur von dem Fürsten, dessen Wappen sie trugen,
gefangen wurden, sondern auch noch ihm vorbehalten blieben. Auf diese
Weise erkannte man das hohe Alter eines Hirsches, den man laut dem
Zeugnis einiger Geschichtsschreiber 300 Jahre nach dem Tod Caesars
im Wald fing; an seinem Halsband standen nämlich der Wahlspruch Cae-
sars und die Worte: „Caesar hat mich freigelassen.“
96 I,18
ZWEITES BUCH
1. Kapitel
Die göttlichen Vollk
Vollkommenheiten sind nur eine
ollkommenheiten
einzige, aber unendliche V ollk
Vollkommenheit.
ollkommenheit.
1. Man hält es für ein Vorzeichen nahenden Unwetters, wenn die Sonne
bei ihrem Aufgang zuerst rot scheint und sich dann verdunkelt und ver-
düstert – oder wenn sie bei ihrem Untergang fahl, glanzlos und farb-
los ist.
Theotimus, die Sonne ist weder rot noch schwarz, weder gelb noch
grau, noch grün. Sie, die große Himmelsleuchte, ist diesem Farbenwandel
und -wechsel nicht unterworfen. Ihre Farbe ist das urreine, stets sich
gleichbleibende Licht, das sich nur durch ein Wunder Gottes verändern
könnte. Wir freilich reden so, weil die Sonne unserem Auge verschieden-
farbig erscheint, je nach den verschiedenen Dunstschichten, die zwischen
ihr und unserem Auge liegen.
2. Auf ähnliche Weise sprechen wir auch von Gott, wie er aus seinem
Wirken erkennbar ist, und nicht, wie er in sich selbst ist. Ent-
sprechend unseren verschiedenen Erwägungen legen wir Gott verschiedene
Eigenschaften bei, als ob sich eine große Anzahl verschiedener Vorzüge
und Vollkommenheiten in ihm befände.
Betrachten wir ihn als den, der die schlechten Menschen bestraft, so
nennen wir ihn gerecht. Schauen wir ihn als den Befreier der Sünder aus
ihrem Elend, so verkünden wir seine Barmherzigkeit. Denken wir daran,
daß er der Schöpfer aller Dinge und der große Wundertäter ist, so sagen
wir, er ist allmächtig. Sehen wir ihn, wie er seine Verheißungen er-
füllt, dann nennen wir ihn wahrhaftig. Überlegen wir, daß er alles nach
bestimmten Gesetzen lenkt, dann ist er für uns allweise, und so fort.
Wir sprechen ihm so, je nach der Verschiedenheit seines Wirkens, eine
große Vielfalt von Vollkommenheiten zu.
In Wirklichkeit gibt es aber bei Gott keine Mannigfaltigkeit und
keine Verschiedenheit von Vollkommenheiten, sondern er selbst ist eine
alleinige, höchst einfache und ganz einzigartig einzige Vollkommenheit.
Alles, was in ihm ist, ist nur er selbst. All die Herrlichkeiten, die wir ihm
in so mannigfacher Fülle zuschreiben, sind in ihm in höchst einfacher
und ganz reiner Einheit.
Die Sonne hat keine all der Farben, die wir von ihr aussagen, sondern
ist nur ein einziges, sehr klares und über jede Farbe erhabenes Licht,
das alle Farben erst sichtbar macht. So hat auch Gott keine der
II, 1 99
können, es habe den Geschmack der Zitrone, der Melone, der Traube, der Pflau-
me und der Birne. Allerdings wäre man der Wahrheit näher gekommen,
hätte man gesagt, es habe nicht so viele, sondern einen einzigen, ihm
eigenen Geschmack, der in seiner Einheit alles Angenehme und Köstli-
che eines jeden anderen Geschmackes enthalte.
Ein anderer Vergleich: Die Pflanze Dodecatheos, die nach einem Be-
richt des Plinius (H.n. 25,4) alle Krankheiten heilt, ist weder Rhabarber
noch Sennesblatt, weder Rose noch Betonie noch Ochsenzungenkraut,
sondern nur eine einfache Pflanze, die in der ihr eigenen einzigen Ein-
fachheit so viel Heilkraft enthält, wie alle übrigen Arzneipflanzen zu-
sammen.
6. O Abgrund göttlicher Vollkommenheiten, wie wunderbar bist du!
In einer einzigen Vollkommenheit besitzt du die Erhabenheit aller
Vollkommenheiten auf eine so einzigartige Weise, daß niemand dies
erfassen kann, außer du selbst!
„Viel werden wir von ihm sagen,“ erklärt die Heilige Schrift, „und es
wird uns an Worten mangeln.“ Fassen wir es daher kurz zusammen: Er
ist einfach alles. Wollten wir uns rühmen, wozu würde es uns dienen?
Ist doch der Allmächtige über alle sein Werke erhaben. „Lobet den
Herrn und preist ihn nach eurem besten Vermögen, denn er ist größer als
alles Lob. Rafft all eure Kräfte zusammen, wenn ihr ihn preist, und wer-
det nicht müde; denn nimmermehr werdet ihr ihn begreifen!“ (Sir 43,27–
34).
Nein, mein Theotimus, nimmermehr werden wir Gott begreifen kön-
nen, der nach den Worten des hl. Johannes „größer ist als unser Herz“ (1
Joh 3,20).
Und dennoch: „Alles was Odem hat, lobe den Herrn“ (Ps 150,6),
und gebe ihm die erhabensten Namen, die es zu finden vermag. Aber
der höchste Lobpreis sei unser Bekenntnis, daß wir nie imstande sein
werden, ihn gebührend zu preisen. Und der erhabenste Name, den wir
ihm geben können, sei unsere Beteuerung, daß sein Name über alle Na-
men erhaben ist (Phil 2,9), daß wir unfähig sind, ihm je einen Namen
zu geben, der seiner würdig wäre.
II, 2 101
2. Kapitel
In Gott gibt es nur einen einzigen Akt und dieser
ist seine eigene Gottheit.
1. Wir besitzen viele verschiedenartige Fähigkeiten und Kräfte; diese
bringen daher auch eine große Mannigfaltigkeit von Handlungen hervor,
deren Ergebnis eine beispiellose Menge von Werken ist.
So sind unsere angeborenen Fähigkeiten – zu sehen, zu hören, zu
schmecken, zu berühren, zu bewegen, uns zu ernähren, zu verstehen
und zu wollen – ebenso von einander verschieden, wie die erlernten
Fähigkeiten – zu gehen, zu reden, zu spielen, zu singen, zu nähen, zu
springen, zu schwimmen. Und genau so verschieden sind auch die Hand-
lungen und Werke, die durch diese Fähigkeiten hervorgebracht werden.
2. Bei Gott ist es aber anders. In ihm findet sich nur eine einzige,
höchst einfache, unendliche Vollkommenheit und in dieser nur eine
ganz einzige und ganz lautere Wirklichkeit.
Oder, um es heiliger und richtiger zu sagen: Gott ist nur eine einzige
und zwar erhabenst einzige und allereinzigst erhabene Vollkommenheit.
Und diese Vollkommenheit ist eine einzige allerreinst einfache und aller-
einfachst reine Wirklichkeit, die stets bleibt und ewig besteht, weil sie
eben nichts anderes ist als das göttliche Wesen selber.
3. Wir freilich, die nur schwache Geschöpfe sind, reden von den
Werken des Allerhöchsten so, als ob es sich wirklich um eine große An-
zahl und Mannigfaltigkeit einzelner Akte handelte, obwohl wir das
Gegenteil wissen. Wir können wegen der Schwäche unseres Geistes nicht
anders. Wir vermögen ja über alles nur so zu reden, wie wir es verste-
hen – und unser Verstehen richtet sich nach dem normalen Gang der
Dinge um uns herum. Wir sehen, daß in der Regel Werke, die voneinan-
der verschieden sind, auch durch verschiedene Tätigkeiten zustande kom-
men. Daher scheint es uns bei der Mannigfaltigkeit und Verschieden-
heit der erschaffenen Dinge, bei den zahllosen Großtaten der göttlichen
Allmacht zunächst, daß diesen verschiedenen Werken auch verschiedene
Handlungen zugrunde liegen, und wir reden dann davon, wie wir es ge-
wöhnt sind, von allem zu reden und zu denken. So tun wir uns leichter
und verletzen damit auch nicht die Wahrheit. Denn bei Gott gibt es zwar
keine Vielheit der Tätigkeit, sondern nur einen einzigen Akt, der die
Gottheit selber ist; doch dieser ist so vollkommen, daß er auf die erha-
benste Weise die Kraft und Wirksamkeit aller Akte in sich begreift, die
für die Vielfalt der Wirkungen erforderlich erscheint.
102 II, 2
4. Gott sprach nur ein einziges Wort, aber kraft dieses Wortes waren
in einem Augenblick Sonne und Mond da und die zahllose Menge der
Sterne mit all ihrer Verschiedenheit an Helle, Bewegung und Einfluß. „Er
gebot, da wurden sie geschaffen“ (Ps 148,5). Ein einziges Wort Gottes
erfüllte die Luft mit Vögeln, das Wasser mit Fischen und ließ die Erde all
die Pflanzen und Tiere hervorbringen, die wir hier schauen. Der Verfasser
der Heiligen Schrift berichtet zwar (Gen 1), Gott habe jenes allmächtige Wort
„Es werde!“ an den Schöpfungstagen der Welt öfter gesprochen. Er paßt sich so
unserer Fassungskraft an; tatsächlich aber war, wollen wir es richtig sagen,
dieses Wort ganz einmalig. Daher nennt es David einen Odem oder Hauch
des göttlichen Mundes (Ps 33,6). Das heißt, es ist ein einziger Akt seines
unendlichen Willens, der seine Kraft so machtvoll in die Vielfalt des
Geschaffenen ergießt, daß wir ihn wie vervielfacht und vermannigfaltigt
sehen und zwar so vielfach, als seine Wirkungen sind, obwohl er in Wirk-
lichkeit ein einziger und ganz einfacher Akt ist.
Der hl. Chrysostomus (5. Hom zu Joh § 1) bemerkt daher, daß der
glorreiche hl. Johannes mit einem einzigen Ausdruck das sagt, was Mose in
vielen Sätzen von der Schöpfung der Welt schreibt: „Durch das Wort“ –
durch jenes ewige Wort, das der Sohn Gottes selbst ist – „ward alles
gemacht, was gemacht ist“ (Joh 1,3).
Mein Theotimus! Dieses höchst einfache und ganz einzige Wort bringt
alle Mannigfaltigkeit der Dinge hervor. Obwohl selbst unveränderlich,
bewirkt es alle Veränderungen; obwohl unwandelbar, verleiht es allen
Dingen Aufeinanderfolge, Wechsel und Ordnung, Rang und Zeitenfolge.
5. Zur besseren Verdeutlichung diene ein Vergleich: denken wir uns
einen Maler, der ein Bild von der Geburt des Heilands entwirft. – Ich
schreibe dies gerade in den Tagen, die diesem heiligen Geheimnis geweiht
sind. – Dieser Maler wird also tausende und abertausende Pinselstriche
machen müssen und Tage, ja Wochen und Monate bis zur Vollendung
seines Gemäldes brauchen, je nach der Verschiedenheit der darzustellenden
Personen und Gegenstände. Und nun stellen wir uns einen Kupferstich-
drucker vor, der ein Blatt auf die Kupferplatte legt, worauf dasselbe Ge-
heimnis der Geburt des Herrn eingegraben ist. Durch einen einzigen Druck
der Presse wird das Werk vollendet und er kann ein schönes Bild vorlegen,
das in ansprechender Weise alles zeigen wird, was zur Darstellung der
Geburt des Herrn gehört. Obwohl er nur eine einzige Bewegung gemacht
hat, weist das Bild dennoch eine große Mannigfaltigkeit an Personen und
Gegenständen auf, alle voneinander verschieden, jedes an seinem Platz
II, 2 103
und alles richtig gruppiert. Wer nichts von dem Geheimnis dieser Kunst
wüßte, wäre sehr erstaunt, daß eine einzige Bewegung eine so vielfältige
Wirkung hervorbringen konnte.
Genau so vervielfältigt und verändert die Natur, gleich einem Maler,
ihr Wirken je nach der Vielfalt ihrer Werke. Um Großes zu schaffen,
bedarf sie langer Zeit. Gott aber rief, gleich jenem Drucker, all die ver-
schiedensten Geschöpfe, die je waren, sind und sein werden, durch einen
einzigen Akt seiner Allmacht ins Dasein. Aus seinem ewigen Gedanken
nahm er gleichsam wie von einer sorgfältig gestochenen Kupferplatte diese
wundervolle Mannigfaltigkeit von Personen und Gegenständen, die alle
in ihrer Ordnung zu bestimmten Zeiten, Zeitaltern und Jahrhunderten
aufeinanderfolgen, wie es eben sein sollte.
6. Diese höchste Einheit des göttlichen Aktes steht zwar im Gegensatz
zur Verwirrung und Unordnung, nicht aber zur Verschiedenheit und
Mannigfaltigkeit, die sie im Gegenteil dazu verwendet, den Dingen
Schönheit zu verleihen. Gott bringt nämlich all die Vielfalt und Ver-
schiedenheit in ein bestimmtes Verhältnis zueinander; dadurch begründet
er die Ordnung und durch die Ordnung die Einheit des Weltalls, das alle
geschaffenen Wesen, sichtbare und unsichtbare umfaßt. Man hat
daher für das Wort „Weltall“ das lateinische Wort „Universum“ geprägt,
vielleicht weil alle Verschiedenheit der Geschöpfe zur Einheit gebracht
und sozusagen „uni-diversum“ wird, das heißt: einig und verschieden,
Einheit mit Verschiedenheit und Verschiedenheit mit Einheit.
7. Zusammenfassend kann man also sagen, die allerhöchste göttliche
Einheit bewirkt die Verschiedenheit; ihre gleichbleibende Ewigkeit be-
wirkt den Wechsel aller Dinge. Die über alle Verschiedenheit und Man-
nigfaltigkeit erhabene göttliche vollkommene Einheit birgt ja in sich
das Vermögen, aller Verschiedenheit geschaffener Vollkommenheit das
Dasein zu geben und sie hervorzubringen.
Davon gibt die Heilige Schrift Zeugnis. Hier lesen wir, daß Gott im
Anfang sprach: „Es werden Lichter an der Feste des Himmels und
sie scheiden den Tag von der Nacht, und Zeichen sollen sie sein den
Zeiten, Jahren und Tagen“ (Gen 1,14). Und so sehen wir noch heute den
beständigen Wechsel der Zeiten und ihre Aufeinanderfolge, die dauern wird
bis ans Ende der Zeiten. „Er gebot, da wurde es geschaffen, Er hat es
beschlossen für alle Ewigkeit!“ (Ps 148,5.6).
Die Kraft dieses alleinigen ewigen Wollens der göttlichen Majestät
erstreckt sich von Jahrhundert zu Jahrhundert und bis in alle Ewigkeit
104 II, 3
auf alles, was war, ist und sein wird. Und auch nicht ein Wesen empfängt
sein Dasein, es sei denn durch diesen einzigen, höchst einfachen, unwan-
delbaren, ewigen Akt Gottes, dem Ehre und Ruhm sei in Ewigkeit. Amen
(1 Tim 1,17).
3. Kapitel
Allgemeines über die göttliche Vorsehung.
Vorsehung.
Er beschloß dann, mit dem König Hieram wegen des nötigen Bauholzes zu
verhandeln, mit Peru und Ofir in Handelsbeziehungen zu treten und alle
übrigen Vorkehrungen zur Durchführung seines Unternehmens zu tref-
fen.
3. Das genügte ihm aber noch nicht. Nach dem Entwurf seines Planes und
der Erwägung der besten Mittel, ihn auszuführen, schritt er ans Werk. So
wie er es sich vorgenommen hatte, setzte er alle Amtspersonen ein und
sorgte durch eine gute Verwaltung dafür, daß alles Notwendige für ihren
Unterhalt und für die Ausübung ihrer Ämter vorhanden war.
So konnte er kraft seiner weisen Regierungskunst alles ausführen, was
er in seinem Geist für die Einsetzung der verschiedenen Amtspersonen
geplant hatte, und durch eine tüchtige Verwaltung das verwirklichen,
was er vorgesehen hatte. Seine Regierungskunst, die zunächst im richti-
gen Planen, Voraussehen oder Vorschauen bestand, wurde jetzt auch
in die Tat umgesetzt durch die Bestellung der Amtspersonen und durch
eine gute Verwaltung und Führung.
Eine Anordnung ohne Ausführung, in diesem Fall ohne die Einsetzung
der Amtspersonen, ist sinnlos. Andererseits ist es unmöglich, Beamte
einzusetzen, ohne vorher alles überlegt und vorgesehen zu haben, was für
ihren Unterhalt notwendig ist. So ist also auch ihr Unterhalt, der
durch eine gute Verwaltung besorgt wird, nichts anderes als eine verwirk-
lichte „Vorsehung“.
Daher konnte man nicht nur die Planung, sondern auch die Ein-
setzung der Beamten und die gute Verwaltung Salomos als „Vorsehung“
bezeichnen, wie wir ja auch von jenen, die etwas gut verwalten, sagen, sie
seien „umsichtig“.
4. Theotimus, wir reden von göttlichen Dingen nach den Erfahrungen,
die wir aus der Betrachtung menschlicher Dinge schöpfen. Wir sagen
also, daß Gott von Ewigkeit her in vollkommenster Weise die „Kunst“
besaß, die Welt zu seiner Verherrlichung zu erschaffen.
Daher erwog er zuerst in seinem Geist die vornehmsten Geschöpfe,
von denen er wollte, daß sie ihm besonders Ehre erwiesen: die Engel und
die Menschen.
Er ordnete die Engel nach der Mannigfaltigkeit ihrer Ordnungen
und Chöre, wie die Heilige Schrift und die Kirchenväter uns lehren,
und beschloß, auch die Menschen in jener Mannigfaltigkeit zu erschaffen,
die wir sehen. Gleichzeitig erwog er von aller Ewigkeit her auch die
Mittel, die den Engeln und Menschen zur Erreichung ihres von ihm be-
106 II, 3
stimmten Zieles dienen sollten. Durch all dies betätigte Gott seine Vor-
sehung.
Er begnügte sich jedoch nicht mit dem Planen, sondern schuf tatsächlich
Engel und Menschen und spendete und spendet noch immer durch seine
Leitung den vernunftbegabten Geschöpfen alles, was sie brauchen, um
zur Herrlichkeit zu gelangen.
Kurz gesagt: die allerhöchste Vorsehung ist jener Akt, durch den Gott
Menschen und Engeln die notwendigen und nützlichen Mittel ver-
leihen will, ihr Ziel zu erreichen.
5. Weil aber diese Mittel von verschiedener Art sind, so geben wir auch
der Vorsehung verschiedene Namen. Wir sprechen von einer natürlichen
und einer übernatürlichen Vorsehung; diese ist entweder eine allgemeine,
eine besondere oder eine persönliche Vorsehung.
6. Da ich dich, Theotimus, später ermuntern werde, dich der göttlichen
Vorsehung ganz zu überlassen, so will ich jetzt noch ein Wort über die
natürliche Vorsehung sagen.
Als Gott die menschliche Natur mit jenen natürlichen Mitteln aus-
statten wollte, die ihr notwendig sind, um seine göttliche Güte zu ver-
herrlichen, erschuf er um des Menschen willen alle Tiere und Pflanzen.
Um dann für die Bedürfnisse der Tiere und Pflanzen zu sorgen, schuf
er verschiedenartiges Erdreich, verschiedene Jahreszeiten, Quellen, Winde,
Regenfälle. Sowohl des Menschen wegen als auch jener Dinge wegen,
die zu seinen Diensten stehen, erschuf er die Elemente, den Himmel und
die Gestirne, alles in einer so wunderbaren Ordnung, daß fast alle Ge-
schöpfe einander dienen. So tragen uns die Pferde, wir aber pflegen
sie; die Schafe nähren und kleiden uns, wir aber weiden sie. Die Erde läßt
Dünste in die Luft aufsteigen, die Luft hingegen spendet der Erde den
Regen. Die Hand dient dem Fuß, der Fuß trägt die Hand.
Zu welch leidenschaftlicher Liebe muß doch unser Herz für die aller-
höchste Weisheit entflammt werden, wenn wir diese Hinordnung auf-
einander, dieses Einanderdienen der Geschöpfe betrachten. Wie innig be-
wegt muß doch unser Herz ausrufen: „Deine Vorsehung, o großer,
ewiger Vater, leitet alle Dinge!“ (Weish 14,3).
Die Predigten der hl. Basilius und Ambrosius über das Sechstagewerk,
die Einführung zum Glaubensbekenntnis des Ludwig von Granada, meh-
rere Stellen in den schönen, kleinen Schriften Ludwig Richeome’s werden
gut veranlagten Seelen viele Beweggründe geben, die ihnen dafür von
Nutzen sein können.
II, 3 107
7. Diese Vorsehung, lieber Theotimus, dehnt sich also auf alles aus,
herrscht über alles und führt alles zu ihrer Verherrlichung.
Es gibt zwar unvorhergesehene und unvermutete Ereignisse, jedoch
sind sie nur für uns unvorhergesehen und unvermutet, nicht aber für
Gott, der sie vorhergesehen und zum Wohl der Allgemeinheit bestimmt
hat. Diese zufälligen Ereignisse entstehen durch das Zusammentreffen
mehrerer Ursachen, die keine natürliche Verbindung untereinander ha-
ben, sondern jede für sich ihre besonderen Wirkungen hervorbringt.
Sobald diese nun zusammentreffen, ergibt sich daraus eine ungewöhnliche
Gesamtwirkung, die wir ebensowenig voraussehen konnten, wie das
Zusammentreffen der Ursachen.
So war es zum Beispiel vernünftig, daß der Dichter Aeschylus wegen
seines Aberglaubens bestraft wurde. Er hatte von einem Wahrsager er-
fahren, daß ein Haus auf ihn fallen und ihn erschlagen würde. Darauf
hielt er sich, um diesem Schicksal zu entgehen, den ganzen Tag auf dem
Feld auf. Als er entblößten Hauptes dastand, sah ein Falke, der eine Schild-
kröte in den Klauen hielt, den kahlen Kopf des Dichters, hielt ihn für die
Spitze eines Felsen und ließ die Schildkröte auf ihn hinabfallen. So starb
Aeschylus, erschlagen vom Gehäuse der Schildkröte (Plin. H. n. 1,10).
Dies war allerdings kein Zufall, denn Aeschylus war nicht auf das
Feld gegangen, um dort zu sterben, sondern im Gegenteil, um dem Tod zu
entrinnen. Der Falke beabsichtigte auch nicht, das Haupt des Dichters, sondern
die Schale der Schildkröte zu zerschlagen, um deren Fleisch zu fressen.
Aber es erfolgte das Gegenteil: Die Schildkröte blieb am Leben,
Aeschylus hingegen wurde erschlagen. Uns scheint das alles ein Zufall zu
sein und noch dazu ein ganz unvermuteter. Die Vorsehung aber, die das
Zusammentreffen der Ursachen überschaut, wollte damit ein Werk der Ge-
rechtigkeit vollziehen, das den Aberglauben dieses Mannes bestrafen soll-
te.
Ebenso ist auch das Schicksal des ägyptischen Josef in seiner Mannig-
faltigkeit und wechselnden Gunst höchst wunderbar. Seine Brüder hat-
ten ihn verkauft, um ihn zu verderben. Aber wie sehr waren sie er-
staunt, ihn in Ägypten als Statthalter des Königs wiederzufinden. In
großer Angst zitterten sie vor seiner Rache. Er aber beruhigte sie und sprach:
„Nicht so sehr durch euren Anschlag, als durch die göttliche Vorsehung
ward ich hierhergesandt; Böses hattet ihr im Sinn, aber Gott hat es
zum Guten gewendet!“ (Gen 50,15.21).
108 II, 4
Siehe, mein Theotimus, was die Welt Zufall oder unvermutetes Ereig-
nis nennt, das nannte Josef eine Fügung der göttlichen Vorsehung, die
alle Dinge ordnet und in ihren Dienst stellt.
So verhält es sich mit allem, was auf Erden ist, Mißgeburten nicht
ausgenommen. Ihr Dasein erhöht die Hochschätzung für alles Vollendete
und Vollkommene, erregt Bewunderung und führt zu guten Gedanken. Sie
sind in der Welt gleich den Schatten auf einem Gemälde, die ihm mehr
Leben und Tiefe verleihen.
4. Kapitel
Die übernatürliche V orsehung gegenüber den
Vorsehung
vernunf tbegabten Geschöpfen.
vernunftbegabten
1. Alles, was Gott gewirkt hat, ist für das Heil der Engel und Men-
schen bestimmt.
Das ist nun in dieser Hinsicht die Ordnung seiner Vorsehung, soweit
wir sie an der Hand der Heiligen Schrift und aus den Lehren der Väter
zu erkennen und mit unseren beschränkten Fähigkeiten zu beschreiben
vermögen.
Von Ewigkeit her erkannte Gott, daß es in seiner Macht steht, zahl-
lose Geschöpfe verschiedener Eigenschaften und Vollkommenheiten zu
erschaffen, denen er sich mitteilen könnte. Er erwog nun, daß unter allen
Möglichkeiten, sich mitzuteilen, es keine so innige und erhabene gäbe,
als sich so mit einer geschaffenen Natur zu vereinigen, daß diese förm-
lich auf die Gottheit gepfropft und ihr einverleibt und so mit ihr eine
einzige Person würde.
Daher beschloß die göttliche Güte, die von selber und durch sich
selbst zur Mitteilung drängt, eine solche Vereinigung mit einem Ge-
schöpf einzugehen. Wie von Ewigkeit her in wesenhafter Mitteilung
der Vater seine unendliche und unteilbare Gottheit dem Sohn durch
Zeugung mitteilt und Vater und Sohn ihre eigene und einzige Gottheit
dem Heiligen Geist mitteilen, der von ihnen ausgeht, so wollte Gott auch,
daß seine erhabene Güte einem Geschöpf in ganz vollkommener Weise
mitgeteilt würde. Unter Beibehaltung der Naturen, der göttlichen und
geschöpflichen, samt deren Eigenschaften, sollten beide so innig mitein-
ander verbunden werden, daß sie nur eine einzige Person bildeten.
2. Unter allen Geschöpfen, denen Gottes erhabene Allmacht das Da-
sein zu schenken vermöchte, gefiel es ihm, die menschliche Natur zu er-
wählen, die denn auch tatsächlich mit der Person des Gottessohnes verei-
II, 4 109
nigt wurde. So wurde sie zur erhabenen, unsagbaren Ehre der personhaften
Vereinigung mit der göttlichen Majestät bestimmt und damit zum erhaben-
sten Besitz der Schätze ihrer unendlichen Herrlichkeit bis in alle Ewig-
keit.
3. Da nun Gott der hochheiligen Menschheit unseres Erlösers diese
Auszeichnung zugedacht hatte, so beschloß er, die Mitteilung seiner
Güte nicht auf die Person seines vielgeliebten Sohnes allein zu beschrän-
ken, sondern um seinetwillen sie auf viele andere Geschöpfe ausströmen
zu lassen.
Aus der Masse der zahllos möglichen Geschöpfe, die er hervorbringen
konnte, wählte und schuf er die Engel und Menschen gleichsam dazu,
seinem Sohn Gesellschaft zu leisten, seine Gnade und seine Herrlichkeit
zu teilen und ihn in alle Ewigkeit anzubeten und zu preisen.
4. Gott sah nun verschiedene Möglichkeiten, die Menschheit seines
Sohnes zu schaffen, so daß er ein wirklicher Mensch würde. Er konnte
Leib und Seele aus dem Nichts erschaffen; er konnte den Leib aus einem
früher bestehenden Stoff bilden, wie es bei Adam und Eva geschah; er
konnte ihn auf dem gewöhnlichen Weg der Zeugung durch Mann und
Frau zur Welt kommen lassen.
Schließlich sah Gott, daß sein Sohn auch auf dem Weg einer außer-
gewöhnlichen Zeugung durch eine Frau ohne Mann Mensch werden
konnte, und er beschloß, daß es auf diese Weise geschehen sollte. Aus
allen Frauen aber, die er dazu auserwählen konnte, erkor er die hochge-
benedeite Jungfrau, Unsere liebe Frau, durch die unser Erlöser nicht nur
Mensch, sondern ein Glied des menschlichen Geschlechtes werden sollte.
5. Außerdem beschloß die Vorsehung Gottes, alle übrigen Dinge, na-
türliche wie übernatürliche, Unseres Herrn wegen ins Dasein zu rufen,
damit Menschen und Engel ihm dienen und so Teilhaber seiner Herr-
lichkeit werden könnten. Obgleich Gott Engel und Menschen mit frei-
em Willen erschaffen wollte, mit der Freiheit, das Gute oder das Böse
zu wählen, so erschuf er sie gleichwohl in ursprünglicher Gerechtigkeit,
gleichsam zum Zeugnis, daß seine Güte sie für das Gute und für die
Herrlichkeit bestimmt habe. Diese Gerechtigkeit bestand in einer wonne-
vollen Liebe, die sie zur ewigen Glückseligkeit bereit machte, hinlenkte
und hinführte.
6. Weil aber die allerhöchste Weisheit beschlossen hatte, diese Liebe
so mit dem Willen der Geschöpfe zu verbinden, daß die Liebe dem
Willen nicht Gewalt antun, sondern volle Freiheit lassen sollte, sah er
110 II, 4
auch voraus, daß ein Teil der Engel, allerdings ein geringerer Teil, diese
Liebe freiwillig preisgeben, und infolgedessen ihre Herrlichkeit verlieren
würde.
Die Sünde der Engel konnte nur ein ausdrücklicher Bosheitsakt sein,
ohne vorhergegangene Versuchung und ohne einen anderen mildernden
Umstand. Außerdem sah Gott voraus, daß der größere Teil der Engel
treu im Dienste des Heilands bleiben würde. Daher wollte er, der in der
Erschaffung der Engel seine Barmherzigkeit überreich verherrlicht hat-
te, nun auch seine Gerechtigkeit verherrlichen und beschloß deshalb im
Ingrimm seines gerechten Zorns, die unglückselige Schar dieser Treulo-
sen auf ewig zu verstoßen, sie, die in der Vermessenheit ihres Aufruhrs
ihn so schändlich verlassen hatten.
7. Ebenso sah Gott voraus, daß der erste Mensch seine Freiheit miß-
brauchen, die Gnade und damit auch die Herrlichkeit verlieren würde. Ge-
gen den Menschen wollte aber Gott nicht mit gleicher Strenge wie gegen
die gefallenen Engel vorgehen. Er hatte doch die menschliche Natur er-
koren, aus ihr ein Wesen mit seiner Gottheit aufs innigste zu vereinen.
Er sah ihre Schwäche, einem Wind gleich, der da weht und nicht wieder-
kehrt (Ps 78,39), also im Wehen vergeht.
Er zog auch in Betracht die Überlistung des ersten Menschen durch
Satan und die Größe der Versuchung, der er erlag. Er sah, daß das
ganze Menschengeschlecht durch die Schuld eines Einzigen dem Verderben
geweiht war. So erbarmte er sich unserer Natur und beschloß, ihr Ver-
zeihung zu gewähren.
8. Damit aber die Milde seines Erbarmens nicht des Glanzes seiner
Gerechtigkeit entbehrte, beschloß er die Rettung des Menschen auf dem
Weg eines gestrengen Loskaufes. Dies konnte nur durch seinen Sohn ge-
schehen. Daher sollte dieser die Menschen erlösen, und nicht nur durch
eine Tat der Liebe – obwohl eine solche hinreichend gewesen wäre, zahl-
lose Millionen Welten zu erlösen, sondern durch ein ganzes Leben
voll Liebe und Leid bis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuz (Phil 2,8). Er
sollte Teilnehmer unserer Armseligkeit werden, um uns zu Teilhabern sei-
ner Herrlichkeit zu erheben.
So hat Gott die Reichtümer seiner Güte durch die Erlösung geoffenbart
(Röm 2,4; 9,23), die reichlich, übervoll, überfließend, ganz herrlich und
übergroß uns alle notwendigen Mittel erwarb und gleichsam wiederer-
oberte, damit wir zur Herrlichkeit gelangen, so daß keiner sich je be-
klagen könnte, daß die göttliche Barmherzigkeit ihm fehlte.
II, 5 111
5. Kapitel
Die himmlische Vorsehung hat den Menschen eine
Vorsehung
überreiche Erlösung geschenkt.
1. Wenn wir sagen, Theotimus, Gott habe dies zuerst und jenes nachher
gewollt und so eine gewisse Ordnung in seinen Willensakten eingehalten,
so ist dies in dem Sinn zu verstehen, wie wir ihn in einem früheren Kapi-
tel erklärt haben (s. Kap. 2). Das heißt also: Obwohl alles Erkennen und
Wollen Gottes sich in einem einzigen und ganz einfachen Akt vollzieht, so
ist darin doch der Verschiedenheit der Dinge, deren Rangordnung und
Abhängigkeit voneinander Rechnung getragen, so, als ob es im Erkennen
und Wollen Gottes verschiedene Akte gegeben hätte.
2. Zu einem sinnvollen Willen gehört es, beim Wollen mehrerer
Gegenstände den vorzugsweise und vor allen anderen zu lieben, der am
meisten liebenswert ist. Daraus folgt notwendigerweise, daß die göttliche
Vorsehung beim Entwurf ihres ewigen Schöpfungsplanes unseren Erlöser
als den ihrer Liebe würdigsten Gegenstand zuerst und vor allem wollte und
liebte, und nach ihm, der Ordnung gemäß, alle übrigen Geschöpfe, wobei
sich hier das Maß der Liebe nach dem Maß ihrer Bestimmung für seinen
Dienst, seine Ehre und Verherrlichung richtete.
Alles ward daher für diesen göttlichen Menschen geschaffen. Des-
halb wurde er auch der „Erstgeborene vor aller Schöpfung“ (Kol 1,15)
genannt, den Gottes Majestät „im Anbeginn ihrer Wege“ besaß, noch ehe
sie einem Geschöpf Dasein verliehen hatte (Spr 8,22). „Er ward im An-
fang und vor allen Zeiten“ (Sir 24,9), „denn in ihm wurde alles erschaf-
fen... er ist vor allem und alles hat in ihm Bestand; er ist das Haupt der
Kirche und hat in allem und überall den Vorrang“ (Kol 1, 16.18).
Man pflanzt einen Weinstock nur der Frucht wegen. Die Frucht ist also
das Ersterwünschte und -erstrebte, wenngleich Blätter und Blüten ihr
vorausgehen. So war auch der Heiland der Erste in Gottes heiligen
Absichten und in der ewigen Planung, nach der die göttliche Vorsehung
die Geschöpfe hervorbringen wollte.
Dieser ersehnenswerten Frucht wegen wurde der Weinberg des Welt-
alls gepflanzt und die Folge der Geschlechter bestimmt, die gleich Blät-
tern und Blüten ihm vorausgehen sollten als geeignete Vorläufer und Vor-
bereitung für jene Frucht, die die Braut im Hohelied lobpreist und deren
süßer Saft Gott und Menschen erfreut (Hld 1,13, Ri 9,13).
112 II, 5
Schnee der Unschuld (Ps 51,9). Gleich Naaman gingen wir reiner und
sauberer aus dem Fluß des Heiles hervor (2 Kön 5,14), als wenn wir nie
aussätzig gewesen wären.
So sollte die göttliche Majestät, wie sie es uns befohlen hat, nicht vom
Bösen überwunden werden, sondern sie sollte vielmehr das Böse durch
das Gute überwinden (Röm 12,21). Gleich einem milden und heiligen
Öl sollte ihre Barmherzigkeit über dem Gericht stehen (Jak 2,13) und
ihre Erbarmungen all ihre Werke überragen (Ps 145,9).
6. Kapitel
Einige besondere Gnadener weise der V
Gnadenerweise orsehung
Vorsehung
in der Erlösung der Menschen.
So hielt Gott von seiner glorreichen Mutter alle Knechtschaft fern (Ps
126,1) und beschenkte sie mit der Glückseligkeit zweier Zustände der
menschlichen Natur. Sie besaß die vom ersten Adam verlorene Unschuld
und erfreute sich in erhabenster Weise der Erlösung, die der zweite Adam
ihr erwarb. Gleich einem erlesenen Garten, der die Frucht des Lebens
hervorbringen sollte, ward sie dann übersät mit Blüten aller Vollkommen-
heit. Der Sohn der ewigen Liebe schmückte seine Mutter mit goldenem
Gewand, verbrämt in mannigfacher Schönheit, damit sie die Königin zu
seiner Rechten, die Erste der Auserwählten sei (Ps 45,10), im seligen
Besitz der Wonne der „göttlichen Rechten“ (Ps 16,11).
So wurde also diese hochgebenedeite, ihrem Sohn ganz vorbehaltene
Mutter nicht nur von der Verdammnis, sondern auch von jeder Gefahr
der Verdammnis erlöst. Er sicherte ihr auch noch die Gnade und die
Fülle der Gnaden, so daß sie einer leuchtenden Morgenröte glich, die von
ihrem Anbruch an dauernd an Klarheit wächst bis zum vollen Tag (Hld 6,10;
Spr 4,18).
O wunderbare Erlösung, Meisterwerk des Erlösers und erste aller
Erlösungen, durch die des Sohnes kindlich liebendes Herz seiner Mutter
mit Segnungen seiner Liebe zuvorkam (Ps 21,4) und sie nicht nur gleich
den Engeln vor der Sünde, sondern auch vor jeder Gefahr zu sündigen,
vor allen Ablenkungen und Hemmungen in der Übung der heiligen
Liebe bewahrte! Daher beteuert er auch, daß unter allen seinen Auser-
wählten diese Mutter seine einzigartige „Taube“, seine ganz vollkom-
mene, seine ganz unvergleichlich Inniggeliebte sei (Hld 6,8; 7,6).
3. Gott plante dann noch besondere Gunstbezeugungen für einige weni-
ge Menschen, die er vor der Gefahr der Verdammnis bewahren wollte. Es
ist gewiß von Johannes dem Täufer und wahrscheinlich von Jeremia und
noch einigen anderen. Die göttliche Vorsehung suchte sie schon im Mutter-
leib heim und verlieh ihnen schon von da ab die Gnadenbeharrlichkeit,
damit sie in der göttlichen Liebe fest blieben, wenngleich sie noch Hem-
mungen und läßlichen Sünden unterworfen waren, die wohl der Vollkommen-
heit der Liebe, nicht aber dieser selbst entgegen sind.
Solche Seelen sind im Vergleich zu anderen Königinnen ähnlich, für
immer gekrönt mit heiliger Liebe. Sie kommen in der Liebe des Heilands
gleich nach seiner hochgebenedeiten Mutter, der Königin über alle Kö-
niginnen; Königin, weil sie nicht nur mit der Liebe, sondern mit der
Vollkommenheit der Liebe gekrönt ist und, was noch mehr ist, gekrönt
II, 7 115
1. So hatte also die ewige Vorsehung der Königin aller Königinnen und
einzigartig vollkommenen Mutter der schönen Liebe (Sir 24,24) eine
unvergleichliche Gunst bezeugt.
Sie hatte auch noch besondere Gnadengaben für andere Seelen bereit.
Dann aber ergoß die höchste Güte eine Fülle von Gnaden und Segnun-
gen über das ganze Menschengeschlecht und über die Engel, die allen zu-
gute kommen sollte, gleich einem Regen, der Gute und Böse beschenkt
(Mt 5,45), gleich einem Licht, das jeden erleuchtet, der in diese Welt
kommt (Joh 1,9), oder gleich dem Samen, der nicht nur auf gutes Erd-
reich fällt, sondern auch mitten auf den Weg, ja in Dornen und auf steini-
gen Grund (Mt 3,3–8). Niemand kann sich daher vor seinem Erlöser
entschuldigen (Röm 1,20), wenn er diese überreiche Erlösung nicht zu
seinem Heil verwendet.
116 II, 3
2. So hat sich, Theotimus, diese reiche Fülle von Gnaden auf die
gesamte Menschennatur ergossen. Wir sind uns alle darin gleich, daß
eine reiche Fülle von Segnungen uns allen angeboten wird. Jedoch ist die
Vielfalt der Gnadengaben andererseits wieder so groß, daß sich nicht
sagen läßt, was wunderbarer ist: die Größe all der Gnaden in solcher
Mannigfaltigkeit oder die Mannigfaltigkeit in solcher Größe.
Wer könnte bestreiten, daß den Christen größere und wirksamere Heils-
mittel zur Verfügung stehen als den Heiden? Oder, daß manche Völker
oder Städte mit Seelenhirten gesegnet sind, die kraft ihrer Fähigkeiten
reichlichere Früchte erzielen als andere an anderen Orten?
Man kann nicht leugnen, daß diese äußerlichen Mittel eine beson-
dere Gunst der göttlichen Vorsehung darstellen; man kann auch nicht
daran zweifeln, daß sie zum Heil und zur Vollkommenheit der Seelen
beitragen. Es wäre Undankbarkeit gegen die Güte Gottes, es stünde auch
im Widerspruch mit der Erfahrung, die zeigt, daß, wo äußere Mittel
reichlich vorhanden sind, die inneren Gnaden größere und tiefergehende
Wirkungen erzielen.
Man wird niemals zwei Menschen treffen, die sich an natürlichen
Gaben vollkommen ähnlich sind; ebenso findet man auch nicht zwei
Menschen, die sich an übernatürlichen Gaben vollkommen gleichen.
3. Die Engel empfingen die Gnade gemäß ihrer verschiedenen Natur,
wie der hl. Augustinus (St.G. 11,9.16; 12,9) und der hl. Thomas (I, 62,6)
versichern. Nun aber sind alle Engel von verschiedener Art, oder wenig-
stens hat jeder besondere Eigenschaften, da sie alle voneinander verschie-
den sind. Soviel Engel es gibt, so verschieden sind daher ihre Gnaden-
gaben.
4. Bei den Menschen richten sich zwar die Gnadengaben nicht nach der
Verschiedenheit der Natur, jedoch gefällt es der Güte unseres Gottes, ihre
Freude, ja sozusagen ihr Ergötzen im Hervorbringen von Gnaden zu
finden; Gnaden von unendlicher Mannigfaltigkeit, die durch ihre Viel-
falt die Erlösung und göttliche Barmherzigkeit in ihrer leuchtenden Schön-
heit aufscheinen lassen. Deshalb singt auch die Kirche am Fest eines
jeden heiligen Bekenners und Bischofs: „Keiner war gefunden, der ihm
gleich war“ (Sir 44,20).
Wie im Himmel „niemand den neuen Namen weiß, als nur der, der ihn
empfängt“ (Offb 2,17), wie jeder Heilige einen neuen, nur für ihn allein
bestimmten Namen erhält, der seinen neuen Zustand, der Stufe seiner
II, 7 117
Glorie entspricht, so empfängt auch schon auf Erden jeder Mensch eine
ihm eigene Gnade, so daß alle Gnaden unter sich verschieden sind.
Der Herr vergleicht daher seine Gnade mit Perlen (Mt 13,45), weil jede
Perle, wie Plinius (H.n.1,9) sagt, so einzig in ihren Eigenschaften ist, daß man nie
zwei findet, die einander vollkommen gleichen. Und so wie ein Stern
vom anderen an Klarheit verschieden ist (1 Kor 15,41), so werden auch
die Menschen im Stand der Glorie voneinander ganz verschieden sein,
ein offenkundiges Zeichen, daß sie es schon vorher im Zustand der Gnade
waren.
Diese Mannigfaltigkeit in der Gnade oder diese Gnade in der Mannig-
faltigkeit bewirkt eine überaus heilige Schönheit und eine wundersame
liebliche Harmonie, die das ganze himmlische Jerusalem mit Wonne
erfüllt.
5. Hüten wir uns aber, zu untersuchen, warum die höchste Weisheit
lieber diesem als einem anderen besondere Gnaden spendete oder warum
sich Gott an einem Ort freigebiger zeigt als an einem anderen. Nein,
mein Theotimus, erlaube dir nie diese Art von Neugierde! Jeder von uns
hat hinreichend, ja überschwenglich alles Nötige, um sein Heil zu er-
langen. Welchen Grund könnte man also haben, sich zu beklagen, wenn
es dem Allerhöchsten gefällt, seine Gnaden dem einen in reichlicherem
Maß als dem anderen zu verleihen?
Würde man nicht lachen über einen, dem es einfiele zu fragen, warum
Gott die Melone größer als die Erdbeere, die Lilie größer als das Veil-
chen schuf? Warum der Rosmarinstrauch nicht eine Rose, die Nelke nicht
eine Ringelblume ist, warum der Pfau schöner ist als die Fledermaus,
warum die Feige süß, die Zitrone säuerlich ist? Würde man ihm nicht
sagen: Du armer Mensch, die Schönheit der Welt erfordert ja gerade die
Mannigfaltigkeit. Deshalb müssen die einzelnen Dinge mit verschiede-
nen und ungleichen Vollkommenheiten bedacht sein und keines darf dem
anderen gleichen; es muß kleine und große, süße und saure, schönere und
minder schöne Dinge geben.
Bei den übernatürlichen Gnaden ist es nicht anders. Jeder hat seine
eigene Gnade, „der eine so, der andere so“ (1 Kor 7,7), spricht der Heili-
ge Geist. Es wäre sträfliche Ehrfurchtslosigkeit, wollte man erforschen,
warum Petrus nicht die Gnade des Paulus erhielt und Paulus nicht die
Gnade des Petrus; warum Antonius nicht Athanasius und Athanasius
nicht Hieronymus war. Die Antwort auf solche Fragen könnte nur lauten:
Weil die Kirche einem Garten vergleichbar ist, geschmückt mit der Lieb-
118 II, 8
lichkeit unzähliger Blumen, die sich alle in Größe, Farbe, Duft und Schön-
heit voneinander unterscheiden; doch hat jede ihre Kostbarkeit, ihre
Anmut, ihre Farbenpracht und alle zusammen bilden durch die Vereini-
gung ihrer Mannigfaltigkeit die Vollendung einer höchst ansprechenden
Schönheit.
8. Kapitel
Wie sehr Gott danach verlangt, daß wir ihn lieben.
Gott drängt durch dieses allgemeine Gebot darauf, daß diese Neigung
ihre Verwirklichung finde. Damit aber dieses Gebot befolgt werden könne,
unterläßt es Gott bei keinem Menschen, ihm alle zu diesem Zweck erfor-
derlichen Mittel in reichem Maß zur Verfügung zu stellen.
3. Die Sonne überströmt alles mit ihrer belebenden Wärme und spendet
jedem die nötige Kraft, Früchte zu bringen, so als liebte sie alle Dinge auf
Erden. Genau so belebt auch die göttliche Güte alle Seelen und ermutigt
die Herzen zur Liebe. Nicht einer kann ihrer Glut entrinnen (Ps 19,7).
„Die ewige Weisheit“ spricht Salomo, „predigt öffentlich; sie läßt ihre Stim-
me auf den Plätzen erschallen, sie ruft und ruft mit lauter Stimme vor
allem Volk; sie läßt sich an den Toren der Stadt vernehmen und spricht also:
Wie lange, ihr Kinder, wollt ihr das Kindischsein lieben? Wie lange wollen
die Unverständigen verlangen, was ihnen schadet, und die Toren die Weis-
heit hassen? Bekehrt euch und wendet euch auf diese Warnung hin mir
zu; seht, ich werde euch meinen Geist offenbaren und meine Worte euch
kundtun“ (Spr 1,20.23).
Und dieselbe göttliche Weisheit spricht durch den Mund des Propheten
Ezechiel (33,10.11): „Keiner sage, ich bin in Sünden verstrickt, wie kann
ich wieder aufleben? Denn so spricht der Herr: Ich lebe und so wahr ich
lebe, will ich den Tod des Sünders nicht, sondern daß er von seinem Weg
umkehre und lebe.“ Leben heißt aber bei Gott nichts anderes als lieben.
„Wer nicht liebt, der bleibt im Tod“ (1 Joh 3,14). Siehst du also, Theotimus,
ob Gott danach verlangt, daß wir ihn lieben?
Aber noch nicht genug, daß er sein sehnsüchtiges Verlangen nach Lie-
be öffentlich verkündet, damit jeder Mensch an seiner liebevollen Einla-
dung teilhaben könne – er geht sogar von Tür zu Tür, klopft an und be-
teuert, daß er bei jedem, der ihm auftut, einkehren und Gastmahl mit ihm
halten, jede Art Gnade und Wohlwollen ihm erzeigen wird (Offb 3,20). Was
aber will dies anders heißen, Theotimus, als daß Gott uns nicht nur die
notwendigen und hinreichenden Mittel gewährt, ihn zu lieben und da-
durch selig zu werden, sondern vielmehr seine Hilfe in solchem Überfluß
und mit solch großzügiger Freigebigkeit spendet, wie man sie von der
überreichen Güte, die ihm eigen ist, erwarten muß?
Der große Apostel spricht zum verstockten Sünder: „Mißachtest du
die Reichtümer der Güte, Geduld und Langmut Gottes? Weißt du nicht,
daß Gottes Güte dich zur Umkehr bringen will? Aber mit deinem Starr-
sinn und deinem unbußfertigen Herzen häufst du dir Zorn auf für den
Tag des Zorns“ (Röm 2,4.5). – Mein lieber Theotimus, Gott wendet also
120 II, 9
9. Kapitel
Wie Gottes ewige Liebe unserem Herzen mit ihrer Eingebung
zuvorkommt, damit wir ihn lieben.
1. „Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt, deshalb habe ich dich
aus Erbarmen an mich gezogen und abermals will ich dich aufbauen und du
wirst aufgebaut werden, Jungfrau Israel!“ (Jer 31,3.4).
Dies sind Worte Gottes. Sie enthalten die Versicherung, daß der Erlö-
ser, wenn er in die Welt kommt, ein neues Reich in seiner Kirche errich-
II, 9 121
ten wird, die dann seine jungfräuliche Braut, das wahre geistliche Israel
sein soll.
Wie du siehst, Theotimus, hat er uns erlöst nicht etwa irgendwelcher
Verdienste von Werken wegen, die wir vollbracht hätten, sondern aus
reinem Erbarmen (Tit 3,5). Diese von Ewigkeit her dauernde Liebe hat
die göttliche Vorsehung gedrängt, uns an sich zu ziehen. Hätte der Vater
uns nicht „gezogen“, so wären wir niemals zu seinem Sohn, unserem
Erlöser, und damit auch niemals zum Heil gelangt (Joh 6,44).
2. Aristoteles spricht (Hist. an. 1,1) von gewissen Vögeln, er nennt
sie „Apoden“ oder „Fußlose“, deren Beine so kurz und deren Füße
so schwach sind, daß sie sich ihrer nicht bedienen können; es ist, wie
wenn sie überhaupt keine hätten. Sinken diese Vögel einmal zur Erde
herab, so bleiben sie dort wie gefangen liegen und sind nicht imstande,
sich zum Flug zu erheben. Da sie Beine und Füße nicht gebrauchen
können, vermögen sie sich nicht in die Luft zu erheben. Sie kauern am
Boden und gehen zugrunde, falls nicht ein günstiger Wind ihrem Unver-
mögen zu Hilfe kommt, sie erfaßt und in die Luft hinaufwirbelt, wie er es
auch sonst noch mit anderem macht. Wenn sie dann dem Antrieb und dem
Schwung, den ihnen der Wind gibt, entsprechen und ihre Flügel gebrau-
chen, dann hilft ihnen der Wind noch weiter und treibt sie immer mehr zum
Flug voran.
3. Mein Theotimus, die Engel sind jenen Vögeln ähnlich, die man
wegen ihrer Schönheit „Paradiesvögel“ nennt und die man noch nie
auf der Erde, es sei denn tot, gesehen hat. Kaum hatten jene himmlischen
Geister die göttliche Liebe preisgegeben und sich der Eigenliebe überlas-
sen, als sie auch schon wie tot hinabstürzten und in der Hölle begraben
wurden. Denn so wie der Tod die Menschen auf ewig von diesem
sterblichen Leben trennt, so trennte der Sturz die Engel auf ewig vom
ewigen Leben.
4. Wir Menschen aber gleichen den Apoden. Wenn uns das Unheil
widerfährt, daß wir Gott beleidigen und von den Höhen heiliger Gottes-
liebe auf die Erde herabsinken, um Geschöpfen anzuhangen, so sterben
wir zwar, aber nicht eines gänzlichen Todes. Es bleibt uns noch ein
wenig Bewegungsfähigkeit und dazu noch Beine und Füße, d. h. einige
schwache Affekte, durch die wir kleine Versuche zustande bringen, Gott
zu lieben. Aber das alles ist so schwach, daß wir unser Herz weder von
der Sünde losreißen, noch uns zur heiligen Liebe aufschwingen können,
die wir Erbärmliche treulos und eigenwillig aufgegeben haben.
122 II, 9
Ist es also nicht doch wahr, mein lieber Theotimus, daß diese erste
Erregung und Erschütterung, die die Seele empfindet, wenn Gott sie durch
sein liebendes Zuvorkommen aufweckt, wenn er sie antreibt, die Sünde zu
lassen und sich zu ihm hinzuwenden, daß also diese Erschütterung und
auch das Erwachen in uns, für uns, aber nicht durch uns geschieht? Wir
wachen auf, aber nicht von selbst. Göttliches Eingreifen hat uns geweckt
und, um uns aufzuwecken, hat er uns geschüttelt und gerüttelt.
„Ich schlief,“ spricht die Braut im Hohelied (5,2), „aber mein Bräuti-
gam, d. h. mein Herz wachte. Siehe, hier ist er, er weckt mich auf, er ruft
mich mit dem Namen unserer Liebe, an seiner Stimme erkenne ich, daß
er es ist.“
Plötzlich und unvermutet ruft und weckt uns Gott auf durch die Kraft
seiner heiligsten Eingebung. Wir selbst tun bei diesem ersten Anfang
himmlischer Gnaden nichts, sondern empfinden nur die Erschütterung,
die Gott, wie der hl. Bernhard sagt, wohl in uns, aber ohne uns wirkt
(Von Gnade u. Freiheit 14).
10. Kapitel
W ir weisen ofoftt die Einsprechung zurück und
ver weigern Gott unsere Liebe.
verweigern
1. „Wehe dir, Chorazin, wehe dir, Betsaida, denn wären zu Tyrus und
Sidon die Wunder geschehen, die in dir geschahen, so hätten sie längst in
Sack und Asche Buße getan.“ Dies sind die Worte des Heilands (Mt
11,21).
So höre doch, ich bitte dich, Theotimus: Die Einwohner von Chorazin
und Betsaida wurden in der wahren Religion unterwiesen und empfingen
große Gnaden, daß diese selbst Heiden bekehrt hätten, und sie blieben
doch verstockt. Sie wollten diese Gnaden nicht benützen, sondern ver-
warfen deren heiliges Licht in einer überaus sträflichen Empörung.
Gewiß, am Tag des Gerichtes werden die Bewohner von Ninive und die
Königin von Saba gegen die Juden auftreten und sie überführen, daß sie
Verdammung verdienen, denn Ninive hat sich von der Abgötterei und dem
Heidentum auf die Stimme des Propheten Jona bekehrt und Buße getan;
die Königin von Saba hat trotz drückender Regierungsgeschäfte die wei-
te Reise zu Salomo unternommen, als sie von dessen großer Weisheit
vernahm. Sie ließ alles stehen, um ihn zu hören (Mt 12,41.42). Die Juden
hingegen blieben verstockten Herzens und widerstanden der ihnen ange-
botenen Gnade, obwohl sie die göttliche Weisheit des Heilands der Welt,
124 II, 10
jenes wahren „Salomo“, mit eigenen Ohren hörten, seine Wundertaten mit
eigenen Augen schauten und seine Wohltaten und Tugenden gleichsam mit
eigenen Händen greifen konnten.
2. Sieh also wieder, Theotimus: jene, die weniger Antriebe von Gott
empfingen, werden zur Buße hingezogen; und jene, die größere Gnaden
erhielten, bleiben verstockt; jene, die weniger Ursache haben zu kommen, ge-
hen in die Schule der Ewigen Weisheit und jene, die mehr Grund dazu
hätten, verharren in ihrem Wahn.
So wird also das Urteil beim letzten Gericht dadurch zustandekommen,
daß die Haltung der einen, die trotz gleicher oder größerer Gnaden
der Barmherzigkeit Gottes ihre Einwilligung versagten, verglichen wird
mit der Haltung der anderen, die mit den gleichen oder weit geringeren
Gnaden der göttlichen Einsprechung nachkamen und sich entschlossen,
Buße zu tun. Dies ist die Meinung aller Kirchenlehrer. Wie könnte man
sonst den Unbußfertigen mit Recht ihre Unbußfertigkeit vorwerfen,
indem man sie mit jenen vergleicht, die sich bekehrt haben?
Der Herr spricht sich darüber deutlich aus und alle Christen haben es
so verstanden, daß beim Jüngsten Gericht die Juden durch einen Vergleich
mit den Niniviten verurteilt werden, weil jene viele Gnaden empfingen,
aber keine Liebe hegten, viel Hilfe erhielten, aber keine Reue empfan-
den, während die Niniviten bei weniger Gnade viel Liebe bezeugten, bei
weniger Hilfe ernsthaft Buße taten.
3. Der große hl. Augustinus spricht mit großer Klarheit über diese
Wahrheiten (St.G. 12,6.9). Zwar hat er dort mehr die Engel im Auge,
läßt aber das gleiche für die Menschen gelten. – Zunächst stellt er im 6.
Kap. zwei Menschen einander gegenüber, die an Wert und an allem
einander gleichen und von der gleichen Versuchung geplagt werden. Er
nimmt nun an, daß der eine Widerstand leistet und der andere der Ver-
suchung nachgibt. Dann zeigt er im 9. Kapitel, daß die Engel alle im
Stand der Liebe erschaffen wurden, und setzt als wahrscheinlich voraus,
daß auch das Maß der Gnade und Liebe in allen gleich war. Und nun
stellt er die Frage, wieso die einen im Guten beharrten und so sehr
darin zunahmen, daß sie bis zur Glorie gelangten, die anderen aber
das Gute preisgaben und der Bosheit bis zur Verdammnis erlagen? Er
antwortet, man könne nichts anderes dazu sagen, als daß die einen durch
die Gnade des Schöpfers in der keuschen Liebe verharrten, die sie bei
ihrer Erschaffung empfangen hatten, die anderen aber aus Guten, die
sie waren, nur durch ihren eigenen Willen Böse wurden.
II, 10 125
4. Wenn es jedoch wahr ist, was der hl. Thomas überaus schön beweist
(I,62,6), daß das Maß der Gnade in den Engeln je nach der Verschieden-
heit ihrer natürlichen Gaben auch verschieden ist, dann hätten allerdings
die Serafim eine unvergleichlich erhabenere Gnade erhalten als die ein-
fachen Engel der letzten Ordnung. Wie kam es aber dann, daß einige der
Serafim, darunter nach der Meinung der Kirchenväter wahrscheinlich
auch der erste von ihnen, gefallen sind, während eine zahllose Menge
anderer Engel niederer Ordnung, daher geringerer Natur und Gnade, so
wunderbar und mutig ausharrten?
Woher kam es, daß Luzifer, dieser an Natur und Gnade so erhabene
Engel fiel, hingegen eine große Zahl Engel niederer Ordnung in der
Treue beharrten? Gewiß müssen jene, die fest blieben, alles Lob dafür
Gott geben, der sie in seiner Barmherzigkeit erschuf und im Guten
bewahrte; Luzifer aber und alle seine Anhänger, wem können sie wohl
ihren Sturz zuschreiben, wenn nicht, wie der hl. Augustinus bemerkt,
ihrem eigenen Willen, da sie kraft ihrer Freiheit die göttliche Gnade
preisgaben, die ihnen so liebreich zuvorgekommen war?
„Wie bist du vom Himmel gefallen, o großer Luzifer, der du gleich
der Morgenröte in jener unsichtbaren Welt aufgingst“ (Jes 14,12), „von
deinem Ursprung an schon umkleidet mit Liebe, die wie ein schöner
Morgen bis in den vollen Tag der ewigen Glorie wachsen sollte!“
(Spr 4,18).
Die Gnade hat dir nicht gefehlt, du hattest entsprechend deinem na-
türlichen Wesen die herrlichste von allen. Aber du hast der Gnade ge-
fehlt. Gott hat dir nicht das Wirken seiner Liebe entzogen. Du aber
hast seiner Liebe dein Mitwirken versagt. Niemals hätte dich Gott ver-
worfen, hättest nicht du seine Liebe verworfen.
5. O unendlich guter Gott! Du verläßt nur jene, die Dich verlassen.
Niemals entziehst Du uns Deine Gaben, außer wir ziehen unsere Herzen
von Dir zurück.
Wir entwenden Gott gleichsam seine Gaben, wenn wir uns das
Verdienst der Seligkeit zuschreiben, aber wir entehren auch seine Barm-
herzigkeit, wenn wir sagen, daß sie uns je gefehlt habe. Wir beleidigen
seine Freigebigkeit, wenn wir uns nicht zu seinen Wohltaten bekennen,
aber wir lästern seine Güte, wenn wir behaupten, daß ihr Beistand und ihre Hilfe
uns gefehlt. Kurz gesagt, der Ruf Gottes tönt laut und vernehmlich an unser
Ohr: „Dein Verderben kommt von dir, o Israel, und nur bei mir ist Hilfe
für dich!“ (Hos 13,9).
126 II, 11
11. Kapitel
Es liegt nicht an Gottes Güte, wenn wir nicht einen
hohen Grad der Liebe besitzen.
1. O Gott, Theotimus, nähmen wir die himmlischen Einsprechungen
dem ganzen Umfang ihrer Kraft nach auf, welch große und schnelle
Fortschritte würden wir in der Heiligkeit erzielen! Eine Quelle mag noch so
stark fließen, sie kann einen Garten doch nur entsprechend dem Durch-
messer der Leitungen, die ihm das Wasser zuführen, begießen. So umflutet auch
der Heilige Geist, gleich einer Quelle lebendigen Wassers unser Herz,
um in uns seine Gnade zu ergießen; er will aber, daß sie nur mit der
freiwilligen Zustimmung unseres Willens einströme. Daher wird er sie
uns nur nach dem Maß seines Wohlgefallens und unserer eigenen Emp-
fänglichkeit und Mitwirkung spenden. So lehrt auch das heilige Konzil von
Trient, das auch, wie ich meine, wegen dieser notwendigen Übereinstim-
mung unseres Willens mit der Gnade, von einer freiwilligen Annahme
spricht (6.Sitzung, 5.Kap u. can. 4.5).
2. In diesem Sinn ermahnt uns der hl. Paulus, die Gnaden Gottes nicht
vergeblich zu empfangen (2 Kor 6,1). Ein Kranker würde eine Arznei
nehmen und doch nicht nehmen, das heißt, sie unnützer- und unfrucht-
barerweise empfangen, nähme er sie nur in die Hand, ohne sie einzu-
nehmen. So empfangen auch wir die Gnade Gottes vergeblich, wenn wir
sie nur bis zur Pforte des Herzens gelangen, aber nicht zur Einwilligung
des Herzens einlassen. Auf diese Weise empfangen wir sie, ohne sie zu
empfangen, d. h. fruchtlos, da es ja nichts ist, eine göttliche Gnaden-
regung nur zu empfinden, ihr aber nicht zuzustimmen.
3. Hätte ein Kranker die Arznei nicht nur in der Hand gehalten, son-
dern sie auch eingenommen, aber nur zum Teil, so könnte sie auch nicht
ihre ganze Wirkung in ihm hervorbringen. So ist es auch, wenn Gott uns
eine starke und mächtige Einsprechung sendet, damit wir uns seiner hei-
ligen Liebe hingeben, wir aber nicht vollständig einwilligen. Sie wird uns
nur in dem Maße nützen, als wir die Einwilligung geben. Zuweilen treibt
uns Gott an, vieles für ihn zu unternehmen, wir aber willigen nicht
ganz ein, sondern nur zum Teil; wir verhalten uns wie jene Menschen im
Evangelium, die bei der Einladung des Herrn, ihm zu folgen, zuerst noch
anderes tun wollten; der eine seinen Vater begraben, der andere von sei-
ner Familie Abschied nehmen (Lk 9,59.61).
4. Solange die arme Witwe leere Gefäße hatte, ging das Öl nicht aus,
dessen wunderbare Vermehrung Elischa erbeten hatte. Als diese aber
II, 11 127
unbedingt wahr, daß von zwei Sündern, denen die gleiche Gnade mit der
gleichen Barmherzigkeit erwiesen wäre, der eine sie nutzbringender an-
wenden könnte als der andere.
Dieser Ausspruch des großen Lehrers der Heiligkeit, der in der Schule
des Kreuzes erzogen und ernährt, nur göttliche Einsprechungen atmete, ist
mir wie ein Orakel. Deswegen haben auch die frömmsten Christen, die
nach ihm kamen, diesen Ausspruch des Heiligen gelobt und wiederholt.
Viele sind der Ansicht, daß der große Apostel Paulus dasselbe sagen woll-
te, als er sich als den ersten der Sünder bezeichnete (1 Tim 1,15). 7. Die
selige Mutter Theresia von Jesus, eine gewiß ganz engelhafte Jungfrau, sagt
bei der Besprechung des „Gebetes der Ruhe“ Folgendes: „Es gibt manche
Seelen, die bis zu diesem Zustand gelangen; diejenigen jedoch, die noch
weiter gelangen, sind von geringer Zahl. Den Grund dafür weiß ich nicht;
so viel aber ist gewiß, daß es nicht an Gott liegt, denn da die göttliche
Majestät uns hilft und die Gnade verleiht, daß wir bis zu jenem Zustand
gelangen, so halte ich für gewiß, daß sie noch mehr tun würde, wenn es
nicht an uns fehlte und wir ihr nicht Hindernisse in den Weg legten.“
Schauen wir darum sehr auf unseren Fortschritt in der Liebe, die wir Gott
schulden, denn seine Liebe zu uns wird uns nie im Stich lassen.
12. Kapitel
Die göttlichen Lockungen lassen uns volle Freiheit,
ihnen zu folgen oder sie abzulehnen.
1. Ich will hier, mein lieber Theotimus, nicht von den Wundern der
Gnade sprechen, die fast in einem Augenblick Wölfe in Hirten, Felsen
in Wasser und Verfolger in Prediger umgewandelt haben. Ich übergehe
für jetzt den allmächtigen Ruf und den heilig-gewalttätigen Antrieb, wo-
mit Gott zuweilen in einem Augenblick auserwählte Seelen aus dem
Abgrund der Sünde zu den Höhen der Gnade emporhob und in ihnen
gleichsam eine moralische und geistliche Wesenswandlung vollzog, z. B.
beim großen Apostel Paulus, der aus dem Verfolger Saulus in einem
Augenblick Paulus, ein Gefäß der Auserwählung (Apg 9,15) wurde.
Diese Menschen nehmen eine Ausnahmestellung ein, denn es hat Gott
gefallen, nicht nur seine Liebe in ihre Seelen zu ergießen, sondern sie
förmlich damit zu überschwemmen. Nicht nur eine strömende und frei-
gebige Liebe war bei ihnen am Werk, sondern man muß wohl sagen,
daß seine Liebe bei ihnen verschwenderisch und überflutend war.
II, 12 129
die Kraft der barmherzigen Hand Gottes ist, die die Seele mit so vielen
Einsprechungen, Anregungen und Lockungen rührt, umhüllt und fesselt,
der menschliche Wille bleibt doch stets vollkommen frei, ohne einem
äußeren oder inneren Zwang zu unterliegen.
Die Gnade erfaßt ja unsere Herzen so sachte und zieht sie so liebevoll an
sich, daß sie in keiner Weise die Freiheit des Willens trübt. Sie be-
rührt machtvoll, zugleich aber so zart das, was unseren Geist bewegt, daß
unsere Freiheit keinen Zwang erleidet. Die Gnade besitzt Kräfte, nicht
um von unseren Herzen etwas zu erzwingen, sondern um sie liebevoll
anzulocken. Ihr wohnt heilige Gewalt inne, uns nicht zu vergewaltigen,
sondern unsere Freiheit zu einer liebenden zu gestalten. Sie wirkt kraft-
voll, aber zugleich so mild, daß unser Wille unter ihrer so machtvollen
Tätigkeit nicht erdrückt wird. Sie drängt uns, unterdrückt aber nicht un-
ser freies Handeln, so daß wir, bei all ihrem kraftvollen Wirken,
ihren Regungen zustimmen oder widerstehen können, wie es uns gefällt.
5. Aber ebenso bewundernswert wie wahrhaftig ist die Tatsache, daß un-
ser Wille, wenn er einem Zug der Gnade folgt und dem göttlichen Antrieb
zustimmt, es ebenso in aller Freiheit tut, wie er ihr in aller Freiheit
Widerstand leistet, wenn er der Gnade widerstrebt. Allerdings hängt
die Zustimmung zur Gnade weit mehr von dieser als von unserem
Willen ab, während der Widerstand gegen die Gnade nur dem Willen
allein zuzuschreiben ist.
Mit solch liebenswerter Milde handhabt Gott unser Herz, mit solchem
Geschick teilt er uns seine Kraft mit, ohne unsere Freiheit aufzuheben,
und beschenkt uns mit dem Wirken seiner Macht, ohne das Wirken
unseres Wollens zu hemmen; dergestalt paßt er seine Macht seiner
Milde an, daß in allem, was das Gute betrifft, seine Macht uns milde
das Können schenkt und seine Milde machtvoll die Freiheit unseres
Wollens aufrechthält.
6. „Wenn du die Gabe Gottes erkenntest,“ sprach der Heiland zur
Samariterin (Joh 4,10), „und wer der ist, der zu dir spricht: gib mir
zu trinken, so würdest du ihn vielleicht gebeten haben und er hätte
dir lebendiges Wasser gegeben.“
Sieh doch, Theotimus, wie der Heiland hier von seinen Lockungen
spricht. Wenn du die Gabe Gottes erkenntest – so dürfte der Sinn
seiner Worte sein, – so würdest du dich zweifellos angeregt und an-
gezogen fühlen, das Wasser des ewigen Lebens zu verlangen und viel-
leicht würdest du tatsächlich darum bitten. Es ist, wie wenn er sagen
II, 12 131
spendende Wärme in unsere Herzen ergießt. O Jesus! Was ist das doch für eine
beglückende Wonne, die himmlische Liebe, jene Sonne aller Tugenden
zu schauen, wie sie ganz sachte, in einem Fortschreiten, das sich kaum
bemerkbar macht, über eine Seele allmählich ihre Klarheit ergießt
und nicht abläßt, bis sie diese mit dem Strahlenglanz ihrer Gegenwart
ganz überflutet und mit der vollendeten Schönheit des hellen Tages be-
schenkt hat.
O wie freudig, wie schön, lieblich und freundlich ist doch diese Mor-
gendämmerung! Aber es ist doch wahr, daß sie noch nicht der volle
Tag ist, oder wenn man sie Tag nennen will, so ist sie ein beginnen-
der Tag, ein werdender Tag, eher die Kindheit des Tages als der Tag
selbst.
Und ebenso sind auch zweifellos jene Liebesregungen, die dem zu
unserer Rechtfertigung erforderlichen Glauben vorangehen, noch keine
eigentliche, sondern erst eine beginnende und unvollkommene Liebe. Es
sind die ersten grünen Knospen, welche die von der himmlischen Sonne
erwärmte Seele gleich einem mystischen Baum im Frühling hervorbringt,
eher fruchtverheißend als schon eigentliche Frucht.
4. Der hl. Pachomius, damals noch ein ganz junger Krieger und ohne
Wissen von Gott, folgte der Fahne des Kaisers Konstantin im Krieg
gegen den Tyrannen Maxentius. Seine Truppe bezog ein Lager in einer
Kleinstadt unweit Theben; das ganze Heer hatte sehr unter dem Mangel
an Lebensmitteln zu leiden. Als die Leute in der Umgebung, die glück-
licherweise Christen und daher liebevoll und hilfsbereit gegen den Näch-
sten waren, davon hörten, sorgten sie eilig für die Bedürfnisse der Sol-
daten, und das mit so viel Umsicht, Freundlichkeit und Liebe, daß Pa-
chomius von Bewunderung erfüllt war. Auf seine Frage, was denn das
für ein gütiges und liebenswürdiges Volk sei, sagte man ihm, es seien
Christen; und als er sich weiter nach ihrem Leben erkundigte, erfuhr
er, daß sie an Jesus Christus, den Eingeborenen Sohn Gottes, glaubten
und jedermann Gutes erwiesen, in der festen Hoffnung, einst von Gott
selbst dafür reichlich belohnt zu werden.
Siehst du, Theotimus, Pachomius war zwar von guter Gemütsart, schlief
aber damals noch den Schlaf des Unglaubens. Da steht Gott vor der
Pforte seines Herzens, ruft ihn gleichsam leise durch das Beispiel dieser
Christen, weckt ihn und schenkt ihm ein erstes Empfinden der Lebens-
wärme seiner Liebe. Kaum hatte er nämlich, wie ich soeben gesagt, von dem
liebevollen Gesetz des Heilands reden gehört, da ward er von einem neuen
134 II, 13
Licht und einer inneren Freude ganz erfüllt, zog sich etwas zurück und
erging sich in Gedanken darüber. Dann erhob er die Hände zum Himmel
und brach mit einem tiefen Seufzer in die Worte aus: „Herr Gott, der Du
Himmel und Erde geschaffen, wenn Du Dich würdigst, Deine Augen auf
meine Niedrigkeit und Not zu richten und mich Deine Gottheit erkennen
zu lassen, so verspreche ich, Dir zu dienen und mein ganzes Leben hin-
durch Deine Gebote zu befolgen.“ Seit diesem Gebet und Versprechen
wuchs die Liebe zum wahren Guten und zur Frömmigkeit so sehr in ihm,
daß er niemals mehr aufhörte, tausende und abertausende Tugendakte zu
verrichten.
5. Bei diesem Beispiel muß ich unwillkürlich an eine Nachtigall den-
ken, die, bei der ersten Morgenröte erwachend, sich zu schütteln und zu
strecken beginnt, ihr Gefieder entspannt und, von Ast zu Ast hüpfend, all-
mählich ihr wundersames Singen anhebt. Hast du nicht bemerkt, wie das
gute Beispiel jener liebevollen Christen den späteren Heiligen Pachomius
mit einem Schlag aufrüttelte und aufweckte? Sein Erstaunen und seine
Bewunderung waren doch nichts anderes als sein Erwachen. So wie die
Sonne die Erde mit einem Strahl ihres klaren Lichtes trifft, so wurde er
auch vom Strahl der Gnade getroffen und von großer geistiger Freude
erfüllt.
Um diese Gnade aufmerksamer und leichter aufnehmen und verkosten
zu können, schüttelt er alles Zerstreuende von sich ab, sucht die Einsam-
keit auf, um sich besinnen zu können, erhebt dann Herz und Hände zum
Himmel, wohin die Gnade ihn zieht, beginnt die Schwingen seiner Emp-
findungen zu entfalten und stimmt, schwebend zwischen Mißtrauen ge-
gen sich selbst und Vertrauen auf Gott, die demutsvoll liebende Weise
seines Bekehrungsliedes an, durch das er bezeugt, daß er bereits den
einen Gott anerkennt, den Schöpfer Himmels und der Erde, bekennt
aber gleichzeitig, daß er von diesem Gott noch nicht genug weiß, um ihm
in der rechten Weise zu dienen. Daher bittet er inbrünstig um tieferes
Wissen, um zum vollkommenen Dienst der göttlichen Majestät zu gelan-
gen.
6. Sieh aber, Theotimus, wie sachte Gott die Gnade seiner Eingebung
allmählich in jenen Menschen stärkt, die ihr zustimmen, und sie gleich-
sam wie auf einer Jakobsleiter von Stufe zu Stufe zu sich hinaufzieht.
Wie zieht er sie aber an sich? Das Erste, wodurch er uns zuvorkommt
und uns weckt, geschieht durch ihn „in uns“ und „ohne uns“; alles
andere geschieht durch ihn auch „in uns“, aber nicht mehr „ohne uns“.
II, 14 135
„Zieh mich“, spricht die Braut im Hohelied (1,3) und will damit sagen:
Beginne als erster, denn ich vermag nicht von selbst zu erwachen, ich ver-
mag mich nicht zu rühren, wenn du mir nicht Bewegung verleihst. Hast du
mich aber in Bewegung versetzt, o viellieber Bräutigam meiner Seele, dann
werden wir beide laufen, du wirst vor mir einherlaufen und mich nachzie-
hen und ich werde dir folgen, indem ich deinen Lockungen zustimme.
Niemand aber meine, du zögest mich wie eine Sklavin oder wie einen
leblosen Karren hinter dir her. Nein, du „lockst mich mit dem süßen
Duft deiner Salbungen“ (Hld 1,3) und so folge ich dir, nicht so sehr, weil
du mich ziehst, als weil du mich lockst. Mächtig sind deine Lockungen,
aber sie zwingen nicht, denn ihre ganze Kraft liegt in ihrer Lieblichkeit.
Wohlgerüche haben ja keine andere Anziehungskraft als ihren lieblichen
Duft; könnte aber Lieblichkeit anders locken als lieblich und wohltu-
end?
14. Kapitel
Empfindungen göttlicher Liebe, die mit dem
Glauben empfangen werden.
1. Wenn Gott uns den Glauben schenkt, so kehrt er in unsere Seele ein
und spricht zu unserem Geist nicht auf dem Weg von Überlegungen, son-
dern durch göttliche Eingebung. Er stellt unserem Verstand alles, was
wir glauben sollen, so liebenswert dar, daß der Wille großes Gefallen
daran findet und den Verstand bewegt, der Wahrheit ohne Zweifel und
Mißtrauen zuzustimmen und sie anzunehmen.
2. Das aber ist das Wunderbare dabei: Gott legt unserer Seele die
Geheimnisse des Glaubens unter Dunkelheit und Finsternis vor, so daß
wir jene Wahrheiten nicht sehen, sondern nur ahnen. Es ist so ähnlich
wie mit der Sonne, die wir auch nicht sehen können, wenn die Erde
von Nebel bedeckt ist. Wir bemerken nur dort, wo sie am Firmament
steht, eine größere Helligkeit, sehen sie also sozusagen, ohne sie zu se-
hen. Einerseits sehen wir sie nämlich nicht so klar, daß wir sagen könn-
ten, wir sähen sie, andererseits sehen wir sie nicht so wenig, daß
wir sagen könnten, wir sähen sie nicht; es ist also mehr ein Ahnen
als ein Sehen.
Trotzdem aber verschafft sich dieses in unserem Geist nicht durch
überzeugende Überlegungen und offenkundige Beweise, sondern allein
136 II, 14
geliebt wird und daß die Wahrheit seiner Schönheit geglaubt wird. Dies
geschieht durch die Freude, die er im Willen verbreitet, und die Gewiß-
heit, die er dem Verstand mitteilt.
Die Juden sahen die Wunder des Heilands, hörten seine erhabene Leh-
re und verblieben doch im Unglauben (Joh 9,41), weil sie nicht in der
Verfassung waren, den Glauben aufzunehmen. Die Bosheit und Bitterkeit
ihrer Herzen machte sie unempfindlich für die Milde und Lieblichkeit
des Glaubens. Sie sahen wohl die Kraft der Beweise, aber deren liebens-
wertem Ergebnis gegenüber blieben ihre Herzen kalt und deshalb gaben sie
sich auch der Wahrheit nicht hin. Der Glaubensakt aber besteht gerade in
dieser Hingabe unseres Geistes, der das freundliche Licht der Wahrheit
aufgenommen hat und ihr zustimmt mit ruhiger aber zugleich machtvoll
starker Gewißheit und Sicherheit, die er der Autorität der ihm geschenk-
ten Offenbarung entnimmt.
5. Du hast sicher schon gehört, Theotimus, daß man in den allge-
meinen Konzilien große Diskussionen und Untersuchungen anstellt und
durch Reden, Begründungen und theologische Beweise die Wahrheit zu
erkennen sucht. Sind aber einmal die strittigen Punkte genugsam erörtert,
so beschließen, entscheiden und bestimmen die Väter, d. h. die Bischöfe
und im besonderen der Papst als Oberhaupt der Bischöfe. Damit ist die
Entscheidung gefallen und alle halten sich an sie und geben ihre volle
Zustimmung, nicht der Gründe und Untersuchungen wegen, sondern kraft
der Autorität des Heiligen Geistes. Dieser steht den Kirchenversammlun-
gen in unsichtbarer Weise vor und urteilt, beschließt und entscheidet
durch den Mund seiner Diener, der von ihm eingesetzten Hirten (Apg
20,28) der Christenheit.
Untersuchungen und Besprechungen gehen in der Vorhalle der Kirche
vor sich, wo die Gelehrten das Wort haben. Die Entscheidungen aber und
die Annahme wird nur im innersten Heiligtum vollzogen, wo der Heilige
Geist, die Seele der Kirche, durch den Mund ihrer Oberhäupter spricht,
wie es der Herr verheißen (Lk 10,16).
Nehmen wir einen Vergleich: Der Strauß legt in Libyen seine Eier in
den Sand, ausgebrütet aber werden sie von der Sonne allein. So tragen
auch die Gelehrten durch ihre Untersuchungen und Darlegungen die
Wahrheit vor, jedoch nur die Sonne der Gerechtigkeit vermag mit ihren
Strahlen ihnen Gewißheit und Annahme zu verleihen.
6. Zusammenfassend kann man, Theotimus, also sagen: jene Sicherheit,
die der menschliche Geist in den geoffenbarten Wahrheiten und
138 II, 15
aber am Born des Glaubens und sieht ihn so gut, so schön, so lieb und
gütig gegen alle, so bereit, sich als höchstes Gut allen hinzugeben, die es
wollen, – o Gott, welche Freude, welch heiliges Verlangen, sich auf
ewig im Geist mit dieser unvergleichlich liebenswürdigen Güte zu verei-
nigen! „Ich fand endlich, den ich suchte,“ spricht die ergriffene Seele,
„und wie beglückt bin ich nun!“ (Hld 3,4).
Als Jakob die schöne Rahel gesehen und ihr den heiligen Kuß gegeben hatte,
vergoß er Tränen vor überaus großer Freude (Gen 29,9.11). So vergeht
auch unser armes Herz vor Liebe, wenn es Gott gefunden und den ersten
Kuß des heiligen Glaubens von ihm erhalten hat; es zerfließt in beglücken-
der Liebe zum unendlichen Gut, das es zuerst in dieser erhabenen Schön-
heit sieht.
3. Wir werden manchmal plötzlich von freudigen Empfindungen
überrascht, die anscheinend keine äußere Ursache haben. Oft sind dies
Vorgefühle einer großen bevorstehenden Freude. Einige meinen, un-
ser Schutzengel flöße uns diese Vorahnungen ein, da er das uns bevorste-
hende Gut voraussieht, so wie er ja auch Furcht und Schrecken in uns
hervorruft, wenn uns große Gefahren drohen, damit wir Gott anrufen
und auf der Hut seien.
Kommt dann das angekündigte Gut, so nimmt unser Herz es begeistert
auf; es erinnert sich dann an die Freude, die es vorher empfunden hat,
ohne einen Grund dafür zu sehen. Es weiß nun, daß diese Empfindungen
sozusagen Vorläufer der jetzt empfangenen Freude waren.
So, mein Theotimus, fühlte auch unser Herz in sich so lange Zeit
diese Neigung nach dem höchsten Gut, ohne eigentlich zu wissen, wem
dieses Empfinden galt. Hat es ihm aber der Glaube gezeigt, so sieht
das Herz sogleich, daß die Seele nach ihm verlangte, daß sein Geist es
suchte, daß seine Neigung ihm galt. Gewiß, ob wir es wollen oder nicht,
unser Herz strebt nach dem höchsten Gut.
4. Was aber ist dieses höchste Gut? Wir gleichen den guten Athenern
die dem wahren Gott Opfer darbrachten, der aber für sie ein unbekannter
Gott war (Apg 17,23), bis endlich der große Weltapostel ihnen die
Kenntnis von ihm brachte.
So strebt und sehnt sich auch unser Herz, getragen von einem geheim-
nisvollen Trieb in all seinen Handlungen nach Glückseligkeit, sucht sie
überall, gleichsam hin- und hertastend, ohne zu wissen, wo sie wohnt,
noch worin sie besteht, bis der Glaube sie ihm zeigt und ihm ihre unend-
lichen Herrlichkeiten beschreibt.
140 II, 16
16. Kapitel
Wie die Liebe in der Hoffnung tätig ist.
1. Wenn der menschliche Geist ernsthaft erwägt, was der Glaube ihm
vom höchsten Gut sagt, wird der Wille sogleich von einem außerordent-
lichen Wohlgefallen an ihm erfaßt. Da er es aber noch nicht besitzt, er-
weckt es in ihm eine heiße Sehnsucht nach seiner Gegenwart. Von dieser
Sehnsucht ergriffen, ruft die Seele mit der Braut im Hohelied aus: „Er
küsse mich mit dem Kuß seines Mundes“ (Hld 1,1).
Gott ist es, nach dem ich verlange,
Gott ist es, den mein Herz ersehnt (Ps 62,2).
Ist dem Falken die Haube abgenommen worden und sieht er die Beute,
so schwingt er sich sogleich zum Flug auf; wird er aber zurückgehalten, so
schlägt er mit großem Ungestüm um sich. So ist es auch mit uns. Hat
der Glaube den Schleier der Unwissenheit gehoben und uns das höchste
Gut gezeigt, das wir aber noch nicht besitzen können, weil die Bande
dieses sterblichen Lebens uns daran hindern, dann, Theotimus, sehnen
wir uns danach und rufen mit dem Psalmisten aus:
„So wie der Hirsch sich nach der Wasserquelle sehnt,
so sehnt meine Seele sich nach Dir, o Gott.
Mein Geist dürstet nach Gott, dem Starken und Lebenspender. –
Wann wird es sein, daß ich sein Antlitz sehe?
Bei Tag und bei Nacht waren Tränen mein Brot;
da man mir ständig zurief: ‚Wo ist dein Gott?‘“ (Ps 41,1.3).
II, 16 141
2. Diese Sehnsucht ist völlig gerechtfertigt, denn wer sollte nicht nach
einem solch erstrebenswerten Gut Verlangen tragen? Sie wäre aber ver-
geblich, ja sie würde zur beständigen Herzensqual, wären wir nicht
sicher, sie einst stillen zu können. Was hätte auch jener getan, der be-
teuerte, „Tränen“ wären sein „Brot bei Tag und bei Nacht“, weil sein
Gott sich ihm nicht zeigte und seine Feinde immer höhnisch fragten,
wo denn sein Gott sei? Was hätte er getan ohne die Hoffnung, einst
jenes Gut zu besitzen, nach dem er so sehnlich verlangte?
Weinend und krank von Liebe geht die Braut (Hld 5,8) umher, da sie
ihren Vielgeliebten nicht so schnell findet. Ihre Liebe zu ihm hatte in
ihr die Sehnsucht erweckt, die Sehnsucht wieder bewirkte, daß sie ihn mit
Feuereifer suchte und dieser Feuereifer machte sie so krank, daß ihr ar-
mes Herz wie vernichtet und ausgebrannt worden wäre, hätte sie nicht
die Hoffnung gehabt, das zu finden, wonach sie mit solcher Inbrunst
suchte.
3. So verursachen also die Mühen der Liebessehnsucht in unserem
Geist Unruhe und ein tiefes Leid. Damit uns dadurch aber nicht Kraft
und Mut genommen und wir nicht in Verzweiflung gestürzt werden,
gibt uns jenes höchste Gut, das in uns diese glühende Sehnsucht weckt,
durch die unzähligen Verheißungen seiner Offenbarung und durch in-
nere Einsprechungen die Versicherung, daß wir das Ziel unserer Sehn-
sucht sehr leicht erreichen können, wenn wir nur die Mittel gebrauchen
wollen, die es dafür vorbereitet hat und uns anbietet.
Es geschieht aber nun das Merkwürdige, daß diese göttlichen Ver-
heißungen wohl die Ursache unserer Sehnsucht noch verstärken, in
dem Maße aber, als sie die Ursache verstärken, ihre Wirkungen zerstö-
ren und vernichten. Ja, Theotimus, durch die Verheißung, daß der Him-
mel für uns bestimmt ist, erhöht Gott also einerseits unser Verlangen
danach, aber er schwächt und zerstört gleichzeitig auch die Ängstlichkeit und
Unruhe, die dieses Verlangen in uns erzeugt, so daß unsere Herzen durch
die göttlichen Verheißungen eine friedvolle, bleibende Ruhe empfan-
gen; und dies ist die Wurzel der hochheiligen Tugend, die wir Hoffnung
nennen.
4. Der Wille erhält also vom Glauben die Sicherheit, daß er sich des
Besitzes des höchsten Gutes erfreuen wird, wenn er die dafür bestimm-
ten Mittel gut benützt. So erweckt er denn zwei Tugendakte: durch den
einen erwartet er von Gott den Besitz seiner erhabenen Güte, durch den
anderen sehnt er sich und strebt nach diesem heiligen Ziel.
142 II, 16
erwartende und sich sehnende Liebe ist. Weil aber das höchste Gut, das die
Hoffnung erwartet, Gott ist und weil sie es auch nur von Gott erwar-
tet, auf den und durch den sie hofft, nach dem und durch den sie
strebt, da also diese heilige Tugend der Hoffnung in jeder Hinsicht auf
Gott hinzielt, ist sie eine göttliche und theologische Tugend.
17. Kapitel
Die Liebe der Hoffnung ist wohl sehr wer tvoll,
wertvoll,
aber doch noch unvollkommen.
1. Die Liebe, mein Theotimus, die wir in der Hoffnung hegen, zielt
wohl auf Gott hin, kehrt aber wieder zu uns zurück. Sie schaut wohl
auf die göttliche Güte, berücksichtigt aber unseren Nutzen; sie strebt wohl
auf diese höchste Vollkommenheit hin, erstrebt aber unsere Befriedi-
gung. Das heißt, sie führt uns nicht deshalb zu Gott, weil er über alles
gut in sich selbst ist, sondern weil er über alles gut gegen uns ist. Du
siehst also, in dieser Liebe steckt etwas vom Unsrigen und von uns
selbst; sie ist wohl Liebe, aber Liebe des Begehrens, Liebe, die etwas für
sich haben will.
2. Damit soll aber nicht gesagt sein, diese Liebe sei so sehr uns
zugekehrt, daß Gott nur um unser selbst willen geliebt wäre. O Gott,
nein! Die Seele, die Gott nur aus Liebe zu sich selbst liebte und folglich
ihren eigenen Nutzen als das Ziel der Gottesliebe im Auge hätte, be-
ginge ein großes Sakrileg!
Eine Frau, die ihren Mann nur aus Liebe zu seinem Diener liebte,
würde ihren Ehemann wie einen Diener und den Diener wie ihren
Ehemann lieben. Und eine Seele, die Gott nur liebt aus Liebe zu sich
selbst, liebt sich selbst so, wie sie Gott lieben sollte, und Gott, wie sie
sich selbst lieben müßte.
Es besteht aber ein großer Unterschied zwischen den Worten: „Ich
liebe Gott des Guten wegen, das ich von ihm erwarte“ und den Worten:
„Ich liebe Gott nur des Guten wegen, das ich von ihm erwarte.“ Ebenso
ist es etwas anderes zu sagen: „Ich liebe Gott für mich“, als: „Ich liebe
Gott aus Liebe zu mir“. Im ersten Fall will ich sagen: „Ich liebe es, Gott
zu besitzen, ich freue mich, daß Gott mein Anteil und mein höchstes
Gut ist.“ Das ist heilige Liebe, die die Braut im Hohelied wohl hundert-
mal mit heißer Inbrunst ausrufen läßt: „Mein Geliebter ist ganz mein
und ich bin ganz sein. Er gehört mir und ich ihm“ (Hld 2,16 6,2; 7,10
144 II, 17
usw.). Gott jedoch aus Liebe zu sich selbst lieben, würde heißen, die
Selbstliebe sei das Ziel der Gottesliebe, so daß die Gottesliebe von der
Selbstliebe abhängig, ihr untergeordnet und niedriger als sie wäre, was
einer beispiellosen Gotteslästerung gleichkäme.
3. So ist also die Liebe, die wir Hoffnung nennen, wohl eine Liebe des
Begehrens, jedoch eines heiligen, wohlgeordneten Begehrens, das nicht
darauf gerichtet ist, Gott zu uns und zum eigenen Nutzen gleichsam her-
abzuziehen, sondern uns mit ihm, unserer ewigen Glückseligkeit zu ver-
einigen. Gewiß, wir lieben uns in dieser Liebe zugleich mit Gott, doch
ohne uns in dieser Liebe den Vorrang einzuräumen oder uns Gott gleich-
zusetzen. Unsere Selbstliebe ist vermengt mit der Gottesliebe, die Liebe zu
Gott aber hat das Übergewicht. Die Selbstliebe ist wohl da, aber nur als
einfacher Beweggrund, nicht als Hauptziel; unser Interesse spielt auch mit,
aber Gott hat den Vorrang.
Gewiß, Theotimus, wenn wir Gott als unser höchstes Gut lieben, dann
lieben wir ihn doch ohne Zweifel einer Eigenschaft wegen, durch die
wir nicht Gott auf uns, sondern uns auf ihn beziehen. Nicht wir sind sein
Ziel, sein Verlangen, seine Vollkommenheit, sondern er ist das unsere; –
nicht er gehört uns, sondern wir gehören ihm; nicht er hängt von uns
ab, sondern wir von ihm. Kurz gesagt, in seiner Eigenschaft als höchstes
Gut, als das wir ihn lieben, empfängt Gott in keiner Weise etwas von
uns, wohl aber wir alles von ihm. Er läßt an uns seinen Überfluß und
seine Güte walten, während wir unsere Armut und Dürftigkeit einsetzen.
Gott als höchstes Gut lieben, heißt ihm mit unserer Liebe Ehre und
Ehrfurcht erweisen, heißt bekennen, daß er unsere Vollkommenheit,
unsere Ruhestätte und unser Ziel ist; jenes Ziel, in dessen Besitz unsere
ganze Seligkeit besteht.
4. Es gibt Güter, deren man sich bedient, indem man sie gebraucht.
Solcher Art sind Sklaven, Diener, Pferde, Kleider usw. Die Liebe zu ihnen ist
eine Liebe bloßen Begehrens, denn man liebt sie nur, weil sie nützlich sind.
Ferner gibt es Güter, deren wir uns erfreuen, aber so, daß Besitz
und Freude gegenseitig und auf beiden Seiten gleichmäßig sind, wie es
bei unseren Freunden der Fall ist. Wir lieben sie wohl mit einer Liebe des
Begehrens, weil ihre Freundschaft uns Freude bereitet; – aber es ist ein
rechtmäßiges, gutes Begehren, durch das sie uns angehören und wir glei-
cherweise ihnen.
Endlich gibt es eine dritte Art von Gütern, die uns gehören und
deren wir uns erfreuen, aber so, daß wir uns von ihnen abhängig fühlen,
II, 17 145
von ihnen etwas haben und ihnen untergeben sind. Hierher gehört das
Wohlwollen unserer Hirten, Fürsten, Väter, Mütter oder ihre Gegenwart
und Gunst. Wir haben auch zu ihnen eine Liebe des Begehrens – lieben
wir sie ja nicht deswegen, weil sie Fürsten, Hirten, Väter und Mütter sind,
sondern weil sie unsere Fürsten, unsere Hirten, unsere Väter und Mütter
sind.
Dieses Begehren oder diese eigennützige Liebe ist verbunden mit Ehr-
erbietung, Hochachtung und Ehrfurcht. Nicht deshalb lieben wir ja unsere El-
tern, weil sie uns, sondern weil wir ihnen angehören.
5. In dieser Weise lieben und begehren wir auch Gott in der Tugend der
Hoffnung. Wir lieben ihn nicht, damit er unser höchstes Gut sei, sondern
weil wir sein Eigentum sind; nicht als ob er unseretwegen da wäre, son-
dern weil wir seinetwegen da sind.
Beachte dazu, Theotimus, der Grund, warum wir lieben, das heißt,
warum wir unser Herz der Liebe zu dem begehrten Gut zuwenden, liegt bei
dieser Liebe darin, daß es unser Gut ist.
6. Ausmaß und Umfang dieser Liebe hängen aber von der Höhe und
Würde des Gutes ab, das wir lieben.
Wir lieben unsere Wohltäter, weil sie eben unsere Wohltäter sind;
wir lieben sie aber mehr oder weniger, je nachdem sie uns mehr oder
weniger Wohltaten erwiesen haben.
Warum also, mein Theotimus, lieben wir Gott mit einer Liebe des Be-
gehrens? Ohne Zweifel, weil er für uns ein Gut bedeutet. Aber warum
lieben wir ihn aufs höchste? Weil er unser höchstes Gut ist.
Wenn ich nun sage, daß wir Gott aufs höchste lieben, dann sage ich
damit nicht, daß wir ihn mit der höchsten Liebe lieben, denn die höchste
Liebe liegt nur in der Tugend der göttlichen Liebe, in der „Caritas“. In der
Tugend der Hoffnung ist die Liebe noch unvollkommen, denn sie liebt
die unendliche Güte nicht, weil sie die unendliche Güte an sich ist, sondern
weil sie es für uns ist.
Weil es aber in dieser Art von Liebe keinen höheren Beweggrund gibt,
als jenen, der der Betrachtung des höchsten Gutes entstammt, so sagen
wir, daß wir auch kraft dieses Beweggrundes Gott über alles lieben. Durch
diese Liebe ist freilich, wenn sie allein bleibt, niemand imstande, die Gebo-
te Gottes zu erfüllen und das ewige Leben zu erlangen. Sie ist ja eine Liebe,
die mehr Empfindungen als Wirkungen nach sich zieht, es sei denn, sie
wird von der wahren Gottesliebe begleitet.
146 II, 18
18. Kapitel
Die Liebe in der Buße. Verschiedene Ar
Verschiedene ten von Buße.
Arten
Tatsächlich haben mehrere Philosophen erkannt, daß man der Gottheit durch
ein tugendhaftes Leben gefällt und sie daher durch ein lasterhaftes Leben
beleidigt. Der edle Epiktet, der wünschte, als Christ zu sterben, und des-
sen Wunsch auch wahrscheinlich in Erfüllung gegangen ist, sagte, er wäre
glücklich, wenn er bei seinem Tod die Hände zu Gott erheben und spre-
chen könnte: „O Herr, so viel an mir lag, habe ich Dir keine Unehre
angetan.“ Er will auch, daß jeder wahre Philosoph Gott diesen be-
wunderungswerten Eid leiste: der göttlichen Majestät nie ungehorsam zu
sein, ferner nie zu tadeln oder zu benörgeln, was auch immer auf Grund
göttlicher Anordnung geschehe, sich auch darüber in keiner Weise zu
beklagen. An einer anderen Stelle lehrt er, daß Gott und unser Engel
bei allen unseren Werken zugegen seien.
Du siehst also wohl, Theotimus, daß sogar dieser Philosoph, obwohl
Heide, richtig erkannte, daß Gott durch die Sünde beleidigt und durch
die Tugend geehrt wird; deshalb wollte er auch, daß man die Sünde
bereue; er stellt sogar die Forderung auf, jeden Abend das Gewissen zu
erforschen, wozu er und Pythagoras mahnten:
„Hast du Böses getan, tadle dich ernst!
Hast du Gutes getan, sei zufrieden!“
4. Diese Art Reue wird durch eine natürliche Gotteserkenntnis und
-liebe hervorgerufen, sie gehört daher in das Gebiet der bloß natürlichen
Religion. Weil aber die bloße Vernunft die Philosophen mehr zur Er-
kenntnis als zur Liebe Gottes führte, so verherrlichten sie Gott nicht
entsprechend der Kenntnis, die sie von ihm hatten (Röm 1,21). Die Natur
spendete mehr Licht, zu erkennen, wie sehr Gott durch die Sünde belei-
digt werde, als Liebesglut, diese Beleidigung so zu bereuen, daß sie zur
Wiedergutmachung für die Beleidigung Gottes führte.
Obschon nun einige heidnische Weise eine Art von religiöser Buße
kannten, so war diese Erkenntnis doch so selten und so wenig klar, daß
sogar die Stoiker, die damals als die tugendhaftesten unter ihnen gal-
ten, den Satz aufstellten: „Der Weise wird niemals traurig“ – eine
Behauptung, die der Vernunft ebenso widerspricht, wie jene andere, von
ihr abgeleitete Behauptung: „Der Weise sündigt nie,“ der Erfahrung wi-
derspricht.
5. Wir können uns also, mein lieber Theotimus, sagen, daß die Buße
eine durchaus christliche Tugend ist. Denn die Heiden kannten sie kaum,
den Christen aber ist sie so wesentlich, daß sie einen Hauptbestandteil
der Lehre des Evangeliums bildet. Diese sagt ja: „Wer behauptet, er habe
148 II, 18
keine Sünde, ist ein Tor“ (1 Joh 1,8.10), und wer glaubt, er könne ohne
Buße Genugtuung leisten, ist in irrigem Wahn befangen. Ist doch die
Mahnung der Mahnungen unseres Herrn: „Tut Buße!“ (Mt 3,2; 4,17).
6. Hier nun eine kurze Schilderung des Wachstums in dieser Tugend:
Zunächst gelangen wir zu einer tiefen Erkenntnis, daß wir, soweit es an
uns ist, durch die Sünde Gott beleidigen, weil wir ihn verachten, verun-
ehren, ihm ungehorsam sind und uns gegen ihn empören, – und weil Gott
wirklich durch die Sünde beleidigt, erzürnt, verachtet wird, da er ja das
Böse verabscheut, verwirft und verdammt.
Dieser wahrheitsgemäßen Erkenntnis entspringen mehrere Beweggrün-
de, die entweder alle zusammen oder einzeln uns zur Reue führen kön-
nen.
Manchmal erwägen wir, daß Gott den Sündern eine strenge Strafe in
der Hölle bestimmt hat und daß sie auf ewig von der Seligkeit im Him-
mel ausgeschlossen werden, denn diese steht nur den guten Menschen
offen. Da die Sehnsucht nach dem Himmel gut ist, so ist es auch die
Furcht, den Himmel zu verlieren. Noch mehr: da das Verlangen nach
dem Himmel durchaus achtungswert ist, so ist auch die Furcht vor der
Hölle gut und löblich. Wer sollte denn einen so großen Verlust und eine
solche Strafe nicht fürchten? Diese doppelte Furcht, deren eine knechtlich
und die andere eine Mietlingsfurcht ist, bewegt uns heftig zur Reue über
unsere Sünden, die diese Furcht verursachen. Deshalb wird sie auch in
der Heiligen Schrift unzählige Male eingeschärft.
7. Ein andermal betrachten wir wieder die Häßlichkeit und Bosheit der
Sünde. Wir erinnern uns dabei, daß der Glaube uns lehrt, wie sehr
durch die Sünde unsere Ebenbildlichkeit mit Gott beschmutzt und ent-
stellt, wie die Würde unseres Geistes entehrt wird und wir uns zu den
vernunftlosen Tieren erniedrigen. Ferner, daß wir durch die Sünde un-
sere Pflichten gegen den Schöpfer verletzt, das hohe Gut der Gemein-
schaft mit den Engeln verscherzt und uns bösen Geistern zugesellt haben,
ja ihnen hörig geworden sind. Endlich besinnen wir uns, wie sehr wir
durch die Sünde Sklaven der Leidenschaften werden, die vernunftgemäße
Ordnung umwerfen und unsere Schutzengel beleidigen, denen wir so
vieles verdanken.
8. Es kann auch sein, daß wir zur Reue durch die Schönheit der Tu-
gend bewegt werden, die uns so viel Wertvolles gibt, wie die Sünde
uns Übel verursacht. Wir werden auch dazu angeregt durch das Beispiel
der Heiligen. Wer könnte je die unvergleichlichen Bußwerke einer hl.
II, 19 149
Maria Magdalena, Maria von Ägypten oder der frommen Büßer jenes
Klosters betrachten, das den Beinamen „Kerker“ führte und vom hl. Jo-
hannes Climacus beschrieben wurde, ohne tiefe Reue über seine Sünden
zu empfinden? Das bloße Lesen seiner Geschichte muß doch jeden dazu
bringen, der nicht völlig abgestumpft ist.
19. Kapitel
Buße ohne Liebe ist noch unvollkommen.
1. Alle diese Beweggründe lehrt uns der Glaube und die christliche
Religion. Daher ist auch die daraus folgende Reue höchst wertvoll, wenn-
gleich noch unvollkommen.
Sie ist in Wahrheit wertvoll. Die Heilige Schrift und die Kirche würden
uns mit solchen Motiven nicht zur Reue auffordern, wenn die daraus ent-
springende Buße nicht gut wäre. Außerdem ist es klar ersichtlich, daß es
ganz vernünftig ist, aus diesen Beweggründen heraus seine Sünden zu
bereuen, ja, daß es fast unmöglich ist, seine Sünden nicht zu bereuen,
wenn man sie aufmerksam überdenkt.
Sie ist aber trotzdem unvollkommen, weil ihr das Motiv der Gottes-
liebe noch fehlt. Siehst du nicht, Theotimus, daß all dieses Bereuen
nur den eigenen Nutzen, das eigene Glück, die Schönheit der Seele,
ihre Ehre und Würde, mit einem Wort, die Liebe zu uns selbst im
Auge hat, wenn auch in durchaus rechtmäßiger, gerechter und geordneter
Weise?
Verstehe mich hier aber wohl: Ich sage nicht, daß all dieses Bereu-
en die Liebe Gottes verwirft, sondern nur, daß es die Gottesliebe nicht
umfaßt; es stößt sie nicht zurück, enthält sie aber auch nicht; es ist ihr
nicht entgegengesetzt, aber es ist noch ohne sie; es schließt sie nicht aus,
aber auch nicht ein.
2. Der Wille, der das Gute anstrebt, ist sehr gut. Strebt er aber nur
das Gute an und verwirft gleichzeitig das Bessere, so ist er doch offenbar
ungeordnet, nicht weil er das Gute anstrebt, sondern weil er das Bessere
verwirft. So ist z. B. der Vorsatz, heute Almosen zu geben, gut. Der Vor-
satz aber, nur heute Almosen zu geben, wäre schlecht, weil er das
Bessere ausschließt, nämlich heute und morgen und immer Almosen zu
geben, wo es möglich ist.
Niemand kann leugnen, daß es ganz sicher gut ist, seine Sünden
zu bereuen, um der Höllenpein zu entgehen und den Himmel zu erlan-
150 II, 19
gen. Aber es wäre offenbar eine große Sünde, niemals seine Sünden aus
einem anderen Grund bereuen zu wollen. Hier würde das Bessere ab-
sichtlich ausgeschlossen, das in der Reue aus Liebe zu Gott besteht. Wo ist
der Vater, der es seinem Sohn nicht übel nähme, wollte dieser ihm zwar
dienen, jedoch nie mit Liebe und aus Liebe.
Der Anfang guter Dinge ist gut; ihr Fortschritt besser, ihre Vollendung
sehr gut. Die Bezeichnung „gut“ kommt dem Anfang zu, insofern er
ein „Anfang“ ist, und dem Fortschritt, insofern er ein Fortschritt ist.
Wollte man aber das Werk mit dem Anfang oder Fortschritt beendigen,
so hieße dies, die Ordnung auf den Kopf stellen. So ist z. B. das Kindsein
gut, aber immer ein Kind bleiben, wäre schlecht, das „hundertjährige
Kind“ (Jes 65,20) wird verachtet. – Zu lernen beginnen ist löblich, jedoch
widersinnig wäre es, wollte man in der Absicht beginnen, nie weitere
Fortschritte zu machen.
So sind also die Furcht und alle anderen Motive zur Reue, von denen
wir gesprochen haben, gut für den Anfang christlicher Weisheit, der in
der Buße besteht. Wollte aber jemand absichtlich nicht fortschreiten, um
zur Vollkommenheit wahrer Reue und Buße zu gelangen, die in der
Liebe besteht, so würde er aufs höchste denjenigen beleidigen, der
alles für seine Liebe als das Ziel aller Dinge bestimmt hat.
3. Aus all dem ziehe ich folgenden Schluß: Die Reue, die die Liebe
Gottes ausschließt, ist teuflisch; sie gleicht jener der Verdammten in der
Hölle. Die Reue hingegen, die zwar die Liebe Gottes nicht ausschließt,
aber auch noch nicht einschließt, ist zwar gut und wünschenswert, aber
noch unvollkommen. Sie genügt zum Heil erst, wenn sie bis zur Gottes-
liebe vorgestoßen ist und sich mit ihr verschmolzen hat.
Deshalb sagt ja der Apostel: „Gäbe ich auch meinen Leib den Flammen
preis und all meine Habe den Armen, hätte aber die Liebe nicht, so wäre
ich nichts“ (1 Kor 13,3).
So können also auch wir in Wahrheit sagen: Wäre unsere Reue so
groß, daß sie uns Tränen erpreßte und unser Herz von Leid durchbohrt
wäre – ohne die heilige Gottesliebe nützt uns das alles nichts für das
ewige Leben.
II, 20 151
20. Kapitel
Wie Liebe und Schmerz bei der Reue miteinander verschmelzen.
1. So viel mir bekannt ist, verwandelt die Natur niemals Feuer in Was-
ser, obwohl verschiedene Arten von Wasser sich in Feuer verwandeln. Wir
lesen jedoch im zweiten Buch der Makkabäer (1,19–20), daß Gott ein-
mal das Wunder wirkte und Feuer in Wasser verwandelte. Als zur Zeit
des Zidkija die Kinder Israels in die babylonische Gefangenschaft abge-
führt wurden, verbargen die Priester auf den Rat des Propheten Jeremia
das heilige Feuer im ausgetrockneten Brunnen eines Tales. Bei ihrer Rück-
kehr suchten die Nachkommen, gestützt auf die Andeutungen ihrer Väter,
nach dem Feuer und fanden es in dickflüssiges Wasser umgewandelt. Auf
Befehl des Nehemia goß man es auf das heilige Opfer und siehe, kaum
hatten es die Sonnenstrahlen berührt, verwandelte es sich wieder in ein
gewaltiges Feuer.
Theotimus, Gott legt zuweilen ins tiefste Innere unseres Herzens
inmitten von Kummer und Leid inniger Reue das heilige Feuer seiner
Liebe. Diese Liebe erfährt ihre erste Umwandlung in das Wasser der
Reuetränen, welche wiederum durch eine zweite Umwandlung sich in
einen weit größeren Liebesbrand verwandeln. So liebte jene berühmte,
liebende Büßerin zuerst den Heiland, ihre Liebe verwandelte sich in
Tränen und diese wurden zu einer so tiefen und erhabenen Liebe, daß
der Herr zu ihr sprach: „Ihr wird viel vergeben werden, weil sie viel
geliebt hat“ (Lk 7,47).
2. Es ist bekannt, daß Wein sich durch Feuer in eine Flüssigkeit ver-
wandelt, die in verschiedenen Sprachen „Lebenswasser“ genannt wird.
Man nennt sie auch „Branntwein“, weil sie leicht entbrennt und den Brand
nährt. In ähnlicher Weise bringt auch die liebende Betrachtung der be-
leidigten, über alles liebenswerten göttlichen Güte die Wasser heiliger
Reue hervor und diesen Wassern entspringt wiederum das Feuer göttli-
cher Liebe. Man kann es als brennendes Lebenswasser bezeichnen – Was-
ser, weil die Buße ihrem Wesen nach nichts anderes ist als wahres Miß-
fallen, wirklicher Schmerz und echte Reue – brennendes Wasser, weil es
doch in sich die Kraft und Eigenart der Liebe trägt. Stammt es doch aus
einem Liebesmotiv und vermag daher übernatürliches Leben zu spenden.
Die vollkommene Buße hat also zwei verschiedene Wirkungen: Kraft
ihres Reueschmerzes und ihres Abscheues vor der Sünde trennt sie uns
152 II, 20
von ihr und von dem Geschöpf, an das uns die irdische Lust gefesselt
hatte; aber kraft des Liebesmotives, das ihre Wurzel ist, versöhnt und
vereinigt sie uns mit unserem Gott, von dem wir uns durch Mißachtung
seiner Gebote getrennt hatten. Insofern sie uns daher als Reue von der
Sünde entfernt, insofern vereinigt sie uns als Liebe mit Gott.
3. Damit soll jedoch nicht gesagt sein, daß die vollkommene Liebe zu
Gott, das heißt jene Liebe, die Gott allem anderen, was nicht er ist, vorzieht,
immer der Reue vorausgeht, aber auch nicht, daß die Reue immer dieser
Liebe vorausgeht. Trifft dies auch zuweilen zu, so kommt es doch
auch vor, daß zugleich mit der Geburt der göttlichen Liebe in unseren
Herzen auch die Geburt der Bußgesinnung in der Liebe erfolgt. Ebenso
kommt es vor, daß mit dem Auftreten der Reue in unserem Geist die
Liebe in der Reue mit auftritt.
4. Als Jakob geboren wurde, faßte er seinen Zwillingsbruder Esau
beim Fuß (Gen 25,25), damit ihre beiden Geburten nicht nur schnell
aufeinander folgten, sondern auch ineinander verklammert und mitein-
ander verknüpft wären. So wird auch die Buße, die ähnlich wie Esau
wegen ihres Schmerzes und ihrer Zerknirschung hart und rauh anmutet,
zuerst geboren. Gleich Jakob aber hält die sanfte und anmutige Gotteslie-
be sie beim „Fuß“ in einer so innigen Verkettung, daß beide nur ein
und denselben Ursprung haben, denn das Ende der Geburt der Reue ist
der Anfang der Geburt vollkommener Liebe.
Wie also Esau zuerst geboren wurde, so erscheint auch die Reue ge-
wöhnlich vor der Liebe. Wie aber Jakob, obwohl der Zweitgeborene, dem
Erstgeborenen bald vorstand, so unterwirft auch die zweitgeborene Liebe
bald die Reue und wandelt sie in Freude um.
Theotimus, ich bitte dich, betrachte Maria Magdalena, wie sie in ihrem
Liebesschmerz weinend ausruft: „Sie haben meinen Herrn hinwegge-
nommen und ich weiß nicht, wohin sie ihn gelegt haben“ (Joh 20,13).
Da sie ihn aber unter Seufzern und Tränen gefunden hat, hält sie ihn in
Liebe fest und will ihn nicht mehr lassen.
Die unvollkommene Liebe fragt und verlangt nach dem Herrn; die
Buße sucht und findet ihn; die vollkommene Liebe aber hält ihn fest und
drückt ihn an sich.
In Äthiopien findet man gewisse Edelsteine, die von Natur aus nur
ein sehr blasses Feuer haben. Legt man sie aber in Weinessig, dann fun-
keln sie in wunderbarem Licht (Plin.H.n. 37,7). Ähnlich verhält es sich
auch mit jener Liebe, die der Reue vorangeht. Sie ist gewöhnlich unvoll-
II, 20 153
kommen, aber, eingetaucht in die Schärfe der Buße, erstarkt sie und wird
dann zu einer ganz großen Liebe.
5. Es kommt sogar vor, daß auch eine vollkommene Reue nur die Kraft
und Eigenschaft der Liebe enthält, nicht aber auch ihre eigentliche Tätig-
keit.
Du wirst mich nun fragen, welche Kraft und Eigenschaft der Liebe die
Reue besitzen kann, wenn sie nicht deren Tätigkeit hat.
Theotimus, der Beweggrund vollkommener Reue ist die Güte Gottes,
deren Beleidigung uns schmerzt. Dieser Beweggrund ist aber nur inso-
fern Beweggrund, als er bewegt und Bewegung verursacht. Die Bewegung
aber, die die göttliche Güte im Herzen verursacht, das diese Güte erwägt,
kann nur eine Liebesregung, das heißt eine Bewegung zur Vereinigung
hin sein. Wenn also auch die eigentliche Tätigkeit der Liebe in der
echten Reue nicht aufscheint, so empfängt sie doch immer deren Antrieb
und ihre einigende Eigenart, durch die sie uns mit der göttlichen Güte
vereinigt und verbindet.
Sag mir, bitte, ist es nicht dem Magnet eigen, Eisen anzuziehen und
sich ihm anzuschmiegen? Dabei sehen wir aber, daß auch das Eisen
anderes Eisen anzuziehen vermag, wenn es vorher mit dem Magnet be-
strichen wurde. Ohne also selbst Magnet zu sein, noch auch dessen
Natur empfangen zu haben, hat das Eisen dessen Kraft und Eigenart; es
vermag, wie der Magnet anzuziehen und an sich haften zu lassen.
So besitzt auch die vollkommene Reue zwar nicht die eigentliche Tätigkeit
der Liebe, aber wenn sie vom Liebesmotiv berührt wird, hat sie deren
Kraft und Eigenart, nämlich den Antrieb zur Vereinigung, die unsere
Herzen zum göttlichen Willen hinführt und an ihn heftet.
6. Nun wirst du aber fragen: Worin besteht der Unterschied zwischen
diesem Antrieb zur Vereinigung in der Buße und der eigentlichen Tätig-
keit der Liebe? Theotimus, die Tätigkeit der Liebe besteht wohl im Hin-
streben nach Vereinigung, die im Wohlgefallen wurzelt, während das
Hinstreben nach Vereinigung, das sich in der Buße findet, nicht auf dem
Weg des Wohlgefallens, sondern des Mißfallens, der Reue, der Genug-
tuung, der Wiederversöhnung vor sich geht.
Insofern also dieses Hinstreben vereinigt, hat es die Eigenart der
Liebe, insofern es bitter und schmerzlich ist, die Eigenart der Buße. Mit
anderen Worten: es ist seiner Natur nach eine wahre Reue der Buße,
jedoch eine Regung, der die Kraft und die vereinigende Eigenart der
Liebe innewohnt.
154 II, 20
verschmilzt ganz innig mit der Reue, wenn sie ihren Höhepunkt erreicht
hat. Wenn nun die Reue so mit der Liebe verschmolzen ist, verdient sie
uns das ewige Leben.
8. Diese liebende Reue äußert sich gewöhnlich durch Stoßgebete und
Herzenserhebungen zu Gott, ähnlich jenen der Büßer der Heiligen Schrift:
„Ich bin Dein, o mein Gott, rette mich“ (Ps 119,94). „Erbarme Dich
meiner, o Herr, denn auf Dich vertraut meine Seele“ (Ps 57,2). „Rette
mich, Herr, denn die Wasser überfluten meine Seele“ (Ps 69,2). „Halte
mich gleich einem Deiner Knechte“ (Lk 15,19). „Herr sei mir armen Sün-
der gnädig“ (Lk 18,13).
Einige Lehrer sagen nicht ohne Berechtigung, daß das Gebet recht-
fertigt, denn das reuige Beten oder die betende Reue erhebt die Seele
zu Gott, vereinigt sie mit ihm und erlangt so zweifellos Verzeihung kraft
der heiligen Liebe, die diese heilige Regung verursacht.
Wir sollten deshalb immer viele Stoßgebetlein dieser Art bereit haben
als Ausdruck unserer liebenden Reue und der Sehnsucht nach Versöhnung
mit Gott. Wir hoffen, diese zu erlangen, wenn wir unsere Not vor dem
Herrn aussprechen (Ps 142,2) und unsere Herzen in sein erbarmungs-
volles Herz ergießen, das sie gnädig aufnehmen wird.
21. Kapitel
Die liebevollen Lockungen des Herrn helfen und begleiten uns
bis zum Glauben und zur Liebe.
1. Zwischen dem ersten Erwachen von der Sünde oder vom Unglauben
bis zum endgültigen Entschluß, vollkommen zu glauben, liegt oft eine
lange Zeit. Während derselben ist es gut, zu beten, wie es etwa der hl.
Pachomius tat, von dem früher die Rede war, oder der Vater jenes armen
Besessenen, der, wie uns der hl. Markus (9,23) berichtet, zwar beteuerte,
daß er glaube, das heißt, daß er zu glauben beginne, aber dann doch
erkannte, daß sein Glaube nicht stark genug sei, und daher ausrief:
„Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben.“ Er wollte damit sagen: ich
bin zwar nicht mehr wie früher in der dunklen Nacht des Unglaubens,
denn schon treffen die Strahlen des Glaubens den Horizont meiner Seele; doch
glaube ich nicht, wie ich glauben sollte, denn mein Erkennen ist schwach
und von Finsternissen verdunkelt. Hilf mir daher, o mein Herr!
Deshalb spricht auch der hl. Augustinus ganz feierlich jenes denk-
würdige Wort: „Höre doch, o Mensch, und vernimm: Fühlst du dich
156 II, 21
nicht von Gott gezogen, dann bete, damit du gezogen werdest!“ (zu
Joh 26, § 2). Er hat hier aber nicht jene erste Regung im Auge, die Gott
„in uns, ohne uns“ bewirkt, wenn er uns aus dem Schlaf der Sünde
aufrüttelt und aufweckt. Wie könnten wir auch um dieses Aufwecken
bitten, da doch niemand beten kann, bevor er wach ist. – Vielmehr spricht
er vom Entschluß, den der Mensch faßt, gläubig zu sein, und meint mit
den Worten „gezogen werden“ nichts anderes als „Glauben haben“. Des-
halb ermahnt er auch jene, die sich zum Glauben an Gott angezogen
fühlen, um die Gabe des Glaubens zu bitten.
2. Wohl niemand dürfte besser als der hl. Augustinus die Schwierigkeiten
kennen, mit denen der Mensch gewöhnlich zu kämpfen hat, um sich von
jener ersten Reinigung, die Gott in uns bewirkt, bis zum vollkommenen
Glaubensentschluß durchzuringen. Trotz vieler Lockungen der Gnade, trotz
der Worte des großen hl. Ambrosius, trotz seiner Unterredungen mit
Pontitianus und tausenderlei anderer Mittel, verschob er doch seine
Bekehrung von Tag zu Tag (s. Bek 8). So viel Mühe kostete es ihn, einen
Entschluß zu fassen, daß man auf ihn wohl treffender als auf irgend je-
mand anderen seine eigenen Worte anwenden könnte: „O Augustinus,
wenn du nicht von Gott gezogen bist und nicht glaubst, so bete, damit du
gezogen werdest und glaubst.“
3. Der Herr lockt unsere Herzen durch geistige Freuden an, die uns
seine himmlische Lehre beglückend und anziehend erscheinen lassen. Sei-
ne Güte will unseren Willen in Bewegung setzen, ihn durch diese freund-
lichen Fesseln festhalten und zur vollständigen Glaubenshingabe und -
zustimmung hinziehen.
Aber wie Gott uns seine Güte durch heilige Einsprechungen erweist,
so hört auch unser Feind nicht auf, seine Schlechtigkeit durch Versuchun-
gen zu betätigen. Wir bleiben aber frei, den himmlischen Lockungen zu
folgen oder sie zurückzuweisen.
Das Tridentinische Konzil hat (6.Sitzung can.4) ausdrücklich entschie-
den: „Wer behauptet, der freie Wille des Menschen wirke, wenn er von
Gott bewegt und geweckt wird, zu seiner Bereitung und Zurüstung für
den Empfang der Rechtfertigung in nichts mit, indem er dem weckenden
und rufenden Gott zustimmt, auch könne er, selbst wenn er wollte, nicht
widersprechen, der sei ausgeschlossen“ und von der Kirche verworfen.
4. Wenn wir die Gnade der göttlichen Liebe nicht zurückweisen, so
breitet sie sich in unserer Seele immer mehr aus, bis diese ganz umge-
II, 21 157
wandelt ist. Sie gleicht großen Flüssen, die sich in eine frei vor ihnen
liegende Ebene ergießen und darin sich immer mehr und mehr ausbreiten.
Wenn nun die göttliche Eingebung uns zum Glauben hingezogen hat
und in uns keinem Widerstand begegnet, so zieht sie uns auch zur Buße
und zur Liebe hin.
So erging es dem Apostel Petrus. Wie ein Apode lag er auf dem
Boden. Da hebt ihn die göttliche Eingebung auf, die ihm durch den Blick
seines Meisters geschenkt wurde (Lk 22,61). Er läßt sich in aller Freiheit
vom milden Wehen des Heiligen Geistes vorwärts bewegen und tragen.
Er blickt in diese heilbringenden Augen, die ihn aufgeweckt haben, liest
darin gleich wie im Buch des Lebens das liebevolle Anerbieten der Ver-
zeihung, die ihm Gottes Güte schenken will. Er glaubt nun wieder hoffen
zu dürfen, entfernt sich vom Vorhof, betrachtet das Grauenhafte seiner
Sünde und verabscheut sie, weint, stöhnt, wirft sein zerknirschtes Herz zu
Füßen der göttlichen Barmherzigkeit nieder, bittet um Vergebung und faßt
den Vorsatz einer unwandelbaren Treue gegen Gott. Durch diesen Fort-
schritt in den seelischen Regungen gelangt er schließlich unter der stän-
digen Führung, Unterstützung und mit der Hilfe der Gnade zur heiligen
Sündenvergebung, da er so von Gnade zu Gnade vorwärts schreitet, nach
dem Wort des hl. Prosper: Ohne Gnade läuft man nicht zur Gnade (De
ingratis 2,562).
5. Um diesen Punkt zu beschließen, sage ich also: Wenn die Seele
die ersten Lockungen der zuvorkommenden Gnade fühlt, wenn sie sich
ihrem beglückenden Einfluß überläßt und dann gleichsam aus einer tie-
fen Ohnmacht erwacht, beginnt sie zu beten und ruft: „O mein Vielge-
liebter, du Freund meiner Seele, ich bitte dich, ziehe mich an dich! Stütze
mich durch die Kraft deines Armes, sonst vermag ich nicht zu gehen.
Ziehst du mich aber nach dir, dann werden wir beide laufen: du, der du
mir durch den Wohlgeruch deiner Düfte hilfst, und ich, der ich deiner
Hilfe mit meiner schwachen Zustimmung antworte. Deine lieblichen
Düfte werden mich stärken und erquicken, bis der Balsam deines heili-
gen Namens, das heißt die heilbringende Salbung meiner Rechtfertigung
sich über mich ergossen hat“ (Hld 1,2.3).
Sieh, mein Theotimus, die Seele würde nicht bitten, wäre sie nicht
bereits geweckt; kaum aber ist sie es und fühlt die göttlichen Lockungen, so
fleht sie, noch weiter angezogen zu werden. Hat ihre Bitte Erhörung
gefunden, dann läuft sie; sie würde aber nicht laufen, belebten nicht
jene kostbaren Wohlgerüche himmlischer Gnade, die sie anziehen und
158 II, 22
durch die man sie anzieht, ihr Herz durch die Kraft ihres kostbaren Duf-
tes. Da sie nun schneller läuft und ihrem himmlischen Bräutigam näher
kommt, fühlt sie noch beglückender die Wonnen, die er verbreitet, bis er
sich endlich gleich einem Balsam in ihr Herz ergießt. In freudiger Überra-
schung über dieses nicht so schnell erhoffte und unerwartete Glück ruft sie
dann aus: „O mein Vielgeliebter, wie ein Balsam hast du dich in mein
Herz ergossen! Fürwahr, es ist kein Wunder, daß die jungen Seelen dich
lieben!“ (Hld 1,5).
6. In dieser Weise, liebster Theotimus, kehrt die göttliche Eingebung
bei uns ein und kommt uns zuvor, indem sie den Willen zur heiligen
Liebe bewegt. Weisen wir sie nicht zurück, dann begleitet sie uns und
umhüllt uns, um uns anzuspornen und immer weiter vorwärts zu drän-
gen. Lassen wir nicht von ihr, dann läßt sie auch nicht von uns, bis sie
uns in den Hafen der göttlichen Liebe gebracht hat.
Sie erweist uns also denselben dreifachen Dienst, den einst der Erz-
engel Rafael seinem geliebten Tobias erwiesen hat. Sie führt uns auf die-
ser ganzen Reise heiliger Buße, sie schützt uns vor den Gefahren und vor
den Angriffen Satans und tröstet, belebt und stärkt uns in unseren Schwie-
rigkeiten.
22. Kapitel
K u rrze
ze Beschreibung der Gottesliebe.
1. Sieh nun, mein lieber Theotimus, wie Gott die Seele nach und nach
mit unaussprechlicher Zartheit aus dem Ägypterland der Sünde heraus-
führt, sie von Liebe zu Liebe geleitet, gleichsam von einer Wohnstätte
zur anderen, bis er sie hineingeführt in das Land der Verheißung, das
heißt in die hochheilige Gottesliebe.
2. Diese ist, um es mit einem Wort zu sagen, Freundschaft mit Gott.
Es ist keine Liebe, die etwas haben will, denn durch die Gottesliebe lie-
ben wir Gott um der Liebe seiner selbst willen, in Anbetracht seiner
überaus liebenswerten Güte.
3. Diese Freundschaft ist eine echte Freundschaft, weil sie gegenseitig
ist. Von Ewigkeit her liebte Gott jede Seele, die ihn je liebte, gegen-
wärtig liebt oder einmal lieben wird (1 Joh 4,10). Sie ist aber auch erklärt
und bewußt gegenseitig. Gott weiß doch, daß wir ihn lieben, da er selbst
uns die Liebe schenkt. Auch wir wissen um seine Liebe zu uns, da er sie
laut verkündet hat und wir alles Gute, das wir haben, als echte Wirkun-
gen seines Wohlwollens erkennen. Schließlich sind wir in ständiger Ver-
II, 22 159
heit und Wärme ihrer Innigkeit über die ganze Seele verbreitet und sie
dadurch ganz schön, anmutig und göttlicher Güte liebenswert macht.
Ist die Seele ein Königreich, dessen König der Heilige Geist ist, so ist
die Liebe die Königin, die in goldenem, verbrämtem Gewand zu seiner
Rechten sitzt (Ps 45,10). Ist die Seele eine Königin, Braut des großen
himmlischen Königs, so ist die Liebe die Krone, die königlich ihr Haupt
schmückt. Ist aber die Seele zugleich mit ihrem Leib eine Welt im Klei-
nen, so ist die Liebe die Sonne, die alles schmückt, alles erwärmt und
alles belebt.
So ist also die göttliche Liebe, die Caritas, eine Liebe der Freundschaft,
eine Freundschaft ganz besonderer Vorliebe, eine Vorliebe unvergleichli-
cher, über alles erhabener und übernatürlicher Bevorzugung. Sie gleicht
einer Sonne, die die ganze Seele mit ihren Strahlen verschönt, die in allen
geistigen Fähigkeiten gegenwärtig ist, um sie vollkommen zu machen, in
allen Kräften, um sie zu ordnen. Ihr Thron aber ist im Willen, um dort zu
herrschen und ihn zu bestimmen, ihren Gott über alles zu lieben.
O wie glückselig ist die Seele, in welche diese heilige Liebe sich er-
gossen hat: Alle Güter erhält sie zugleich mit ihr (Weish 7,11).
161
DRITTES BUCH
F or tschritt und V
ortschritt ollendung der Liebe.
Vollendung
162 III, 1
1. Kapitel
Die heilige Liebe kann in jedem stets vermehr
vermehrtt werden.
1. Das heilige Konzil von Trient (6. Sitzg. can. 10.) versichert uns, daß
die Freunde Gottes „von Tugend zu Tugend“ schreiten (Ps 84,8), von Tag zu
Tag erneuert werden (2 Kor 4,16), d. h. durch gute Werke in der Ge-
rechtigkeit wachsen, die sie durch göttliche Gnade empfangen haben, und
mehr und mehr gerechtfertigt werden. So heißt es ja in den heiligen Schrif-
ten: „Wer gerecht ist, werde noch gerechter, und wer heilig ist, noch hei-
liger“ (Offb 22,11). „Zweifle nicht daran, daß du gerechtfertigt werdest bis
zum Tod“ (Sir 18,22). „Die Wege des Gerechten sind wie ein glänzendes
Licht, das zunimmt und wächst bis zum vollen Tag“ (Spr 4,18). Und
weiter: „In aller Wahrhaftigkeit wollen wir in Liebe wachsen in allem in
den hinein, der unser Haupt ist, Jesus Christus“ (Eph 4,15). Und end-
lich: „Ich bitte euch, daß eure Liebe immer mehr und mehr wachse“
(Phil 1,9). Dies alles sind Stellen der Heiligen Schrift und zwar aus den
Psalmen, aus Johannes, Jesus Sirach und Paulus.
Ich kenne kein Tier, das unbegrenzt und andauernd wachsen kann,
außer dem Krokodil, das sehr klein zur Welt kommt und wächst, solange
es lebt (Vinzenz v. Beauvais, Spec. nat. 1,17). Deshalb ist es ein echtes
Sinnbild der Guten wie der Bösen. Sagt doch der große König David:
„Der Hochmut derer, die Gott hassen, steigt immer höher“ (Ps 74,23).
Und Paulus: „Die Guten wachsen wie der anbrechende Tag von Herr-
lichkeit zu Herrlichkeit“ (2 Kor 3,18).
2. Im gleichen Zustand lange zu verharren, ist unmöglich. Wer in diesem
Geschäft nicht gewinnt, der verliert; wer auf dieser Leiter nicht hinaufsteigt,
der steigt hinab; wer in diesem Kampf nicht Sieger ist, der wird besiegt. Wir
leben inmitten der Gefahren des Kampfes, den unsere Feinde gegen uns füh-
ren. Widerstehen wir nicht, so unterliegen wir. Widerstehen aber heißt
überwinden und überwinden heißt siegen. Der hl. Bernhard sagt (254.
Brief an Quarinus): „Vom Menschen heißt es in besonderer Weise, er
bleibe nie im gleichen Zustand (Ijob 14,2); entweder muß er vorwärts-
schreiten oder zurückweichen.“ „Alle laufen, aber nur einer erlangt den
Preis. Lauft daher so, daß ihr ihn erlangt“ (1 Kor 9,24).
3. Was könnte es für einen Preis geben außer Jesus Christus? Wie
werdet ihr ihn jedoch erreichen, wenn ihr ihm nicht nachfolgt? Folgt ihr
ihm aber nach, dann werdet ihr beständig vorwärtsschreiten, ja eilen,
III, 1 163
denn er blieb nie stehen, sondern setzte den Lauf seiner Liebe und seines
Gehorsams fort bis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuz (Phil 2,8).
So geh denn, sagt der hl. Bernhard, geh, sage ich, mit ihm, geh, mein
lieber Theotimus, und kenne keine anderen Grenzen als die deines Le-
bens. Solange dieses dauert, eile dem Heiland nach! Eile aber eifrig und
hurtig; denn was würde es dir nützen, ihm nachzufolgen, wenn du nicht
das Glück hättest, ihn zu erreichen?
4. Hören wir noch den Propheten: „Mein Herz habe ich geneigt ge-
macht, auf ewig Dein Gesetz zu erfüllen“ (Ps 119,112). Also nicht nur
eine Zeit lang, sondern immer und für ewige Zeiten will er das Gesetz
des Herrn erfüllen, darum wird ihm auch ewiger Lohn werden. „Selig
jene, die da rein und fleckenlos sind und im Gesetz des Herrn wandeln“
(Ps 119,1). „Unselig jene, die voll Schuld sind und nicht im Gesetz des
Herrn wandeln“ (Ps 119,21).
Nur ein Teufel konnte sagen: „Auf dem Nordabhang des Berges wer-
de ich sitzen“ (Jes 14,13). O Elender, sitzen willst du? Weißt du denn
nicht, daß du auf dem Weg bist? Auf dem Weg sitzt man nicht, sondern
man muß voranschreiten. So sehr ist der Weg zum Gehen bestimmt, daß
man für Gehen auch seinen „Weg machen“ sagt. Darum sprach Gott auch
zu einem seiner großen Freunde: „Wandle vor mir und sei vollkommen“
(Gen 17,1).
5. Wahre Tugend kennt keine Grenzen, sie schreitet immer voran.
Ganz besonders aber die heilige Liebe, die ja die Tugend der Tugenden
ist. Fände sie ein Herz mit unendlicher Aufnahmefähigkeit, würde sie
sich ins Unendliche steigern, da ja ihr Gegenstand (Gott) ein unendlicher
ist. Denn nichts kann sie hindern, unendlich zu sein, als die Beschaffen-
heit des Willens, der sie aufnimmt und durch sie tätig sein soll. Wie
kein Mensch Gott so sehen kann, wie er wirklich ist, so kann ihn auch
niemand so lieben, wie er liebenswert ist. Gäbe es ein Herz, das
Gott mit einer Liebe anhangen könnte, die der göttlichen Güte eben-
bürtig wäre, so müßte es einen Willen haben, der unendlich gut ist. Ein
solcher kann aber nur in Gott sein.
6. Die heilige Liebe kann also in uns ohne Ende vervollkommnet
werden, ohne jedoch je unendlich werden zu können. Sie kann mehr und
mehr und immer mehr gesteigert werden, nie aber unbegrenzt. Gottes Geist
kann unseren Geist erhöhen und an die verschiedensten übernatürlichen
Handlungen heranbringen, wie es ihm gefällt, solange es nicht unendliche
sind. Denn zwischen kleinen und großen Dingen, mögen sie auch überaus
164 III, 2
2. Kapitel
W ie leicht der Herr das W achsen der Liebe gemacht.
Wachsen
1. Siehst du, Theotimus, dieses Glas Wasser oder dieses Stück Brot,
das eine fromme Seele aus Liebe zu Gott einem Armen reicht – es ist
damit gewiß noch wenig getan und es ist nach menschlichem Urteil kaum
der Erwähnung wert. Gott aber belohnt es und verleiht der Seele Wachs-
tum in der Liebe (Mk 9,40).
Auch die Ziegenhaare, die man im Alten Bund im Tempel darbrachte,
wurden als ein Gott wohlgefälliges Opfer aufgenommen (Ex 35,26). So
sind auch kleine Handlungen, wenn sie aus der Liebe hervorgehen, Gott
angenehm und gereichen uns zum Verdienst. So wie im fruchtbaren Arabi-
en nicht nur die aromatischen Gewächse, sondern auch alle anderen Pflanzen
Wohlgerüche verbreiten, weil sie diesem gesegneten Boden entsprießen
(Plin.H.n. 1,12), so strömen auch in einer liebenden Seele nicht nur die
großartigen, sondern auch die geringfügigen Werke den Duft heiliger
Liebe aus, lassen ihn gleichsam vor Gottes Majestät verströmen, der des-
halb die Liebe noch vermehrt.
2. Ich betone, daß Gott es ist, der in einer Seele die Liebe vermehrt.
Denn nicht aus eigener Kraft treibt diese Königin der Tugenden,
einem Baum gleich, ihre Äste. Da sie neben Glaube und Hoffnung ihren
III, 2 165
Ursprung in der göttlichen Güte hat, erhält sie auch von dort ihr Wachs-
tum und ihre Vollendung, den Bienen gleich, die im Honig gezeugt, auch
vom Honig sich nähren.
Die Perlen werden nach der Meinung alter Naturforscher nicht nur im
Tau geboren, sondern auch durch ihn genährt. Deshalb öffnet die Perl-
mutter ihre Schalen gegen den Himmel, gleichsam als wollte sie von dort
Tautropfen erbetteln, die die Luft eines kühlen Morgens herabzuträufeln
pflegt. So sollen auch wir, die wir von der göttlichen Güte Glaube,
Hoffnung und Liebe empfangen haben, unsere Herzen dorthin wenden und
geöffnet halten, um die Beharrlichkeit und Vermehrung dieser Tugenden
zu erflehen. Daher läßt uns denn auch unsere heilige Mutter, die Kirche,
beten: „Herr, vermehre in uns den Glauben, die Hoffnung und die
Liebe“ (13. Sonntag nach Pfingsten). Sie folgt hier dem Beispiel de-
rer, die zum Heiland sagten: „Herr, vermehre in uns den Glauben!“ (Lk
17,5; Mk 9,23), und der Überzeugung des hl. Paulus, der versichert, daß
Gott allein die Macht hat, uns Gnaden im Überfluß zu spenden (2 Kor
9,8).
3. Gott ist es also, der das Wachstum der Liebe in uns bewirkt, je
nach dem Gebrauch, den wir von seiner Gnade machen, dem Aus-
spruch der Heiligen Schrift zufolge: „Wer hat,“ d. h. wer die empfangene
Gnade gut gebraucht – „dem wird gegeben werden, auf daß er im Über-
fluß habe“ (Mt 13,12). So wird der Mahnung des Heilands entsprochen:
„Sammelt euch Schätze für den Himmel“ (Mt 6,20), wie wenn er sagen
wollte: Fügt zu euren guten Werken immer neue hinzu, denn Fasten,
Gebet und Almosen sind jene Kostbarkeiten, aus denen euer Schatz be-
stehen soll.
Die zwei Groschen der armen Witwe hatten einen hohen Wert vor Gott
(Lk 21,1.4); auch durch Anhäufung von kleinen Geldstücken wird der
Schatz größer und wertvoller. So sind auch die geringsten guten Werke,
auch wenn sie etwas lässig und nicht mit voller Liebeskraft verrichtet
werden, Gott angenehm und haben ihren Wert bei ihm. Da ihre Kraft
geringer ist als die der schon vorhandenen Liebe, könnten sie ihr an sich
nichts hinzufügen. Gottes Vorsehung aber schätzt sie, – und weil seine
Güte sie annimmt, werden sie auch in dieser Welt sogleich durch Ver-
mehrung der Liebe und in der anderen durch größere Herrlichkeit belohnt.
4. Das Kostbarste, Theotimus, was die Bienen erzeugen, ist wohl der
Honig, doch ist auch das Wachs, das sie bereiten, von Wert und sehr
166 III, 2
nützlich. So soll auch ein liebendes Herz mit großem Eifer kostbare
Werke vollbringen, damit dadurch seine Liebe kräftiger vermehrt werde;
bringt es jedoch nur geringere Werke hervor, so werden auch diese
nicht ohne Belohnung sein. Gott wird auch sie annehmen und dieses Herz
dafür noch ein wenig mehr lieben.
Nun liebt aber Gott eine Seele, die die heilige Liebe besitzt, nicht noch
mehr, ohne ihr auch wieder mehr Liebe zu schenken, da ja unsere Liebe
zu ihm die eigentliche und besondere Wirkung seiner Liebe zu uns ist.
Je aufmerksamer wir unser Bild in einem Spiegel betrachten, desto
aufmerksamer schaut dasselbe auch uns an, und je liebevoller Gott unsere
Seele, sein Ebenbild und Gleichnis, anblickt, desto aufmerksamer und
inniger blickt auch unsere Seele ihn an und entspricht so nach dem
Maß ihrer geringen Kraft jedem Mehr an göttlicher Liebe, die diese un-
endliche Güte ihr schenkte.
5. In diesem Sinn erklärt das Konzil von Trient (6.Sitzg. can.24):
„Wenn jemand sagt, daß die empfangene Rechtfertigung durch gute
Werke nicht erhalten und vor Gott nicht vermehrt werde, sondern viel-
mehr die guten Werke nur Früchte und Zeichen der erlangten Rechtferti-
gung, nicht aber die Ursache ihrer Vermehrung seien, so sei er aus der
Kirche ausgeschlossen.“
Du siehst also, Theotimus, daß unsere Rechtfertigung, die ein Werk
der Liebe ist, durch gute Werke vermehrt wird und zwar, dies ist be-
merkenswert, durch alle guten Werke, ohne Ausnahme. Denn, wie der
hl. Bernhard bei einer anderen Gelegenheit sagt (De cons. 2,8): „Da, wo
nichts unterschieden wird, wird auch nichts ausgenommen.“ Da also das
heilige Konzil von guten Werken im allgemeinen und ohne Ausnahme
spricht, so gibt es zu erkennen, daß nicht nur große und mit Eifer verrich-
tete, sondern auch kleine und schwache Werke die heilige Liebe vermeh-
ren, die großen allerdings in größerem, die kleinen in viel geringerem
Ausmaß.
So groß ist die Liebe, die Gott zu unseren Seelen trägt, so groß sein
Verlangen, daß auch wir ihn stets mehr lieben mögen. Seine göttliche
Güte lenkt alles zu unserem Nutzen, zu unserem Vorteil; alles, was wir
tun, so armselig und schwach es auch sein mag, läßt er zu unserem
Besten gereichen.
6. Bei den sittlichen Tugenden ist es anders. Geringe Werke, d. h.
Werke, die nicht dem Tugendakt entsprechen, der einer Seele gerade
eigen ist, vermehren die betreffende Tugend nicht, können sie sogar
III, 3 167
3. Kapitel
For tschritte in der Liebe.
Fortschritte
1. Theotimus, wir wollen ein Gleichnis zu Hilfe nehmen, da diese
Lehrweise dem allerhöchsten Meister der Liebe, von der wir sprechen,
so angenehm war.
Ein edler und mächtiger König vermählt sich mit einer überaus liebens-
würdigen jungen Fürstin und führt sie in ein einsames Gemach, um sich
mit ihr vertraulich zu unterreden. Kaum hat er damit begonnen, da
sieht er sie plötzlich bleich werden und in Ohnmacht fallen. Groß ist
nun sein Schrecken und sein Schmerz! Da er seine junge Gattin mehr
liebt als sein eigenes Leben, ist er selbst einer Ohnmacht nahe. Aber die
gleiche Liebe, die sein Herz mit so tiefem Schmerz erfüllt, gibt ihm die
Kraft, ihr zu helfen und alles ins Werk zu setzen, seine geliebte Gemah-
lin aus der Ohnmacht zu erwecken. Er öffnet rasch einen nahen Wand-
schrank, entnimmt ihm eine sehr kostbare herzstärkende Medizin, öffnet
gewaltsam den geschlossenen Mund, flößt ihr die Medizin ein und be-
sprengt überdies noch ihr Gesicht damit, reibt ihre Schläfen und Hände,
bis es ihm endlich gelingt, sie zum Bewußtsein zu bringen. Nun hebt er
sie liebevoll auf und hilft ihr durch abermalige Stärkung auf die Füße,
so daß sie nun auf ihn gestützt gehen kann; ohne die Hilfe seines Armes
ginge es noch nicht. Schließlich reicht er ihr ein so wirksames und wert-
volles Herzmittel, daß sie ihre früheren Kräfte vollständig wiedererlangt.
Nun geht sie wieder allein, ihr Gemahl braucht sie nicht mehr so fest zu
stützen; er hält aber noch ihre Hand in der seinen und seinen Arm
unter ihrem. So führt er sie, hilft ihr und erweist ihr noch weiter
seine Liebe.
168 III, 3
gen des Glaubens, der Hoffnung und der Buße zur völligen Genesung
und geistlichen Gesundheit führen, die nichts anderes ist als die Liebe.
Solange Gott eine Seele erst zu jenen Tugenden führen muß, die auf die
Liebe vorbereiten, führt er sie nicht nur, sondern er stützt sie und zwar in
der Weise, daß, während sie wohl geht, so gut sie kann, er sie doch dabei
trägt und ihr andauernd hilft. Und man kann eigentlich nicht recht unter-
scheiden, ob die Seele geht oder ob sie getragen wird. Sie wird nämlich
nicht so getragen, daß ihre eigene Tätigkeit des Gehens ausgeschaltet
wäre, jedoch könnte sie andererseits keinen Schritt selbständig machen,
würde sie nicht gleichzeitig getragen. Mit Recht kann daher eine solche
Seele mit dem Apostel ausrufen: „Ich gehe, doch nicht ich, sondern die
Gnade Gottes mit mir“ (1 Kor 15,10).
5. Gelangt aber eine Seele durch die Heilkraft der Liebe, die der Heilige Geist
ihr als kostbares Heilmittel ins Herz gelegt hat, zur vollständigen geistli-
chen Gesundheit, dann kann sie allein stehen und gehen, aber kraft der
Gesundheit und heiligen Stärke, die die Liebe ihr gibt. Wenn sie also jetzt
allein gehen kann, dann muß sie doch alle Ehre dafür Gott geben, der ihr
eine so starke und kraftvolle Gesundheit verliehen. Denn ob der Heilige
Geist uns durch seine Eingebungen kräftigt, ob er uns durch die Liebe,
die er in uns ergießt, stützt, ob er uns hilfreich aufrichtet und trägt oder
unsere Herzen durch die Gabe einer innigen und starken Liebe belebt, – im-
mer und überall leben, gehen und wirken wir nur in ihm und durch ihn
(Apg 17,28).
Die Liebe, die unseren Herzen eingegossen ist (Röm 5,5), macht uns
also fähig, vor Gott zu wandeln und auf dem Weg des Heiles fortzuschrei-
ten; Gott aber, der der Seele diese Liebe geschenkt hat, läßt ihr trotzdem
seinen Beistand angedeihen und reicht ihr unausgesetzt seine hilfreiche
Hand.
So offenbart er 1) immer mehr die Zärtlichkeit seiner Liebe zu ihr,
2) ist er immer daran, sie mehr und mehr anzuspornen, 3) unterstützt er
sie gegen die gefährlichen Neigungen und schlechten Gewohnheiten, die
ihr als Folgen früherer Sünden anhaften, 4) endlich festigt er sie und vertei-
digt sie gegen die Versuchungen.
Ist es nicht oft so, Theotimus, daß man gesunde und kräftige Men-
schen antreiben muß, ihre Kräfte und Fähigkeiten zu gebrauchen, daß
man sie sozusagen bei der Hand nehmen und zur Arbeit führen muß?
So hat uns auch Gott die Liebe geschenkt und mit ihr Kraft und Mittel,
auf dem Weg der Vollkommenheit vorwärts zu kommen, und trotzdem
170 III, 3
gestattet ihm seine Liebe nicht, uns allein zu lassen. Sie treibt ihn viel-
mehr an, sich mit uns auf den Weg zu machen; sie drängt ihn, uns zu
drängen und eifert sein Herz an, das unsere anzueifern und anzuspornen,
daß es die heilige Liebe, die er uns gegeben, gut verwerte. So erneuert sie
durch ihre Einsprechungen die Mahnungen des hl. Paulus: „Seht zu, daß ihr
die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangt!“ (2 Kor 6,1). „Solange ihr
noch Zeit habt, tut alles Gute“ (Gal 6,10). „Lauft, damit ihr den Preis
erringt“ (1 Kor 9,24). – Wir sollten uns oft vorstellen, daß Gott an unsere
Herzen jenes Wort richtet, das er einst zu Abraham gesprochen hat:
„Wandle vor mir und sei vollkommen“ (Gen 17,1).
6. In schwierigen und außergewöhnlichen Situationen bedarf aber die
Seele in besonderer Weise göttlichen Beistandes, auch wenn sie im
Besitz der heiligen Liebe ist. Ist diese auch noch so gering, so macht sie
die Seele doch genügend geneigt und ich denke, auch stark genug, die
zum Heil notwendigen Werke zu vollbringen. Will jedoch unser Herz
nach erhabenen und außergewöhnlichen Taten streben und sie unterneh-
men, so bedarf es der mächtigen Hand ihres himmlischen Bräutigams,
damit er es dazu antreibe, stärke und immer wieder aufrichte. Auch die
Fürstin unserer Parabel vermochte ja nicht, eine Höhe zu ersteigen oder
schnell zu laufen ohne die kräftige Hilfe und Stütze ihres Gemahls.
Als der hl. Antonius und der hl. Simeon, der Säulensteher, sich ent-
schlossen, ein so erhabenes Leben in der Einsamkeit zu führen, waren
sie sicher im Stand der Gnade und der göttlichen Liebe. Ebenso die ande-
ren Heiligen, die Großes vollbrachten, die Mutter Theresia, als sie das Ge-
lübde des besonderen Gehorsams ablegte, der hl. Franziskus und der hl.
Ludwig, als sie zur Ausbreitung des Reiches Gottes die Reise übers Meer
unternahmen, der hl. Franz Xaver, als er sein Leben der Bekehrung
der Inder widmete, der hl. Karl Borromäus, als er sich dem Dienst der
Pestkranken hingab, und endlich der hl. Paulinus, als er sich selbst als
Sklave verkaufen ließ, um den Sohn einer armen Witwe von der Skla-
verei zu erretten. Trotzdem hätten diese Heiligen jene kühnen und hoch-
herzigen Taten nie vollbracht, hätte nicht Gott zur Liebe, die sie bereits
in ihren Herzen trugen, noch Einsprechungen, Aufmunterungen, Licht
und Kraft in besonderer Weise hinzugefügt, wodurch er sie zu diesen
außerordentlichen Unternehmungen geistlicher Tapferkeit antrieb.
Sieh doch den reichen Jüngling, von dem es im Evangelium heißt,
daß ihn der Herr liebte (Mk 10,17.22), der daher auch im Besitz der
heiligen Liebe war. Trotzdem kam es ihm nicht in den Sinn, seine Güter zu
III, 3 171
verkaufen und den Erlös unter die Armen zu verteilen, um dann seinem
göttlichen Meister nachzufolgen. Als dieser ihm den Rat dazu gab, fühlte
er nicht den Mut, danach zu handeln.
Zu solch großen Werken, Theotimus, bedürfen wir eben nicht nur
der göttlichen Anregung, sondern auch der Kräftigung, um das auszufüh-
ren, wozu wir angeregt werden. Genau so unbedingt notwendig ist uns
eine besondere himmlische Hilfe auch bei großen Anfechtungen und au-
ßergewöhnlichen Versuchungen.
7. Deshalb empfiehlt uns auch die heilige Kirche oft zu beten: „O
Herr, erwecke unsere Herzen!“ (Gebet 2. Adventsonntag) „Durch Deine
Eingebungen komme unseren Handlungen zuvor, o Gott, und begleite
sie mit Deiner Hilfe“ (5. Gebet am Quatembersamstag der Fastenzeit).
„Herr, eile mir zu helfen“ (Ps 70,2). Durch solche und ähnliche Gebete
wollen wir um die Gnade flehen, ungewöhnliche und hervorragende Wer-
ke zu vollbringen, aber auch die gewöhnlichen öfter und eifriger zu tun, bei
geringfügigeren Versuchungen mit größerer Festigkeit Widerstand zu
leisten und bei schwereren mit mehr Tapferkeit zu kämpfen.
8. Der hl. Antonius wurde einst von einem furchtbaren Haufen höl-
lischer Dämonen überfallen. Als er unter unaussprechlicher Qual und
Pein lange Zeit hindurch ihren Anschlägen widerstanden hatte, sah er,
wie sich das Dach seiner Zelle öffnete und ein Strahl himmlischen Lichtes
auf ihn fiel. Augenblicklich wurde dadurch jene finstere schwarze Rotte
höllischer Feinde verscheucht und Antonius fühlte sich auch von allen
Schlägen geheilt, die er im Kampf empfangen hatte. Das Bewußtsein
einer besonderen Gegenwart Gottes bemächtigte sich seiner und den Blick
zu jenem Licht nach oben wendend rief er aus: „Wo warst Du denn,
o gütigster Jesus? Wo warst Du? Warum bist Du mir nicht schon am
Beginn meines Kampfes beigestanden, um meiner Not abzuhelfen?“ Eine
Stimme von oben antwortete ihm: „Antonius, wohl war ich hier, aber ich
wartete auf den Ausgang des Kampfes. Weil du so tapfer und mutig gestrit-
ten hast, werde ich dir immer beistehen“ (Athanasius, Leben des hl. Antonius,
§ 10).
Worin bestand aber die Tapferkeit und der Mut dieses großen geistli-
chen Kriegers? Er selbst erklärte es einst, als er von einem Dämon ange-
fochten wurde, der sich „Geist der Unzucht“ nannte. Nach mehreren an-
deren Worten voll heroischer Standhaftigkeit begann der große Heilige den
7. Vers des 118. Psalms zu singen:
172 III, 4
4. Kapitel
Die heilige Beharrlichk eit in der göttlichen Liebe.
Beharrlichkeit
1. Wenn eine besorgte Mutter mit ihrem kleinen Kind ausgeht, so hilft
sie ihm und stützt es, wie das Kind es braucht. Auf ebenen, ungefährli-
chen Wegen läßt sie das Kind einige Schritte allein gehen, dann nimmt
sie es wieder an der Hand und hält es fest oder nimmt es auf den
Arm und trägt es. So verfährt auch der Herr mit unserer Seele. Unaufhör-
lich ist er um jene besorgt, die seine Kinder, d. h. im Besitz der heiligen
Liebe sind. Bald läßt er sie gleichsam vor sich hergehen, ihnen bei Schwie-
rigkeiten die Hand reichend, bald trägt er sie durch Müh und Leid hin-
durch, die ihnen sonst unerträglich wären.
Dies will er uns durch den Mund des Propheten Jesaja offenbaren, der da
spricht: „Ich bin dein Gott; ich halte dich an der Hand und sage dir:
Fürchte dich nicht, ich helfe dir“ (41,13). Daher müssen wir mit star-
kem Mut ein ganz großes Vertrauen auf Gott und seine Hilfe fassen.
Wenn wir seiner Gnade nicht untreu sind, wird er in uns das gute Werk
der Heiligung vollenden, wie er es auch begonnen hat (Phil 1,6). Er wird
III, 4 173
nach den Worten des Konzils von Trient das „Wollen und Vollbringen in
uns bewirken“ (6.Sitzg. can. 13).
2. In dieser Führung unserer Seelen durch die zärtliche Güte Gottes
von der ersten Einführung in die Liebe bis zu deren Vollendung in
der Todesstunde besteht die große Gabe der Beharrlichkeit, an die der
Heiland die überaus große Gnade der ewigen Glorie bindet gemäß sei-
nen Worten: „Wer ausharrt bis ans Ende, wird selig werden“ (Mt 10,22).
Diese Gabe ist nämlich nichts anderes als die Gesamtheit und die Auf-
einanderfolge der verschiedenen Unterstützungen und Hilfen, durch die
wir in der Liebe Gottes bis zum Ende ausharren – so wie ja auch das
Erziehen, Aufziehen und Ernähren eines Kindes nichts anderes ist als
ein vielfaches Umsorgen, Helfen, Pflegen und alles Sonstige, was das
Kind braucht und was ihm andauernd geboten werden muß, bis es das
Alter erreicht hat, in dem es das alles nicht mehr benötigt.
3. Diese Folge von göttlichen Hilfen und Unterstützungen ist aber
nicht die gleiche bei all denen, die ausharren. Sie ist sehr kurz bei den
einen, so bei jenen, die sich knapp vor dem Tod bekehren, z. B. beim
rechten Schächer oder bei dem Soldaten, der, durch die Standhaftigkeit des
hl. Jakobus bezwungen, sich auf der Stelle zu dessen Glauben bekannte
und ein Gefährte seines Martertodes wurde. Ähnlich war es auch bei jenem
glücklichen Wächter der 40 Märtyrer zu Sebaste. Als er sah, wie einer
von ihnen den Mut verlor und der Märtyrerpalme verlustig ging, trat er
sofort an dessen Stelle und wurde in allerkürzester Zeit Christ, Märtyrer
und glorreicher Heiliger zugleich. Oder denken wir an jenen Notar, von
dem im Leben des hl. Antonius von Padua die Rede ist: obwohl er sein
Leben lang ein Bösewicht war, starb er doch als Märtyrer.
Endlich gehören hierher alle jene, von denen wir gelesen oder die wir
selber gekannt haben, und die nach einem schlechten Leben doch so
glücklich waren, gut zu sterben. Diese alle bedürfen nicht vieler Gnaden-
hilfen, denn durch die Bekehrungsgnade und die ihnen dadurch einge-
gossene Liebe sind sie imstande, eine so kurze Zeit in der Liebe zu ver-
harren, außer es käme noch eine ungewöhnlich schwere Versuchung über
sie. Bei ihnen ist ja das Eigentümliche, daß sie ohne Schiffahrt in den
Hafen gelangen, daß ihre Pilgerfahrt gleichsam aus einem einzigen Sprung
besteht. Durch Gottes allmächtige Barmherzigkeit tun sie diesen Sprung in so
glücklicher Weise, daß sie über ihre Feinde triumphieren, noch ehe diese
einen Kampf wahrgenommen. Es scheint, als würde bei diesen Men-
174 III, 4
schen Bekehrung und Beharrlichkeit fast ein und dasselbe sein. Oder um
mich genauer auszudrücken: Die göttliche Gnade, die sie ihr Ziel gleich-
sam mit einem Anlauf erreichen läßt, sollte nicht eigentlich Beharrlich-
keit heißen; da sie deren Stelle aber der Wirkung nach vertritt, indem sie
das Heil verleiht, können wir sie doch Gnade der Beharrlichkeit nennen.
5. Weil nun die Gabe des Gebetes und der Frömmigkeit allen jenen
freigebig verliehen wird, die guten Willens sind, den göttlichen Gnaden-
anregungen treu entsprechen zu wollen, so steht es in unserer Macht aus-
zuharren. Damit will ich aber natürlich nicht sagen, daß die Beharrlichkeit
ihren Ursprung in unserem Vermögen hat – sie ist ja ein äußerst kostbares
Geschenk der göttlichen Barmherzigkeit, der sie entspringt. Ich meine viel-
mehr nur, daß sie nicht aus unserem Können stammt, aber in unser Kön-
nen gelegt wird durch unser Wollen, das unzweifelhaft in unserem Kön-
nen liegt. Denn wenn auch die göttliche Gnade uns nötig ist, um aushar-
ren zu wollen, so liegt doch dieses Wollen in unserem Können, denn die
himmlische Gnade fehlt nie unserem Wollen, solange unserem Können
nicht unser Wollen fehlt. Daher können wir nach der Meinung des hl.
Bernhard alle mit dem hl. Paulus sagen: „Weder Tod noch Leben, weder
Engel noch Mächte, – weder Höhe noch Tiefe, noch irgend ein Geschöpf kann
uns scheiden von der Liebe Gottes, die da ist in Christus Jesus, unserem
Herrn“ (Röm 8, 38).
III, 5 175
In der Tat, kein Geschöpf kann uns die heilige Liebe entreißen, nur wir
selber können sie aus eigenem Willen aufgeben und fallen lassen. Nur um
diesen haben wir daher in dieser Hinsicht Befürchtungen zu hegen.
6. Deshalb müssen wir, liebster Theotimus, nach den Ermahnungen des
heiligen Konzils (6.Sitzg. can. 13) unsere ganze Hoffnung auf Gott setzen.
Er wird das Werk unserer Heiligung, das er begonnen, auch vollenden (Phil
1,6), vorausgesetzt, daß wir seinem Gnadenwirken gegenüber nicht ver-
sagen. Man darf doch nicht denken, daß derjenige, der zu dem Gelähm-
ten sprach: „Gehe hin und sündige fortan nicht mehr“ (Joh 5,14), ihm
dann nicht auch die Hilfe gegeben, das meiden zu können, was er ihm zu
wollen verboten hat. Gewiß würde Gott die Gläubigen nie mahnen aus-
zuharren, wenn er nicht auch bereit wäre, jedem dazu das Können zu
schenken. „Sei getreu bis in den Tod und ich will dir die Krone des
Lebens geben,“ so sprach er zum Bischof von Smyrna (Offb 2,10). „Seid
wachsam, steht fest im Glauben, handelt männlich und seid stark.
Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe“ (1 Kor 16,13.14). „Lauft so, daß ihr
den Preis erringt“ (ebd. 9,24).
Mit dem König David müssen wir also Gott oft um die Gabe der Be-
harrlichkeit bitten und hoffen, daß er sie uns verleihen wird:
„Verwirf mich nicht, o Herr, wenn ich Greis geworden;
wenn meine Kraft vermindert wird, verlaß mich nicht“ (Ps 71,9).
5. Kapitel
Das Glück, in der göttlichen Liebe zu sterben, ist
eine besondere Gabe Gottes.
1. Hat nun der himmlische König die Seele, die er liebt, bis zum
Ende dieses Lebens geführt und geleitet, so steht er ihr auch noch im
seligen Sterben bei und führt sie ein in das Brautgemach ewiger Glorie,
die die kostbare Frucht heiliger Beharrlichkeit ist.
Lieber Theotimus, wenn eine solche Seele, von der Liebe zu ihrem
göttlichen Bräutigam ganz hingerissen, all die unzähligen Gnaden und
sonstigen Hilfen überschaut, mit denen ihr Gott in der Zeit ihrer Pilger-
schaft zur Seite gestanden, mit denen er ihrem eigenen Tun stets zuvor-
kam, mit welcher Innigkeit küßt sie dann seine gütige Hand, die sie
auf ihrem Weg lenkte, stützte und trug. Sie bekennt, daß sie von ihm, von
ihrem göttlichen Heiland, all ihre Seligkeit empfangen hat, da er doch alles
176 III, 5
für sie tat, was sich der große Patriarch Jakob für seine Reise ersehnte, als
er die Himmelsleiter gesehen (Gen 28,20).
O Herr, ruft sie dann aus, Du warst mit mir und hast mich auf dem Weg
beschützt, auf dem ich kam, hast mir das Brot Deiner Sakramente als
Nahrung gespendet; mit dem hochzeitlichen Gewand der Liebe hast Du
mich gekleidet und mich endlich in Dein Haus geführt, in den Aufenthalt
Deiner Glorie, o mein ewiger Vater! Herr, mein Gott, was soll ich nun
anders als feierlich bekennen, daß Du mein Gott bist von Ewigkeit zu
Ewigkeit? Amen.
„Du nahmst mich bei der Hand
und führtest mich nach Deinem Willen.
Du nahmst mich auf in Ehren“ (Ps 73,24).
2. In dieser Weise geht also unsere Wanderung ins ewige Leben vor
sich, für die Gottes Vorsehung von Ewigkeit her die Vielheit, Vielfalt
und Aufeinanderfolge der dafür notwendigen Gnaden wie auch ihre
Abhängigkeit voneinander bestimmt hat.
Zunächst war es sein wahrhaftiger Wille, daß auch nach Adams Fall
alle Menschen selig werden (1 Tim 2,4). Diese Seligkeit aber sollten sie in
einer Weise und durch Mittel erlangen, die ihrer mit freiem Willen be-
gabten Natur entsprächen. Mit anderen Worten: Gott wollte das ewige
Heil all jener, welche zu den Gnaden und Liebeserweisen, die er ihnen
in dieser Absicht vorbereiten, anbieten und schenken würde, ihre Zu-
stimmung geben wollten.
Von all diesen Liebeserweisen sollte nun die Berufung die erste
sein, und sie sollte unsere Freiheit so sehr wahren, daß wir sie nach
unserem Belieben annehmen oder abweisen könnten.
Jenen Menschen, von denen er voraussah, daß sie diese annehmen wür-
den, wollte er die heiligen Regungen der Reue mitteilen.
Folgten sie diesen Regungen, so sollten sie nach seinem Ratschluß
von ihm die heilige Liebe empfangen. Den Seelen aber, die sich im
Besitz seiner Liebe befänden, beschloß er, die nötigen Hilfen zur Beharr-
lichkeit, und wenn sie diese göttlichen Hilfen gut gebrauchten, die Gna-
de der Beharrlichkeit bis ans Ende und die glorreiche Glückseligkeit
seiner ewigen Liebe zu schenken.
3. Wir können uns also von der Ordnung Rechenschaft geben, nach der
die göttliche Vorsehung in allem wirkt, was unser Heil betrifft, wenn
III, 5 177
wir von der ersten Wirkung bis zur letzten hinabsteigen, von der Frucht
dieses schönen Baumes, unserer Glorie, bis zur Wurzel, dem Erlösungswerk
des Heilands.
Die göttliche Gnade schenkt ja die Seligkeit auf die Verdienste hin, die
Verdienste auf die Liebe hin, die Liebe auf die Reue hin, die Reue auf den
Gehorsam hin, mit dem wir der göttlichen Berufung gefolgt sind, und
schließlich die Berufung auf die Erlösung durch Christus hin.
Auf die Erlösung stützt sich also die mystische Leiter Jakobs, die bis in
den Himmel reicht, da sie im liebevollen Herzen unseres himmlischen
Vaters als dem Ruheplatz und in der Verherrlichung seiner Auserwählten
endet. Aber ihren Anfang nimmt sie auf Erden, da sie sozusagen hinein-
gepflanzt ist in die Seitenwunde des Heilands, der dafür auf Kalvaria
litt und starb.
Für diese gottgewollte Aufeinanderfolge von Wirkungen, die von der
Vorsehung ausgehen, für diese von Gottes ewigem Willen bestimmte
Abhängigkeit der einen von der anderen zeugt die heilige Kirche, wenn
sie in der Vorrede eines ihrer feierlichsten Gebete so zu Gott spricht:
„Allmächtiger, ewiger Gott, Herr der Lebenden und Toten! Du erbarmst
dich aller, von denen Du weißt, daß sie durch Glauben und Werke
Dein sein werden...“ (3. Gebet an den Fastensonntagen). – Damit be-
kennt sie, daß die ewige Seligkeit, Krone und Frucht der göttlichen
Barmherzigkeit gegen die Menschen, nur für solche bestimmt ist, von de-
nen die Ewige Weisheit vorhergesehen hat, daß sie ihrer Berufung gehor-
chen und dadurch zu einem lebendigen, in der Liebe sich auswirkenden
Glauben gelangen werden (Gal 5,6).
4. Von der Erlösung durch den Heiland hängen also letztlich all
diese Wirkungen ab. Er hat sie uns nach der ganzen Strenge der Ge-
rechtigkeit verdient. Er hat für uns Genugtuung geleistet und so alle
Forderungen einer strengen Gerechtigkeit durch seinen Liebesgehorsam
bis zum Tod, ja bis zum Kreuzestod erfüllt (Phil 2,8). Dieser ist also die
Wurzel aller Gnaden, die wir empfangen, da wir als geistliche Reiser auf
ihn, den Stamm, gepfropft sind.
Wenn wir so, auf ihn gepfropft, in ihm bleiben, werden wir durch das
Gnadenleben, das er uns schenkt, die Frucht der Glorie tragen, die
uns bereitet ist. Sind wir aber geknickten Sprößlingen und Reisern gleich,
unterbrechen wir durch unseren Widerstand das Strömen der göttlichen
Gnade und halten damit die weitere Aufeinanderfolge der göttlichen
Gnadenwirkungen auf, so darf es uns nicht wundernehmen, wenn man
178 III, 6
uns ganz wegschneidet und als unnütze Zweige ins Feuer wirft (Joh 15,5.6;
Röm 11,17ff).
5. Ohne Zweifel bereitet Gott den Himmel nur denen, von welchen er
vorhergesehen, daß sie zu den Seinigen gehören werden. Seien wir also „sein“,
Theotimus, durch Glaube und Werke und er wird „unser“ sein durch
seine Herrlichkeit. Es liegt nun an uns, ob wir „sein“ sind; denn wenn
es auch eine Gottesgabe ist, Gott anzugehören, so ist es doch eine Gabe, die
Gott nie einem Menschen versagt, sondern vielmehr allen anbietet, um sie
denen zu verleihen, die sie bereitwilligen Herzens annehmen wollen.
O sieh doch, ich bitte dich, Theotimus, wie innig heiß Gott danach
verlangt, daß wir „sein“ seien, da er dafür ganz „unser“ wurde und uns
dafür sein Sterben und sein Leben schenkte. Er gab uns sein Leben,
uns vom ewigen Tod zu erretten, er gab uns sein Sterben, um uns die
Freuden des ewigen Lebens zu schenken.
Bleiben wir also im Frieden und dienen wir Gott, damit wir schon hier
in diesem sterblichen Leben „sein“ seien und noch mehr im ewigen.
6. Kapitel
Wir können in diesem sterblichen Leben nicht zur vollkommenen
Liebesvereinigung mit Gott gelangen.
1. Unaufhaltsam strömen die Flüsse dahin und kehren, wie der Weise sagt
(Koh 1,7), zur Stätte zurück, woher sie ihren Ausgang nahmen. Das Meer,
die Stätte ihrer Geburt, ist auch die Stätte ihrer Ruhe. All ihr Bewegen
zielt nur dahin, sich mit ihrem Ursprung zu vereinigen. „Für Dich, o
Gott,“ ruft der hl. Augustinus aus, „hast Du mein Herz erschaffen; unru-
hig ist es daher, bis es ruht in Dir“ (Bek. I,1). „Was habe ich im Himmel und
was auf Erden außer Dir, o Gott? Denn Du, o Herr, bist der Gott meines
Herzens und mein Anteil in Ewigkeit“ (Ps 73,25.26). Diese Vereinigung
mit Gott, nach der unser Herz sich sehnt, kann aber in diesem irdischen
Leben nicht zur Vollkommenheit gelangen. Hier kann unsere Liebe nur
beginnen, vollendet wird sie erst in der Ewigkeit.
2. Mit großem Zartsinn sagt die Braut im Hohelied: „Ich fand ihn
endlich, den meine Seele liebt, ich halte ihn fest und will ihn nimmer
lassen, bis ich ihn einführe in das Haus meiner Mutter, in das Gemach
derjenigen, die mich gebar“ (Hld 3,4). Sie findet ihn also, ihren Vielge-
liebten, denn durch tausende lieber Aufmerksamkeiten läßt er sie seine
III, 6 179
Gegenwart fühlen. Sie hält ihn fest, denn dieses Gefühl seiner Nähe weckt
starke Liebesregungen, durch die sie ihn an sich zieht und umfängt. Und
feierlich beteuert sie, ihn nie mehr lassen zu wollen.
Wahrhaftig, nie mehr! Denn ihre Liebesregungen werden zu Entschlüs-
sen für alle Ewigkeit. Trotzdem will sie ihn erst dann mit bräutlichem
Kuß küssen, bis sie im Haus ihrer Mutter (Hld 8,1.2), d. h. im himmli-
schen Jerusalem (Gal 4,26) mit ihm vereint ist.
3. Sieh aber, Theotimus, wie die Braut an nichts Geringeres denkt, als
ihren Vielgeliebten nach ihrem Gutdünken wie einen Sklaven ihrer Lie-
be festzuhalten. Sie meint, über ihn nach Belieben verfügen und ihn ein-
führen zu können in das beseligende Gemach ihrer Mutter. Und doch ist sie
es, die durch ihn eingeführt werden muß, gleich Rebekka, die von ihrem
geliebten Isaak in das Gemach Saras, seiner Mutter, geleitet wurde (Gen
24,67).
Ist das Herz von Liebesleidenschaft entflammt, so maßt es sich immer
in etwa Rechte über den an, den es liebt. Der Bräutigam gesteht ja, sie
habe ihm das Herz geraubt und ihn mit einem einzigen Haar ihres Haup-
tes an sich gefesselt (Hld 4,9), so daß er der Gefangene ihrer Liebe ist.
4. Diese vollkommene Vereinigung der Seele mit Gott wird aber
erst im Himmel stattfinden, wo nach der Offenbarung des hl. Johannes
(19,7.9) das Hochzeitsmahl mit dem Lamm gefeiert wird. Demnach ist sie
Braut und Verlobte des unbefleckten Lammes (1 Petr 1,19) schon in die-
sem vergänglichen Leben, aber noch nicht Vermählte. Verlöbnis und
Versprechen hat man sich gegeben, die Hochzeit aber ist hinausgeschoben, da-
her hat die Seele immer die Freiheit, das Verlöbnis aufzuheben, obwohl sie
dazu niemals einen Grund hat. Denn unser geliebter Bräutigam verläßt
uns nie, außer wir zwingen ihn dazu durch unsere Untreue, d. h. durch die
Zurücknahme unseres Treueschwures. Sind wir aber einmal im Himmel
als Vermählte des göttlichen Lammes, dann ist das Band, das uns mit unse-
rem höchsten Gut vereinigt, ewig und unzertrennlich.
5. Freilich, Theotimus, gibt uns der göttliche Bräutigam jetzt schon, da
wir noch in der Erwartung des feierlichen Kusses unzertrennlicher Ver-
einigung in der himmlischen Herrlichkeit stehen, oft den Liebeskuß durch
tausendfache Empfindungen seiner liebreichen Gegenwart. Küßte er die
Seele nicht, so würde sie nicht angezogen und auch nicht dem Duft der
Salben des Bräutigams nacheilen (Hld 1,1.3). Deshalb sagt auch der he-
bräische Text und mit ihm die griechische Übersetzung in aller Einfalt:
180 III, 7
„Er küßte mich mit den Küssen seines Mundes“ (Hld 1,1). Weil aber
diese im Vergleich zur Glorie geringen göttlichen Liebkosungen nur Vor-
bereitungen und Schattenbilder jenes ewigen Vermählungskusses in der
Ewigkeit sind, so faßt die ehrwürdige lateinische Übersetzung (Vulgata)
die Küsse der Gnade in dem einen Kuß der Glorie zusammen und drückt
die Sehnsucht der Braut mit folgenden Worten aus: „Er küßte mich mit
einem Kuß seines Mundes,“ gleichsam als wollte sie sagen, unter allen
Liebkosungen, die der Geliebte meines Herzens oder das Herz meiner
Seele mir bereitet hat, verlange und strebe ich einzig allein nach jenem
erhabenen Kuß der Vermählung, der ewig dauert und der einzige Kuß ist,
der diesen Namen wirklich verdient, weil alle anderen Liebesbezeigungen
mehr Vorboten jener künftigen Vereinigung mit dem göttlichen Bräuti-
gam als diese selbst sind.
7. Kapitel
Die Liebe der Heiligen auf Erden kann ebenso groß, ja noch
größer sein als jene der Seligen im Himmel.
1. Jene glücklichen Seelen, die nach den Mühen und Gefahren dieses
sterblichen Lebens in den Hafen der Ewigkeit gelangen, erreichen dort
die letzte und höchste Stufe der Liebe, die sie erklimmen können. Sie
wird ihnen als Belohnung für ihre Verdienste verliehen und diese Beloh-
nung ist nach den Worten des Herrn (Lk 6,38) nicht nur ein gutes, son-
dern ein überreiches, gerütteltes, aufgehäuftes, überquellendes Maß.
Die Liebe, die als Lohn erteilt wird, ist also immer unvergleichlich
größer als jene, die verliehen wurde, um diesen Lohn zu verdienen.
Daher wird jede einzelne Seele im Himmel mehr Liebe besitzen, als sie
je auf Erden besaß, und die geringste Tat der Liebe im ewigen Leben
wird unvergleichlich kostbarer und größer sein als die Tat der größten
Liebe, die in diesem gebrechlichen Leben je gewirkt wird, wurde oder
werden könnte.
2. Im Himmel liebt man unablässig, ohne die geringste Unterbre-
chung, während hier selbst die größten Heiligen von den Bedürfnissen
und Anforderungen dieses sterblichen Lebens hin und her gezogen,
tyrannisiert und gezwungen werden, zahllose Ablenkungen zu erleiden,
die sie oft von der Ausübung der heiligen Liebe abhalten.
Theotimus, im Himmel ist das liebende Aufmerken der Heiligen auf
Gott stark, beständig, unverletzlich und kann weder aufhören noch
III, 7 181
nachlassen. Ihre Absicht ist immer rein und lauter, d. h. frei von allen
niedrigen Nebenabsichten. Mit einem Wort: Unveränderlich und unver-
gleichlich wird unsere Seligkeit sein, Gott von Angesicht zu Angesicht
zu schauen.
Wer könnte die Annehmlichkeit einer Schiffahrt, wenn man überhaupt
von „Annehmlichkeit“ sprechen kann, mit all ihren Gefahren, Ängsten
und ihrer Unsicherheit, vergleichen mit der Geborgenheit eines königli-
chen Palastes, wo alles Wünschenswerte zur Verfügung steht, ja jeder
Wunsch übertroffen ist von all dem Köstlichen, das geboten wird?
So ist auch viel mehr Seligkeit, Wonne und Vollkommenheit in der
Ausübung heiliger Liebe bei den Himmelsbewohnern als unter den Pil-
gern auf dieser armseligen Erde.
3. Und doch hat es Menschen gegeben, die schon während ihres irdi-
schen Lebens den großen Gnadenvorzug besaßen, daß ihre Liebe jene
so mancher Heiligen im Himmel weit übertraf. Es spricht doch alles dafür,
daß die Liebe des großen hl. Johannes, der Apostel und anderer apostoli-
scher Männer schon in diesem Leben größer war als z. B. jene der kleinen
Kinder, die nach empfangener Taufe sterben und die ewige Seligkeit er-
langen.
Für gewöhnlich sind sicher Hirten nicht so tapfer wie Soldaten. David
jedoch, der junge Hirte, fand zwar, als er zum Heer der Israeliten kam,
daß alle im Gebrauch der Waffen geschickter waren als er, aber dann
war er doch tapferer als alle im Heer Israels (1 Sam 17,38.39). So ist auch
gewöhnlich die Liebe der Menschen hier auf Erden nicht größer als die
der Unsterblichen, und doch kam es zuweilen vor, daß Menschen in der
Übung der Liebe zwar den Unsterblichen nachstanden, ihnen aber voraus
waren in der Hingabe und Haltung der Liebe.
Nehmen wir dafür ein Beispiel: Vergleicht man ein glühendes Eisen
mit einer brennenden Lampe, so wird man finden, das Eisen sei feu-
riger und brennender, die Lampe aber habe die größere Flamme und
gebe mehr Licht. Ähnliches kann man auch sagen, wenn man ein Neu-
getauftes im Himmel mit dem hl. Johannes im Gefängnis oder mit
Paulus in den Fesseln vergleicht. Das Kind im Himmel besitzt mehr
Klarheit und Licht im Verstand, mehr Flamme und Liebesübung im
Willen, während St. Johannes und St. Paulus auf Erden durch eine stär-
kere Glut in ihrer Liebeshingabe und eine wärmere Innigkeit in ihrer
erlesenen Liebesfreundschaft ausgezeichnet waren.
182 III, 8
8. Kapitel
Die unvergleichliche Liebe der Mutter Gottes,
Unserer Lieben Frau.
1. In allem aber und überall will ich bei Vergleichen, die ich anstelle,
niemals die allerseligste Jungfrau und Mutter, Unsere Liebe Frau, mit
einschließen. O Gott, keineswegs, sie ist ja die Tochter der unvergleich-
lichen Liebe, die ganz einzige Taube, die ganz vollkommene Braut
(Hld 6,8).
Von dieser himmlischen Königin kann ich nur aus der Tiefe meines
Herzens diesen liebevollen, aber ganz wahren Gedanken aussprechen, daß
ihre Liebe wenigstens gegen das Ende ihres Lebens die der höchsten
Serafim weit übertraf. „Denn wenn auch viele Töchter Reichtümer auf-
gehäuft haben, sie hat sie alle übertroffen“ (Spr 31,29). Alle Heiligen und
Engel werden mit den Sternen des Himmels verglichen und der erste unter
ihnen mit dem schönsten Stern (1 Kor 15,41; Jes 14,12), sie aber ist schön
wie der Mond. Sie ist die Auserwählte, sie ragt unter allen Heiligen her-
vor wie die Sonne unter den Gestirnen (Hld 6,9).
Und mehr noch! So wie die Liebeshingabe dieser „Mutter der schönen
Liebe“ an Vollkommenheit die Liebe aller Himmelsbewohner übertrifft,
so glaube ich, hat sie diese auch in der Ausübung der Liebe übertroffen
und zwar sogar, als sie noch auf Erden weilte. Weil sie nach dem Glau-
ben der Kirche (Konzil von Trient, 6.Sitzg. can. 23) nie auch nur die
geringste läßliche Sünde beging, gab es in ihr keinen Wankelmut, kei-
nen Aufenthalt im Fortschreiten ihrer Liebe, sondern einen ständigen
Aufstieg von Liebe zu Liebe. Der Stachel der Begierlichkeit war ihr fremd
und es konnte die Liebe gleich dem König Salomo friedlich in ihrer Seele
herrschen und all ihre Werke nach Wunsch vollbringen.
Die jungfräuliche Reinheit ihres Leibes und ihrer Seele war würde-
voller und ehrfurchtgebietender als die der Engel. Deshalb ging ihr
Geist ungeteilt und unbeschwert, wie der hl. Paulus sagt, ganz im Den-
ken an Göttliches auf, im Sorgen, wie es Gott gefalle (s. 1 Kor 7,32.34).
Endlich aber, was mußte es sein um die unter allen drängendste, glü-
hendste und tätigste Mutterliebe, um diese unermüdliche, unersättliche
Liebe! Was mußte sie im Herzen einer solchen Mutter für das Herz ei-
nes solchen Sohnes wirken!
2. Wende nicht dagegen ein, ich bitte dich, daß diese gebenedeite
Jungfrau doch auch dem Schlaf unterworfen war. Nein, Theotimus, sag
III, 8 183
nur das nicht! Siehst du denn nicht, daß ihr Schlaf ein Schlaf der Liebe ist?
Deshalb bittet auch der Bräutigam, sie ja schlafen zu lassen, soviel es ihr
gefällt. „Ich beschwöre euch,“ so spricht er (Hld 8,4), „weckt nicht meine
Vielgeliebte, bis sie selbst es will.“ Ja, Theotimus, diese himmlische Königin
ergab sich dem Schlaf aus Liebe, da sie ihrem kostbaren Leib die Ruhe
nur gönnte, damit er sich kräftige und dadurch seinem Schöpfer nachher
noch vollkommener diene.
Und das ist wahrhaftig ein ausgezeichneter Akt der Liebe, denn die
Liebe Gottes verpflichtet uns, wie der hl. Augustinus sagt (Christl. Lehre
I,25), auch dazu, unseren Leib richtig zu lieben, da wir ihn zur Ausübung
guter Werke brauchen, er außerdem zu unserer Person gehört und einst
Anteil an der ewigen Seligkeit haben wird. Jeder Christ soll seinen Leib
lieben als ein lebendiges Ebenbild des Leibes des fleischgewordenen
Erlösers, demselben Stamm entsprossen wie er und daher mit ihm durch
die Bande der Verwandtschaft, ja Blutsbrüderschaft verbunden, noch dazu
und besonders, nachdem wir diese Verbundenheit erneuert haben durch
den wirklichen Empfang des göttlichen Leibes unseres Erlösers im heilig-
sten Altarssakrament und wir uns durch Taufe, Firmung und andere Sa-
kramente der göttlichen Güte hingegeben und geweiht haben.
Mit welcher Ehrfurcht aber mußte erst die allerseligste Jungfrau ihren
jungfräulichen Leib lieben! Nicht nur, weil er ganz makellos, gütig, demütig, der
göttlichen Liebe gehorsam und von heiliger Anmut umflossen war, son-
dern viel mehr noch, weil er die lebendige Quelle des Leibes unseres
Heilands war und daher ihm in unvergleichlicher Weise ganz angehörte.
Daher konnte sie wohl sagen, wenn sie sich zur Ruhe begab: So ruhe denn,
du Zelt des Bundes, du Arche der Heiligkeit, Thron der Gottheit; erhole
dich von deiner Müdigkeit und erneuere in dieser milden Ruhe deine
Kräfte!
3. Überdies mußt du aber noch etwas bedenken, Theotimus: Du weißt,
daß böse Träume, die durch sündhafte Gedanken während des Tages her-
vorgerufen wurden, in gewisser Hinsicht auch Sünden sind als Folgen
und Nachwirkungen vorhergegangener Schlechtigkeit. In gleicher Weise
kann man sagen, daß Träume als Nachwirkungen heiliger Liebesaffekte
des Vortages auch Tugendakte und heilig genannt werden können. Wie
freut es den hl. Chrysostomus, seine große Liebe zum Volk ausdrücken zu
hören, da er ausruft: „Während das Bedürfnis des Schlafes unsere Augen-
lider schwer macht, hält die herrische Gewalt der Liebe zu euch die
Augen des Geistes offen. Oft scheint es mir mitten im Schlaf, als rede ich
184 III, 8
zu euch, denn die Seele pflegt im Schlaf das traumhaft zu sehen, womit sie
sich bei Tag beschäftigt hat. So sehe ich euch also mit den Augen der Liebe,
wenn ich euch mit den Augen meines Leibes nicht sehen kann“ (10., heute 1.
Homilie von der Buße).
Was mögen wohl die Träume dieser hochheiligen Mutter gewesen sein,
als sie schlief, während ihr Herz wachte (Hld 5,2)? War es ihr nicht, o
Jesus, als ruhtest Du noch in ihrem Schoß, oder als trüge sie Dich an
ihrer Brust? Wie unsagbar tief mußte wohl ihre Wonne dabei gewesen sein!
Vielleicht war es ihr auch manchmal, als ruhe sie, gleich einer weißen, in
der Spalte eines Felsens verborgenen Taube (Hld 2,14), in der Seitenwunde
ihres göttlichen Sohnes, so wie auch er einst wie ein Lämmlein auf
ihrem Schoß ruhte. So war also ihr Schlaf einer Ekstase gleich, was die
Tätigkeit des Geistes betraf, während er für ihren Leib eine wohltuende
Erquickung und Erholung war.
Sollte es aber geschehen sein, daß sich ihr im Traum, ähnlich wie dem
Patriarchen Josef (Gen 37,5.10), ihre künftige Herrlichkeit zeigte; daß sie
sah, wie sie einst im Himmel mit der Sonne bekleidet, von Sternen ge-
krönt, den Mond unter ihren Füßen (Offb 12,1), d. h. von der Herrlichkeit
ihres Sohnes ganz eingehüllt, gekrönt mit den Verdiensten der Heiligen
und die ganze Welt zu ihren Füßen haben würde; oder daß sie, ähnlich
wie Jakob (Gen 28,12.13) die Erlösungstat in ihrem Geschehen und in
ihren Auswirkungen voraussehen durfte – Theotimus, welche Himmels-
wonne wird dann wohl ihr Herz erfüllt haben! Welche Zwiegespräche
mit ihrem geliebten Kind, welche Wonne und Freude allseits!
Ich will damit aber nicht gesagt haben, Theotimus, daß diese so ein-
zigartig auserwählte Seele der gebenedeiten Jungfrau während des Schla-
fes des Gebrauchs der Vernunft beraubt gewesen wäre. Manche meinen
ja sogar, daß Salomo in jenem sowohl schönen als wahren Traum, in dem
er die Gabe seiner unvergleichlichen Weisheit erbat und erhielt, im vollen
Besitz seines freien Willens war. Als Beweis dafür nimmt man die er-
leuchteten Worte, die er sprach, die kluge Wahl, die er traf, und das schö-
ne Gebet, das er an Gott richtete, alles das ohne eine Spur von Unge-
reimtheit oder Geistesverwirrung. Um wie viel wahrscheinlicher ist es da-
her, daß die Mutter des wahren Salomo während des Schlafes den Ge-
brauch ihrer Vernunft behielt, läßt doch Salomo selbst sie sprechen: „Ich
schlafe, aber mein Herz wacht“ (Hld 5,2).
Sicher war es ein noch größeres Wunder, daß Johannes schon im
Mutterleib seinen Geist gebrauchen konnte. Wie können wir ein geringe-
III, 9 185
res Wunder jener verweigern, der Gott mehr Gunsterweise erteilte als
allen übrigen Geschöpfen zusammen?
4. Kurz gesagt: So wie der Asbest durch die ihm eigene Kraft das Feuer
bewahrt, von dem er einmal erfaßt wurde (s. Aug. St. G. 23,5), so bewahrte
auch das Herz der jungfräulichen Mutter das heilige Feuer der Liebe, das ihr
Sohn in ihr entflammt hatte; allerdings mit dem Unterschied, daß das
Feuer des Asbests zwar nicht ausgelöscht, aber auch nicht verstärkt werden
kann, die Liebesflammen der allerseligsten Jungfrau dagegen weder erlö-
schen, noch abnehmen, noch gleichbleiben konnten, sondern nicht auf-
hörten, sich immer mehr in unerhörtem Maße zu steigern bis in den
Himmel, den Ort ihres Ursprungs.
So sehr ist es wahr, daß diese Mutter die „Mutter der schönen Liebe“
(Sir 24,24) ist; d. h. daß sie die liebenswerteste wie die liebendste, wie die
geliebteste Mutter ihres einzigen Sohnes ist, der ebenso der liebens-
werteste, liebendste und geliebteste Sohn dieser einzigen Mutter ist.
9. Kapitel
Vorrede zur Abhandlung über die V ereinigung der Seligen des
Vereinigung
Himmels mit Gott.
1. Die triumphierende Liebe der Seligen im Himmel besteht in der
endgültigen, unwandelbaren und ewigen Vereinigung der Seelen mit ih-
rem Gott. Was ist aber nun diese Vereinigung?
Je angenehmer und vortrefflicher sich ein Gegenstand unseren Sinnen
darbietet, desto ungestümer und gieriger geben sie sich seinem Genuß
hin. Je schöner, je angenehmer anzusehen, je lichtvoller etwas vor uns
ist, desto gieriger und schärfer betrachtet es das Auge; und je angeneh-
mer und wohlklingender Stimmen oder musikalische Aufführungen sind,
desto aufmerksamer hört das Ohr zu.
So tut jeder Gegenstand dem Sinn, der ihm entspricht, eine starke,
wenn auch sanfte Gewalt an, und diese Gewalt ist desto mehr oder
minder stark, je mehr oder minder hervorragend der Gegenstand ist.
Voraussetzung bleibt immer, daß er der Aufnahmefähigkeit des jeweili-
gen Sinnes angepaßt ist. Das Auge z. B. erfreut sich wohl am Licht,
dessen Übermaß empfindet es aber als unerträglich; es kann deshalb
auch nicht direkt in die Sonne schauen. Und das Ohr wird verletzt und
beleidigt durch eine Musik, mag sie noch so schön sein, wenn sie zu laut
oder zu nahe ist.
186 III, 9
großen und erhabenen göttlichen Wortes, für das und durch das alles
erschaffen ward (Joh 1,3; Kol 1,16), und das mit dem Vater und dem Hei-
ligen Geist ein alleiniger Gott ist, höchst einzig, höchst anbetungswürdig
und gepriesen von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.
„Ach,“ sagte der hl. Hieronymus seinem geliebten Paulinus, „der ge-
lehrte Platon wußte davon nichts und auch Demosthenes war es unbe-
kannt“ (53. Br. § 4).
„Wie süß sind Deine Worte meinem Gaumen; süßer als Honig sind sie
meinem Mund,“ sagt der königliche Prophet (Ps 119,103). Und die Jünger von
Emmaus, ergriffen von den Liebesflammen, die das Wort des Glaubens in
ihnen entfacht hatte, riefen aus: „Brannte nicht unser Herz, während er auf
dem Weg mit uns redete und uns die Schrift aufschloß?“ (Lk 24,32).
4. Wenn die göttlichen Wahrheiten schon im schwachen Licht des Glau-
bens so beglückend sind, o Gott, wie wird es erst sein, wenn wir sie
im Mittagslicht der Glorie schauen werden!
Die Königin von Saba verließ alles und zog aus, um Salomo zu
sehen, dessen glänzender Ruf bis zu ihr gedrungen war. Als sie ihn
dann reden hörte und die wundervolle Weisheit erkennen konnte, die sich
in all seinen Worten offenbarte, erfaßte sie ein tiefes Staunen. Beinahe
außer sich vor Bewunderung, beteuerte sie, daß alles, was sie von Salomos
Weisheit sagen gehört, nicht die Hälfte dessen sei, was sie nun mit ihren
eigenen Augen und durch ihre eigene Erfahrung kennengelernt (1 Kön
10,1.7).
Wie schön und anziehend sind die Wahrheiten des Glaubens, die wir
durch Hören vernommen haben! Kommen wir aber einst ins himmlische
Jerusalem und schauen dort den großen Salomo, den König der Glorie,
der auf dem Thron seiner Weisheit sitzend uns die ewigen Wunder und
Geheimnisse seiner erhabenen Wahrheit so unerhört klar und lichtvoll
enthüllt, daß unser Geist das, was er auf Erden geglaubt, dann gleich-
sam vor sich ausgebreitet sieht – dann, liebster Theotimus, welches Entzük-
ken! Welche Ekstasen! Welche Bewunderung! Welche Liebe! Welche Se-
ligkeit!
Nein, nie – so werden wir in diesem Übermaß unserer Wonne ausru-
fen – nie hätten wir zu ahnen vermocht, daß wir einmal so beglückende
Wahrheiten sehen würden. Wir haben gewiß alles geglaubt, was man
uns von deiner ewigen Glorie, o große Gottesstadt (Ps 87,2), verkündet hat; aber
nie und nimmer vermochten wir uns vorzustellen, wie unendlich tief die
Abgründe deiner Wonnen sind.
188 III, 10
10. Kapitel
Vorausgehende Sehnsucht wird die V ereinigung der
Vereinigung
Seligen mit Gott gewaltig verstärken.
Stelle dir doch, Theotimus, mit dem Psalmisten (42,1) den Hirsch vor,
wie er von der Meute gehetzt, außer Atem und fast zusammengebrochen,
sich gierig in das Wasser stürzt, nach dem er gelechzt hat, hineintaucht
und sich förmlich darin wälzt, als ob er sich im Wasser auflösen und zu
Wasser werden wollte, um dessen Kühle ganz in sich aufzunehmen.
4. O wie innig wird die Vereinigung unseres Herzens mit Gott einst
im Himmel sein, wenn wir nach langer, in dieser Welt nie gestillter
Sehnsucht nach dem wahren Gut, dessen lebendige und machtvolle Quelle
finden werden.
Hast du je ein hungriges Kindlein gesehen, wie es sich eng an die
Brust der Mutter schmiegt und wie gierig es den süßen, so ersehnten
Labetrunk auszupressen sucht? Man möchte meinen, es wolle sich ganz
in die Brust der Mutter vergraben oder diesen süßen Quell ganz in sich
hineintrinken.
So ist es auch mit unserer Seele. Wenn sie, vergehend vor Durst nach
dem wahren Gut, dessen unerschöpfliche Quelle im Schoß der Gottheit
vor sich sieht, o Gott, welch heiliges und beglückendes Feuer, sich an
diese alle Güte spendende Brust zu werfen und ganz eins mit ihr zu sein,
sich ganz in sie zu versenken oder sie ganz in uns aufzunehmen!
11. Kapitel
Die Vereinigung der seligen Geister mit Gott in
Vereinigung
der Schau der Gottheit.
1. Wenn wir einen Gegenstand ansehen, so vereinigt sich dieser nicht
selber mit unseren Augen, sondern er sendet ihnen nur eine gewisse
Vorstellung oder Abbildung von sich zu, das die Philosophen „sinnen-
haftes Abbild“ nennen, mittels dessen wir ihn schauen. Und wenn wir
mit dem Geist etwas betrachten oder erfassen, so vereinigt sich das, was
wir erfassen, mit unserem Verstand auch nur mittels einer anderen Vor-
stellung und Abbildung, die ganz zart und geistig ist und die die Philoso-
phen „verstandesmäßiges Abbild“ nennen.
Aber auf wie vielen Umwegen und nach wie vielen Veränderungen
gelangen diese „Abbilder“ zu unserem Verstand!
Sie kommen an uns heran durch die äußeren Sinne, die sie dem in-
neren Sinn weitergeben. Von da gelangen sie zur Vorstellungskraft, von
dieser zur tätigen Erkenntniskraft und kommen endlich zur aufnehmen-
den Erkenntnisfähigkeit. So werden sie vielfach gesiebt und abgefeilt, da-
190 III, 11
durch geläutert, verfeinert und vergeistigt und wandeln sich von sinnen-
haften Abbildern zu verstandesmäßigen um.
2. Auf diese Weise sehen und verstehen wir, Theotimus, alles, was wir in
diesem sterblichen Leben sehen und verstehen, sogar die Gegenstände unse-
res Glaubens. So wie ein Spiegel nicht den Gegenstand selbst enthält, dessen
Bild man in ihm sieht, sondern nur dessen Darstellung und Abbild, – wie
das Auge, das darauf fällt, sich wieder ein Bild dieses Abbildes schafft, so
enthält auch das Wort des Glaubens nicht die Gegenstände des Glau-
bens, sondern es stellt sie einfach dar. Und diese Darstellung göttlicher
Dinge, die das Wort des Glaubens in sich faßt, bringt nun wieder eine
andere Vorstellung hervor, die unser Verstand mit Hilfe der göttlichen
Gnade aufnimmt und behält. An ihr findet unser Wille sein Gefallen
und umfängt sie, weil sie ihm als höchst verehrungswürdige, nützliche,
anziehende und sehr wertvolle Wahrheit erscheint. Mit anderen Worten:
die Wahrheiten, die im Wort Gottes enthalten sind, werden dem Ver-
stand so dargestellt, wie sich äußere Gegenstände dem Auge in einem
Spiegel zeigen. Deshalb sagt auch der Apostel (1 Kor 13,12), glauben sei
wie in einem Spiegel schauen.
3. Im Himmel aber – o Theotimus, welche Gnade! – wird sich die
Gottheit selber mit unserem Verstand ohne das Mittel eines Abbildes
oder einer Vorstellung vereinigen. Sie wird sich selbst unserer Erkennt-
niskraft einprägen und mit ihr unmittelbar eins sein; sie wird ihr so ge-
genwärtig sein, daß diese intime Gegenwart Vorstellung und Bild ersetzt.
O Gott, welche Wonne für den menschlichen Verstand, auf ewig mit
seinem erhabenen Gegenstand vereinigt zu sein, so daß er nicht dessen
Vorstellung, sondern seine Gegenwart, nicht dessen Bild, sondern das ei-
genste Wesen seiner göttlichen Wahrheit und Majestät in sich aufnimmt!
Wir werden als glückselige Kinder Gottes die große Ehre genießen, von
Gottes ureigenster Wesenheit genährt zu werden. Unsere Seele nimmt
sie durch die Erkenntniskraft in sich auf, wie der Mund die Nahrung.
4. Eine liebende Mutter begnügt sich nicht damit, ihr Kind mit ihrer
Milch, die etwas von der Substanz ihres Leibes ist, zu ernähren, sie will
auch selbst ihm die Brust reichen, damit es nicht durch ein Löffelchen oder
ein sonstiges Werkzeug, sondern an ihrem Leib und durch ihren Leib
diese von ihr selbst empfange. Ihr mütterlicher Leib soll sowohl Nahrung
wie Weg zur Nahrung für ihr liebes Kindlein sein. So begnügt sich auch
Gott, unser Vater, nicht damit, daß seine Wesenheit in unserem Verstand
aufgenommen werde und wir so seine Gottheit schauen. Seine unendliche
III, 12 191
Liebe treibt ihn an, selber seine Wesenheit mit unserem Geist so innig
zu einen, daß wir sie nicht mehr in einem Bild oder in einer Vorstellung
sehen, sondern in ihr selbst und durch sie selbst.
Seine ewige, väterliche Wesenheit wird so zugleich Erkenntnisgegen-
stand und Erkenntnismittel für uns sein. Auf wunderbare Weise werden
dann die göttlichen Verheißungen in Erfüllung gehen: „Ich werde sie in die
Wüste führen, mit meiner Milch nähren und zu ihren Herzen sprechen“
(Hos 2,14). „Freut euch mit Jerusalem und frohlockt in ihm alle, die ihr
es liebt; seid mit ihm fröhlich in Freuden alle, die ihr trauert darüber.
Trinkt euch satt an seiner trostreichen Brust! Schlürft, labt euch an seiner
Herrlichkeit Fülle... Ihr sollt davon euch sättigen. Auf Armen wird
man euch tragen, auf den Knien liebkosen“ (Jes 66,10.12).
5. Diese Glückseligkeit, Theotimus, ist endlos. Sie wurde uns nicht nur
verheißen, sondern wir erhielten schon ein Unterpfand im allerheiligsten
Altarssakrament, dem immerwährenden Gastmahl der göttlichen Gnade.
In ihm erhalten wir ja sein Blut in seinem Fleisch und sein Fleisch in seinem
Blut. Sein Blut wird durch sein Fleisch, seine Wesenheit durch seine
Wesenheit selbst unserem leiblichen Mund geschenkt.
Daraus sollen wir erkennen, daß Gott im Gastmahl der ewigen Glo-
rie seine göttliche Wesenheit auf gleiche Weise uns schenken will. Hier
wird uns diese Gunst zwar wirklich zuteil, jedoch verschleiert unter den
Gestalten von Brot und Wein; im Himmel aber wird sich uns Gott ent-
schleiert geben, wir werden ihn von Angesicht zu Angesicht schauen, so
wie er ist (1 Kor 13,12; 1 Joh 3,2).
12. Kapitel
Die ewige Vereinigung der seligen Geister mit Gott
Vereinigung
in der Schau der ewigen Gebur
Geburtt des göttlichen Sohnes.
O heiliger und göttlicher Geist, ewige Liebe des Vaters und des Sohnes,
sei meiner Kindlichkeit gnädig!
1. Unser Geist wird also Gott schauen, Theotimus; er wird Gott von
Angesicht zu Angesicht schauen. Er wird die ureigenste göttliche We-
senheit betrachten, die ihm wirklich und wahrhaftig gegenwärtig sein
wird, und in ihr seine unendlichen Schönheiten, seine Allmacht, Allgüte,
Allweisheit, Allgerechtigkeit und alles übrige der Unergründlichkeit
göttlicher Vollkommenheiten.
Der Verstand wird also in einer ganz klaren Schau jenes unendlichen
Erkennens seiner eigenen Schönheit inne werden, das der Vater von
192 III, 12
Ewigkeit her hatte und zu dessen Ausdruck er in sich selbst ewig „das
Wort“ aussprach und sagte, dieses ganz einzige und ganz unendliche
Wort, das, weil es alle Vollkommenheit des Vaters in sich faßt und
darstellt, mit ihm nur ein und derselbe ganz einzige Gott sein kann,
ohne Teilung und Trennung.
Diese ewige und wunderbare Zeugung des göttlichen Wortes werden
wir also schauen. Wir werden sehen, wie der Sohn als das getreue
Bild des Vaters, als seine lebendige Ähnlichkeit von ihm von Ewigkeit
her geboren wird, – als sein Bild und seine lebendige, natürliche Ähn-
lichkeit, die nichts Zufälliges, nichts Äußerliches darstellt, da in Gott
alles Wesenheit ohne Zufälligkeit, alles Innerlichkeit ohne Äußerlichkeit
ist, – als sein Bild aber, das das eigene Wesen des Vaters offenbart auf
eine so lebendige, natürliche, wesenhafte und substantielle Art, daß es
nichts anderes sein kann als derselbe Gott mit ihm, ohne Unterschied
und Verschiedenheit im Wesen und in der Substanz, durch nichts anderes
verschieden als durch das Personsein.
2. Wie könnte auch der Sohn Gottes, das wahre, wahrhaftig lebendige
und wahrhaftig natürliche Abbild des Vaters sein, Ähnlichkeit und
Darstellung der unendlichen Schönheit und Wesenheit des Vaters (Hebr 1,3),
stellte er nicht die unendlichen Vollkommenheiten dieses Vaters auf unend-
liche, lebendige und naturhafte Weise dar? Wie aber könnte er unendliche
Vollkommenheiten auf unendliche Weise darstellen, ohne unendlich voll-
kommen zu sein, – und wie könnte er unendlich vollkommen sein,
wenn er nicht Gott wäre; und wie könnte er Gott sein, wäre er nicht ein
und derselbe Gott mit dem Vater?
Dieser Sohn also, unendliches Abbild und Darstellung eines unend-
lichen Vaters, ist ein alleiniger, ganz einziger und ganz unendlicher
Gott mit seinem Vater, ohne daß es einen Unterschied im Wesen zwi-
schen ihnen gibt, sondern nur die Verschiedenheit in den Personen. Wie
diese Verschiedenheit in den Personen ganz und gar erforderlich ist, so
ist sie auch hinreichend, um zu bewirken, daß der Vater spreche und der
Sohn das ausgesprochene Wort sei; daß der Vater rede und der Sohn die
Aussage sei; daß der Vater sich ausdrücke und der Sohn das Bild, die
Ähnlichkeit, der Ausdruck des Vaters sei; kurz gesagt: daß der Vater Vater
und der Sohn Sohn sei, zwei verschiedene Personen in einer alleinigen
Wesenheit und Gottheit.
3. So ist Gott der Alleinige, doch nicht einsam, denn alleinig ist er
in seiner ganz einzigen und ganz einfachen Gottheit, jedoch ist er nicht
III, 13 193
Vater als deren Urquell und Ursprung liegt. – Ist es da denkbar, daß
Vater und Sohn einander nicht mit einer unendlichen Liebe lieben, da doch
ihr Wille, mit dem sie sich lieben, und ihre Vollkommenheit, um derent-
willen sie sich lieben, in dem einen wie in dem anderen unendlich sind?
2. Findet Liebe uns ungleich, so macht sie uns gleich; findet sie uns nicht
vereint, so vereinigt sie uns. Vater und Sohn aber sind einander nicht nur
gleich und aufs innigste miteinander verbunden, sondern auch ein und
dieselbe Gottheit, ein und dieselbe Vollkommenheit, ein und dieselbe Wesenheit
und Einheit. Mit welch inniger Liebe müssen sie daher einander umfan-
gen!
Ihre Liebe ist aber nicht so wie jene vernunftbegabter Geschöpfe zu-
einander oder zu ihrem Schöpfer. Diese äußert sich auf die mannigfal-
tigste Art und Weise und immer wieder durch verschiedene Handlungen,
Seufzer, durch Liebesworte, durch das Beisammensein, durch Akte der
Verbundenheit, die aufeinander folgen und so das Fortbestehen der
Liebe bei allem beglückenden Wechsel geistiger Regungen sichern. Da-
gegen ist die göttliche Liebe des Ewigen Vaters zu seinem Eingeborenen
ein einziger Hauch, gegenseitig gehaucht vom Vater und Sohn, die auf
diese Weise vereint und verbunden bleiben.
Ja, mein Theotimus, da die Vollkommenheit des Vaters und des
Sohnes nur eine alleinige, beiden höchst einzige, dem einen und dem
anderen gemeinsame Vollkommenheit ist, so kann auch die Liebe zu
dieser Vollkommenheit nur eine einzige Liebe sein. Wenn es auch zwei
Personen sind, die lieben, der Vater und der Sohn, so ist doch nur ihre
alleinige, ganz einzige, ihnen gemeinsame Vollkommenheit der Gegen-
stand ihrer Liebe und es ist nur ihr ganz einziger Wille, der liebt. Daher
ist auch nur eine Liebe da, die sich in einem einzigen Liebeshauch er-
gießt.
Der Vater haucht diese Liebe und der Sohn haucht sie. Der Vater haucht
diese Liebe nur mit dem gleichen Willen und wegen derselben Vollkom-
menheit, die gleicherweise und ganz einzig in ihm und in seinem Sohn ist.
Der Sohn wiederum haucht diesen Liebeshauch nur derselben Vollkom-
menheit wegen und mit demselben Willen. Daher ist auch dieser Liebes-
hauch nur ein einziger, ein einziger Geist von zwei Hauchenden ausge-
hend.
3. Und dieser Hauch muß unendlich sein; Vater und Sohn, die diesen
Hauch hervorbringen, haben ja ein unendliches Wesen und einen unend-
lichen Willen, mit dem sie hauchen; die Vollkommenheit, deretwegen sie
III, 13 195
lieben, ist unendlich; so kann auch der Liebeshauch nur unendlich sein.
Da er aber nicht unendlich sein kann, ohne Gott zu sein, so folgt daraus,
daß der vom Vater und Sohn gehauchte Geist wahrer Gott ist. Da es aber
nur einen Gott geben kann, so ist der Heilige Geist der eine wahre
Gott mit dem Vater und dem Sohn.
4. Nun ist aber diese Liebe ein Akt, der vom Vater und vom Sohn
wechselseitig ausgeht; daher kann sie weder der Vater, noch der Sohn
sein, von denen sie ja ausgeht, obwohl sie dieselbe Vollkommenheit und
Wesenheit des Vaters und des Sohnes hat. Sie muß also eine dritte
göttliche Person sein, die mit dem Vater und dem Sohn ein einziger
Gott sein muß. Und da diese Liebe durch einen geistigen Hauch hervorge-
bracht ist, so wird sie der Heilige Geist genannt.
5. Denke daran, Theotimus, mit welcher Begeisterung der König David
die innige Freundschaft der Diener Gottes schildert: „Wie gut und lieb-
lich ist es, wenn Brüder beisammen wohnen! Wie Salböl auf dem
Haupt, das herniederfließt auf den Bart, auf Aarons Bart, und weiter-
fließt auf den Saum seines Kleides“ (Ps 133,1.3). Wenn schon menschli-
che Freundschaft so schön und liebenswert ist und solch lieblichen Duft
jenen spendet, die sie betrachten, wie unsagbar schön wird es erst sein,
mein vielgeliebter Theotimus, das heilige, ewige gegenseitige Sichlieben
des Vaters und des ewigen Sohnes zu schauen.
Der hl. Gregor von Nazianz (43. Pr. § 22) erzählt, daß die Innigkeit der
Freundschaft zwischen ihm und dem hl. Basilius in ganz Griechenland geprie-
sen wurde, und Tertullian (Ap. 39) bezeugt, daß die mehr als brüder-
liche Liebe zwischen den ersten Christen von den Heiden bewundert
wurde.
Was wird das erst für ein Fest und was für eine Freude im Himmel
sein! Mit welchen Lob und Segenswünschen wird diese ewige und
erhabene Freundschaft vom Vater und Sohn gefeiert, wie wird sie
bewundert und geliebt werden! Was kann es wohl Schöneres und Lie-
benswerteres geben als die Freundschaft! Welche Freundschaft könnte
aber verglichen werden mit jener unendlichen Freundschaft, die zwischen
Vater und Sohn herrscht, die derselbe ganz einzige Gott mit ihnen ist?
Unser Herz wird in einen Abgrund von Liebe versenkt werden vor
Bewunderung der Schönheit und Innigkeit der Liebe, mit der der Ewige
Vater und sein unbegreiflich unendlicher Sohn einander göttlich und
ewig lieben.
196 III, 14
14. Kapitel
Das Licht der Glorie dient bei den seligen Geistern
im Himmel zur V ereinigung mit Gott.
Vereinigung
Wie uns also Gott das Licht der Vernunft verlieh und wir dadurch ihn
als den Urheber der Natur zu erkennen vermögen; wie er uns ferner das
Licht des Glaubens schenkte, wodurch wir ihn als Quelle der Gnade
sehen, so wird er uns auch das Licht der Glorie verleihen, wodurch wir
ihn als Quelle der Seligkeit und des ewigen Lebens unmittelbar schauen
werden.
3. Nicht aus der Ferne, Theotimus, werden wir diese Quelle der Se-
ligkeit sehen, wie jetzt im Glauben. Nein! Wir werden, in diese Quelle
hineingetaucht und versenkt, sie kraft des Lichtes der Glorie schauen.
Nach einem Bericht des Plinius (Hist. nat. 2,103) sollen die Taucher,
die auf dem Meeresgrund nach Perlen suchen, Öl in den Mund nehmen und
dieses dann in das Wasser ergießen, damit sie besser sehen. Theotimus,
wenn die glückliche Seele in den Ozean der göttlichen Wesenheit hinein-
getaucht ist, dann wird Gott in ihrem Geist das heilige Licht der Glorie
ausbreiten, das ihm die Abgründe dieses unzugänglichen Lichtes (1 Tim
6,16) aufhellen wird, damit wir durch das helle Glorienlicht die Lichtfül-
le Gottes zu schauen vermögen. „Bei Dir ist die Quelle des Lebens und in
Deinem Licht schauen wir das Licht“ (Ps 36,10).
15. Kapitel
Die Vereinigung der Seligen mit Gott wird verschiedene Grade haben.
Vereinigung
1. Dieses Glorienlicht, Theotimus, wird nun den Seligen das Maß ihrer
Schau und Beschauung geben. Je mehr oder weniger wir von diesem
heiligen Glanz empfangen, desto mehr oder weniger klar und daher
beglückt werden wir die heilige Gottheit schauen. Ist sie so von uns in
verschiedener Weise gesehen, so wird sie uns auch in verschiedener Wei-
se mit der Herrlichkeit beschenken.
2. Gewiß schauen im Himmel alle Gottes ganze Wesenheit, doch kei-
ner von ihnen und auch nicht alle zusammen sehen sie und vermögen sie
in ihrer ganzen Unermeßlichkeit zu schauen. Nein, Theotimus, Gott ist in
ganz einziger Weise eins und in ganz einfacher Weise unteilbar; daher
kann er nicht geschaut werden, ohne daß man ihn ganz sieht. Aber er ist
zugleich unendlich, d. h. ohne Grenze, Maß und Ende in seiner Vollkom-
menheit; daher gibt es niemand außer ihm selbst, der fähig wäre, die
Unendlichkeit seiner Vollkommenheit zu umfassen und zu durchdrin-
gen, die unendlich wesenhaft und wesenhaft unendlich ist.
198 III, 15
3. Das geschaffene Sonnenlicht, das begrenzt und endlich ist, wird von
allen, die es schauen, wohl ganz gesehen. Trotzdem wird es weder von
einem Einzelnen noch von allen zusammen seinem ganzen Umfang nach
wahrgenommen. So verhält es sich mit fast allen unseren Sinnen. Wenn
mehrere eine schöne Musik hören, so hören sie zwar alle ganz, jedoch
mehr oder minder gut, mit größerem oder geringerem Genuß, je nach der
Zartheit des Gehörs. Das Manna (Weish 16,20 ff) wurde von allen, die es
aßen, als wohlschmeckend empfunden, aber in verschiedener Weise, nach
der Verschiedenheit des Geschmackes. Den ganzen Umfang seines Wohl-
geschmackes aber vermochte niemand auszuschöpfen, da es mehr Ver-
schiedenheiten im Geschmack hatte, als es deren unter den Israeliten
gab.
4. Theotimus, wir werden im Himmel die ganze Gottheit schauen
und uns ihrer erfreuen; aber weder ein einzelner Seliger noch alle
zusammen werden sie in ihrer Gänze erfassen und ausschöpfen können.
Gottes Unendlichkeit umfaßt immer unendlich mehr Vollkommenheiten,
als wir Aufnahmefähigkeit besitzen. Es wird uns eine unendliche Freude
sein, zu wissen, daß Gott zwar alle Sehnsucht unseres Herzens stillt und
daß dessen Fassungskraft voll ausgefüllt ist durch den seligen Besitz des
unendlichen Gutes, das Gott ist; – zugleich aber zu wissen, daß es in
dieser Unendlichkeit noch unendliche Vollkommenheiten zu sehen und
selig zu besitzen gibt, die nur Gottes Majestät weiß und sieht, da sie al-
lein sich selbst vollständig begreift.
5. Den Fischen gehören die unbegrenzten Weiten des Ozeans und doch
hat kein Fisch und haben nicht einmal alle Fische zusammen jeden Strand
gesehen und ihre Schuppen in allen Wassern der Meere gebadet. Die Vögel
tummeln sich nach Herzenslust in den Weiten der Luft und doch hat kein
Vogel und haben nicht einmal alle Vögel zusammen das gesamte Luft-
meer mit ihrem Flügelschlag durchquert und sind in seine höchsten Schich-
ten gedrungen.
Theotimus, so werden sich unsere Seelen nach Herzenslust in Erfüllung
all ihrer Sehnsucht in den Tiefen des göttlichen Ozeans, in den Höhen
göttlicher Weiten bewegen und es wird ewig unsere Freude sein, zu sehen,
wie diese Höhen so unendlich weit und diese Ozeane so unendlich groß
sind, daß wir sie nie in ihrer ganzen Unendlichkeit genießen können. Es
wird uns freuen, daß bei allem restlosen und vorbehaltlosen seligen Besitz
des unendlichen Abgrunds der Gottheit doch niemals die Seligkeit die-
III, 15 199
ser Unendlichkeit gleich sein wird, da diese immer über unsere Fas-
sungskraft unendlich erhaben bleiben wird.
6. Durch zwei Wirklichkeiten werden die seligen Geister im Himmel
vor Bewunderung hingerissen: Die erste ist die unendliche Schönheit
Gottes, die sie schauen, die andere ist der Abgrund von Unendlichkeit,
den es noch in dieser selben Schönheit zu schauen gäbe.
O mein Gott, wie wunderbar ist das, was sie schauen! Aber wie weit
wunderbarer ist das, was sie nicht schauen! Da aber Gottes Schönheit, die
sie schauen, unendlich ist, vermag sie vollständig sie zu sättigen und über
alle Maßen zu beglücken! Sie begnügen sich damit, sich ihrer zu erfreuen
in der Rangstufe, die ihnen Gottes gütige Vorsehung zugewiesen hat. Die
Erkenntnis, daß sie den Gegenstand ihrer Liebe nicht total in Besitz haben
und auch nicht haben können, wird so in ihnen zur liebevollen Bewunde-
rung. Es ist ihnen höchste Freude, zu sehen, daß die von ihnen geliebte
Schönheit so unendlich groß ist, daß sie ganz nur durch sich selbst erkannt
werden kann; denn darin besteht die Göttlichkeit dieser unendlichen Schön-
heit und die Schönheit dieser unendlichen Gottheit.
200
201
VIERTES BUCH
1. Kapitel
Wir können die Gottesliebe verlieren, solange wir in diesem
sterblichen Leben sind.
1. Ich spreche hier nicht für jene begnadeten und auserwählten Seelen, die
Gott durch eine besondere Gnade in seiner Liebe so sehr festhält und
stärkt, daß sie außer Gefahr sind, sie jemals zu verlieren. Meine Ausfüh-
rungen gelten vielmehr für die große Mehrzahl der Sterblichen, denen der
Heilige Geist zuruft: „Wer steht, sehe zu, daß er nicht falle“ (1 Kor
10,12). – „Bewahre, was du hast“ (Offb 3,11). – „Seid sorgfältig dar-
auf bedacht, eure Berufung durch gute Werke zu sichern“ (2 Petr 1,10).
Ihnen gibt er auch folgendes Gebet ein: „Verwirf mich nicht vor Deinem
Angesicht und nimm Deinen Heiligen Geist nicht von mir“ (Ps 51,13);
und „Führe uns nicht in Versuchung“ (Mt 6,13).
2. Mit heiliger Furcht und Zittern (Phil 2,12) sollen sie also ihr
Heil wirken und bedenken, daß sie nicht unerschütterlicher und nicht
beständiger in der Bewahrung der Gottesliebe sind als der Engel Luzifer
mit seinem Anhang und Judas, die die Liebe, die sie empfingen, wieder
verloren und durch den Verlust der Liebe auch selber ewig zugrunde
gingen.
Zweifeln nicht auch viele am ewigen Heile Salomos, der sich von dieser
Liebe, in der er einst stand, abgewendet hat? Sind die meisten Menschen
fester und beständiger als Adam und Eva, David und Petrus, die doch
Kinder des Heiles waren und dann doch, wenn auch für kurze Zeit, von
dieser Liebe abgefallen sind, ohne die es kein Heil gibt? Wer kann wohl,
Theotimus, sicher sein, in dieser Schiffahrt des irdischen Lebens die
Gottesliebe zu bewahren, da doch auf der Erde und im Himmel so viele
mit solch unvergleichlicher Würde bekleidete Engel und Menschen so
furchtbaren Schiffbruch erlitten haben?
3. Aber, ewiger Gott, wie ist es denn nur möglich, daß eine Seele, die
im Besitz der Gottesliebe ist, sie wieder verlieren kann? Wo Liebe
ist, widersteht sie doch der Sünde. Wie ist es denn möglich, daß Sünde da
einkehrt, wo Liebe waltet? Ist denn nicht die Liebe „stark wie der Tod
und im Kampf so hart wie die Hölle?“ (Hld 8,6). Wie können die
Mächte des Todes und der Hölle, d. h. die Sünden, die göttliche Liebe
überwinden, die ihnen an Kraft zumindest gleich ist und jedenfalls darin
überlegen, daß sie reiche Hilfe empfängt und das Recht für sich hat? Wie
kann es geschehen, daß ein vernünftiger Mensch, der einmal die Seligkeit
IV, 1 203
der göttlichen Liebe verkostet hat, freiwillig die bitteren Wasser der Be-
leidigung Gottes schlürft? (Ex 15,23).
Kinder haben, wenn sie mit Milch, Butter und Honig ernährt wurden,
Abscheu vor Absinth und allem Bitteren; sie weinen und kommen einer
Ohnmacht nahe, wenn sie so etwas kosten sollen. Wie kann aber, o Gott,
eine Seele, die einmal mit der Güte ihres Schöpfers innig verbunden
war, diese Güte preisgeben um eines hinfälligen Geschöpfes wegen? (Röm
8,20).
In der Tat, mein lieber Theotimus, die Himmel selbst entsetzen sich,
ihre Pforten erbeben vor Schaudern (Jer 2,12); die Engel des Friedens
(Jes 33,7) sind außer sich vor Staunen über das unsagbare Elend des
menschlichen Herzens, das ein so liebenswertes Gut verläßt, um so
kläglichen Dingen anzuhangen.
4. Hast du schon diese merkwürdige Sache gesehen, die wohl jeder-
mann kennt, aber nicht erklären kann? Sticht man ein vollgefülltes
Weinfaß an, so fließt kein Wein aus, wenn man ihm nicht von oben
her Luft macht. Sticht man aber ein schon zum Teil entleertes Faß an,
so fließt es sofort aus.
So ist es auch mit unserer Seele. Wenn sie in diesem sterblichen Leben
auch die göttliche Liebe in reichem Maß besitzt, so ist sie dennoch nie so
sehr davon erfüllt, daß sie diese nicht durch eine Versuchung verlieren
könnte. Im Himmel aber wird die beglückende Schönheit Gottes unser
ganzes Erkennen so fesseln und die Wonnen der Liebe Gottes werden
unseren ganzen Willen so sättigen, daß nichts in unserer Seele sein
wird, was nicht von der Größe seiner Liebe ausgefüllt ist.
Dort im Himmel kann nichts mehr, mag es auch bis zum Herzen
vordringen, uns auch nur den geringsten Tropfen des köstlichen Trun-
kes göttlicher Liebe entziehen oder zum Ausfließen bringen. Ihm –
wie dem Wein im Faß – Luft von oben zuzuführen, d. h. den Verstand
zu hintergehen oder zu überrumpeln, wird auch nicht möglich sein, denn
da er im Besitz der höchsten Wahrheit ist, wird er sich von ihr nicht
abbringen lassen.
Wenn der Wein gereinigt und die Hefe entfernt ist, kann er leicht
aufgehoben werden, ohne zu verderben; ist er aber noch mit Hefe ver-
mengt, dann besteht große Gefahr, daß er trübe wird und verdirbt.
Ähnlich ist es auch mit uns. Solange wir in diesem irdischen Leben sind,
tragen wir immer die „Hefe“ von tausenderlei Stimmungen und Armse-
ligkeiten mit uns herum. Daher besteht große Gefahr, daß unsere Liebe
204 IV, 1
ihren Gegenstand wechselt und trübe wird. Im Himmel aber, wo wir bei
jenem festlichen Mahl, von dem Jesaja (25,6) schreibt, ganz geläuterten,
reinen Wein trinken werden, sind wir nicht mehr dem Wechsel un-
terworfen, sondern bleiben unzertrennlich mit unserem höchsten Gut
durch die Liebe vereint.
Hier in diesem Leben, im Halbdunkel des anbrechenden Tages müssen
wir fürchten, statt dem Bräutigam irgend etwas anderem zu begegnen
und seinem trügerischen Werben zu erliegen. Erst wenn wir ihn einmal
dort oben gefunden haben, wo er im Mittag (Hld 1,6) seiner Glorie ruht
und sich ihrer erfreut, können wir nicht mehr getäuscht werden. Sein
Licht leuchtet zu hell und seine Liebe fesselt uns mit zu innigen Banden,
als daß wir uns davon losreißen könnten.
5. Wir gleichen der Koralle, die am Meeresgrund als grünliches, bieg-
sames, schwaches Sträuchlein wächst, jedoch hart wie Stein wird und sich
in ein lebhaftes Rot verfärbt, sobald man es aus dem Meer zieht (nach
Plinius, Hist. nat. 32,11).
Auch wir, die wir ins Meer dieser Welt hineingeboren sind und noch
dort verweilen, ändern uns so leicht und sind so biegsam unter jedem
Einfluß. Wir neigen uns einmal nach rechts zur göttlichen Liebe hin und
bald darauf wieder nach links zur irdischen Liebe, je nachdem die gött-
liche Einsprechung oder die Versuchung ein williges Ohr findet. Sind wir
aber einmal dieser Sterblichkeit entrückt, so wird sich das blasse Grün
unserer zaghaften Hoffnung in das tiefe Rot gesicherter Seligkeit wan-
deln; wir werden aufhören, hin und her zu schwanken, und unveränderlich
in der ewigen Liebe verharren.
Es ist unmöglich, Gott zu schauen und ihn nicht zu lieben. Hier
auf dieser Welt aber, wo wir Gott nicht sehen, sondern ihn nur durch
die Schatten des Glaubens wie in einem Spiegel (1 Kor 13,12) ahnend
wahrnehmen, ist unsere Erkenntnis nicht so groß, daß sie nicht von
Scheingütern überlistet und überrumpelt werden könnte. Da die Sicher-
heit und Wahrheit des Glaubens immer von Dunkelheit begleitet ist,
kann sich vieles einschleichen und gleich kleinen Füchsen unseren blü-
henden Weinberg zerstören (Hld 2,15). Kurz gesagt, Theotimus, wenn
wir die Liebe haben, dann ist unser freier Wille mit dem hochzeitlichen
Kleid geschmückt, das er durch Gutestun behalten kann, wenn er nur
will, oder durch Sünden verlieren, wenn es ihm so gefällt.
IV, 2 205
2. Kapitel
Das Erkalten der heiligen Liebe.
1. Die Seele wird bisweilen von körperlichen Leiden oder auch von
Niedergeschlagenheit so hergenommen, daß sie einzelne Glieder des
Leibes zu verlassen scheint und diese dann unbeweglich und empfin-
dungslos werden. Aus dem Herzen freilich weicht sie erst beim Erlöschen
des Lebens. So ist auch die Liebe manchmal zwar noch im Herzen, aber
so geschwächt und so ermattet, daß sie sich fast zu keiner Tätigkeit mehr
aufrafft. Trotzdem ist sie im höchsten Bereich der Seele noch ganz da.
2. Wenn eine Menge läßlicher Sünden, einer Asche gleich, das Feuer
der heiligen Liebe bedeckt und seine Flamme erstickt, so ist es doch
nicht ganz erloschen. – Der Diamant hindert durch seine Nähe den Ma-
gnet, das Eisen anzuziehen, ohne ihm aber diese Kraft selbst zu nehmen,
die sich dann wieder auswirkt, sobald das Hindernis entfernt ist. So nimmt
auch die läßliche Sünde der Liebe nicht ihre Stärke und Wirkkraft, lähmt
sie aber gewissermaßen und beraubt sie des Gebrauches ihrer Kraft, so
daß sie untätig und unfruchtbar wird.
Gewiß ist die läßliche Sünde, und sogar die Anhänglichkeit daran, dem
wesentlichen Entschluß der Liebe, Gott allen Dingen vorzuziehen, nicht
entgegengesetzt. Denn wenn wir so sündigen, dann ist unsere Liebe zu
diesem Gegenstand wohl unvernünftig, aber nicht vernunftwidrig. Wir
räumen einem Geschöpf zuviel ein, mehr als es sich ziemt, ohne es aber
Gott vorzuziehen; wir befassen uns mehr, als richtig ist, mit den irdi-
schen Dingen, jedoch ohne deshalb die himmlischen aufzugeben. Kurz
gesagt: diese Art von Sünden hält uns auf dem Weg der Liebe auf,
ohne uns aber davon zu entfernen; und da sie der Liebe nicht entgegen-
gesetzt ist, zerstört die läßliche Sünde diese niemals, weder ganz noch
zum Teil.
3. Gott ließ den Bischof von Ephesus wissen, daß er von seiner „ersten
Liebe“ (Offb 2,4) abgewichen sei. Damit wollte er ihm sagen, daß er
die Liebe zwar nicht verloren, daß diese aber nicht mehr die gleiche
sei wie ehedem, nicht mehr so glühend und tatbereit, nicht mehr so
blühend und fruchtbar wie am Anbeginn. So sagen wir auch von einem
Menschen, der tüchtig, fröhlich und tatkräftig war, nun aber verdrießlich,
faul und widerlich geworden ist, er sei nicht mehr derselbe Mensch
wie früher. Damit wollen wir natürlich nicht sagen, daß er sich in seinem
Wesen gewandelt habe, sondern nur, daß seine äußeren Handlungen
und sein Gebaren anders geworden seien.
206 IV, 2
So sagt auch der Heiland, daß in den Endzeiten die Liebe vieler
erkalten wird, d. h. sie wird nicht so tätig und mutig sein wegen der Angst
und Sorge, die die Menschen niederdrücken wird (Mt 24,12). Wenn die
Begierde empfangen hat, so gebiert sie die Sünde. Diese Sünde je-
doch erzeugt nicht immer den Tod der Seele, sondern nur dann, wenn
sie eine totale Bosheit in sich trägt, wenn sie vollbracht und vollendet
ist, wie der hl. Jakobus sagt (Jak 1,15). Damit gibt er so klar an, daß
zwischen läßlicher Sünde und Todsünde ein Unterschied besteht, daß es
mir unbegreiflich ist, wie sich in unserer Zeit Leute finden konnten, die
dies zu leugnen wagen.
4. Aber Sünde ist trotzdem auch die läßliche Sünde; sie mißfällt folglich
auch der Liebe. Zwar steht sie nicht direkt im Gegensatz zu ihr selbst,
wohl aber zu ihren Auswirkungen, ihrem Wachstum und sogar zu ihrer
Absicht, die ja darin besteht, daß sie alles auf Gott, als dem obersten Ziel
aller Handlungen, hinordnen will. Die Liebe wird durch die läßliche
Sünde verletzt, weil sie die Handlungen, durch die wir sie begehen, zwar
nicht gegen Gott richtet, aber doch außerhalb Gottes und außerhalb sei-
nes Willens ausführt.
Wenn ein Baum vom Sturm stark hergenommen wurde, pflegt man zu
sagen, es sei von ihm nichts übrig geblieben; denn wenn er auch selber
noch da ist, so ist er doch seiner Früchte beraubt. Gleicherweise können
auch wir von unserer Liebe sagen, sie habe abgenommen, sei geschwächt,
wenn Anhänglichkeiten an läßliche Sünden sie schwer hernehmen. Denn
wenn auch die Liebe als Zustand noch ganz im Herzen ist, so ist sie doch
ohne Werke, die ihre Früchte sind.
5. Bei manchen heidnischen Philosophen machte Anhänglichkeit an
Todsünden nach den Worten des hl. Paulus (Röm 1,18.21) die Wahr-
heit so sehr zur Gefangenen der Ungerechtigkeit, daß sie Gott zwar er-
kannten, aber nicht entsprechend ihrer Erkenntnis verherrlichten. Das
natürliche Licht der Vernunft wurde also nicht ausgelöscht, aber un-
fruchtbar.
Anhänglichkeiten an läßliche Sünden heben auch die Liebe nicht auf,
halten sie aber gleichsam wie eine Sklavin gefangen, binden ihr Hände
und Füße und hemmen so ihre Freiheit und Tätigkeit. Weil diese An-
hänglichkeit an läßliche Sünden uns zu stark an den Genuß von Ge-
schöpfen fesselt, beraubt sie uns der geistigen Vertraulichkeit zwischen
Gott und uns, zu der die Liebe als echte Freundschaft uns anspornt.
Damit verlieren wir auch die innerlichen Gnadenhilfen, die gleichsam die
IV, 3 207
Lebensgeister der Seele sind. Aus deren Mangel erfolgt dann jene seelische
Lähmung, die schließlich zum Tod führt, wenn nichts zu ihrer Heilung
geschieht. Da das Wirken zum Wesen der Liebe gehört, so kann sie nicht
lange untätig sein, ohne zugrunde zu gehen. Man kann sie der Rahel
im Alten Testament vergleichen, die zu ihrem Gatten sprach: „Gib mir
Kinder, oder ich sterbe“ (Gen 30,1), denn die Liebe drängt das Herz, mit
dem sie sich vermählt hat, sie durch gute Werke fruchtbar zu machen, weil
sie sonst zugrunde gehen muß.
6. Während dieses irdischen Lebens sind wir selten ohne viele Versu-
chungen. Aber gemeine, träge und vergnügungstolle Menschen sind für den
Kampf nicht gewappnet und können mit geistigen Waffen nicht umge-
hen. Daher werden sie die Liebe kaum jemals bewahren, sondern sich
gewöhnlich zur Todsünde mitreißen lassen. Dies geschieht um so eher, als
die Seele durch läßliche Sünden sich für Todsünden bereit macht.
Man erzählt von einem Mann im Altertum, daß er seine Kraft er-
probte, indem er ein Kalb täglich herumtrug und es schließlich noch
tragen konnte, als es bereits zu einem Ochsen herangewachsen war.
Die tägliche Übung hatte seine Kräfte so gestärkt, daß er das Anwachsen
einer so schweren Last nicht spürte. So wird auch ein leidenschaftlicher
Spieler zuerst Groschen einsetzen, dann Silbergeld, dann Goldstücke, end-
lich seine Pferde und am Schluß sein ganzes Hab und Gut. Wer kleinen
Zornesausbrüchen nachgibt, wird zum Schluß ein unerträglicher Wüterich.
Wer leicht Scherzlügen gebraucht, steht in großer Gefahr, lügenhafte
Verleumdungen zu begehen.
Endlich, Theotimus, sagen wir von Menschen, die sehr krank und schwach
sind, sie hätten gar kein Leben oder nur mehr einen Hauch von Leben in
sich, weil etwas, das nicht mehr lange dauern kann, schon beinahe zu sein
aufgehört hat. Gleiches gilt von diesen bequemen, faulen, vergnügungssüch-
tigen, erdverhafteten Leuten. Mit gutem Recht kann man von ihnen sagen,
sie haben keine Liebe mehr; denn wenn sie auch noch etwas Liebe ha-
ben, so sind sie doch nahe daran, sie zu verlieren.
3. Kapitel
Wie man die Liebe zu Gott aus Liebe zu den Geschöpfen aufgibt.
So geschieht dieses Unglück, daß man Gott um eines Geschöpfes wil-
len verläßt.
1. Wir lieben Gott nicht ohne Unterlaß, denn in diesem sterblichen
Leben wohnt in uns die Liebe nach Art eines einfachen Zustandes,
208 IV, 3
der, wie die Philosophen sagen, nach Belieben von uns betätigt werden
kann, jedoch nie gegen unseren Willen.
Wenn wir also von der Liebe, die in uns ist, keinen Gebrauch machen,
d. h. wenn wir unseren Geist nicht zu Werken heiliger Liebe gebrauchen,
sondern mit irgend etwas anderem beschäftigen oder aus Trägheit und
Nachlässigkeit brachliegen und verkümmern lassen, dann, Theotimus,
wird er so leicht von etwas Schlechtem berührt und von Versuchungen
überrumpelt.
2. Gewiß ist dann die Liebe noch als Zustand auf dem Seelengrund und
sie erfüllt ihre Aufgabe; sie macht uns geneigt, die bösen Eingebungen
zurückzuweisen. Aber sie drängt und trägt uns zum Widerstand nur in
dem Maße, als wir mittun, wie das auch bei allen anderen Zuständigkei-
ten der Fall ist.
Unsere Freiheit also tastet die Liebe nicht an und deshalb kann es oft
so kommen, daß das Schlechte seine Reize tief in unser Herz hineinwirft
und wir zu großes Gefallen daran finden. Und nimmt dieses Gefallen
noch zu, dann wird es uns schwer fallen, uns davon loszureißen. Gleich
den Dornen, von denen der Herr spricht (Mt 13,22; Lk 8,11), wird es
schließlich die himmlische Gnaden- und Liebessaat ersticken.
3. So war es bei unserer Stammutter Eva. Zuerst fand sie Vergnü-
gen daran, sich mit der Schlange zu unterhalten, dann hatte sie großes
Gefallen daran, zu hören, daß sie mehr wissen würde, und zu sehen, wie
schön die verbotene Frucht war. Und dieses Gefallen stärkte wieder das
Vergnügen an der Unterhaltung, wie dieses Vergnügen wieder das Ge-
fallen nährte. So wurde sie immer mehr hineingezogen, bis sie ihre
Zustimmung gab, die unglückselige Sünde beging und schließlich ihren
Mann auch noch dazu verführte.
4. Bisweilen sieht man Tauben sich voll Eitelkeit in kunstvollen
Spiralen oder in schwebendem Gleitflug gefallen, um ihr buntes Gefieder
zur Schau zu tragen. Sperber und Falken, die sie belauern, schießen dann
auf sie herab und packen sie mit ihren Krallen, was sie nie zustande-
brächten, wenn die Tauben geradeaus fliegen würden, da diese schneller
fliegen als Raubvögel. Nein, Theotimus, wenn wir uns nicht mit eitlen,
vergänglichen Genüssen vergnügten und uns besonders nicht in unserer
Eigenliebe gefielen, sondern, einmal im Besitz der göttlichen Liebe, un-
seren Flug mit Sorgfalt geradeaus richteten, dorthin, wohin sie uns trägt,
nein, niemals würden sich dann Einflüsse und Versuchungen unser
bemächtigen. – Leider aber lassen wir uns durch Selbstüberschätzung
IV, 3 209
verführen und täuschen, schauen gleich eitlen Tauben immer wieder auf
uns selbst, haften zu sehr an Geschöpfen und fallen so unversehens den
Krallen unserer Feinde zum Opfer, werden von ihnen erfaßt und ver-
schlungen.
7. Auf diese Weise kam es auch zum Aufstand, den der treulose
Abschalom – gegen seinen Vater David anzettelte (2 Sam 15). Er machte dem
Volk gut scheinende Vorschläge und die Israeliten, deren Klugheit und
Besonnenheit eingeschlafen und betäubt war, nahmen sie an. Er stachelte
sie dann so auf, daß er das ganze Volk dazu brachte, sich gegen David zu
erheben. David mußte in Begleitung seiner treuesten Freunde Jerusalem
weinend verlassen; die einzigen Männer, die er zurückließ, waren die
210 IV, 4
Priester Zadok und Abjatar mit ihren Kindern; Zadok aber war ein Seher,
d. h. ein Prophet.
Genau so, teuerster Theotimus, zeigt uns die Eigenliebe eitle Scheingü-
ter, wenn sie den Glauben unaufmerksam oder verschlafen vorfindet.
Sie verführt dann unsere Sinne, unsere Einbildungskraft und unsere
Seelenkräfte und bedrängt mit solcher Gewalt unseren freien Willen,
daß sie ihn zur vollständigen Empörung gegen die heilige Gottesliebe
aufwiegelt. Und so weicht die Liebe aus der Seele, gleich David, mit
ihrem ganzen Gefolge, d. h. mit allen Gaben des Heiligen Geistes und
den anderen himmlischen Tugenden, die ja unzertrennliche Gefährtinnen
der Liebe, wenn nicht ihre Eigenheiten und Fähigkeiten sind. Zurück
bleibt nichts in der Seele, keine Tugend mehr, die von Bedeutung wäre,
außer „Zadok der Seher“ und das ist die Gabe des Glaubens, die uns die
ewigen Wahrheiten sehen lassen kann, und sein Wirken; ferner noch
„Abjatar“, die Gabe der Hoffnung samt ihrer Wirksamkeit. Beide sind in
tiefster Trauer, doch hüten sie in uns die Bundeslade, d. h. die Eigenschaft
und den Titel eines „Christen“, den wir durch die Taufe empfangen ha-
ben.
8. Ach, Theotimus, welch jammervoller Anblick muß es für die Engel
des Friedens sein, zu sehen, wie der Heilige Geist und seine Liebe aus
unserer sündigen Seele weichen. Könnten sie weinen, so bin ich sicher,
sie würden bittere Tränen vergießen (Jes 33,7) und unser Elend mit den
Worten beklagen, die zur Zeit des Zidkija der Prophet Jeremia ange-
stimmt hat, als er auf der Schwelle des verwüsteten Tempels vor sich
die Ruinen Jerusalems schaute:
„Wie liegst du nun einsam und verlassen da,
du, aller Städte Zier!
Statt Menschen, Reichtum und Ehren
haust jetzt das Grauen!“ (Klgl 1,1).
4. Kapitel
Die heilige Liebe geht in einem Augenblick verloren.
5. Kapitel
Der freie geschöpfliche Wille ist einzige Ursache
des V ersagens und Erkaltens der Liebe.
Versagens
ganzen Tag unter dem Baum liegen. Als die Nacht hereinbrach, wollten
auch sie die Herberge aufsuchen, verirrten sich aber im Wald und waren in
großer Gefahr, eine Beute der wilden Tiere zu werden.
3. Was meinst du nun, Theotimus? Verdanken jene, die rechtzeitig
aufbrachen und in der Herberge anlangten, dies nicht der Sonne oder, um
mich christlicher auszudrücken, vielmehr dem Schöpfer der Sonne? Ge-
wiß, denn die Wanderer dachten von selbst nicht an ein Aufwachen, als es
Zeit dazu war, sondern wurden durch die mahnenden Strahlen und die
sanfte Glut der Sonne aufgeweckt. Es ist wohl wahr, daß sie der Sonne
keinen Widerstand leisteten, doch selbst dazu half ihnen die Sonne noch viel.
Sie ergoß freundlich ihr Licht über sie und machte sich so durch ihre
Augenlider hindurch bemerkbar. Ferner drängte sie ihre Wärme liebevoll
zum Öffnen der Augenlider und zum Sehen des Tageslichtes.
4. Jene anderen aber, die sich verirrten, hätten sie nicht unrecht, in den
Wald zu rufen: „Was haben wir der Sonne getan, daß sie nicht auch uns
gleich den anderen ihr Licht gezeigt, damit wir die Herberge erreichten,
statt in dieser schrecklichen Finsternis bleiben zu müssen?“ Wer möchte
nicht die Sache der Sonne oder vielmehr Gottes ergreifen und ihnen er-
widern: „Ihr Narren! Konnte die Sonne mehr für euch tun, als sie getan
hat? War sie nicht gleich gut zu allen! Ergoß sie nicht über alle, die unter
dem Baum schliefen, in gleichem Maße ihr Licht, ihre Strahlen und ihre
Wärme? Habt ihr nicht deutlich gesehen, wie eure Gefährten sich erho-
ben und weiterzogen? Trotzdem habt ihr der Sonne den Rücken gekehrt,
habt nichts von ihrer Helle wissen wollen und euch nicht von ihrer Wär-
me besiegen lassen.“
5. Das will ich dir nun sagen, Theotimus: wir alle sind Wanderer in
diesem irdischen Leben; fast alle sind wir freiwillig in den Schlaf der
Sünde gefallen. Gott nun, die Sonne der Gerechtigkeit, sendet uns in
weitaus genügendem Maße, ja reichlich die Strahlen seiner Einspre-
chungen, erwärmt unsere Herzen mit seinen Segnungen und rührt einen
jeden durch das Werben seiner Liebe.
Aber was soll das nun heißen, daß diese Lockungen so wenige anziehen
und noch weniger Menschen nach sich ziehen? Gewiß, jene die sich lok-
ken und dann ziehen lassen und der Einsprechung folgen, haben allen Grund,
sich zu freuen, keinen Grund aber, sich zu rühmen. Sie sollen sich
freuen, denn sie erfreuen sich eines großen Gutes, sie sollen sich aber
IV, 6 215
nicht rühmen, denn sie verdanken es der reinen Güte Gottes, der ihnen
den Nutzen seiner Wohltaten überläßt und sich die Ehre dafür vorbehält.
6. Jene aber, die im Schlaf der Sünde verharren, haben wohl Grund zu
jammern, zu seufzen, zu weinen und zu bedauern; befinden sie sich doch
in einem unseligen Zustand, der wohl der beklagenswerteste unter allen ist.
Die Schuld daran müssen sie aber sich allein zuschreiben und dürfen da-
her nur über sich klagen, da sie das Licht verachtet, ja sich dagegen aufge-
lehnt, seinem Werben gegenüber sich mürrisch verhalten und sich gegen
seine Eingebung verhärtet haben. Ihrer Bosheit allein gebührt ewiger
Fluch und immerwährende Beschämung, weil sie allein Ursache des
Verderbens, alleinige Urheber ihrer Verdammung sind.
Beim hl. Franz Xaver, ihrem Apostel, beklagten sich einst Japaner
darüber, daß Gott zwar so überreich für andere Völker gesorgt, ihre Ah-
nen aber anscheinend vergessen habe; habe er ihnen doch nicht die Mög-
lichkeit gegeben, ihn kennen zu lernen, wodurch sie ins Verderben ge-
stürzt seien. Franz Xaver antwortete darauf, das göttliche Naturgesetz sei
jeder menschlichen Seele eingeprägt, und wenn die Ahnen es befolgt hätten,
hätte das himmlische Licht sie gewiß erleuchtet; da sie aber dieses Ge-
setz verletzt haben, verdienten sie ihre eigene Verdammnis. Wahrlich
eine apostolische Antwort eines apostolischen Mannes. Sie stimmt ganz
mit dem überein, was der heilige Apostel Paulus vom Untergang der
Heiden lehrt. „Sie haben,“ so sagt er, „keine Entschuldigung, da sie trotz
der Erkenntnis des Guten doch dem Bösen folgten.“ Das ist ja in einem
Wort der Inhalt des ersten Kapitels des Römerbriefes.
Unheil über Unheil jenen, die nicht erkennen, daß ihr Unglück der
eigenen Bosheit entspringt.
6. Kapitel
Wir müssen anerkennen, daß Gott uns alle Liebe
gegeben, die wir für Ihn hegen.
1. Die Liebe des Menschen zu Gott verdankt ihren Ursprung, ihre
Entfaltung und ihre Vollendung der ewigen Liebe Gottes zu den Men-
schen. Dies ist die einmütige Meinung der Kirche, unserer Mutter. Mit
glühendem Eifer will sie, daß wir unser Heil und auch die Mittel dazu
nur der Barmherzigkeit unseres Erlösers zuschreiben. Ihm allein soll
auf Erden so wie im Himmel alle Ehre und Verherrlichung gegeben
werden (1 Tim 1,17).
216 IV, 6
nicht zuvorgekommen und hätte sie nicht dein Herz mit ihrem Wirken
erfüllt.
Sag mir doch, du kleiner und armseliger Mensch, machst du dich nicht
lächerlich, wenn du einen Teil des Ruhmes bei deiner Bekehrung des-
halb beanspruchst, weil du die göttliche Hilfe nicht zurückgewiesen hast?
Bilden sich nicht auch Räuber und Tyrannen ein, jenen das Leben zu
schenken, denen sie es nicht nehmen? Ist es nicht freche Gotteslästerung,
zu denken, du hättest der göttlichen Eingebung heilige, wirksame, lebens-
volle Tatkraft verliehen, weil du sie ihr durch deinen Widerstand nicht
genommen hast?
Wir können die Wirkungen der Eingebung verhindern, wir können sie
aber nicht geben; sie schöpft ja ihre ganze Kraft und Wirksamkeit aus der
göttlichen Güte, die ihr Ursprung ist, nicht aus dem menschlichen Willen,
der ihr Ziel ist.
Würde man sich nicht über die Fürstin, von der ich früher gesprochen
habe, empören, wenn sie sich rühmte, den herzstärkenden Medikamenten
Heilkraft verliehen oder sich selbst geheilt zu haben, weil sie diese ein-
nahm, als der Fürst sie ihr einflößte, sie aber halbtot kaum mehr ein
Empfinden besaß? Würde man sich nicht empören, wollte sie jetzt sa-
gen, daß die Mittel nicht gewirkt hätten, wenn sie sie nicht eingenom-
men hätte? Gewiß, so würde man ihr antworten: Du hättest dich verstei-
fen können, die Medikamente nicht einzunehmen, du hättest dich ihrer
auch entledigen können, aber deshalb, du Undankbare, verleihst du ih-
nen ja noch lange nicht Kraft und Wirksamkeit! Sie selbst besaßen diese
als ihre natürliche Eigenschaft. Du hast nur zugestimmt, sie zu empfan-
gen und an dir wirken zu lassen. Du hättest sogar niemals zugestimmt,
hätte der König dich nicht zuerst gestärkt und wäre er nicht in dich ge-
drungen, sie zu nehmen. Du hättest sie auch nicht genommen, hätte er dir
nicht geholfen, sie zu nehmen, da er dir eigenhändig den Mund geöffnet
und sie dir eingeflößt hat. Bist du nicht ein Ungeheuer an Undankbar-
keit, dir selbst das Gute zuschreiben zu wollen, das du in so vieler Hinsicht
nur deinem Gemahl verdankst?
4. Jener merkwürdige kleine Fisch, den man „Schiffhalter“ nennt, ver-
mag wohl Schiffe aufzuhalten, die mit vollen Segeln auf offenem Meer
schwimmen, nicht aber das Weiterschwimmen, das Vorwärtssegeln, das
Landen zu bewirken. Er kann die Bewegung hindern, aber nicht geben
(vergl. Plin. hist. nat. 9, 25).
218 IV, 6
Genau so kann auch unser freier Wille die Wirksamkeit der Eingebung
hindern und aufhalten. Wenn ein günstiges Wehen himmlischer Gnaden
die Segel unseres Geistes schwellt, können wir ihm die Einwilligung
versagen und so die Wirkung dieses Wehens verhindern. Wenn wir aber
auf hoher See fahren und schön vorwärtskommen, so sind nicht wir es,
die das Wehen der Eingebung verursachen, nicht wir schwellen die Segel,
nicht wir verleihen unserem Herzensschiff Bewegung. Wir nehmen das
himmlische Wehen nur in Empfang, wir willigen ein, daß es uns bewege,
wir lassen das Schiff unter dem Antrieb dieses Wehens vorwärtsgleiten
und behindern es nicht durch „Schiffhalter“ unseres Widerstandes.
Die göttliche Eingebung ist es also, die unseren freien Willen glückhaft
und milde beeinflußt, ihm nicht nur die Schönheit des Guten zeigt, son-
dern ihn auch erwärmt, kräftigt, ihm hilft und ihn so zart bewegt, daß er
dadurch sich beuge und sich frei für das Gute entscheide.
5. Im Frühling bereitet der Himmel die frischen Tautropfen und läßt
sie über das Meer herabträufeln. Die Perlmutter öffnet ihre Schalen,
nimmt die Tautropfen auf und diese verwandeln sich in Perlen. Die
Perlmutter aber, die ihre Schalen geschlossen hält, hindert zwar den Tau
nicht, sie zu benetzen, wohl aber verhindert sie, daß er in sie eindringe.
Hat nun der Himmel seinen Tau nicht auf die eine wie die andere
Perlmutter fallen lassen? Warum wird er bei der einen zur Perle, nicht
aber bei der anderen? Der Himmel war gleichmäßig freigebig auch für
die, die unfruchtbar geblieben ist; er hat alles getan, um auch sie mit
Perlen zu befruchten, sie hat aber die Wirkung seiner Wohltat verhindert,
indem sie sich abschloß und ihr Inneres verdeckte.
Die aber die Perle empfing und vom Tau befruchtet wurde, hat nichts,
was sie nicht vom Himmel empfangen hat; nicht einmal das Öffnen
der Schale, das sie fähig machte, den Tau aufzunehmen. Denn hätte sie
nicht die Strahlen der Morgenröte gefühlt, die sie freundlich lockten, so
wäre sie nicht an die Oberfläche des Meeres gekommen und hätte auch
ihre Schale nicht geöffnet.
6. O mein Theotimus! Wenn wir ein wenig Liebe zu Gott hegen, so
gebührt dafür nur ihm allein Ehre und Verherrlichung. Er allein wirkt
alles in uns und ohne ihn ist nichts geschehen (Joh 1,3). Wir haben die
Wohltat und die Verpflichtung, das ist der Anteil der göttlichen Güte
für uns. Sie überläßt uns die Frucht ihrer Wohltaten und behält sich
nur Ehre und Lob vor. Da wir selbst nur durch Gottes Gnade etwas
sind (1 Kor 15,10), so müssen wir auch nur zu seinem Ruhm da sein.
IV, 7 219
7. Kapitel
W ir müssen jegliche Neugierde über winden und uns demutsvoll
überwinden
der allweisen göttlichen V orsehung hingeben.
Vorsehung
haben, daß wir annehmen, sie seien nicht ohne Gründe gefällt worden,
obwohl wir diese nicht kennen, – mit welch liebender Ehrfurcht, o mein
Herr und Gott, sollen wir dann nicht deine allerhöchste Vorsehung anbe-
ten, deren Gerechtigkeit unfehlbar und deren Güte unendlich ist!
An einer anderen Stelle spricht derselbe Heilige von den Sündern, von
denen Gott einige in ihrem Elend liegen läßt, während er andere aufhebt:
„Warum hält er den einen und nicht den anderen? Dies kann man nicht
begreifen, und darum ist es auch sinnlos, danach zu forschen. Eines nur
genügt zu wissen: Daß es von ihm abhängt, daß man stehe; daß es aber
nicht von ihm kommt, wenn man fällt“ (Resp. ad art. 14). Und wiederum:
„Dies ist ein verborgenes Geheimnis, dem menschlichen Verstand ganz
unzugänglich, wenigstens dem meinen“ (De Gen. ad lit. 10,15).
6. Das, Theotimus, ist die heiligste Art, über diese Dinge zu denken.
Deshalb bewunderte und verehrte ich stets die gelehrte Bescheidenheit und
weise Demut des serafischen Lehrers Bonaventura in seiner Abhandlung
über die Bestimmung der Auserwählten zum ewigen Leben. Er sagt (Sent.
1,41, art. 1, qu. 2): „Vielleicht geschieht es in Voraussicht des Guten, das
der tun wird, den Gott anzieht, sofern es irgendwie vom Willen herrührt.
Was aber dieses Gute ist, dessen Voraussicht der göttlichen Liebe als Be-
weggrund dient, vermag ich nicht zu ergründen und verlange ich nicht zu
wissen. Man wird hier nur Billigkeitsgründe anführen können, – und es
sind in Wirklichkeit vielleicht andere, als die wir angeben. Wir können des-
halb nicht mit Sicherheit die wirkliche Ursache, den wirklichen Beweg-
grund des göttlichen Willens in dieser Angelegenheit sagen. Darum meint
ja auch der hl. Augustinus, daß zwar die Beweggründe des göttlichen
Willens höchst wahr sind, jedoch unser Erkennen und Begreifen so sehr
übersteigen, daß wir darüber nichts Sicheres aussagen können, außer auf
Grund einer Offenbarung Gottes selbst, der alles weiß. Da aber die Kennt-
nis dieser Geheimnisse für unser Heil nicht zuträglich wäre, im Gegenteil
ihre Unkenntnis uns nützlicher ist, um uns in der Demut und Unterwer-
fung zu erhalten, deshalb wollte Gott sie auch nicht offenbaren. Selbst
der heilige Apostel Paulus wagte nicht, darüber zu forschen, sondern
bezeugte die Unzulänglichkeit unserer Erkenntniskraft, da er ausrief:
„O Tiefe der Reichtümer der Weisheit und Wissenschaft Gottes!“ (Röm
11,33).
Mein Theotimus, könnte man heiliger von einem solch heiligen Ge-
heimnis reden, wie es dieser ganz heilige und erleuchtete Lehrer der Kirche
tat?
IV, 8 223
8. Kapitel
Mahnung zur liebenden Unter wer
Unterwer fung, die wir den
werfung,
Bestimmungen der göttlichen V orsehung schulden.
Vorsehung
1. Laßt uns diese Tiefe der Gerichte Gottes lieben und anbeten, Theo-
timus, so wie es ja auch der hl. Paulus tat, der nach dem hl. Augustinus
(Ep. 105 jetzt 194) darüber nicht nachgrübelte, sondern sie nur bewunderte
und ausrief: „O Tiefe der Gerichte Gottes!“ Wer vermag es, so sagt der hl.
Gregor von Nazianz (orat. de paup. am. § 30), den Sand am Meer oder
die Tropfen des Regens zu zählen oder die Tiefe der Abgründe zu ermes-
sen? Wer vermöchte daher die Tiefe der göttlichen Weisheit zu ergrün-
den, die alle Dinge geschaffen hat und sie nach ihrem Wissen und Willen
lenkt? Fürwahr, es genüge uns, sie nach dem Beispiel des Apostels zu bewundern,
ohne uns bei ihrer Schwierigkeit und Tiefe aufzuhalten. „O Tiefe der
Reichtümer, der Weisheit und Wissenschaft Gottes! Wie unerforsch-
lich sind seine Ratschlüsse, wie unergründlich seine Wege! Denn wer
erfaßt die Gedanken des Herrn? Wer ist sein Ratgeber?“ (Röm 11,33f).
2. Theotimus, die Beweggründe des göttlichen Willens werden wir erst
verstehen, wenn wir das Angesicht dessen sehen, „der von einem Ende
zum anderen mächtig wirkt, alles mit sanfter Liebe ordnet, seiner Werke
Zahl, Gewicht und Maß bestimmt“ (Weish 8,1; 11,21); zu dem der Psal-
mist sagt: „Herr, alles hast Du in Weisheit geschaffen“ (Ps 104,24).
Kommt es nicht oft vor, daß wir nicht einmal bei Menschen verstehen,
wie und warum sie dies und jenes tun? Der Handwerker, sagt der hl.
Gregor von Nazianz (Orat. de paup. § 31), ist nicht unwissend, weil wir
von seinem Handwerk nichts verstehen. So sind auch die Dinge die-
ser Welt nicht sinnlos und unvernünftig, wenn wir oft ihren Sinn nicht
begreifen.
3. In der Werkstätte eines Uhrmachers kann man nicht selten Uhren
finden, die zwar nicht größer sind als eine Orange, aber doch aus hundert
oder sogar zweihundert Teilen bestehen, von denen einige zum Anzeigen
der Stunden, andere zum Stundenschlag und zum Wecken dienen. Auch
sieht man kleine Räder, von denen sich die einen nach rechts, die ande-
ren nach links, die einen oben und die anderen unten drehen. Endlich
sieht man noch die „Unruh“, die sich im Takt hin und her bewegt.
Wir bewundern die Kunst, die eine so große Zahl kleiner Teile mitein-
ander verbunden und so genau aufeinander abgestimmt hat, obwohl wir
224 IV, 8
nicht wissen, wozu jedes Rad dient und warum es gerade so angefertigt
ist, wenn es uns der Meister nicht sagt. Wir wissen nur im Großen und
Ganzen, daß jedes Stück entweder für das Uhrwerk oder für das Läut-
werk da ist.
Man sagt, daß die Indianer sich tagelang mit einer Uhr abgeben, um
zu hören, wie sie zu den einzelnen Stunden schlägt. Sie kommen zwar
nicht darauf, wie das geschieht, sagen aber nicht, daß dies sinnlos oder
unvernünftig sei, sondern sind im Gegenteil voll Bewunderung und Ehr-
furcht wie vor höheren Wesen für die Menschen, die die Uhren herstellen
und in Gang bringen.
4. So erscheint auch uns die Welt und besonders unsere menschliche
Natur wie ein großes Uhrwerk, ausgestattet mit einer solchen Fülle
von Tätigkeiten und Bewegungen, daß wir uns des Staunens darüber
nicht erwehren können. Wir wissen wohl, daß die verschiedenartigen
Teile des Weltalls alle dazu dienen, entweder die hochheilige Gerechtig-
keit Gottes oder die siegreiche Macht seiner barmherzigen Liebe zu of-
fenbaren. Doch wozu im besonderen jeder einzelne Teil da ist und auf
welche Weise er dem allgemeinen Ziel dient oder warum er gerade so
und nicht anders gemacht ist, das vermögen wir nicht zu begreifen, außer
der göttliche Handwerker offenbart es uns.
Er offenbart uns aber nicht die Geheimnisse seiner Kunst, damit hier
unsere Bewunderung mit größerer Ehrfurcht verbunden sei. Im Himmel
wird er uns dann durch seine beglückende Weisheit in seliges Ent-
zücken versetzen, wenn er in der Fülle seiner Liebe uns die Gründe,
Ursachen und Mittel aller Geschehnisse dieser Welt enthüllen wird, die
dazu dienen, unser ewiges Heil zu wirken.
5. „Wir gleichen Menschen, die an Schwindel leiden“ (Gregor von
Nazianz, Orat. de paup. § 30–34). Diese meinen, daß sich alles sinnlos um
sie drehe, obwohl nur ihr Kopf nicht in Ordnung ist, die Dinge in Wirk-
lichkeit aber richtig stehen. So begegnen auch wir Ereignissen, deren Ursache
wir nicht wissen; es scheint uns deshalb, daß die Dinge dieser Welt sinn-
los regiert werden, weil wir ihren Sinn nicht sehen. Möchten wir doch
glauben, daß Gott Urheber und Vater aller Dinge ist, daß er daher durch
seine Vorsehung alles Geschehen leitet und für das ganze Kunstwerk der
Schöpfung Sorge trägt!
Ganz besonders sollten wir glauben, daß er sich um Angelegenheiten
von uns allen kümmert, die ihn kennen, mag auch unser Leben durch
noch so viel Widriges hin- und hergeworfen werden. Wir wissen nicht,
IV, 8 225
warum das so ist; vielleicht soll uns dies, da wir zu dieser Kenntnis nicht
gelangen können, ein Ansporn sein, Gottes über alles erhabenes Wissen zu
bewundern.
Etwas leicht Erkanntes wird von uns auch leicht mißachtet. Was aber
über unsere Fassungskraft geht, erregt um so mehr unsere Bewunderung,
je schwieriger es zu verstehen ist.
Die Beweggründe der göttlichen Vorsehung wären sehr armselig, wür-
den wir kleinen Geister sie einsehen; sie wären weniger anziehend in
ihrer Anmut und weniger wunderbar in ihrer Majestät, wären sie weniger
entfernt von unserer Fassungskraft.
6. Rufen wir also, Theotimus, bei jedem Geschehnis, aber rufen wir mit
einem Herzen voll Liebe gegen die unendlich weise, mächtige und gütige
Vorsehung unseres ewigen Vaters aus: „O Tiefe der Reichtümer, der Weisheit
und Erkenntnis Gottes!“
O Herr Jesus, Theotimus, wie unausschöpfbar sind die Reichtümer der
göttlichen Güte! Seine Liebe gegen uns gleicht einem bodenlosen Ab-
grund. Deshalb hat er uns ein reiches Genügen oder vielmehr einen rei-
chen Überfluß an Mitteln bereitet, um uns zu retten. Er verfügt über eine
erhabene Weisheit, um uns diese Mittel zuzuwenden, da er durch sein
unendliches Wissen alles vorher gesehen und gewußt, wessen wir dafür
bedürfen. Was können wir da noch befürchten? Oder vielmehr, was kön-
nen wir nicht alles erhoffen als Kinder eines Vaters, der so reich an
Güte ist, um uns zu lieben und selig zu machen, der die Fülle des Wis-
sens besitzt, um uns die richtigen Hilfen dafür zu bereiten, und die
Fülle der Weisheit, sie uns zuzuwenden, der so voll Liebe in seinem
Wollen, so hellsichtig in seinen Anordnungen, so klug in deren Aus-
führung ist.
Niemals dürfen wir unserem Verstand erlauben, in ehrfurchtsloser
Neugierde die Flamme göttlicher Ratschlüsse zu umflattern. Gleich klei-
nen Schmetterlingen würden wir uns nur die Flügel verbrennen und im
Feuer dieser heiligen Flamme zugrunde gehen. Unerforschlich sind ja Got-
tes Ratschlüsse, oder wie der hl. Gregor von Nazianz sagt, „unergründ-
lich“ sind sie, d. h., wir vermögen weder ihre Beweggründe zu erkennen,
noch die Wege und Mittel zu erfassen, durch die Gott sie verwirklicht
und vollendet. Auch wenn wir den schärfsten Spürsinn besitzen, werden wir
uns bei jedem Schritt verirren und die Spur verlieren. Wer vermöchte
auch das Sinnen, Denken und Wollen Gottes zu durchdringen? War etwa
jemand sein Ratgeber, daß er um seine Pläne und deren Gründe wüßte?
226 IV, 9
Oder hat ihm jemand etwas zuerst gegeben? Ist nicht vielmehr immer er
uns mit der Fülle seiner Gnaden zuvorgekommen, um uns einst mit der
Seligkeit der Glorie zu krönen? (Ps 21,3).
O Theotimus, alle Dinge sind von ihm als ihrem Schöpfer, alle Dinge
sind durch ihn als ihrem Herrscher, alle Dinge sind in ihm als ihrem
Beschützer. Ihm allein sei Ehre und Glorie von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Amen (Röm 11,33.36).
Wandeln wir, Theotimus, in Frieden auf dem Weg der hochheiligen
Liebe, denn wer sterbend im Besitz der göttlichen Liebe ist, wird sich nach dem
Tod ewig des Genusses der Liebe erfreuen.
9. Kapitel
Zuweilen bleibt ein Überrest von Liebe in der Seele,
obgleich sie die heilige Gottesliebe verlor
verlor..
1. Das Leben eines Menschen, der auf seinem Lager ganz entkräftet und im
Siechtum langsam dahinstirbt, ist kaum noch „Leben“ zu nennen. Es ist
schon so sehr vom Tod durchsetzt, daß sich schwer sagen läßt, ob man es
treffender ein lebendes Sterben oder ein sterbendes Leben nennen soll. Welch
trauriger Anblick! Aber noch viel trauriger ist der Zustand einer Seele,
die, undankbar gegen ihren Heiland, sich immer mehr von ihm abwendet
und von der heiligen Liebe Stufe um Stufe durch Lauheit und Untreue
hinabsinkt, bis sie sich endlich ganz von ihr entfernt hat, um in der schau-
erlichen Finsternis der Verlorenheit zu enden.
2. Diese Liebe nun, die im Verfall begriffen, die daran ist, zugrunde
zu gehen und abzusterben, nennt man „unvollkommene Liebe“. Denn
wenn auch die ganze Liebe noch in der Seele weilt, so scheint sie doch
nicht mehr ganz da zu sein. Sie ist kaum mehr mit der Seele verbunden
und steht im Begriff, sie zu verlassen.
3. Ist aber die Liebe von der Seele durch die Sünde gewichen, so
bleibt noch ein gewisser Schein von Liebe zurück, der uns irreführen
und narren kann. Ich will dir nun sagen, was das ist.
Solang die Liebe in uns wohnt, bringt sie viele Liebesakte gegen Gott
in uns hervor. Durch deren häufige Übung wird es unserer Seele zur
Gewohnheit oder zu einem Zustand, ein liebendes Gefühl Gott gegenüber
zu haben. Dieses Gefühl ist nicht die heilige Liebe selbst, sondern nur
eine Fertigkeit, eine Neigung, die unser Herz durch die Vielzahl früherer
Liebesakte gewonnen hat.
IV, 9 227
Wer lange Zeit hindurch gewohnt war, gerne zu predigen und gerne die
heilige Messe zu feiern, predigt manchmal auch im Schlaf und spricht
dieselben Worte aus wie bei der heiligen Messe. So bewirkt eben die
Gewohnheit, freiwillig und aus Tugend etwas zu tun, daß man diese Hand-
lungen dann weiter tut, wenn auch nicht freiwillig und nicht aus Tugend.
Das, was man im Schlaf tut, hat ja nur den Schein von Tugend, es sind nur
Bilder, Vorstellungen davon.
Gleicherweise prägt auch die Liebe durch die vielen Liebesakte, die
sie setzt, dem Gemüt eine gewisse Leichtigkeit zu lieben ein, die selbst
dann zurückbleibt, wenn die Liebe aus der Seele gewichen ist.
4. Als junger Student kam ich mit anderen Kameraden auf einem Spa-
ziergang in ein Dorf unweit von Paris, wo ein Brunnen war, der ein mehr-
faches Echo gab. Vielleicht hätte ein Unwissender sich täuschen lassen
und gemeint, im Brunnen wäre ein Mensch, der die Worte, die wir hinein-
riefen, zurückrief. Wir wußten aber als Studenten, daß nicht ein Mensch
unsere Worte wiederholte, sondern daß unsere Stimme, in Höhlen aufge-
fangen, zurückschlug und eine zweite Stimme hören ließ, diese auf gleiche
Weise eine dritte und vierte und so weiter bis zu elf Stimmen, die nichts
mehr mit unseren Stimmen zu tun hatten, sondern nur Nachklänge der-
selben waren. Diese Nachklänge waren auch verschieden von unseren Stim-
men. Sagten wir eine größere Anzahl von Worten in den Brunnen hin-
ein, so tönten nur einige davon zurück und zwar mit verkürzten Silben und
verzerrten Akzenten. Auch fing der Nachklang der Worte erst an, nach-
dem wir sie beendet hatten. So waren es eigentlich nicht Worte eines
lebenden Menschen, sondern eines ausgehöhlten und leeren Felsens, der
aber die menschliche Stimme so gut zurückgab, daß ein Unwissender sich
leicht dabei getäuscht hätte.
5. Mit all dem will ich folgendes klar machen: Wenn die heilige Liebe
von einer bildsamen Seele aufgenommen wird und in ihr längere Zeit
verweilt, bringt sie in ihr gleichsam eine zweite Liebe hervor, die nicht
die eigentliche göttliche Liebe ist, wohl aber ein Nachklang von ihr.
Diese Liebe ist nur menschlich, hat aber eine so große Ähnlichkeit mit
der göttlichen Liebe, daß es nach deren Erlöschen noch immer den An-
schein hat, als wäre sie vorhanden, da sie ihr eigenes Bild, das sie dar-
stellt, zurückgelassen hat. So täuscht sich leicht jemand, der dies nicht
weiß, wie es den Vögeln bei den von Zeuxis gemalten Trauben erging, die
so naturgetreu abgebildet waren, daß sie daran pickten, weil sie sie für
echte Trauben hielten (Plin. H.n. 35,10).
228 IV, 10
6. Trotzdem ist die göttliche Liebe sehr verschieden von der mensch-
lichen Liebe, die sie hervorbringt. Die göttliche Liebe mahnt uns an
alle Gebote Gottes, fordert sie von uns und bewirkt in unserem Herzen, daß
wir sie alle erfüllen. Die rein natürliche Liebe, als ihr Nachklang, spricht
zwar manchmal auch von den göttlichen Geboten und fordert zuweilen
auch dazu auf, alle zu befolgen, doch bewirkt sie nie das Vollbringen aller,
sondern nur einiger. Ferner spricht die göttliche Liebe alle Silben aus und
sammelt sie alle, d. h., sie verlangt die Erfüllung der Gebote mit allen ihren
Umständen. Die natürliche Liebe aber läßt immer den einen oder ande-
ren fallen und ganz besonders die lautere und reine Absicht. Der Klang der
Stimme der heiligen Liebe ist gleichmäßig, sanft und anmutig, während
die Stimme der rein natürlichen Liebe entweder zu hoch in irdischen Din-
gen ist oder zu tief in himmlischen Dingen. Außerdem beginnt sie nie
ihr Werk, bevor die heilige Liebe aufgehört hat zu wirken.
7. Solang die heilige Liebe in einer Seele wohnt, bedient sie sich der
natürlichen Liebe als ihres Geschöpfes, um ihr Wirken zu erleichtern.
Alle Werke, die die natürliche Liebe vollbringt, solang sie mit der
heiligen Liebe zusammen in einer Seele wohnt, sind also eigentlich Wer-
ke der göttlichen Liebe, die ja ihre Gebieterin ist. Ist aber die göttliche
Liebe einmal aus einer Seele gewichen, dann sind die Handlungen der
natürlichen Liebe ihr allein zu eigen und besitzen nicht mehr Geltung und
Wert der göttlichen Liebe. Der Stab des Propheten Elischa wirkte in
dessen Abwesenheit in der Hand seines Dieners Gehasi keine Wunder,
obwohl er ihn von Elischa erhalten; so haben auch die Werke, die in
Abwesenheit der göttlichen Liebe aus der reinen Gewohnheit der mensch-
lichen Liebe heraus geschehen, kein Verdienst und keinen Wert für das
ewige Leben, obwohl die menschliche Liebe sie von der göttlichen
Liebe gelernt hat und deren Magd ist. Dies ist deshalb so, weil die rein
natürliche Liebe in Abwesenheit der göttlichen Liebe nicht mehr die über-
natürliche Kraft besitzt, die Seele zur erhabenen Tätigkeit zu führen, daß
sie Gott über alles liebe.
10. Kapitel
Wie gefährlich die unvollkommene Liebe ist.
1. Mein Theotimus, sieh dir den unglückseligen Judas an (Mt 27,3 f), wie er
den Juden das Geld zurückbringt, nachdem er seinen Herrn verraten hatte, wie
er nun sieht, daß er gesündigt hat, und mit welcher Ehrfurcht er nun vom
IV, 10 229
Blut dieses unbefleckten Lammes spricht. Das waren Wirkungen der unvoll-
kommenen Liebe, die die verlorene heilige Liebe in seinem Herzen zu-
rückgelassen. Man gleitet zur Gottlosigkeit stufenweise hinab; fast niemand
fällt plötzlich in die äußerste Tiefe der Bosheit.
Die Parfümhändler riechen noch lange nach Parfüm, auch wenn sie
nicht mehr in ihrem Geschäft sind. Ebenso behalten auch jene noch lange
Zeit hindurch den Duft der Liebe, die vorher in den Kammern himmli-
scher Wohlgerüche, das heißt, in der Liebe waren. – Wenn der Hirsch im
Wald übernachtet, ist sein Ruheplatz noch am Morgen voll von seinem
Geruch. Am Abend ist er schon schwerer zu erwittern, und je älter
seine Spur ist, desto mehr verlieren die Jagdhunde seine Witterung.
Ähnlich verhält es sich mit einer Seele, von der die heilige Liebe
gewichen ist. Sie läßt noch einige Zeit hindurch den Wohlgeruch dieser
Liebe und ihre Spuren zurück. Das alles verflüchtigt sich aber nach und
nach und am Schluß ist kein Zeichen mehr da, daß hier einmal die heilige
Liebe gewohnt hat.
2. Wir haben junge Leute von tiefer Gottesliebe gekannt, die später
unordentlich wurden und in diesem unglückseligen Niedergang noch
eine Zeit hindurch deutliche Anzeichen ihrer früheren Tugend gaben.
Die guten Gewohnheiten, die sie noch aus der Zeit hatten, da sie Gott
liebten, standen im scharfen Gegensatz zu ihrem sonstigen lasterhaften Le-
ben. Monate hindurch war es noch schwer zu sehen, ob sie noch im Stand
der heiligen Liebe waren oder nicht; ob sie wirklich tugendhaft oder
lasterhaft waren. Erst später zeigte es sich, daß diese Tugendakte nicht
einer gegenwärtigen Gottesliebe entstammten, sondern der vergangenen,
nicht der vollkommenen Liebe, sondern der unvollkommenen, die die
Gottesliebe als Zeichen ihrer ehemaligen Gegenwart zurückgelassen hatte.
3. Gewiß ist auch diese unvollkommene Liebe an und für sich gut;
ja, als Geschöpf der heiligen Liebe und weil zu ihrem Gefolge gehörend
kann sie nicht anders als gut sein. Tatsächlich hat sie ja der Gottesliebe
treu gedient, solang diese in der Seele weilte. Sie ist auch stets bereit, ihr
wieder zu dienen, falls sie in die Seele zurückkehren sollte. Vermag
sie auch nicht Taten vollkommener Liebe zu vollbringen, so darf man sie
deshalb nicht verachten, denn das ist eben ihr Wesen. – Die Sterne, vergli-
chen mit der Sonne, haben nur matten Glanz, an und für sich betrachtet
aber sind sie von großer Schönheit; in Gegenwart der Sonne haben sie
keine Bedeutung, wohl aber in ihrer Abwesenheit.
230 IV, 11
11. Kapitel
Wie man die unvollkommene Liebe erkennen kann.
1. Du fragst nun: Wie kann ich erkennen, ob Rahel oder Lea, ob die
göttliche oder die unvollkommene Liebe mir diese frommen Gefühle
gibt, die mich bewegen?
Prüfe die Gegenstände deiner gegenwärtigen Wünsche, deiner gegen-
wärtigen Neigungen und Absichten. Findest du einen unter ihnen, des-
sentwegen du dem Willen und Wohlgefallen Gottes entgegenhandeln
und Todsünden begehen wolltest, dann ist zweifellos die Quelle all dei-
ner Empfindungen, all deiner Leichtigkeit und Bereitwilligkeit, Gott zu
dienen, nur die unvollkommene, rein menschliche Liebe. Wäre die heilige,
vollkommene Liebe Herrscherin in deinem Herzen, wahrhaftiger Gott,
sie würde jede Neigung, jedes Verlangen und jede Absicht brechen, deren
IV, 11 231
Gegenstand so verderblich ist. Sie könnte es nicht leiden, daß dein Herz
ihn auch nur ansehe.
2. Beachte aber, daß ich sagte, du solltest deine gegenwärtigen Nei-
gungen prüfen. Es ist nicht notwendig, sich vorzustellen, was vielleicht
einmal eintreffen könnte. Es genügt, Gott die Treue in der Gegenwart
zu halten, so wie es die Zeit verlangt; jedem Tag genügt seine Mühe
und Plage.
3. Wolltest du dein Herz zur geistlichen Tapferkeit erziehen durch die
Vorstellung verschiedener Begegnungen und Kämpfe, so magst du es tun,
vorausgesetzt, du hältst dich nach diesen Taten eingebildeter Tapferkeit
nicht wirklich für tapfer. Die Efraimiten waren bei ihren Kriegs-
spielen im Bogenschießen sehr tüchtig, als es aber ernst wurde, liefen sie
davon und hatten keinen Mut, ihre Bogen nur zu spannen und den
Spitzen feindlicher Pfeile die Stirn zu bieten (Ps 78,9).
4. Übt man sich so in der Tapferkeit im Hinblick auf künftige oder
auch nur mögliche Ereignisse, so soll man Gott danken, wenn man dabei
Gefühle des Mutes und der Treue empfindet, denn solche Gefühle sind
immer gut; man soll aber doch eine demütige Haltung zwischen Vertrau-
en und Mißtrauen einnehmen. Gewiß soll man fest hoffen, bei gegebener
Gelegenheit mit Gottes Hilfe auch das tun zu können, was man sich
vorgestellt hat; zugleich aber soll man die Furcht bewahren, daß man in
Anbetracht unserer gewöhnlichen Schwäche vielleicht den Mut verlieren
und versagen wird.
Sollte aber das Mißtrauen auf uns selbst so maßlos werden, daß wir
keinerlei Mut und Kraft mehr zu haben scheinen, künftige Versuchungen
zu überwinden, daß wir daran zweifeln, ob wir in der Liebe und Gnade
Gottes sind, dann müssen wir trotz aller Angst und Verzagtheit den Ent-
schluß fassen, in allem, was kommt, uns als treu zu erweisen, mag die
Versuchung, die uns ängstigt, noch so heftig sein. Wir müssen hoffen,
daß Gott dann seine Gnade vermehren, seine Hilfe verdoppeln und
uns jeden notwendigen Beistand geben wird, sobald die Versuchung wirklich
eintrifft. Wenn er uns jetzt nicht die Kraft für den eingebildeten Kampf
gibt, so wird er sie uns doch sicher geben, wenn wir sie wirklich brauchen.
5. Gewiß haben manche Soldaten den Mut im Kampf verloren, aber
andere verloren wieder die Furcht, wenn es darauf ankam, ja sie faßten
gerade mitten im Kampfgetümmel einen Mut und eine Entschlossenheit,
die sie außerhalb der Gefahr nie gehabt hätten. So hat auch manche Diener
Gottes bei der Vorstellung künftiger Versuchungen das Entsetzen ge-
232 IV, 11
packt, so daß sie allen Mut verloren, – war die Versuchung aber da, haben
sie sich sehr mutig gehalten.
Auch Simson war nicht immer mutig. Die Heilige Schrift spricht aus-
drücklich davon, daß der Geist Gottes erst über ihn kam, als der Löwe im
Weingarten zu Timna wütend und brüllend auf ihn losging. Da erfaßte
ihn der Geist Gottes, d. h. Gott entfachte in ihm eine neue Kraft und
einen neuen Mut und er zerriß den Löwen wie eine Ziege. In gleicher
Weise schlug er auch tausend Philister, die im Tal Lehi ihn töten wollten
(Ri 14,6; 15,14).
Es ist also durchaus nicht notwendig, mein lieber Theotimus, daß wir
immer im Besitz unseres Kraftgefühls sind und uns mutig wissen, den
Löwen zu besiegen, der herumgeht, suchend, wen er verschlinge (1 Petr
5,8) . Dies könnte uns höchstens zu Hochmut und Vermessenheit verlei-
ten. Es genügt vielmehr das aufrichtige Verlangen, mutig zu kämpfen,
und das feste Vertrauen, daß der Heilige Geist uns mit seiner Hilfe bei-
stehen wird, wenn wir sie notwendig brauchen.
233
FÜNFTES BUCH
1 . Kapitel
Das heilige Wohlgefallen der Liebe und worin es besteht.
Wohlgefallen
1. Die Liebe ist, wie wir bereits gesagt haben (I.Buch, 7.Kap.), nichts
anderes als die durch das Wohlgefallen am Guten hervorgerufene Bewe-
gung des Herzens, das Strömen des Herzens zu diesem Guten hin. Das
Wohlgefallen ist somit der starke Beweggrund der Liebe, wie die Liebe
die starke Bewegung des Wohlgefallens ist.
2. Zu Gott hin bewegen wir uns auf folgende Weise: Durch den Glau-
ben wissen wir, daß die Gottheit ein unfaßbarer Abgrund aller Vollkom-
menheit ist, über alles unendlich in ihrer Erhabenheit und unendlich
über alles erhaben in ihrer Güte. Diese Wahrheit, die uns der Glaube
lehrt, erwägen wir in aufmerksamer Betrachtung. Wir sehen dann die
unermeßliche Herrlichkeit Gottes entweder in der Gesamtheit aller Voll-
kommenheiten, oder wir betrachten diese einzeln und nacheinander, seine
Allmacht, seine Allwissenheit, seine Allgüte, seine Ewigkeit, seine Un-
endlichkeit. Wenn nun unser Verstand so recht auf die erhabene Herr-
lichkeit des göttlichen Wesens aufmerksam geworden ist, dann kann es
nicht anders sein, als daß unser Wille vom Wohlgefallen am höchsten
Gut erfaßt wird.
3. Dann aber gebrauchen wir unsere Freiheit und die Gewalt, die wir
über uns selber haben, und regen unser Herz dazu an, das erste Wohl-
gefallen durch Akte der Zustimmung und der Freude zu erneuern und
zu bestärken. „Wie schön bist Du doch, mein Geliebter,“ spricht dann
die gottliebende Seele, „wie schön bist Du doch. Du bist alles Ver-
langens wert, ja das Verlangen selber. So ist mein Geliebter, er ist der
Freund meines Herzens, ihr Töchter Jerusalems ...“ (Hld 1,15; 5,16).
Für immer sei mein Gott gepriesen ob seiner Güte. Mag ich sterben
oder leben, so bin ich doch selig, zu wissen, daß mein Gott an allem
Guten so reich, daß seine Güte so unendlich und seine Unendlichkeit so
gut ist.
4. Wenn wir so das Gute anerkennen, das wir in Gott gewahren,
und uns darüber freuen, dann erwecken wir den Akt der Liebe, den
man Liebe des Wohlgefallens nennt, denn wir finden unendlich mehr
Gefallen am göttlichen Gefallen als an unserem eigenen. In dieser
Liebe fanden die Heiligen so viel Freude, wenn sie von den Voll-
kommenheiten ihres Vielgeliebten erzählen konnten. Sie war es, die sie
mit solcher Innigkeit aussagen ließ: Gott ist Gott. „Wisset doch,“ sagten
V, 1 235
sie, „der Herr ist Gott“ (Ps 100,3). „O Gott, mein Gott, Du bist mein
Gott“ (Ps 22,1.11). „Ich sprach zum Herrn, Du bist mein Gott (Ps 16,2);
„der Gott meines Herzens und mein Gott ist mein Erbteil für immer“
(Ps 73,26).
5. Der „Gott unseres Herzens“ ist er durch dieses Wohlgefallen, durch
welches ihn unser Herz umfängt und zu eigen nimmt. „Unser Erbteil“
ist er, da wir durch diesen Akt die Güter genießen, die in Gott sind, und
wie aus einem Erbe Freude und Befriedigung aller Art gewinnen. Durch
das Wohlgefallen trinken und essen wir geistigerweise die Voll-
kommenheiten der Gottheit, denn wir machen sie uns zu eigen, ziehen
sie förmlich in unser Herz hinein.
Die Schafe Jakobs nahmen zur Zeit der Paarung die verschiedenen
Farben in sich auf, die sie in dem Brunnen sahen, aus dem sie tranken,
daher waren auch die Lämmlein, die sie zur Welt brachten, gefleckt (Gen
30,37–39). So zieht auch eine Seele, die vom liebevollen Wohlgefallen
ergriffen ist, das sie an der Betrachtung der Gottheit und ihrer unendli-
chen Herrlichkeit findet, gleichsam die Farben, d. h. die zahllosen Wunder
und Vollkommenheiten, die sie sieht, in ihr Herz und sie werden durch
die empfundene Befriedigung ihr Eigen.
6. Bei Gott, welche Freude werden wir im Himmel haben, mein Theoti-
mus, wenn wir den Geliebten unserer Herzen als ein unendliches Meer
vor uns sehen werden, dessen Wasser nichts anderes als Vollkommen-
heit und Güte sind. Dann wird unser Herz einem Hirsch gleichen, der
verfolgt und gehetzt, eine klare, frische Quelle gefunden hat und das
erquickende, kühle Naß des Wassers schlürft (Ps 42,1). Nach langem
Sehnen gelangt unser Herz zu der starken, lebendigen Quelle der Gottheit (Ps
42,2) und nimmt durch das Wohlgefallen alle Vollkommenheiten des
Geliebten in sich auf. Im vollkommenen Genuß der Freude, die es fin-
det, wird es mit seiner unvergänglichen Wonne gesättigt werden.
So wird der geliebte Bräutigam bei uns wie in sein Brautgemach ein-
ziehen, um seine ewige Freude mit unserer Seele zu teilen. Er hat es
ja selbst gesagt, daß er kommen wird, um bei uns Wohnung zu neh-
men, wenn wir das heilige Gesetz der Liebe halten (Joh 14,23).
7. Es ist dies der süße und edle Raub der Liebe: Ohne dem Geliebten
etwas von seiner Farbenpracht zu nehmen, schmückt sie sich mit sei-
nen Farben; ohne ihn zu entblößen, bekleidet sie sich mit seinem Ge-
wande; ohne ihm etwas zu entwenden, eignet sie sich alles an, was er
hat; ohne ihn arm zu machen, bereichert sie sich mit seinen Gütern. So
236 V, 2
nimmt die Luft das Licht auf, ohne die Leuchtkraft der Sonne zu verrin-
gern; so strahlt der Spiegel die Anmut eines Antlitzes wieder, ohne dem
Menschen, den er zeigt, etwas von seiner Schönheit zu nehmen.
„Sie wurden abscheulich gleich den Dingen, die sie liebten,“ sagt der
Prophet von den Bösen (Hos 9,10). Desgleichen kann man von den Gu-
ten sagen, daß sie liebenswert werden wie die Dinge, die sie lieben. –
Betrachte, ich bitte dich, das Herz der hl. Klara von Montefalco; es fand
soviel Freude an der Passion des Herrn und an der Betrachtung der hei-
ligsten Dreifaltigkeit, daß es die Male der Passion und ein wundersames
Bild der heiligsten Dreifaltigkeit in sich abprägte. Es war geworden wie
die Dinge, die es liebte. – Die Liebe des hl. Paulus zum Leben, Leiden
und Sterben unseres Herrn war so groß, daß sie dieses Leben, Leiden und
Sterben des Erlösers in das Herz dieses liebeglühenden Dieners hinein-
zog. So wurde sein Wille ganz Liebe, sein Gedächtnis ganz Gedenken, sein
Verstand ganz Beschauung.
8. Auf welchem Weg war der gütige Jesus in das Herz des hl. Paulus
eingegangen? Auf dem Weg des Wohlgefallens. Er sagt es ja selber:
„Ferne sei es von mir, daß ich mich in etwas rühme, außer im Kreuz
unseres Herrn Jesus Christus“ (Gal 6,14). Wenn wir es recht bedenken,
so besteht zwischen dem Ausdruck „sich in jemandem rühmen“ und dem
Ausdruck „sein Wohlgefallen an jemand haben“, also zwischen dem
Ruhm in einer Sache und der Freude daran nur der Unterschied, daß
derjenige, der sich einer Sache rühmt, mit der Freude, die er in etwas
findet, noch die Ehre verbindet. Die Ehre ist ja nicht ohne Freude, aber
die Freude kann ohne Ehre sein. – Diese Seele hatte also ein solches
Gefallen an der göttlichen Güte, die aus dem Leben, dem Leiden, dem
Tod des Erlösers strahlt, und fühlte sich dadurch so geehrt, daß sie kei-
ne Freude außer in dieser Ehre fand. Und deshalb sagte der Apostel:
„Ferne sei es von mir, daß ich mich rühme, außer im Kreuz meines
Erlösers,“ wie auch, daß er nicht selbst lebe, sondern Jesus Christus
in ihm (Gal 2,20).
2. Kapitel
Durch das heilige W ohlgefallen werden wir gleich
Wohlgefallen
kleinen Kindern an der Brust des Herrn.
1. O Gott, wie glücklich ist eine Seele, die ihre Freude daran findet, zu
wissen und zu erkennen, daß Gott Gott ist und daß seine Güte eine
unendliche Güte ist; denn durch dieses Tor des Wohlgefallens tritt der
V, 2 237
himmlische Bräutigam in sie ein. Er hält Gastmahl mit uns und wir
mit ihm (Offb 3,20). Wir weiden uns mit ihm an seiner Güte durch die
Freude, die wir über sie empfinden, und sättigen unser Herz an den
göttlichen Vollkommenheiten durch die Befriedigung, die wir dabei füh-
len. Und dieses Mahl ist ein Abendmahl wegen der Ruhe, die ihm folgt;
denn das Wohlgefallen läßt uns auf sanfte Weise ruhen in dem köstlichen
Gut, das uns erquickt und an dem unser Herz sich weidet.
Du weißt, Theotimus, daß sich das Herz an den Dingen „weidet“,
die ihm gefallen. Darum sagt man auch, daß sich der eine an der Ehre,
der andere an den Reichtümern weidet – und der Weise sagt: „Der
Mund des Toren weidet sich an Unwissenheit“ (Spr 15,14). Die höchste
Weisheit aber versichert uns, daß es „ihre Speise“, d. h. ihre Freude sei,
„den Willen des Vaters zu tun“ (Joh 4,34). Ebenso ist das Wort der Ärzte
wahr: „Was schmeckt, das nährt auch“, – und das der Philosophen: „Was
gefällt, erquickt.“
2. „Mein Geliebter komme in seinen Garten,“ sagt die Braut im Hohe-
lied (5,1); „und er esse die Früchte seiner Apfelbäume.“ Der göttliche
Bräutigam kommt aber dann in seinen Garten, wenn er in die gottlieb-
ende Seele einkehrt. Da es „seine Wonne ist, unter den Menschenkindern
zu sein“ (Spr 8,31), wo könnte er dann besser wohnen als in der Seele, die
er nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen hat? In diesem Garten
pflanzt er selber das liebevolle Wohlgefallen, das wir an seiner Güte
haben und an dem wir uns weiden. Ebenso findet seine Güte Gefallen
und weidet sich an unserem Wohlgefallen. Unser Wohlgefallen hinwie-
der nimmt dadurch zu, daß es Gott gefällt zu sehen, daß wir Gefallen an
Ihm haben. So entsteht aus dieser gegenseitigen Freude eine Liebe unver-
gleichlichen Wohlgefallens, durch die unsere Seele zu einem Garten des
Bräutigams wird, der dank seiner Güte kostbare Bäume enthält, die ihm reich-
liche Früchte bringen. Er freut sich ja an dem Wohlgefallen, das die Seele
an ihm hat.
3. So ziehen wir das Herz Gottes in das unsere hinein und er verbreitet
darin seinen köstlichen Duft (Hld 1,2). Da verwirklicht sich nun, was die
heilige Braut mit so großem Jubel verkündet: „Der König meines Her-
zens hat mich in seine Kammern geführt. Wir wollen frohlocken und an
dir uns freuen und deiner Brüste gedenken, die lieblicher sind als Wein.
Die Guten lieben dich“ (Hld 1,3). Ich bitte dich, Theotimus, was sind die
Kammern dieses Königs der Liebe anderes als seine Brüste, die überfließen
von köstlicher Süße? – Die Brust der Mutter ist die Schatzkammer des
238 V, 2
kleinen Kindes; es kennt keinen anderen Reichtum als diesen, der ihm
wertvoller ist als Gold und Edelstein (Ps 119,127) und liebenswerter als
alles andere in der Welt.
So dünkt sich auch die Seele, die die unendlichen Schätze der gött-
lichen Vollkommenheiten ihres Geliebten betrachtet, überaus glücklich
und reich, denn die Liebe macht ihr durch das Wohlgefallen alle kostbaren
Güter und alle Freuden ihres Bräutigams zu eigen.
4. Das Kindlein macht seine kleinen Anstrengungen, um zur Brust der
Mutter zu gelangen, und strampelt vor Behagen, sobald es dieselbe ent-
hüllt sieht; die Mutter ihrerseits reicht sie mit eifrigster Liebe dar. So
empfindet auch die gottliebende Seele eine außergewöhnliche Begei-
sterung und eine unvergleichliche Freude, wenn sie die Schätze der
Vollkommenheiten des Königs sieht, zumal wenn sie merkt, daß er sie voll
Liebe zeigt und daß unter seinen Vollkommenheiten seine unendliche
Liebe glanzvoll hervorleuchtet.
Hat die Seele dann nicht recht, auszurufen: „O mein König, wie lie-
benswert sind deine Reichtümer und wie reich ist deine Liebe!“ Wer
freut sich denn mehr daran, du, der du sie besitzt, oder ich, die ich sie
genieße? Wir frohlocken vor Freude, wenn wir deiner Brust gedenken,
die so viel köstliche Süße birgt; ich, weil mein Vielgeliebter sich ihres
Besitzes erfreut; du, weil deine Vielgeliebte sich ihrer erfreut. So genießen
wir beide, denn in deiner Güte freust du dich an meiner Freude und
meine Liebe läßt mich wiederum Freude an deiner Freude haben.
5. O wie lieben dich die Gerechten und Guten! (Hld 1,2). Wie könnte
man auch gut sein und eine solche Güte nicht lieben? – Die irdischen
Fürsten haben ihre Schätze in den Kammern ihrer Paläste und ihre
Waffen in ihren Arsenalen. Der himmlische Fürst hat seinen Schatz
und seine Waffen in seiner Brust. Und weil sein Schatz seine Güte ist
und seine Waffen aus seiner Liebe bestehen, so gleicht sein Busen dem
einer liebenden Mutter, die zwei volle Brüste besitzt, gleich zwei Vorrats-
kammern, reich an süßer Milch. Sie hat ebensoviele Waffen, den kleinen
Säugling zu bezwingen, als dieser Züge tun kann, um an der Mutter-
brust zu trinken.
Sicherlich hat die Natur die Brüste der Mutter deshalb auf ihren Busen
gesetzt, damit die Wärme des Herzens die Milchbildung fördere und das
Herz Ernährer des Kindes sei, wie die Mutter dessen Ernährerin ist. Und
die Milch sollte eine Nahrung der Liebe sein, hundertmal besser als Wein.
Der Vergleich der Milch mit dem Wein scheint der Braut im Hohelied
V, 2 239
allerdings so passend zu sein, daß sie sich nicht begnügt, es nur einmal zu
sagen, daß die Brüste ihres Bräutigams vortrefflicher sind als Wein, son-
dern es dreimal wiederholt (Hld 1,2; 4,10; 7,3).
Der Wein, Theotimus, ist die Milch der Trauben und die Milch ist
der Wein der Brüste. Deshalb sagt die heilige Braut auch, daß der
Geliebte für sie eine Traube ist, aber eine Traube aus Zypern (Hld 1,13),
d. h. von trefflichem Wohlduft. – Mose erlaubte den Israeliten, das reine
und edle Blut der Trauben zu trinken (Dtn 32,14). Und Jakob weissagte
seinem Sohn Juda (Gen 49,11), indem er ihm die Fruchtbarkeit des
Anteils schilderte, der ihm am verheißenen Land zufallen sollte, unter
diesem Bild das wahre Glück des Christen. Er sagte nämlich, der Erlöser
werde sein Gewand, d. h. die heilige Kirche, im Blut der Trauben wa-
schen, d. h. in seinem eigenen Blut.
Blut und Milch unterscheiden sich von einander wie der Saft der unrei-
fen Traube vom Wein. So wie der Saft der unreifen Traube durch die
Sonnenwärme reift, seine Farbe ändert und zu einem wohlschmeckenden
Wein und nahrhaften Trank wird, so nimmt auch das Blut, durch die
Wärme des Herzens gewandelt, eine schöne weiße Farbe an und ist für
die Kinder eine höchst bekömmliche Nahrung.
Die Milch, die aus dem Herzen kommende, liebedurchwärmte Nah-
rung, versinnbildet trefflich die mystische Wissenschaft und Theologie,
die nichts anderes ist als süßes Verkosten der Vollkommenheiten göttli-
cher Güte. Der Wein dagegen ist ein Bild der gewöhnlichen, erworbenen
Wissenschaft, die durch angestrengtes Forschen unter der Kelter vieler
Beweise und Erwägungen gewonnen wird.
So ist denn die Milch, die unsere Seelen aus der liebenden Brust unse-
res Herrn trinken, unvergleichlich besser als der Wein, der aus mensch-
lichen Erörterungen gewonnen wird.
6. Diese Milch entquillt ja der himmlischen Liebe und ist ihren Kin-
dern bereitet, noch bevor sie daran gedacht haben. Sie hat einen an-
genehmen köstlichen Geschmack, ihr Duft übertrifft allen Wohlgeruch,
sie macht den Atem frisch und mild wie den Atem eines Säuglings. Sie
bringt Freude ohne Übermut, sie berauscht, ohne zu verwirren, sie macht
die Sinne nicht benommen, sondern belebt sie.
Als der heilige Patriarch Isaak seinen geliebten Sohn Jakob umarmte und
küßte, empfand er den guten Geruch seines Gewandes und rief sogleich
voll Freude aus: „Siehe, der Duft meines Sohnes gleicht dem Duft eines
blühenden Feldes, das der Herr gesegnet hat“ (Gen 27,27). Das duftende
240 V, 3
Gewand gehörte dem Jakob, Isaak aber gewann daran Gefallen und Freu-
de. – O wie köstlich empfindet die den Erlöser mit den Armen liebevol-
ler Affekte umfangende Seele die Wohlgerüche unendlicher
Vollkommenheiten, die in ihm sind! Mit welchem Gefallen sagt sie zu sich
selbst: „Siehe, der Duft meines Gottes ist wie der Duft eines blühenden
Gartens! Wie kostbar sind seine Brüste, die herrliche Wohlgerüche ver-
breiten“ (Hld 1,1).
So schwankte das Gemüt des großen hl. Augustinus zwischen den
tiefen Gefühlen, die ihn bei der Beschreibung einerseits des Geheim-
nisses der Geburt seines Meisters, andererseits des Leidensgeheimnisses
bewegten, so daß er in heiliger Ergriffenheit ausrief:
3. Kapitel
Her zenshingabe an Gott und dauernde Sehnsucht nach seinem
Herzenshingabe
Besitz als W irkung heiligen W
Wirkung ohlgefallens.
Wohlgefallens.
1. Die Liebe, die wir Gott entgegenbringen, hat ihren Ursprung im
ersten Wohlgefallen, das unser Herz empfindet, sobald es beim Be-
ginn des Strebens nach Gott der göttlichen Güte gewahr wird. Ver-
mehren und verstärken wir nun dieses erste Wohlgefallen durch Be-
tätigung der Liebe, wie wir es in den vorausgehenden Kapiteln beschrie-
ben haben, so ziehen wir die göttlichen Vollkommenheiten in unser
Herz hinein und sind im seligen Besitz der göttlichen Güte durch die
Freude, die wir an ihr finden.
So verwirklichen wir das Erste jener liebenden Geborgenheit, das die
Braut des Hoheliedes in die Worte kleidet: „Mein Geliebter ist mein“
(Hld 2,16).
Dieses liebende Wohlgefallen aber, das in uns ist, da wir es besitzen,
hört nicht auf, auch in Gott zu sein, da wir es doch bei ihm finden. So
schenkt es uns wiederum seine göttliche Güte. Daher erfreuen wir uns
durch die Liebe des Wohlgefallens der Güter, die in Gott sind, so als ob
V, 3 241
sie unser wären. Weil aber die göttlichen Vollkommenheiten stärker sind
als unser Geist, nehmen sie ihn in Besitz, sobald sie bei ihm einziehen.
Daher sagen wir nicht nur, daß Gott durch dieses heilige Wohlgefallen
unser ist, sondern auch, daß wir „sein“ sind (Hld 2,16).
Die Pflanze Aproxis hat (wie wir an anderer Stelle gesagt haben –
Anl. z. frommen Leben 3,18) eine so starke Eignung für Feuer, daß sie
selbst von der Ferne die Flamme an sich zieht, sobald sie ihrer ge-
wahr wird, und dann zu brennen anfängt. Nicht die Hitze des Feuers,
sondern der Feuerschein bringt sie zum Brennen (Plin. Hist. nat. 24,17).
Wenn sie so durch die Anziehungskraft des Feuers mit ihm vereint
wird, würde sie nicht, könnte sie reden, etwa Folgendes sagen? „Mein
geliebtes Feuer ist mein, denn ich habe es an mich gezogen und ich
bin im Besitz seiner Flammen; aber ich gehöre auch ihm, denn wenn ich es
auch an mich gezogen habe, so verwandelt es mich in sich als das Stärkere
und Edlere. Es ist mein Feuer und ich bin seine Pflanze, ich ziehe es an
mich und es verbrennt mich.“
So kann auch unser Herz, wenn es sich die göttliche Güte vergegen-
wärtigt und deren Vollkommenheiten durch das Wohlgefallen an sich
gezogen hat, in Wahrheit sagen: Die Güte Gottes ist ganz mein, da ich
mich ihrer Herrlichkeit erfreue; und ich gehöre ganz ihr, da ihre Freuden
mich ganz in Besitz nehmen.
2. Durch das Wohlgefallen wird unsere Seele, gleich dem Vlies Gi-
deons (Ri 6,37 f), ganz mit himmlischem Tau durchtränkt und dieser Tau
ist dem Vlies zu eigen, denn es ist auf dasselbe herabgekommen. Ande-
rerseits gehört aber auch das Vlies dem Tau, weil es von ihm getränkt
wurde und dessen Wert empfängt.
Wer gehört mehr der anderen, die Perle der Auster, oder die Auster
der Perle? Die Perle gehört der Auster, die sie an sich gezogen hat,
aber die Auster gehört auch der Perle, da diese sie kostbar macht. So
werden auch wir durch das Wohlgefallen zu Besitzern Gottes, da wir
seine Vollkommenheiten in uns hineinziehen, aber auch zu Gottes Besitz,
da es uns an seine Vollkommenheiten heftet und anschmiegt.
3. Durch dieses Wohlgefallen an Gott sättigen wir unsere Seelen so
sehr mit Freude, daß wir von dem Wunsch nicht ablassen, sie noch mehr zu
sättigen. Da wir die göttliche Güte verkosten, wünschen wir, sie noch
mehr zu verkosten. Da wir uns daran sättigen, wünschen wir, immer
weiter uns davon zu nähren, wie wir auch beim Verkosten fühlen, daß wir
uns damit sättigen.
242 V, 3
Der Apostelfürst schreibt in seinem ersten Brief (1 Petr 1,10.12), daß die
alten Propheten die Gnadenfülle vorhergesagt haben, die den Christen
geschenkt werden sollte, unter anderem auch das Leiden des Herrn und die
Herrlichkeit, die ihm folgen würde durch die Auferstehung seines Leibes
wie durch die Erhöhung seines Namens; und er schließt mit den Worten,
daß selbst „die Engel danach verlangen, ihn zu sehen“, die Geheimnisse
der Erlösung im göttlichen Heiland zu schauen. Wie ist das aber zu verste-
hen, daß die Engel, die den Erlöser sehen und in ihm auch alle Mysterien
unseres Heils, dennoch danach verlangen, ihn zu schauen? Gewiß,
Theotimus, sie sehen ihn immer, doch ist dieser Anblick für sie so wohl-
tuend und erfreuend, daß das Wohlgefallen, das sie daran haben, sie
sättigt, ohne ihnen das Verlangen zu nehmen, und es läßt sie verlangen,
ohne ihnen die Sättigung zu nehmen. Der Genuß vermindert nicht das
Verlangen, sondern stärkt es, so wie ihr Verlangen durch den Genuß nicht
erstickt, sondern verfeinert wird.
4. Der Genuß eines Gutes, das immer befriedigt, welkt nie dahin, sondern
erneuert sich und erblüht ohne Unterlaß; immer ist dieser Genuß lie-
benswert, immer ist er ersehnenswert. Die immerwährende Befriedigung
derer, die im Himmel lieben, ruft eine immerwährende zufriedene Sehn-
sucht hervor, so wie ihre immerwährende Sehnsucht in ihnen eine im-
merwährend ersehnte Befriedigung weckt.
Ein Gut, das begrenzt ist, hebt die Sehnsucht nach ihm auf, sobald es
den Genuß bringt, und es nimmt den Genuß, wenn es Sehnsucht erweckt,
denn es kann nicht gleichzeitig besessen und ersehnt werden. Das un-
endliche Gut aber läßt die Sehnsucht im Besitz herrschen und den
Besitz in der Sehnsucht, denn es ist imstande, die Sehnsucht durch seine
heilige Gegenwart zu sättigen und sie dabei immer lebendig zu erhalten
durch seine alles überragende Größe. Diese nährt in all denen, die es besit-
zen, eine immer befriedigte Sehnsucht und eine immer sehnsüchtige
Befriedigung.
5. Stelle dir diejenigen vor, Theotimus, die das skythische Kraut im
Mund haben; denn von ihnen heißt es, daß sie weder Hunger noch Durst
empfinden, so sehr sättigt es sie. Und dennoch verlieren sie nie den Appetit,
weil es sie auf eine so köstliche Weise ernährt (Plin. Hist. nat 25,8).
Wenn unser Wille Gott gefunden hat, so ruht er in ihm, da er das höchs-
te Wohlgefallen an ihm findet; trotzdem hört er nicht auf, Regungen
der Sehnsucht hervorzubringen; denn wie er sich danach sehnt zu lieben,
V, 3 243
so liebt er es auch zu sehnen; er hat Sehnsucht nach Liebe und Liebe zur
Sehnsucht.
Die Ruhe des Herzens besteht nicht darin, unbeweglich, sondern
bedürfnislos zu sein. Sie liegt nicht darin, bewegungslos, sondern
nicht bewegungsbedürftig zu sein. Die Geister der Verlorenen sind in
steter Bewegung ohne eine Spur von Ruhe. Wir Sterblichen, die wir uns
noch auf Pilgerschaft befinden, sind in unseren Affekten zuweilen in Ruhe,
zuweilen in Bewegung. Die seligen Geister haben immer Ruhe in ihren Bewe-
gungen und Bewegung in ihrer Ruhe. Nur Gott allein ist Ruhe ohne
Bewegung, er ist in erhabenster Weise reine und wesenhafte Wirk-
lichkeit.
Wir haben zwar, dem gewöhnlichen Zustand unseres sterblichen Le-
bens nach, keine Ruhe in unserer Bewegung; wenn wir aber versuchen,
uns nach der Weise des unsterblichen Lebens zu betätigen, d. h. Akte
heiliger Liebe zu setzen, so finden wir sowohl Ruhe in der Bewegung
unserer Affekte als auch Bewegung in der Ruhe des Wohlgefallens, das
wir an unserem Vielgeliebten haben, und empfangen dadurch einen Vor-
geschmack der zukünftigen Seligkeit, nach der wir streben.
6. Wenn es wahr ist, daß das Chamäleon von der Luft lebt (Plin. Hist.
nat. 8,33), so findet es überall seine Nahrung, wohin immer es sich in der
Luft bewegt. Wenn es sich von einem Ort zum anderen begibt, so
geschieht das nicht, um etwas zu seiner Sättigung zu suchen, sondern um
sich in seiner Nahrung zu bewegen, wie die Fische im Meer. – Wer Gott
besitzt und dabei nach ihm verlangt, verlangt nicht nach ihm, um ihn zu
suchen, sondern um seiner Sehnsucht nach diesem höchsten Gut freien
Lauf zu lassen, dessen Besitzes er sich erfreut. Das Herz erweckt nicht
diese Sehnsuchtsregungen, als wollte es nach dem Genuß streben, um ihn
zu haben – denn es hat ihn ja bereits, – sondern um sich dem Genuß,
den es bereits hat, noch mehr zu ergeben; nicht um das Gute zu erlan-
gen, sondern um sich darin zu erneuern und zu festigen; nicht um es zu
genießen, sondern um sich daran zu erfreuen.
So gehen wir und bewegen uns, um in irgend einen schönen Garten zu
gelangen. Sind wir dort angekommen, so hören wir nicht auf, zu gehen
und uns zu bewegen, jetzt wohl nicht mehr, um hinzugelangen, sondern um
dort spazieren zu gehen und die Zeit dort zuzubringen. Wir sind ausge-
gangen, um die Annehmlichkeit des Gartens genießen zu können; dort ange-
kommen, gehen wir, um uns an dem Genuß des Gartens zu erfreuen.
244 V, 4
4. Kapitel
Das liebevolle Mitleid, ein noch deutlicherer A usdr
Ausdr uck
usdruck
der Liebe des W ohlgefallens.
Wohlgefallens.
(Gen 21,16). Der Herr hingegen weinte vor dem Grab seines lieben Freundes
Lazarus (Joh 11,35), und als er auf sein geliebtes Jerusalem herabblickte (Lk
19,41). So verging auch Jakob vor Schmerz, als er den blutigen Rock
seines armen kleinen Josef sah (Gen 37,35).
5. Aus genau denselben Ursachen vergrößert sich auch das Wohlgefal-
len: Je teurer ein Freund uns ist, um so mehr Freude haben wir an seiner
Freude und um so glücklicher sind wir, wenn es ihm gut geht. Erlebt
er ein besonderes Glück, dann ist auch unsere Freude ganz groß. Erfreut er
sich eines äußerst wertvollen Besitzes, dann steigert sich auch unsere Mit-
freude zum äußersten.
Als Jakob hörte, daß sein Sohn noch lebe, o Gott, war das eine
Freude für ihn! (Gen 45,27). „Sein Geist kam wieder in ihn, er lebte
wieder auf.“ Was will das aber heißen, er lebte wieder auf? Er erstand zu
neuem Leben. Die Seele stirbt ihren eigenen Tod nur durch die Sünde,
die sie von Gott, ihrem wahren, übernatürlichen Leben trennt. Manch-
mal aber stirbt sie an dem Tod anderer. Das widerfuhr dem Patriar-
chen Jakob, von dem wir reden. Denn die Liebe, die das Gute und das
Böse des geliebten Gegenstandes in das Herz des Liebenden hineinzieht,
das eine durch Wohlgefallen, das andere durch Mitleid, zog den Tod des
geliebten Josef in das Herz des liebenden Jakob. Und durch ein Wunder,
das jeder Macht außer der Liebe unmöglich ist, war der Geist dieses
guten Vaters ganz erfüllt von dem Tod dessen, der in Wirklichkeit lebte
und herrschte, – und so spiegelte die Liebe in ihrem Irrtum etwas vor,
was noch nicht geschehen war.
Als er aber dann erfuhr, daß sein Sohn in Wahrheit am Leben sei,
verwarf die Liebe, die so lange den vermeintlichen Tod des Sohnes im
Geist dieses guten Vaters festgehalten hatte und nun sah, daß sie im Irr-
tum gewesen war, sofort den vermeintlichen Tod und ließ an dessen Stel-
le das tatsächliche Leben desselben Kindes treten. So lebte er in einem
neuen Leben auf, weil das Leben seines Sohnes durch das Wohlgefallen
daran in seinen Geist eintrat und ihn mit einer unvergleichlichen Befrie-
digung belebte. Davon fühlte er sich so beglückt, daß er im Vergleich zu
dieser Freude keine andere mehr beachtete und sagte: „Es genügt mir,
daß mein Sohn Josef lebt.“ Als er aber mit eigenen Augen (Gen 46,29–
30) im Land Goschen die Wahrheit dessen bestätigt sah, was man ihm
von der Größe seines geliebten Kindes erzählt hatte, rief er, über ihn
gebeugt und unter Tränen ihn lange umarmend, aus: „Jetzt will ich gerne
sterben, mein lieber Sohn, da ich dein Angesicht gesehen habe und weiß,
V, 5 247
daß du noch lebst.“ O Gott, Theotimus, wie groß ist die Freude dieses
Greises und wie schön drückt er sie aus! Denn was wollte er anderes mit
den Worten sagen: „Jetzt will ich gerne sterben, da ich dein Angesicht
gesehen habe,“ als die Größe seiner Freude, die imstande gewesen
wäre, selbst aus dem Tod, der das Traurigste und Schrecklichste der Welt
ist, etwas Angenehmes und Freudiges zu machen.
6. Sage mir nun, ich bitte dich, Theotimus, wer fühlt mehr das Gute,
das Josef widerfahren ist, er, der es genießt, oder Jakob, der sich darüber
freut? Wenn das Gute nur insofern gut ist, als es uns Befriedigung ver-
schafft, so hat sicherlich der Vater ebensoviel und mehr als der Sohn.
Denn der Sohn hat infolge seiner Würde als Vizekönig auch viele Sorgen
und Geschäfte, während der Vater nur das Gute, das in der Würde und
Größe seines Sohnes liegt, durch das Wohlgefallen daran genießt, ohne
Last, ohne Sorge und Mühe. „Ich will gerne sterben,“ sagt er. Wer
ersieht daraus nicht seine Befriedigung? Wenn selbst der Tod seine Freude
nicht trüben kann, wer wird sie dann je stören können? Wenn er sich mitten
in den Nöten des Todes wohlbefindet, wer wird sein Wohlbefinden dann
je auslöschen können?
„Die Liebe ist stark wie der Tod“ (Hld 8,6) und die Freuden der Liebe
überwinden die Traurigkeit des Todes, denn der Tod vermag sie nicht
zu töten, sondern er belebt sie. Es gibt ein Feuer, das wunderbarerweise
sich von einer Quelle unweit von Grenoble nährt, das wissen wir ganz
sicher und auch der große hl. Augustinus bezeugt diese Tatsache (St. G.
21,7). Auch die heilige Liebe ist so stark, daß sie ihre Flammen
und Tröstungen mitten unter den traurigen Ängsten des Todes nährt
und daß die Wasser der Trübsal ihr Feuer nicht zu löschen vermögen
(Hld 8,7).
5. Kapitel
Leid und Freude der Liebe im Leiden des Herrn.
1. Wenn ich meinen Erlöser am Ölberg sehe mit seiner bis in den
Tod betrübten Seele (Mt 26,38), rufe ich aus: Ach Herr Jesus, wer war
imstande, dieses Todesleid in die Seele des Lebens zu tragen, wenn nicht
die Liebe, die Erbarmen weckte und damit unsere ganze Erbärmlich-
keit in dein erhabenes Herz versenkt? Und wie könnte eine gottliebende
248 V, 5
Seele den Abgrund von Leid und Not in diesem göttlichen Liebenden
sehen, ohne von einem Schmerz voll heiliger Liebe erfüllt zu sein? Wenn
sie aber dabei bedenkt, daß alle diese Leiden ihres Vielgeliebten nicht
von Unvollkommenheit oder Schwäche herrühren, sondern von der Grö-
ße seiner Liebe, muß sie nicht ganz aufgehen in heilig-schmerzlicher
Liebe, so daß sie ausruft: „Ich bin schwarz“ vor Schmerz aus Mitleid,
„aber schön“ vor Liebe aus Wohlgefallen (Hld 1,4–5)? „Die Ängste mei-
nes Geliebten haben mich entfärbt.“ Denn wie könnte eine treu Liebende
solches Leiden an dem sehen, den sie mehr als das Leben liebt, ohne vom
Schmerz zermürbt, bleich und entstellt zu werden?
Die Zelte der Nomaden sind ständig allen Einflüssen der Witterung
und den Schäden des Krieges ausgesetzt und daher fast immer zerknittert
und mit Staub bedeckt. So bin auch ich ganz dem Leid ausgeliefert, das
ich durch die Teilnahme an den unvergleichlichen Leiden meines gött-
lichen Erlösers empfinde, ganz eingehüllt in Traurigkeit und von Schmerz
durchbohrt.
2. Die Leiden dessen, den ich liebe, rühren aber von seiner Liebe
her. So leide ich zwar unter ihnen durch mein Mitleiden, sie bringen
mir aber Freude durch das Wohlgefallen, das ich an dieser Liebe finde.
Denn wie könnte eine treu Liebende nicht eine ganz große Freude darin
finden, sich so sehr von ihrem himmlischen Bräutigam geliebt zu sehen?
Das ist also der Grund, weshalb die Schönheit der Liebe in der Häß-
lichkeit des Schmerzes liegt. Bin ich auch in Trauer wegen des Leidens
und des Todes meines Königs und daher ganz verbrannt und geschwärzt
vom Leid (Hld 1,4), so hindert mich das nicht, eine unbeschreibliche Won-
ne darin zu verkosten, daß ich das Übermaß seiner Liebe in den Müh-
salen seiner Schmerzen sehe. Die Zelte Salomos (Hld 1,4), über und
über gestickt und verziert mit einer wunderbaren Mannigfaltigkeit kost-
barer Arbeiten, waren nie so schön, als ich glücklich bin und daher
ruhig, heiter und froh in den verschiedenen Liebesempfindungen, die ich
während dieser Schmerzen habe.
3. Die Liebe macht die Liebenden einander gleich. Ach, ich sehe ihn,
diesen teuren Liebenden, wie er ein Feuer der Liebe ist, brennend inmit-
ten des Dorngestrüpps der Schmerzen (Ex 3,2), und auch ich bin ganz so,
ich bin entflammt von Liebe inmitten des Dickichts meiner Schmerzen,
ich bin eine „Lilie unter den Dornen“ (Hld 2,2). Ach, schaut nicht nur
auf die Schrecken meiner stechenden Schmerzen, sondern seht die Schön-
heit meiner wonnereichen Liebe. Weh, er leidet unerträgliche Peinen, die-
V, 5 249
ser göttliche Vielgeliebte. Das ist es, was mich betrübt und mich vor
Bangigkeit fast vergehen läßt. Aber er findet seine Freude darin, zu lei-
den, er liebt seine Qualen und stirbt vor Freude darüber, daß er einen
so schmerzreichen Tod für mich stirbt. Daher bin ich bei all meinem
Mitleiden mit seinem Leiden doch ganz außer mir vor Freude an seiner
Liebe. Ich trauere nicht nur mit ihm, sondern ich rühme mich auch in
ihm (Röm 8,17).
4. Diese Liebe war es, mein Theotimus, welche dem liebeglühenden
serafischen hl. Franziskus die Wundmale zuzog und der liebeerfüllten en-
gelhaften hl. Katharina von Siena die brennenden Wunden ihres Er-
lösers einprägte. Das liebevolle Wohlgefallen verschärfte die Stacheln des
schmerzlichen Mitleidens, so wie der Honig die Bitterkeit des Absinths
noch durchdringender und fühlbarer macht und wie andererseits der lieb-
liche Duft der Rosen verfeinert wird durch die Nachbarschaft der Lauch-
gewächse, die man in die Nähe der Rosenstöcke pflanzt. So verstärkt
auch das liebevolle Wohlgefallen, das wir an der Liebe des Herrn ha-
ben, unendlich das Mitleid, das wir mit seinen Schmerzen haben. Da-
gegen ist aber auch, wenn wir vom Mitleid mit seinem Schmerz zum
Wohlgefallen an seinen Liebeserweisen übergehen, die Freude daran
viel glühender und erhabener.
Dann wirken sich Liebesleid und Leidensliebe aus. Dann streiten,
gleich den zwei Brüdern Esau und Jakob, das liebevolle Mitleid und das
leidvolle Wohlgefallen darüber, wer von ihnen sich wohl mehr ereifert.
Damit versetzen sie die Seele in solche Erschütterung und unerhörte To-
desängste, daß sie in eine liebeerfüllte Leidensekstase und in eine leid-
erfüllte Liebesekstase gerät.
So empfanden die großen Seelen des hl. Franziskus und der hl. Ka-
tharina unvergleichliche Liebe in ihren Schmerzen und unvergleich-
liche Schmerzen in ihrer Liebe, als sie die heiligen Wundmale emp-
fingen. Sie verkosteten die freudvolle Liebe, der es vergönnt ist, für den
Freund etwas zu erdulden; eine Liebe, die ihr Erlöser im höchsten Grad
am Baum des Kreuzes geübt hat (Joh 15,13). Auf diese Weise wird die
überaus kostbare Vereinigung unseres Herzens mit Gott geboren, die
gleich einem mystischen Benjamin, zugleich ein „Kind der Schmerzen“
und der Freude ist (Gen 35,18).
5. Es läßt sich nicht sagen, Theotimus, wie sehr unser Erlöser sich
sehnt, durch diese Liebe schmerzlichen Wohlgefallens in unsere Seelen
einzukehren. „Öffne mir,“ sagt er (Hld 5,2), „meine Schwester, meine
250 V, 6
Freundin, meine Taube, meine ganz Reine, denn mein Haupt ist ganz von
Tau benetzt und meine Haare von den Wassertropfen der Nacht.“ Was ist
dieser Tau und was sind die Wassertropfen der Nacht, wenn nicht die Qua-
len und Peinen seiner Passion?
Die Perlen sind, wie wir schon oft gesagt haben, nichts anderes als
Tautropfen, welche die Kühle der Nacht über die Meeresoberfläche herabsprüht,
die von den Muscheln der Auster oder Perlmutter aufgefangen werden.
Sagt uns nicht auch der göttliche Liebhaber der Seele: Siehe, ich bin mit den
Schmerzen und Schweißperlen meines Leidens beladen, das in den
Finsternissen der Nacht oder in der Nacht der Finsternis vor sich ging, als
die Sonne sich am hellen Mittag verdunkelte. Öffne darum dein Herz für
mich, wie die Perlmutter ihre Schalen dem Himmel zu öffnet, und ich
werde über dich den Tau meines Leidens ausgießen, der sich in Perlen des
Trostes verwandeln wird.
6. Kapitel
Die Liebe des W ohlwollens, die sich Gott gegenüber
Wohlwollens,
in Wünschen äußer t.
äußert.
1. Die Liebe, die Gott uns entgegenbringt, beginnt immer mit dem
Wohlwollen, denn er will und wirkt in uns all das Gute, das in uns ist,
woran er dann sein Wohlgefallen findet. Aus Wohlwollen machte er
David zu einem Mann „nach seinem Herzen“ (1 Sam 13,14) und dann
fand er aus Wohlgefallen, daß er „nach seinem Herzen“ war. Aus reinem
Wohlwollen schuf er zuerst das Weltall für den Menschen und den
Menschen im Weltall und gab jedem Ding den Grad von Güte, der ihm
zukam. Dann prüfte er alles, was er gemacht hatte, und fand alles sehr
gut und ruhte aus im Wohlgefallen an seinem Werk (Gen 1).
Unsere Liebe zu Gott fängt im Gegensatz dazu mit dem Wohlgefallen
an, das wir an der höchsten Güte und der unendlichen Vollkommen-
heit finden, die wir in Gott vorhanden wissen. Von da aus kommen
wir dann zur Übung des Wohlwollens. Und so wie das Wohlgefallen,
das Gott an seinen Geschöpfen hat, nichts anderes als eine Fortsetzung
seines ihnen geschenkten Wohlwollens ist, so ist auch das Wohlwollen,
das wir Gott entgegenbringen, nichts anderes als ein Gutheißen des Wohl-
gefallens, das wir an ihm haben, und ein Verharren in demselben.
2. Diese Liebe des Wohlwollens gegen Gott wirkt sich auf folgende
Weise aus: Wir können Gott gar kein Gut wahrhaft wünschen, da
V, 6 251
Man sagt, daß der große hl. Augustinus öfter derlei Wünsche hegte und
in einem Übermaß der Liebe diese Worte sprach: „Ach Herr, ich bin
Augustinus und Du bist Gott. Aber wenn ich, was ja nicht ist und nicht
sein kann, Gott wäre und du Augustinus, dann wollte ich mit Dir tau-
schen und Augustinus werden, damit Du Gott würdest!“
Auch das ist eine Art Wohlwollen gegen Gott, wenn wir in Anbetracht
dessen, daß wir der Größe, die er in sich selbst hat, nichts hinzufügen
können, danach verlangen, ihm in uns Wachstum zu geben, d. h. daß wir
das Wohlgefallen, das wir an seiner Güte haben, immer mehr und mehr
zu steigern wünschen. Dabei wünschen wir das Wohlgefallen, aber nicht
wegen der Freude, die es uns bereitet, sondern nur weil Gott daran Freu-
de findet. Wie wir das Mitleiden nicht wünschen wegen des Schmerzes,
das er unseren Herzen einflößt, sondern weil dieser Schmerz uns mit
unserem leidenden Vielgeliebten vereinigt und uns ihm beigesellt, eben-
so lieben wir auch das Wohlgefallen nicht deshalb, weil es uns Freude be-
reitet, sondern weil diese Freude eine Freude an der Vereinigung mit der
Freude und mit dem Guten ist, die in Gott sind.
Um uns immer mehr und mehr zu vereinigen, möchten wir uns ei-
nes unendlich größeren Wohlgefallens erfreuen, nach dem Beispiel der
heiligsten Königin und Mutter der Liebe (Sir 24,24), deren heilige Seele
Gott ständig pries und erhob. Und damit man wisse, daß diese Lobeser-
hebungen aus dem Wohlgefallen hervorgingen, die sie an der göttlichen
Güte hatte, erklärte sie, daß „ihr Geist vor Freude frohlockte in Gott, ih-
rem Heiland“ (Lk 1,46.47).
7. Kapitel
Der Wunsch, Gott zu lobpreisen, trennt uns von
den minder wer
minderwer tigen FFreuden
wertigen reuden und lenkt die A ufmerk-
Aufmerk-
samkeit auf die V
samkeit ollk
Vollk ommenheiten Gottes.
ollkommenheiten
1. Die Liebe des Wohlwollens ruft also in uns den Wunsch nach immer
größerer Vermehrung unseres Wohlgefallens an der göttlichen Güte her-
vor. Die Seele beraubt sich dann sorgsam eines jeden anderen Vergnügens,
um sich noch kraftvoller zu üben, Gefallen an Gott zu finden.
Ein Ordensmann stellte an den frommen Bruder Ägidius, einen der
ersten und heiligsten Gefährten des hl. Franziskus, die Frage, was er tun
könne, um Gott wohlgefälliger zu werden. Da antwortete dieser, indem
V, 7 253
er sang: „Die Eine dem Einen, die Eine dem Einen.“ Dann erklärte er
diese Worte und sagte: „Gib immer deine ganze Seele, die eine, Gott allein,
dem Einen“ (Chronica Fratr. Min. 7,20).
2. Die Seele gießt sich in den Vergnügungen aus, ihre Mannigfaltig-
keit zersplittert sie und verhindert ihre aufmerksame Hingabe an die
Freude, die sie an Gott haben soll. Der wahrhaftig Liebende kennt fast
keine andere Freude als die an dem, was er liebt. So achtet der glorreiche
hl. Paulus alle Dinge für Kot und Kehricht im Vergleich zu seinem
Erlöser (Phil 3,8). Und die Braut des Hoheliedes gehört ganz und einzig
ihrem Geliebten: „Mein Geliebter ist ganz mein und ich bin ganz sein“
(Hld 2,16).
Begegnet die Seele, die von dieser heiligen Liebe erfaßt ist, den Ge-
schöpfen, und wären es auch die vorzüglichsten, wären es sogar die En-
gel, so hält sie sich bei ihnen nur soviel auf, als es braucht, um in
ihrem Verlangen gefördert zu werden. „Sagt mir doch,“ so spricht sie zu
ihnen, „sagt mir doch, ich beschwöre euch, habt ihr den nicht gesehen,
den meine Seele liebt?“ (Hld 3,3).
3. Als die große Liebende, Magdalena, die Engel beim Grab traf und
diese nach Art der Engel, das will heißen, auf eine sehr liebe Weise
zu ihr redeten, um sie in ihrem Kummer zu beruhigen, fand die in
Tränen Aufgelöste kein Gefallen, weder an ihren gütigen Worten, noch
an dem Glanz ihrer Gewänder, noch an der himmlischen Anmut ihrer
Bewegungen, noch an der überaus liebenswürdigen Schönheit ihres Ant-
litzes. Sie sagte nur, in Tränen aufgelöst: „Sie haben meinen Herrn
weggenommen und ich weiß nicht, wohin sie ihn gelegt haben“ (Joh 20,
11–16).
Sie wendet sich um und sieht ihren geliebten Erlöser, aber in der
Gestalt eines Gärtners. Das kann ihr Herz nicht befriedigen, denn es ist
so erfüllt von der Liebe zum Tod ihres Meisters, daß sie keine Blumen
will und keinen Gärtner. In ihrem Herzen trägt sie das Kreuz, die Nägel,
die Dornen, sie sucht den Gekreuzigten. Ach mein lieber Gärtner, spricht
sie, wenn du vielleicht meinen geliebten toten Herrn wie eine geknickte,
verwelkte Lilie zwischen deine Blumen verpflanzt hast, so sage es mir
schnell und ich will ihn holen. Aber kaum ruft er sie bei ihrem Namen,
da vergeht sie vor Freude und ruft laut aus: „O Gott, mein Meister!“
Wahrlich nichts kann sie beruhigen; an den Engeln kann sie kein
Gefallen finden, ja nicht einmal an ihrem Erlöser, wenn er ihr nicht in
der Gestalt erscheint, in der er ihr Herz an sich gerissen.
254 V, 8
Die heiligen drei Könige können weder an der Schönheit der Stadt Jeru-
salem Gefallen finden, noch an der Pracht von Herodes’ königlichem
Hof, noch an dem hellen Licht des Sternes; ihr Herz sucht die kleine
Hütte und das Kindlein von Betlehem.
„Die Mutter der schönen Liebe“ (Sir 24,24) und ihr heiligliebender
Gemahl können nicht bei den Verwandten und Freunden verweilen; sie
suchen in Schmerzen den einzigen Gegenstand ihres Wohlgefallens (Lk
2,44-48). Der Wunsch, das heilige Wohlgefallen zu vermehren, schließt
jede andere Freude aus, um sich jener desto stärker hinzugeben, zu der
das heilige Wohlwollen es antreibt.
4. Um diesen über alles Geliebten noch besser zu verherrlichen, sucht die
Seele fort und fort sein Antlitz (Ps 27,8; 105,4), d. h. sie merkt mit einer
immer sorgsameren und eifrigeren Aufmerksamkeit auf alle Einzelheiten
der Schönheit und Vollkommenheit, die in ihm sind. Ständig schreitet
sie voran in diesem lieben Suchen nach Beweggründen, die sie unaufhör-
lich drängen könnten, ihr Wohlgefallen mehr und mehr in der unbegreif-
lichen Güte zu finden, die sie liebt.
So zählt David in mehreren Psalmen die Werke und Wundertaten
Gottes im einzelnen auf. Und die heilige Braut stellt im Hohelied alle
Vollkommenheiten ihres Bräutigams, eine nach der anderen, wie ein
„wohlgeordnetes Schlachtheer“ auf (Hld 5,10–16; 6,9), um ihre Seele zu
ganz heiligem Wohlgefallen zu bewegen, damit sie seine Herrlichkeit
noch lauter preise und alle anderen Seelen der Liebe ihres so sehr
geliebten Freundes unterwerfe.
8. Kapitel
Das heilige Wohlwollen führ
Wohlwollen führtt zum Lobpreis des
göttlichen Vielgeliebten.
1. Die Ehre, mein lieber Theotimus, ist nicht in dem Geehrten, son-
dern in dem, der ehrt, denn wie oft geschieht es, daß der, den wir ehren,
nichts davon weiß und nicht einmal daran gedacht hat. Wie oft loben
wir jene, die uns gar nicht kennen oder gerade schlafen. Und doch
hat es nach dem gewöhnlichen Urteil der Menschen und nach ihrer
Art, die Dinge zu sehen, den Anschein, als würde man jemand Gutes
erweisen, wenn man ihn ehrt, und als würde man ihm viel geben,
wenn man ihm Titel und Lobsprüche spendet.
V, 8 255
Wir sehen gar keine Schwierigkeit darin, zu sagen, daß jemand reich an
Ehre, an Ruhm, an Ansehen, an Lobsprüchen ist, obwohl wir in Wahrheit
sehr gut wissen, daß alles das außerhalb der geehrten Persönlichkeit liegt
und daß sie sehr oft keinerlei Vorteil dadurch empfängt, gemäß dem Wort,
das dem hl. Augustinus zugeschrieben wird: „O armer Aristoteles, du wirst
gelobt dort, wo du nicht bist, und dort, wo du bist, wirst du verbrannt“
(Enarrat. in Ps 140, § 19). Sage doch, ich bitte dich, was haben Cäsar
und Alexander der Große von all den leeren Worten, die manche leere
Köpfe zu ihrem Lob gebrauchen?
2. Gott, überreich an einer Güte, die alles Lob und alle Ehre übertrifft,
erhält weder einen Vorteil noch einen Zuwachs an Gutem durch alle
Lobpreisungen, die wir ihm spenden. Er wird dadurch weder reicher
noch größer, weder zufriedener noch glücklicher, denn sein Glück, seine
Befriedigung, seine Größe und sein Reichtum sind und können nichts
anderes sein als die göttliche Unendlichkeit seiner Güte.
Da aber nach unserer gewöhnlichen Art, die Dinge zu sehen, die Ehre
als eine der größten Auswirkungen des Wohlwollens gilt, das wir an-
deren entgegenbringen, so wenden wir diese Art des Wohlwollens auch
Gott gegenüber an. Wir setzen ja dadurch keine Bedürftigkeit in jenen
voraus, die wir ehren, sondern bekennen vielmehr, daß sie überaus her-
vorragend sind. Gott nimmt daher dieses Wohlwollen nicht nur gnä-
dig an, sondern beansprucht es, da es unserer Beschaffenheit entspricht
und sehr geeignet ist, die ehrfurchtsvolle Liebe zum Ausdruck zu brin-
gen, die wir ihm schulden. Er befiehlt uns sogar, „ihm die Ehre und allen
Ruhm zu erweisen“ (1 Kor 10,31; 1 Tim 1,17; Offb 4,11).
3. Die Seele, die ein großes Wohlgefallen an der unendlichen Vollkom-
menheit Gottes gefunden hat und sieht, daß sie ihm keine Zunahme an
Güte wünschen kann, da er unendlich mehr besitzt, als sie wünschen
und denken kann, wünscht daher wenigstens, daß sein Name mehr und
mehr gepriesen, gefeiert, gelobt, geehrt und angebetet werde. Sie be-
ginnt bei ihrem eigenen Herzen und hört nicht auf, es zu dieser heili-
gen Übung anzuspornen. Wie die Biene von Blüte zu Blüte fliegt, so be-
trachtet sie nacheinander all die göttlichen Werke und Herrlichkeiten, –
und wie die Biene aus der Blüte Honig sammelt, so speichert die Seele
aus diesen Betrachtungen ein vielfaches Wohlgefallen auf, aus dem heraus
sie dem himmlischen König ehrende Lobeshymnen, Danklieder und Preis-
gesänge bereitet. Damit rühmt und verherrlicht sie, soviel sie kann, den
Namen ihres Vielgeliebten und folgt dabei dem großen Psalmensänger, der
256 V, 8
Ist das nicht, als ob er sagen wollte: Ich gleiche einer mystischen
Zikade. Meine Seele, mein Geist, meine Gedanken und alle Fähigkeiten in
meinem Innern sind wie Orgeln. O mögen sie doch alle auf immer den
Namen des Herrn preisen und sein Lob laut verkünden!
„Ich will den Herrn preisen zu jeder Zeit;
in meinem Mund sei immer sein Lob!
Rühmen soll sich im Herrn meine Seele,
mögen die Armen es hören und jubeln!
Preist den Herrn mit mir,
seinen Namen laßt uns erheben zumal!“ (Ps 34,1.2).
9. Kapitel
Das Wohlwollen treibt uns an, alle Geschöpfe zum
Wohlwollen
Gotteslob aufzurufen.
1. Das Herz, vom Verlangen beseelt und gedrängt, Gott mehr als es
vermag zu loben, müht sich verschiedentlich damit ab; schließlich tritt
es aus sich heraus und ladet alle Geschöpfe ein, ihm bei seinem Vorha-
ben zu Hilfe zu kommen.
So sehen wir es an den drei Jünglingen im Feuerofen, die in ihrem
wunderbaren Preisgesang alles, was im Himmel, auf der Erde und unter
der Erde ist, auffordern, dem ewigen Gott Dank zu sagen, indem sie
ihn über alles loben und benedeien (Dan 3,51).
Wir sehen es am Psalmisten (148), der von einer heilig-ungezähmten
Leidenschaft ergriffen, Gott zu loben, jede Ordnung außer acht
läßt, seinen Geistesblick gleichsam sprunghaft vom Himmel auf die
Erde und von der Erde zum Himmel richtet und im Kunterbunt
Engel, Fische, Berge, Gewässer, Drachen, Vögel, Schlangen, das Feu-
er, den Hagel und Nebel zum Lob Gottes aufruft. Alle Geschöpfe
faßt er in seinen Wünschen zusammen, auf daß sie alle miteinander
sich vereinigen, um in frommer Weise ihren Schöpfer zu verherrlichen.
Die einen sollen ihn selbst durch göttliche Lobgesänge feiern, die anderen
den Gegenstand für sein Lob durch ihre verschiedenen wunderbaren
Eigenschaften abgeben, welche die Größe ihres Bildners dartun.
So hat der königliche Psalmensänger eine große Anzahl von Psalmen
mit der Überschrift „Lobet Gott“ verfaßt und alle Geschöpfe zum Lob
der göttlichen Majestät aufgefordert; er hat aufgezählt, was alles an Mitteln
und Instrumenten geeignet ist, das Lob der ewigen Güte zu feiern. Aber
dann raubt es ihm schier den Atem, und wie betäubt weiß er nur mehr eines
V, 9 259
Güte alle Ehre übersteigt, den wir nie auf würdige Weise zu preisen vermö-
gen.
4. Diese göttliche Leidenschaft war es, die so viele zur Verkündigung
des Wortes Gottes antrieb, die Männer wie Franz Xaver, Barzäus, Anto-
nius, die vielen Jesuiten, Kapuziner und andere Ordensleute und Priester
so große Wagnisse in Indien, Japan und Maragnan auf sich nehmen ließ, um
den heiligen Namen Jesu unter diesen großen Völkern bekannt zu ma-
chen, damit er von ihnen anerkannt und angebetet werde. Diese heilige
Leidenschaft ist die Ursache, daß so viele geistliche Bücher geschrieben,
so viele Kirchen und Altäre erbaut und so viele fromme Häuser gegrün-
det werden. Sie ist es, die bewirkt, daß so viele Diener Gottes wachen,
arbeiten und in den Flammen eines sie verzehrenden Eifers sterben.
10. Kapitel
Das Verlangen, Gott zu loben, weckt unsere Sehn-
Verlangen,
sucht nach dem Himmel.
1. Die liebende Seele sieht, daß sie ihr Verlangen, den Vielgelieb-
ten zu loben, nicht stillen kann, solange sie in den Armseligkeiten
dieser Welt lebt. Sie weiß auch, daß die Lobgesänge, die man im Himmel
der göttlichen Güte singt, unvergleichlich lieblicher klingen. Daher spricht
sie: O Gott, wie lobenswert sind die Loblieder, welche die seligen Geister
vor dem Thron meines himmlischen Königs singen! Wie sehr verdienen
diese ihre Lobpreisungen gepriesen zu werden! Welche Seligkeit, diesen
Melodien der ganz heiligen Ewigkeit zu lauschen, in denen durch ein
wohlklingendes Sichverschmelzen verschiedenartiger Stimmen und
verschiedenklingender Töne jene wunderbaren Harmonien entstehen, in
denen die einzelnen Partien einander überholend in nicht absetzenden,
sich gegenseitig jagenden, nicht leicht verständlichen Folgen, doch alle ein-
münden in ein von überall her tönendes, zusammenklingendes, laut schal-
lendes, ewiges Halleluja!
So kraftvoll sind diese Stimmen, daß sie mit Gewittertosen und
Trompetenschall (Offb 19,6) und mit dem Donner stürmischer Meeres-
wogen verglichen werden.
Sie sind aber dabei so lind und lieblich, daß ihr Singen auch mit Har-
fenspiel verglichen wird, wenn Meisterhände ihr zarte und süße Töne
entlocken. Und alle diese Stimmen klingen zusammen im frohen
Ostergesang: Halleluja, lobet Gott, Amen, lobet Gott! (Offb 14,2; 19,1.6).
Denn wisse, Theotimus, daß eine Stimme vom Thron Gottes ausgeht,
V, 10 261
die ohne Unterlaß den Bewohnern des glorreichen Jerusalem zuruft: „Bringt
Gott Lob dar, ihr seine Diener, ihr, die ihn fürchtet, klein und groß,“
worauf die zahllose Menge von Heiligen, die Chöre der Engel und die
Chöre der Menschen ihre mächtig schallende Antwort singen: „Halleluja,
lobet Gott!“
2. Aber was ist das für eine wunderbare Stimme, die vom Thron Gottes
ausgehend den Auserwählten das Halleluja verkündet? Was anderes ist
sie als das heiligste Wohlgefallen, das, im Geist empfangen, sie die
Wonnen der göttlichen Vollkommenheiten empfinden läßt, woraus dann
das liebevolle Wohlwollen entsteht, der lebendige Quell heiliger Lobge-
sänge.
So hat also das vom Thron Gottes ausgehende Wohlgefallen die
Wirkung, daß es den Seligen die Herrlichkeiten Gottes einprägt, und das
Wohlwollen regt sie an, als Antwort darauf den Wohlgeruch des Lobes
vor dem Thron zu verbreiten. Darum singen sie die ewige Antwort:
„Halleluja“, d. h. „Lobet Gott“. Das Wohlgefallen strömt vom Thron
Gottes ins Herz und das Wohlwollen steigt aus dem Herzen zum Thron
Gottes empor.
O wie liebenswert ist dieser Tempel, der von Lobgesängen widerhallt!
Welche Wonne für jene, die an diesem heiligen Ort leben, wo so viele
himmlische Philomelen und Nachtigallen im heiligen Liebeswetteifer
die ewig lieblichen Lieder singen!
3. Das Herz, das in dieser Welt das Lob Gottes weder singen noch
hören kann, wie es möchte, wird daher von einer unvergleichlichen
Sehnsucht erfüllt, von den Banden dieses Lebens befreit zu werden, um
in jenes andere Leben einzugehen, wo der himmlische Vielgeliebte auf
so vollkommene Weise gelobt wird. Wenn sich eine solche Sehnsucht
des Herzens bemächtigt, so wird es in der Brust heilig Liebender zu-
weilen so gewaltig und drängend, daß es alle anderen Wünsche daraus
verbannt, vor allen irdischen Dingen Ekel einflößt und die Seele vor
Liebe ganz schwach und krank macht. Ja, diese heilige Leidenschaft wird
zuweilen so stark, daß man, wenn Gott es zuläßt, daran stirbt.
So war es beim hl. Franziskus, dem glorreichen serafischen Liebenden.
Lange Zeit hindurch hatte dieser starke Liebesdrang, Gott zu loben, ihm
mächtig zugesetzt; schließlich konnte er in seinen letzten Jahren, nach-
dem ihm die Gewißheit seines Heiles auf besondere Weise geoffenbart
worden war, seiner Freude nicht mehr Einhalt gebieten. Von Tag zu Tag
schwand er mehr und mehr dahin, gleich als würde sein Leben in der
262 V, 11
Glut dieser brennenden Sehnsucht, seinen Herrn zu sehen und ihn ohne
Unterlaß zu loben, wie Weihrauch sich verflüchtigen. Und diese Gluten
wurden jeden Tag gewaltiger, bis sich schließlich seine Seele in einem
heiligen Gebetsruf aus dem Leib zum Himmel erhob. Die göttliche Vorsehung
wollte, daß er mit diesen heiligen Worten des Psalms auf den Lippen
starb: „Ach, entreiße meine Seele diesem Kerker, o Herr, auf daß ich
preise Deinen Namen. Die Gerechten harren mein, bis Du mir die er-
sehnte Ruhe zuteil werden läßt“ (Ps 142,8).
Theotimus, ich bitte dich, sieh diesen großen Geist! Wie eine himm-
lische Nachtigall ist er im Käfig seines Leibes gefangen und kann in
ihm nicht nach Wunsch das Lob seiner ewigen Liebe singen. Er weiß, daß
er viel schöner jubeln und herrlicher singen könnte, wenn er ins Freie
gelangen, die Freiheit und die Gesellschaft der anderen Philomelen
genießen könnte, dort, zwischen den heiter blühenden Hügeln des seligen
Gestades. Deshalb ruft er aus: Ach, Herr meines Lebens! Durch Deine
ganz milde Güte befreie mich Armen von dem Käfig meines Leibes!
Entziehe mich diesem Kerker, damit ich, dieser Sklaverei ledig, dorthin
fliegen kann, wo meine lieben Gefährten meiner harren, dort oben im
Himmel, um mich ihren Chören einzufügen und mich mit ihrer Freude
zu umhüllen! Dort, o Herr, werde ich meine Stimme mit den ihrigen
vereinen und mit ihnen süße Harmonien und liebliche Weisen hervor-
bringen im Lobgesang und Lobpreis Deines göttlichen Erbarmens.
Wie ein Redner, der zum Schluß alles, was er gesagt hat, in einem
kurzen bündigen Wort zusammenfassen will, setzte dieser wunderbare
Heilige all seinem Wünschen und Verlangen einen Schluß, indem er die-
se letzten Worte sprach. Und er legte seine Seele so stark in sie hinein,
daß er sein Leben aushauchte, während er sie aussprach. Mein Gott,
Theotimus, was war das doch für ein schöner, begehrenswerter Tod!
Welch selig-liebevoller Tod und welch heilig-tödliche Liebe!
11 . Kapitel
Unsere Liebe des Wohlwollens im Gotteslob unseres Erlösers und
Wohlwollens
seiner Mutter
Mutter..
1. Von Stufe zu Stufe steigen wir also bei dieser heiligen Übung
empor. Wenn wir die Geschöpfe zum Lob Gottes einladen, beginnen wir
mit den Empfindungslosen, gehen weiter zu den Vernunft- und Geist-
begabten und dann von der streitenden zur triumphierenden Kirche. Hier erhe-
ben wir uns zu den Engeln und Heiligen, bis wir in höchster Höhe über
V, 11 263
allen der heiligsten Jungfrau begegnen, die auf ganz unvergleichliche Weise
die Gottheit lobt und benedeit, kraftvoll, heiliger und schöner, als alle
Geschöpfe miteinander es je vermögen.
Als ich vor zwei Jahren in Mailand war, wohin mich und noch einige
andere Priester die noch ganz frische Erinnerung an den großen Erzbi-
schof, den hl. Karl geführt hatte, hörten wir in den verschiedenen Kir-
chen mancherlei Musik. Aber in einem Frauenkloster hörten wir eine
Nonne singen, deren Stimme so wundervoll war, daß sie allein unser
Gemüt mit unvergleichlich mehr Innigkeit erfüllte, als alle übrigen mit-
einander. Waren diese auch ausgezeichnet, so schienen sie doch nur da zu
sein, um jener einzigen Stimme mehr Glanz zu verleihen und deren Voll-
kommenheit noch mehr hervortreten zu lassen. So, mein Theotimus,
hört man aus allen Chören der Menschen und allen Chören der Engel
diese wunderbar erhabene Stimme der heiligsten Jungfrau heraus, die
alle übertreffend, Gott mehr Lob bereitet, als alle übrigen Geschöpfe.
Der König des Himmels fordert sie auch ganz besonders auf, ihre Stim-
me zu erheben: „Zeige mir dein Antlitz,“ sagt er (Hld 2,14), „o meine
Vielgeliebte, laß deine Stimme in meinen Ohren ertönen, denn deine
Stimme ist ganz mild und süß und dein Antlitz ganz hold.“
2. Aber diese Lobgesänge, die die Mutter der Glorie und „der schönen
Liebe“ (Sir 15,2; 24,24) mit allen Geschöpfen zusammen Gott darbringt,
bleiben, obwohl ganz vortrefflich und bewundernswert, doch so unend-
lich weit hinter der unendlichen Größe der Güte Gottes zurück, daß sie in
gar keinem Verhältnis zu ihr stehen. Daher kommt es, daß sie das heilige Wohl-
wollen des liebenden Herzens für seinen Vielgeliebten wohl sehr befrie-
digen, aber doch nicht stillen.
Es schreitet daher noch weiter voran und bittet den Erlöser, seinen
ewigen Vater zu preisen und zu verherrlichen mit allen Lobpreisungen,
die seine Sohnesliebe ihm einzugeben vermag. Und da, mein Theotimus,
gerät der Geist an einen Ort des Schweigens. Denn hier können wir
nichts anderes mehr tun, als bewundern.
O dieser Lobgesang, den der Sohn seinem Vater singt! Wie schön ist
doch dieser Vielgeliebte unter allen Menschenkindern! Wie wohlklingend
seine Stimme, die von Lippen strömt, über die die Fülle aller Anmut
ausgegossen ist! (Ps 45,2). Alle anderen sind erfüllt von Wohlgeruch,
doch er, er ist der Wohlgeruch selbst; die anderen sind gesalbt, doch er, er
ist der ausgegossene Balsam selbst (Hld 1,2). Das Lob der anderen nimmt
der ewige Vater wie den Duft einzelner Blumen entgegen, aber wenn er
264 V, 11
die Lobpreisungen hört, die der Erlöser ihm darbringt, ruft er aus: „O,
das ist der Duft der Lobgesänge meines Sohnes, er ist wie der Duft eines
Feldes voller Blumen, das ich gesegnet habe“ (Gen 27,27).
liebten, wie sie hinter der Wand seiner Menschlichkeit steht! Sie blickt
aus den Wunden seines Leibes und aus der Öffnung seiner Seite wie aus
Fenstern hervor und wie durch ein Gitter, durch welches er uns ansieht
(Hld 2,8.9).
Ja, gewiß, Theotimus, die Liebe, auf dem Herzen des Erlösers wie
auf ihrem königlichen Thron ruhend, schaut durch die Öffnung seiner durch-
bohrten Seite auf alle Herzen der Menschenkinder. Denn da dieses Herz
König aller Herzen ist, hält es seine Augen immer auf die Herzen gerich-
tet. Doch wie jene, die durch ein Gitter schauen, wohl sehen, aber selbst
nur undeutlich gesehen werden, so sieht die göttliche Liebe dieses
Herzens, oder vielmehr dieses Herz der göttlichen Liebe, unsere Herzen
immer klar und deutlich und schaut sie mit den Augen seiner innigen
Liebe an. Wir aber sehen es nicht, sondern erkennen es nur schwach
und undeutlich. Denn, o Gott, sähen wir es, wie es ist, so würden wir
vor Liebe zu ihm sterben, da wir doch sterblich sind, so wie es selbst für
uns starb, als es sterblich war, und wie es jetzt noch sterben würde, wenn
es jetzt nicht unsterblich wäre.
4. O könnten wir dieses göttliche Herz hören, wie es mit unendlich
anmutiger Stimme das Lob Gottes singt! Welche Freude, o Theotimus,
welches Bemühen unseres Herzens, sich in den Himmel aufzuschwingen,
um es immer zu hören! Er muntert uns dazu auf, dieser treue Freund
unserer Seelen: „Auf, erhebe dich, tritt aus dir selbst heraus, erhebe
dich zum Flug mir entgegen, meine Taube, meine Schöne!“ (Hld 2,10–
14), in den himmlischen Aufenthalt, wo alles in der Freude ist und nur
Lob- und Segenssprüche atmet.
Alles steht dort in Blüte, alles verbreitet dort Süße und Wohlge-
ruch. Die Turteltauben, die schwermütigsten aller Vögel, lassen dort
ihren Gesang ertönen. „Komm, meine Einzig-Geliebte,“ komm, um mich
deutlicher zu sehen, zu den Fenstern, durch die ich dich anschaue. Komm
und betrachte mein Herz in seiner „Höhle“ der Seitenwunde, die mir
zugefügt wurde, als mein Leib wie ein zur Ruine gewordenes Haus so
mitleidslos auf dem Baum des Kreuzes zerschlagen wurde.
„Komm und zeige mir dein Antlitz!“ Ach, ich sehe es jetzt, ohne
daß du es mir zeigst. Dann aber werde ich es sehen und du wirst es mir
zeigen, denn du wirst sehen, daß ich dich sehe. „Mache, daß ich deine
Stimme höre,“ denn ich will sie mit der meinen vereinigen. So wird dein
„Antlitz schön“ und „deine Stimme wohlklingend“ sein. O welche Selig-
keit für unser Herz, wenn unsere Stimme, vereint und verschmolzen mit
266 V, 12
12. Kapitel
Das Lob über alles Lob, das Gott sich selbst darbringt.
W ie unser W ohlwollen dabei tätig ist.
Wohlwollen
in immer helleren Tönen singen, je höher sie fliegen. Sie erheben sich glei-
cherweise in ihrem Gesang wie in ihrem Flug und zwar so sehr, bis sie
fast nicht mehr singen können und langsam sowohl im Ton wie mit ih-
rem Körper zu fallen beginnen und so allmählich in ihrem Flug und
mit ihrer Stimme herabsinken. Auf gleiche Weise sehen wir auch, mein
Theotimus, wenn wir durch unser Wohlwollen zu Gott emporsteigen,
um sein Lob anzustimmen und zu hören, daß er immer über alles Lob
hinausragt.
3. So erkennen wir schließlich, daß er nur durch sich selbst so gelobt
werden kann, wie er es verdient, denn er allein kann auf würdige
Weise seiner über alles erhabenen Güte mit einem über alles erhabenen
Lob gleichkommen.
In dieser Erkenntnis rufen wir aus: „Ehre sei dem Vater und dem
Sohn und dem Heiligen Geist;“ und damit man wisse, daß es nicht die
Verherrlichung geschöpflichen Lobes ist, die wir Gott durch diesen Aus-
ruf wünschen, sondern die wesentliche und ewige Verherrlichung, die er
in sich selbst ist, durch sich selbst, von sich selbst hat und die er selbst ist,
fügen wir hinzu: „Wie im Anfang, so auch jetzt und alle Zeit und in
Ewigkeit. Amen.“
Es ist, als ob wir den Wunsch aussprechen wollten: Auf immer möge
Gott verherrlicht werden mit der Verherrlichung, die er hatte, ehe die
Schöpfung geworden ist (Joh 17,5; Kol 1,15), in seiner unendlichen Ewig-
keit und ewigen Unendlichkeit. Deswegen fügen wir diesen Vers jedem
Psalm und jedem Hymnus hinzu nach dem altehrwürdigen Brauch der
morgenländischen Kirche, um dessen Einführung in der lateinischen Kir-
che der hl. Hieronymus den Papst Damasus gebeten hatte. Man sollte
damit bekennen, daß alles Lob der Menschen und Engel zu gering ist,
um die göttliche Güte auf würdige Weise zu loben. Damit sie würdig
gelobt werde, muß sie selbst ihre Ehre, ihr Lob und ihr Preis sein.
4. O Gott, welches Wohlgefallen, welche Freude hat die liebende
Seele, ihr Verlangen gestillt zu sehen, da ihr Vielgeliebter sich selbst un-
endlich lobt, preist und verherrlicht! Aber aus diesem Wohlgefallen
erwächst ein neuer Wunsch, denn das Herz möchte gerne dieses würdige
Lob loben, das Gott sich selbst bereitet, ihm innig dafür danken und alle
Dinge zu Hilfe rufen, damit sie mit ihm die Verherrlichung Gottes
verherrlichen, seine unendliche Benedeiung benedeien und sein ewiges
Loben loben helfen.
268 V, 12
Durch dieses ständige Zurückkommen auf das Lob und durch diese
Häufung von Lob auf Lob gerät das Herz zwischen Wohlgefallen und
Wohlwollen in ein seliges Labyrinth der Liebe und versinkt ganz in einen
Abgrund von Wonne, indem es Gott dafür preist, daß er nur durch sich
selbst genügend gepriesen werden kann. Und wenn die liebende Seele
auch anfangs irgendwie sich danach sehnte, ihren Gott genugsam loben
zu können, so bekennt sie doch, wenn sie zu sich kommt, daß sie nicht
wünschen möchte, ihn genugsam loben zu können, sondern sie verharrt
vielmehr in einem ganz demütigen Wohlgefallen bei der Erkenntnis, daß
die göttliche Güte so unendlich lobenswert ist, daß sie nur durch ihre eige-
ne Unendlichkeit genügend gelobt werden kann. Darob singt das vor
Bewunderung verzückte Herz den Hymnus des heiligen Schweigens:
In Bewunderung deiner Herrlichkeit
Zion Dir ein Loblied weiht,
das ein Schweigen ist vor Deiner Größe (Ps 65,1).
So beten auch die Serafim des Jesaja Gott an, indem sie ihr Antlitz und
ihre Füße verhüllen, um zu bekennen, daß sie nicht imstande sind, ihn
gut zu erkennen und ihm gut zu dienen. Denn die Füße, mit denen man
geht, bezeichnen den Dienst. Gleichwohl fliegen sie mit ihren beiden
Flügeln durch die ständige Bewegung des Wohlgefallens und des Wohl-
wollens, und ihre Liebe findet ihre Ruhe in dieser wonnesamen Unruhe
(Jes 6,2).
5. Nie ist das Herz des Menschen so beunruhigt, als wenn man
die Bewegung hindert, durch die es sich ständig ausdehnt und zusam-
menzieht, und nie ist es so ruhig, als wenn es in seinen Bewegun-
gen frei ist. Folglich liegt seine Ruhe in seiner Bewegung. Das Gleiche
gilt von der Liebe der Serafim und aller serafischen Menschen: sie findet
ihre Ruhe in ihrer ständigen Bewegung des Wohlgefallens, durch die sie
Gott an sich zieht wie durch eine Bewegung des sich Zusammenziehens,
und des Wohlwollens, durch die es sich ausdehnt und sich ganz in Gott
hineinwirft.
Diese Liebe möchte wohl gerne die Herrlichkeiten der unendlichen
Güte Gottes sehen, aber sie faltet die Flügel dieses Wunsches über
ihrem „Antlitz“ und bekennt damit ihr Unvermögen. Sie möchte auch
gerne einen würdigen Dienst leisten, aber sie bedeckt mit diesem Wunsch
ihre „Füße“ und gibt damit zu, daß sie dazu nicht imstande ist. So
bleiben ihr nur die beiden Flügel des Wohlgefallens und des Wohlwol-
lens, mit denen sie fliegt und sich zu Gott aufschwingt.
269
SECHSTES BUCH
1 . Kapitel
Beschreibung der mystischen Theologie, die nichts
anderes ist als Gebet.
1. Wir unterscheiden zwei Hauptübungen in unserer Liebe zu Gott:
die Affektliebe und die Werkliebe, oder wie St. Bernhard sagt, die Tatliebe
(Serm. 1 in Cant § 2).
Durch die erste erwärmen wir uns für Gott und alles, was er liebt,
durch die andere dienen wir Gott und tun das, was er befiehlt. Die
erste vereinigt uns mit Gottes Güte, die andere veranlaßt uns, seinen
Willen zu tun.
Die eine erfüllt uns mit Freude an Gott, mit Wohlwollen, Begeiste-
rung, Sehnsucht, Verlangen und innerem Feuer; sie ist es, durch die wir
den heiligenden Einfluß Gottes auf unseren Geist, das Durchtränktwerden
der Seele von Gott erfahren. Die andere erfüllt uns mit dem festen Ent-
schluß, dem unbesiegbaren Mut und unbeirrbaren Gehorsam, die notwen-
dig sind, die Anordnungen des göttlichen Willens auszuführen, alles zu
erleiden, anzunehmen, gutzuheißen und zu empfangen, was auch immer
Gott will oder zuläßt.
Die eine läßt uns Gefallen an Gott finden, durch die andere gefallen
wir Gott. Durch die eine empfangen wir, durch die andere bringen wir
hervor.
Durch die eine pflanzen wir Gott in unserem Herzen wie ein Banner
der Liebe auf, um das sich alle unsere Affekte scharen. Durch die an-
dere legen wir ihn auf unseren Arm (Hld 8,6), gleich einem Schwert der
Liebe, mit dem wir alle Heldentaten der Tugendübungen ausführen.
2. Die Affektliebe besteht hauptsächlich im Gebet. Bei diesem gehen so
viele verschiedenartige innere Regungen vor sich, daß es unmöglich
ist, über alle etwas zu sagen, und zwar nicht nur wegen ihrer großen
Zahl, sondern auch wegen ihrer Natur und Eigenheit. Da diese geistig
ist, kann sie nur etwas ganz Zartes sein und ist kaum mit dem Verstand
wahrzunehmen.
Bei der Jagd versagen manchmal die klügsten und bestdressierten Hun-
de und verlieren Spur und Fährte der Hirsche, da diese voll List und
Schlauheit hin- und herwechseln, um der Meute zu entkommen. So ver-
lieren auch wir oft den Überblick über unser eigenes Herz und kennen
uns nicht aus ob der großen Vielfalt der Regungen, mit denen es sich
so rasch hierhin und dorthin wendet, daß wir seinen Irrwegen nicht folgen
können.
VI, 1 271
Theologie Gott zum Gegenstand hat, so auch die mystische, aber mit
einem dreifachen Unterschied:
Erstens handelt jene von Gott, insofern er Gott ist; während diese von
ihm spricht als von dem über alles Liebenswerten. Das heißt, jene be-
trachtet die Göttlichkeit der höchsten Güte und diese die alles übertref-
fende Güte der Gottheit.
Zweitens spricht die spekulative Theologie von Gott zu Menschen
und unter Menschen, während die mystische von Gott mit Gott und in
Gott selbst spricht.
Drittens strebt die spekulative Theologie danach, Gott zu erkennen, die my-
stische aber, ihn zu lieben, so daß jene ihre Schüler zu Gottesgelehrten
macht, während diese ihre Jünger zu Menschen macht, die Gott lieben, für
ihn glühen, ihm hingegeben sind, zu Philotheen und Theophilen.
5. Mystisch nennt man sie, da das Gespräch ganz im geheimen vor sich
geht; es wird zwischen Gott und der Seele nicht anders als von Herz zu
Herz gesprochen, durch eine für andere als die Sprechenden gar nicht
mitteilbare Mitteilung. Die Sprache der Liebenden ist von so besonderer
Eigenart, daß niemand sie versteht als diese selbst. „Ich schlafe,“ sagt die
Braut im Hohelied, „und mein Herz wacht; und da spricht mein Gelieb-
ter mit mir“ (Hld 5,2). Wer hätte je erraten können, daß die Braut sich
noch mit ihrem Bräutigam unterhielt, nachdem sie schon eingeschla-
fen war? Doch wo die Liebe herrscht, bedarf es nicht des Geräusches äuße-
rer Worte, noch des Gebrauches der Sinne, um miteinander zu reden und
einander zu hören.
6. Kurz, Gebet und mystische Theologie sind nichts anderes als ein
Gespräch, in dem sich die Seele liebevoll mit Gott über seine höchst
liebenswürdige Güte unterhält, um mit ihr eins zu werden und mit ihr
ganz verbunden zu sein.
7. Das Gebet ist ein Manna (Offb 2,17) durch die Fülle des Wohlge-
schmacks und köstlicher Süße, die es jenen mitteilt, die von ihm Ge-
brauch machen. Aber es ist ein „verborgenes“ Manna, denn es fällt vor
der Tageshelle irgend eines Wissens in die geistige Einsamkeit, dort,
wo die Seele allein mit ihrem Gott allein spricht. Von ihr könnte man
sagen: „Wer ist diese, die dort aus der Wüste heraufsteigt, umgeben
von feurigen Wolken, umhüllt vom Duft der Myrrhe, des Weihrauchs
und Würzstaubs aller Art?“ (Hld 3,6).
Es war auch das Verlangen nach Heimlichkeit, das die Braut antrieb, die
Bitte an ihren Vielgeliebten zu stellen: „Komm, mein Liebster, laß
VI, 1 273
uns hinaus in die Fluren ziehen, laß uns in Dörfern unsere Wohnstätte
aufschlagen“ (Hld 7,11).
Darum wird auch die Geliebte der Turteltaube verglichen (Hld 2,12.14;
6,8; Ps 84,3), die die schattigen, einsamen Orte liebt, wo sie einzig und
allein nur den Tauber ihren Gesang vernehmen läßt, ihm schöntut,
solange er lebt, und ihm ihr Klagelied singt, wenn er tot ist.
Deshalb bekunden auch Bräutigam und Braut im Hohelied ihre Liebe zuein-
ander in beständiger, vertraulicher Zwiesprache. Mischen sich ab und zu
Freunde und Freundinnen in das Gespräch, so geschieht es nur ganz
flüchtig und so, daß das Zwiegespräch nicht gestört wird.
Darum zog auch die selige Mutter Theresia von Jesus anfänglich mehr
Nutzen aus den Geheimnissen, in denen der Herr allein war, wie z. B. am
Ölberg, oder wo er die Samariterin erwartete; denn es kam ihr vor, als
müsse er sie eher an sich herankommen lassen, wenn er allein sei (Leben
von ihr verfaßt, 9.Kap.).
8. Liebe verlangt nach Heimlichkeit; haben die Liebenden sich auch
nichts Geheimes zu sagen, so gefallen sie sich doch darin, es im Gehei-
men zu sagen. Wenn ich nicht irre, so kommt das zum Teil daher, weil
sie nur zueinander reden wollen; sprächen sie aber laut, so hätten sie das
Gefühl, daß das, was sie sagen, nicht für sie allein ist.
Andernteils kommt es auch daher, daß sie die alltäglichen Dinge
nicht mit alltäglichen Worten, sondern auf eine so eigenartige Weise
sagen, daß dadurch die ganz besondere Liebe zum Ausdruck kommt,
mit der sie es sagen. Die Sprache der Liebe hat nichts Besonderes, wenn
man nur auf die Worte schaut, aber ihre Art zu sprechen und zu betonen
ist so eigen, daß nur die Liebenden sie verstehen. Das Wörtlein „Freund“,
allgemein gesagt, hat nicht viel zu bedeuten; abseits und heimlich ins
Ohr geflüstert, sagt es Wunderbares. Und je geheimer das Wort ausge-
sprochen wird, um so liebenswerter ist seine Bedeutung.
O Gott, wie verschieden ist doch die Sprache der großen Liebenden
des Altertums, eines Ignatius, Cyprian, Chrysostomus, Augustinus, Hi-
larius, Ephrem, Gregor, Bernhard! Wie verschieden ist doch ihre Sprache
von der solcher Theologen, die Gott weniger lieben! Wir bedienen uns
der gleichen Worte, aber bei ihnen hatten diese Worte Wärme, waren
voll des süßen Duftes der Liebe, während sie bei uns kalt und allen
Duftes bar sind.
9. Die Liebe spricht nicht nur mit der Zunge, sondern auch mit den
Augen, durch Sehnsucht und Gebärden. Ja, auch die Stille und das Schwei-
274 VI, 2
gen dienen ihr als Wort; „Mein Herz ruft zu Dir, o Herr; mein Angesicht
sucht Dich; o Herr, ich suche Dein Antlitz“ (Ps 27,8). „Meine Augen sind
ermattet, da sie sagen: Wann endlich wirst Du Trost mir bringen?“ (Ps
119,82). „Höre, o Gott, mein Gebet! Vernimm meinen Hilferuf! Ver-
schließ Dich nicht meinen Tränen!“ (Ps 39,13). „Nimmer gönne dir Ruhe,
nie schweige dein Auge!“ so sprach das trostlose Herz der Bewohner
Jerusalems zur eigenen Stadt (Klgl 2,18). Daraus ersiehst du, Theotimus,
daß das Schweigen trauriger Liebender mit Augen und Tränen spricht.
Die Hauptübung der mystischen Theologie besteht sicher darin, im
Grunde des Herzens mit Gott zu reden und Gott reden zu hören. Und
weil diese vertrauliche Unterredung durch sehr heimliche Regungen
und Eingebungen vor sich geht, nennen wir sie das Zwiegespräch des
Schweigens; das Auge spricht zum Auge, das Herz zum Herzen und
niemand versteht, was gesprochen wird, außer die heiligen Liebenden,
die miteinander reden.
2. Kapitel
Die Betrachtung, die erste Stufe des innerlichen Gebetes
oder der mystischen Theologie.
„Wie ein Schwalbenjunges schreie ich und gleich einer Taube sinne ich
nach“ (Jes 38,14).
Hast du je beobachtet, Theotimus, wie die jungen Schwalben ihre
Schnäbel weit aufsperren, wenn sie schreien, und wie im Gegensatz
dazu die Tauben unter allen Vögeln die einzigen sind, die mit geschlos-
senem Schnabel gurren? Sie lassen ihre Stimme in ihrer Kehle und Brust
gleichsam rollen, so daß der Schall nur als Widerhall nach außen dringt
– und dieses leise Gurren dient ihnen dazu, ihren Schmerz, wie ihre
Liebe zu äußern.
Um nun zu zeigen, daß er mitten in seinem Ungemach oft mündliche
Gebete verrichte, sagt Hiskija: „Ich schreie wie ein Schwalbenjunges;“
ich öffne meinen Mund, um Klagetöne vor Gott auszustoßen. Um aber
andererseits auch zu sagen, daß er das innerliche Gebet übe, fügt er hin-
zu: „Ich sinne nach wie eine Taube,“ indem ich meine Gedanken in mei-
nem Herzen durch aufmerksame Erwägung hin- und herwende, um mich
anzuspornen, die über alles erhabene Barmherzigkeit Gottes zu loben und
zu preisen, die mich den Pforten des Todes entrissen hat (Jes 38, 10) und
Mitleid hatte mit meinem Elend.
Ähnliches sagt Jesaja: „Wir lärmen oder brummen wie Bären und gurren
sinnend wie Tauben“ (Jes 59,11). Der Lärm, den die Bären machen, be-
zieht sich auf die Rufe, durch die wir im mündlichen Gebet zu Gott
emporschreien, und das Gurren der Tauben auf die heilige Betrachtung.
Damit man aber wisse, daß die Tauben nicht nur aus Traurigkeit gur-
ren, sondern auch aus Liebe und Freude, sagt der Bräutigam im Hohe-
lied, wo er den Frühling in der Natur beschreibt, um auf die Schönheiten
des geistlichen Frühlings hinzuweisen: „Die Stimme der Turteltaube
ließ sich in unserem Land vernehmen“ (Hld 2,12). Im Frühling fängt die
Turteltaube nämlich an, sich in Liebe zu ereifern, was sie durch häufiges
Gurren kundtut. Und gleich darauf heißt es: „Meine Taube, laß mich
dein Antlitz sehen, laß mich deiner Stimme lauschen, denn deine Stimme
ist lieblich, dein Antlitz hold“ (Hld 2,14). Damit will der göttliche Bräu-
tigam sagen, wie lieb ihm die fromme Seele ist, wenn sie vor ihm er-
scheint und betrachtet, um sich zu heiliger Liebe zu erwärmen, so wie
auch die Tauben einander zu ihrer naturhaften Liebe erregen.
Darum spricht auch jener, der gesagt hat: „Wie eine Taube betrachte
ich,“ seinen Gedanken an einer anderen Stelle noch klarer aus, wo er
sagt: „Ich werde vor Dir nachsinnen, o mein Gott, über all meine Jahre in
VI, 2 277
der Bitternis meiner Seele!“ (Jes 38,15), denn Betrachten oder Nachsin-
nen, um Affekte hervorzurufen, ist ein und dasselbe.
5. Darum gibt auch Mose, da er das Volk ermahnt, der Wohltaten zu
gedenken, die es von Gott erhalten hat, den Grund an: „Damit du seine
Gebote hältst und auf seinen Wegen wandelst und ihn fürchtest“ (Dtn
8,6). Und der Herr selbst gibt Josua den Auftrag: „Tag und Nacht
sollst du im Gesetzbuch betrachten, damit du alles hältst und tust, was
darin geschrieben ist“ (Jos 1,8). Was an der einen Stelle durch das Wort
„Betrachten“ ausgesprochen wird, ist an der anderen als „Nachsin-
nen“ bezeichnet. Um zu zeigen, daß der häufig wiederholte Gedanke und
die Betrachtung dazu dienen, uns zu Affekten, Entschlüssen und Taten zu
bewegen, ist an der einen und der anderen Stelle gesagt, daß man über
das Gesetz nachdenken und es betrachten muß, um es zu beobachten und
zu erfüllen.
In diesem Sinn ermahnt uns auch der Apostel: „Sinnt nach über ihn,
der von den Sündern solchen Widerspruch gegen sich duldete, dann wer-
det ihr nicht ermatten und nicht den Mut sinken lassen“ (Hebr 12,3).
Wenn er sagt „sinnt nach“, so ist es dasselbe, wie wenn er sagte „be-
trachtet“. Aber warum will er, daß wir das Leiden des Herrn betrachten?
Sicherlich nicht, um gelehrt, sondern um geduldig und mutig auf dem
Weg zum Himmel zu werden. „O wie habe ich Dein Gesetz so lieb-
gewonnen,“ sagt David, „den ganzen Tag sinne ich darüber nach“
(Ps 119,97). Er betrachtet das Gesetz, weil er es liebt, und er liebt es, weil
er es betrachtet.
6. Die Betrachtung ist nichts anderes als ein geistiges erneutes Verko-
sten, ähnlich dem Wiederkäuen, das im Alten Bund die reinen Tiere von
den unreinen unterscheidet (Lev 11,3.8; Dtn 14,3.6). Eine der frommen Hirtin-
nen, die in der Gefolgschaft der Braut des Hoheliedes ist, ladet uns dazu
ein. Sie versichert uns, daß die heilige Liebe einem kostbaren Wein gleicht,
der es verdient, nicht nur von den Hirten und Gottesgelehrten getrun-
ken, sondern auch bedachtsam verkostet und sozusagen gekaut und wieder-
gekaut zu werden. „Deine Kehle,“ sagt sie, in der die heiligen Worte
geformt werden, „ist ein sehr guter Wein, wert, von meinem Geliebten
getrunken zu werden und immer wieder über seine Lippen und Zähne zu
gleiten“ (Hld 7,9).
So ging auch Isaak, einem unschuldigen Lamm gleich, gegen Abend
hinaus in die Felder, um einsam zu sein und sich mit Gott zu unterreden,
d. h. um zu beten und zu betrachten (Gen 24,63).
278 VI, 3
Die Biene fliegt im Frühling hierhin und dorthin, nicht sinnlos, son-
dern mit Bedacht, nicht nur, um sich an der heiteren Buntheit der Land-
schaft zu erfreuen, sondern um Honig zu sammeln. Hat sie solchen ge-
funden, in sich aufgenommen und sich damit beladen, so bringt sie ihn in
den Stock, sondert das Wachs davon ab und baut aus demselben kunst-
gerecht die Waben, in welchen sie ihn für den kommenden Winter aufbe-
wahrt.
Ähnlich verfährt die fromme Seele bei der Betrachtung: sie geht von
einem Geheimnis zum anderen, aber nicht nur, um herumzufliegen,
nicht nur, um die Schönheit der göttlichen Dinge zu sehen und an ihr
Freude zu haben, sondern mit der Absicht, Beweggründe zur Liebe zu
finden oder andere heilige Affekte in sich zu erwecken. Und hat sie diese
gefunden, so macht sie sich diese zu eigen, verkostet sie, nimmt sie mit, und
nachdem sie dieselben in ihr Herz gelegt hat, sondert sie das ab, was
ihr für ihren eigenen Fortschritt am geeignetsten erscheint, um dann zum
Schluß geeignete Vorsätze für die Zeit der Versuchung zu fassen.
So fliegt, einer mystischen Biene gleich, die Braut im Hohelied bald
auf die Augen, bald auf die Lippen, bald auf die Wangen und Haare ihres
Vielgeliebten, um aus ihnen die Süße ungezählter leidenschaftlicher Liebes-
empfindungen zu schöpfen. Sie beachtet dabei genau, was sie an Köst-
lichkeiten darin findet. Brennend vor Liebe, spricht sie mit ihm, stellt
ihm Fragen, hört ihm zu, seufzt, sehnt sich nach ihm, bewundert ihn. Er
seinerseits überhäuft sie mit Freude, regt sie an, rührt und öffnet ihr Herz
und teilt demselben klare Erkenntnisse, Erleuchtungen und Wonnen ohne
Ende mit. Das geschieht aber auf eine so geheime Weise, daß man von
diesen Gesprächen der Seele mit Gott das gleiche sagen kann, was die
Heilige Schrift von der Unterredung Gottes mit Mose sagt: „Als Mose
allein auf der Bergeshöhe war, sprach er mit Gott und Gott antwortete
ihm“ (Ex 19,19.20; 33,11).
3. Kapitel
Die Beschauung – Erster Unterschied zwischen ihr und der
Betrachtung.
Die Beschauung, Theotimus, ist nichts anderes als ein liebevolles, ein-
faches, ständiges Aufmerken des Geistes auf göttliche Dinge. Das wird
uns durch einen Vergleich zwischen ihr und der Betrachtung leicht be-
greiflich.
VI, 3 279
3. Der ägyptische Josef war Krone und Ruhm seines Vaters; er steigerte
dessen Ehre und Freude in hohem Maße und verjüngte ihn gleichsam in
seinem Alter. So krönt auch die Beschauung ihre Mutter, die Liebe,
verleiht ihr Vollendung und höchsten Wert. Hat nämlich die Liebe die
beschauende Aufmerksamkeit in uns geweckt, so wird durch diese Auf-
merksamkeit eine stärkere, glühendere Liebe hervorgerufen, die schließ-
lich, wenn sie im Genuß dessen ist, was sie liebt, mit Vollkommenheiten
gekrönt wird.
Die Liebe läßt uns Gefallen finden am Anblick des Vielgeliebten und
der Anblick des Vielgeliebten wieder Gefallen finden an seiner göttlichen
Liebe. Durch diese wechselseitige Bewegung von der Liebe zum Schauen
und vom Schauen zur Liebe erhöht die Liebe noch die Schönheit dessen,
was man liebt, und das Schauen dieser Schönheit macht die Liebe noch
liebreicher und freudetrunkener. Die Liebe ist die geheimnisvolle Fähig-
keit, die Schönheit, die man liebt, noch schöner erscheinen zu lassen, und
die Schau der Schönheit vertieft wieder die Liebe, so daß sie die Schön-
heit noch liebenswerter findet. Die Liebe drängt dazu, die geliebte Schön-
heit immer noch aufmerksamer anzuschauen, und das Schauen zwingt
das Herz, sie immer noch brennender zu lieben.
4. Kapitel
Die Liebe entspringt wohl dem Wissen von Gott, dieses
bestimmt aber nicht den Grad ihrer Vollk
Vollkommenheit.
ollkommenheit.
Wer aber, frage ich dich, besitzt mehr Kraft: Die Liebe, um uns zur
Schau des Vielgeliebten, oder seine Schau, um uns zu seiner Liebe zu
drängen?
1. Kenntnis, Theotimus, ist zur Weckung der Liebe erforderlich; nie
können wir etwas lieben, was wir nicht kennen; und je mehr die auf-
merksame Kenntnis des Guten zunimmt, um so mehr steigert sich auch
die Liebe, vorausgesetzt, daß nichts da ist, was ihre Regungen hemmt.
2. Dennoch geschieht es oft, daß die heilige Liebe, nachdem sie von
der Kenntnis geweckt worden ist, nicht innerhalb der durch den Ver-
stand gesetzten Grenzen der Erkenntnis bleibt, sondern sie überschreitet
und weit darüber hinaus geht. Daher kann auch in diesem sterblichen
Leben unsere Liebe größer sein als unser Wissen von Gott.
VI, 4 281
3. Der große hl. Thomas versichert (IIa IIae, qu.82 art 3 ad 3), daß
ungebildete Frauen und schlichte Leute oft reich an Frömmigkeit und
für die göttliche Liebe empfänglicher sind als Gebildete und Gelehrte.
Der berühmte Abt von St. Andreas zu Vercelli, Lehrer des hl. An-
tonius von Padua, wiederholt mehrmals in seinem Kommentar zum hl.
Dionysius, „daß die Liebe dorthin vordringt, wohin äußerliches Wissen
nie gelangen kann“ (De Div. Nom. 3). Ferner sagt er, es habe „Bi-
schöfe gegeben, die, ohne gelehrt zu sein, tief in das Geheimnis der aller-
heiligsten Dreifaltigkeit eingedrungen“ seien. In dieser Hinsicht bewun-
dert er auch seinen Schüler, den hl. Antonius von Padua, der „ohne welt-
liches Wissen zu besitzen, ein so tiefer mystischer Theologe war, daß
man ihn gleich einem anderen Johannes dem Täufer eine leuchtende,
brennende Lampe (Joh 5,35) nennen konnte“ (Chron. Fratr. M. 5,5).
Der selige Bruder Ägydius, einer der ersten Gefährten des hl. Franzis-
kus, sagte eines Tages zum hl. Bonaventura: „O wie glücklich seid ihr
Gelehrten, ihr wißt so viele Dinge, womit ihr Gott loben könnt! Aber was
sollen wir arme Unwissende tun?“ Der hl. Bonaventura antwortete: „Die
Gnade, Gott lieben zu können, genügt.“ – „Aber, mein Vater,“ erwiderte
Bruder Ägydius, „kann denn ein Unwissender Gott ebenso lieben wie ein
Gebildeter?“ – „Er kann es,“ sagte der hl. Bonaventura, „ja ich sage dir,
daß ein armes, einfältiges Weib Gott ebensosehr lieben kann wie ein
Gottesgelehrter.“ Da rief Bruder Ägydius aus: „Armes, einfältiges Weib,
so liebe doch deinen Heiland, und du kannst so viel sein wie Bruder
Bonaventura!“ Und darüber blieb er drei Stunden lang in Verzückung
(Chron. Fratr. M. 7,14).
4. Der Wille wird zwar des Guten nur durch Vermittlung des Verstan-
des gewahr, hat er es aber einmal wahrgenommen, so bedarf er seiner
nicht mehr, um zu lieben. Vielmehr hat die Freude, die er im Einssein
mit dem Gegenstand seiner Liebe findet oder finden will, die Kraft, ihn
mächtig zu seiner Liebe und zum Verlangen nach seinem Besitz hinzuzie-
hen.
Die Erkenntnis des Guten bringt also die Liebe hervor, bestimmt aber
nicht ihr Maß. So sehen wir ja auch, wie der Zorn losbricht, wenn man
eine Beleidigung erfährt; wenn er aber nicht sofort erstickt wird, wird er
fast immer heftiger, als der Gegenstand es erfordert. Die Leidenschaften
folgen eben nicht der Erkenntnis, die sie wachgerufen hat, sondern lassen
sie sehr oft hinter sich und stürmen maßlos und schrankenlos auf ihren
Gegenstand zu.
282 VI, 4
Dies geschieht aber in noch viel stärkerem Maße bei der heiligen Lie-
be; denn der Wille gibt sich ihr nicht infolge einer natürlichen Erkennt-
nis, sondern infolge des Glaubenslichtes hin. Diese zeigt uns aber die
Unendlichkeit der Vollkommenheiten in Gott und gibt uns daher genug
Ursache, ihn aus all unseren Kräften zu lieben.
Wir wühlen in der Erde, um Gold und Silber zu finden, und arbeiten
mit viel Mühe jetzt schon um ein Gut, das wir erst später zu erlangen
hoffen. Ein ungewisses Wissen treibt uns so zu einer gegenwärtigen
und wirklichen Arbeit an. In dem Maße, als sich etwas von der Gold-
ader zeigt, suchen wir dann immer angestrengter und leidenschaftlicher.
Eine ganz geringe Witterung bringt die Meute in Bewegung. So erregt
uns eine dunkle, von vielem Gewölk umgebene Erkenntnis, wie es die
unseres Glaubens ist, mächtig zur Liebe der Güte, die sie uns wahr-
nehmen läßt. Wie wahr ist doch, was der hl. Augustinus sagt: „Die
Unwissenden reißen die Himmel an sich, während viele Gelehrte sich in
die Hölle stürzen“ (Bek. 8,8).
5. Was meinst du, Theotimus, wer liebt das Licht mehr, der Blind-
geborene, der alles weiß, was die Philosophen darüber geschrieben, und
alle Lobsprüche, die sie darüber gehalten haben, oder der Bauer, der mit
klaren Augen den wohltuenden Glanz der aufgehenden Sonne sieht und
empfindet? Der Blinde weiß wohl mehr von ihr, der Bauer hat aber mehr
Freude daran. Und diese Freude bringt eine viel lebendigere und innige-
re Liebe hervor als ein Wissen, das nur durch Gedankengänge zustande-
gekommen ist; denn die Erfahrung eines Gutes macht es uns weit lie-
benswerter, als alles Wissen das wir darüber haben können.
Durch das Wissen, das uns der Glaube von der Güte Gottes gibt, fan-
gen wir an, ihn zu lieben. Die Liebe bewirkt, daß wir uns in Gottes
Güte versenken und uns an ihr erfreuen; so schärft die Liebe unsere
Freude daran und diese Freude verklärt dann wieder die Liebe.
Unter der Wucht des Sturms drängen sich die Wogen und türmen sich
immer höher, da eine die andere vorwärts treibt; so erhöht auch die Freu-
de am Guten die Liebe und die Liebe erhöht die Freude daran. Die göttli-
che Weisheit sagt ja: „Die mich verkosten, werden noch hungern, und die
mich trinken, werden noch dürsten“ (Sir 24,29).
Wer hat Gott mehr geliebt: Occam, den einige den scharfsinnigsten der
Sterblichen nannten, oder die einfache Frau, die St. Katharina von Ge-
nua war? Jener kannte ihn tiefer aus seinem Wissen, diese aber durch
ihre Erfahrung; und diese Erfahrung führte sie so tief in die serafische
VI, 5 283
Liebe hinein, während jener bei all seinem Wissen von dieser erhabe-
nen Vollkommenheit weit entfernt blieb.
„Wir haben schon eine große Liebe zu den Wissenschaften, noch ehe
wir sie uns angeeignet haben,“ sagt der hl. Thomas, „schon allein durch
die unklare und allgemeine Idee, die wir von ihnen haben.“ Ebenso
müssen wir sagen, daß das Wissen um die göttliche Güte unseren
Willen zur Liebe neigt. Ist aber einmal der Wille in Tätigkeit gesetzt,
dann wächst seine Liebe von selbst durch die Freude, die er daran
findet, sich mit diesem höchsten Gut zu vereinigen. Ehe die kleinen
Kinder Honig und Zucker gekostet haben, hat man Mühe, sie dazu zu
bringen, sie in den Mund zu nehmen. Doch sobald sie die Süßigkeit ver-
spüren, lieben sie diese mehr, als uns lieb ist; sie möchten am liebsten
immer davon haben.
6. Dennoch muß man zugeben, daß der Wille, angelockt durch die Freu-
de, die er an dem empfindet, was er liebt, noch weit stärker dazu angetrie-
ben wird, sich mit ihm zu vereinigen, wenn ihm der Verstand seiner-
seits dessen Wert vor Augen hält. Denn dann wird er gleichzeitig hin-
gezogen und hingedrängt: hingedrängt durch die Erkenntnis und hinge-
zogen durch die Freude. Das Wissen ist ja an sich der Frömmigkeit nicht
entgegengesetzt, sondern sehr nützlich. Wenn sie miteinander verbunden
sind, können sie sich gegenseitig wunderbar unterstützen.
Leider geschieht es aber infolge unserer Armseligkeit oft, daß Wissen
das Entstehen der Frömmigkeit verhindert. Wissen bläht auf (1 Kor
8,1) und macht stolz; der Stolz aber ist jeder Tugend entgegengesetzt und
damit der vollständige Ruin aller Frömmigkeit. Sicherlich hat das
hervorragende Wissen eines Cyprian, eines Augustinus, Hilarius,
Chrysostomus Basilius, Gregorius, Bonaventura, Thomas ihre Fröm-
migkeit nicht nur sehr erleuchtet, sondern auch vertieft, wie andererseits
ihre Frömmigkeit ihr Wissen nicht nur erhöht, sondern auch außeror-
dentlich vervollkommnet hat.
5. Kapitel
Zweiter Unterschied zwischen der Betrachtung und der Beschauung.
Man kann sich die Schönheit einer reich verzierten Krone auf zweierlei
Weise ansehen: entweder sieht man nacheinander allen Zierat und die
Edelsteine an, aus denen sie zusammengesetzt ist, oder man nimmt nach
der Betrachtung der verschiedenen Einzeldinge den gesamten Glanz aller Ein-
zelheiten in einem einzigen, einfachen Blick in sich auf.
Die erste Art gleicht der Betrachtung, in der wir zum Beispiel die
Wirkungen der göttlichen Barmherzigkeit erwägen, um uns zur Liebe
Gottes zu entflammen. Die zweite Art aber ist der Beschauung ähnlich,
in welcher wir mit einem einzigen festen Geistesblick die ganze Vielfalt
dieser Wirkungen als eine aus all diesen Einzelheiten hervorgehende
Schönheit schauen, die einen einzigen herrlichen Glanz ausstrahlt.
Wenn wir betrachten, zählen wir gleichsam alle göttlichen Vollkom-
menheiten, die wir in einem Geheimnis wahrnehmen; im beschaulichen
Gebet aber ziehen wir daraus die Gesamtsumme.
Die Gefährtinnen der heiligen Braut (Hld 5,9–16) hatten sie befragt,
wer ihr Vielgeliebter sei. Sie antwortete ihnen, indem sie in wundervoller
Schilderung alle Einzelheiten seiner vollendeten Schönheit beschreibt:
„Seine Haut ist weiß und rötlich, sein Haupt ist golden, seine Haare
gleichen noch geschlossenen Blütenknospen von Palmen, seine Augen
sind Taubenaugen, seine Wangen sind Balsambeete, seine Lippen blühen-
de Lilien, von allen Wohlgerüchen durchduftet, seine Hände sind wie aus
Gold gedreht, gefüllt mit Hyazinthen; er steht wie auf Säulen von
Marmor.“ So betrachtet sie diese erhabene Schönheit im einzelnen, bis
sie endlich ihre Betrachtung als Beschauung beschließt und alle Schönheit
in den Worten zusammenfaßt: „Voll von Süßigkeit ist sein Mund. Alles
an ihm ist liebenswert. So ist mein Vielgeliebter, so ist mein Freund.“
Bei der Betrachtung verfährt man ähnlich wie jemand, der nacheinander und
einzeln den Duft der Nelke, der Rose, des Rosmarins, des Thymians, des
Jasmins und der Orangenblüte einatmet; bei der Beschauung aber gleicht
man solchen, die den Duft des Parfüms in sich aufnehmen, das aus all
diesen Blumen bereitet wird. So atmen sie in einem vereint alle Düfte
ein, die der andere getrennt und gesondert wahrgenommen hat. Zweifel-
los ist dieser eine, aus der Vermengung aller Wohlgerüche herrührende
Duft angenehmer und köstlicher als die einzelnen Düfte hintereinander
eingeatmet, aus denen er zusammengesetzt ist.
Darum liegt dem göttlichen Bräutigam so viel daran, daß seine Ge-
liebte ihn mit einem einzigen Blick betrachte und daß ihre Haare so
kunstvoll geflochten seien, als wären sie nur ein Haar (Hld 4,9). Denn
VI, 5 285
was anderes will es wohl heißen, den Bräutigam mit einem einzigen Blick
anzuschauen, als ihn in einer einfachen, aufmerksamen Schau zu be-
trachten, statt viele Blicke auf ihn zu werfen? Und was heißt, die Haare
geflochten tragen anderes, als seine Gedanken nicht in einer Vielfalt von
Erwägungen auseinanderzubreiten?
2. O wie glücklich sind jene, die nach Erwägung der vielen Beweggrün-
de, die sie haben, Gott zu lieben, alle ihre Blicke in einem Blick vereinigen
und alle ihre Gedanken in einer Schlußfolgerung zusammenfassen! Wie
glücklich sind jene, die ihren Geist in der Einheit der Beschauung verwei-
len lassen, nach dem Beispiel des hl. Augustinus (Bek. 10,27) oder des hl.
Bruno, die in dauernder Bewunderung tief im Grund ihrer Seele voll
Liebe ausriefen: „O Güte, Güte! O alte und immer neue Güte!“ Oder
nach dem Beispiel des großen hl. Franziskus, der im Gebet auf den Knien
liegend eine ganze Nacht damit verbrachte, voll Inbrunst die Worte zu
wiederholen: „O Gott, Du bist mein Gott und mein Alles!“, wie der selige
Bruder Bernhard von Quintavalle berichtet, der es selbst mit eigenen
Ohren vernommen hat (Chron. Fr. M. 1,8).
Siehe auch, Theotimus, den hl. Bernhard (Serm. 43 in Cant.). Nachdem er
das ganze Leiden Christi in allen Einzelheiten betrachtet hatte, wand er aus
dessen wichtigsten Begebenheiten einen Strauß liebend-schmerzlicher
Empfindungen, den er auf sein Herz legte und, seine Betrachtung in
Beschauung verwandelnd, ausrief: „Einem Myrrhenbüschlein gleicht
mein Geliebter“ (Hld 1,12).
3. Sieh mit noch tieferer Andacht den Schöpfer der Welt, wie er bei der
Schöpfung die Güte seiner Werke zuerst einzeln und gesondert in der
Reihenfolge, wie er sie schuf, betrachtete. „Er sah,“ sagt die Heilige Schrift,
„daß das Licht gut war,“ daß Himmel und Erde gut waren; dann, daß die
Kräuter und Pflanzen, die Sonne, der Mond und die Sterne, die Tiere und
überhaupt alle Geschöpfe, so wie er sie nacheinander schuf, alle gut wa-
ren. Als endlich das Weltall vollendet war, ging sozusagen die göttliche
Betrachtung in Beschauung über. Indem er mit einem Blick die ganze
Vollkommenheit schaute, die in seinem Werk war, „sah er alles, was er
gemacht hatte, und alles war sehr gut“ (Gen 1,31). Die einzelnen Teile,
gesondert nach Art der Betrachtung angesehen, waren gut; doch
alle zusammen, nach Art der Beschauung mit einem einzigen Blick über-
schaut, wurden als sehr gut befunden.
286 VI, 5
4. Es ist so, wie wenn mehrere Bäche sich vereinigen und einen Fluß
bilden, der größere Lasten zu tragen vermag als die Menge der gleichen
Bäche, solange sie getrennt sind.
Nachdem wir durch die vielen Erwägungen, aus denen die Betrachtung
besteht, eine große Anzahl verschiedenartiger frommer Liebesregungen
hervorgebracht haben, fassen wir zum Schluß die Kraft all dieser Liebes-
regungen zusammen: Aus dem Ineinanderströmen und der Verbindung
ihrer Kräfte entsteht ein Affekt, der gleichsam der Inbegriff des Affektes
ist, tätiger und mächtiger als all die Affekte, aus denen er hervorging, da
er, obwohl nur einer, doch die Kraft und Eigenart aller anderen in sich
schließt. Man nennt ihn „beschauliche Liebesregung“, kontemplativer
Affekt.
5. Unter den Theologen ist man der Ansicht, daß die Engel, die zu
einem höheren Grad der Glorie erhoben sind, eine viel einfachere Er-
kenntnis Gottes und der Geschöpfe besitzen, als die geringeren Grades,
und daß die Vorstellungen oder Ideen, durch die sie erkennen, umfassender
sind als die der anderen. Während weniger vollkommene Engel die Din-
ge durch eine Mehrzahl von Vorstellungen und eine größere Zahl ver-
schiedener Blicke schauen, sehen die vollkommeneren Engel alles in einer
geringeren Zahl von Gedankenbildern und Akten der Anschauung.
Der große hl. Augustinus (De Trin. 15,16) und nach ihm der hl. Tho-
mas (Ia, qu. 12, art 10) sagen, daß wir im Himmel nicht mehr diese große
Unbeständigkeit, dieses häufige Ändern unserer Ansicht, diese große
Verschiedenheit und Wandelbarkeit unserer Gedanken und Erwägungen,
dieses Kommen und Gehen von einem Gegenstand zum anderen, von die-
ser Sache zu jener haben werden, sondern daß wir dann mit einem Ge-
danken viele verschiedene Dinge werden erfassen und erkennen können.
Je weiter das Wasser sich von seinem Ursprung entfernt, desto mehr
verteilt es sich und zerfließt in mehrere Rinnsale, wenn es nicht mit gro-
ßer Sorgfalt in einem Flußbett zusammengehalten wird. – Alle Voll-
kommenheiten kommen von Gott. Je mehr sie sich von Gott, ihrem Ur-
sprung entfernen, desto mehr teilen und verzetteln sie sich. Wenn sie
sich aber Gott nähern, dann vereinigen sie sich wieder, bis sie sich
in jener höchsten und einzigen Vollkommenheit verabgründen, die das
„eine Notwendige“ und „der beste Teil“ ist, den „Maria gewählt hat, der
ihr nicht genommen wird“ (Lk 10,42).
VI, 6 287
6. Kapitel
Die Beschauung geht ohne Mühe vor sich. – Dritter
Unterschied zwischen ihr und der Betrachtung.
Es gibt drei verschiedene Arten des Schauens im beschaulichen Gebet:
1. Zuweilen schauen wir nur auf eine der Vollkommenheiten Gottes,
z. B. auf seine unendliche Güte, ohne an seine übrigen Vollkommen-
heiten und Attribute zu denken – ähnlich dem Bräutigam, der seinen
Blick einfach nur auf der schönen Gesichtsfarbe seiner Braut ruhen läßt,
dabei wohl ihr ganzes Antlitz ansieht, da ja die Gesichtsfarbe beinahe
über alle einzelnen Teile desselben ausgebreitet ist, aber ihren Gesichts-
zügen, ihrer Anmut und allem anderen, was ihre Schönheit ausmacht,
keine Aufmerksamkeit schenkt. Ebenso kommt es vor, daß unser Geist,
wenn er die erhabene Güte der Gottheit betrachtet, wohl auch in ihr die
Gerechtigkeit, die Weisheit, die Macht sieht, aber dennoch seine ganze
Aufmerksamkeit nur der Güte zuwendet, auf welche der einfache
Blick der Beschauung gerichtet ist.
2. Zuweilen wieder schauen wir aufmerksam auf mehrere der unend-
lichen Vollkommenheiten, die in Gott sind, aber mit einem einfachen,
unterschiedslosen Blick. Es ist so, wie wenn jemand mit einem einzigen
Blick seine reich geschmückte Braut vom Scheitel bis zur Sohle umfängt
und wohl das Gesamtbild aufmerksam wahrnimmt, aber nicht die Einzel-
heiten. Er kann dann nicht sagen, welches Geschmeide und welches Kleid
sie trägt, noch welche Haltung sie einnimmt und welchen Blick sie wirft,
sondern einfach nur, daß alles an ihr schön und ansprechend ist. So
überschaut man zuweilen mit einem einzigen einfachen Blick verschie-
dene Erhabenheiten und Vollkommenheiten Gottes zusammen; man wäre
aber nicht imstande, darüber im einzelnen etwas auszusagen, sondern
wüßte nur das Eine, daß alles vollkommen gut und schön ist.
3. Andere Male schauen wir weder auf mehrere noch auf eine einzige
der göttlichen Vollkommenheiten, sondern bloß auf irgendeine göttliche
Tat, ein göttliches Werk, dem wir unsere Aufmerksamkeit zuwenden.
So z. B. blicken wir auf den Akt der Barmherzigkeit, durch welchen
Gott die Sünden verzeiht, oder auf den Akt der Schöpfung, oder auf die
Auferweckung des Lazarus, oder auf die Bekehrung des hl. Paulus. Wir
gleichen da einem Bräutigam, der nicht die Augen, sondern nur die Lieb-
lichkeit des Blickes sieht, den seine Braut auf ihn richtet, der nicht den
Mund betrachtet, sondern die Anmut der Worte, die der Mund her-
vorbringt.
288 VI, 6
Dann aber, Theotimus, schwingt sich die Seele in Liebe nicht nur
zur Tat auf, die sie erwägt, sondern auch zu dem, der sie vollbracht: „Du
bist so gut, o Herr, in Deiner Güte lehre mich Deine Satzungen“ (Ps
119,68). „Voll von Süßigkeit ist Dein Mund,“ d. h. das Wort, das daraus
hervorgeht, „alles an dir ist lieblich“ (Hld 5,16). „Wie süß sind meinem
Inneren Deine Worte, viel süßer noch als Honig meinem Mund“ (Ps
119,103). Oder auch mit dem hl. Thomas: „Mein Herr und mein Gott“
(Joh 20,28) und mit der hl. Magdalena: „Rabbuni! Mein Meister!“ (Joh
20,16).
4. Aber woher auch immer die Beschauung ihren Anfang nimmt,
stets zeichnet sie sich dadurch aus, daß sie mit Freuden geschieht. Sie
setzt ja voraus, daß man Gott und seine heilige Liebe gefunden hat, daß
man sich an diesem Besitz erfreut und glücklich darüber spricht: „Ich
habe den gefunden, den meine Seele liebt; ich habe ihn gefunden und
lasse ihn nicht!“ (Hld 3,4).
Darin unterscheidet sich die Beschauung von der Betrachtung, die fast
immer Mühe, Anstrengung und Überlegung erfordert, weil unsere Seele
dabei von einer Erwägung zur anderen übergeht und an verschiedenen
Orten den Geliebten ihrer Liebe oder die Liebe ihres Geliebten sucht.
In der Betrachtung arbeitet Jakob, um Rahel zu erlangen; aber im
beschaulichen Gebet freut er sich mit ihr und vergißt seine ganze Mühe
(Gen 29,18). Der als Hirte dargestellte göttliche Bräutigam bereitet sei-
ner heiligen Braut ein üppiges Mahl nach ländlicher Sitte. Er beschreibt es
so, daß es mystischerweise alle Geheimnisse der menschlichen Erlösung dar-
stellt: „In meinen Garten kam ich,“ sagt er, „meine Myrrhe pflückte ich
mitsamt meinem Balsam, meine Wabe kostete ich mitsamt meinem
Honig, meinen Wein schlürfte ich mitsamt meiner Milch. Eßt, ihr Freun-
de, trinkt! Berauscht euch, ihr Lieben!“ (Hld 5,1).
Wann, Theotimus, wann war es, ich bitte dich, daß der Herr in seinen
Garten kam, wenn nicht damals, als er in den ganz reinen, demütigen,
liebreichen Leib seiner Mutter einzog, an dem alle Blüten heiliger Tu-
genden prangten.
Wann pflückte wohl der Herr duftende Myrrhe, als da er Leiden auf
Leiden häufte, bis zum Tod und bis zum Tod am Kreuz (Phil 2,8), und
dadurch Verdienst an Verdienst, Schatz an Schatz reihte, um seine geist-
lichen Kinder zu bereichern?
Wann verkostete er seine Wabe mitsamt dem Honig, wenn nicht, als er,
zu neuem Leben erstehend, seine Seele, süßer als Honig, mit seinem
VI, 6 289
mehr als eine Wabe durchlöcherten und durchbohrten Leib wieder verei-
nigte?
Und als er in den Himmel auffuhr und Besitz nahm von seiner göttli-
chen Glorie und allem, was damit verbunden war, da mischte er den
freudebereitenden Wein wesenhafter Glorie seiner Seele mit erquickender Milch
vollkommener Glückseligkeit seines Leibes in so erhabener Weise wie
noch nie zuvor.
In diesen göttlichen Geheimnissen, in denen alle anderen inbegriffen
sind, gibt es für alle lieben Freunde reichlich zu essen und zu trinken und
seine engsten Freunde können sich daran berauschen. Die einen essen und
trinken, aber sie essen mehr, als sie trinken, und sie berauschen sich
nicht. Die anderen essen und trinken, aber sie trinken viel mehr, als sie
essen; das sind die, die sich berauschen.
Essen bedeutet hier betrachten; man kann dieses ja mit dem Kauen
vergleichen; denn man wendet die geistige Nahrung sozusagen zwischen
den Zähnen der Erwägung hin und her, um sie zu zerteilen, zu zerreißen
und zu verdauen, was einige Mühe erfordert.
Mit dem Trinken kann man die Beschauung vergleichen, denn diese
geschieht ohne Mühe und Widerstand, mit Freuden und Leichtigkeit.
Sich berauschen aber heißt, sich so oft und mit so viel Innigkeit
dem beschauenden Gebet hingeben, daß man sich selbst ganz ent-
rückt ist, um ganz in Gott zu sein.
Heilige, weihevolle Trunkenheit! Im Gegensatz zur leiblichen beraubt
sie uns nicht der geistigen Sinne, wohl aber der körperlichen; sie ver-
dummt und vertiert uns nicht, sondern macht uns den Engeln gleich
und vergöttlicht uns gewissermaßen. Sie entrückt uns uns selbst, aber
nicht, um uns herabzuwürdigen und Tieren gleichzustellen wie irdische
Trunkenheit, sondern um uns über uns selbst hinauszuheben und uns
unter die Engel einzureihen. Wie diese leben wir dann mehr in Gott als
in uns selbst, und von der Liebe gedrängt, sind wir dann ganz darauf
bedacht und vollauf damit beschäftigt, seine Schönheit zu schauen und
uns mit seiner Güte zu vereinigen.
5. Um zum beschaulichen Gebet zu gelangen, müssen wir für gewöhn-
lich das Wort Gottes hören, mit anderen nach der Art der alten Ein-
siedler geistliche Gespräche und Unterredungen pflegen, fromme Bücher
lesen, beten, betrachten, geistliche Lieder singen, gute Gedanken hegen.
Die heilige Beschauung ist Ziel und Ende all dieser Übungen, sie alle
zielen auf sie hin. Daher werden auch solche, die diese Übungen
290 VI, 7
7. Kapitel
Die liebeer füllte Sammlung der Seele in der Beschauung.
liebeerfüllte
1. Ich spreche hier, Theotimus, nicht von der Sammlung, durch die wir
uns beim Gebet in die Gegenwart Gottes versetzen, indem wir in uns
selbst einkehren und unsere Seele sozusagen in unser Herz zurück-
ziehen, um mit Gott zu sprechen. Denn so sammeln wir uns auf Befehl
der Liebe, die uns zum innerlichen Gebet antreibt und uns dieses Mittel
ergreifen läßt, damit wir es gut verrichten. Wir selbst sind es also, die
dieses Zurückziehen unseres Geistes vornehmen.
Aber die Sammlung, von der ich hier sprechen will, geschieht nicht auf
Befehl der Liebe, sondern durch die Liebe selbst. Das heißt, wir neh-
men sie nicht selbst nach eigener Wahl vor. Ja, es liegt nicht einmal in
unserer Macht, sie zu haben, wenn wir wollen. Sie hängt nicht von unse-
rer Bemühung ab, sondern Gott bewirkt sie in uns durch seine heilige
Gnade, wenn es ihm gefällt.
Jener, sagt die selige Mutter Theresia von Jesus, verstand es wohl
richtig, der geschrieben hat, daß das Gebet der Sammlung ähnlich vor
sich geht, wie wenn ein Igel oder eine Schildkröte sich in ihr Inneres
zurückzieht. Es besteht aber ein Unterschied: diese Tiere können sich
zurückziehen, wann sie wollen, die Sammlung aber hängt nicht von
unserem Willen ab, sondern kommt über uns, wann es Gott gefällt, uns
diese Gnade zu schenken.
2. Es geschieht dies auf folgende Weise: Nichts ist dem Guten so
natürlich, als die Dinge, die es wahrnehmen kann, an sich zu ziehen und
sie mit sich zu vereinigen. So macht es auch unsere Seele. Sie strebt im-
mer ihrem Schatz, d. h. dem zu, was sie liebt, und gibt sich ihm hin.
So geschieht es zuweilen, daß der Herr unbemerkt eine gewisse wonni-
ge Seligkeit im Grunde des Herzens verbreitet, die seine Gegenwart an-
VI, 7 291
zeigt. Daraufhin kehren sich die Seelenkräfte, ja sogar die äußeren Sinne
durch eine Art geheimen Einverständnisses diesem Innersten der Seele zu,
wo der überaus liebenswürdige und vielgeliebte Bräutigam weilt.
Ein Bienenschwarm, der ausschwärmt, läßt sich durch den sanften
Klang metallener Becken oder durch den Geruch von Honigwein oder
auch durch die Düfte wohlriechender Kräuter zurückrufen; er hält, an-
gelockt durch den lieblichen Klang oder den süßen Duft, in seinem
Flug inne und zieht in den Bienenstock ein, den man ihm bereitet hat.
So spricht auch der Herr zuweilen ein heimliches Wort seiner Liebe,
oder er läßt den Duft des Weines seiner Liebe verströmen, der köstlicher
ist als Honig, oder er erfüllt die Luft mit dem Wohlgeruch seines Ge-
wandes (Hld 4,11), d. h. er träufelt himmlische Freude in unsere Herzen
und läßt uns dadurch seine überaus liebenswürdige Gegenwart fühlen. So
zieht er dann alle Fähigkeiten unserer Seele an sich, die sich alle um ihn
scharen und in ihm als dem Gegenstand ihrer Sehnsucht verweilen.
Legt jemand einen Magnet zwischen mehrere Nadeln, so sieht er, daß sie
plötzlich alle ihre Spitzen ihm zuwenden und sich an ihn hängen. So ist
es auch, wenn der Herr inmitten unserer Seele seine beseligende, erfreu-
ende Gegenwart fühlbar macht; es kehren dann alle unsere Fähigkeiten
ihre Spitzen nach dieser Richtung hin, um sich mit dieser unvergleichli-
chen Güte zu vereinigen.
„O Gott,“ spricht da die Seele mit dem hl. Augustinus (Bek. 10,27),
„wo irrte ich umher, Dich unendliche Schönheit zu suchen! Ich suchte
Dich draußen, und Du warst mitten in meinem Herzen.“
Alle Liebe Magdalenas und all ihr Denken kreiste um das Grab ihres
Erlösers; ihn suchte sie; und obwohl sie ihn gefunden hatte und er
mit ihr sprach, schweiften ihre Gedanken doch noch umher, weil sie
seine Gegenwart nicht wahrnahm. Kaum aber hat er sie bei ihrem Na-
men gerufen, da rafft sie sich zusammen und umfängt seine Füße. Ein
einziges Wort genügt, um sie in Sammlung zu versetzen (Joh 20,11–16).
sagen eingeengt und verkleinert hatte, weitete sich ihre Seele und erhob
sich zum Lobpreis seiner unendlichen Güte. Und ihr Geist frohlockte
(Lk 1,46.47) vor Freude in ihrem Leib (wie der hl. Johannes im Schoß
seiner Mutter) bei ihrem Gott, den sie fühlte. Sie ließ ihre Gedanken und
Gefühle nicht nach außen schweifen, da ihr Schatz, ihre Liebe und ihre
Wonne inmitten ihres heiligen Schoßes wohnte.
4. Diese Seligkeit kann allen zuteil werden, die die heilige Kommunion
empfangen. Durch die Gewißheit des Glaubens sind sie dann von dem
durchdrungen, was ihnen weder Fleisch noch Blut, sondern der himmli-
sche Vater geoffenbart hat (Mt 16,17), daß nämlich unser Herr und Hei-
land durch dieses hochheilige Sakrament dem Leib und der Seele nach in
ihrem Leib und in ihrer Seele wirklich und wahrhaftig zugegen ist.
Wenn die Perlmutter frühmorgens von Tautropfen benetzt worden ist,
schließt sie sich ab, nicht nur, um den Tau vor jeder Vermischung mit
Meerwasser zu bewahren, sondern auch, weil sie mit Freude die angeneh-
me Frische empfindet, die ihr dieser vom Himmel geschenkte Keim
gebracht hat.
Ähnliches geschieht bei vielen Heiligen und frommen Gläubigen.
Haben sie dieses göttliche Sakrament empfangen, das den Tau aller Seg-
nungen des Himmels enthält, so zieht sich ihre Seele gleichsam zusam-
men und alle ihre Fähigkeiten sammeln sich, nicht nur um den erhabe-
nen König anzubeten, der durch eine wunderbare Gegenwart aufs neue in
ihrem Inneren gegenwärtig ist, sondern auch, um die unerhörte Freu-
de und geistliche Erfrischung zu verkosten, die ihnen dadurch zuteil gewor-
den, daß sie den göttlichen Keim der Unsterblichkeit durch den Glauben
in ihrem Inneren wahrnehmen.
Beachte wohl, Theotimus, daß letzten Endes die Liebe diese Sammlung
bewirkt. Der Vielgeliebte lockt und zieht das Herz an sich; die Liebe
fühlt so seine Gegenwart, rafft die ganze Seele zusammen und führt sie
ihm zu. Und dies geschieht durch ein ganz liebevolles Hinneigen, ein
ganz sanftes Hinwenden und eine wonnige Zukehr aller Fähigkeiten
dem Vielgeliebten zu. Dieser wieder zieht sie an sich durch die Kraft sei-
ner Güte, mit der er die Herzen bindet und anlockt, etwa so wie Körper
mit Seilen und Ketten gezogen werden.
5. Aber diese innige Sammlung unserer Seele in sich selbst wird nicht
nur durch das Empfinden der göttlichen Gegenwart in unserem Herzen
bewirkt, sondern jedesmal, wenn wir uns, auf welche Art immer, in
seine heilige Gegenwart versetzen.
VI, 8 293
Zuweilen geschieht es, daß all unsere inneren Kräfte sich in sich
selbst zurückziehen und zusammenraffen, infolge der überaus großen
Ehrfurcht und leisen Furcht, die uns bei Erwägung der erhabenen Maje-
stät dessen erfaßt, der uns gegenwärtig ist und uns ansieht. So kehren
wir ja auch, wenn wir noch so zerstreut sind, zu uns selbst zurück,
wenn der Papst oder irgend ein hoher Fürst erscheint, und nehmen unse-
re Gedanken zusammen, um die richtige Haltung und Ehrfurcht zu be-
wahren.
Man sagt, daß sich die Blüten der Schwertlilie beim Anblick der Sonne
schließen; sobald die Sonne aufleuchtet, falten sich die Blütenblätter
zusammen und schließen sich ab; ist aber die Sonne fort, dann entfalten
sie sich wieder und bleiben die ganze Nacht geöffnet.
Ein Gleiches geschieht bei der Art von Sammlung, von der wir jetzt
reden. Wenn wir auch gar nicht daran denken, daß Gott in besonderer
Weise in uns gegenwärtig ist, sondern uns die bloße Tatsache der Gegen-
wart Gottes bewegt, oder das Empfinden, daß er uns ansieht, sei es
vom Himmel oder von einem anderen Ort, so raffen sich doch unsere
Kräfte und Fähigkeiten aus Ehrfurcht vor der göttlichen Majestät zusam-
men und sammeln sich vor der göttlichen Majestät, die uns die Liebe zu
fürchten gebietet mit einer Furcht, die Ehrfurcht und Ehrerbietung ist.
Ich weiß von einer Seele, die sich bei der Erwähnung eines Glaubens-
geheimnisses oder eines Wortes, das sie nachdrücklicher als sonst an die
Gegenwart Gottes erinnerte, sofort in sich selbst zurückzog, und so
stark, daß sie Mühe hatte, aus sich herauszugehen, um reden und ant-
worten zu können. Dies geschah sowohl bei der Beichte wie bei persön-
lichen Besprechungen. Und so tief war diese Benommenheit, daß sie
äußerlich wie leblos und in all ihren Sinnen wie betäubt schien, bis ihr
Bräutigam ihr erlaubte, aus diesem Zustand herauszutreten, was manch-
mal ziemlich bald und manchmal erst nach längerer Zeit geschah.
8. Kapitel
Die Ruhe der in ihrem Vielgeliebten gesammelten Seele.
1. Ist die Seele so in ihrem Inneren in Gott oder vor Gott gesammelt, so
merkt sie zuweilen so still und ruhig auf die Güte ihres Geliebten, daß ihr
scheint, als wäre ihr Aufmerken fast kein Aufmerken, so einfach und zart
294 VI, 8
geht es vor sich. So gibt es ja auch Flüsse, die einen dermaßen sanften,
gleichmäßigen Lauf haben, daß es denen, die sie anschauen oder darauf
fahren, vorkommt, als sähen oder fühlten sie keinerlei Bewegung, weil man
nirgends einen Wellengang noch ein Fließen wahrnimmt.
Diese liebenswerte Ruhe der Seele nennt die selige Jungfrau Theresia
von Jesus „Gebet der Ruhe“, was sich kaum von dem unterscheidet,
was sie „Schlaf der Seelenkräfte“ nennt, wenn ich sie richtig verstehe
(Seelenburg, 4. Wohn. 3.Kap.).
2. Liebende begnügen sich zuweilen damit, bei oder unter den Augen
der Person zu sein, die sie lieben, wenn sie auch nicht mit ihr, noch über
sie oder ihre Vorzüge reden. Sie sind, wie es scheint, zufrieden und
froh, diese geliebte Gegenwart auszukosten; und das nicht, weil sie dar-
über irgend eine Erwägung anstellen, sondern weil ihr Gemüt Ruhe und
Frieden darin findet.
„Einem Myrrhenbüschlein gleicht mein Geliebter. Es ruht mir am
Busen“ (Hld 1,12). „Mein Geliebter ist mein und ich bin sein, Hirte ist er
auf Liliengefilden, ehedem der Tag sich kühlt und die Schatten fliehen“
(Hld 2,16.17). „Zeige mir doch, o Freund meiner Seele, wo du ruhst, wo
du lagerst am Mittag“ (Hld 1,6).
Siehst du, Theotimus, wie die heilige Schulammit sich damit zufrieden
gibt, zu wissen, daß ihr Geliebter bei ihr ist, ob er nun an ihrer Brust
ruht, in ihrem Garten ist oder sonstwo, wenn sie nur weiß, wo er ist.
Deshalb heißt sie auch Schulammit, denn sie ist ganz friedlich, ganz still
in ihrer Ruhe.
3. Diese Ruhe geht manchmal in ihrer Stille so weit, daß die ganze
Seele und alle ihre Kräfte gleichsam in Schlaf versunken sind, ohne
irgend eine Bewegung oder Handlung vorzunehmen. Nur der Wille ist
ausgenommen, doch auch er tut nichts anderes, als die Freude und
Seligkeit in Empfang nehmen, die ihm die Gegenwart des Vielgelieb-
ten schenkt.
Noch wunderbarer aber ist, daß der Wille diese Freude und Seligkeit,
die er empfängt, gar nicht merkt. Er genießt sie, ohne sie zu fühlen, denn
er denkt nicht an sich, sondern nur an den, dessen Gegenwart ihm diese
Freude gibt. So geschieht es manchmal, daß wir, von einem leichten
Schlummer überfallen, nur halb hören, was unsere Freunde um uns
herum sprechen, oder daß wir das Liebe, das sie uns sagen oder er-
weisen, kaum merklich wahrnehmen, ohne zu fühlen, daß wir fühlen.
VI, 8 295
4. Die Seele, die in dieser süßen Ruhe dieses zarte Empfinden der
Gegenwart Gottes genießt, ist sich also dieses Genusses nicht bewußt; sie
bekundet aber trotzdem sehr deutlich, wie kostbar und liebenswert ihr
dieses Glück ist, wenn man es ihr nehmen will oder wenn irgend etwas sie
davon ablenkt. Denn dann bricht die arme Seele in Klagen aus, sie
schreit auf oder sie weint wie ein kleines Kind, das man aufweckt, ehe es
ausgeschlafen hat; durch das Leid, das es beim Anblick empfindet, zeigt
es deutlich, wie angenehm ihm der Schlaf war. Deswegen „beschwört der
göttliche Hirte die Töchter Jerusalems (Hld 2,7) bei den Gazellen oder
Hinden der Flur: sie möchten nicht wecken, nicht stören die Vielgeliebte,
bis es ihr selbst gefällt,“ d. h. bis sie von selbst aufwacht.
Nein, Theotimus, die so in Gott ruhende Seele würde um die größten
Schätze der Welt diese Ruhe nicht verlassen.
5. Das war die Ruhe der hl. Magdalena, als sie zu Füßen des Meisters saß
und seinem heiligen Wort lauschte (Lk 10,39). Betrachte sie, Theotimus,
ich bitte dich. Sie sitzt da in tiefer Stille, sagt kein Wort, weint nicht,
schluchzt nicht, seufzt nicht, rührt sich nicht, betet nicht. Marta geht
geschäftig in dem kleinen Raum hin und her; Maria denkt nicht daran.
Was tut sie denn? Sie tut nichts, sie hört zu. Was heißt das: sie hört zu?
Das heißt, daß sie da ist wie ein Gefäß der Auserwählung, um Tropfen für
Tropfen die köstliche Myrrhe in Empfang zu nehmen, die von den Lip-
pen ihres Vielgeliebten in ihr Herz träufelt (Hld 5,13). Und der göttliche
Liebende, eifersüchtig auf den Liebesschlummer und die Ruhe seiner Viel-
geliebten, schilt Marta, die sie aufwecken will: „Marta, Marta, du machst dir
Sorgen um viele Dinge. Eines ist notwendig. Maria hat den besten Teil
erwählt, der ihr nicht wird genommen werden“ (Lk 10,40.42). Aber was
war denn der Teil oder Anteil Mariens? In Frieden, in Ruhe bei ihrem
gütigen Jesus zu verweilen.
6. Die Maler stellen meistens den Lieblingsjünger Johannes beim
letzten Abendmahl an der Brust seines Meisters nicht nur ruhend, sondern
schlafend dar. Er saß ja nach der Art der Orientalen so, daß sein Haupt an
der Brust seines geliebten Meisters lehnte. Es ist nun ganz unwahrschein-
lich, daß sein Schlafen ein körperliches war – aber ich zweifle nicht, daß
er, so nahe dem Herzen der ewigen Liebe, in einen tiefen, mystischen,
glückseligen Schlaf sank, wie ein Kind der Liebe, das an der Brust seiner
Mutter trinkend schläft und schlafend trinkt.
Gott, welche Seligkeit für diesen Benjamin, dieses Kind der Freude
des Erlösers, so in den Armen seines Vaters zu schlafen, der ihn als seinen
296 VI, 9
„Ben-Oni“, als Kind des Schmerzes (Gen 35,18) am Tag darauf dem liebe-
vollen Herzen seiner Mutter empfehlen wird! Nichts ist für ein kleines
Kind, ob es nun wacht oder schläft, wünschenswerter, als die Brust seines
Vaters und der Schoß seiner Mutter.
7. Wenn du daher in diesem einfachen, reinen, kindlichen Vertrauen
bei unserem Herrn bist, so verweile da, mein lieber Theotimus, und rühre
dich keineswegs, um fühlbare Akte des Verstandes oder des Willens zu
erwecken. Denn diese einfache Liebe des Vertrauens und dieses liebe-
volle Schlafen deines Geistes in den Armen deines Erlösers schließt über-
ragenderweise alles in sich, wonach immer dich gelüsten möchte. Es ist
besser, an dieser heiligen Brust zu schlafen, als irgendwo anders, wo im-
mer es auch sei, zu wachen.
9. Kapitel
Wie diese heilige Ruhe vor sich geht.
1. Hast du noch nie bemerkt, Theotimus, wie heftig kleine Kinder sich
zuweilen an die Brust ihrer Mutter schmiegen, wenn sie hungrig sind? Da
sieht man sie ihre Mutter drücken und pressen und die Milch so gierig
trinken, daß sie ihrer Mutter dabei sogar wehtun. Hat aber einmal die fri-
sche Milch ihren Heißhunger etwas gestillt und hat der wohlige Duft, der
von der Milch zu ihrem Gehirn aufsteigt, sie einzuschläfern begonnen, so
wirst du sehen, Theotimus, wie sie ganz lieb ihre Äuglein schließen und
allmählich zu schlummern beginnen, ohne jedoch deswegen die Mutterbrust
zu lassen. Ganz langsam, kaum wahrnehmbar, bewegen sie noch ihre Lip-
pen und trinken weiter, ohne es recht zu merken. Sie achten zwar nicht
darauf, aber sie tun es trotzdem, nicht ohne Lustgefühle dabei zu haben.
Denn wenn man ihnen die Brust entzieht, ehe sie in tiefen Schlaf gesun-
ken sind, so wachen sie auf und weinen bitterlich. Der Schmerz, den ihnen
der Entzug verursacht, zeigt, wieviel Freude sie am Besitz empfunden ha-
ben.
So ergeht es auch der Seele, die in Ruhe und Schweigen vor Gott ist;
denn sie nimmt fast unbewußt die Wonne dieser Gegenwart in sich auf,
ohne zu denken, ohne zu handeln, ohne irgendetwas mit irgendeiner ih-
rer Fähigkeiten zu tun, außer allein mit der Spitze ihres Willens. Diese
bewegt sie sanft und fast unwahrnehmbar, ähnlich wie das Kind seinen
Mund; und dadurch dringen Freude und Befriedigung am Genuß der
göttlichen Gegenwart in ihre Seele ein, ohne daß sie es fühlt.
VI, 9 297
Stört man dieses arme Püppchen und will man ihm sein Spielzeug
nehmen, da es zu schlafen scheint, so zeigt es sich, daß es wohl für alle
übrigen Dinge schläft, aber nicht für dieses; denn es empfindet die
Trennung als Übel und ist darüber unwillig; so zeigt es, welche Freude
es am Besitz hatte, auch wenn es nicht daran dachte. Da die selige Mutter
Theresia (Weg zur Volk. 32) diesen Vergleich für passend gefunden hat,
wollte ich ihn auch hier anführen.
2. Aber sage mir, Theotimus, warum sollte sich die in ihrem Gott
gesammelte Seele beunruhigen? Hat sie nicht allen Grund, ganz still zu
werden und in Ruhe zu verbleiben? Was sollte sie auch suchen? Sie hat
den gefunden, den sie suchte. Was bleibt ihr übrig, als zu sagen: „Ich
habe ihn gefunden, den meine Seele liebt, ich halte ihn fest und werde
ihn nicht lassen“ (Hld 3,4). Sie braucht nicht mehr hin und her zu den-
ken und zu erwägen, denn sie sieht ihren Bräutigam in so beglücken-
der Schau gegenwärtig, daß jede Erwägung unnütz und überflüssig wäre.
Sieht sie ihn auch nicht mit ihrem Verstand, so kümmert sie das nicht. Sie
ist es zufrieden, ihn durch die Freude und Seligkeit, die der Wille von ihm
empfängt, ganz nahe bei sich zu fühlen.
Als die Mutter Gottes, unsere liebe Frau und Herrin, empfangen
hatte, sah sie ihr göttliches Kind auch nicht, aber welche Freude emp-
fand sie, wahrhaftiger Gott, da sie es in ihrem heiligen Schoß fühlte! Und
hat die hl. Elisabet am Tag der hochheiligen Heimsuchung nicht auf
wunderbare Weise die Früchte der göttlichen Gegenwart des Erlösers mit
Freude genossen, ohne daß sie ihn sah?
3. Die Seele bedarf in dieser Ruhe nicht des Gedächtnisses; ihr Viel-
geliebter ist ihr ja gegenwärtig. Sie bedarf auch nicht der Einbildungs-
kraft. Wozu sollte sie sich auch den in einem äußeren oder inneren
Bild vorstellen, dessen Gegenwart sie genießt? So ist es schließlich der
Wille allein, der die beglückende Gegenwart Gottes, wie das Kind die
süße Milch, ganz still an sich zieht und in sich aufnimmt, während alles
übrige in der Seele durch das holde Glück, das es genießt, mit ihr in Ruhe
verbleibt.
Man bedient sich des Honigweins nicht nur, um die Bienen in die
Stöcke zurückzulocken, sondern auch, um sie zu beruhigen. Denn wenn
unter ihnen ein Aufruhr oder eine Meuterei ausbricht, wenn sie sich
gegenseitig umbringen und verletzen, kann der Imker kein besseres
Mittel anwenden, als Honigwein mitten unter das kleine, wildgewordene
Volk zu spritzen. Sobald die Bienen den süßen, lieblichen Geruch spüren,
298 VI, 10
beruhigen sie sich, und indem sie sich dem Genuß dieser Süße hingeben,
bleiben sie weiterhin friedlich und still.
10. Kapitel
Die verschiedenen Grade dieser Ruhe. Wie man sie bewahren soll.
So ist es ein großer Unterschied, Theotimus, ob wir uns mit Gott beschäf-
tigen, der uns Freude verleiht, oder ob wir uns mit der Freude befassen, die
Gott uns gibt.
Die Seele also, der Gott im Gebet die heilige, liebevolle Ruhe schenkt,
soll sich, so sehr sie nur kann, enthalten, sich selbst und ihre Ruhe zu
betrachten; denn um sie zu bewahren, darf man sie nicht neugierig
anschauen. Wer sie zu sehr liebt, der verliert sie. Die rechte Weise,
sie richtig zu lieben, ist, nicht mit ihr herumzutun. Wenn ein Kind, um
zu schauen, wo es seine Füßchen hat, sein Köpfchen von der mütterlichen
Brust wegwendet, so kommt es schnell wieder zurück, weil es seine Mut-
ter ganz lieb hat. So sollen auch wir, wenn wir merken, daß wir zerstreut
sind, weil wir neugierig wissen wollen, was wir im Gebet tun, unser Herz
sofort wieder zur süßen, friedlichen Aufmerksamkeit auf Gottes Gegen-
wart zurückrufen, von der wir abgelenkt wurden.
2. Doch dürfen wir nicht glauben, daß wir Gefahr laufen, diese heilige
Ruhe durch Handlungen des Körpers oder des Geistes zu verlieren, es
sei denn, wir tun sie aus Leichtsinn oder Zerfahrenheit. Denn die selige
Mutter Theresia nennt es (Weg zur Vollk. 31) einen Aberglauben, auf
diese Ruhe so eifersüchtig zu sein, daß man nicht husten, sich nicht räus-
pern, nicht atmen möchte, aus Angst, sie zu verlieren. Gott, der diesen
Frieden schenkt, nimmt ihn uns nicht wegen solch notwendiger Verrich-
tungen, noch auch wegen Zerstreuungen und Abschweifungen des Geis-
tes, wenn dies alles unfreiwillig ist. Und ist der Wille einmal stark von
der göttlichen Gegenwart angelockt, so hört er nicht auf, deren Wonnen
zu verkosten, auch wenn Verstand und Gedächtnis durchgegangen und
fremden, unnützen Gedanken nachgelaufen sind.
3. Es ist wohl wahr, daß die Ruhe der Seele dann nicht so groß ist,
wie wenn Verstand und Gedächtnis mit dem Willen zusammenwirken;
doch hört sie nicht auf, eine wahre geistige Ruhe zu sein, da sie im
Willen herrscht, der Herr über alle übrigen Fähigkeiten ist.
Wir haben eine mit Gott aufs innigste verbundene, ihm ganz hingege-
bene Seele gekannt, deren Verstand und Gedächtnis aber dennoch so frei
von jeder inneren Beschäftigung waren, daß sie ganz deutlich hörte, was um
sie herum gesprochen wurde, und sich dessen auch zur Gänze erinnerte,
obwohl es ihr unmöglich war, darauf zu antworten und sich von Gott
loszumachen, mit dem sie durch die Hingabe ihres Willens ganz eins
war. So sehr, sage ich, war sie eins mit ihm, daß sie von dieser ihr unge-
mein lieben Beschäftigung nicht abgezogen werden konnte, ohne einen
300 VI, 11
heftigen Schmerz zu empfinden, der sie sogar auf dem Höhepunkt ihrer
Freude und Ruhe Seufzer ausstoßen ließ.
So hören wir ja auch kleine Kinder klagen und wimmern, wenn sie nach
der Milch verlangen, und sogar noch, wenn sie zu trinken beginnen. So
schrie auch Jakob laut auf und weinte vor übergroßer Freude und Liebe,
als er die schöne, keusche Rahel küßte (Gen 29,11).
Die Seele, von der ich spreche, hatte den Willen allein gebunden,
während Verstand, Gedächtnis, Gehör und Einbildungskraft frei waren.
Sie glich so dem kleinen Kind, das, während es trinkt, sehen, hören
und selbst seine Arme bewegen kann, ohne deswegen die geliebte
Brust zu lassen.
3. Der Friede der Seele wäre aber noch weit tiefer und schöner, würde
man um sie herum keinen Lärm machen und hätte sie keine Veran-
lassung für Regungen des Herzens oder des Leibes. Sie möchte sich
ja so gerne ganz der Seligkeit dieser göttlichen Gegenwart hingeben. Da
sie es aber nicht immer verhindern kann, in ihren anderen Fähigkeiten
abgelenkt zu werden, bewahrt sie die Ruhe wenigstens im Willen, jener
Fähigkeit, durch die sie den Genuß des Guten empfängt.
Und es ist wohl zu beachten, daß der durch die Freude an Gottes Ge-
genwart in der Ruhe festgehaltene Wille sich nicht bewegt, um die ande-
ren Fähigkeiten, die abgeirrt sind, wieder zurückzuführen. Wollte er das
tun, so würde er durch die Entfernung vom Vielgeliebten seine Ruhe
verlieren und trotzdem vergebens hin- und herlaufen, die flüchtigen
Fähigkeiten einzufangen. Diese können doch nie so erfolgreich zu ihrer
Pflicht zurückgerufen werden, wie durch das Beharren des Willens in der
heiligen Ruhe. Nach und nach werden ja dann die Fähigkeiten der Seele
durch die Freude angezogen, die der Wille empfängt. Er gibt ihnen
davon ein gewisses Mitempfinden, das gleich einem Wohlgeruch sie an-
zieht, zu ihm zu kommen, damit sie an der Seligkeit teilnehmen, deren
er sich erfreut.
11 . Kapitel
Verschiedene Grade der heiligen Ruhe. Selbstverleugnung,
die man zuweilen dabei übt.
1. Nach all dem, was wir gesagt haben, gibt es also verschiedene Grade
der heiligen Ruhe. Denn manchmal breitet sie sich über alle Kräfte der
Seele aus, die mit dem Willen vereint und verbunden sind. Manchmal
herrscht sie nur im Willen, in welchem sie zuweilen fühlbar, zuweilen
VI, 11 301
ich entweder mit dem Verstand oder dem Willen etwas in Gott oder
für Gott tue. Ich kann z. B. auf ihn schauen oder auf etwas anderes aus
Liebe zu ihm; ich kann ihm zuhören oder jenen, die von ihm reden; oder
ich kann zu ihm oder zu jemand aus Liebe zu ihm sprechen oder irgendein
Werk zu seiner Ehre und in seinem Dienst verrichten.
Ja, man bleibt in der Gegenwart Gottes nicht nur, indem man ihm
zuhört, ihn anschaut oder mit ihm spricht, sondern auch, indem man
wartet, ob es ihm gefallen wird, uns anzuschauen, mit uns zu reden
oder uns mit ihm reden zu lassen. Oder auch, indem man nichts von
alledem tut, sondern einfach dort bleibt, wo es ihm gefällt, daß wir
seien, und weil es ihm gefällt, daß wir dort seien. Wenn es Gott gefällt,
dieser einfachen Art, vor ihm zu bleiben, ein auch nur schwaches Fühlen
hinzufügen, daß wir ganz sein und er ganz unser ist, o Gott, welch wün-
schenswerte, kostbare Gnade für uns!
3. Um dies, mein lieber Theotimus, besser verstehen zu können, erlau-
ben wir uns eine phantasievolle Annahme. Wir stellen uns also vor, eine
Statue, die ein Bildhauer in der Galerie eines großen Fürsten in einer Ni-
sche aufgestellt hat, sei mit Verstand begabt, man könne mit ihr reden
und sie fragen: „Sag mir, schöne Statue, warum stehst du in dieser
Nische?“ Sie würde wohl antworten: „Weil mein Herr mich hierher
gestellt hat.“ Und würde man ihr erwidern: „Aber warum bleibst du hier,
ohne etwas zu tun?“, so würde sie sagen: „Weil mein Herr mich nicht
hierhergestellt hat, damit ich etwas tue, sondern nur, damit ich hier unbe-
weglich stehe.“
Wollte man nun in sie dringen und zu ihr sagen: „Aber, arme Statue,
was nützt es dir, so hier zu sein?“, würde sie wohl antworten: „Gott,
ich bin nicht da, um etwas davon zu haben oder weil es mir nützt, son-
dern um den Willen meines Herrn und Bildhauers zu erfüllen und
ihm zu nützen; das genügt mir.“ Führe man nun fort, weiter zu fragen:
„Aber, sage mir doch, ich bitte dich, Statue, du siehst doch deinen
Herrn nicht, wie kannst du eine Befriedigung darin finden, ihn zufrieden-
zustellen?“, so würde sie bekennen: „Gewiß, ich sehe ihn nicht, denn ich
habe nicht Augen, um zu sehen, so wie ich nicht Füße habe, um zu
gehen; aber ich bin überglücklich zu wissen, daß mein geliebter Herr
mich hier sieht und seine Freude daran findet, mich hier zu sehen.“
Wollte man aber die Unterredung mit der Statue noch weiter fortset-
zen und zu ihr sagen: „Aber möchtest du dich nicht gerne bewegen,
wünschst du dich nicht näher beim Meister, der dich gemacht hat, um
VI, 11 303
12. Kapitel
Das Hinströmen der Seele in Gott oder das
Zer fließen der Seele in Gott.
Zerfließen
1. Flüssige Dinge nehmen leicht Formen und Umrisse an, die man
ihnen geben will, weil sie keine Festigkeit und Dichte haben, die sie von
sich aus formt oder begrenzt. Gieße Flüssigkeit in ein Gefäß und du wirst
sehen, daß sie die Umrisse des Gefäßes annimmt. Je nachdem, ob dieses
rund oder viereckig ist, wird es auch die Flüssigkeit sein, da sie keine
Abgrenzung noch Gestalt hat, außer der des Gefäßes, das sie enthält.
Von Natur aus ist die Seele nicht von dieser Art, denn sie hat ihre
eigene Gestalt und Grenzen. Ihre Gestalt hat sie durch ihre Gewohnhei-
ten und Neigungen und ihre Grenzen durch ihren eigenen Willen. Hält
sie fest an ihren Neigungen und an ihrem Eigenwillen, so sagen wir, daß
sie hart ist, d. h. daß sie eigensinnig und hartnäckig ist. „Ich werde,“
spricht Gott, „dein Herz von Stein von dir nehmen,“ d. h. ich werde deine
Hartnäckigkeit von dir nehmen (Ez 36,26).
2. Um einem Stein, Eisen oder Holz eine andere Gestalt zu geben, muß
man Meißel, Hammer oder Feuer zu Hilfe nehmen. Man nennt ein Herz
eisern, hölzern oder steinern, wenn es die göttlichen Eindrücke nicht leicht
aufnimmt, sondern in seinem eigenen Wollen beharrt und die Neigun-
gen beibehält, die unserer verdorbenen Natur anhaften. Im Gegensatz
dazu wird man von einem sanften, empfänglichen, lenkbaren Herzen sa-
gen, es sei weich und erweichbar. „Mein Herr,“ sagt David (Ps 22,15) in
der Person unseres Herrn am Kreuz, „mein Herz ist geworden wie
Wachs, zerflossen in meinem Innern.“
Kleopatra, diese schamlose ägyptische Königin, wollte alle Exzesse
und Ausschweifungen noch übertreffen, die sich Marcus Antonius bei
seinen Gastmahlen geleistet hatte; sie ließ sich am Ende einer Festtafel,
die sie veranstaltet hatte, einen Pokal mit feinem Essig bringen, in wel-
chen sie eine der Perlen warf, die sie an ihren Ohren trug, die man auf
250.000 Taler geschätzt hatte. Nachdem die Perle sich aufgelöst hatte,
zerschmolzen und flüssig geworden war, trank sie die Flüssigkeit und
hätte auch die zweite Perle, die sie am anderen Ohr trug, in der Kloake
ihres schmutzigen Magens begraben, hätte sie Lucius Plancus nicht dar-
an gehindert (Plinius, Hist. nat. 9,35).
Das Herz unseres Erlösers, diese wahre orientalische Perle, ganz einzig
in ihrer Art und von unschätzbarem Wert, die am Tag seines Leidens
VI, 12 305
Ein äußerst starkes Wohlgefallen, das der Liebende an dem findet, was
er liebt, läßt die Seele in eine gewisse geistige Ohnmacht fallen, so daß
sie nicht mehr in sich selbst zu bleiben vermag. Sie läßt sich dann wie
ein flüssiger Balsam, der keine Festigkeit und Dichte mehr besitzt, in das
eingehen und überfließen, das sie liebt. Sie wirft sich nicht wie in einem
Schwung hinein, sie drängt sich nicht heran, um sich mit Gott zu vereini-
gen, sondern verströmt still und sachte, wie flüssig geworden, in die Gott-
heit, die sie liebt.
Wenn die vom Südwind zusammengetriebenen Wolken sich auflösen
und in Regen verwandeln, können sie nicht zusammengeballt bleiben,
sondern fallen herab und ergießen sich auf die Erde, sie durchtränken sie,
vermengen sich mit ihr und werden ganz eins mit ihr. So tritt auch die Seele,
die wohl liebte, doch noch in sich selbst verblieb, jetzt durch dieses geheilig-
te Verströmen und heilige Zerfließen aus sich selbst heraus und verläßt
sich selber, nicht nur, um sich mit ihrem Vielgeliebten zu vereinigen,
sondern um ganz mit ihm eins zu werden und sich von ihm förmlich
durchtränken zu lassen.
5. Du siehst also, Theotimus, daß das Einströmen einer Seele in ihren
Gott nichts anderes ist als eine wahre Entrückung, durch die sie aus
den Grenzen ihres natürlichen Verhaltens ganz herausgetreten, ganz mit
Gott verschmolzen, in ihn ganz versunken und aufgegangen ist. Daher
finden auch jene, die zu diesem heiligen Übermaß an göttlicher Liebe ge-
langen, nichts auf Erden, das sie befriedigt, wenn sie wieder zu sich ge-
kommen sind. Sie leben in einer äußersten Selbstvernichtung, bleiben bei-
nahe ohne Empfinden für alles, was die Sinne betrifft, und haben ständig
den Grundsatz der seligen Jungfrau Theresia von Jesus im Herzen: „Al-
les, was nicht Gott ist, ist mir nichts.“
Derart war wohl die leidenschaftliche Liebe jenes großen Freundes des
göttlichen Vielgeliebten, der sagte: „Ich lebe, aber nicht ich lebe, sondern
Christus lebt in mir“ (Gal 2,20), und „Unser Leben ist mit Jesus Christus
in Gott verborgen“ (Kol 3,3).
Sage mir doch, ich bitte dich, Theotimus, würde man einen Tropfen
gewöhnlichen Wassers in einen Ozean wohlriechender Gewässer fallen
lassen und dieser Tropfen könnte leben, sprechen und seinen Zustand be-
schreiben, würde er nicht voll Freude ausrufen: „O ihr Sterblichen, ich
lebe wirklich, aber ich lebe nicht selbst, sondern dieser Ozean lebt in mir
und mein Leben ist in diesem Abgrund verborgen.“
VI, 13 307
Die in Gott eingeströmte Seele stirbt nicht. Wie könnte sie auch sterben,
wenn sie ins Leben versunken ist? Aber sie lebt, ohne in sich selbst zu
leben. Denn so wie die Sterne, ohne ihr Licht zu verlieren, nicht leuchten,
wenn die Sonne scheint, sondern die Sonne in ihnen leuchtet und sie im
Licht der Sonne verborgen sind, so lebt auch die Seele nicht, wenn sie in
Gott eingegangen ist; sie verliert aber ihr Leben nicht, sondern Gott
lebt in ihr.
Ich glaube, das waren die Empfindungen der großen Heiligen Philipp
Neri und Franz Xaver, als sie im Übermaß himmlischer Freuden Gott
baten, sich etwas von ihnen zurückzuziehen. Gott wollte ja, daß ihr Le-
ben noch einigermaßen vor der Welt in Erscheinung trete; das wäre aber
nicht möglich gewesen, wäre es ganz in Gott verborgen und versunken
geblieben.
13. Kapitel
Die Liebeswunde.
1. All diese Worte, die wir für die Liebe gebrauchen, beruhen auf der
Ähnlichkeit, die zwischen den Affekten des Herzens und den sinnen-
haften Leidenschaften bestehen.
Traurigkeit, Furcht, Hoffnung, Haß und die anderen seelischen Affekte
finden keinen Eingang in das Herz, wenn nicht die Liebe sie nach sich
hineinzieht. Wir hassen das Böse nur, weil es dem Guten entgegengesetzt
ist, das wir lieben. Wir fürchten ein künftiges Übel, weil es uns des
Guten berauben wird, das wir lieben. Mag ein Übel noch so groß sein,
wir hassen es nur in dem Maße, als wir das Gute lieben, zu dem es im
Gegensatz steht. Wer dem Staat nicht viel Liebe entgegenbringt, ist nicht
sehr bekümmert, wenn dieser zugrunde geht. Wer Gott nicht viel liebt,
der haßt auch kaum die Sünde.
Die Liebe ist die erste Leidenschaft, sie ist Grund und Ursprung aller
Leidenschaften.
2. Darum kehrt sie zuerst in das Herz ein, und weil sie bis zum
innersten Grund des Willens, wo sie ihren Sitz hat, vordringt und
vorstößt, sagt man, sie verwunde das Herz. Sie hat eine scharfe Spitze,
sagt der Apostel Frankreichs (Coel. Hier. 7), und dringt bis ins Tiefste
des Geistes ein. Auch die anderen Affekte finden Eingang, aber durch die
Vermittlung der Liebe; denn dadurch, daß sie das Herz durchbohrt, bahnt
sie ihnen den Weg. Nur die Spitze des Pfeiles verwundet, das übrige
vergrößert nur die Wunde und den Schmerz.
308 VI, 13
Wenn die Liebe verwundet, bereitet sie folglich auch Schmerz. Der Gra-
natapfel ist nach einem Wort des hl. Gregor (zu 1 Sam 16, 12 und zu Ez
2,4) ein treffendes Bild der hochheiligen Liebe, sowohl in seinem leuchten-
den Rot, in der Fülle der sich in Reih und Glied zusammenfügenden und
drängenden Kerne, wie in seiner schönen Krone. Das leuchtende Rot weist
auf die Gluten der Gottesliebe hin, die Fülle der Kerne auf die Fülle der
Tugenden, die die Liebe enthält, die Krone auf die Krone der ewigen
Belohnungen, die die Liebe allein erhält und trägt. Der Saft des Granat-
apfels aber, der, wie wir wissen, den Gesunden wie den Kranken so köst-
lich mundet, ist ein solches Gemisch von Herbheit und Süße, daß man
nicht unterscheiden kann, ob die süße Herbheit oder die herbe Süße den
Geschmack so anspricht.
Gewiß, Theotimus, ist auch die Liebe süß und herb zugleich; solange
wir in dieser Welt sind, ist ihre Süße nie vollkommen süß, weil sie
nie vollkommen und nie ganz gestillt und befriedigt ist. Trotzdem ist sie
ungemein wohltuend. Ihre Herbheit erhöht noch die Lieblichkeit ihrer Süße,
wie auch ihre Süße den Reiz ihrer Herbheit verstärkt.
Wie ist das möglich? Da ist dieser oder jener junge Mann in eine Ge-
sellschaft gekommen. Frisch, froh und frei hat er mitgetan, war aber nicht
auf der Hut. Und nun bediente sich die Liebe der Blicke, der Haltung, der
Worte, ja selbst der Haare eines schwachen Geschöpfes wie ebensovieler
Pfeile, sein wehrloses Herz zu verwunden. Jetzt ist er traurig, verschlos-
sen und verwundert. Warum aber, bitte ich dich, ist er denn traurig? Doch
sicher, weil er verwundet ist. Wer hat ihn verwundet? Wer anders als die
Liebe.
3. Aber wie kann die Liebe verwunden und Schmerz bereiten? Die Lie-
be, die doch ein Kind des Wohlgefallens ist?
Nun, was man liebt, ist zuweilen abwesend. Und dann, mein lieber
Theotimus, verwundet die Liebe das Herz durch die Sehnsucht, die sie
weckt; da diese nicht gestillt werden kann, quält sie in hohem Maße das
Gemüt.
Ist ein Kind von einer Biene gestochen worden, dann sagst du ihm
vergeblich: „Mein liebes Kind, die Biene, die dich gestochen hat, bereitet
dir doch auch den süßen Honig, der dir so gut schmeckt.“ Es wird dir
antworten: „Das ist schon wahr, der Honig schmeckt mir auch recht gut.
Aber der Stich tut mir trotzdem sehr weh, und solange der Stachel in
meiner Wange sitzt, werde ich keine Ruhe haben. Siehst du nicht, daß
mein Gesicht ganz geschwollen ist?“
VI, 13 309
Sicher gibt es keine Liebe ohne Wohlgefallen, Theotimus, daher ist sie
auch so überaus beglückend, vorausgesetzt aber, daß sie im Herzen nicht
den Stachel der Sehnsucht zurückläßt. Läßt sie ihn aber zurück, so läßt
sie mit ihm einen großen Schmerz zurück. Allerdings rührt dieser Schmerz
von der Liebe her und ist deshalb ein liebenswerter Schmerz.
Höre die schmerzhaften aber liebevollen Sehnsuchtsrufe des königlichen
Liebenden: „Meine Seele dürstet nach ihrem starken, lebendigen Gott;
ach, wann werde ich kommen und erscheinen vor dem Angesicht meines
Gottes? Meine Tränen sind meine Speise Tag und Nacht, da man mir
sagt: Wo ist dein Gott?“ (Ps 42,3.4).
So redet auch die heilige Schulammit, ganz durchdrungen von ihrer
schmerzlichen Liebe, die Töchter Jerusalems an: „Ach, ich beschwöre euch,
wenn ihr meinem Freund begegnet, kündet ihm mein Leid, denn ich
sieche dahin, von seiner Liebe schwer verwundet“ (Hld 5,8). „Hingehal-
tene Hoffnung schmerzt die Seele“ (Spr 13,12).
4. Die Liebe schlägt Wunden verschiedener Art. 1) Schon ihre ersten
Berührungen verwunden das Herz. Solange es nicht liebt, scheint es ge-
sund und unversehrt zu sein und ganz sich selbst gehörig. Jetzt aber,
von der Liebe ergriffen, beginnt es, sich von sich selbst zu trennen und
zu lösen, um sich dem hinzugeben, den es liebt. Diese Trennung aber
kann nicht ohne Schmerz vor sich gehen, denn Schmerz ist nichts an-
deres als Trennung lebender Wesen, die sich fest aneinander halten.
2) Die Sehnsucht bohrt unaufhörlich und verwundet das Herz, das da-
von befallen ist. Dies ist ja schon oben erwähnt worden. 3) Die
heilige Liebe kennt noch eine andere Art von Wunden, die Gott selbst
zuweilen den Seelen zufügt, die er zu hoher Vollkommenheit führen will.
Und zwar geht dies so vor sich:
5. Gott weckt in der Seele wunderbare Empfindungen und unvergleich-
liche Antriebe zu seiner über alles erhabenen Güte hin. Er drängt sie
und treibt sie an, ihn zu lieben. So rafft sie sich denn mit aller Kraft
auf, um sich zu ihrem Gott hinaufzuschwingen – kann aber nicht weiter,
kann nicht so viel lieben, wie sie es sich wünscht. O Gott! Welchen Schmerz
fühlt sie da, einen Schmerz, der seinesgleichen nicht hat. Während sie mächtig
angetrieben wird, ihrem Vielgeliebten entgegenzufliegen, wird sie gleich-
zeitig stark zurückgehalten und kann sich nicht erheben. Sie ist wie gefes-
selt an die niedrigen Armseligkeiten dieses sterblichen Lebens und ihres
eigenen Unvermögens. Sie wünscht sich „die Flügel einer Taube“ (Ps
55,7), um an ihren Ruheort zu fliegen, und findet ihn doch nicht. So
310 VI, 13
Wäre das nicht der Fall, so wäre ihre Liebe ebenso beseligend wie
schmerzlich: beseligend durch den Besitz eines so großen Gutes, schmerz-
lich wegen der übergroßen Sehnsucht nach einer größeren Liebe.
8. Gott, der aus dem Köcher seiner unendlichen Schönheit sozusagen
unaufhörlich Pfeile herauszieht, verwundet die Seele seiner Liebenden,
indem er sie klar sehen läßt, daß ihre Liebe gering ist im Vergleich zu
seiner Liebenswürdigkeit.
Wer unter den Sterblichen sich nicht danach sehnt, die göttliche Güte
inniger zu lieben, liebt sie nicht genug. Genügsamkeit in dieser göttlichen
Übung genügt nicht; es darf niemand dabei stehen bleiben, wie wenn sie
ihm genügte.
14. Kapitel
Andere Weisen der heiligen Liebe, die Her
Weisen zen zu ver
Herzen wunden.
verwunden.
1. Nichts verwundet ein liebendes Herz so sehr, als wenn es sieht, daß
ein anderes Herz aus Liebe zu ihm verwundet ist.
Der Pelikan baut sein Nest auf der Erde; daher kommt es oft vor,
daß seine Jungen von Schlangen gebissen werden. Wenn dies geschehen
ist, dann bringt der Pelikan, wie ein richtiger Arzt, seinen armen Jungen
mit dem Schnabel überall Wunden bei, um mit dem Blut das Gift aus-
strömen zu lassen, das der Biß der Schlange in ihrem Körper verbreitet
hat. Um so das ganze Gift auszuscheiden, läßt er das ganze Blut heraus-
fließen und die kleine Schar der Pelikane muß sterben. Sieht er sie aber tot
daliegen, dann bringt er sich selbst eine Wunde bei und läßt aus ihr sein
Blut über sie verströmen, um sie mit einem neuen und reineren Leben zu
beleben. Seine Liebe hat sie verwundet und gleich darauf verwundet er sich
selbst durch die gleiche Liebe.
Nie verwunden wir ein Herz mit einer Liebeswunde, ohne sogleich
selber verwundet zu werden. Sieht die Seele, daß Gott aus Liebe zu ihr
verwundet ist, so schlägt das auch ihr sofort eine Wunde. „Du hast mein
Herz verwundet,“ sagt der göttliche Liebende zu seiner Schulammit (Hld
4,9). Und sie ruft aus: „Sagt meinem Vielgeliebten, daß ich von Liebe
verwundet bin“ (Hld 5,8).
Die Bienen verwunden nie, ohne selbst tödlich verwundet zu wer-
den. Wie können wir den Erlöser unserer Seele vor Liebe verwundet sehen
„bis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuz“ (Phil 2,8), ohne selbst auch aus
312 VI, 14
Liebe zu ihm verwundet zu werden? Ich sage aber: verwundet durch eine
um so schmerzlich-liebreichere Wunde, als die seine liebreich-schmerz-
lich war – und wir ihn doch nie so zu lieben vermögen, wie seine Liebe
und sein Tod es erfordern würden.
2. Eine andere Art Liebeswunde wird der Seele geschlagen, wenn sie
fühlt, daß sie Gott liebt, aber von Gott trotzdem so behandelt wird,
als wüßte er nicht um ihre Liebe oder als brächte er ihrer Liebe
Mißtrauen entgegen. Dann, mein lieber Theotimus, überfällt maßlose
Angst die Seele. Der bloße Anschein, als wollte Gott ihr mißtrauen, ist
ihr unerträglich.
Das Herz des armen hl. Petrus war übervoll der Liebe zu seinem Mei-
ster und er fühlte es; der Herr aber stellte sich so, als ob er das nicht
wüßte. „Petrus,“ sagte er, „liebst du mich mehr als diese?“ – „Ja, Herr“,
erwiderte der Apostel: „Du weißt, daß ich Dich liebe“ (Joh 21,15–17). Der Herr
aber fragte noch einmal: „Petrus, liebst du mich?“ – „Mein lieber Meister,“ sagte
der Apostel, „ich liebe Dich bestimmt, Du weißt es ja.“ Und noch einmal
fragt ihn der gütige Meister, um ihn zu prüfen, als ob er mißtrauisch
gegen seine Liebe sei: „Petrus, liebst du mich?“ – Ach Herr, Du verwun-
dest dieses arme Herz und tiefbetrübt schreit es voll Liebe, aber auch voll
Schmerz auf: „Herr, Du weißt alles, Du weißt doch sicher, daß ich Dich
liebe.“
Eines Tages nahm man an einer Besessenen Exorzismen vor. Da man
in den bösen Geist drang, er solle seinen Namen nennen, antwortete er: „Ich
bin der Unglückliche, der der Liebe beraubt ist.“ Kaum hatte die hl.
Katharina von Genua, die dabei anwesend war, dies gehört, war sie so-
gleich aufs tiefste erschüttert und erregt, weil sie das Wort „der Liebe be-
raubt“ vernommen hatte (Vita S.Cath.Gen. 14). Die Teufel hassen sosehr die
göttliche Liebe, daß sie erzittern, wenn sie deren Zeichen sehen oder deren
Namen hören, d. h. wenn sie das Kreuz sehen und den Namen Jesus
aussprechen hören; ebenso erbeben aber auch solche, die unseren Herrn
über alles lieben, vor Schmerz und Abscheu, wenn sie irgendein Zeichen
sehen oder ein Wort hören, die das Fehlen der heiligen Liebe anzeigen.
Der hl. Petrus war ganz überzeugt, daß dem allwissenden Herrn doch
nicht unbekannt sein konnte, wie sehr er von ihm geliebt wurde. Aber
weil die Wiederholung der Frage „Liebst du mich?“ den Schein des Miß-
trauens an sich hatte, stimmte dies den hl. Petrus ganz traurig.
VI, 14 313
Liebe gibt es kein Leid, oder wenn es ein Leid gibt, so ist es ein geliebtes Leid
(Aug. De bono vid. 21).
Ein Seraf hielt eines Tages einen goldenen Pfeil in Händen, aus dessen
Spitze eine kleine Flamme hervorzüngelte. Er stieß ihn in das Herz der
seligen Mutter Theresia, und als er ihn wieder herausziehen wollte, schien
es dieser Jungfrau, als wollte man ihr die inneren Organe aus dem Leib
reißen. Der Schmerz war so heftig, daß sie nur mehr die Kraft hatte, leise
vor sich hinzuwimmern. Dennoch war es ein so liebenswerter Schmerz,
daß sie nie mehr davon befreit sein wollte.
Dieser Art war auch der Liebespfeil, den Gott in das Herz der großen hl.
Katharina von Genua am Anfang ihrer Bekehrung schleuderte. Dadurch
wurde sie ganz verändert; sie war wie tot für die Welt und die geschaffe-
nen Dinge und wollte nur mehr für ihren Schöpfer leben.
Der Vielgeliebte ist ein bitteres Myrrhenbüschlein und dieses bittere
Büschlein ist wieder der Vielgeliebte, der an der Brust der Vielgeliebten
ruht, er ist der vor allen am höchsten Geliebte.
15. Kapitel
Das Liebessiechtum des von der Liebe ver wundeten Her
verwundeten zens.
Herzens.
1. Es ist hinlänglich bekannt, daß menschliche Liebe die Kraft hat,
nicht nur das Herz zu verwunden, sondern auch den Leib in tödliche
Krankheit zu stürzen. So wie Leidenschaft und Temperament des Leibes viel
Macht haben, auf die Seele einzuwirken und sie mit sich fortzureißen,
besitzen auch die Affekte der Seele eine große Kraft, die Säfte des Leibes
in Wallung zu bringen und dessen Eigenschaften zu verändern.
Überdies drängt eine heftige Liebe die Seele so ungestüm zu dem hin,
den sie liebt, und nimmt sie so sehr in Anspruch, daß sie alle anderen
Tätigkeiten vernachlässigt, sowohl jene, die den Sinnen, wie jene, die dem
Verstand zukommen. Um diese Liebe zu nähren und zu fördern, läßt die
Seele scheinbar jede andere Sorge, jede andere Übung, ja sich selbst fah-
ren.
2. Darum hat Platon (In Sympos.) gesagt, daß die Liebe „arm, zerrissen,
nackt, barfuß, armselig, obdachlos ist, auf harter Erde, vor den Türen
liegt und immer bedürftig ist.“
Sie ist „arm“, denn sie führt dazu, daß man alles um dessen willen
verläßt, was man liebt; sie ist „obdachlos“, denn sie läßt die Seele ih-
ren Wohnsitz verlassen, um immer dem zu folgen, den sie liebt;
VI, 15 315
sie ist „armselig“, blaß, mager und entstellt, denn ihretwegen entbehrt
man Schlaf, Trank und Speise; sie ist „nackt und „barfuß“, denn sie
bewirkt, daß man alle anderen Zuneigungen aufgibt, um sich ganz dem
zuzuwenden, was man liebt.
Sie schläft „draußen auf bloßer Erde“, denn durch sie ist das liebende
Herz sozusagen entblößt. Sie treibt es ja dazu an, seine Leidenschaften
durch Seufzen, Klagen, Lobhymnen und Eifersucht allen kundzutun. –
Gleich einem Bettler liegt sie ausgestreckt „vor den Toren“. Denn die Lie-
be treibt den Liebenden an, immer mit gespannter Aufmerksamkeit an
Augen, Mund und Ohr dessen zu hängen, den man liebt, um ihn sprechen
und seine Gunsterweise erbetteln zu können, deren sie nie satt wird. Auge,
Ohr und Mund sind aber die Tore der Seele. – Und schließlich besteht
das Leben der Liebe darin, immer „bedürftig“ zu sein, denn wenn sie
einmal gesättigt ist, hat sie ihre Glut eingebüßt und hört folglich auf,
Liebe zu sein.
3. Ich weiß wohl, Theotimus, daß Platon so von der verächtlichen,
niedrigen, armseligen Liebe der Weltkinder spricht. Diese Eigenschaften
finden sich aber auch in der heiligen, göttlichen Liebe. Sieh doch auf die
ersten Meister der christlichen Lehre, d. h. die ersten Lehrer der heiligen
evangelischen Liebe und höre, was einer von ihnen sagte, der am meisten
Mühsal zu ertragen hatte: „Bis auf die Stunde leiden wir Hunger und
Durst, Blöße und Schläge. Wir haben kein Heim … Wie Kehricht der
Welt sind wir geworden bis zur Stunde, der Abschaum aller“ (1 Kor
4,11.13). Es ist, als wollte er sagen: Wir sind derart verachtet, daß, wenn
die Welt ein Palast ist, wir als dessen Kehricht gelten; ist sie ein Apfel,
sind wir die Schalen, die man wegwirft. Wer, ich bitte dich, hatte
sie in diesen Zustand gebracht, wenn nicht die Liebe?
Die Liebe war es, die den hl. Franziskus nackt vor die Füße seines
Bischofs hinwarf und die ihn nackt auf dem Erdboden sterben ließ; die Lie-
be war es, die ihn sein Leben lang zum Bettler machte. Die Liebe war es,
die den großen Franz Xaver arm, bedürftig und mit zerrissenem Gewand
dorthin und dahin zu den Indern und Japanern aussandte. Die Liebe war es,
die den großen Kardinal, den hl. Karl, Erzbischof von Mailand, in die äußerste
Armut brachte mitten unter den Reichtümern, die ihm von Geburt aus und
durch seine Würde zugefallen waren; lebte er doch nach dem Ausdruck
des berühmten italienischen Redners Panigarola wie ein Hund im Hause
seines Herrn, aß nur ein wenig Brot, trank nur Wasser und legte sich auf
Stroh schlafen (Predigt über Kard. Borromäus).
316 VI, 15
4. Hören wir, wie die heilige Braut fast das Gleiche sagt: „Meine
Liebe hat mich mit tausenderlei Freuden beschenkt, dadurch bin ich
schöner als die reichen Zelte meines Salomo“ (Hld 1,4.5), ich will
sagen, schöner als der Himmel, der nur ein lebloser Baldachin für seine
königliche Majestät ist, während ich sein lebendiges Zelt bin. Dennoch
bin ich „schwarz“, zerrissen, mit Staub bedeckt und ganz entstellt von all
den Wunden und Schlägen, die ich von dieser gleichen Liebe empfing. O
achtet nicht auf meine Farbe, denn ich bin sehr stark gebräunt. Mein
Vielgeliebter, der meine Sonne ist, hat die Strahlen seiner Liebe auf mich
gerichtet, Strahlen, die durch ihr Licht erleuchten, mich aber durch ihre
Glut versengt und gebräunt haben. Als sie mich mit ihrem Glanz berühr-
ten, nahmen sie mir meine Farbe. Meine leidenschaftliche Liebe macht
mich überglücklich, da sie mir einen solchen Bräutigam schenkte, wie es
mein König ist. Doch diese gleiche Leidenschaft, die mir Mutter ist, – denn
sie war es, die mich vermählte, und nicht meine Verdienste – sie hat auch
andere Kinder, die mir viel Drangsal und Mühe bereiten. Sie haben mich
derart erschöpft, daß ich wohl einerseits einer Königin gleiche, die an der
Seite ihres Königs thront, andererseits aber auch einer Winzerin, die, in
einer armseligen Hütte wohnend, einen Weinberg hütet und noch dazu
einen Weinberg, der nicht ihr Eigen ist.
5. Ja, Theotimus, wenn die Liebe uns viele und tiefe Wunden schlägt,
versetzen diese uns in einen Zustand des Siechtums. Wir verfallen der
seligen Krankheit der Liebe.
Wer könnte jemals das Liebessiechtum der hl. Katharina von Siena und
der von Genua beschreiben, oder der hl. Angela von Foligno oder der
hl. Christina, oder der seligen Mutter Theresia oder des hl. Bernhard,
oder des hl. Franziskus?
Das Leben dieses Heiligen war nichts als Tränen, Seufzer, Klagen,
Sehnsucht, Schwächen, Liebesentrückungen. Aber nichts ist so wunderbar
an all dem, wie die wunderbare Teilnahme an seinem liebreichen und
kostbaren Leiden, die ihm der gütige Jesus durch Einprägung seiner
Wundmale gewährte. Oft habe ich über dieses Wunder nachgedacht und
mir dabei meine Gedanken gemacht (Bonav. Vita S. Franc. 13).
Als dieser große Diener Gottes, dieser ganz serafische Mensch auf
dem Berge Alverno das lebendige Bild seines gekreuzigten Erlösers in
der Gestalt eines leuchtenden Serafs sah, ergriff ihn dies tiefer, als man es
sich vorstellen kann. Eine gewaltige Freude und zugleich ein ganz großes
Mitleid erfaßten ihn. Indem er in diesen schönen Spiegel der Liebe schaute,
VI, 15 317
den anzuschauen die Engel nie satt werden können (1 Petr 1,12), verging er
vor Freude und Seligkeit. Da er aber andererseits auch die lebendige
Darstellung der Wunden seines gekreuzigten Erlösers vor sich sah, fühlte
er in seiner Seele das mitleidlose Schwert, das die heilige Brust der jungfräu-
lichen Mutter am Tag des bitteren Leidens durchbohrte, mit einem so hefti-
gen inneren Schmerz, als ob er mit seinem Erlöser gekreuzigt worden wäre.
Ach Gott, Theotimus, das Bild Abrahams, den ein sterblicher Maler
darstellte, wie er den Todesstreich an seinem einzigen Sohn ausführen
will, um ihn zu opfern, hatte die Macht, den großen hl. Gregor, den Bischof
von Nyssa, zu Tränen zu rühren, sooft er es betrachtete. Wie gewaltig groß
mußte dann erst die Erschütterung des großen hl. Franziskus sein, als er
das Bild seines Herrn sah, der sich selbst am Kreuz opferte! Ein Bild, das
nicht eine sterbliche Hand, sondern die Meisterhand eines himmlischen
Serafs getreu nach dem Urbild an sich dargestellt hatte und das so leben-
dig und wahr den König der Engel abbildete, wie er zerschlagen, verwun-
det, durchbohrt und zerschunden am Kreuz hing.
so rege, daß sie dem Leib ihrer Kinder leicht das einprägen, was sie sich
wünschen. – Eine erschütternde Vorstellung kann verursachen, daß ein
Mensch in einer Nacht weiße Haare bekommt und seine Gesundheit zer-
rüttet wird.
Die Liebe ließ also die seelischen Qualen des großen liebenden Franzis-
kus nach außen dringen und verwundete den Körper mit demselben
Schmerzenspfeil, mit welchem sie das Herz verwundet hatte. Doch da
die Liebe im Innern der Seele brannte, war es ihr nicht gegeben, das
Fleisch von außen aufzureißen. Deshalb kam ihr der glühende Seraf zu
Hilfe und warf Strahlen von einer so durchdringenden Helle auf den
Heiligen, daß sie tatsächlich in dieses Fleisch die körperlichen Wunden des
Gekreuzigten einbrannten, die die Liebe bereits innerlich der Seele ein-
geprägt hatte.
So sah auch der Seraf, daß Jesaja wegen der Unreinheit seiner Lippen
nicht zu sprechen wagte. Deshalb kam er im Auftrag Gottes, seine Lip-
pen mit einer vom Altar genommenen glühenden Kohle zu berühren, zu
reinigen und so dessen Wunsch zu erfüllen (Jes 6,5–7).
Die Myrrhe sondert ein wenig Flüssigkeit ab, wie wenn sie diese
ausschwitzte oder ausatmete. Soll aber viel davon herausfließen, so muß
man durch einen Einschnitt in die Rinde nachhelfen.
So trat auch bei Franziskus die Gottesliebe in seinem ganzen Leben in
Erscheinung, alle seine Handlungen atmeten nur diese heilige Liebe. Aber
um deren ganzen Reichtum zu offenbaren, mußte er von dem himmlischen
Seraf Schnitte empfangen und verwundet werden. Damit man nun wisse,
daß diese Wunden Wunden himmlischer Liebe seien, wurden sie nicht mit
einem eisernen Werkzeug geöffnet, sondern durch Lichtstrahlen aufge-
brochen. Wahrhaftiger Gott, Theotimus, welch liebreicher Schmerz, welch
schmerzliche Liebe! Denn nicht nur damals, sondern die ganze Zeit, die er
noch lebte, gab es für ihn nur mehr ein ständiges Sichweiterschleppen,
ein ständiges Siechtum; war er doch schwer krank, erkrankt an der Krank-
heit der Liebe.
6. Als der selige Philipp Neri 80 Jahre alt war, war sein Herz so sehr von
Gottesliebe entflammt, daß deren Glut, um sich Raum zu schaffen, seine
Rippen ausweitete und die vierte und fünfte Rippe brach, damit er besser
Luft schöpfen und sich abkühlen konnte.
Der selige Stanislaus Kostka war schon als Knabe von 14 Jahren von
einer solchen Liebe zu seinem Erlöser ergriffen, daß er oft vor Schwäche in
VI, 15 319
Ohnmacht fiel und man genötigt war, ihm kalte, nasse Tücher auf die Brust
zu legen, um die Gewalt der Gluten zu lindern, die ihn verbrannten.
Überhaupt, Theotimus, wie meinst du, kann denn eine Seele, die ein-
mal ein wenig die göttlichen Freuden verkosten durfte, in dieser von so
viel Elend erfüllten Welt ohne Schmerz und ohne eine fast nicht aus-
setzende Sehnsucht leben?
Oftmals hörte man den großen Mann Gottes, den hl. Franz Xaver,
wenn er sich allein glaubte, seine Stimme zum Himmel erheben und
ausrufen: „Ach, mein Herr, ich flehe Dich an, überhäufe mich nicht mit
einer solchen Fülle von Freuden. Oder wenn es Deiner unendlichen Güte
gefällt, mir so überreiche Seligkeit zu spenden, o dann nimm mich
doch zu Dir ins Paradies. Denn wer einmal in seinem Innern Deine Sü-
ßigkeit so recht verkostet hat, kann nur mehr in Bitternis leben, wenn er
Dich nicht besitzt“ (Turselin, Vita St. Fr. Xav. 6,5).
Wenn also Gott einer Seele seine göttlichen Freuden in reichem Maße
gespendet hat und sie ihr dann wieder nimmt, verwundet er sie durch
diese Beraubung und sie siecht dahin und klagt mit David: „Ach, wann
wird der Tag kommen, wo der wiederkehrende Trost dieses Leid von mir
nehmen wird?“ (Ps 42,3). Oder mit dem großen Apostel: „O ich un-
glücklicher Mensch, wer wird mich befreien von dem Leib dieses Todes?“
(Röm 7,24).