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DAS UNDARSTELLBARE DER POLITIK

DIESE AUSGABE IST SEITENGLEICH MIT DER 1998 IM


VERLAG TURIA + KANT ERSCHIENEN PRINT-VERSION.
(ZITIERBAR NACH TITEL AUF S.3)

© COPYRIGHT–HINWEIS SIEHE S. 3
JUDITH BUTLER / SIMON CRITCHLEY /
ERNESTO LACLAU / SLAVOJ ŸIŸEK U.A.

Das Undarstellbare der Politik


Zur Hegemonietheorie Ernesto Laclaus

HERAUSGEGEBEN VON
OLIVER MARCHART

© COPYRIGHT–HINWEIS

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TURIA + KANT
Wien
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Butler, Judith: Das Undarstellbare der Politik : zur


Hegemonietheorie Ernesto Laclaus /
Judith Butler ; Simon Critchley ; Ernesto Laclau ;
Slavoj Ÿiÿek ... - Wien : Turia und Kant, 1998
ISBN 3-85132-155-3

© bei den Autoren


© für diese Ausgabe: Verlag Turia + Kant
ISBN 3-85132-155-3

Verlag Turia + Kant


A – 1010 Wien, Schottengasse 3A/5/DG 1
info@turia.at • www.turia.at
Inhalt

OLIVER MARCHART
Einleitung: Undarstellbarkeit und
»ontologische Differenz« ..................................................... 7

1. Das Paradox der Politik

TORBEN BECH DYRBERG


Diskursanalyse als postmoderne politische Theorie ......... 23
URS STÄHELI
Politik der Entparadoxisierung. Zur Artikulation
von Hegemonie- und Systemtheorie ................................. 52
RADO RIHA
Plurale Subjekte als konkrete Endlichkeiten
oder Wie Laclau mit Kant gelesen werden kann ............... 67
OLIVER MARCHART
Gibt es eine Politik des Politischen? Démocratie à
venir betrachtet von Clausewitz aus dem Kopfstand ........ 90

2. Das Reale der Politik

SLAVOJ ŸIŸEK
Jenseits der Diskursanalyse ............................................ 123
JELICA ÍUMI”-RIHA
Politik der Treue, Treue der Politik ................................. 132
THANOS LIPOWATZ
Das reine Politische oder Eine (post)moderne Form der
politischen Mystik ........................................................... 158
YANNIS STAVRAKAKIS
Laclau mit Lacan .......................................................... 177
3. Das Unentscheidbare der Politik

SIMON CRITCHLEY
Dekonstruktion – Marxismus – Hegemonie.
Zu Derrida und Laclau ................................................... 193
JUDITH BUTLER
Poststrukturalismus und Postmarxismus ...................... 209
ANNA-MARIE SMITH
Das Unbehagen der Hegemonie. Die politischen
Theorien von Judith Butler, Ernesto Laclau und
Chantal Mouffe .............................................................. 225
JUDITH BUTLER, ERNESTO LACLAU
Verwendungen der Gleichheit.
Eine Diskussion via e-mail ............................................ 238
JUDITH BUTLER
Weitere Reflexionen zu Hegemonie und Gender ............. 254
ERNESTO LACLAU
Konvergenz in offener Suche .......................................... 258

4. Anhang

ERNESTO LACLAU
Von den Namen Gottes ................................................... 265

Bibliographie zu Ernesto Laclau ......................................... 282


Textnachweise ..................................................................... 285
Undarstellbarkeit und
»ontologische Differenz«

EINLEITUNG VON
OLIVER MARCHART

Mit dem Erscheinen von Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes


Hegemonie und radikale Demokratie1 im Jahre 1985 wurde erst-
mals eine schlüssige Übertragung der Dekonstruktion, die bis
dahin ihre Heimat vornehmlich in der Literaturwissenschaft ge-
funden hatte, in das Feld der politischen Theorie geleistet 2. Das
gelang Laclau und Mouffe durch eine Koppelung des Konzepts
der Hegemonie, dessen Entwicklung sie von der russischen Sozi-
aldemokratie zu Gramsci verfolgen, mit dekonstruktiven Strate-
gien und einem allgemein diskursanalytischen Theorieansatz.
Mit einer solchen post-strukturalistischen Neutheorisierung von
Hegemonie als der Logik des Politischen verschoben sie die mar-
xistische Prävalenz der ökonomischen Basis post-marxistisch
auf das Politische, das nun alle Bereiche der Gesellschaft und
des Ökonomischen durchdringt. Alle Relationen sind damit
einer möglichen diskursiven hegemonialen Artikulation geöffnet
– Gesellschaft (im Sinne einer geschlossenen Totalität) dagegen
»existiert nicht«, so die provokante Zentralthese des Buches. Der
entscheidende Fortschritt gegenüber anderen Wiederaufnahmen
Gramscis lag also darin, daß sie dessen Hegemonietheorie eine
diskurstheoretische Wendung gaben. Üblicherweise wird unter
Diskurs jede sprachliche Einheit oberhalb der Satzebene ver-
standen. Die Soziolinguistik verwendet den Diskursbegriff vor
allem im Sinne eines Korpus vorwiegend natürlich generierter
Texte (mündlich oder schriftlich)3. Der Diskursbegriff Laclaus
geht dagegen über diese rein linguistische Definition hinaus in
Richtung einer Analyse der politischen Diskurs-, oder Signifika-
tionslogik.
8 OLIVER MARCHART

Was Laclau und Mouffe bereits in Hegemonie und radikale De-


mokratie Diskurs nennen, ist immer auf Artikulation4 als der Pro-
duktionsweise diskursiver Formationen bezogen, wobei diskur-
sive Formation von Laclau/Mouffe als ein Ensemble differentiel-
ler Positionen ohne ein vereinheitlichendes Prinzip gefaßt wird.
Die Identität oder Kohärenz der Formation wird also nicht
durch ein transzendentales Signifikat gesichert, sondern allein
durch den relationalen Charakter aller Momente: »In einer arti-
kulierten diskursiven Totalität, in der jedes Element eine diffe-
rentielle Position besetzt ( … ) ist jede Identität relational und
alle Relationen haben einen notwendigen Charakter«5. Insofern
können Laclau und Mouffe dieses Projekt als radikalen Relatio-
nismus klassifizieren.
Dieser natürlich Saussure verpflichtete Relationismus wird
schließlich zu Beginn von Laclaus Artikel Was haben leere Signi-
fikanten mit Politik zu tun?6 aus dem Jahr 1994 zum Ausgangs-
punkt nicht nur einer Erläuterung der politischen Logik des Sig-
nifikanten gemacht, sondern darüberhinaus zur Basis einer all-
gemeinen Signifikationstheorie. Der Saussuresche Relationis-
mus wird von Laclau – der sich nach Hegemonie vor allem im
Austausch mit der Laibacher Schule der Lacanschen Psychoana-
lyse annäherte, während Chantal Mouffe in ihren neueren Arbei-
ten Fragen des Liberalismus und der Demokratietheorie
verfolgt7 – mit einer Variante des Lacanschen Herrensignifikan-
ten supplementiert, der als leerer Signifikant nun zur neuen
Zentralkategorie der Hegemonietheorie wird8.
Von Saussures Annahme ausgehend, daß Bedeutung in einem
System differentieller Positionen produziert wird, sind wir so-
fort mit folgendem Problem konfrontiert: Um überhaupt von
einem System oder einem Feld differentieller Positionen spre-
chen zu können (in die schlechte Unendlichkeit ausgedehnte
Differenzen wären keine Differenzen mehr), müssen wir uns fra-
gen, was jenseits dieses Systems ist und welcher Natur die Gren-
zen des Systems sind. Wäre das Äußere des Differenzsystems
bloß eine weitere Differenz, dann wäre es für uns nicht möglich,
das System von seinem Außen zu unterscheiden. In diesem Fall
wäre das Außen einfach Teil des Innen – was hieße, daß es gar
kein Außen gäbe. Das führt zur Schlußfolgerung, daß das Außen
eines Systems von einer radikal von diesem System unterschie-
denen Natur sein muß. Nur wenn das Außen ein radikales Außen
ist, können wir überhaupt von einem Außen sprechen. Die Gren-
zen des Systems sind also nicht neutral, sondern antagonistisch,
UNDARSTELLBARKEIT 9

da sie einen notwendigen Ausschluß9 voraussetzen, der selbst


nicht eine weitere Differenz sein kann und den differentiellen
Charakter der Systempositionen subvertiert. Subvertiert wird
der rein differentielle Charakter der Systempositionen dadurch,
daß sie zumindest in einer Hinsicht nicht differentiell – d.h. so-
mit äquivalent – sind, nämlich in Bezug auf ihre gemeinsame
Grenze, ihr konstitutives Äußeres. Jedes Signifikationssystem ist
aufgrund genau dieser Schwankung zwischen Differenz- und
Äquivalenzlogik unentscheidbar, und in den Signifikationspro-
zeß wird eine konstitutive Prekarität eingeführt, von Laclau Dis-
lokation genannt.
Das führt uns direkt in das Problem der Darstellbarkeit. Denn
wie kann sich das Signifikationssystem selbst bezeichnen, oder,
was dasselbe ist, wie lassen sich die Grenzen der Bezeichenbar-
keit (von Laclau mit dem Lacanschen Realen verglichen) be-
zeichnen, wenn »wir einem konstitutiven Mangel gegenüberste-
hen, einem unmöglichen Objekt, welches, wie bei Kant, sich
durch die Unmöglichkeit seiner adäquaten Repräsentation dar-
stellt« (Laclau). Antwort: durch die Subversion des Bezeich-
nungsprozesses selbst, d.h. durch einen Signifikanten, der selbst
kein Signifikat besitzt. Wie Laclau im vorliegenden Band etwa in
der Diskussion mit Judith Butler darlegt, muß eine partikulare
Differenz innerhalb des Systems die Rolle übernehmen, die
Grenze, die wie das Reale zugleich notwendig und unmöglich
ist, zu repräsentieren. In Laclaus Worten nimmt »ein ›ontischer‹
Inhalt die ›ontologische‹ Funktion« dieser unmöglichen und
doch notwendigen Repräsentation an – für Laclau eine der Defi-
nitionen einer hegemonialen Relation.
Dieser leere Signifikant besitzt vor allem deshalb kein bestimm-
tes Signifikat, weil er – soll er tendenziell die Gesamtheit der dif-
ferentiellen Positionen eines Systems bezeichnen – selbst einem
Entleerungsprozeß unterworfen ist: je mehr differentielle Posi-
tionen er durch Äquivalenzierung einbegreift, desto weniger
Konkretes bezeichnet er. Am – theoretischen – äußersten Ende
des Prozesses besitzt der leere Signifikant kein anderes Signifi-
kat mehr als die Signifikation selbst, die Instanz der Signifika-
tion, resp. die Systematizität des Systems. Der leere Signifikant
wird damit zum Signifikanten der (abwesenden) Ordnung und
Hegemonie zum Namen des politischen Wettkampfs, diese
»Ordnung an sich« mit einer bestimmten partikularen Forde-
rung zu inkarnieren.
10 OLIVER MARCHART

Hier wird es wichtig, auf die Doppelgesichtigkeit des leeren Sig-


nifikanten hinzuweisen, der zwischen der Signifikation von Ord-
nung und Chaos oszilliert: Einerseits ist er der Signifikant der
Systematizität des Signifikationssystems (der Herrensignifikant
der Ordnung an sich), andererseits der Signifikant des Zusam-
menbruchs von Signifikation (in Zeiten etwa von Revolution der
Signifikant der Bedrohung oder Auflösung der bestehenden Ord-
nung). Man könnte argumentieren, daß die Rhetorik des Erha-
benen, die zur Beschreibung des Ereignisses der Französischen
Revolution in Anschlag gebracht wurde (die Revolution als
Sturzflut, Erdbeben, Vulkanausbruch, etc.), genau im Zusam-
menhang mit der Leere des leeren Signifikanten »Revolution« 10
zu verstehen ist, der den Einbruch des noch nicht-signifizierba-
ren Neuen, d.i. gleichzeitig den Zusammenbruch – oder zumin-
dest die äußerste Dislozierung – der alten Signifikationsmatrix
bezeichnen soll; also den popularen Bruch zwischen Altem (an-
cien régime) und Neuem. Nicht umsonst ist das Paradox des Er-
habenen, laut Ÿiÿek »die Umkehrung der Unmöglichkeit der
Darstellung in die Darstellung der Unmöglichkeit«11, genau das
Paradox des leeren Signifikanten.
Wie Ernesto Laclau in seinem Beitrag Von den Namen Gottes
zeigt, wäre jedoch die völlige Entleerung eines Signifikanten im
besten Fall in einem mystischen Diskurs vorstellbar, der das ab-
solute Jenseits durch die Auslöschung jedes partikularen Signifi-
kats zu repräsentieren vorgibt12, dagegen nicht im Feld der Poli-
tik. Selbst Gott oder das Erhabene als das radikal Unrepräsen-
tierbare sind nur um den Preis eines Rests an Partikularität oder
»Inhalt« auch nur negativ benennbar. Denn wäre der Signifikant
vollständig leer, vollständig frei von jeglichem partikularen »In-
halt«, also vollständig universell, dann würde die von ihm herge-
stellte Äquivalenz aller innersystemischen Differenzen in simple
Identität kollabieren und die Grenzen, resp. das Jenseits des
Systems wäre direkt repräsentierbar und damit kein Jenseits
mehr, sondern Teil der Identität. Wenn also das Universelle – das
konstitutive Außen – die partikularen Differenzen des Systems
kontaminiert (indem sich diese zumindest in Hinsicht auf das
Außen des Systems äquivalent und nicht differentiell verhalten),
so kontaminiert ebenfalls das Partikulare eines bestimmten Sig-
nifikanten die universelle Systemrepräsentation. Es ist immer
ein bestimmter Signifikant, der auf das Jenseits der Signifikation
resp. Signifikation an sich verweist und die Rolle des leeren Sig-
nifikanten übernimmt. Die »Materialisierung« Gottes (Partikula-
UNDARSTELLBARKEIT 11

risierung) ist die Kehrseite der »Deifikation« seiner möglichen


Inkarnationen (Universalisierung).
Und somit hat die Logik des leeren Signifikanten tatsächlich et-
was mit Politik zu tun. Denn welcher partikulare Signifikant für
eine bestimmte Zeit die Rolle dieser quasi-universellen Reprä-
sentation übernimmt, ist immer Gegenstand einer hegemonia-
len Auseinandersetzung. Ein wesentlicher Aspekt des leeren Sig-
nifikanten ist dessen Funktion der Selbstreferenz durch Aus-
schließung. Indem er die Totalität des Systems bezeichnet, zeigt
er an, was zum System gehört und was nicht – und umgekehrt.
Der leere Signifikant erfüllt in Laclaus Hegemonietheorie in die-
ser Hinsicht eine dem Code in Luhmanns Systemtheorie analoge
Funktion, worauf Urs Stäheli in seinem Beitrag hinweist. So-
ziale Funktionssysteme werden nach Luhmann durch einen
binären Code »fundiert« (etwa das Rechtssystem durch den
Code legal/illegal), der, wird er auf sich selbst angewandt, in eine
Paradoxie führt, welche seine eigene Fundierungsleistung wie-
der kassiert (ist die Unterscheidung zwischen legal/illegal selbst
legal?).
Man kann also das Paradox hegemonietheoretisch als jene spezi-
fische Form systemischer Unentscheidbarkeit verstehen, die vor
allem dann sichtbar wird, wenn die Doppelgesichtigkeit des lee-
ren Signifikanten unter Bedingungen weitestgehender Antagoni-
sierung eines Feldes auf sich selbst zurückgebogen wird. Diese
paradoxe Autosignifikation eines Systems möchten wir an
einem Beispiel illustrieren, das man das »algerische Paradox«
der Demokratie nennen könnte. Die – stark generalisierte – An-
ordnung sieht in diesem Experiment der Selbstanwendung des
Codes demokratisch/fundamentalistisch wie folgt aus: Eine fun-
damentalistische Opposition beruft sich auf ihren demokrati-
schen Wahlsieg, um die Demokratie abzuschaffen, und eine »de-
mokratische« Regierung setzt die Demokratie aus, um diese Ab-
schaffung der Demokratie zu verhindern. In einer Situation wie
der algerischen würde also der zentrale Code, d.h. die Aussch-
ließungs- und somit Konstitutionsfunktion des Systems Demo-
kratie, nämlich Demokratie/Fundamentalismus (in anderen Vari-
anten Demokratie/Totalitarismus oder Demokratie/Terrorismus,
d.h. immer Demokratie/Anti-Demokratie), auf sich selbst ange-
wandt. Die daraus folgende Frage lautet: Ist es demokratisch
oder ist es anti-demokratisch, die Demokratie abzuschaffen, um
sie zu bewahren?13 Wie Stäheli aus systemtheoretischer Sicht an-
merkt, folgt aus einem Paradox (das nichts anderes ist als die
12 OLIVER MARCHART

»visibilisierte« Unentscheidbarkeit des Systems), wenn es nicht


auf andere Weise entparadoxiert wird, der Konflikt. D.h. die vom
Paradox aufgegebenen Fragen können nur praktisch beantwortet
werden, die Unentscheidbarkeit muß durch eine Entscheidung
supplementiert werden. Wieder sind wir auf den politischen
Charakter des leeren Signifikanten verwiesen.
Dieser Aspekt der Selbstreferentialität des Systems über den lee-
ren Signifikanten entspricht auf erstaunliche Weise Slavoj
Ÿiÿeks Beschreibung des »puren« Antagonismus, in dem »die
Negation zum Punkt der Selbstreferenz gebracht ist«. In der hier
abgedruckten lacanianischen Laclau-Lektüre Ÿiÿeks ist der ex-
terne Feind (etwa der Fundamentalist oder der Terrorist) eben
nicht jene Instanz, die das System daran hindert, seine Identität
zu erreichen, sondern vielmehr projeziert das System seine ur-
sprünglichere Selbstblockade auf dieses kleine Stück Realität.
Ähnlich wie im Luhmannschen Paradox würde dann das nega-
tive Selbstverhältnis des Antagonismus – »sich zeigend« im lee-
ren Signifikanten – die ursprüngliche Blockade des Systems
markieren, die dessen Differenzen davor bewahrt, in Identität zu
kollabieren.
Ÿiÿeks Text ist insofern von Bedeutung für die Hegemonietheo-
rie als er erstmals zwei Erscheinungsformen des Antagonismus
ausdrücklich unterscheidet und dabei ins reale »Jenseits der Dis-
kursanalyse« vorstößt. Der pure Antagonismus als Instanz des
Jenseits der Signifikation (das politische Reale) ist nicht mit den
Antagonismen innerhalb der Signifikationssysteme (der politi-
schen Realität) zu verwechseln: »Wir müssen dann die Erfah-
rung des Antagonismus in seiner radikalen Form als Grenze des
Sozialen unterscheiden vom Antagonismus als der Relation von
antagonistischen Subjektpositionen: wir müssen, in lacaniani-
schen Worten, Antagonismus als das Reale von der sozialen Rea-
lität des antagonistischen Kampfes unterscheiden«. Aus lacani-
anischer Sicht14 ist das Jenseits oder die Autoblockade der Signi-
fikation dieser logisch vorgängig, weshalb Jelica Íumi“-Riha in
ihrem Beitrag ebenfalls das hegemoniale Verhältnis als sekundär
gegenüber der inhärenten Dislokation des Universellen faßt:
»das hegemoniale Verhältnis ist schon ein Lösungsversuch der
inneren Blockade des Universellen selbst«.
Jelica Íumi“-Riha geht sogar einen Schritt weiter. Für sie ist der
leere Signifikant nicht aufgrund seiner Leere, also der Abwesen-
heit jedes Signifikats, ein adäquater Repräsentant des Unreprä-
sentierbaren, sondern vielmehr gehört er selbst der Ordnung des
UNDARSTELLBARKEIT 13

Realen an. Und zwar aufgrund seiner Materialität; er wird zum


Buchstaben. Der notwendige Rest an Partikularität – um dessen
Preis leere Signifikanten überhaupt nur zu haben sind – wird
nicht mehr wie bei Laclau als notwendiges Überbleibsel von In-
haltlichkeit (d.h. von einem nie tilgbaren Rest-Signifikat) ver-
standen, sondern als materielle Partikularität, als, und hier greift
Íumi“-Riha auf Kant zurück, Pathologie des Signifikanten, als
dessen »Fleisch«. Dieses ist geradezu Ermöglichungsbedingung
einer Signifikation des Jenseits der Signifikation: »Das Paradox
des ›leeren Signifikanten‹ liegt darin, daß er die Funktion der
Vertretung durch jenes ausübt, was die Vertretung unmöglich
macht, das heißt, durch seine signifikante Materialität, die sich
nicht dekonstruieren und in ein bloßes differentielles Verhältnis
umwandeln läßt«. Der leere Signifikant erfüllt seine Funktion
nicht, weil er leer ist, sondern weil seine untilgbare Materialität
zum tragen kommt.

An dieser Stelle sind zwei Aspekte der lacanianischen Position


wert, festgehalten zu werden:
1. Es wird deutlich zwischen zwei Ebenen analytisch unterschie-
den: a) Die Ebene innersystemischer Differenzen und »realpoli-
tischer« Antagonismen; und b) die Ebene der Blockade des
Spiels der Differenzen durch das Reale, durch den Antagonis-
mus als konstitutivem Jenseits der Signifikation. Laclau nennt
diese zweite, konstitutive Ebene das Politische (als unterschie-
den von der ersten Ebene der Politik). Die erste Ebene bezeich-
net Laclau auch oft als »ontische« (konkrete Artikulationen) und
die zweite als »ontologische« Ebene (generelle Artikulationslo-
gik).
2. Die lacanianische Position gibt b) den logischen Vorrang vor
a). Das heißt, das System ist bereits blockiert, bevor diese Un-
möglichkeit der Selbstidentität ihre Darstellung über den politi-
schen »innersystemischen« Kampf um die Inkarnation des lee-
ren Signifikanten finden kann.
Eine Lektüre der Laclauschen Argumente in Was haben leere Sig-
nifikanten mit Politik zu tun? würde eine solche Lesart der Pri-
mordialität der Blockade unterstützen. Denn Systematizität
kommt einem differentiellen System wie gesagt nur dann zu,
wenn sein Außen bzw. seine Grenze nicht einfach eine weitere
Differenz bildet, sondern etwas radikal Anderes, eine Bedro-
hung, einen Antagonismus, der erst das System zum System ver-
einheitlicht. Durch diese Bedrohung führt das Außen aber Dislo-
14 OLIVER MARCHART

kationen (Störungen) in das System ein, was dessen ontologi-


schen Status schwächt und verhindert, daß es sich vollständig
konstituiert. Damit ist klar, daß wenn die Grenze des Systems
nicht in erster Instanz antagonistisch wäre, es überhaupt kein
System gäbe15.
Eine solche Lektüre läuft aber andererseits gegen den Konstruk-
tivismus Laclaus, wie wir ihn etwa in dem Text Die Politik als
Konstruktion des Undenkbaren finden. Hier hätte b) den Vorrang
vor a), d.h. die undenkbare und undarstellbare Komponente
eines Differenzsystems wäre selbst Ergebnis der politischen, in-
nersystemischen hegemonialen Konstruktion. Laclau schließt
damit an einen entscheidenden, in Gramsci aber of überlesenen
Aspekt von Hegemonie an: Es ist nicht so sehr die Durchsetzung
der eigenen Ideologie mit all ihren Details, die den Erfolg eines
hegemonialen Blocks ausmacht, als die Undenkbarmachung von
Alternativen. Francis Fukuyamas These vom Ende der Ge-
schichte und dem endgültigen Sieg des liberal- demokratischen
Kapitalismus könnte als Beispiel für eine hegemoniale Artikula-
tion eben genau dieses liberal-demokratischen Kapitalismus die-
nen. Auch bei Fukuyama geht es weniger um eine Beschreibung
des eigenen hegemonialen Programms als um die Verunmögli-
chung der Denkbarkeit von Alternativen. Doch was für die Eta-
blierung konkreter Hegemonien gilt, sitzt – nach Laclau – auf
einem allgemeinen Signifikationsgesetz auf. Ein Diskurs »kann
nur die Bedingungen der Denkbarkeit bestimmter Objekte kon-
stituieren durch die Konstruktion der Undenkbarkeit anderer
Objekte. Wir können so von der diskursiven Intervention spre-
chen, d.h. der Politik als dem Prozeß der Konstruktion des Un-
denkbaren«16.
Wie Anna-Marie Smith in ihrem Beitrag über das Verhältnis der
»Hegemoniekonzeptionen« Judith Butlers und Ernesto Laclaus
am Beispiel Thatcherismus und am Beispiel Zwangsheterose-
xualität ausführt, hängt der Erfolg einer hegemonialen Artikula-
tion nicht von ihrer Popularität ab, sondern davon, wie gut es ihr
gelingt, die Idee zu normalisieren, es gäbe keine Alternativen zu
ihr. Schließlich beginnt sie – durch Wiederholung – ihren eige-
nen Charakter als Alternative zu verlieren und als allgemeine Re-
gel zu operieren, »die eine ahistorische und apolitische Unter-
scheidung zwischen dem Intelligiblen und dem Nicht-Intelli-
giblen installiert«. Alle aus dem zwangsheterosexuellen Rahmen
fallenden Geschlechtsidentitäten und Sexualitäten – so die zur
UNDARSTELLBARKEIT 15

Hegemonietheorie parallel laufende Theorisierung Judith But-


lers – sollen »undarstellbar und undenkbar sein«.
Es muß an dieser Stelle festgehalten werden, daß dieser Prozeß
nie vollständig gelingen kann, keine Hegemonie endgültig und
ausnahmslos installiert werden kann. Zum einen wäre dann ge-
nau jener Fall eingetreten, in dem die Differenzen eines Systems
in Identität kollabieren würden, also der Fall vollständiger Fixie-
rung von Bedeutung (was dem Abbruch des Signifikationspro-
zesses und somit dem völligen Verlust von Bedeutung ent-
spräche), zum anderen wird jede hegemoniale Sedimentierung
von Bedeutung qua Wiederholung von einer Gegenbewegung
konterkarriert, die Laclau auf Husserl zurückgreifend »Reakti-
vierung« nennt: Durch Reaktivierung soll die kontingente und
historische Natur der hegemonialen Konstruktion aufgezeigt
werde, also die Tatsache, daß jede Hegemonie selbst nur eine Al-
ternative unter vielen ist – aufgezeigt etwa durch Praxen subver-
siver Aneignung und damit Problematisierung hegemonialer
Identitäten, wie bei Butler. Hierin trifft sich Butler – laut Anna-
Marie Smith – mit Laclau, der zustimmen würde, »daß jede Dis-
lokation eines hegemonialen Raums Möglichkeiten eröffnet, die
in eine residuale Sphäre des Undenkbaren relegiert waren«,
wenn Laclau demgegenüber auch betonen würde, daß jede Re-
aktivierung unausweichlich zu neuen Sedimentierungen führt17.
Wie verhält sich nun Butlers Theorisierung des Undarstellbaren
und Undenkbaren der Politik zu jener Laclaus? Wie Laclau in
Die Politik als Konstruktion des Undenkbaren insistiert Butler
zwar, daß das Unrepräsentierbare selbst Resultat einer Kon-
struktion sei: Es sei zu fragen, »wie Machtverhältnisse be-
stimmte Objektarten als denkbar und wißbar konstruieren und
wie diese Konstruktion durch die simultane und begleitende
Konstruktion des Undenkbaren und Unwißbaren stattfindet«.
Sie wendet das Argument aber über ihre Foucault-Lektüre gegen
den von ihr so wahrgenommenen Theorizismus und Logizismus
Laclaus, der der generellen Signifikationslogik – der ontologi-
schen Ebene – den Vorrang gibt. Auch die von Laclau beschrie-
bene Logik der Hegemonie (resp. der Emanzipation) sei, als Lo-
gik, genau so ein Regulationsinstrument dessen, was gedacht
werden kann, und somit Instrument und Effekt von Machtstra-
tegien, also letztlich der ontischen Ebene. Laclau würde »das lo-
gisch Ableitbare an die Stelle des historisch Produzierbaren set-
zen«.
16 OLIVER MARCHART

In der Auseinandersetzung zwischen Laclau und Butler wird


also der Unterschied zwischen einer von Focault und einer von
Lacan inspirierten Position deutlich. Wir sagten, daß im Lacani-
anismus die Kategorie der »Projektion« die Rolle erfüllt, die ur-
sprüngliche Blockade jedes Signifikationssystems mit der onti-
schen Ebene konkreter politischer Feindkonstruktionen zu ver-
mitteln. Das Ontische ist in diesem Fall eine Projektion des
gebarrten Ontologischen, es ist nur der konkrete Effekt der
Blockade, oder »Barre« jeder symbolischen Ordnung. Umge-
kehrt wäre für einen Konstruktivismus foucaultscher Provinienz
die ontologische Ebene – und somit auch das jeweils Undenk-
bare und konstitutive Außen eines Diskurses – immer nur eine
Konstruktion der ontischen Ebene politisch-historischer Regula-
tionen innerhalb dieses Diskurses18.
Es wurde weiters gesagt, daß in Laclaus Arbeiten beide Tenden-
zen miteinander konkurrieren. Unser Punkt ist allerding, daß ge-
nau diese Tatsache, die, weit davon entfernt, eine Inkonsistenz
der Theorie zu sein, den großen Vorteil der Laclauschen Hege-
monietheorie ausmacht und auch die Frage nach dem mögli-
chen Status der Laclauschen Hegemonietheorie, die von Laclau
selbst erstaunlicherweise nie angesprochen wurde, einer Beant-
wortung näherbringt – also die Frage, inwieweit Laclaus Hege-
monielogik selbst Ergebnis historisch kontingenter Konstruktio-
nen ist, oder inwieweit Laclaus Onto-Logik die ihr eigene onti-
sche Objektebene konstruiert. Dieser angesprochene Vorteil der
Hegemonietherie liegt genau darin, daß die Differenz und Span-
nung zwischen Partkularismus und Universalismus oder zwi-
schen dem Ontischen und dem Ontologischen von der Hegemo-
nietheorie aufrechterhalten wird. Genau weil die Hegemonie-
theorie davon Abstand nimmt, jeweils einen Term der beiden
zum determinierenden zu machen, gelingt es ihr, den Fall-
stricken entweder eines a) reinen Normativismus gängiger De-
mokratietheorien oder eines b) positivistischen Empirizismus
der Politwissenschaft oder der streng linguistischen Diskursana-
lyse19 zu entkommen. Hegemonietheorie ist weder rein normativ
(sie schreibt nicht vor, wie konkrete politische Projekte auszuse-
hen haben) noch rein deskriptiv oder konstruktiv (es entkommt
immer etwas der reinen theoretischen Konstruktions- oder Des-
kriptionsleistung). Rado Riha geht in seinem Beitrag sogar so-
weit, die spezifische Aussageweise der Hegemonietheorie als
»Konstruktion einer nichtnormativen Norm« zu bezeichnen, als
Versuch, »einen nichtbegrifflichen Begriff, d.h. einen mit seinem
UNDARSTELLBARKEIT 17

Heterogenen, Realen artikulierten Begriff zu konstruieren«. Was


hier hegemonie-theoretisch konstruiert wird, ist – in Rihas Wor-
ten – ein »singuläres Universelles«. Zwar ist kontingent – d.h. im-
mer einer historisch-politischen Konstruktion unterliegend –,
welches bestimmte Partikulare dieses Universelle jeweils inkar-
niert, gleichzeitig ist diese Kontingenz aber absolut notwendig
für das Universelle. Wir haben es mit dem Paradox einer kontin-
genten Notwendigkeit zu tun, das von Rado Riha mit dem Begriff
des singulären Universellen gefaßt wird.
Und um dieses Verhältnis denken zu können, ist es entschei-
dend, die Differenz zwischen den beiden Ebenen des Ontischen
und des Ontologischen, der Politik und des Politischen, der he-
gemonialen Artikulation und der Artikulationslogik aufrecht zu
halten. Erst diese Differenz ist es, die die Bedingung der (Un-)
Möglichkeit der Objekte politischer Theorie einsetzt, weshalb
Laclau in seinem Austausch mit Judith Butler sagen kann: »Das
Scheitern der ontologischen Absorption des ganzen ontischen
Inhalts öffnet den Weg für eine konstitutive ›ontologische Diffe-
renz‹, die Macht, Politik, Hegemonie und Demokratie ermög-
licht«.
Der Herausgeber

ANMERKUNGEN

1 Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Poli-


tics, London, Verso, 1985, dt. als Hegemonie und radikale Demokratie.
Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien, Passagen-Verlag, 1991
2 Vergl. zum Verhältnis Derrida/Laclau den Beitrag Simon Critchleys.
3 Vergl. beispielsweise Levinson: »Discourse Analysis (or DA) employs both
the methodology and the kinds of theoretical principles and primitive
concepts (e.g. rule, well-formed formula) typical of linguistics. It is essen-
tially a series of attempts to extend the techniques so successful in lingui-
stics, beyond the unit of the sentence.« Steven C. Levinson: Pragmatics,
Cambridge 1983, S. 286
4 Das Konzept Artikulation, wie es von Laclau in Politik und Ideologie im
Marxismus, Berlin 1981, formuliert wurde, sollte besonders von den Cul-
tural Studies breit rezipiert werden (für eine Zusammenfassung sh. J.
Slack: The Theory and Method of Articulation in Cultural Studies, in D.
Morley und K.-H. Chen (Hg.) Stuart Hall. Critical Dialogues in Cultural
Studies, London 1996. Wie in einem dort ebenfalls zu findenden Inter-
view mit Stuart Hall festzustellen ist, ist dessen Artikulationskonzept
heute mit jenem Laclaus so gut wie identisch). In Politik und Ideologie im
Marxismus definiert Laclau Artikulation folgendermaßen: »Die spezifi-
sche Form, die ein System von Beziehungen zwischen heterogenen Ele-
18 OLIVER MARCHART

menten annimmt. Artikulation in diesem Sinne steht im Gegensatz zu


Reduktion. Eine Reduktion findet immer dann statt, wenn eine Reihe
von Elementen sich als notwendige Formen eines oder mehrerer anderer
Elemente präsentieren: die Unterschiede werden folglich reduziert auf
bloße Momente einer substantiellen Identität. Bei der Artikulation sind
im Gegenteil die Unterschiede konstitutiv. Der typische Fall von Artiku-
lation ist das Zeichen, in welchem die Beziehung zwischen Signifikant
und Signifikat völlig arbiträr ist« (S. 207).
5 Hegemonie und radikale Demokratie, S. 156. Laclau und Mouffe machen
weiters klar, daß unter Diskurs nicht nur Sprache und Schrift in Abgren-
zung zur außerdiskursiven Welt zu verstehen ist, sondern eine Totalität
sowohl linguistischer als auch nicht-linguistischer Komponenten. Um
dem Vorwurf des Diskurs-Idealismus zu begegnen, greifen sie zurück auf
das Wittgensteinsche Konzept des Sprachspiels und bringen ein von
Wittgenstein inspiriertes Beispiel: Wenn im Fall eines Mauerbaus ein
Maurer den anderen um Zureichen eines Steines bittet und dann diesen
Stein der Mauer hinzufügt, dann ist sowohl die sprachliche als auch die
nichtsprachliche Aktion Teil einer größeren Operation, nämlich der des
Mauerbaus. Aber, so könnte man hinzufügen, auch ohne die sprachliche
Bitte um den Stein hat die Handlung – als soziale Handlung – Bedeu-
tung; eine Bedeutung, die in verschiedenen Situationen verschieden sein
kann. Ein bestimmtes sphärisches Objekt ist nur in einem Relationssy-
stem mit bestimmten anderen Objekten und Regeln ein Fußball, in
einem anderen Relationssystem wieder etwas anders, was jedoch die
»reale«, materielle Existenz des sphärischen Objekts unangetastet läßt.
In diesem Sinne sind selbst natürliche Fakten diskursive Fakten. Denn
auch die naturwissenschaftliche Idee der Natur ist historisch gewachsen,
und ein natürliches Objekt (z.B. »Stein«) wird dieses nur innerhalb eines
Klassifikationssystems (z.B. Mineralogie). Wiederum sagt das nichts
über die Existenz dieser von uns Stein genannten Entität aus, sondern
nur etwas über deren Bedeutung innerhalb eines Sprachspiels, während
die nackte Existenz des Steins eine Abstraktion ist und uns nie direkt zu-
gänglich.
6 »Why do Empty Signifier Matter to Politics« in J. Weeks (Hg.) The Les-
ser Evil and the Greater Good, London, Rivers Oram Press, 1994, dt. als
»Was haben leere Signifikanten mit Politik zu tun?« in Mesotes. Zeit-
schrift für philosophischen Ost-West-Dialog, 2/1994
7 Vergl. etwa Laclaus Übernahme der Lacanschen Subjekttheorie in E.
Laclau/L. Zak: Minding the Gap: The Subject of Politics, in E. Laclau
(Hg.): The Making of Political Identities, London/New York (Verso) 1994;
und Chantal Mouffes Dimensions of Radical Democracy. Pluralism, Citi-
zenship, Community, London/New York (Verso) 1992; Deconstruction
and Pragmatism, London/New York (Routledge) 1996, beide als Heraus-
geberin; sowie ihr The Return of the Political, London/New York (Verso)
1993.
8 Um nun eine entsprechende Theorisierung von Fixiertheit von Differenz-
systemen leisten zu können, greifen Laclau und Mouffe bereits in Hege-
monie und radikale Demokratie auf das Lacansche Konzept des Knoten-
oder Stepp-Punkts (point de capiton) zurück, also jenes Signifikanten,
UNDARSTELLBARKEIT 19

der eine Signifikantenkette steppt und dadurch die Bedeutung fixiert.


Die flottierenden Signifikanten – in der Terminologie Laclau/Mouffes
Elemente – werden durch eine solche Fixierung zu Momenten einer dis-
kursiven Totalität. Dieser Vorgang des Steppens im Feld des Sozialen
kann Artikulation genannt werden: »Die Praxis der Artikulation besteht
deshalb in der Konstruktion von Knotenpunkten, die Bedeutung teilweise
fixieren« (S.165). Hier findet sich die Keimzelle des späteren Lacanianis-
mus Laclaus.
9 Vergl. E. Laclau: Was haben leere Signifikanten mit Politik zu tun, Meso-
tes 2/1994: »Wenn die ausschließende Dimension gelöscht wäre oder
auch nur geschwächt, dann würde es geschehen, daß der differentielle
Charakter des ›Jenseits‹ einsetzt, und als Resultat würden die Grenzen
des Systems verwischt werden. Nur wenn das Jenseits zum Signifikanten
reiner Bedrohung, reiner Negativität, des schlichtweg Ausgeschlossenen
wird, kann es Grenzen und ein System geben (das heißt eine objektive
Ordnung)«.
10 Des Geschichtszeichens »Revolution«, wie Kant es nennt. Vgl. u.a. Rado
Riha, Jelica Íumi“-Riha: The Reinvention of Democracy in Eastern Eu-
rope, in: Angelaki 1/3; und Oliver Marchart: The Political Sublime. On Re-
volutions, Empty Signifiers, and Melodrama, erscheint in: John B. Foster
und Wayne J. Fromann (Hg.): Thinking Culutre. Between Philosophy and
Literature, Northwester University Press, forthcoming.
11 Vergl. Slavoj Ÿiÿek, For they know not what they do, London/New York
1991, S. 88
12 Laclau zeigt in seinem Text, daß selbst der Diskurs der Mystiker darin
scheitert.
13 Oder aus einer eher normativen Perspektive gefragt: Wie kann man sich
gleichzeitig auf die Instanz berufen, die man gerade abschaffen will, und
wie kann man das, was man bewahren will, gleichzeitig abschaffen? Und
die Probleme vermehren sich, wenn wir fragen, ob diese Unterscheidung
zwischen der »Demokratie und ihren Feinden« selbst überhaupt noch
demokratisch ist oder nicht schon demokratiefeindlich – man denke
etwa an die Suspendierung demokratischer Grundrechte im deutschen
Herbst: Wer demontierte die »freiheitlich demokratische Grundord-
nung« letztlich: die RAF, die sie angriff, oder jene, die sie angeblich ver-
teidigten?
14 Daß diese Sicht allerdings keineswegs einheitlich sein muß, zeigt die hier
abgedruckte Kontroverse zwischen Thanos Lipowatz und Yannis Stavra-
kakis.
15 Erst in einer zweiten Bewegung – so könnte man im Sinne einer Hybri-
ditätstheorie argumentieren – wird die radikale Natur der Grenzen des
Systems durch die eingeführten Dislokationen geschwächt, das heißt, die
Schwächung des Systems führt zu einer gewissen Hybridität im Verhält-
nis des Systems zu seiner Umwelt.
16 E. Laclau: Die Politik als Konstruktion des Undenkbaren, kulturRRevolu-
tion 17/18, 1988, S. 57
17 Die Subversion von hegemonialen Räumen kann – so Smith in ihrem
Beitrag – daher nicht allein als ein »Austricksen« der bestehenden Hege-
monie verstanden werden, sondern resultiert aus der aktiven Konstruk-
20 OLIVER MARCHART

tion von Gegenangeboten, die bis in gegenhegemoniale Projekte führen


können: »Jede Subversion eines hegemonialen Raums hängt von den
Ressourcen marginalisierter Räume ab, und die Verteidigung der Mög-
lichkeiten, die durch Subversion eröffnet werden, hängt ihrerseits von
der Konstruktion und Stärkung alternativer Räume ab«.
18 Auch die Systemtheorie würde insoweit das Ontische (die Konstruktion
des Undenkbaren) gegenüber dem Ontologischen privilegieren, als der
Code die Ausschließungsfunktion innerhalb des Systems erfüllt, indem er
das im System Undenkbare einfach nach Außen relegiert, und – generel-
ler – auch die Unterscheidung zwischen Fremdreferenz und Selbstrefe-
renz selbst wiederum eine Unterscheidung der Selbstreferenz ist. Das
Außen des Systems ist also in der Luhmannschen Systemtheorie nicht
als radikal anti-systemische Bedrohung konzeptualisiert wie bei Laclau,
sondern einfach als Rauschen oder als anderes System.
19 Das üblicherweise unter dem Titel Diskursanalyse firmierende Theorie-
set kann die prekäre und selbst-widersprüchliche Verfaßtheit von bedeu-
tungskonstituierenden System nicht in Rechnung stellen und gerät daher
leicht in die Gefahr, einem pointillistischen Positivismus zu huldigen,
der sich im schlimmsten Fall in rein statistisches Wörterzählen nieder-
schlägt.
I

Das Paradox der Politik


Diskursanalyse als postmoderne
politische Theorie

TORBEN BECH DYRBERG

DISKURSANALYSE UND DIE POLITISCHE


INSTITUTION DER GESELLSCHAFT

»Unsere ganze Analyse richtet sich gegen eine objektivistische Kon-


zeption und hat die Reduktion von ›Fakten‹ auf ›Sinn‹ und vom
›Gegebenen‹ auf dessen Möglichkeitsbedingungen zur Vorausset-
zung.«1
Die Diskursanalyse, wie sie von Ernesto Laclau und Chantal
Mouffe entwickelt wurde, ist eine transhistorische Theorie von
der politischen Konstitution von Gesellschaft, die im Lichte der
modernen liberalen und marxistischen Verschiebung des Politi-
schen gesehen werden muß. Die vorausliegende Annahme ist,
daß es nicht möglich sei, mit dem Politischen in der Moderne
zurechtzukommen, da diese prä- oder extra-politische Katego-
rien wie Ordnung, Wahrheit, Rechte, Rationalität und individu-
elle Autonomie betont, die als Gründungsmetaphern dienen. Um
das Politische wieder »ins Spiel zu bringen«, werde ich mich auf
das wichtigste von ihrem Werk adressierte Problem konzentrie-
ren, nämlich ihren Versuch zu dekonstruieren, was sie die Ob-
jektivität des Sozialen nennen2. Über die Dekonstruktion der Ob-
jektivität des Sozialen wird es möglich sein, den Weg für ein Ver-
ständnis des Politischen zu öffnen, das mehr ist als ein Rand-
phänomen und Supplement des Sozialen. In diesem Sinne kann
Diskursanalyse als eine postmoderne politische Theorie verstan-
den werden.
Laclau und Mouffe verfolgen die postmoderne Herausforderung,
indem sie das Argument starkmachen, der Brennpunkt der poli-
tischen Institution von Gesellschaft sei Hegemonie, die um Ent-
24 TORBEN BECH DYRBERG

scheidung, Diskurs, Dislokation und Antagonismus kreist. Die


Dekonstruktion des Objektivismus hängt davon ab, wie die
Strukturierung sozialer Verhältnisse konzeptualisiert wird, und
an dieser Stelle wird das Diskurskonzept tragend3. Die diskursive
Strukturierung des Sozialen dreht sich um die Frage, wie das
Politische konzeptualisiert wird, und die Weise, auf die das ge-
tan wird, ist wiederum zentral für die Frage der Demokratie.
Diskursanalyse konzeptualisiert das Politische in Begriffen einer
Ontologie von Möglichkeiten und Politik als die Aktualisierung
dieser Möglichkeiten, welche sie zur selben Zeit strukturiert.
Weder das Politische noch Politik haben einen bestimmten topo-
graphischen Platz in der Gesellschaft (wie etwa den Staat), ge-
nauso wie Politik nicht das Privileg spezifischer Akteure (z.B.
Eliten) ist oder mit bestimmten Praxistypen (z.B. Beherrschung)
identifiziert werden kann. Vielmehr wird das Politische als
quasi-universales Phänomen oder als historisches Apriori vis-à-
vis Gesellschaftordnungen gesehen, und Politik wird als der he-
gemoniale Versuch gefaßt, Partikularität und Universalität zu ar-
tikulieren, deren raison d’être es ist, im Namen des Ganzen zu
sprechen.
Es wäre ein reduktionistischer Irrtum, die politische Institu-
ierung von Gesellschaft mit der partikularen Instituierung hege-
monialer Verhältnisse oder Regierungsformen zu verwechseln,
denn diese können niemals die ersteren kontrollieren, ge-
schweige denn vollständig erklären. Es gibt immer einen Spalt
zwischen dem Partikularen und dem Universellen, zwischen
dem Gegebenen und seinen Möglichkeitsbedingungen. Das Poli-
tische ist in diesem Spalt verortet, und Politik ist der hegemo-
niale Versuch, ihn provisorisch auszufüllen. Von der politischen
Instituierung von Gesellschaft zu sprechen, bedeutet für Laclau
und Mouffe, daß wir unsere Aufmerksamkeit auf deren Ermögli-
chungsbedingungen lenken. Eine Konzeptualisierung des Politi-
schen in diesem Sinn wird uns zumindest fünf Charakteristika
des spezifisch Politischen verschaffen.
(1) Laclau und Mouffe streichen heraus, daß Politik der kreative
Akt der Artikulation des Partikularen und des Universellen ist,
des Gegebenen und seiner Möglichkeitsbedingungen, wobei kei-
ner der Pole a priori Form oder Inhalt besitzt. (2) Sie fassen das
Politische als einen virtuellen Ort, an dem hegemoniale Strate-
gien versuchen, das Partikulare mit dem Universellen zusam-
menzuschließen, um im Namen des letzteren – d.h. des Ganzen4
– zu sprechen. (3) Sie lösen das Politische von seiner zeitlichen
DISKURSANALYSE 25

und räumlichen Verbindung mit partikularen hegemonialen Ver-


hältnissen und Regierungsformen, um eine »reine« Theorie des
Politischen voranzutreiben. Das heißt, eine Theorie, die nicht die
Funktion des Politischen mit seiner historisch kontingenten
Strukturierung verwechselt. (4) Sie argumentieren, der Versuch,
den Spalt zwischen dem Universellen und dem Partikularen zu
überbrücken, sei ein spezifisch politischer Akt, der gegenüber
der Artikulation hegemonialer Kräfte kontingent ist, und darü-
berhinaus kontingent gegenüber der Artikulation zwischen dem
Möglichen und dem Aktualen. (5) Sie betonen, daß Gewalt oder
das Treffen von Entscheidungen über die sie jeweils bedingende
Struktur hinausreicht und folglich nicht auf diese reduzierbar
ist, was den Grund dafür darstellt, warum der Moment des Poli-
tischen der Moment der Kreativität ist, d.h. der Instituierung
von Gesellschaft.
Diese fünf Punkte heben die Bedeutung der Relationen zwischen
Entscheidung, Struktur und Subjekt für die Konzeptualisierung
des Politischen hervor, sowie die Einsicht, daß Politik eine von
strategischen Kalkulationen durchdrungene hegemoniale Praxis
ist, der es um eine Artikulation zwischen Partikularität und Uni-
versalität – oder zwischen dem Aktualen und dem Möglichen –
geht. Außerdem unterstreichen sie, daß das Politische als eine
instituierende Aktivität verstanden werden muß, die partikulare
hegemoniale Konstellationen überwölbt, welche das Politische
auf bestimmte institutionelle Settings beschränken wollen.
Wir können diese Einsicht anders formulieren, indem wir von
zwei analytischen Ebenen sprechen: Eine Ebene »höherer Ord-
nung«, die das Politische als solches betrifft; und eine Ebene
»tieferer Ordnung«, die die besondere politische Strukturierung
hegemonialer Verhältnisse betrifft. Die Unterscheidung von zwei
Analyseebenen ist von direkter Tragweite für die Konzeptualisie-
rung des Politischen in der Diskursanalyse5. Solange wir uns auf
der tieferen Ebene situieren und die politische Identitätskonsti-
tution analysieren sind wir mit »gebundenen« Varietäten des Po-
litischen konfrontiert. Genau hier treffen wir auf all die bekann-
ten Vorstellungen vom Politischen: Daß es im Staat oder im
Klassenkampf lokalisiert sei, daß es mit Machtkämpfen um
wohlerworbene Interessen oder mit der Freund/Feind-Unter-
scheidung zwischen Nationalstaaten identifiziert wird, daß es
Konflikte über die Frage betreffe, wer, wann, was und wie be-
kommt, daß es wesentlich repressiv sei und um Ordnung be-
müht, etc.
26 TORBEN BECH DYRBERG

Sobald wir unsere Aufmerksamkeit auf das Argument lenken,


daß der Gegenstand des Politischen genau in der Konstitution
von Gesellschaft zu suchen ist, können wir nicht mehr innerhalb
dieser gebundenen Varietäten bleiben, da sie selbst historisch
spezifische Konstrukte sind, was bedeutet, daß sie bedingt durch
und damit kontingent gegenüber ihrer eigenen Artikulation sind.
Das Politische kann nicht auf bestimmte Regierungsformen ein-
geschränkt werden, was in der liberal-demokratischen Tradition
heißt, daß es nicht in die Unterscheidungen von Staat/Zivilgesell-
schaft, öffentlich/privat, Macht/Autonomie und so weiter ge-
preßt werden kann. Der Grund dafür liegt darin, daß wir uns
dem Politischen als transzendentaler »Reduktion von ›Faktum‹
auf ›Sinn‹, und vom ›Gegebenen‹ auf dessen Möglichkeitsbedin-
gungen« nähern. Das bedeutet, daß wir es als ontologische Kate-
gorie fassen, die für diese Unterscheidungen konstitutiv ist. Das
Politische ist als eine Ontologie von Möglichkeiten konzeptuali-
siert, die auf eine Artikulation zwischen Universalität und Parti-
kularität übergreift und eine zeitliche wie räumliche Dimension
besitzt.
An diesem Punkt müssen wir die höhergeordnete Analyseebene
»erfinden«. Angenommen die gebundenen Varietäten sind durch
ihre eigene Artikulation bedingt und diese Artikulation ihrerseits
ist nicht durch eine außerdiskursive oder prä-politisch gegebene
Realität gebunden, dann ergibt sich, daß die gebundenen Va-
rietäten durch etwas bedingt sind, das seinerseits nicht gebun-
den sein kann. Das letztere ist die Möglichkeitsbedingung des er-
steren: dessen transzendentaler Horizont6. Dieser Horizont kann
genausowenig gegeben sein, denn er wird nicht nur von den ge-
bundenen Varietäten hegemonialer Artikulationen vorausgesetzt,
er wird auch durch sie gesetzt. Wäre das nicht der Fall, würden
wir wieder bei einer Art von Objektivität landen, von der sich die
Diskursanalyse gerade loslösen will.
Die Einführung einer Ebene höherer Ordnung hat einen doppel-
ten Zweck: (1) Sie unterstreicht die Kontingenz hegemonialer
Verhältnisse, indem sie verdeutlicht, daß letztlich jede politische
Institution des Sozialen verschieden sein könnte, und daß konse-
quenterweise das Konzept des Politischen nicht selbst in Begrif-
fen des Gegebenen (oder des Kausalen oder der Determination)
gefaßt werden kann. (2) Sie betont, daß das Politische eine
»leere« Funktion ist, die das Gegebene und seine Möglichkeits-
bedingungen artikuliert, was bedeutet, daß das Politische als
eine »originäre Öffnung« verstanden werden kann, deren Funk-
DISKURSANALYSE 27

tion es ist, das Partikulare mit Referenz auf das Ganze zu aktua-
lisieren.
Das Politische als eine ontologische Kategorie indiziert, daß die
Funktion des Politischen nicht auf die spezifische Strukturie-
rung hegemonialer Verhältnisse eingegrenzt werden kann, und
daß sie die tatsächliche Strukturierung dieser Verhältnisse be-
dingt, ohne sie zu determinieren. Die in Laclaus und Mouffes
Werk verwendeten Schlüsselunterscheidungen zwischen dem
Partikularen und dem Universellen, dem Gegebenen und seinen
Möglichkeitsbedingungen, konkreter Ordnung und abstrakter
Ordnung, Diskurs und dem Diskursiven, deuten alle in Richtung
einer Unterscheidung zwischen einer Analyseebene tieferer und
einer höherer Ordnung, obwohl sie diese Terminologie nicht ein-
setzen. Aber diese Unterscheidungen deuten auch auf die Not-
wendigkeit eines »vermittelnden Glieds«, das der Artikulation
zwischen dem Gesetzten und dem Vorausgesetzten oder zwi-
schen der politischen Strukturierung und der politischen Struk-
tur entspricht.
An dieser Stelle treffen wir auf die Begriffe von Subjekt und Ent-
scheidung. Die politische Struktur bedingt aktuale7 hegemoniale
Verhältnisse, ohne sie determinieren zu können, und das bedeu-
tet, daß der Entscheidungsbegriff kapitale Bedeutung als vermit-
telndes Glied zwischen Subjekt und Struktur erhält. Der Mo-
ment der Entscheidung ist, in derridianischen Begriffen, der
Moment der Gewalt (die von Überredung bis zu physischem
Zwang reicht8), welche nicht mit der Struktur versöhnt werden
kann; oder korrekter, sie supplementiert die wesenhaft unent-
scheidbare Struktur. Die Supplementierung vervollständig sie
und kontaminiert sie gleichzeitig, da sie der Struktur ein »exter-
nes« Element einführt. Gerade weil die Struktur unentscheidbar
ist, kann sie das Aktuale nicht determinieren, und das beinhal-
tet, daß (1) das durch die Entscheidung hervorgebrachte Aktuale
notwendigerweise darin kontingent ist, daß der Gang der Aktua-
lisierung unterschiedlich verlaufen könnte. (2) Die Entscheidung
kann nicht vollständig rational motiviert sein, und daher kann
sie in nichts anderem letztgegründet werden als in sich selbst,
was keinesfalls sagt, daß sie nicht vernünftig sein kann. (3) Ent-
scheidungen sind performative Akte, die ipso facto die Unter-
drückung alternativer Optionen beinhalten, was darauf hinaus-
läuft, daß die Aktualisierung oder die Strukturierung des Mögli-
chen ein Machtakt ist, d.h. die Befähigung zu Agieren, die das
Subjekt ist. Und zuletzt ist (4) der hegemoniale Akteur weder ein
28 TORBEN BECH DYRBERG

Träger der Struktur noch vollständig von ihr unterschieden, son-


dern vielmehr in Relation zu ihr durch Identifikationsprozesse
konstituiert9.

DAS PARTIKULARE UND DAS UNIVERSELLE,


HEGEMONIE UND DAS POLITISCHE

»Politik [kann] als eine Praxis des Erzeugens, der Reproduktion


und Transformation sozialer Verhältnisse nicht auf einer bestimm-
ten Ebene des Gesellschaftlichen verortet werden, da das Problem
des Politischen das Problem der Einrichtung des Sozialen ist, das
heißt der Definition und Artikulation sozialer Beziehungen auf
einem kreuz und quer von Antagonismen durchzogenen Feld.«10
Um die Diskussion des Politischen und der Politik voranzubrin-
gen, ist es notwendig, zwischen den Bedingungen hegemonialer
Verhältnisse und aktualen hegemonialen Verhältnissen zu unter-
scheiden11: (1) Die Bedingung eines hegemonialen Verhältnisses:
die konstitutive Spaltung und die wechselseitige Kontamination
zwischen dem Partikularen und dem Universellen. (2) Das ak-
tuale hegemoniale Verhältnis: das Partikulare wird zum Signifi-
kanten der abwesenden gemeinschaftlichen Fülle von Gesell-
schaft.
Die Frage ist, worin – ausgehend von Laclaus Argumenten, He-
gemonie sei die zentrale Kategorie für ein Denken des Politi-
schen und das politische Moment sei das der Instituierung von
Gesellschaft – die Besonderheit des Politischen besteht. Da (1)
Bedingungen nur (2) determinieren können, und (2) nur ein par-
tikulares und somit kontingentes Strukturieren von (1) ist, kön-
nen wir sagen, die politische Praxis sei der Name für das aktuale
Strukturieren hegemonialer Verhältnisse in einer unentscheid-
baren Struktur, die das Politische setzt und voraussetzt. Das be-
inhaltet, daß das Politische im Sinne des Werdens des Aktualen
oder der Aktualisierung von Möglichkeit verstanden werden
kann, die um das Treffen von Entscheidungen als jener Praxis
kreist, welche ein kontingentes Glied zwischen dem Aktualen
und dem Möglichen – d.h. zwischen Teil und Ganzem, Zukunft
und Vergangenheit – schmiedet.
Entscheidungen spielen eine wichtige Rolle in dieser Konzep-
tualisierung des Politischen, weil sie das Glied zwischen (1) und
(2) sind, das heißt, zwischen der Bedingung des Aktualen und
DISKURSANALYSE 29

dem Aktualen selbst, wobei dieses einer Aktualisierung von jener


ist. Aber weil wir von einer Aktualisierung einer Funktion spre-
chen, die weder Inhalt noch Ziel besitzt, kann diese Aktualisie-
rung nicht einfach von dieser Funktion abgeleitet werden12. Das
impliziert erstens, daß die Entscheidung ein Schöpfungsakt –
ein Griff nach dem Möglichen – ist, der letztlich in keiner ande-
ren Instanz als sich selbst gegründet werden kann; und zweitens,
daß Entscheidungen die aktualen hegemonialen Verhältnisse
schaffen, indem sie die Möglichkeitsbedingung des Aktualen for-
men. Das bedeutet, sie systematisieren die Möglichkeiten von
Aktualisierung13.
Politik ist der Akt von Etablierung/Zerstörung, Bewahrung/Wan-
del des Verhältnisses zwischen dem Aktualen und seinen Mög-
lichkeitsbedingungen. Diese können gegenüber den zwei zur
Entscheidung gehörigen Aspekten der Erzeugung nicht einfach
etwas Gegebenes sein, gleichzeitig vorausgesetzt vom und ge-
setzt durch das Aktuale. Wir können das Verhältnis zwischen
dem Aktualen und dem Möglichen auf andere Art formulieren,
wenn wir sagen, der politische Moment sei jener der Aktualisie-
rung des Möglichen, und das impliziert, daß das Politische und
damit das Treffen von Entscheidungen das Aktuale transzen-
diert.
Die politische Instituierung des Sozialen besteht dann in Prakti-
ken von Etablierung/Zerstörung, Bewahrung/Wandel hegemo-
nialer Verhältnisse. Das ist der einzige Weg, auf dem diese Ver-
hältnisse ihren hegemonialen Status behalten und ausweiten
können, was seinerseits einen kontinuierlichen Prozeß der Ent-
scheidungsfindung erfordert. Der Grund dafür ist, daß der politi-
sche Moment – als die Aktualisierung des Möglichen, die das
Mögliche zur selben Zeit formt – der strategische Moment par
excellence ist. Entscheidungen werden in einer von Foucault so
genannten »komplexen strategischen Situation« von Macht-
kämpfen zwischen hegemonialen Strategien getroffen14. Es ist
wichtig anzumerken, daß das Politische zumindest drei eng mit-
einander verbundene Aspekte artikuliert. Das Politische hat kei-
nen spezifischen Ort, sondern ist ein Prozeß, der überall in der
Gesellschaft stattfinden kann; seine konkrete Form kann auf un-
endliche Weise variieren, weil sie nicht mit bestimmten Praxisty-
pen identifiziert werden kann ; und es transzendiert die aktuale
Strukturierung hegemonialer Verhältnisse zwischen öffentlich /
privat und Staat/Zivilgesellschaft, was bedeutet, daß es diese Un-
terscheidungen instituiert und modifiziert.
30 TORBEN BECH DYRBERG

Diese drei Dimensionen politischer Praxis stellen eine Verbin-


dung zwischen (1) und (2) her. Sie artikulieren das Mögliche und
das Aktuale, weshalb das letztere kontingent gegenüber dem er-
steren ist. Die Natur dieser Kontingenz zeigt sich durch die
transzendentale Reduktion »des ›Gegebenen‹ auf die Bedingun-
gen seiner Möglichkeit«, nämlich dadurch, daß die aktuale poli-
tische Strukturierung hegemonialer Verhältnisse notwendiger-
weise spezifischen Kontexten eingeschrieben ist. Politik ist ein
Spiel innerhalb gebundener Varietäten (dem Aktualen) und mit
der Möglichkeit zu binden, was noch nicht gebunden ist – die
freien Varietäten (das Mögliche). Das Aktuale ist kontingent ge-
genüber seinen Potentialen, was eine andere Art ist zu sagen,
daß es gegenüber seinem Werden kontingent ist, nämlich Frei-
heit als der Möglichkeit des Möglichen.
Die politische Instituierung des Sozialen kann dann nicht ein-
fach in Begriffen der Strukturierung aktualer hegemonialer Ver-
hältnisse konzeptualisiert werden, da diese kontingent gegen-
über den ontologischen Potentialen ihrer Verankerung in der un-
entscheidbaren politischen Struktur sind, die sie dementspre-
chend nicht kontrollieren können. Das Politische überflutet im-
mer seine Aktualisierungen, denn das Aktuale ist sowohl Manife-
station oder Realisierung des Möglichen, als auch die Arretie-
rung oder Blockade dieses Möglichen, wobei sich letzteres in der
Möglichkeit anderer Vorgehensweisen zeigt oder einfach in der
Fähigkeit zu Agieren (in einem Wort: in Macht). Der Grund
dafür ist, daß Aktualisierung, als das Werden des Möglichen
durch Entscheidungen, eine spezifische Artikulation dieser oder
jener Möglichkeit ist – und damit eine Vernichtung anderer
Möglichkeiten. Realisierung und Blockade sind zwei Seiten der-
selben Medaille, indem erste nur eine bestimmte Form anneh-
men kann, die ipso facto die Blockade freier Variationen mit sich
bringt. Als das Glied zwischen dem Aktualen und dem Mögli-
chen dreht sich das Politische um die Artikulation von Inklusion
und Exklusion.
Wenn das Politische seine aktual institutionalisierten und insti-
tutionalisierenden Manifestationen immer übersteigt – wenn ein
hegemoniales Verhältnis nur ein Weg ist, auf dem das Politische
zu einem gegebenen Punkt in Zeit und Raum hegemonisiert
wird, und wenn diese Hegemonisierung notwendigerweise eine
partikulare Bindung von Möglichkeiten darstellt – dann kann
jede konkrete Strukturierung des Politischen nichts anderes als
ein kontingentes Resultat hegemonialer Verhältnisse sein. Aber
DISKURSANALYSE 31

das bedeutet ebenfalls, daß das Politische über die Aktualität


dieser Verhältnisse hinausschießt, indem es zeigt, daß diese –
aufgrund der Unentscheidbarkeit der sie bedingenden Struktur –
auf kontingente Weise hervorgebracht wurden, und darüberhin-
aus durch die politische Funktion der artikulierenden Partikula-
rität zeitlich und räumlich bedingt waren.
Wir sind jetzt in der Lage, die soweit diskutierten Schlüsselas-
pekte des Politischen und der Politik zusammenzufassen.
(1) Das Politische ist ein konstitutives Ordnungsprinzip jeder
Gesellschaftsform und jedes hegemonialen Verhältnisses, dem
keinerlei Inhalt, Ziel oder Bedürfnis eingebaut ist, sowenig wie
es die Kapazität, irgendetwas zu verursachen oder zu determi-
nieren hat. (2) Der Grund liegt darin, daß es einen unüberbrück-
baren Spalt zwischen dem Möglichen und dem Aktualen gibt,
wobei das Politische als ein Reservoir an unbegrenzten Varietä-
ten gesehen werden kann. (3) Die Möglichkeit, von diesem Re-
servoir Gebrauch zu machen, erfordert, daß dieser Spalt durch
Entscheidungen vermittelt wird, was nur auf kontingente und
provisorische Weise erfolgen kann. (4) Das Politische ist inner-
halb wie oberhalb des Sozialen, da es dessen immanentes kon-
stitutives Prinzip ist, was bedeutet, daß das Verhältnis zwischen
dem Politischen und dem Sozialen nicht so einfach als antagoni-
stisch verstanden werden kann. Das Verhältnis ist grundsätzlich
ein Differenzverhältnis. (5) Hegemoniale Verhältnisse konstitu-
ieren sich – und damit ihre partikulare Identität, ihre Lebensfor-
men, Regeln, usw. – vis-à-vis von Grenzen (Inklusion/Exklusion),
die in ein und demselben Prozeß die Realisierung und Blockade
der Identität konstituieren. (6) Das Politische ist der spezifi-
schen historischen Strukturierung hegemonialer Verhältnisse, in
denen das Politische im Staat, in öffentlichen Räumen oder kon-
fligierenden Willen geortet oder mit diesen identifiziert wird,
analytisch vorgängig und logisch von ihr unabhängig.

DISLOKATION, ANTAGONISMUS UND IDENTITÄT

»Worum es sich beim puren Antagonismus dreht, ( … ) ist die


Tatsache, daß die Negativität des anderen, der mich am Errei-
chen meiner vollen Selbstidentität hindert, nur eine Externali-
sierung meiner eigenen Auto-Negativität ist, meiner Selbst-Be-
hinderung«15
Einen Antagonismus charakterisiert, daß er ein Relationstyp ist,
32 TORBEN BECH DYRBERG

in dem die Präsenz des Andern mich daran hindert, »gänzlich


Ich selbst zu sein. Das Verhältnis entsteht nicht aus vollen Iden-
titäten, sondern aus der Unmöglichkeit ihrer Konstitution.«16(1)
Das antagonistische Verhältnis steckt die Grenze einer Identität
ab, die als Blockade von Identität erfahren wird. (2) Antagonis-
mus zeigt das Scheitern der Konstituierung von Identität, von
»vollständig Ich-Selbst-Sein«, d.h. er zeigt deren kontingente
Natur. Und er ist (3) ein Versuch, mit dieser Situation umzuge-
hen, indem benannt wird, was die Identität (den Anderen)
blockiert, was als Inkarnation der Unmöglichkeit des »Sein-was-
man-ist« konstruiert ist. Letzteres suggeriert eine Identität zwi-
schen »Sein« und »ist«, (d.h. Existenz): ein voll konstituiertes
Selbst.
Um konstitutiv für Identität zu sein, ist es für den Antagonismus
nicht ausreichend, eine Diskrepanz zwischen Sein und Identität
anzuzeigen. Darüberhinaus ist erforderlich, daß Antagonismus,
und somit die Unmöglichkeit der Erfüllung von Identität, eine
konstitutive Rolle in genau diesem Identifikationsprozeß spielt,
womit Antagonismus als die Grenze in und von Zeit und Raum
gesehen werden kann, welche Identität in einer simultanen Ope-
ration von Konstitution und Blockade von Identität situiert. Wir
stehen damit dem offensichtlichen Paradoxon gegenüber, daß
die Ermöglichungsbedingung von Identität gleichzeitig deren
Unmöglichkeitsbedingung ist.
Vor diesem Hintergrund sollten die vier erwähnten Aspekte des
Antagonismus gesehen werden, nämlich Grenze, Blockade, Kon-
tingenz und die Benennung des Anderen. Die zirkuläre Struktu-
rierung von Identität kann nie zur Erfüllung gebracht werden
oder sich selbst vollständig einkreisen, da sie durch die Unmög-
lichkeit ihrer Erfüllung selbst hervorgebracht wird17. Identität
kann nur sein, was sie ist, indem sie sich von ihr selbst unter-
scheidet, und diese Differenz ist von ihrer Natur her nicht ver-
stehbar, sondern kann nur in Dislokation und Antagonismus ge-
zeigt werden.
Die schlechte Unendlichkeit der Linearität wird ersetzt durch
eine konstitutiv beschädigte Zirkularität, in welcher Identifika-
tionsprozesse versuchen, den leeren Platz der Identität (eine
Leere, die Identifikation auslöst) einzukreisen und damit auszu-
füllen. Das Subjekt ist lokalisiert in und der Name von dieser
Leere purer Differenz. Es kann nur existieren als Grenze zwi-
schen dem Möglichen und dem Aktualen – als eine immer-schon
blockierte Identität –, da Identität ein metaphorischer Effekt ih-
DISKURSANALYSE 33

rer Aktualisierung ist, deren modus operandi der Identifikations-


prozeß ist. »Das Subjekt ist«, wie Laclau sagt, »die Distanz zwi-
schen der Unentscheidbarkeit der Struktur und der Entschei-
dung«. Das Subjekt ist die Distanz oder Mangel in der Struktur,
ihre konstitutive Unvollständigkeit, die die Entscheidung
zwingt, sie zu supplementieren, was seinerseits das Subjekt in
ein strukturales Setting einführt, eine Einführung, die letztend-
lich vereitelt wird. Wenn das Subjekt nur als Blockade seiner
selbst existieren kann, indem es sich selbst als unbekannt setzt
und voraussetzt, als ein Spalt zwischen »es« und »selbst«, hat es
dennoch diese Unmöglichkeit seiner Identitätserfüllung zu ex-
ternalisieren, indem es sich in etwas verkörpert18.
Zu behaupten, daß Antagonismus identitätskonstitutiv ist, be-
deutet, daß er notwendig an die Aktivitität der Systematisierung
von Differenzen gekoppelt ist. Der Grund ist, daß Antagonismus
aus dem Versuch entsteht, das Unbekannte zu eliminieren, wenn
dieses Unbekannte als Dislokation sedimentierter Praktiken er-
fahren wird, die sich in Meinungen, Normen, Regeln, Erwartun-
gen, etc. ausdrücken. Antagonismus ist mit anderen Worten un-
vermeidbar, wenn man Differenzen verstehen und sich – sowie
größere Aggregate – zwischen Universalität und Partikularität si-
tuieren oder diese mit jener verbinden (und damit beide kon-
struieren) will. Aber das bedeutet nicht, daß Antagonismus Kon-
flikte über wohlerworbene Interessen zur Folge hätte, oder daß
Freund/Feind-Relationen unvermeidlich wären. Diese sind nur
Beispiele tiefergeordneter Manifestationen des Antagonismus.
Um mit Dislokationen oder einem unterbrechenden Moment
umzugehen, sind wir ins Unbekannte geworfen und damit in
mehr oder weniger unvorhersagbare Signifikationsspiele, die
unsere Identität re-lozieren und re-situieren.
Es ist wichtig anzumerken, daß Antagonismus als solcher nichts
darüber sagt, daß er notwendig gegen eine Tätigkeit gerichtet
sein muß, die mit dem unterbrechenden Moment verbunden
und damit als Verkörperung des Moments der Negativität ver-
standen wird. Es ist deshalb notwendig, zu unterscheiden zwi-
schen Antagonismus als der Erfahrung der Blockade von Iden-
tität, die eine Affinität mit Dislokation hat, und der Reaktion auf
diese Erfahrung, das heißt, wie sie in Äquivalenzketten konstru-
iert wird, wessen Stärke des Zusammenhalts der Konstruktion
des Anderen entspringt. Die Negation von Identität hat keine
Richtung und keinen Adressaten. Sie mag sich in der Benen-
nung eines öffentlichen Feinds ausdrücken, der – aus welchen
34 TORBEN BECH DYRBERG

Gründen auch immer – als Inkarnation meiner Unmöglichkeit


gesehen wird, »vollständig ich selbst zu sein«, sie kann als Her-
ausforderung betrachtet werden, mit der umgegangen werden
muß, oder sie mag in einer traumatischen Introversion enden,
die mehr oder weniger die Aktionsfähigkeit paralysiert. In jedem
Fall müssen wir, wenn wir einmal das Diktum der Einheit des
Subjekts aufgegeben haben, die Möglichkeit einrechnen, daß es
selbst im Fall von, sagen wir, nur zwei Individuen verschiedene
Akteure oder Kräfte gibt, die den leeren Platz des Subjekts aus-
zufüllen versuchen. Der Grund dafür ist, daß das Subjekt der
Kampflatz dieser Kräfte ist, die auf mehr oder weniger
kohärente, inkonsistente oder antagonistische Weise hegemoni-
siert sind.
Wir sagten bereits, daß Dislokation dem Antagonismus vorgän-
gig ist, da sie als Ereignis nicht kodiert werden kann, während
Antagonismus aus der Negation der Identität entsteht, in der
versucht wird, das unterbrechende Moment zu kodieren. Den-
noch setzt Ereignis qua Ereignis Systematizitätsmuster voraus,
und die Prozesse der Systematisierung von Differenzen sind, wie
erwähnt, eng an den Antagonismus gekoppelt. Ob Dislokation
und Antagonismus simultan sind oder ein Term den anderen
vorgängig ist, ist dann nicht wirklich entscheidend. Es zählt, daß
sie einander sozusagen speisen. Um in diesem Problem weiter
vorzudringen, müssen wir den Prozeß der Systematisierung von
Differenzen betrachten – und wie dieser mit dem Politischen
und Politik verbunden ist.
Antagonismus spielt eine wichtige Rolle in der politischen Kon-
stitution des Sozialen, da er das Vehikel hegemonialer Versuche
ist, durch die Internalisierung des Möglichen als einer blockier-
ten, noch-zu-werdenden Aktualität mit der Selbstblockade des
Subjekts umzugehen. Das ist Werden oder Aktualisierung: die
Dislokation zwischen dem Möglichen und dem Aktualen, sowie
die Bindung des Möglichen bevor es es aktual wird, das heißt die
Bindung freier Varietäten als einer noch-zu-kommenden Aktua-
lität. Politik als Aktualisierungspraxis handelt nicht nur von
Konflikten oder wohlerworbenen Interessen; sie ist zuallererst
die Strukturierung von Möglichkeiten19. Die Internalisierung der
Möglichkeiten des Subjekts, zu sein »was es ist«, formt dessen
Identität. Im Bemühen, das Mögliche zu aktualisieren, ist das
Subjekt im strategischen Manöver engagiert, Zeit und Raum zu
binden, um sich selbst zu positionieren. Dieser Versuch, Aktuali-
sierung(en) zu systematisieren, der gleichzeitig eine Bindung
DISKURSANALYSE 35

der Artikulation zwischen dem Aktualen und dem Wirklichen


ist, charakterisiert die Politik von Differenzsystemen. Politik be-
schäftigt sich daher mit der hegemonialen Systematisierung von
Differenzen.

ANTAGONISMUS UND DIE POLITIK DER


SYSTEMATISIERUNG VON DIFFERENZEN

»Antagonismus ist die Grenze des Sozialen, der Zeuge einer ulti-
mativen Unmöglichkeit von Gesellschaft, der Moment, in dem das
Gefühl der Prekarität seinen Höhepunkt erreicht. Antagonismus
operiert in einem Differenzsystem, indem er Differenzen zusam-
menbrechen läßt. Und Differenzen läßt man zusammenbrechen,
indem man Äquivalenzketten erzeugt.«20
Von einem System von Differenzen zu sprechen, heißt, daß ver-
schiedene Differenzen (z.B. Aktionen, Praktiken, Lebensformen,
Regeln, Entitäten, Entwicklungen) als Teil des Systems konstru-
iert wurden. Von einem System zu sagen, es sei konstruiert, im-
pliziert dreierlei:
(1) Das System kann nicht die gemeinsame Klasse einer extra-
diskursiven Einheit seiner Elemente sein, d.h. das System kann
nicht in Referenz auf eine Realität »wie sie ist« gegeben sein,
wenn wir darunter eine objektiv gegebene Ordnung verstehen.
Es ist vielmehr eine Realitätsreduktion, die es mit einem »Lek-
türeprinzip« ausstattet, welches in Strategien von Macht-Wissen
verwickelt ist. Zu sagen, daß die Verständlichmachung von Rea-
lität deren Reduktion mit sich bringt, beinhaltet, daß Realität
per definitionem über jeden Versuch ihrer Systematisierung hin-
ausschießt. Dieser Überschuß zeigt sich selbst als alternatives
Lektüreprinzip, das in hegemonialen Kämpfen engagiert ist. Die
Kontingenz eines Systems ist daher durch das bedingt, was das
System zuallererst bedingt, nämlich dessen Realitätsreduktion,
dessen Bedeutungsüberschuß und der Kampf zwischen beiden,
die unvermeidlicherweise diese Reduktion begleiten. Durch die
Systematisierung des Aktualisierungsprozesses bindet das Sy-
stem – räumlich wie zeitlich – das Mögliche, aber es ist nicht
fähig, sich selbst einzukreisen, d.h. das zu binden, was es zual-
lererst bedingt.
(2) Die Systematizität des Systems kann nicht von der Struktur
der Realität selbst abgelesen werden, nicht nur weil das bloß
eine weitere Metapher eines bestimmten Lektüreprinzips wäre
36 TORBEN BECH DYRBERG

(was, wie hinzugefügt werden könnte, vorgeblich von nirgendwo


spricht, daher dessen Anspruch auf Neutralität und Objekti-
vität), sondern weil diese »Selbstheit« immer schon gespalten
ist. Es folgt, daß die Identität und somit die Konstruktion und
Destruktion von Systemen von einer anderen Logik geleitet
wird, und hier finden wir die Logik von Differenz und Äquiva-
lenz. In der Konstruktion eines Systems werden dessen verschie-
denen Differenzen als äquivalent gegenüber dem System kon-
struiert, und das bedeutet, daß das System eine doppelte Auf-
gabe erfüllt: Während es sie als Differenzen organisiert, bindet
es diese Differenzen auf eine Weise zusammen, die mehr oder
weniger deren Differentialität subvertiert. Die Systematisierung
von Differenzen bietet ein Lektüreprinzip, weil Signifikation nur
durch die Bindung der freien Variation von Differenzen entste-
hen kann. Die Struktur eines Differenzsystems ist daher eine
durchgehend diskursive Strukturierung von Differenzen.
(3) Die konstruierte Natur von Systemen – daß sie von der Diffe-
renz- und Äquivalenzlogik geleitete Lektüreprinzipien sind, die
versuchen, den Aktualisierungsprozeß zu regulieren – bringt mit
sich, daß ein System ein hegemoniales Konstrukt in zweierlei
Hinsicht ist. (i) Das System ist eine mit Kalkulationen durch-
tränkte strategische Systematisierung von Differenzen, die
durch den Spalt zwischen dem Partikularen und dem Universa-
len bedingt ist, und deren raison d’être es ist, das erstere in letzte-
res einzuspeisen. Das ist, wie erwähnt, eine Artikulation, die
durch reziproke Kontamination gekennzeichnet ist, so wie Parti-
kularismen wie Autonomie und Gleichheit zu Signifikanten der
abwesenden Fülle der Gesellschaft werden. (ii) Das System ist
darüberhinaus hegemonial, da es die Systematisierung des Ak-
tualisierungsprozesses anstrebt, und das impliziert eine retroak-
tive Bindung von Zeit, was untrennbar von einer partikularen
Strukturierung von Raum ist. Nur weil Identität nur in Identifi-
kationsprozessen existieren kann, verlangt die Identität des Sy-
stems eine fortgesetzte temporale und räumliche Strukturie-
rung.
Diese drei Aspekte der konstruierten Natur von Systemen kön-
nen nur in andauernden Prozessen der Systematisierung von
Differenzen existieren, wobei das Konzept »System« eine Abkür-
zung für die Systematizität von Differenzen ist. Während für die
Konstitution differentieller Identität und für Signifikation im
allgemeinen System erforderlich ist, ist es gleichzeitig eine parti-
elle Subversion von Identität aufgrund der partiellen Verkettung
DISKURSANALYSE 37

von Differenzen. System ist tatsächlich ein unmögliches Objekt –


genauso wie Identität –, da es sich nicht vollständig konstitutie-
ren und repräsentieren kann. Es ist die Metapher einer abwesen-
den Fülle oder der Referenzpunkt eines unmöglichen Totalisie-
rungsprozesses21, die nur als ein überdeterminierter Effekt der
Artikulation zwischen den Elementen existieren kann, die es
konstituieren, d.h. im Schnittpunkt von Differenz und Äquiva-
lenz.
Die Systematisierung von Differenzen ist ein andauernder politi-
scher Prozeß, der durch viele Unterscheidungen charakterisiert
werden kann: Er kann schnell oder langsam sein, turbulent oder
beständig, fragil oder stabil, schnell wechselnd oder hochgradig
sedimentiert. Er kann ebenso konfliktuell oder konsensuell sein,
hierarchisch oder egalitär, beherrschend oder befreiend. Der po-
litische Aspekt des Systematisierungsprozesses kann nicht an
eine Seite dieser Unterscheidungen geknüpft werden, sodaß er
etwa turbulent, konfliktuell, hierarchisch und dominierend wäre
– gegenüber beständig, konsensuell, egalitär und befreiend. Die
ontologische Unterscheidung zwischen dem Politischen und
dem Sozialen läuft nicht entlang dieser Linien, da sie zur tiefer-
geordneten Strukturierung sozialer Verhältnisse gehören22. Wie
Foucault heraushebt, gibt es Politik nicht trotz, sondern gerade
aufgrund der Existenz sedimentierter und normalisierter institu-
tioneller Praktiken.
Antagonismus existiert vis-à-vis Systemen: Er kann sowohl in,
als auch zwischen Systemen erscheinen. Ob ein Antagonismus
zu Disintegration eines Systems führt oder nicht, hängt von der
Beharrlichkeit des Systems ab. Die Systempersistenz führt zu
den oben erwähnten Unterscheidungen, was beinhaltet, daß es
Wandel nicht feindlich gegenübersteht. Es mag sogar der Fall
sein, daß der einzige Weg, in dem ein System fortbestehen kann,
Wandel ist. Die antagonistischen Parteien setzen das System mit
seinen geschriebenen und ungeschriebenen Regeln voraus, was
am evidentesten ist, wenn sie ihre konfligierenden Forderungen
an die Autoritäten des Systems richten. System ist daher der
Kontext des Antagonismus, der seinerseits das System setzt und
voraussetzt, da Antagonismus Ursache und Effekt des Systema-
tisierungsprozesses ist. Daher wäre es inkorrekt zu behaupten,
daß Antagonismus notwendig das System desintegriert, da er ge-
nauso eine zentrale Rolle in dessen Konstitution und Fortbe-
stand spielt.
Eine politische Strategie ist mit der Systematisierung von Arti-
38 TORBEN BECH DYRBERG

kulationen gegenüber einem System befaßt. Das heißt, sie bindet


Zeit und Raum so, daß sie als Vehikel einer systematischen Ak-
tualisierung funktionieren können, um eine hegemoniale Posi-
tion zu errichten oder zu halten. Nur aufgrund der Referenz auf
diese Systematizität von Artikulationen zwischen dem Aktualen
und dem Möglichen zeigen hegemoniale Verhältnisse Wirkung.
Die politische Dimension einer Strategie konzentriert sich daher
auf die Frage, wie Systeme sich zueinander – sowie im Verhält-
nis zu ihren Elementen – artikulieren und positionieren. Diese
zwei Aspekte sind offensichtlich eng miteinander verbunden.
Je stärker ein System desintegriert, desto einfacher wird es sein,
seine Subsysteme in andere Systeme zu artikulieren, da es zu-
nehmend schwieriger für diese Subsysteme wird, sich als zum
gleichen System gehörig zu identifizieren. Um es in die Termino-
logie der Diskursanalyse zu fassen: Je stärker ein hegemonialer
Block desintegriert, desto stärker werden seine Teile von »Mo-
menten« im System zu »Elementen« transformiert, die flottie-
rende Signifikanten sind, welche von keiner hegemonialen Kraft
artikuliert werden. Die Bewegung von Moment zu Element
kennzeichnet eine »Organische Krise« für einen hegemonialen
Block und deutet in der Folge auf die Möglichkeit neuer politi-
scher Artikulationen. Im Fall von Integration findet das Gegen-
teil statt. Das System wird zum Knotenpunkt – zu einem meta-
phorischen Fixpunkt – für den Systematisierungsprozeß »sei-
ner« Differenzen, die sich umgekehrt als Momente im partikula-
ren System identifizieren, wobei das hegemoniale Verhältnis ge-
stärkt wird.
Wenn die politischen Strategien mit der Systematizität der Sy-
steme befaßt sind, heißt das gleichzeitig: Was die Strategie poli-
tisch macht, ist deren Versuch, mit dem Ganzen umzugehen23.
Weil Politik in Begriffe von Hegemonie gefaßt wird, kann sie als
eine Aktivität gesehen werden, die die Metapher von Ganzheit
setzt und voraussetzt. Diese Orientierung zum Ganzen ist ein hi-
storisches a priori von Politik, unabhängig von den spezifischen
Weisen, auf die sie manifestiert werden kann. Politik ist die Akti-
vität des Umgangs mit der Einführung des Partikularen ins
Ganze: der Positionierung des Teils gegenüber dem Ganzen, zeit-
lich und räumlich. Der Unterschied zwischen totalitären und de-
mokratischen Regierungsformen liegt dann nicht im Bezug auf
Totalität, sondern vielmehr in der Frage, wie die totalisierenden
Effekte strukturiert sind und also wie Teil und Ganzes miteinan-
der artikuliert werden. In einem hypothetischen »geschlossenen
DISKURSANALYSE 39

System« kann die Totalität als vollständig der strukturierenden


Kraft des hegemonialen Blocks eingeschrieben gesehen werden,
was in »offenen Systemen«, wo die Totalität eher ein Horizont
ist, der nie erreicht werden kann, nicht der Fall ist24.
Wenn politische Strategien die Systemmetapher hegemonisieren
wollen, sind sie Vehikel von Systematisierungsprozessen, die
überall stattfinden. Politik ist die hegemoniale Systematisierung
von Differenzen in Zeit und Raum in und zwischen Systemen.
Systematisierung besteht aus der Artikulation des Aktualen und
des Möglichen, was der Grund dafür ist, warum Aktualisierung
im Sinne von strategischen Kalkulationen verstanden werden
muß. Politik will Mögliches realisieren und Möglichkeit zualler-
erst konstituieren; und sie versucht ebenfalls, mit möglichen
Dislokationen umzugehen, um die eigenen Optionen zu erhalten
und zu verbessern, was die Form annehmen kann, Ereignisse zu
verhindern oder anzuzetteln. Realisierung setzt das Mögliche
und setzt es voraus. Eine Strategie, die sich auf das gegeben
Scheinende beschränkt, wäre kaum fähig, die Aufgabe der Sy-
stempersistenz zu erfüllen, da diese davon abhängig ist, sich an
Änderungen in der Systemumgebung anzupassen.

SYSTEM, HEGEMONIE, ARTIKULATION

»[A]ntagonismus und Ausschließung sind für jede Identität kon-


stitutiv. Ohne Grenzen, durch die eine (nicht-dialektische) Negati-
vität konstruiert wird, hätten wir eine unendliche Zerstreuung von
Differenzen, deren Absenz von systematischen Grenzen jede diffe-
rentielle Identität verunmöglichen würde. Aber es ist genau diese
Funktion, differentielle Identitäten durch antagonistische Grenzen
zu konstituieren, die zur selben Zeit diese Differenzen destabilisiert
und subvertiert.«25
Dieses Zitat ist aus zwei Gründen wichtig: Es unterscheidet zwi-
schen Differenz und differentiell, und es kategorisiert Negati-
vität als systematische Grenze im Begriff einer Funktion. Anta-
gonismus kann Differenz nicht entgegengesetzt sein, da er eine
bestimmte Kodierung letzterer ist. Was jedoch einander ent-
gegengesetzt sein kann, sind antagonistische und differentielle
Identitäten. Differenz ist eine übergreifende Kategorie – eine
höhergeordnete konzeptuelle Ebene –, welche die relationale
Identitätskonstruktion durch Artikulation anzeigt. Wenn wir zur
40 TORBEN BECH DYRBERG

untergeordneten Ebene gehen, sind wir mit den polaren Extre-


men von antagonistisch und differentiell konstruierten Identitä-
ten konfrontiert, wo antagonistische Identitäten die differentiel-
len durch die Einsetzung systematischer Grenzen konstitu-
ieren26.
Diese Grenzen werden als Funktion beschrieben, aber es ist kein
funktionalistischer Typus von Funktion, sondern eher ein »lee-
rer«, da er mit keinem Telos gegenüber dem gesellschaftlichen
Ganzen ausgestattet ist. Er konstituiert differentielle Identitäten,
destabilisiert und subvertiert aber auch die Differenzen, die die
Identitäten bedingen. Die Funktion ist daher selbst der Ort von
Unentscheidbarkeit. Sie ist eine politische Funktion, da sie der
Angelpunkt ist, um den die Systematizität von Differenzen
kreist, die das Vehikel der Unentscheidbarkeit ist. Daher besitzt
diese Funktion weder Ursprung noch Telos.
Wir werden nun sehen, wie sich Antagonismus zur Konstitution
von Systemen differentieller Identitäten verhält, die durch die
Logik von Differenz und Äquivalenz strukturiert werden. Anta-
gonismus und System konstituieren und subvertieren sich
gegenseitig: Es ist das System, das Antagonismus bedingt und si-
tuiert, aber Antagonismus ist ebenfalls konstitutiv für das Sy-
stem, indem er es formt, verändert und unterminiert. Nehmen
wir zwei Agentent an (A und B)27, sowie die Entwicklung ihrer
Relation hin zu einem Antagonismus. Dabei wird die frühere dif-
ferentielle Relation zwischen ihnen durch eine ersetzt, in der A
verschiedene Elemente als Momente in einer Äquivalenzkette
konstruiert, welche die Negation von A symbolisiert, und in der
B die Präsenz des »Anderen« symbolisiert, der A davon abhält,
seine Identität auszufüllen. Die Situation ist: B ≡ ∑(b1, b2, … .,
bn) ≡ non-A. B’s Identität wird durch A in einer Äquivalenzkette
zwischen verschiedenen Elementen konstruiert: ∑(b1, b2, … .,
bn), was der Grund dafür ist, warum B ein Symbol der Negation
von A ist: non-A. Umgekehrt mag B eine Äquivalenzkette kon-
struieren, in der A B’s Unmöglichkeit, seine Identität zu errei-
chen, symbolisiert. Hinsichtlich seiner Effekte kann der Antago-
nismus symmetrisch und asymmetrisch sein. Im zweiten Fall
haben wir eine Relation von Beherrschung und Unterordnung,
in der das ungeordnete Subjekt nicht fähig ist, sich als hegemo-
niale Kraft zu organisieren. Das heißt, es ist nicht fähig, einen
politischen Feind zu benennen oder festzunageln.
Das System nimmt durch diese Prozesse Form an, da die Syste-
matisierung von Differenzen diese entsprechend der Form der
DISKURSANALYSE 41

Äquivalenzkette teilweise subvertiert: ∑(b1, b2, … ., bn). Als me-


tonymische Verkettung von Elementen kann die Äquivalenzlogik
nicht von alleine den Antagonismus erklären, d.h. die Konstitu-
tion eines Systems. Der Systemeffekt, der als die politische Insti-
tution des Systems verstanden werden kann, besteht in der Ab-
steckung der Grenzen und damit der Identität des Systems.
Diese Grenzen können nicht selbst durch das System signifiziert
werden, da sie in diesem Fall innerhalb des Systems liegen müß-
ten. Sie wären ein differentielles Moment im System, weshalb
sie nicht die Grenzen des Systems sein könnten. Die Systemati-
zität der Differenzen kann also nicht eine weitere Differenz sein,
sondern sie ist im Gegenteil das, was diese Differenzen als Diffe-
renzen erklärt und gleichzeitig deren partielle Subversion28.
Der einzige Weg, durch den ein System sich selbst signifizieren
kann – und damit mit sich identisch sein –, ist durch die Block-
ade des differentiellen Moments und dadurch die Signifikation
des Systems. Es ist diese Blockade, die Laclau ausschließende
oder wahre Grenzen nennt, die antagonistisch sind, im Unter-
schied zu differentiellen oder neutralen Grenzen. »[W]as die Be-
dingungen der Möglichkeit eines Bezeichnungssystems bildet –
sein Grenzen –, bildet auch die Bedingung seiner Unmöglichkeit
– eine Blockade der fortgesetzten Ausweitung des Bezeichnungs-
prozesses.« Es folgt, daß »wenn Systemhaftigkeit des Systems
eine direkte Folge der ausschließenden Grenze ist, dann ist es al-
lein diese Ausschließung, welche das System als solches grün-
det«29 Die politische Institution eines System ist eine unaufhörli-
che Aktivität, die mit systemischem Fortbestand verbunden ist
und erfordert, daß die äquivalentielle Logik eine raum-zeitliche
Einschließung erzeugt, die es möglich macht, Aktualisierung zu
systematisieren. Das Fortbestehen dieser Systematizität von Ak-
tualisierung schafft einen zirkularen Prozeß, in dem das System
sich erkennt »wie es ist«. Nur durch die Setzung seiner eigenen
Voraussetzungen kann auf diese Weise so etwas wie Selbstrefe-
rentialität entstehen, was die conditio sine qua non für das Sy-
stem ist. Daher wird Identität retroaktiv im Identifikationspro-
zeß konstruiert.
Äquivalenzketten werden zwischen Differenzen etabliert, und
diese Differenzen könnten nicht einmal als Differenzen wahrge-
nommen werden, wenn sie nicht bereits systematisiert wären.
Die Situation ist nicht so, daß wir zuerst eine amorphe Masse
von Differenzen hätten und dann die Negation einiger dieser Dif-
ferenzen. Im Gegenteil, Negativität (Grenzen) ist gerade die Vor-
42 TORBEN BECH DYRBERG

aussetzung, um Differenzen zu konzeptualisieren. Wenn Negati-


vität Differenzen nachgeordnet oder ihnen gegenüber parasitär
wäre, könnte sie keine konstitutive Funktion erfüllen und würde
daraufhin in einem kontingenten Verhältnis zu Differenzen ste-
hen. Das Ergebnis wäre, daß es möglich würde, sich pure Diffe-
rentialität ohne Beeinflussung durch Negativität vorzustellen30.
Die Pointe ist jedoch, daß Differenz und Äquivalenz einander be-
dingen und miteinander artikuliert sind; Differenz setzt Syste-
meffekte (und setzt sie voraus), damit sie überhaupt Differenzen
sind; und das Vehikel der Systemeffekte ist Negativität, wobei
reine Differentialität unmöglich ist. Wiederum ist die Bedingung
der Möglichkeit von Differenzen auch Bedingung von deren Un-
möglichkeit, der Unmöglichkeit, sich vollständig als Differenzen
zu etablieren. Fülle wird zur Metapher einer konstitutiven Un-
möglichkeit, die Identität konstituiert und subvertiert. Die Er-
fahrung dieser Unmöglichkeit ist der Augenblick des Antagonis-
mus.
Das System ist Medium wie Resultat der Konstruktionen von
Äquivalenzketten. Es ist ein Medium, weil diese Konstruktionen
nicht in einem Vakuum stattfinden, sondern immer situiert sind,
und daher gibt es immer eine Form von Artikulation mit Tradi-
tionen, Werten, Regeln, Verpflichtungen, sozialen Positionen
und ähnlichem. Das System ist also ein Resultat, weil es Form
annimmt, Wandel unterliegt und durch diese Prozesse subver-
tiert wird. Zu sagen, ein System sei Medium wie Resultat, signa-
lisiert die enge Artikulation zwischen Zeit und Raum. Wenn A
und B als Symbole der Unmöglichkeit des jeweils anderen kon-
struiert werden, seine Identität zu erreichen, wird sowohl eine
zeitliche, als auch eine räumliche Dimension hervorgerufen. Das
ist Folge des hegemonialen Versuchs, das Mögliche als eine noch
hervorzubringende Aktualität zu binden – und als eine Aktua-
lität, die immer schon »da« war.
Einige der hervorragendsten und mächtigsten politischen Meta-
phern werden in diese Artikulation von Möglichkeiten investiert:
Die verlorene Tradition oder das verlorene Land zurückzuer-
obern, das sind typische konservative, rassistische und nationali-
stische Metaphern, deren aggressive Rhetorik darauf zielt, eine
Artikulation zwischen Vergangenheit und Zukunft zu schmie-
den, die einen diskursiven Raum öffnet und einen Stammbaum,
in den Ereignisse eingereiht werden können. Es stärkt ein Lek-
türeprinzip von Geschichte, und jener Agent, der dieses Lektüre-
prinzip »meistert«, ist eine hegemoniale Kraft. Das erfordert
DISKURSANALYSE 43

strategische Manövrierbarkeit, die die politische Fähigkeit bein-


haltet, die eigenen Methoden den wechselnden Umständen an-
zupassen31.
Als solch ein Lektüreprinzip kann das System als ein Raum-Zeit-
«Container« gesehen werden, als eine hegemoniale Systematisie-
rung von Aktualisierung, deren Erfolg von ihrer Fähigkeit ab-
hängt, die räumlichen und zeitlichen Metaphern zu artikulieren.
Raum ist ein Binden von Zeit, und umgekehrt kann Zeit nur in-
sofern existieren, als sie räumlich geordnet ist. Wenn Zeit nicht
diskursiv geordnet ist, erscheint sie als Dislokation von Raum32.
Dislokation kann daher als ein Zeigen der ultimativen Unmög-
lichkeit der Bindung von Differenzen in hegemonialen Konstel-
lationen gesehen werden. Die Artikulation zwischen Zeit und
Raum erfordert eine Neubestimmung der Frage der Ordnung.
Während die modernistische Annahme lautet, Politik spiele eine
supplementäre Rolle im Erhalten oder Wiedererschaffen einer
gegebenen sozialen Ordnung, würde ein postmoderner Zugang
stattdessen betonen, daß Politik die Rolle hat, eine temporäre
Ordnung in einer generellen Unordnung zu erschaffen. Oder in
den Worten von Laclau und Mouffe: Ordnung existiert nur als
partielle Begrenzung von Unordnung33.
Antgonismus setzt das System – und setzt es voraus. Aber die
Konstitution des Systems – die den Antagonismus bedingt und
situiert – deutet gleichzeitig auf die Möglichkeit, es aufzulösen.
Der Grund dafür ist, daß in der Strukturierung des Systems
Grenzen gegenüber der Umwelt (anderer Systeme) errichtet
werden. Ein Antagonismus kann dementsprechend nicht umhin,
seine eigenen Grenzen zu errichten – und damit auch seine Arti-
ulation mit anderen Systemen, und das kann zu seiner Verschie-
bung und Marginalisierung führen. Was hegemoniale Macht-
kämpfe bedingt – die Erweiterung des Horizonts für politische
Strategien, die Strukturierung eines diskursiven Raums –, signa-
lisiert auch deren mehr oder weniger fragile Natur. Wenn ein An-
tagonismus mit anderen Systemen artikuliert wird, dann wird er
per definitionem mit anderen Raum-Zeit-Containern artikuliert,
was Dislokationen hervorrufen kann; d.h. die »Freisetzung« von
Temporalität, Möglichkeit und Freiheit von ihrer partikularen
Organisation in anderen Systemen. Das dislokatorische Ereignis
kann das Ergebnis antagonistischer Machtkämpfe sein, aber das
Gegenteil ist auch möglich, wenn Dislokation neue Artikulatio-
nen ermöglicht und damit neue Möglichkeiten, einen hegemo-
nialen Block zu schmieden34.
44 TORBEN BECH DYRBERG

Wenn sich ein hegemonialer Agent bemüht, im Namen des


Ganzen zu sprechen, tendiert die partikulare Identität dieses
Agenten dazu zu verschwimmen, weil sie selbst eine Artikulation
verschiedener Elemente ist, die darüberhinaus verschiedene an-
dere Elemente artikulieren muß, um hegemonial zu sein35. Die
Grenzen und damit die Identität des hegemonialen Blocks wer-
den mehr oder weniger unklar und werden als ein Horizont von
Werten, Lebensformen und Verhaltensweisen umrissen, die im
Befolgen praktischer Alltagsregeln materialisiert sind, wie übli-
cherweise in hochinstitutionalisierten Praktiken. Die Ver-
schwommenheit einer Hegemonie bedingt diese und macht sie
gleichzeitig kontingent gegenüber weiteren Kontexten und Dis-
lokationen. Hegemonie ist kontingent gegenüber diesem Riß,
der Grund dafür ist, warum sie nie absolut sein kann. In genau
dem Prozeß, diesen Status zu erreichen, unterminiert sie sich
ganz unvermeidlich, denn als ein System, das ein bestimmtes
Lektüreprinzip von Realität vorschlägt, ist sie auf einer Reduk-
tion der Realität gegründet, die sie »liest«. Realität überfließt sie
in letzter Instanz, und dieser Überfluß oder Surplus an Bedeu-
tung kann durch kein System kontrolliert werden und konse-
quenterweise durch keine politische Institution, da die Meta-
phern zum Verlieren ihrer Fähigkeit tendieren, den diskursiven
Raum zu strukturieren.
Diese Metaphern können hegemoniale Blöcke nicht mit der not-
wendigen Kohäsion ausstatten, wenn die Äquivalenzkette ausge-
weitet wird und/oder wenn die politische Situation sich ändert.
Dinstinkte Grenzen zur Umwelt hegemonialer Blöcke nachzu-
zeichnen, ist nur in außergewöhnlichen Situationen möglich.
Die totalitären Regime des zwanzigsten Jahrhunderts bestätigen
das. Sie hielten sich, indem sie ein Bild interner und externer
Feinde kultivierten, das Hand in Hand mit der Disziplinierung
und Terrorisierung der Gesellschaft ging, womit ein permanen-
ter Ausnahmezustand aufrechterhalten wurde. Sie versuchten,
mit anderen Worten, eine außergewöhnliche Situation perma-
nent zu halten.
DISKURSANALYSE 45

ABSCHLIESSENDE BEMERKUNGEN ZUM


POLITISCHEN UND ZUR POLITIK

Das Politische ist eine Schlachtszene oder ein leerer Platz der
Einschreibung, der sich in andauernden hegemonialen Kämpfen
ausdehnt und zusammenzieht. Da es konstitutiv für soziale Ver-
hältnisse ist, kann es keinen bestimmten topographischen Ort in
der Gesellschaft haben oder das Vorrecht von, sagen wir, Eliten
oder dominanten Klassen sein. Es ist vielmehr eine originäre
Öffnung, eine Ontologie von Potentialen. Das Politische kann im
Sinne dieser Potentiale auf mögliche Aktualisierungen gegen-
über Differenzsystemen hin konzeptualisiert werden. Daraus
folgt, daß es ein reduktionistischer Irrtum wäre (welcher politi-
sche Modernität charakterisiert), es mit Ursprung und Telos,
Form und Inhalt auszustatten. Es wäre zum Beispiel ungerecht-
fertigt anzunehmen, dem Politischen sei eine Suche nach Ord-
nung inhärent oder es spiele eine Nebenrolle als ein »notwendi-
ges Übel«. Kein solches Prinzip oder Charakteristikum kann
vom Politischen abgeleitet werden, das eine leere Funktion ist,
die politische Praktiken notwendigerweise setzen und vorausset-
zen.
Politik ist die Praxis der Aktualisierung und strukturiert damit
die politische Funktion, die darin besteht, hegemoniale Kämpfe
mit Richtungen auszustatten; und Hegemonisieren bedeutet die
Aktualisierung des Möglichen durch artikulatorische Prozesse,
wobei systematische Grenzen abgesteckt werden. Diese Prozesse
sind offen und können nicht a priori festgestellt werden (wie
etwa in Ordnungs- oder Fortschrittsdiskursen). Ordnung, Ent-
wicklung und dergleichen sind nichts als Lektüreprinzipien, die
als organisierender Nexus für große Erzählungen operieren.
Einen leeren Platz der Identität auszufüllen, muß im Verhältnis
zur Tatsache verstanden werden, daß es immer einen Moment
der Blockade in der Aktualisierung des Möglichen gibt. Der
Grund dafür ist natürlich darin zu suchen, daß der Aktualisie-
rungsprozeß um Negativität als systematische Grenze kreist, die
den selbstreferentiellen Prozeß auslöst, in dem Differenzsyteme
ihre Identität erreichen.
Politik versucht, das Politische zu domestizieren, aber es kann
nicht domestizieren, was es in erster Linie bedingt. Politik ist,
wie Haar Nietzsches Wille zur Macht beschreibt, »nichts als eine
Richtung, die immer neu bestimmt werden muß«36. Über das
46 TORBEN BECH DYRBERG

Primat des Politischen zu reden, impliziert, daß das Soziale als


die amorphe Masse sozialer Verhältnisse nicht gegründet wer-
den kann. Es ist die Unmöglichkeit von Gründung, welche die
modernistische Vision vom Ende der Politik zerschlägt, deren
paradoxe raison d’être in der politischen Bewegung liegt, Politik
zu beenden, indem man das Politische eliminiert. Mit was wir
hier konfrontiert sind, kann nicht als eine totalitäre Phantasie
beiseitegewischt werden, wie sie oft von universalen Emanzipa-
tionsdiskursen heraufbeschworen wird, wie es selbstgefällige
Protagonisten liberaler Demokratie gerne hätten. Vielmehr ist
die Vision vom Ende der Politik – und allgemeiner die Unfähig-
keit, das Politische als eine ontologische Kondition zu fassen –
genau der Struktur politischer Moderne eingeschrieben: ihrem
Versuch, das Politische in Begriffe von Ordnung (normativ
und/oder prozedural), Rechte, Wahrheit, etc. zu binden, indem
man es mit Ursprung und Telos, Form und Inhalt ausstattet37.
Hier sind wir Zeugen der letzten Anordnung zur Beendigung
von Anordnungen, eine Anordnung, die retroaktiv vor die erste
Anordnung zurückdatiert ist, um ihr damit eine Richtung (Di-
rektive) zu geben (die Erbschaft der Gesellschaftsvertragstradi-
tion). Das Politische durch Politik kontrollieren zu wollen – es
auf ein Supplement des Sozialen zu reduzieren, ist die moderni-
stische Strategie, um mit dem umzugehen, was Lefort das »Ver-
schwinden der Zeichen von Sicherheit«38 genannt hat. Es ist der
Versuch, das Soziale zu meistern, indem man es in etwas objek-
tiv Gegebenes wendet, von dem das Politische abgeleitet werden
kann, und hier sind die totalitären Wurzeln der Moderne zu fin-
den.
Es ist das Verdienst der Diskursanalyse, dieses fundamentale po-
litische Problem und die demokratische Herausforderung anzu-
nehmen, einer Verbreiterung und Vertiefung politischer Prakti-
ken – als etwas, das überall stattfinden kann und nicht unbe-
dingt in Kontroll-, Herrschafts- und Hierarchisierungs-Strate-
gien gefangen ist – einen Weg zu bereiten. Demokratietheorie
verlangt eine Ontologie des Politischen: Das Politische ist eine
leere Funktion, die durch Politik gesetzt und vorausgesetzt wird,
und Politik ist nichts als eine Richtung, die immer neu bestimmt
werden muß. In diesem Sinne kann Diskursanalyse als eine post-
moderne politische Theorie verstanden werden, die uns mit
einer tiefreichenden demokratischen Herausforderung konfron-
tiert.
DISKURSANALYSE 47

ANMERKUNGEN

1 Ernesto Laclau, New Reflections on the Revolution of Our Time, London:


Verso, 1990: 212–213
2 Objektivismus ist eine Form des Essentialismus, unter dem die Unter-
nehmung verstanden wird, die ultimative Realität von etwas zu erfassen.
So verstanden ist Essentialismus auch eine Form des Idealismus, weil
das Reale durch das Rationale vollständig erfaßt wird. Materie oder Fak-
tizität ist ausgelöscht oder – besser – durch Form absorbiert, die entspre-
chen völlig präsent oder transparent ist.
3 Der Fokuswechsel vom Gegebenen zu seiner Möglichkeitsbedingung be-
tont die Absenz logisch notwendiger Verhältnisse im Sozialen und somit
die Kontingenz des Sozialen. Zu sagen, das Soziale sei diskursiv struktu-
riert im Sinne eines Differenzsystems, heißt zuallererst, daß es keinen
prä- oder extra-diskursiven Grund haben kann. Horizont ersetzt Grund,
und das heißt, daß »das Prinzip der Einheit einer diskursiven Formation
nicht in der Referenz auf dasselbe Objekt gefunden werden kann«. Statt-
dessen haben wir eine »›Einheit in der Verstreuung‹ – die Konstanz in
den externen Verhältnissen unter Elementen, die keinen unterliegenden
oder essentiellen Strukturierungs-Prinzipien gehorchen«. Wenn »›Dis-
kurs‹ sich auf keine partikulare Reihe von Objekten bezieht, sondern auf
einen Gesichtspunkt, von dem aus es möglich wäre, die Totalität des so-
zialen Leben neu zu beschreiben«, dann stellt sich die Frage, »was die
Grenzen zwischen diskursiven Formationen« konstituiert. Ernesto
Laclau: »Discourse«, in Robert Goodin and Philip Pettot (Hg.), The
Blackwell Companion to Contemporary political Philosophy, The Austra-
lian National University: 435–436. Das Konzept des Diskurses wird dis-
kutiert in Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale
Demokratie, Wien: Passagen, 1991
4 Der Begriff des Ganzen bezieht sich auf einen Kontext, d.h. auf ein parti-
kulares System von Differenzen, was später diskutiert werden wird.
5 Es sollte erwähnt werden, daß Diskursanalyse das Politische nicht im
Verhältnis zu den Analysebenen höherer oder tieferer Ordnung konzep-
tualisiert. Es ist dennoch meine Meinung, daß diese Unterscheidung hel-
fen kann zu klarifizieren, wie das Politische in der Diskursanalyse kon-
zeptualisiert ist.
6 Vergleiche Ernesto Laclau, New Reflections on the Revolution of Our
Time: 63–64, 185, 213, 228; »Politics and the Limits of Modernity«, in
Andrew Ross (Hg.), Universal Abandon? The Politics of Postmodernism,
Edinburgh: Edinburgh University Press, 1988: 81; »Power and Represen-
tation«, in ark Poster (Hg.), Politics, Theory, and Contemporary Culture,
New York: Columbia University Press, 1993: 294; »Deconstruction, Prag-
matism, Hegemony«, in Chantal Mouffe (Hg.), Deconstruction and Prag-
matism, London: Routledge, 1996: 7; »Jenseits von Emanzipation« in
Nummer. Kunst Literatur Theorie, Nr.2, Herbst 1994; »Universalismus,
Partikularismus und die Frage der Identität« in Mesotes. Zeitschrift für
philosophischen Ost-West-Dialog, 3/1994; »The Time is Out of Joint«,
CONTENTS, Sommer, 1995: 93–94.
48 TORBEN BECH DYRBERG

7 Um eine Verwechslung mit der Vorstellung einer außerdiskursiven Wirk-


lichkeit zu vermeiden, bleibt die Übersetzung von Englisch »actual« als
Adjektiv und Substantiv in Deutsch »aktual« bzw. »das Aktuale« und ver-
zichtet auf eine Eindeutschung in »wirklich« bzw. »das Wirkliche«
(O.M.)
8 Vergleiche Ernesto Laclau, »Community and Its Paradoxes: Richard
Rorty’s ›Liberal Utopia‹, in Miamy Theory Collective (Hg.), Community
at Loose Ends, Minneapolis and Oxford: University of Minnesota Press,
1991: 90–91; Ernesto Laclau, New Reflections on the Revolution of Our
Time: 171-172, 194. See also Jeremy Valentine, »Artifice and Analogy in
Hobbe’s Leviathan. An Example of Modern Political Creativity«, Working
Papers 3, Centre for Theoretical Studies, University of Essex, 1995: 22–23
9 Ernesto Laclau, New Reflections on the Revolution of Our Time. 30. Vergl.
ebenso Ernesto Laclau »Power and Representation«: 280–285; »Decon-
struction, Pragmatism, Hegemony«: 17; »The Time is out of Joint«:
92–94. Es ist wichtig anzumerken, daß Unentscheidbarkeit nicht Indeter-
mination bedeutet. Der Punkt ist nicht, daß die Struktur nichts determi-
nieren kann oder daß jede Entscheidung so gut wie jede andere ist, son-
dern daß die Struktur differenten und in sich hochdeterminierten Mög-
lichkeiten »in strikt determinierten Situationen« einen Weg bahnt. Jac-
ques Derrida, Limited Inc, Evanston, Il.: Northwestern University Press,
1988: 148 (vergleiche auch 116). Unentscheidbarkeit betont (1) die Un-
möglichkeit einer strukturalen Schließung oder die Präsenz einer struk-
turalen Totalität, (2) daß das Subjekt der Struktur weder innerlich noch
äußerlich ist, sondern vis-à-vis der Struktur konstituiert ist; (3) daß Ent-
scheidung eine kontingente Aktualisierung des Möglichen ist (was kon-
text voraussetzt); (4) daß ethico-politische Entscheidungen diese Nicht-
Algorithmizität der Entscheidung voraussetzen, d.h., die Distanz zwi-
schen der Struktur als Regel und Ressource und ihrer Aktualisierung;
and (5) daß das Subjekt die Distanz zwischen Struktur und Entschei-
dung ist.
10 Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale Demokra-
tie, 212
11 Ernesto Laclau, »Was haben leere Signifikanten mit Politik zu tun«; »De-
construction, Pragmatism, Hegemony«: 25–26; »The Time is Out of
Joint«: 89–90; »Power and Representation«: 283–288; »The Signifiers of
Democracy«, in Joseph H. Carens (Hg.)¸ Democracy and Possesive Indivi-
dualism, New York: State University of New York Press, 1993: 227.
12 Vergleiche Henrik Paul Bang, »The Political System and Its Postmodern
Images«, Working Paper, Department of Economics, Politics and Admini-
stration, University of Aalborg, 1996: 18, 27, 46–47, 55.56
13 Ernesto Laclau, »Deconstruction, Pragmatism, Hegemony«: 12-13; »The
Time is Out of Joint«: 92–94
14 Michel Foucault, Der Wille zum Wissen, FfM: Suhrkamp, 1977, verglei-
che ebenfalls Michel Foucault, Überwachen und Strafen, FfM: Suhrkamp,
1977
15 Slavoj Ÿiÿek, »Jenseits der Diskursanalyse« im vorliegenden Band.
16 Ernesto Lacau und Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie:
180
DISKURSANALYSE 49

17 Vergleiche Slavoj Ÿiÿek, The Sublime Object of Ideology, London: Verso,


1989: 160, 161-178, 183, 224–231; Slavoj Ÿiÿek, Liebe Dein Symptom wie
Dich selbst!, Berlin: Merve, 1991; Michel Foucault, Der Wille zum Wissen.
18 Es gibt eine bestimmte Affinität zwischen dem Subjekt und dem Politi-
schen einerseits und der Positionierung von Subjekt und Politik anderer-
seits, indem ersteres Potentialität selbst ist und zweiteres deren kontin-
gente Aktualisierung.
19 Die Debatte zu behavioristischen Machtkonzeptionen (»die drei Gesich-
ter der Macht«) illustriert das: Entscheidungen, Nicht-Entscheidungen
und Nein-Entscheidungen sind Formen, in denen politische Agenten mit
dem Management potentieller, latenter und aktualer Konflike umgehen,
etwa über die Kontrolle der Agenda und die Antizipation von Reaktio-
nen. Vergleiche Steven Lukes, Power: A Radical View, Houndsmills: Mac-
millan, 1974
20 Ernesto Laclau, »Metaphor and Social Antagonisms«, in Cary Nelson
and Lawrence Grossberg (Hg.), Marxism and the Interpretation of Cul-
ture, Houndsmills: Macmillan, 1988: 256
21 Ernesto Laclau, »Subject of Politics, Politics of the Subject«, Differences:
A Journal of Feminist Cultural Studies, 7.1, 1995: 152-153; »Was haben
leere Signifikanten mit Politik zu tun?«; »The Signifiers of Democracy«:
231–232, »The Time is Out of Joint«: 94
22 Vergleiche Henrik Paul Bang und Torben Bech Dyrberg, »The Political
and the Social: An Ontological Turn of Political and Democratic
Theory«, Working Paper, Department of Social Sciences, Roskilde Uni-
versity, 1993: 13.
23 Diese Orientierung zum Ganzen ist natürlich am sichtbarsten in kom-
munitaristischen und totalitären Strategien einer all-einschließenden
normativen Integration, wo das Partikulare vom Quasi-Universalisti-
schen der Gemeinschaft völlig absorbiert wird. Aber sie ist auch in (anar-
chischen) Strategien präsent, die einen Partikularismus vertreten, in
dem die Referenz auf das Ganze negativ kodiert ist. Das ändert aller-
dings nichts am Faktum, daß selbst solch ein Partikularismus »nicht nur
die Präsenz all der anderen Identitäten voraussetzt, sondern auch den to-
talen Grund, der die Differenzen als Differenzen konstituiert«. Ernesto
Laclau, »Universalism, Particularism and the Question of Identity«: 88.
Vergleiche auch New Reflections on the Revolution of Our Time: 76–81. In
beiden Fällen haben wir eine Vision des Endes der Politik als einer Pra-
xis, die das Universelle und das Partikulare auf unentscheidbare Weise
artikuliert, und in der das Universelle entsteht, wenn das Partikulare
seine Identität durch räumliche und zeitliche Selbstpositionierung er-
reicht.
24 »Die Kategorie ›sozialer Totalität‹ kann mit Sicherheit nicht verabschie-
det werden, denn soweit jede soziale Aktion auf einem überdeterminier-
ten Terrain stattfindet, ›totalisiert‹ sie soziale Verhältnisse in einem be-
stimmten Ausmaß; aber Totalität wird nun zum Namen eines Horizonts
und nicht mehr eines Grundes.« Ernesto Laclau, »Power and Represen-
tation«: 295; vergleiche ebenfalls Ernesto Laclau »Universalismus, Parti-
kularismus und die Frage der Identität«, Hegemonie und radikale Demo-
50 TORBEN BECH DYRBERG

kratie, sowie Claude Lefort, The Political Forms of Modern Society, Cam-
bridge: Polity Press, 1986: 220, 303–305
25 Ernesto Laclau, »Subject of Politics, Poiltics of the Subject«: 151-152
26 In einem Artikel aus dem Jahr 1979 lenkt Laclau die Aufmerksamkeit auf
die Verwendung von »Differenz« als einer übergreifenden Kategorie, die
alle Arten von Relationen – unter anderem antagonistische Relationen –
beinhaltet, wenn er von »antagonistischen Relationen« spricht. Ernesto
Laclau, »Populistischer Bruch und Diskurs«, »Anhang« in seiner Politik
und Ideologie im Marxismus: Kapitalismus – Faschismus – Populismus,
Berlin: Argument-Verlag, 1981: 177.
27 Es ist gleichgültig, ob A und B Individuen, Gruppen oder irgendwelche
anderen Typen von Entitäten sind, so wie es gleichültig ist, ob sie in der
öffentlichen oder in der privaten Sphäre lokalisiert sind, im Staat oder in
der Zivilgesellschaft. Der Grund dafür ist natürlich, daß Politik nicht von
diesen Unterscheidungen abhängt.
28 Vergleiche Ernesto Laclau, »Was haben leere Signifikanten mit Politik
zu tun?« in Mesotes 2/1994
29 Ernesto Laclau, »Was haben leere Signifikanten mit Politik zu tun« 158.
Vergleiche ebenso »Jenseits von Emanzipation« und »Universalismus,
Partikularismus und die Frage der Identität«. Den Signifikationsprozeß
zu blockieren, ist notwendig, um die Desintegration eines Systems zu
verhindern. Diese Blockierung nimmt Form an, indem sie eine Unter-
scheidung zwischen Inklusion/Exklusion, akzeptabel/nicht-akzeptabel,
vernünftig/unvernünftig, etc. evoziert.
30 Das ist Rückgrat von Theorien universaler Emanzipation, d.h. Emanzi-
pation vom Politischen. Etwas in dieser Richtung wird durch die Unter-
scheidung von »Macht zu« und »Macht über« angesprochen, insofern als
sie die Fähigkeit zu agieren resp. Herrschaft konnotiert. Vergleiche z.B.
Jeffrey C. Isaac, Power and Marxist Theory: A Realist View, Ithaca und
London: Cornell University Press, 1987: 83–87
31 Vergleiche Niccolò Machiavelli, The Prince, Cambridge: Cambridge Uni-
versity Press, 1988: 62, 85–87
32 Ernesto Laclau diskutiert drei Dimensionen von Dislokation, nämlich
Temporalität, Möglichkeit und Freiheit. New Reflections on the Revolu-
tion of Our Time: 41–45. Das Verhältnis von Zeit und Verräumlichung
wir von Rudolph Gasché diskutiert, The Tain of the Mirror, Cambridge,
Mass.: Harvard University Press, 1986: 198–202. Zu einer Kritik des kan-
tischen Zeit/Raum-Dualismus sh. Henrik Paul Bang und Torben Bech
Dyrberg, »Hegemony and Democracy«, Working Paper, Departmentof
Economics, Politics and Public Administration, Aalborg University,
1993: 17. Sh. außerdem Anthony Giddens, Contemporary Critique of Hi-
storical Materialism, London: Macmillan, 1981: 17, 29–34.
33 Eine ähnliche Sicht wird vom neuen Institutionalismus vertreten, etwa
Johan P. Olsen und James G. March, Rediscovering Institutions: The Or-
ganizational Basis of Politics, New York: The Free Press, 1989: z.B. 16,
159, 162. Sh. ebenfalls Johan P. Olsen, Demokrati pa svenska, Stockholm:
Carlsson Bokförlag, 1990: 118-119 und »Analyzing Institutional Dyna-
mics«, Working Paper, University of Bergen and Norwegian research
Centre in Organization and Management, 1992: 15.
DISKURSANALYSE 51

34 Das Verhältnis von Dislokation und Antagonismus wird diskutiert in Er-


nesto Laclau, New Reflection on the Revolution of Our Time; 39–44, 46,
60. Sh. auch Torben Bech Dyrberg¸ The Circular Structure of power: Iden-
tity, Politics, Community, forthcoming: Kapitel 4.
35 Ernesto Laclau, »Discourse«:435; New Reflections on the Revolution of
our Time: 76–77, 80–81; »Power and Representation«: 287; »Subject of
Politics, Politics of the Subject«: 153-155; »Universalismus, Partikularis-
mus und die Frage der Identität« und »Was haben leere Signifikanten
mit Politik zu tun?«.
36 Michel Haar, »Nietzsche and Metaphysical Language«, in David B. Alli-
son (Hg.), The New Nietzsche, Cambridge, Massachusetts: The MIT Press,
1985: 12
37 Vergleiche Henrik Paul Bang, »The Political System and Its Postmodern
Images«: 4, 6, 9, 24, 65, 69.
38 Claude Lefort, Essais sur le politique, Paris: Éditions du seuil, 1986:29.
Sh. auch Chantal Mouffe, The Return of the Political: 11, 51, 64,105, 122,
147 und Ernesto Laclau, New Reflections on the Revolution of Our Time:
192.
Politik der Entparadoxisierung

ZUR ARTIKULATION VON


HEGEMONIE- UNDSYSTEMTHEORIE

URS STÄHELI

Die Vorstellung, daß das Politische nur dann adäquat zu verste-


hen sei, wenn man dessen theoretisches Primat über das Soziale
konsequent ernstnehme, wird häufig mit dem Verweis auf eine
lange ›alteuropäische‹ Tradition der Überbewertung von Politik
und dem Politischen abgetan und in die Archive der Ideenge-
schichte verwiesen. Heutige Theorieentwicklungen, so mag man
einwenden, haben längst Abschied genommen von der Idee
einer politisch instituierten Gesellschaft, da diese Konzeption
letztlich totalitäre Konsequenzen habe. Es gelte vielmehr, so
zum Beispiel die autopoietische Systemtheorie, umzustellen von
Vorstellungen einer politisch gesteuerten Gesellschaft zum be-
scheideneren Konzept des »ironischen Staates«, der nur noch
als Moderator Konflikte zwischen verschiedenen Systemen regu-
liert (Willke 1994).
Neben der systemtheoretischen Kritik an der theoretischen
Überbewertung von Politik kann jedoch auch der Begriff des Po-
litischen so rekonzeptualisiert werden, daß er Anschluß an aktu-
elle Differenztheorien gewinnt. Das Primat des Politischen muß
dann nicht notwendigerweise ein letztlich essentialistisches
Denken fortschreiben, das gefangen bleibt in Oppositionen wie
Staat und Gesellschaft, sondern kann sich den ›Anti-foundatio-
nalism‹ poststrukturalistischer Theorieangebote zu Nutze ma-
chen, indem ebenfalls auf letzte Begründungen gesellschafts-
theoretischer Analysen verzichtet wird. Dies bedeutet aber auch,
wie noch gezeigt werden wird, daß das Politische auf einer theo-
retischen Ebene vor dem Staat oder dem politischen System an-
gesiedelt werden muß.
POLITIK DER ENTPARADOXISIERUNG 53

Ernesto Laclau hat sich mit seiner Kritik an einem essentialisti-


schen und zentrierten, in diesem Sinne ›alteuropäischen‹ Begriff
der Gesellschaft als geschlossene (wie auch immer fragmen-
tierte) Totalität, um eine Rehabilitierung des Politischen
bemüht. Dies impliziert keineswegs, das Politische als Zentrum
sozialer Beziehungen zu fassen, sondern dieses als dezentrale
Praktik im Rahmen einer Konstitutionstheorie des Sozialen zu
verstehen. Laclau rückt in seiner Theorie des Politischen denn
auch – in dieser Hinsicht der autopoietischen Systemtheorie
nicht unähnlich – Probleme der Unentscheidbarkeit, der Grund-
losigkeit und der Anschlußfähigkeit von diskursiven Artikulatio-
nen in den Vordergrund.
Um Artikulationspunkte zwischen diskurs- und systemtheoreti-
schen ›Anti-Foundationalism‹ aufzuzeigen, möchte ich in einem
ersten Abschnitt den Laclauschen Begriff des Politischen disku-
tieren, um im zweiten Teil mit einer formalisierten Lesart An-
knüpfungspunkte an die autopoietische Systemtheorie Luh-
manns aufzuzeigen. Dadurch soll der Weg bereitet werden für
die Konzeption einer Politik der Entparadoxisierung, welche die
Entfaltung von sozialen Paradoxien als antagonistischen Prozeß
begreift.
I
Das Politische und das Soziale nehmen, anders als in der Sy-
stemtheorie, bei Laclau die theoretische Position einer Leitdiffe-
renz ein, welche den Horizont für die Analyse historischer dis-
kursiver Formationen aufspannt. Auf diesem Feld übernimmt
der Begriff der Artikulation eine zentrale Rolle, indem dieser zu
erklären sucht, wie die Konstitution von Diskursen funktioniert:
»No objectivity that may constitute an ›origin‹: the moment of
creation is radical – creatio ex nihilo – and no social practice, not
even the most humble acts of our everyday life, are entirely repe-
titive. ›Articulation‹, in that sense, is the primary ontological le-
vel of the constitution of the real.« (Laclau 1990, 184)
Wenn Artikulationen als primäre ontologische Ebene verstanden
werden, heißt dies, daß die Realität des Sozialen einzig in artiku-
latorischen Konstruktionspraktiken verankert ist und sich nicht
auf eine vorgängige Materialität oder eine gesamtgesellschaftli-
che Vernunft beziehen ließe. Wegen dieser Grundlosigkeit des
Sozialen kann Laclau das Politische als »ontology of the social«
(1990, 295) bestimmen, bezeichnet es doch gerade dessen insti-
tuierendes Moment.
54 URS STÄHELI

Ausgangspunkt des Laclauschen Verständnis des Sozialen bildet


die These, dieses nicht als eine Totalität zu konzeptualisieren,
sondern als diskursives System kontingenter Differenzen, dem
durch die Unentscheidbarkeit seiner Grenze eine völlige
Schließung verunmöglicht wird. Das Soziale bildet somit einen
auf Identität nicht reduzierbaren Raum diskursiver Differenzen,
dessen Äußeres selbst nicht signifizierbar ist. Trotz dieser
Grundlosigkeit sind die Differenzen innerhalb verschiedener
Diskurse artikuliert und dadurch auch zu einem gewissen Maße
strukturiert. Würde der Laclausche Theorieentwurf sich mit der
bloßen Feststellung einer Vielfalt unfixierter Differenzen begnü-
gen, wäre zwar die »Unmöglichkeit von Gesellschaft« (so die
provokante These Laclaus [1990]) belegt, die schwierige Frage
aber, wie aus dem Spiel der Signifikanten sich dennoch prekäre
soziale Ordnungen herausbilden können, beiseite geschoben1.
In der Diskurstheorie wird – wiederum der Luhmannschen
Systemtheorie nicht unähnlich – das Problem der Ordnung um-
formuliert in die Frage nach der Erzeugung von Sinn. Hier
kommt denn auch der Begriff des Politischen (und die daran an-
knüpfende Hegemonietheorie) zum Zuge, der die Artikulation
diskursiver Elemente, die so zu Momenten in konkreten diskursi-
ven Sinngefügen werden, als politischen Prozeß begreift. Das
Verhältnis von diskursiven Differenzen des Sozialen, Artikula-
tion und Politischem umreißt Laclau so: »L’alternative consiste à
accepter pleinement les différences comme étant constitutives
du social, et à concevoir les luttes politiques comme des pra-
tiques articulatoires de celles-ci.« (Laclau 1983c, 335)
Artikulationen modifizieren gleichzeitig die Identität der betrof-
fenen Elemente (Laclau 1991, 155). Einfache Kausalerklärungen
werden so ausgeschlossen, da keines der artikulierten Elemente
als Grund des anderen funktioniert, sondern im Rahmen einer
zirkulären Kausalität der Effekt auf den Grund zurückwirkt.
Weil der Vorgang der Artikulation wesentlich die Identität der
artikulierten Elemente betrifft, grenzt dieser Begriff sich von
einer bloßen Verbindung ansonsten selbstidentischer Elemente
ab. Diskursive Artikulationspraktiken erst ermöglichen lokale
und prekäre Stabilisierungen von Differenzen. Dabei kann keine
Artikulation als unveränderliche Setzung funktionieren, ist doch
jede Setzung von Anfang an eine Ver-Setzung. Bereits in den
Möglichkeitsbedingungen jeder Artikulation ist ihr Scheitern
miteingeschrieben.
POLITIK DER ENTPARADOXISIERUNG 55

Erst die Kontingenz (wenn auch nicht Beliebigkeit) von Artiku-


lationen, d.h. deren Unableitbarkeit von einer höherstehenden
Logik wie auch ihre Endlichkeit, ermöglicht deren Funktionie-
ren als genuin politische Praktiken. Der Spielraum bewußt er-
lebter Kontingenz ist in modernen Gesellschaften – so Laclaus
versteckte modernisierungstheoretische These – größer gewor-
den, womit sich auch antagonistische Auseinandersetzungen um
die Realisierung spezifischer Artikulationen vermehren. Denn
wenn theoretisch jede Artikulation möglich wäre und nur die
Anschlußfähigkeit an einen bestimmten diskursiven Kontext
über ihre Instituierung entscheidet, entstehen vermehrt Situa-
tionen, in denen um eine bestimmte Artikulation gekämpft wird.
Konnte in einer religiös verfaßten Gesellschaft noch auf eine
letzte Autorität zurückgegriffen werden, übernehmen in der Mo-
derne die Pragmatik der Situation sowie die Taktiken und Stra-
tegien der politischen Auseinandersetzung den leeren Ort einer
unmöglichen Autorität. Erst die Möglichkeit, bestimmte An-
schlüsse wegen ihrer Kontingenz nicht nur als anders möglich,
sondern als bestreitbare aufzufassen, letztlich also Antagonis-
men um die Aktualisierung von Artikulationen, macht eine Arti-
kulation zur politischen: »The moment of antagonism where the
undecidable nature of the alternatives and their resolution
through power relations becomes fully visible constitutes the
field of the ›political‹.« (Laclau 1990, 35)
Um die Bedeutung des Antagonismus für den Begriff des Politi-
schen zu unterstreichen, verweist Laclau auf ein Gegenbeispiel
unpolitischer Artikulationen. Die Reorganisation eines bürokra-
tisch-administrativen Systems, welche eigentlich allen Merkma-
len einer Artikulation entspricht (»Konstitution eines organisie-
renden Systems von Differenzen – somit von Momenten –, das
von aufgelösten und verstreuten Elementen ausgeht«-, ohne von
einem Antagonismus abzuhängen [Laclau/Mouffe 1991, 193]),
soll einen unpolitischen (da nicht-antagonistischen) Artikula-
tionsprozeß bezeichnen. Mit diesem nebenbei eingeführten Bei-
spiel nicht-antagonistischer Artikulationen in administrativen
Reorganisationsprozessen, das zwischen politischen und unpoli-
tischen Artikulationen unterscheidet, wird implizit auf ein pro-
blematisches Terrain verwiesen. Gewiß, die Unentscheidbarkei-
ten, welche zweifellos auch in administrativen Prozessen auftre-
ten, geben nicht automatisch Anlaß zu politischen Re-Artikula-
tionen. Dennoch ist ihr politischer Charakter nicht a priori aus-
zuschließen.
56 URS STÄHELI

Mit der in »New Reflections … « eingeführten Unterscheidung


zwischen Dislokationen (der Disorganisation hegemonialer
Strukturen, die mit Unentscheidbarkeiten einhergeht) und Anta-
gonismus (des Kampfes um die Realisierung gleichzeitig mögli-
cher Artikulationen auf einem dislozierten Feld) kann zwar prä-
ziser zwischen der Situation der Unentscheidbarkeit und dem
politischen Antagonismus unterschieden werden, wodurch eine
theoretische Leerstelle aufgefüllt wird. Gerade diese Unterschei-
dung wird implizit im oben erwähnten Beispiel vorgenommen,
ohne dafür jedoch die begrifflichen Mittel bereitzustellen. Trotz
der nominellen Unterscheidung wird aber eine derart enge Be-
ziehung zwischen Dislokation und Antagonismus angenommen,
daß das gewonnene Differenzierungsvermögen zumindest teil-
weise wieder eingezogen wird. Wenn Dislokationen wegen der
Unmöglichkeit einer vollständigen Ordnung entstehen, dann
sind sie mit dem schon immer bestehenden antagonistischen
Charakters des Sozialen gegeben: »The negation [of antago-
nisms, US] is irreducible to any objectivity, which means that it
becomes constitutive and therefore indicates the impossibility of
establishing the social as an objective order.« (Laclau 1990, 16)
Dies heißt letztlich, daß jede Dislokation sich der antagonisti-
schen Konstituiertheit des Sozialen verdankt und keine Disloka-
tion ohne Antagonismus denkbar wäre. Denn wäre das Soziale
nicht antagonistisch verfaßt, würden sich keine Brüche in der
hegemonialen Sinnfixierung auftun, die dann wiederum als Dis-
lokationen beschrieben werden können.
Die Möglichkeit unpolitischer Reartikulationen schließt sich
aber aus, wenn von Anfang an die Unmöglichkeit völliger Fixie-
rung auf den allgemeinen Antagonismus, welcher mit dem Dis-
kursiven gegeben ist, d.h. die Unentscheidbarkeit der Grenze
zwischen Diskursivem und Nicht-Diskursivem2, zurückgeführt
wird. Konsequenterweise wäre dann auch der erwähnte admini-
strative Reorganisationsprozeß erst ermöglicht durch seinen an-
tagonistischen Charakter, d.h. durch die Unmöglichkeit der völli-
gen Fixierung administrativer Momente. Illustrierend könnte
hier das Beispiel erweitert werden: Wenn in einem Unternehmen
die Abteilungsstruktur reorganisiert wird, ist dies nur deshalb
möglich, weil keine wesenhafte Notwendigkeit eines spezifi-
schen Organisationsmodells wie auch keine notwendige Fixie-
rung der einzelnen Abteilungen besteht3 – Kompetenzstreitigkei-
ten unterschiedlicher Abteilungen mögen dies belegen. Zudem
erhält eine Abteilung ihre Identität über ihre Position hinsicht-
POLITIK DER ENTPARADOXISIERUNG 57

lich anderer Abteilungen: die Marketingabteilung mag dann


zum konstitutiven Außen des Personalbüros werden.
Der politische Charakter einer Reorganisation zeichnet sich im-
mer mehr ab: Im Reorganisationsprozeß wird in Artikulations-
kämpfen die Grenzziehung von Abteilungen und Absicherungen
von Identitäten gerade dank deren relationaler und nicht völlig
fixierter Identität möglich. Abstrakter müßte gefragt werden, ob
nicht jede komplexe Situation, welche die Auswahl aus einer
Pluralität von Optionen erfordert, zur antagonistischen wird,
wenn der simultane Artikulationsversuch von Optionen ge-
schieht.
Warum erscheinen die Inkonsistenzen dieses Beispiels als so be-
deutend? Für die formale Bestimmung der Artikulation als Ver-
bindung heterogener Elemente zu Momenten spielen sie keine
Rolle. Wenn aber von politischen und unpolitischen Artikulatio-
nen ausgegangen wird, wäre ein Unterscheidungskriterium
vonnöten, um den spezifisch politischen Charakter von Artikula-
tionen zu bestimmen. Mit dem Antagonismus wird zwar eines
formuliert, wenn er als »hegemonic victory over conflicting
wills« (Laclau 1995, 39) verstanden wird. Dieser ist aber insofern
zirkulär begründet, als daß bereits von einer ›ursprünglichen‹
antagonistischen Verfaßtheit eines jeden Diskurses ausgegangen
wurde.
Es mag mit derartigen theoriebautechnischen Problemen zu-
sammenhängen, daß Laclau in seinen neueren Schriften ver-
stärkt die Beziehung zwischen Unentscheidbarkeit und Ent-
scheidung zur Charakterisierung des Politischen hervorhebt und
so eine formalisierte (nicht formalistische!) Lesart unterstützt.
Aus dieser Perspektive bestimmt Laclau das Politische prägnant
als »ensemble of decisions taken in an undecidable terrain«
(1993, 295), das sich mit der Ausdehnung struktureller Unent-
scheidbarkeiten vergrößert. Die Entscheidung setzt ein nicht völ-
lig determiniertes diskursives System voraus, das seinen konsti-
tutiven Mangel mit einer Entscheidung supplementieren muß.
Die Entscheidung erhält dadurch einen paradoxen Status: Ei-
nerseits kann sie nicht zum System gehören, da gerade dieses
keine Regeln bereitstellen konnte, wie die selbstproduzierte Un-
entscheidbarkeit aufgelöst werden soll, andererseits bedarf das
System dieser Entscheidung, um die desintegrative Phase der
Entscheidungslosigkeit ›überwinden‹ zu können. Die Entschei-
dung ist denn auch in sich selbst gespalten, indem sie verspricht,
dem System die mangelnde Systematizität zu geben, ohne selbst
58 URS STÄHELI

zum System zu gehören. Sie vereint damit die Repräsentation


der Universalität mit dem singulären Ereignis einer unableitba-
ren Entscheidung. Während die Unentscheidbarkeit jedem Sy-
stem eignet (vgl. Gödel oder Derrida), wird erst die Tatsache
einer antagonistischen Entscheidung (im engeren Sinne) zum
Kriterium des Politischen.4 Aber auch hier bleibt die Unterschei-
dung zwischen entscheidungsbedürftiger Dislokation eines Sy-
stems und dessen eigener antagonistischer Konstitution unge-
klärt. Ich möchte mit einem Blick auf die Systemtheorie deshalb
aufzuzeigen versuchen, daß einerseits die formale Lesart sich er-
staunlich kompatibel mit einigen systemtheoretischen Konzep-
ten zeigt, andererseits aber trennschärfer zwischen Dislokation
und Antagonismus unterschieden werden kann.
Fassen wir kurz zusammen:
- Das Politische wird theoretisch vor der Analyse des politi-
schen Systems angeordnet. Das Politische nimmt so die Position
eines gesellschaftstheoretischen Grundbegriffs ein, welcher die
Artikulation unfixierter diskursiver Elemente zu erklären ver-
sucht und damit die Produktion von neuem Sinn beschreibt.
- Mit der Betonung von Unentscheidbarkeitssituationen als
notwendige Bedingung für politische Artikulationen wird eine
Theoriestrategie eingeschlagen, welche einen nicht-normativen
Begriff des Politischen zu formulieren erlaubt. Diese Konzeptua-
lisierung kann sich dann von der implizit normativen und herr-
schaftssoziologischen Orientierung am Begriff der Unterord-
nung loslösen und wird offen für einen formaleren Begriff des
Politischen ganz im Sinne von Laclaus eigener Bestimmung des
Politischen als »decisions taken in undecidable situations«.
- Durch die Kombination der Unterscheidungen von Unent-
scheidbarkeit/Entscheidung und antagonistisch/nicht-antagoni-
stisch wird die Spezifik des Politischen weiter präzisiert. Den-
noch gelingt es so nicht, ein präzises Kriterium zur Abgrenzung
von politischen und nicht-politischen Artikulationen oder Ent-
scheidungen zu treffen, da Unentscheidbarkeit (Dislokation)
und Antagonismus zirkulär miteinander verknüpft sind.

II POLITIK DER ENTPARADOXISIERUNG

Wenn wir die Luhmannsche Systemtheorie mit Hilfe des darge-


stellten Begriffs des Politischen beobachten, wird sichtbar, daß
sich theoretische Entsprechungen nicht so sehr auf der Ebene
POLITIK DER ENTPARADOXISIERUNG 59

der expliziten politischen Theorien zeigen, sondern in der An-


lage der Grundbegrifflichkeiten. Der Laclausche Politikbegriff
läßt sich auf die Elemente einer Unentscheidbarkeit (Disloka-
tion) und deren beginnende Überwindung durch das Treffen
einer Entscheidung in einer antagonistischen Situation, also
einer Auseinandersetzung über die Auflösung der Unentscheid-
barkeit, charakterisieren. Ich möchte im folgenden deshalb ge-
rade der Art und Weise des Umgangs mit dem Problem der Un-
entscheidbarkeit und der dennoch erfolgenden Entscheidung
nachgehen.
Unentscheidbarkeiten werden in der Systemtheorie auf unter-
schiedlichen Systemebenen angesiedelt:5 Da sich alle sozialen
Funktionssysteme auf einen zweiwertigen Code stützen, führt
dessen selbstreferentielle Begegnung zum Fundierungsparadox
des Systems (i)6. Unentscheidbarkeiten zeigen sich aber nicht
nur als derartige Paradoxien, sondern ebenso auf der Ebene des
systemischen Operierens als Gleichmöglichkeit unterschiedli-
cher Operationen (ii).
(i) Damit ein Funktionssystem seine eigene Identität bezeichnen
kann – ohne diese allerdings repräsentieren zu können –, führt
es einen zweiwertigen Code ein (z.B. legal/illegal, Regierung/Op-
position, etc.), der nicht in sich selbst begründet werden kann.7
Letztlich beruht dessen Instituierung auf einer äußeren Ent-
scheidung, die vom Code weder abgeleitet noch legitimiert wer-
den kann. Diese Grundlosigkeit des Codes zeigt sich v.a. dann,
wenn der Code auf sich selbst trifft: Ist beispielsweise die Unter-
scheidung von legal und illegal legal? Mit der selbstreferentiellen
Selbstbegegnung offenbart sich das vom Code Ausgeschlossene
als Unentscheidbarkeit, als Oszillieren zwischen zwei Werten,
welche sich gegenseitig sogleich wieder annullieren. Diese ›fun-
damentale‹ Unentscheidbarkeit kann, so fatal sie auch sein mag,
nicht vermieden werden, will man an der autopoietischen
Selbstkonstituierung von Systemen festhalten. Es bleibt nur ein
Management dieser Paradoxie übrig, d.h. ihre Entfaltung mittels
Programmen der Entparadoxisierung. Dies geschieht auf unter-
schiedlichste Weise: Der irrationale Instituierungsakt eines Co-
des wird etwa in der Form von Gründungsmythen, von Postra-
tionalisierungen (vgl. auch Glanville) seiner ›Irrationalität‹ ent-
kleidet und mit dem Sinnhorizont des jeweiligen Systems kom-
patibel oder mit dem Verweis auf das schon Bestehende an-
schlußfähig gemacht.
Dies bedeutet aber nicht, daß auf eine zumindest partielle Auflö-
60 URS STÄHELI

sung von Paradoxien verzichtet würde; vielmehr bedarf es einer


unableitbaren Entscheidung, einer irrationalen Setzung, damit
das Oszillieren zwischen den beiden Werten unterbrochen wird.
In von Foersters Worten: »Only those questions that are in prin-
ciple undecidable, we can decide« (zit. gem. Luhmann, 1994:
22). Den Moment, bevor die Entscheidung getroffen werden
wird (bei Laclau der Moment der Unentscheidbarkeit und Dislo-
kation), nennt Luhmann »offene Kontingenz« (1994: 23). Diese
Offenheit wird letztlich konzentriert im Akt einer einzigen Ent-
scheidung, welcher die vormalige »offene Kontingenz« als ihre
eigene Kontingenz inhäriert. Darin, daß die »offene Kontingenz«
sich derart transformiert bewahrt, zeigt sich auch, daß Entpara-
doxisierung niemals eine Auflösung von Paradoxien ist und
diese gar verschwinden lassen würde. Der Begriff der Paradoxie
hebt die Unmöglichkeit einer völligen Auf-Lösung hervor, bleibt
doch stets ein blinder Fleck übrig, der durch jeden Versuch, ihn
zu beobachten, sich nur in die neue Beobachtung verschiebt.
(ii) Da jedes System auf kein umfassenderes Fundament zurück-
greifen kann, als auf eine erst retroaktiv zu beobachtende Unter-
scheidung, ergeben sich im Laufe seiner Autopoiesis ständig
Konflikte über den Verlauf ihrer Fortsetzung. Dem Laclauschen
Systemverständnis ähnlich ist auch in der Systemtheorie kein
System denkbar, das alle systemischen Differenzen im voraus
determinierte, würde dies doch einen Kern voraussetzen, aus
dem sich das System planmäßig entfalten würde. Diese Unmög-
lichkeit eines vollständig konstituierten Systems – eines Systems
also, das seinen Halt in einer letzten Identität finden würde –
führt dazu, daß im Laufe seiner systemischen Reproduktion die
Anschlußoperationen nicht feststehen. Mehr noch, zuweilen
muß darüber, welche Operation realisiert werden soll, in einer
antagonistischen Auseinandersetzung entschieden werden. Die
Möglichkeit des Auftretens von Antagonismen besteht deshalb
gerade darin, daß das System nicht in strukturalistischer Manier
über einen Regelapparat verfügt, welcher jede Unentscheidbar-
keit verhindern oder auflösen könnte.
Die potentialen Orte des Politischen tauchen an jenen Orten auf,
wo das System und seine Programme den Aufschub und die Ver-
schiebung seiner Paradoxien nicht mehr erfolgreich organisie-
ren kann. Die zuvor invisibilisierte Paradoxie wird plötzlich
sichtbar und der alte Entparadoxisierungsversuch als solcher in
seiner Kontingenz erkennbar. In der Laclauschen Terminologie
könnte man dies als die politische Reaktivierung der Kontingenz
POLITIK DER ENTPARADOXISIERUNG 61

einer Entscheidung bezeichnen. Dieses Fehlschlagen etablierter


Entparadoxisierungstechniken, welche vornehmlich auf der Pro-
grammebene der Systeme angesiedelt sind, eröffnet sowohl die
Möglichkeit wie auch die Notwendigkeit der Schaffung eines
neuen Entparadoxisierungsprogrammes. Luhmann (1987, 163)
beschreibt die Entparadoxisierung als systemimmanenten Über-
windungsprozeß des sichtbar gewordenen Paradoxes: »Die (po-
sitive bzw. negative) Zirkularität der Selbstreferenz wird aufge-
brochen und in einer letztlich nicht begründbaren Weise inter-
pretiert.« Die Nähe zum Laclauschen Begriff des Politischen als
einer creatio ex nihili (welche stets auf einem historisch konfigu-
rierten Terrain stattfindet) wird hier sehr deutlich: in beiden
Fälle muß eine Unentscheidbarkeit durch eine unbegründbare
Entscheidung aufgelöst werden und beide Male wird dies als ra-
dikaler Kreationsprozeß verstanden. Nicht ohne Grund geht es
in der von Luhmann favorisierten Euryalistik um »kreative Ent-
paradoxisierung« (1991, 63).
Dennoch verweist Luhmanns Bestimmung der Entparadoxisie-
rung auf eine Leerstelle: Die Entparadoxisierung geschieht ir-
gendwie im System; mehr noch, sie findet immer schon statt, da
sie sich nur für einen Beobachter zweiter Ordnung ergibt. Ich
möchte hiermit weder die Beobachterabhängigkeit für die Kon-
stitution einer Paradoxie noch deren systeminternes Manage-
ment bestreiten, sondern auf das Funktionieren der Entparado-
xisierung genauer eingehen. Gewiß, Luhmann beschreibt so-
wohl theoretisch wie auch anhand materialreicher Studien die
Veränderung von Entparadoxisierungstechniken des Rechtssy-
stems und den Austausch von Unterscheidungen. Dennoch
bleibt gerade der Moment, in dem die Entscheidung für die eine
Unterscheidung (und nicht die andere) fällt, unthematisiert. Ge-
nau an dieser theoretischen Stelle besteht jedoch der Einsatz-
punkt des Politischen im Laclauschen Sinne: Während Luh-
mann sowohl den artikulatorischen wie auch kontingenten Cha-
rakter der Entparadoxisierung analysiert, scheint es für ihn kei-
nen Grund zu geben, diese auch als antagonistische zu verste-
hen.
Aus einer Laclauschen Perspektive erhält die Entparadoxisie-
rung ihren politischen Charakter durch die Simultaneität ver-
schiedener Möglichkeiten und die Auseinandersetzungen und
Kämpfe um die Realisierung einer dieser Möglichkeiten. Denn
die Erweiterung des Horizontes dessen, was möglich ist, wird
schnell zur Konfliktquelle über die Art der Weiterführung des
62 URS STÄHELI

Signifikationsprozesses.8 Dieses Problem wird denn auch von


Luhmann im Rahmen seines Widerspruchs- und Konfliktbegrif-
fes in »Soziale Systeme« diskutiert. Dennoch stellt er nirgends
die ›potentialisierte‹ theoretische Verbindung zwischen Entpara-
doxisierung und Widerspruch/Konflikt her, obwohl gerade Un-
entscheidbarkeitssituationen, die durch systemische Paradoxien
entstehen, zumindest ein Konfliktpotential in sich bergen.9 Was
Luhmann in ungewohnter Dramatik für den Widerspruch fest-
stellt, trifft wohl auch auf die Paradoxie zu: Widersprüche im Sy-
stem verweisen nicht bloß darauf, daß es auch anders möglich
wäre, sondern vielmehr, daß der gesamte Prozeß der Autopoiesis
abbrechen könnte (Luhmann 1984: 509). In diskurstheoretischer
Terminologie können diese Momente als Reaktivierung der kon-
tingenten Einschreibung einer systemischen Leitdifferenz be-
zeichnet werden, da dieser ihre ›Normalität‹ genommen wird.
Die für die Laclausche Theorie so wichtige Implikation von Kon-
tingenz und Endlichkeit findet sich hier in veränderter Form als
Verweis auf ein mögliches Ende der Autopoiesis gerade durch
das Fehlen jeglicher Notwendigkeit ihre Entsprechung.
Eine Paradoxie wird als Widerspruch zum Konflikt, wenn mit
diesem die Kommunikation autopoietisch weitergeführt wird
(ebd., 530). Mit der deutlichen Trennung von Konflikt und Wi-
derspruch wird die Annahme vermieden, daß bestimmte Para-
doxien oder Widersprüche automatisch zu Konflikten führen.
Auch bei Laclau findet sich diese Abgrenzung, obwohl der Be-
griff der Dislokation eher eine unbestimmte Unentscheidbarkeit
bezeichnet, während bei Luhmann ›Widerspruch‹ bereits be-
stimmte Kommunikation voraussetzt. Die von mir vorgeschla-
gene Politik der Entparadoxisierung verbindet die Auflösung
von Paradoxien mit den Auseinandersetzungen um spezifische
Entscheidungen und Programme. Mit dem Konfliktbegriff kann
mit theoretischen Mitteln der Systemtheorie ebenfalls der anta-
gonistische Charakter des Politischen gedacht werden. Die hier
bloß skizzierte Politik der Entparadoxisierung knüpft an die zu-
vor hervorgehobenen Hauptdimensionen des diskurstheoreti-
schen Konzeptes des Politischen an:
1. Die Politik der Entparadoxisierung beschränkt sich nicht auf
das politische System, sondern bezeichnet einen konstitutiven
Vorgang aller autopoietischer Systeme, da jedes System auf
einer – letztlich paradoxieerzeugenden – Differenz aufgebaut ist.
Damit wird in die Luhmannsche Systemtheorie ein Konzept ein-
POLITIK DER ENTPARADOXISIERUNG 63

geführt, das mit ihrer generellen Anlage kompatibel ist, bezieht


es sich doch auf Begriffe wie den der Paradoxie, der Unent-
scheidbarkeit und des Konfliktes, welche Luhmann auf der ge-
nerellen Ebene seines theoretischen Systems entwickelt hat.
2. Der Zentralstellung des Entscheidungsbegriffes in den beiden
Theorieangeboten wird mit der Politik der Entparadoxierung ex-
plizit Rechnung getragen. Nur eine unableitbare Entscheidung
kann zur letztlich stets prekären Entparadoxisierung führen. In
beiden Ansätzen wird zudem der Entscheidungsbegriff konse-
quent von einer Anbindung an ein rational entscheidendes Sub-
jekt gelöst. Entscheidungen müssen somit als Ereignisse im Sig-
nifikationsprozeß konzipiert werden.10
Das Konzept der Politik der Entparadoxisierung arbeitet eben-
falls mit der Unterscheidung von Unentscheidbarkeit (Disloka-
tion) und konflikthafter Entscheidung (Antagonismus). Der Un-
möglichkeit eines vollständig konstituierten Systems wurde mit
der differentiellen Begründung von jedem System Rechnung ge-
tragen: Die Auflösung von Unentscheidbarkeiten gehört somit
zum Alltag autopoietischer Systeme – zu einem gewissen Grade
sind sie daher stets disloziert. Die Temporalisierung autopoieti-
scher Systeme, d.h. die Notwendigkeit des Anschlusses von stets
neuen Ereignissen, um die Autopoiesis fortzusetzen, läßt gerade
in der Ungewißheit, ob ein Anschluß zustande kommt, die End-
lichkeit des Systems in seinen Lücken aufblitzen. Dadurch fühlt
die Systemtheorie sich aber nicht genötigt, von einer antagoni-
stischen Konstitution des Systems selbst auszugehen. Die Diffe-
renz zwischen System und Umwelt, auf welcher jedes System
basiert ist, hebt wie der diskurstheoretische Begriff des Antago-
nismus die gegenseitige Konstituiertheit der beiden Seiten her-
vor. Wie bei diesem wird auch hier das Verhältnis zwischen
äußerer und innerer Seite der Differenz als Ermöglichungs- und
Verunmöglichungsverhältnis verstanden. Kein System kann sich
selbst völlig erreichen, es bleibt immer unvollständig in seinem
Unvermögen, sich seiner selbst als Ganzheit habhaft zu werden.
Dem Entgleiten seiner Einheit kann nur in einem imaginären
Raum als unmögliches Konstrukt partieller und bloß operativer
Einhalt gewährleistet werden.11 Mit den systemtheoretischen Be-
grifflichkeiten kann zudem deutlicher unterschieden werden
zwischen den Paradoxien, die aus der differentiellen Verfassung
des Systems entstehen und den Kämpfen um Entscheidungen
innerhalb von Konfliktsystemen. Die Politik der Entparadoxisie-
rung verbindet diese beiden Ebenen miteinander, indem sie die
64 URS STÄHELI

in jedem System gegebene Notwendigkeit der Paradoxiebearbei-


tung als politischen Prozeß zu verstehen sucht. Im Gegensatz zu
Laclaus Unterscheidung von Dislokation und Antagonismus dif-
ferenziert die Systemtheorie klar zwischen Unentscheidbarkeit
und Konflikt, da Unentscheidbarkeiten auf eine letztlich nicht-
antagonistische systemkonstitutive Differenz von System und
Umwelt zurückgehen.
Die hier vorgeschlagene Politik der Entparadoxisierung benennt
in erster Linie einen Artikulationspunkt zwischen Diskurs- und
Systemtheorie, welcher damit nicht gleichzeitig zusätzliche (z.B.
subjekttheoretische) Prämissen der jeweiligen Theorie importie-
ren/exportieren möchte. Dies impliziert auch nicht, daß das
Konzept einer Politik der Entparadoxisierung sich in beiden
Theoriekontexten gleich verhält, vielmehr ist anzunehmen, daß
es in den unterschiedlichen Theoriesystemen auch verschieden
artikuliert wird: In der Luhmannschen Systemtheorie kann es
als Verweis auf eine politische Ebene jenseits des politischen Sy-
stems in Momenten der Unentscheidbarkeit dienen, ohne dabei
hinter das erreichte theoretische Niveau der Systemtheorie
zurückzufallen. Die unfaßbare ›Restunruhe‹ eines jeden Sy-
stems, sein ›blinder Fleck‹, wird hier als Anlaß genommen, ge-
rade daran weitere theoretische Perspektiven anzuknüpfen. In
der Laclauschen Diskurstheorie kann die Politik der Entparado-
xisierung bei Erarbeitung einer genaueren Unterscheidung von
Dislokation und Antagonismus helfen, sowie eine Neulektüre
der These von der Unmöglichkeit der Gesellschaft anregen, die
eine Paradoxie als einziges Fundament eines diskursiven Sy-
stems er-findet. So können auch weitere Anschlußmöglichkeiten
eröffnet werden: Mit der Politik der Entparadoxisierung wird
der Anwendungsbereich der Laclauschen Diskurstheorie ausge-
dehnt auf Bereiche jenseits von Fragen der identity politics politi-
scher und sozialer Gruppen. Eine konsequente Weiterführung
der Diskurstheorie muß nicht zuletzt Vorschläge zur Analyse
funktional ausdifferenzierter Diskurse (wie z.B. der Rechtsdis-
kurs, der ökonomische Diskurs etc.) machen, wofür eine Ausein-
andersetzung mit der Luhmannschen Systemtheorie von
großem Gewinn sein könnte.12 Die vorliegende Skizze zu einer
Politik der Entparadoxisierung hofft aufgezeigt zu haben, daß
die Laclausche Diskurstheorie gerade dann, wenn sie als allge-
meine Diskurstheorie funktioniert, reichhaltige Artikulations-
punkte für eine derartige Weiterführung bietet.
POLITIK DER ENTPARADOXISIERUNG 65

ANMERKUNGEN

1 Vgl. dazu Stäheli (1995)


2 In seine neueren Arbeiten identifiziert Laclau das Nicht-Diskursive mit
dem Lacanschen Realen.
3 Damit soll keineswegs bestritten werden, daß bestimmte Organisations-
formen erfolgreicher sind als andere.
4 Es ist hier nicht möglich, die theoretischen Konsequenzen dieser Spal-
tung zwischen Singularität und Universalität zu diskutieren. Es sei nur
darauf verwiesen, daß auf diesem Spannungsverhältnis die Laclausche
Hegemonietheorie basiert ist.
5 Vgl. Luhmann (1987; 1988; 1991) für die Entwicklung des
Paradoxie/Entparadoxisierungskonzeptes und Luhmann (1984, 399ff.;
1994) für den Begriff der Entscheidung.
6 Vgl. Stäheli (1996) für eine ausführliche Diskussion des Verhältnisses
von leerem Signifikanten und Code.
7 Ein ähnliches Argument ließe sich auf der konstitutiven Systemebene,
welche mit der Differenz von Umwelt/System bezeichnet wird formulie-
ren. Auch hier handelt es sich um einen unbegründbaren Einschnitt in
einen ›unmarked space‹, der sich nur auf sich selbst berufen kann.
8 Vgl. hier Luhmanns (1984) Ausführungen zum Widerspruchs- und Kon-
fliktbegriff.
9 Es scheint, als ob der Widerspruchsbegriff zahlreiche gemeinsame Züge
mit dem der Paradoxie teilt (Kreation von beobachtungsabhängiger Un-
entscheidbarkeit, Widerspruchsbildung durch Systemreferenz), wenn
auch das Verhältnis der beiden Begriffe ungeklärt bleibt.
10 Dennoch trennen sich die beiden theoretischen Strategien, wenn die sub-
jekttheoretischen Implikationen genauer betrachtet werden: Bei Laclau
findet eine gleichursprüngliche Konstituierung des Subjektes im Ent-
scheidungsakt statt, während Luhmann auf subjekttheoretische Annah-
men, welche über die Beschreibung von Personen (i.S.v. Subjektpositio-
nen) innerhalb seiner Sozialtheorie hinausgehen, vollständig verzichtet.
11 Genau hier müßte eine Diskussion Luhmanns von Spencer Brown über-
nommen Begriffes des ›re-entries‹ stattfinden (vgl. Fuchs 1992 und die
Luhmann Publikationen ab etwa 1990).
12 Dies bedeutet allerdings nicht, daß deshalb notwendigerweise, wie in der
Luhmannschen Systemtheorie, die diskursive Organisation moderner
Gesellschaften primär durch funktionale Differenzierung gekennzeich-
net wird.
66 URS STÄHELI

LITERATUR

Derrida, Jacques (1973) ›Différance‹, pp. 129-160 in J. Derrida, Speech and


Phenomena. Evanston: Northwestern University Press.
Fuchs, Peter (1992) Die Erreichbarkeit der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhr-
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Laclau, Ernesto (1983) Socialisme et transformation logique, in Buci-
Glucksmann, Ch. (Hg.), La Gauche, le pouvoir, le socialisme, Paris,
331–338.
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don: Verso.
Laclau, Ernesto (1993) ›Power and Representation‹, pp. 277–296 in M. Po-
ster (ed.), Politics, Theory, and Contemporary Culture. New York: Colum-
bia University Press.
Laclau, Ernesto (1995) ›Deconstruction, Pragmatism, Hegemony‹ in Chantal
Mouffe (Hg.) Deconstruction and Pragmatism, London und New York:
Routledge.
Laclau, Ernesto / Mouffe, Chantal (1991; engl. 1985) Hegemonie und radikale
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Luhmann, Niklas (1984) Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie.
Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Luhmann, Niklas (1987) ›Tautologie und Paradoxie in der Selbstbeschrei-
bung der modernen Gesellschaft‹ Zeitschrift für Soziologie 16 (3): 161-
174.
Luhmann, Niklas (1991) ›Sthenographie und Euryalistik‹, pp. 58–82 in H.U.
Gumbrecht/K.L. Pfeiffer (eds.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammen-
brüche, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Luhmann, Niklas (1994) ›Die Paradoxie des Entscheidens‹, Nummer 1(1):
22–32.
Stäheli, Urs (1995) ›Gesellschaftstheorie und die Unmöglichkeit ihres Gegen-
standes: Diskurstheoretische Perspektiven‹, Schweizerische Zeitschrift
für Soziologie21(2): 361–390
Stäheli, Urs (1996) ›Der Code als leerer Signifikant?‹, Soziale Systeme, 2, 2:
31–55
Willke, Helmut (1992) Ironie des Staates. Grundlinien einer Staatstheorie po-
lyzentrischer Gesellschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Plurale Subjekte als
konkrete Endlichkeiten

ODER WIE LACLAU MIT KANT


GELESEN WERDEN KANN

RADO RIHA

Wir werden uns im folgenden mit einer theoretischen Aufgabe


befassen, die von E. Laclau in seinem Text »Universalismus, Par-
tikularismus und die Frage der Identität«1 gestellt wurde. Sie
umfaßt ein Doppeltes. Erstens, den Versuch einer spezifischen
Neuthematisierung des Subjekts: Es gilt, plurale Subjekte als
»konkrete Endlichkeiten« zu denken, »deren Begrenzungen die
Quelle ihrer Stärke darstellen«2. Und zweitens, den Versuch
einer Neuthematisierung des Universellen: Es gilt herauszufin-
den, ob sich mit dem Universellen neue Sprachspiele spielen
ließen. Das heißt, Sprachspiele, die sich nicht in die Fallstricke
eines essentialistischen Objektivismus oder eines relativistischen
Partikularismus verfangen. Merken wir noch an, daß mit beiden
Problemstellungen von Laclau eine deutliche Demarkationslinie
gezogen wird. Neue Formen einer mannigfaltigen Subjektivität
sind weder mit einem transzendentalen Subjekt noch mit einer
im objektiven System eingebetteten Subjektposition gleichzuset-
zen. Die Neuthematisierung des Universellen schließt wiederum
jene zwei Einstellungen aus, die mit dem Standpunkt des mo-
dernen Universellen unlösbar verbunden zu sein scheinen. Ei-
nerseits die systematische Verkennung des jeweiligen partikula-
ren Äußerungsortes der Universellen, andererseits die Absage
vom Universellen im Namen eines irreduziblen Rechts des Parti-
kularen.
Beide Aufgaben verlangen von uns gewiß, Grenze, Begrenzung
und Negativität als positive Bedingungen der Möglichkeit jeder
Identitätsbildung aufzufassen3. Wir selbst werden hier das
Gemeinsame, das beide untrennbar verbindet folgendermaßen
68 RADO RIHA

formulieren, dabei, wie wir hoffen, dem Anspruch der Laclau-


schen Unternehmung treu bleibend: Es geht darum, einen neuen
Typ des Universellen, ein singuläres Universelles zu konzeptuali-
sieren. Es handelt sich um ein Universelles, dessen Vorausset-
zung und Produkt etwas bildet, das dem Universellen radikal
fremd, heterogen ist: Ein Singuläres, das für das Universelle
seine unüberschreitbare Grenze, also sein Reales darstellt.
Die von Laclau gestellte theoretische Aufgabe impliziert in unse-
rer Lesart so noch ein Drittes. Sie bringt nämlich als ihren nicht-
umgehbaren Bezugspunkt den philosophischen Ansatz Kants
hervor. Die Verbindung beider Fragen, der nach der Subjekti-
vität als konkreter Endlichkeit und der nach einem Universellen,
das seinem inhärenten Herrschafftsanspruch abgesagt hat, führt
letztendlich dazu, jene theoretische Frage zu rekonstruieren, die
von Kants Philosophie, genauer gesagt, von seiner Kritik der Ur-
teilskraft, umkreist wird. In Laclaus Problemstellung wird somit
auch schon eine Neulektüre der dritten Kritik praktiziert. Eine
Neulektüre insofern, als sie den Anspruch enthält, radikal mit
verschiedenen Spielarten einer universalistisch-modernisti-
schen, mehr oder weniger dem habermasschen Denkansatz ver-
bundenen Aneignung der dritten Kritik zu brechen4. Im Versuch,
diesen unausgesprochenen Anspruch der Laclauschen Problem-
stellung darzulegen, liegt das Hauptanliegen unseres Textes. Die-
sem Anliegen gemäß wird es unumgänglich sein, der Kantschen
Argumentation auch in der ihr eigenen Begriffsentwicklung zu
folgen.
***
Unser Vorschlag, »Laclau mit Kant« zu lesen, geht also von der
Voraussetzung aus, daß durch Kants Kritizismus der Horizont
gegeben ist, innerhalb dessen das von Laclau angesprochene
Problem eines »singulären Universellen« überhaupt erst gestellt
werden kann. Wir können diesen Horizont vermittelst einer
Überlegung umreißen, zu der uns Guy Lardreau in seinem Ver-
such einlädt, Kants praktische Philosophie im Rahmen einer ne-
gativen, den Knoten des Symbolischen, Imaginären und Realen
zusammenbindenden Philosophie zu lesen.
Kant lehrt uns, meint Lardreau, daß es nicht möglich sei, daß
die Moral, wenn sie möglich ist, nicht das wäre, was Kant selbst
darüber geschrieben habe. Es könne also streng genommen von
keiner kantischen Moral gesprochen werden. Der »Kantismus«
sei nämlich nichts anderes als die Äußerung der Bedingungen
der Möglichkeit der Moral schlechthin. Deshalb können wir auch
PLURALE SUBJEKTE 69

nicht zwischen der Moral von Kant und einer anderen Moral
wählen, sondern sind gezwungen, uns entweder für die Moral,
d.h. für Kants allgemeingültige Moral, oder aber für eine Ethik,
d.h. für eine bestimmte, immer partikularen Zielsetzungen ver-
schriebene Kunst des Lebenskönnens, zu entscheiden.5
In Lardreaus Bemerkung ist unserer Meinung nach mehr ent-
halten als ein bloßer Verweis auf die bekannt/erkannte Tatsache,
daß in Kants praktischer Philosophie die Grundlegung einer all-
gemeingültigen, d.h. für keinen Fall, wenn nicht für alle Fälle gel-
tenden Moral zu finden ist.6 Das Mehr liegt im Hinweis, daß es
die allgemeine, d.h. von jeder partikularen Einstellung abstrahie-
rende Grundlegung der Moral nur darum gibt, weil sie von einer
partikularen Philosophie, von der Philosophie Kants, als solche
geäußert wurde. Dieser Hinweis ist nun alles andere als trivial. Er
stellt uns vielmehr in ihrer Elementarform die Struktur des sin-
gulären Universellen vor, jenes Problems also, mit dem sich, wie
wir gesagt haben, Kants dritte Kritik befaßt. Wenn wir uns hier
des Begriffspaares Subjekt der Aussage – Subjekt der Äußerung
bedienen, dann kann diese Elementarform auch so gelesen wer-
den: Das universelle Subjekt der moralischen Aussage ist nur
deshalb möglich, weil es als solches geäußert wurde, also von
einem Subjekt der Äußerung konstituiert und getragen wird.
Funktion und Sinn des Äußerungssubjekts als Ort, an dem das
Universelle konstituiert wird, können wir hier in drei Schritten
bestimmen. Zunächst einmal läßt sich vom Subjekt der Äuße-
rung sagen, daß es nicht mit Kants Philosophie zusammenfällt,
obwohl erst von ihr das Universelle ausgesagt und damit konsti-
tuiert wird. Kants Philosophie als Äußerungsort des Universellen
fällt nicht mit ihr selbst als einem spezifischen Philosophem aus
dem Ende des 18. Jhdt. zusammen, so wie »Kant« als Subjekt
der Äußerung der universellen moralischen Aussage nicht mit
dem empirischen Philosophen Kant identisch sein kann. Würde
Kant selbst dieses Äußerungssubjekt sein, dann wäre seine
Grundlegung einer allgemeinen Moral ja nur eine verallgemei-
nerte individuelle Erfahrung, würde das Äußerungssubjekt seine
Philosophie sein, dann hätten wir es mit einer unter vielen mög-
lichen moralischen Einstellungen zu tun. Mit anderen Worten,
Kant kann als empirisches Individuum bzw. als Repräsentant
einer besonderen Philosophie nur vom Allgemeinen her verstan-
den werden. Dies ist eine notwendige Folge der Struktur des
Kantschen Universellen, das, sobald es einmal gegeben ist, den
70 RADO RIHA

unhintergehbaren Erscheinungsrahmen des Empirisch-Beson-


deren, Zufälligen bildet.
In einem zweiten Schritt wandelt sich die bloß negative Bestim-
mung, daß nämlich das empirisch-partikulare Subjekt nicht
auch das Äußerungssubjekt sein kann, in dessen erste positive
Definition um: Das Äußerungssubjekt ist für das Universelle
selbst notwendig, es ist sein konstitutiver Bestandteil, fällt aber
mit keinem partikularen Subjekt, das die universelle Aussage
tätigt, zusammen. Es ist der Ort, an dem das Universelle konsti-
tuiert wird, aber dort, wo das Universelle sozusagen zu sich
kommt, ist es gleichzeitig durch eine unüberbrückbare Distanz,
durch das Äußerungssubjekt, von sich getrennt. Da das Äuße-
rungssubjekt mit keinem besonderen Subjekt zusammenfällt,
bleibt es für das Universelle unbegreifbar, damit aber nicht nur
fremd, sondern inexistent. Das Subjekt der Äußerung ist nur als
inexistentes da: Es ist ein Punkt der Inexistenz, der die Existenz
des Universellen gewährleistet. Das Subjekt der Äußerung, so
wie wir es hier verstehen, ist also nicht das Subjekt, das im Zwie-
spalt zwischen dem, was gesagt werden sollte, und dem, was
tatsächlich gesagt wurde, auftaucht. Es ist nicht der sich ständig
verschiebende wortwörtliche Sinn des Aussagesubjekts, dessen
nie zu fassendes Selbst. Das Äußerungssubjekt ist vielmehr der
Punkt, an dem diese immer wieder entgleitende, unmögliche
Identität des Aussagesubjekts als solche da ist, auch wenn ihr
Da-Sein von diesem her unbegreifbar bleibt.
Von hier aus läßt sich nun im dritten Schritt die positive Defini-
tion des Äußerungssubjekts strenger bestimmen: Das Subjekt
der Äußerung vergegenwärtigt durch sich selbst, durch seine Ine-
xistenz, die Möglichkeit, daß es das Universelle – das, sobald es
einmal da ist, absolut notwendig ist – hätte auch nicht geben
können. Das Subjekt der Äußerung existiert nicht, aber gerade
seine Inexistenz ist ein konstitutives Bestandteil des universellen
Aussagesubjekts. Es ist deshalb notwendig, weil es die Inexi-
stenz, d.h. das Moment der radikalen Kontingenz des absolut
notwendigen Universellen vergegenwärtigt.
Erlauben wir uns hier eine kürzere Digression: Wenn man schon
nach dem Äußerungssubjekt der universellen Moral Kants su-
chen wollte, dann sollte man unserer Meinung nach von jener
Stelle in der Kritik der praktischen Vernunft ausgehen, an der
Kant die Möglichkeit einer Begründung der Moral durch empi-
rische Bestimmungsgründe ausschließt und dann bemerkt:
»[ … ] und es gibt also entweder gar kein oberes Begehrungsver-
PLURALE SUBJEKTE 71

mögen, oder reine Vernunft muß für sich allein praktisch sein,
d.i. ohne Voraussetzung irgend eines Gefühls [ … ] durch die
bloße Form der praktischen Regel den Willen bestimmen kön-
nen«7. Monique David-Ménard weist in ihrem Artikel »L’univer-
sel chez Sade et chez Kant«8 überzeugend nach, wie Kant seine
eigene Hypothese von der möglichen Unmöglichkeit des oberen
Begehrungsvermögens durch eine »Rhetorik des Unbedingten«,
einem Verfahren, in dem er Beispiele der Unbeständigkeit, Zu-
fälligkeit und Unberechenbarkeit des empirischen Handelns an-
führt und dann diese Unbeständigkeit stillschweigend als Recht-
fertigung der streng prinzipiellen moralischen Gesinnung fun-
gieren läßt, wieder verdrängt.
Was aber Kant durch die »Rhetorik des Unbedingten« systema-
tisch ausklammert, ist unserer Meinung nach weniger die für
einen Augenblick erwähnte Möglichkeit der Inexistenz des obe-
ren Begehrungsvermögens, d.h. die Tatsache, daß Kant, wie Da-
vid-Ménard hervorhebt, die Notwendigkeit seiner Existenz nie
wirklich nachweist – Kant selbst versucht ja diesen ausbleiben-
den Nachweis im Begriff des Faktums des Moralgesetzes zu den-
ken. Kants Äußerung von der möglichen Unmöglichkeit des ver-
nunftbestimmten Willens stellt nicht den Augenblick dar, in dem
Kant für einen Augenblick eine Unzulänglichkeit, etwas Unbe-
gründetes in seinem Beweisgang sehen läßt. Ganz im Gegenteil,
es stellt vielmehr den Augenblick dar, in dem der wahre Begrün-
dungsakt des unbedingten Moralgesetzes sichtbar wird. Begrün-
dend ist aber die Äußerung von der Unmöglichkeit des oberen
Begehrungsvermögen insofern, als von ihr die Operation ihrer
eigenen Ausschließung in Gang gesetzt wird, diese Aussch-
ließungsoperation aber, in ihrer positiven Bestimmung betrach-
tet, nichts anderes ist als die Grundlegung der universellen Mo-
ral. Durch den Äußerungsakt wird die Inexistenz des vernunftbe-
stimmten Willens nicht nur als eine Möglichkeit gesetzt, sie ist
vielmehr im Äußerungsakt selbst wirklich da, d.h. sie wird durch
ihn als konstitutiver Bestandteil des reinen Willens gesetzt.
Durch den Äußerungsakt wird das unbedingte Moralgesetz ei-
nerseits zwar möglich, andererseits wird aber damit in das Un-
bedingte eine radikale Kontingenz eingeführt. Es ist diese radi-
kale Kontingenz des Unbedingten, die der Äußerungsakt ver-
gegenwärtigt, die von Kant nicht gesehen werden kann und des-
halb durch die »Rhetorik des Unbedingten« verdeckt wird.
Kehren wir nun zur Lardreaus Bemerkung zurück, aus ihr fol-
gende Schlußfolgerung ziehend: Kants praktische Philosophie
72 RADO RIHA

führt im anscheinend trivialen Sachverhalt, daß die universelle


Moral untrennbar mit ihrer partikularen, kantischen Ausdrucks-
form verbunden ist, mit ihr aber nicht zusammenfallen kann, so-
zusagen an sich selbst das Problem vor, daß es im Universum des
von ihr eingeführten Universellen auch ein Partikulares gibt, das
sozusagen für sich selbst existiert, ein Partikulares, das inner-
halb des Universellen nie vorgestellt, nie mitgezählt, sondern im-
mer nur dazugezählt werden kann. Dieses Partikulare ist das
Universelle selbst, es ist, streng genommen, dessen faktische Exi-
stenz, die aus keinem übergeordneten Universellen ableitbar und
als solche absolut kontingent ist. Das Universelle Kants gibt es
nur, wenn es gleichzeitig noch in der Form seines eigenen Falles
da ist, genauer gesagt wenn es als irreduzibler, singulärer »Fall
des Universellen« sich selbst supplementiert: So etwa, wie Kants
Philosophie zur Grundlegung der allgemeinen Moral immer da-
zugezählt werden muß, sich aber auf sie nicht zurückführen
läßt.
Und genau dieser Sachverhalt wird unserer Meinung nach auch
von Laclau in seinem Vorgehen angesprochen, in dem er dem
klassischen Einwand gegen das Universelle, daß nämlich dieses
immer vom partikularen Ort seiner Entstehung geprägt wird,
zwar zustimmt, sich aber damit nicht zufriedengibt. Er sieht
nämlich darin kaum etwas mehr als eine erste Formulierung
eines sowohl theoretischen als praktisch-politischen Problems,
das noch seiner Lösung harrt. Es handelt sich um die Operation
einer »systematischen Dezentrierung«9 des westlichen Universa-
lismus, in der das Universelle zwar bewahrt, seine notwendige
Verbindung mit einem Partikularen aber unterbrochen werden
soll. Davon ausgehend, daß das Universelle einerseits mit dem
Partikularen unvereinbar sei, andererseits aber unabhängig von
diesem doch nicht existieren kann, soll der Erkenntnis Geltung
verschafft werden, daß die Verbindung des Universellen mit dem
Partikularen historisch konstruiert und kontingent, als solche
aber sowohl unannehmbar als auch veränderbar sei.10 Diesen
Zusammenhang einer unlösbaren und zugleich kontingenten
Verbindung verstehen wir selbst hier folgendermaßen: a) das
Universelle wird immer von einem Partikularen bestimmt, b)
dessen Partikularität bleibt für das Universelle als solche immer
kontingent, c) aber die Kontingenz des Partikularen ist für das
Universelle selbst absolut notwendig, von ihm untrennbar. Die-
sen Sachverhalt versuchen wir hier wiederum mit dem Begriff
des singulären Universellen auszudrücken: Es handelt sich, wie
PLURALE SUBJEKTE 73

gesagt, um ein Universelles, das in seiner Universalität und Not-


wendigkeit nur so zustande kommen kann, daß es von einem
ihm Äußeren, Heterogenen und Kontingenten supplementiert
wird.
Den Ansatz einer strengen theoretischen Konzeptualisierung des
kontingenten, singulären Universellen ist aber unserer Meinung
nach in der Problematik der reflektierenden Urteilskraft, mit der
sich Kants dritte Kritik befaßt, zu finden. In ihr wird das Kon-
zept eines Subjekts umrissen, das als Ort der Verbindung von
zweierlei fungiert: Der Sinnlichkeit des Subjekts als seiner kon-
stitutiven, inneren Begrenzung, und der universellen Vernunft,
die von einer irreduziblen Kontingenz geprägt und deshalb in-
konsistent ist. Der Bezug auf das Zusammenfallen einer in sich
begrenzten Subjektivität und eines kontingenten Universellen,
das von Kant in der dritten Kritik gedacht wird, hilft uns so zu
verstehen, daß die Aufgabe, die wir hier von Laclau übernom-
men haben, von uns verlangt, das Problem zu denken, wie das
Subjekt als jenes Reale erscheinen kann, das vom Symbolischen
als Überschuß seines eigenen Bestehens hervorgebracht wird.
***
Im Rahmen unserer Problemstellung kann die Grundfrage der
dritten Kritik auch als Ausbildung der in der Kritik der reinen
Vernunft vorgenommenen, aber nicht in Gänze ausgeführten
transzendentalen Theorie der Sinnlichkeit verstanden werden.
Wir können hier nicht im Einzelnen auf die komplexe Problema-
tik dieser Ausbildung in den drei Kritiken eingehen. Es wird uns
genügen, sie als Versuch zu bestimmen, die paradoxe Verbin-
dung jener zwei Terme auf den Begriff zu bringen, deren Zusam-
menfügung den Kern der »kantischen Erfindung« in der Trans-
zendentalen Ästhetik der ersten Kritik ausmacht: Sinnlichkeit a
priori11. Kants Theorem einer apriorischen Sinnlichkeit hat be-
kannterweise dem modernen Thema der Endlichkeit des Sub-
jekts den Weg gebahnt, die vor allem von Heidegger als konstitu-
tives Merkmal der kantischen Subjektivität hervorgehoben wird.
Die Ausbildung der transzendentalen Theorie der Sinnlichkeit in
der dritten Kritik läßt sich in dieser Hinsicht als Explikation der
konzeptuellen Vorbildlichkeit der angeführten kantischen Ver-
bindung für jedes Denken der Endlichkeit des Subjekts, auch für
ein heutiges, verstehen. Worin besteht nun diese Vorbildlichkeit?
Wenn wir davon ausgehen, daß Apriorität und Vernünftigkeit re-
ziprok sind, dann läßt sich das Vorbildliche des Kantschen An-
74 RADO RIHA

satzes einfach genug bestimmen: Der Begriff einer Sinnlichkeit a


priori weist deutlich darauf hin, daß bei Kant Sinnlichkeit und
Vernunft von Anfang an nur von ihrem Verhältnis her definiert
werden, daß es sie vor diesem Verhältnis in ihrer positiven Iden-
tität sozusagen gar nicht gibt. In der Ausarbeitung einer voll-
ständigen, sowohl »objektive« wie »subjektive« Prinzipien um-
fassenden transzendentalen Theorie der Sinnlichkeit12 werden
also nur die Konsequenzen des notwendigen Verhältnisses von
Sinnlichkeit und Vernunft entwickelt, d.h. beide Terme werden
durch die Wirkungen definiert, die in jedem von ihnen der Vor-
rang ihres Verhältnisses hinterläßt. Die Vorbildlichkeit der Kant-
schen Problemstellung liegt letztendlich darin, daß sowohl Sinn-
lichkeit als auch Vernunft als brüchige, mehr noch, unmögliche
Identitäten thematisiert werden. Die Sinnlichkeit, in der dritten
Kritik in der Form des Gefühls von Lust/Unlust konzeptualisiert,
ist nicht nur als das gedacht, was sich dem objektivierenden Zu-
griff des Verstandes entzieht,13 sondern soll gerade als solche, d.h.
als ein sich konstitutiv dem Begriff Entziehendes auf den (Ver-
nunft)Begriff gebracht werden. Bei der Vernunft wird wiederum
ihre Universalität mit etwas Kontingentem »vervollständigt«,
das die universelle Vernunft auf immer mit dem Charakter des
Nicht-Allen prägt.
Auf der Seite der Sinnlichkeit liegt eine der wesentlichen Folgen
der Artikulation von Sinnlichkeit und Vernunft in ihrem notwen-
digen Verhältnis in der Bestimmung des Gefühls der Lust/Unlust
als autonomem Gemütsvermögen, das sich auf Prinzipien a pri-
ori gründet. Die Bestimmung erfolgt vermittels der für das Ge-
fühl charakteristischen Wende von der objektiven Referenz der
Vorstellung, von ihrer Beziehung auf das Objekt, zu ihrer bloß
subjektiven Referenz, ihrer Beziehung bloß auf das Subjekt.14
Diesseits jeder intentionellen Ausrichtung des Erkenntnis- oder
Begehrungsvermögens wird durch die Wende zum bloß Subjek-
tiven der Vorstellung die Subjektivität als Wirkung der Betäti-
gung der Gemütsvermögen auf das Gemüt festgehalten, als
»Empfänglichkeit einer Bestimmung des Subjekts«, wie Kant
das Gefühl der Lust/Unlust auch definiert15. Für uns ist hier fol-
gendes wesentlich: Die Verselbständigung des Gefühls zieht
auch eine Neubestimmung der Rezeptivität des erkennenden
Subjekts, damit aber auch eine Neubestimmung seiner konstitu-
tiven Endlichkeit nach sich. Unserer Meinung nach erscheint
nun erst in dieser Neubestimmung die Endlichkeit wirklich als
innere Begrenzung, d.h. als konstitutiver Bestandteil des Sub-
PLURALE SUBJEKTE 75

jekts. Die dritte Kritik weicht endgültig der Falle einer Endlich-
keitskonzeption aus, bei der eine in sich selbst prinzipiell unbe-
grenzte Subjektivität durch äußere empirische Schranken einge-
grenzt wird. In ihr wird die Rezeptivität als der undarstellbare,
auf immer verlorene »erste« Akt der Spontaneität entwickelt.
Damit bringt die dritte Kritik ein Subjekt zur Erscheinung, das
weder das jedes Inhaltes entleerte transzendentale Subjekt = X
noch ein empirisches, als Objekt unter Objekten erscheinendes
Subjekt ist, sondern als paradoxale Vergegenwärtigung einer
transzendentalen, d.h. leeren »Inhaltlichkeit« fungiert.
Indem die Urteilskraft die Vorstellung »gänzlich auf das Sub-
jekt« bezieht, erscheint dieses also im Modus einer bloßen Emp-
fänglichkeit für das eigene Bestimmtsein. Wie Kant sagt, es fühlt
»sich selbst [ … ], wie es durch die Vorstellung affiziert wird«. 16
Wie ist nun dieses Beziehen der Vorstellung bloß aufs Subjekt zu
verstehen? Mit anderen Worten, was fühlt das Subjekt, wenn es
im Gefühl der Lust/Unlust »sich selbst« wahrnimmt, wie es
durch das Spiel der Erkenntnisvermögen in der Vorstellung affi-
ziert wird?
Die Antwort auf diese Frage ist in Kants Begriff des Gemütszu-
standes zu suchen17. Bei diesem Begriff, dessen Bedeutung bei
Kant zwischen einer logischen Einheit des Bewußtseins und der
»substantiellen« Einheit der Seele schwankt,18 ist für uns folgen-
des interessant: Das Gemüt ist einerseits das System dreier sog.
apriorischer Gemütsvermögen, des Erkenntnisvermögens, des
Begehrungsvermögens und des Gefühls der Lust/Unlust.19 Ande-
rerseits ist der Zustand des Gemüts, in den das Gemüt jeweils
durch das Zusammenspiel seiner Erkenntniskräfte anläßlich
einer gegebenen Vorstellung versetzt wird,20 immer mit dem Ge-
fühl der Lust/Unlust identisch, fällt mit ihm zusammen, wie
Kant sagt. Der springende Punkt hier liegt jetzt darin, daß erst
im Augenblick dieses Zusammenfallens des Gemüts mit dem Ge-
fühl, im Augenblick, in dem das Subjekt »sich selbst« empfindet,
wie es durch die Vorstellung affiziert wird, überhaupt vom
Gemüt als System dreier Gemütsvermögen, also auch von einem
Subjekt in seinem »Selbst« gesprochen werden kann.
In seinem Zustand ist das Gemüt eigentlich nicht so sehr bei
sich. Der Gemütszustand ist vielmehr die Bewegung, in der das
Gemüt zu sich selbst kommt, »sich« sozusagen als Gemüt erst
setzt. Das Spezifische dieser Bewegung des Zu-sich-Selbst-Kom-
mens des Gemüts liegt nun unserer Meinung nach darin, daß
von Kant kein irgendwie schon präexistentes »Selbst« des
76 RADO RIHA

Gemüts vorausgesetzt wird. Im Gefühl der Lust/Unlust, in dem


die Wirkung der Vorstellung aufs Gemüt empfunden wird,
kommt das Gemüt wortwörtlich zu sich. Das Gemüt bildet sich
als Ganzes dreier Gemütsvermögen in einer Bewegung heraus,
in der es sich mit einem seiner Teile gleichsetzt. Es handelt sich
um eine Bewegung, in der das Gefühl der Lust/Unlust als das Ei-
gene des Gemüts und gleichzeitig als ein dem Gemüt Anderes,
als etwas das Selbst des Gemüts notwendig immer Supplemen-
tierendes fungiert. Mit anderen Worten, das Gemüt kommt
außerhalb seiner selbst, im Gefühl, zu sich, es setzt sein Selbst
als ein Anderes, Äußeres. Durch die Sinnlichkeit des Gefühls
wird in das Innerste des Gemüts, in das Selbst des kantischen
Subjekts eine irreduzible Äußerlichkeit eingeschrieben.
Diese dem Gemüt zugleich äußerliche und innerliche Sinnlich-
keit des Gefühls ist nun nichts anderes als die Verbindung eines
konstitutiv begrenzten Subjekts und einer inkonsistenten uni-
versellen Vernunft, von der wir oben gesprochen haben. Um un-
sere Behauptung entwickeln zu können, werden wir analytisch
zwei miteinander untrennbar verbundene Merkmale des Ge-
fühls unterscheiden. Erstens, das Gefühl im Gemüt, das Gefühl
als Gemütsvermögen a priori, das einen konstitutiven Bestand-
teil des Systems dreier autonomer Gemütsvermögen bildet.
Zweitens, das Gefühl als inhaltliche Bestimmung des Subjekts,
d.h. als Empfindung der Wirkung der sich betätigenden Er-
kenntniskräfte auf das Gemüt. Sehen wir uns zunächst das erste
Merkmal an.
Das Gefühl in seiner transzendentalen Bedeutung, als Gemüts-
vermögen a priori angesprochen, ist ein Gefühl, das, noch bevor
es die im reflektierenden Urteilsakt hervorgebrachte Wirkung
der Vorstellung eines Gegenstandes auf das Gemüt verzeichnet,
eine solche Einwirkung erst möglich macht. Wir können den Un-
terschied von Gefühl als verzeichnete Wirkung und Gefühl als
ihre Ermöglichung auch so ausdrücken: Das Gefühl ist als auto-
nomes Gemütsvermögen nicht die Einschreibung der Wirkung
der Vorstellung in das Gemüt, sozusagen ihr Ein-Druck, es ist
vielmehr jenes, was zunächst einmal den Platz für diese Ein-
schreibung freistellt, ihn sozusagen erst »leermacht«.
Dieser leere Platz ist aber das Gemüt selbst: Erst durch das Ge-
fühl als autonomes Vermögen bildet sich ja das Gemüt als Sy-
stem seiner drei Vermögen heraus. Das Gefühl der Lust/Unlust
gehört dem Gemüt als sein eigener Platz an, d.h. als der Platz für
die Einschreibung der Affizierung des Gemüts durch die Refle-
PLURALE SUBJEKTE 77

xion einer gegebenen Vorstellung. Die Sinnlichkeit des Gefühls


als Gemütsvermögen a priori ist der leere Platz, an dem über-
haupt die Gemütsvermögen zusammentreffen können. Sie ist
eine Empfänglichkeit, Rezeptivität des Subjekts, aber diese
Empfänglichkeit liegt sozusagen diesseits bzw. vor jener sich im-
mer in räumlich-zeitliche Koordinaten einschreibenden und ka-
tegorial bestimmten Rezeptivität für Gegenstände, die zum Ge-
samt der objektivierenden Konstitutionsleitungen der transzen-
dentalen Subjektivität gehört.
In der Sinnlichkeit des Gefühls bekommt so die Rezeptivität des
Subjekts, wie oben erwähnt, eine neue Bedeutung. Die erste Kri-
tik führte die Rezeptivität der Sinnlichkeit als Notwendigkeit des
Affiziertwerdens des Subjekts ein, d.h. als Notwendigkeit einer
an die Existenz »äußerer« Objekte gebundenen Anschauung. Die
Notwendigkeit dieser »äußeren Existenz« ist aber transzenden-
tallogisch gesehen problematisch21, da sie den Überrest eines
verschwiegenen Realismus zu verbergen scheint. Der problema-
tische Status der Gegebenheit des Objektes hängt unserer Mei-
nung nach damit zusammen, daß die Rezeptivität des Subjekts
in der ersten Kritik selbst als eine unmittelbare Gegebenheit des
Vorstellungsvermögens fungiert. Sie ist als solche einfach ange-
nommen, ist sozusagen einfach neben die Spontaneität des Sub-
jekts gestellt:22 So kann dann auch der Eindruck entstehen, daß
die spontane, hervorbringende Kraft des Subjekts durch die Re-
zeptivität irgendwo »von Außen« die zu bearbeitende Materie
zugestellt bekommt.
Die Empfänglichkeit für die Bestimmung des Subjektes, diese
für das Gefühl der Lust/Unlust charakteristische Rezeptivität, ist
nun nichts unmittelbar Angenommenes: Sie ist vielmehr ein Mo-
ment, in dem das Gemüt sich selbst als Gemüt erst »hervor-
bringt«. In ihr »setzt« das Gemüt sein Selbst als leeren Ort einer
Empfänglichkeit für das Affiziertwerden durch Gegenstände, als
Ort einer ursprünglichen Rezeptivität. Die Rezeptivität des
Gemüts ist jetzt nicht mehr etwas bloß Angenommenes, sie wird
vielmehr in die Spontaneität des Subjekts eingeschrieben. Der
»erste«, auf immer verlorene und nichtdarstellbare Akt der
Spontaneität des Subjekts besteht darin, eine irreduzible Rezep-
tivität, Passivität als ihr Eigenstes zu setzen. Die Rezeptivität
gehört so zum Subjekt, aber sie ist kein Vermögen des Subjekts.
Eher müßte man sagen, daß sich in ihr das konstituierende Sub-
jekt im Modus seines radikalen Un-Vermögens, seiner immer
von Innen kommenden Begrenzung vorfindet.
78 RADO RIHA

Durch eine solche Konzeptualisierung der Rezeptivität des Sub-


jekts greift aber die dritte Kritik entscheidend in die moderne
Frage der Endlichkeit des Subjekts ein. In ihr ist sozusagen
avant la lettre eine Zurückweisung jener universalistischen Deu-
tung der Endlichkeit zu finden, die etwa für den habermasschen
Denkansatz kennzeichnend ist. In diesem Rahmen wird die End-
lichkeit des Subjekts im Grunde genommen als Notwendigkeit
verstanden, daß das Subjekt in seiner prinzipiell durch nichts
begrenzten Spontaneität, das Subjekt als Vermögen eines abso-
luten Neubeginns, in seinem empirischen Dasein immer schon
durch die empirische Gegebenheit der Gegenstände bestimmt
wird. Endlichkeit ist also hier der Name dafür, daß eine in sich
unbegrenzte, universelle Spontaneität des Subjekts von »äuße-
ren Gegenständen«, mit Kant gesprochen, von arbiträren »Ge-
legenheitsursachen«23 begrenzt wird: Eine Einstellung, die dazu
führt, daß das Vermögen des absoluten Neubeginns in einen un-
begrenzten, offenen Sinnhorizont projiziert wird, aus dem her
das empirisch begrenzte Subjekt seine Subjektivität versteht.
Es ist nicht schwer zu sehen, daß Kants Konzeptualisierung der
Sinnlichkeit des Gefühls eine solche Interpretation außer Kraft
setzt. Wenn in der Rezeptivität, wie wir zu zeigen versucht ha-
ben, das Subjekt erst zu sich, zu seinem »Selbst« kommt, dann
kann die Endlichkeit des Subjekts nicht mehr in der »von
Außen« kommenden Begrenzung seiner Spontaneität loziert
werden. Vielmehr fällt mit der Rezeptivität als »erstem« unein-
holbaren, spontanen Akt des Subjekts die Begrenzung in die
Spontaneität selbst. Und durch den Akt der inneren Begrenzung
wird die Subjektivität als Ort des empirisch Unbegrenzten und
Unbedingten gesetzt. Als Ort des empirisch Unbegrenzten und
Unbedingten hat die Subjektivität absolut nichts mit den objekti-
vierenden Konstitutionsleitungen des transzendentalen
Subjekts24 zu tun – und gerade in diesem »nichts zu tun haben«
besteht die Sinnlichkeit des Gefühls bzw. die Endlichkeit als
Stärke des Subjekts, jene Endlichkeit, die von Laclau und von
Kant gedacht wird. Mit anderen Worten, Endlichkeit des Sub-
jekts ist der Namen für die radikale Unterbrechung der Konstitu-
tionsleistungen des Subjekts, für den gähnenden Abgrund der
Leerstelle der ursprünglichen Rezeptivität, die das Wesen der
Subjektivität ausmacht. Das Subjekt ist endlich, weil seine Sub-
jektivität der Ort einer radikalen Destitution jeder konstituierten
Wirklichkeit und damit auch jeder substantiellen Selbigkeit des
Subjekts ist. Es ist endlich, weil es seinem »Wesen« nach »stark«
PLURALE SUBJEKTE 79

genug ist, die Wirklichkeit der Sinnkonstitution zu unterbre-


chen, ihr eine Grenze zu setzen, an der sie zerschellt. Das endli-
che Subjekt ist der Ort einer radikalen Unterbrechung, und die
Sinnlichkeit des Gefühls ist die Erscheinungsform des endlichen
Subjekts, das endliche Subjekt als erscheinende Unterbrechung.
Mit der Bestimmung der Sinnlichkeit als Erscheinungsform des
endlichen Subjekts sind wir zum zweiten von uns analytisch un-
terschiedenen Merkmal der Sinnlichkeit des Gefühls gekommen,
zum Gefühl als Empfindung bzw. »Kenntlichmachung«25 der
Wirkung des Verhältnisses der Erkenntnisvermögen untereinan-
der anläßlich einer gegeben Vorstellung auf das Gemüt. Was
durch das Gefühl kenntlich gemacht wird, ist also, etwas verein-
facht gesagt, eine durch die jeweilige Vorstellung hervorgerufene
inhaltliche Bestimmung des Subjekts. Vorstellungen sind aber
immer in den »Gelegenheitsursachen ihrer Erzeugung in der Er-
fahrung«26 verankert, deshalb ist auch die im Gefühl verzeich-
nete Bestimmung des Subjektes, von ihrem Inhalt her betrach-
tet, immer »gelegentlich«, d.h. durch arbiträre empirische Um-
stände veranlaßt. Das Gefühl der Lust/Unlust in seiner transzen-
dentalen Bestimmung kann aber der Definition nach keine empi-
risch-arbiträre inhaltliche Bestimmung des Subjekts verzeich-
nen. Im Gefühl als Gemütsvermögen a priori kann nur etwas In-
haltliches des Subjekts kenntlich gemacht werden, das nicht em-
pirisch-zufällig, sondern eine notwendige Bedingung der Mög-
lichkeit des Subjekts ist. Was könnte aber, wenn wir uns diesen
Ausdruck hier erlauben, dieses durchs Gefühl verzeichnete
»transzendentale Inhaltliche« des Subjekts sein?
Die einzelnen Bestimmungen des Subjektes sind, den jeweils ge-
gebenen Vorstellungen gemäß, veränderbar, einer fortwähren-
den Umwandlung unterworfen. Wie veränderbar sie aber auch
sein mögen, das Gemüt, das »Selbst« des Subjekts gibt es nur als
ein immer schon durch eine spezifische Bestimmung geprägtes
Gemüt, als einen so oder anders gefühlten Gemütszustand. Und
es ist gerade dieses »immer schon Geprägtsein«, das vom Gefühl
der Lust/Unlust in seiner transzendentalen Bestimmung vertre-
ten wird. Im Gefühl wird das kenntlich gemacht, was von der ge-
fühlten inhaltlichen Bestimmung des Subjekts übrigbleibt, wenn
man das Zufällig-Empirische ihrer jeweiligen Erscheinungsform
wegdenkt: Die Notwendigkeit der gefühlten Bestimmung selbst,
die Notwendigkeit des Gemüts im Zustande des Gefühls. Das
Gemüt im Zustand des Gefühls ist aber das Gemüt als leerer
Platz für die Einschreibung der empfundenen Wirkung der Vor-
80 RADO RIHA

stellung auf das Subjekt. Das »Inhaltliche«, das im Gefühl ver-


zeichnet wird, ist nichts als die Leere des Einschreibungs-Plat-
zes, durch dessen Offenhalten sich das Gemüt, wie wir gesehen
haben, konstituiert. Das Gefühl der Lust/Unlust als Empfindung
der gegeben Vorstellung ist die materialisierte Präsenz des leeren
Platzes, jener ursprünglichen Rezeptivität des Subjekts, das den
»urvedrängten« ersten Akt der Spontaneität darstellt. Als solches
ist es eine leere Sinnlichkeit, d.h. ein Sinnliches, das nur materi-
ell anwesend, nur da, in sich selbst aber un-sinnig, nichts als die
Vergegenwärtigung eines »Sinns ohne Bedeutung« ist.
Die in der Sinnlichkeit des Gefühls verzeichnete inhaltliche Be-
stimmung des Subjekts ist in sich un-sinnig, aber in dieser Un-
Sinnigkeit absolut notwendig. Notwendig deshalb, weil in die-
sem Punkt der Auslöschung des Sinns, und darin liegt unserer
Meinung nach auch das Unüberschreitbare der Kantschen Kon-
zeptualisierung, gerade die Funktion der Vernunft in ihrem not-
wendigem Verhältnis mit der Sinnlichkeit zur Geltung kommt.
Mit anderen Worten, die Sinnlichkeit des Gefühls als Erschei-
nungsform des endlichen Subjekts, des Subjekts als punktueller
und radikaler Unterbrechung seiner eigenen objektivierenden
und objektiven Weltbezüge, ist in Kants Konzeptualisierung
nichts anderes als der Ort des wahren Universellen der Vernunft.
Die Vernunft tritt aber in der dritten Kritik in der Form der Idee
von der Zweckmäßigkeit der Natur für unser Erkenntnisvermö-
gen auf. Wir werden an der komplexen Problematik der Zweck-
mäßigkeit bei Kant hier nur zwei Momente festhalten. Erstens,
die Idee der Zweckmäßigkeit ist das Prinzip a priori, das die re-
flektierende Urteilskraft sich selbst als Prinzip der Beurteilung
des Besonderen als Besonderem27 gibt. Und zweitens, der vom re-
gulativen Ideal der Vernunft in der ersten Kritik gestellten For-
derung nach einer systematischen Einheit der Erfahrungser-
kenntnis – ein Anspruch, von dessen Verwirklichung die Mög-
lichkeit des Universellen als solchem abhängt – kann erst vermit-
tels des transzendentalen Prinzips der Zweckmäßigkeit, das die
reflektierende Urteilskraft sich selbst gibt, also, um eine tref-
fende Formulierung von J. Peter zu gebrauchen, vermittels der
Struktur der Urteilskraft28 entsprochen werden.
Was ist nun für die Struktur der Urteilskraft kennzeichnend? Zu-
sammengefaßt gesagt: In der Reflexion der Urteilskraft über die
gegebene Vorstellung kommt es »unabsichtlich«, sozusagen
»von selbst«29, also ohne daß ein Begriff des Verstandes eingrei-
fen würde, zu einer solchen Zusammenstimmung zweier Er-
PLURALE SUBJEKTE 81

kenntniskräfte, bei der Beurteilung des Schönen etwa des Ver-


standes und der Einbildungskraft, daß ein Erkenntniseffekt, der
Effekt einer »Erkenntnis überhaupt«30, hervorgebracht wird. Die
Urteilskraft wird in ihrer Reflexion weder von einem objektiven
Verstandesbegriff geleitet noch versucht sie einen Begriff des
Gegenstandes zu erarbeiten, nichtsdestoweniger bringt aber das
spontane Zusammenspiel der Erkenntniskräfte anläßlich der
Vorstellung eines Gegenstandes ein Gefühl der Lust hervor, das
einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit stellt und insofern er-
kenntnismäßig, rational strukturiert ist. Das Gefühl ist zwar ra-
tional strukturiert, besitzt aber nicht die Allgemeinheit und Not-
wendigkeit einer objektiven Erkenntnisleistung. Nicht dem
Gegenstand kommt also die rationelle Struktur zu, erkenntnis-
mäßig strukturiert ist nur das subjektive Verhältnis der Erkennt-
nisvermögen, und dieser Sachverhalt wird von Kant als formelle
Zweckmäßigkeit der Natur für unser Erkenntnisvermögen be-
nannt. Der beurteilte Gegenstand erscheint auf diese Weise als
rational erfaßbar, weil aber seine Rationalität nicht vom Ver-
stand konstituiert wird, bewahrt er dennoch das für das Beson-
dere charakteristische Merkmal des für den begreifenden Ver-
stand Zufälligen. In der »Erkenntnis überhaupt«, die sich im Ge-
fühl der Lust ausdrückt, kann das Besondere so gedacht werden,
daß es sich in das notwendige System einer durchgängigen Er-
fahrungseinheit einfügen läßt, zugleich aber in der irreduziblen
Kontingenz seiner Besonderheit, als »an sich zufällig«31 erhalten
bleibt. Das bedeutet aber auch, und das ist für uns hier wesent-
lich, daß die Vernunftidee der systematischen Einheit der Er-
kenntnis, ihr Universalitätsanspruch also, durch das Moment
einer irreduziblen Kontingenz begründet und möglich gemacht
wird: Durch den kontingenten Erkenntniseffekt, der von der re-
flektierenden Urteilskraft hervorgebracht wird.
Die durch das Prinzip der Zweckmäßigkeit begründete Idee der
systematischen Einheit wird in der dritten Kritik zu einem Uni-
versellen, das sowohl Allgemeinheit und Notwendigkeit als auch
Besonderheit und Kontingenz umfaßt: das Besondere bleibt für
das Universelle zwar »an sich zufällig«, die von ihm repräsen-
tierte Kontingenz ist aber für das Universelle absolut notwendig.
Durch den Eintritt des Kontingenten ins Universelle wird dieses
vervollständigt: Die universelle Vernunft ist jetzt als allumfas-
send ausgewiesen, d.h. als ein Universelles, dem es an Nichts,
weder an Notwendigkeit noch an Kontingenz, weder am Inneren
noch am Äußeren, weder am Allgemeinen noch am Besonderen
82 RADO RIHA

in seiner irreduziblen Besonderheit mangelt. Aber gerade weil


ihm nichts fehlt, verwandelt sich das Universelle der Vernunft in
ein von Innen begrenztes Universelle, d.h. in ein Universelles,
das seinem Wesen nach nicht-alles, inkonsistent ist.
Wir können die Eigentümlichkeit des Universellen in der dritten
Kritik auch so ausdrücken. Während in der ersten Kritik die uni-
verselle Vernunftidee in ihrem regulativen Gebrauch als leerer
Ort eines auf immer abwesenden Unbedingten fungierte, tritt in
der dritten Kritik die inkonsistente, weil universelle Vernunft
mit dem Anspruch auf, gerade als dieses abwesende, unmögli-
che Unbedingte immer auch schon anwesend zu sein. Und die-
ser Anspruch wird von der Sinnlichkeit des Gefühls eingelöst.
Das »Inhaltliche«, das im Gefühl der Lust/Unlust übrigbleibt,
nachdem alles Empirisch-Kontingente der jeweiligen inhaltli-
chen Bestimmung des Subjekts weggedacht wurde, ist das In-
haltliche der Kontingenz selbst: In der Sinnlichkeit des Gefühls
wird jene Kontingenz kenntlich gemacht, vergegenwärtigt, die
für das Universelle selbst absolut notwendig ist. Das Gefühl ist
die zu ihrem Dasein gekommene radikale Kontingenz des Uni-
versellen.
Von Kant wird die Sinnlichkeit des Gefühls, wie gesagt, als jenes
Subjektive der Vorstellung konzeptualisiert, das nie durch Be-
griffe des Verstandes bestimmt, objektiviert werden kann und
sich also gegen jedes Verfügen durch die objektive Erkenntnis
radikal sperrt. Aber Kant frönt hier bei weitem keiner Mystik
eines an sich Unerkennbaren und Unbestimmbaren. Das Subjekt
fühlt im Gefühl der Lust/Unlust als apriorischem Vermögen
»sich selbst«: Dieses »Selbst«, das es hier empfindet, ist, wie wir
jetzt sagen können, das Gefühl als radikale Unterbrechung der
Sinnkonstitution, als »Sinn ohne Bedeutung«, in dem das endli-
che Subjekt da ist32. Aber dieses Moment des Un-Sinnigen ist kei-
neswegs unsinnig an sich. In der Konzeptualisierung Kants wird
es nämlich gleichzeitig als Ort des vervollständigten Universellen
der Vernunft, sozusagen als Statthalter der Möglichkeit des Uni-
versellen gedacht. Das Gefühl vertritt das Universelle insofern,
als es in seiner un-sinnigen, radikalen Kontingenz die Möglich-
keit vertritt, daß es das Universelle in dessen absoluter Notwen-
digkeit auch nicht geben könnte. Es nimmt sozusagen durch
sich selbst, durch seine eigene Kontingenz dem Universellen die
Möglichkeit ab, daß es auch nicht bestehen könnte und macht es
dadurch möglich. Anders gesagt, die Sinnlichkeit des Gefühls als
Erscheinungsform des endlichen Subjekts ist nur im Verhältnis
PLURALE SUBJEKTE 83

zum Universellen ein Un-Sinniges, also nur insofern, als dieses


Universelle in sich »unsinnig«, d.h. nicht-alles, inkonsistent ist.
***
Fassen wir, abschließend, zusammen, dabei Laclau wenigstens
andeutungsweise noch enger mit Kant verbindend. Kants in der
dritten Kritik in ihrer Vollständigkeit entwickelte transzenden-
tale Theorie der Sinnlichkeit haben wir als Artikulation von
Sinnlichkeit und Vernunft, Partikularem und Universellem in
ihrem notwendigen Verhältnis behandelt. Dieses innere, notwen-
dige Verhältnis ist es nämlich, was uns unserer Meinung nach
ermöglicht, die am Anfang angeführte doppelte Aufgabe Laclaus
in Angriff zu nehmen. Sie ermöglicht uns also einerseits, auf der
Seite des Partikularen, die Problematik der Endlichkeit des Sub-
jekts bzw. plurale Subjekte als konkrete Endlichkeiten, und ande-
rerseits, auf der Seite des Universellen, »neue Sprachspiele mit
dem Universellen« bzw. ein inkonsistentes Universelles, zu den-
ken. Dieses notwendige Verhältnis haben wir selbst als singulä-
res Universelles benannt: Es handelt sich um den Typ eines Uni-
versellen, das nur von seinen Wirkungen her gedacht werden
kann. Kants Konzeptualisierung führt uns zwei dieser Wirkun-
gen in ihrer notwendigen Artikulation vor: Das Subjekt, das end-
lich, d.h. eine punktuelle und radikale Unterbrechung jeder
Sinnkonstitution ist, und ein inkonsistentes Universelles, das
seine wahre, vollständige Form gerade am Ort dieser radikalen
Unterbrechung, in deren irreduzibler Singularität vorfindet.
Beide Male handelt es sich um Wirkungen, deren positive Be-
deutung brüchig, verschwindend, mehr noch, deren Identität in
sich selbst unmöglich ist.
Die Aufgabe, konkrete Endlichkeiten mit einem dezentrierten
Universellen zu artikulieren, verlangt also von uns, wie nicht
schwer zu sehen ist, etwas Unmögliches, Reales, jede Artikula-
tion Desartikulierendes zu artikulieren. Schwerer ist nun zu se-
hen, wie diese unmögliche Aufgabe gerade als unmögliche mög-
lich gemacht werden könnte. Genau dieses Problem wird aber
von Laclau in den Mittelpunkt seiner Reflexion des Politischen
gestellt.
Wir können es unter anderem auch in der Form der Frage nach
der Bestimmungsmöglichkeit von vielfältigen politischen Iden-
titäten finden, mit der Laclau seine Thematisierung des Verhält-
nisses zwischen dem Universellen und dem Partikularen auf das
Terrain des Politischen überträgt. Es handelt sich um eine Frage,
84 RADO RIHA

die heute durch die Vervielfältigung von ethnischen und natio-


nalen Identitäten in Osteuropa und der ehemaligen Sowjet-
union, durch neue Formen sozialer und politischer Bewegungen
im Westen auf eine wirklich sinnlich-wahrnehmbare Weise von
der historisch-politischen Situation selbst auf die Tagesordnung
gestellt wird.33 Was aber Laclaus Konzeptualisierung dieser Viel-
falt zur inhaltlichen Formulierung der Aufgabe macht, Unmögli-
ches als Unmögliches zu artikulieren, ist unserer Meinung nach
die Tatsache, daß sie, ungeachtet ihrer »praktischen« Herkunft,
bei Laclau dennoch als ein philosophisch »normiertes« Problem
erscheint. Führt uns nämlich Laclau nicht klar vor, daß das aktu-
elle situationelle Aufblühen von partikularen politischen Iden-
titäten zwar in der Form des deskriptiven Begriffs der Ausbrei-
tung festgehalten und behandelt werden kann, daß es aber so-
wohl theoretisch als auch praktisch-politisch erst dann wirklich
zählt, wenn die bestehende Vielfalt des Partikularen sozusagen
im Partikularen selbst reflektiert wird? Das heißt, wenn die Viel-
falt des Partikularen als letztendlich philosophische Frage und
»Norm« einer zur Erscheinung gekommenen »innerlich gespalte-
nen Identität«34 gestellt wird? Wir haben hier jene Formulierun-
gen im Sinn, in denen Laclau davon spricht, daß sich »ein wirk-
lich der Veränderung verschriebener Partikularismus nur durch-
setzen kann, indem er sowohl das zurückweist, was seine Iden-
tität verneint, als auch diese Identität selbst«, daß eine politi-
schen Identität nur in der »widersprüchlichen Bewegung exi-
stiert, gleichzeitig eine differentielle Identität durchzusetzen und
sie durch die Einordnung in ein nicht-differentielles Medium
aufzuheben«35. Weit davon entfernt, eine politische Situation nur
zu beschreiben, ihr zu folgen, wird hier vielmehr an die politi-
sche Wirklichkeit ein genau formuliertes Maß ihres wirklichen
Seins herangetragen.
Laclaus auf dem Terrain des Politischen formulierte, inhaltliche
Bestimmung der Aufgabe, das Unmögliche als Unmögliches zu
artikulieren, kann aber unserer Meinung nach nur in der begriff-
lichen Form der dritten Kritik, d.h. in der Form der reflektieren-
den Urteilskraft entwickelt werden. Genauer gesagt in der »Ele-
mentarform« der reflektierenden Urteilskraft, im urteilenden
Akt »Das ist der Fall«36. In diesem Urteil werden ein Partikulares,
der Fall, und ein Universelles, seine Regel, durch ihr Verhältnis
bestimmt, aber die Bestimmung geschieht nicht durch die Sub-
sumption des Partikularen unter sein Universelles. Dem reflek-
tierenden Urteilen stehen nämlich kein schon gegebenes Univer-
PLURALE SUBJEKTE 85

selles, kein Begriff und keine Regel zur Verfügung, es kann viel-
mehr nur so urteilen, daß es in der Benennung eines Partikula-
ren als Fall die ihm entsprechende Regel erst herstellt, erfindet.
Die zustandegekommene Artikulation von Partikularem und
Universellem bringt gleichzeitig als ihren auf immer verlorenen
»Ursprung« den Knoten eines singulären Universellen hervor. Es
läßt sozusagen als seine eigene Spur ein Universelles zurück, das
erst durch den abgründigen, singulären Urteilsakt, der es her-
stellt, zu seiner allumfassenden Universalität kommt, in sich
selbst also der Ort eines Unmöglichen, Realen ist. Der reflektie-
rende Urteilsakt kann insofern als eine Operation verstanden
werden, in der das im Urteilsakt selbst lozierte Reale vergegen-
wärtigt, d.h. als unmögliches Reales möglich gemacht, sozusa-
gen in seinem Unmöglichen »amortisiert« wird. In der Form des
reflektierenden Urteils interessiert deshalb, weit mehr als die je-
weilige Bestimmung von Partikularem und Universellem selbst,
vor allem die Frage, auf welche Weise und wo in ihm die Spur
des Realen geortet werden könnte.
Jetzt ist es wahrscheinlich schon klarer geworden, warum wir
argumentieren können, daß Laclaus Affirmation einer innerlich
gespaltenen politischen Identität schon ein reflektierendes Urteil
ist und nur in der Form der reflektierenden Urteilskraft aufge-
stellt werden kann. Laclaus Behauptung ist nämlich, wie wir
oben festgestellt haben, keine deskriptive Feststellung, sondern
ist schon begrifflich strukturiert. Kurz, sie ist schon eine »nor-
mative«, eine philosophische Behauptung über das Politische.
Innerhalb des metaphysikkritischen dekonstruktivistischen Den-
kansatzes, in den sich auch Laclaus Argumentation bewegt,
kann das aber nur eines bedeutet: sie stellt den Anspruch auf,
daß es eine philosophische Aussage über das Politische geben
soll, die imstande ist, dem klassischen normativen, als Relation
der Herrschaft aufgebauten Verhältnis zwischen der Philosophie
und dem Politischen auszuweichen37. Dieser Anspruch ist aber
dem Kerneinsatz der reflektierenden Urteilskraft analog, einen
neuen Typ des Universellen, d.h. ein dezentriertes, von einem ir-
reduziblen Singulären supplementiertes Universelles aufzu-
bauen. Und wegen dieser Analogie muß unserer Meinung nach
aus der Aussage von innerlich gespaltenen politischen Identitä-
ten folgende Schlußfolgerung gezogen werden: diese Aussage ist
erst dann gerechtfertigt – d.h. die in der Aussage anvisierten po-
litischen Identitäten gibt es wirklich auf dem Terrain des Politi-
schen, ohne daß es sich dabei um ein philosophisch gebotenes
86 RADO RIHA

Sein handeln würde, so also, daß ihr Gegebensein in einer abso-


luten Unabhängigkeit des Politischen von normierendem philo-
sophischen Denken verankert ist – wenn die Aussage ihrem eige-
nen Anspruch gerecht wird, die Konstruktion einer nichtnorma-
tiven Norm zu sein, d.h. die Konstruktion eines Universellen, das
weder von seinem Partikularen bestimmt wird, noch das Parti-
kulare immer schon in sich begreift, sondern von einer irredu-
ziblen Partikularität, von einem Singulären supplementiert
wird. Die philosophische Aussage von den vielfältigen Identitä-
ten ist, noch bevor sie eine Aussage über das Politische ist, eine
Aussage über die Philosophie. Sie ist als eine den Bann des phi-
losophischen Begriffs überschreitende Aussage strukturiert: als
Versuch, den philosophischen Begriff nicht so sehr zu dekonstru-
ieren, als vielmehr einen nichtbegrifflichen Begriff, d.h. einen mit
seinem Heterogenen, Realen artikulierten Begriff zu konstru-
ieren. Und nur insofern dieser Versuch gelingt, gibt es auch,
ohne daß noch eine begriffliche Demonstration ihres Gegeben-
seins notwendig wäre, auf dem Terrain des Politischen Bewe-
gungen, Gruppen, Kämpfe, die sich, wie wir mit Laclau sagen
würden, als in sich vielfältige Identitäten durch die Zurückwei-
sung ihrer differentiellen Identität ausbilden.

ANMERKUNGEN

1 Ernesto Laclau, »Universalismus, Partikularismus und die Frage der


Identität«, (aus dem Englischen von O. Marchart), in: Mesotes, Jhrg. 4,
Nr.3, Wien 1994, S. 287–299.
2 Cf. a.a.O., S. 288.
3 Cf. Ernesto Laclau, New Reflections on the Revolution of Our Time,
Verso, London, New York 1990, S 4.
4 Näheres über einige dem »Diskurs der Moderne« verbundene Lesarten
der dritten Kritik, die übrigens auch eine positive Validierung der End-
lichkeit des Subjektes und einen restringierten Gebrauch des Universel-
len vorschlagen, ist zu finden in J. Lenoble/A. Berten, Dire le norme, E.
Story Scientia, Bruxelles 1990.
5 Cf. G. Lardreau, Véracité, Verdier, Paris 1993, S. 148 ff.
6 Lardreaus Bemerkung kann auch auf das Argument von Gilles Deleuze
zurückgeführt werden, daß nämlich mit Kant zum ersten Mal vom Gesetz
als Gesetz, d.h. von einem ohne jede Bestimmung und ohne Objekt fun-
gierenden, nur in seiner Form begründeten Gesetz gesprochen werden
könne, während es vor Kant Gesetze nur im Plural, nur als so oder an-
ders bestimmte Gesetze gab, cf. Gilles Deleuze, Présentation de Sacher-
Masoch, Minuit 10/18, Paris 1967, S. 81ff.
7 KpV, A 45.
PLURALE SUBJEKTE 87

8 In: Passions et politique, Rue Descartes, No 12-13, Albin Michel, Paris


1995, S. 177-196.
9 E. Laclau, »Universalismus … «, a.a.O., S. 297.
10 Ibid., S. 297/8.
11 Cf. zu der revolutionären Bedeutung der Geste, mit der Kant durch sei-
nen Begriff einer Sinnlichkeit a priori die traditionelle Koppelung von
Spontaneität und Apriorität, Verstand und Apriorität unterbrochen hat,
Francois-Xavier Chenet, L’assise de l’ontologie critique. L’esthetique trans-
cendentale, Presses universitaires de Lille, 1994, S. 38.
12 Die Sinnlichkeit interessiert uns hier als die irreduzibel subjektive Dimen-
sion der stets intentionellen Vorstellungen, wie sie bei Kant etwa in der
Metaphysik der Sitten bestimmt wird: »Nun kann das Subjektive unserer
Vorstellungen entweder von der Art sein, daß es auch auf ein Objekt zum
Erkenntnis desselben [ … ] bezogen werden kann. In diesem Fall ist die
Sinnlichkeit, als Empfänglichkeit der gedachten Vorstellung, der Sinn.
Oder das Subjektive der Vorstellungen kann gar kein Ernenntnisstück
werden; weil es bloß die Beziehung derselben aufs Subjekt und nichts zur
Erkenntnis des Objektes Brauchbares enthält, und alsdann heißt diese
Empfänglichkeit der Vorstellung Gefühl; welches die Wirkung der Vor-
stellung (diese mag sinnlich oder intellektuell sein) aufs Subjekt enthält
und zur Sinnlichkeit gehört, obgleich die Vorstellung selbst zum Ver-
stande oder der Vernunft gehören mag«, Einleitung, A/B 2.
13 Beim Gefühl der Lust oder Unlust wird die Vorstellung »lediglich auf das
Subjekt bezogen, und dient zu gar keinem Erkennen, auch nicht zum
demjenigen, wodurch sich das Subjekt selbst erkennt. [ … ] Wir [ … ]
wollen das, was jederzeit bloß subjektiv bleiben muß und schlechter-
dings keine Vorstellung eines Gegenstandes ausmachen kann, mit dem
sonst üblichen Namen des Gefühls benennen«, KdU, Par. 3, A/B 9-10.
14 Diese Wende kommt deutlich in der transzendentalen Definiton des Ge-
fühls in der Kritik der Urteilskraft zum Ausdruck. Sie lautet: »Lust ist ein
Zustand des Gemüts, in welchen eine Vorstellung mit sich selbst zusam-
menstimmt, als Grund, entweder diesen bloß selbst zu erhalten (denn
der Zustand einander wechselseitig befördernden Gemütskräfte in einer
Vorstellung erhält sich selbst), oder ihr Objekt hervorzubringen. Ist es
das erstere, so ist das Urteil über die gegebene Vorstellung ein ästheti-
sches Reflexionsurteil. Ist es aber das letztere, so ist es ein ästhetisch-pa-
thologisches, oder ästhetisch-praktisches Urteil«, KdU, Einleitung, 1.
Fassung, VIII, Anmerkung.
15 KdU, Einleitung, 1. Fassung, III.
16 KdU, Par. 1, A/B 3.
17 Vermittels dieses Begriffes löst Kant das Problem, das sich beim Ver-
such, das moralische Gefühl der Achtung a priori zu begründen, gestellt
hat. Der zweiten Kritik war es zwar gelungen, eine Verbindung a priori
zwischen dem Gefühl der Lust und dem Erkennntis- und Begehrunsver-
mögen herzustellen, insofern als in der objektiven Bestimmung des Be-
gehrungsvermögens durch die Vernunft zugleich subjektiv ein morali-
sches Gefühl vermerkt werden konnte. Aber es ließ sich nicht erklären,
daß diese Verbindung kein kausales Verhältnis zwischen dem Vernunft-
begriff als Ursache und Gefühl als Wirkung sei. So stellt Kant im Par. 12
88 RADO RIHA

der dritten Kritik zunächst fest, daß in der zweiten Kritik das Gefühl der
Achtung »von allgemeinen sittlichen Begriffen a priori abgeleitet«
wurde, und korrigiert dann diese Aussage sofort: »Allein selbst da leite-
ten wir eigentlich nicht dieses Gefühl von der Idee der Sittlichkeit als Ur-
sache her, sondern bloß die Willensbestimmung wurde davon abgeleitet.
Der Gemütszustand aber eines irgend wodurch bestimmten Willens ist
an sich schon ein Gefühl der Lust und mit ihm identisch [ … ]« KdU,
Par, 12, A/B 36.
18 Cf dazu Louis Guillermit, L’eludicidation critique du jugement de gout se-
lon Kant, Editions du CNRS, Paris 1986, S. 148 f.
19 Für den Unterschied des Gemüts als »System« und als bloßes »Aggregat«
cf. KdU, 1. Einleitung, III.
20 Etwa des Verstandes und der Einbildungskraft, wie etwa bei der reflek-
tierenden Beurteilung des Schönen.
21 Wenigstens auf der Ebene der transzendentalen Ästhetik, auf der wir uns
hier bewegen.
22 Wir wollen damit nicht andeuten, daß die irreduzible Zweiheit der Er-
kenntnisquellen in einer »ursprünglichen« Einheit verbunden werden
sollte. Ganz im Gegenteil, was in der ersten Kritik fehlt – und in der dit-
ten »nachgeholt« wir – das ist gerade die Artikulation der Zweiheit als ir-
reduziblen Zweiheit.
23 Cf. KrV, B 118/A 86.
24 Durch diese Konstitutionsleistungen wird ja die Welt der empirischen
Erfahrung gerade konstituiert.
25 »Also kann jene subjektive Einheit des Verhältnisses /der Erkenntnisver-
mögen – RR/ sich nur durch Empfindung kenntlich machen«, KdU, Par.
9, A/B 31.
26 KrV, A 86/B 118.
27 Das Anliegen der reflektierenden Urteilskraft ist es, die Möglichkeit einer
Erkenntnis des Besonderen in seiner irreduziblen Besonderheit zu be-
gründen, d.h. die prinzipiell unendliche empirische Mannigfaltigkeit der
Naturformen in ein System der Erfahrung zu bringen. Im Unterschied
zur bestimmenden Urteilskraft besitzt dabei, wie wir wissen, die reflek-
tierende Urteilskraft kein Allgemeines, keine Norm, vermittels deren sie
urteilen könnte. Sie stellt vielmehr in der Beurteilung eines Besonderen
als »Falls einer Regel« mit dem besonderen Fall gleichzeitig auch die
ihm entsprechende Regel auf.
28 Cf. Joachim Peter, Das transzendentale Prinzip der Urteilskraft. Eine Un-
tersuchung zur Funktion und Struktur der reflektierenden Urteilskraft bei
Kant, Kantstudien-Ergänzungsheft, Bd. 126, de Gruyter, Berlin 1992. In
diesem Werk wird die These von der Begründung der Idee der systemati-
schen Einheit durch das Prinzip der Zweckmäßigeit überzeugend und
detailliert nachgewiesen.
29 Cf. KdU, Einleitung, 1. Fassung, IX, Einleitung, 2. Fassung, VII.
30 KdU, Par. 9, B/A 29.
31 KdU, Einleitung, 2. Fassung, V, BXXXIV/A XXXII.
32 Das im Gefühl empfundene »Selbst« ist also der Ort eines »dritten«, rea-
len Subjekts, das weder das leere transzendentale (symbolische) Subjekt
noch das empirische »objektivierte« (imaginäre) Subjekt ist. Sein Exi-
PLURALE SUBJEKTE 89

stenzmodus müßte unserer Meinung nach mit dem Existenzmodus ver-


bunden werden, der von Kant im Ich der transzendentalen Apperzeption
angesprochen wird, im Ich » … nicht wie ich mir erscheine, noch wie ich
an mir selbst bin, sondern nur, daß ich bin«, KrV, B 157.
33 Cf. E. Laclau, »Universalismus … «, S. 288.
34 Ibid., S. 295.
35 Ibid., S. 293 u. 294.
36 Das, was wir hier »Elementarform« der Urteilskraft nennen, wird von
Lyotard als wesentliches Merkmal »des Kritischen« bei Kant entwickelt;
cf. Jean-Francois Lyotard, »l’enthousisame. La critiquw kantinenne de
l’histoire, Editions Galilée, Paris 1986; dt. Übersetzung v. Ch. Pries, Der
Enthousiasmus. Kants Kritik der Geschichte, Passagen Verlag, Wien
1988.
37 Einem Verhältnis, in dem die Philosophie entweder das Politische in sei-
ner Wahrheit bestimmt oder aber, in einer spiegelbildlichen Umkehrung
dieser Relation, vom Politischen in ihrer Wahrheit bestimmt wird.
Gibt es eine Politik des Politischen?

DÉMOCRATIE À VENIR BETRACHTET VON


CLAUSEWITZ AUS DEM KOPFSTAND

OLIVER MARCHART

Gibt es eine Politik des Politischen, bzw. sollte es sie geben? Eine
seltsame Frage. Offenbar setzt sie eine Differenz zwischen den
zwei Begriffen der Politik und des Politischen voraus – sowie
eine gewisse Unsicherheit bezüglich ihrer Vereinbarkeit. Nach
einem kurzen Überblick über entsprechende Theorisierungen
dieses Unterschieds (Nancy, Ÿiÿek, Lefort, Foucault, immer wie-
der mit Rückgriff auf Laclau) werde ich auf verschiedene Vor-
schläge eingehen, das Politische in einer Politik zu aktualisieren
(Badiou, Derrida und wiederum Laclau/Mouffe). Damit hoffe
ich, in diesem zweiten Schritt zeigen zu können, wie eine reine
Politik des Politischen keine Politik sein kann, sondern im be-
sten Fall eine Ethik.
Im französischen Theorieraum ist mit der einschlägigen Unter-
scheidung zwischen Politik und dem Politischen vor allem das
Projekt von Jean-Luc Nancy und Philippe Lacoue-Labarthe ver-
bunden. Ausgehend von der »Les fins de l’homme«-Konferenz
1980 in Céresy entwickelte sich über die damaligen Teilnehmer
das Projekt, die Dekonstruktion auf ihr politisches Potential hin
abzuklopfen. Zu diesem Zweck gründeten Nancy und Lacoue-
Labarthe ein Zentrum für philosophische Forschung zum Politi-
schen an der Ecole Normale Supérieure, das bis 1984 existieren
sollte1. In diesem Zeitraum wurde programmatisch eine Unter-
scheidung zwischen der Politik und dem Wesen des Politischen
herausgearbeitet, wobei letzteres koextensiv mit dem Philo-
sophischen gefaßt war. Die Unterscheidung scheint sich aus den
Problemen einer damals zur Verhandlung gestandenen konkre-
ten Politik der Dekonstruktion (Engagement, Stellung beziehen,
GIBT ES EINE POLITIK DES POLITISCHEN? 91

Marx verteidigen, oder Rückzug) ergeben zu haben, deren un-


klarer Status wiederum eine Dekonstruktion des Politischen not-
wendig machen sollte.
Nach der zentralen These sei »alles politisch« geworden, wo-
durch sich andererseits das Politische immer mehr zurückziehe
und dem »ökonomisch-sozio-technisch-kulturellen Komplex«
Platz2 mache – eine Anlehnung an Hannah Arendt und Martin
Heidegger. Mit einem solchen Konzept des Politischen – das im
schlimmsten Fall mit einer »Rückrufung« des Politischen enden
könnte, was Nancy und Lacoue-Labarthe natürlich strikt
zurückweisen3 – hat die Laclausche gleichnamige Kategorie al-
lerdings kaum etwas zu tun. Das Politische ist bei Laclau nicht
ein verschüttetes Eigentliches der Politik. Ihm geht es um eine
argumentativ entwickelte Unterscheidung zweier notwendiger
Korrelate eines als Diskurs konzeptualisierten Sozialen. Das Po-
litische ist in diesem quasi-transzendentalen Sinne eine denk-
notwendige Voraussetzung, die Funktionslogik und Ermögli-
chungsbedingung von Politik und Sozialem. Wir werden darauf
zurückkommen.
Slavoj Ÿiÿek bezieht sich auf diese von Laclau und auch Claude
Lefort herausgearbeitete Differenz zwischen dem Politischen
und der Politik, wenn er die Differenz in einer zwischen Dekon-
struktion und Lacanianismus schwankenden Begrifflichkeit be-
schreibt als »die Differenz zwischen ›Politik‹ als separatem so-
zialen Komplex, einem positiv determinierten Subsystem von
Sozialverhältnissen in Interaktion mit anderen Subsystemen
(Ökonomie, Kulturformen … ) und dem ›Politischen‹ [le Poli-
tique] als dem Moment der Offenheit, der Unentscheidbarkeit,
wenn das eigentliche Strukturprinzip von Gesellschaft, die fun-
damentale Form des Gesellschaftsvertrags, in Frage gestellt
wird« (Ÿiÿek 1991, 193). Soziologien, der klassische Marxismus,
aber auch Bürgerbewegungen sind nicht bereit, das Politische
als Prinzip der Offenheit, der Unentscheidbarkeit und der Be-
drohung des Sozialen der Politik hinzuzurechnen. Wenn etwa
für die Soziologie Politik sich auf jenes Subsystem reduziert, das
sich um die Selbstregulierung der Gesellschaft zu kümmern hat,
schwindet die Bedeutung des Politischen ins Unkenntliche. Das
Politische ist nicht mehr die negativ gründende Instanz der Ge-
sellschaft – jene Instanz, welche die Gesellschaft gleichzeitig als
Horizont ermöglicht und als Totalität verunmöglicht –, und Poli-
tik ist daher nicht der Bereich, der mit der prekären Logik des
Politischen fertigwerden muß. Das Räderwerk der Subsysteme
92 OLIVER MARCHART

gleicht einer symbolischen Ordnung, die in sich kreist und deren


Symbolisierung nichts entgeht, die also kein konstitutives Äuße-
res der Signifikation kennt, resp. kein Reales im lacanschen
Sinn.
Ÿiÿek geht in der Bestimmung der Politik noch einen Schritt
weiter, indem er das spezifische Subsystem Politik geradezu die
Instanz des Politischen repräsentieren läßt. Politik sei eine Meta-
pher des Politischen, die, so Ÿiÿek in offensichtlicher Überein-
stimmung mit Derrida, an die gewalttätige Gründung der Gesell-
schaft erinnert (»gewalttätig«, da eine kontingente Enscheidung
auf einem unentscheidbaren Terrain nicht ihrerseits noch auf
eine trans-kontingente Legitimation zurückgreifen kann): »›Poli-
tik‹ als ›Subsystem‹, als eine separate Sphäre der Gesellschaft,
repräsentiert innerhalb der Gesellschaft deren vergessene Grün-
dung, deren Genese aus einem gewalttätigen, abgründigen Akt –
sie repräsentiert innerhalb des sozialen Raums, was herausfallen
muß, wenn dieser Raum sich konstituiert« (Ÿiÿek 1991, 194).
Und Ÿiÿek faßt diese Bewegung in die Lacansche Formel des
Subjekts: »Politik als Subsystem repräsentiert das Politische
(Subjekt) für alle anderen Subsysteme« (Ÿiÿek 1991, 194). Nach
dieser Annäherung an das Problem durch Ÿiÿek können wir eine
erste Arbeitsbeschreibung der beiden Bereiche wagen: Während
wir unter Politik die Instanz des »coming to terms« mit dem Po-
litischen verstehen, bezeichnen wir als dieses Politische die In-
stanz, bzw. den Ort des Antagonismus (Laclau) resp. des Realen
(Ÿiÿek), der ein solches »Zurandekommen« notwendig macht
und gleichzeitig untergräbt.

I: DAS POLITISCHE ALS INSTANZ


DES ANTAGONISMUS

Auf die Frage, was von Karl Marx bleibe, antwortet Chantal
Mouffe: »Eine nach wie vor wichtige Einsicht – die wir aber
nach dem Verschwinden des Marximus auf eigene Gefahr igno-
rieren – ist die Idee des Antagonismus. Der Fehler von Marx und
später des Marxismus lag darin, Antagonismus nur im Sinne von
Klassen-Antagonismus zu denken« (Mouffe 1993b, 408). Mit der
Einführung des Konflikts in Form einer grundlegenden gesell-
schaftlichen Teilung bricht Karl Marx mit der klassischen Vor-
stellung einer Gesellschaft als Einheit. Mit dem Kapitalismus
gibt sich der Klassenkampf, der nach Marx in jeder Gesellschaft
GIBT ES EINE POLITIK DES POLITISCHEN? 93

der Motor der Geschichte war, in seiner reinen Form zu erken-


nen. Als Trennung zwischen den Mehrwert-Produzenten und de-
ren Ausbeutern, die beide über ihre Stellung zu den Produkti-
onsmitteln politisch definiert sind: als ihnen enteignet oder als
deren Besitzer. Daraus entsteht im Kapitalismus erstmals ein
vollständiges Bewußtsein des Klassenantagonismus und daraus
wiederum die politische Organisierbarkeit des Proletariats. Das
Ziel einer klassenlosen, transparenten Gesellschaft ohne Aus-
beutung impliziert für Marx das Verschwinden des Antagonis-
mus. Marcel Gauchet nennt dies das Postulat des sekundären
und auflösbaren Charakters der gesellschaftlichen Teilung. Alle fol-
genden Theorien, von Foucault über Lefort/Gauchet zu
Laclau/Mouffe, dementieren nicht nur die Gültigkeit dieses Po-
stulats, sie erkennen auch dessen totalitäre Implikationen.
Nicht nur für Chantal Mouffe ist der versöhnbare und auflös-
bare Charakter des Marxschen Antagonismus ein Ärgernis, denn
gerade die imaginäre Schließung des Antagonismus ist der di-
rekte Weg in den Totalitarismus. Mit der Psychoanalyse Freuds
und der von ihr konstatierten unüberwindbaren Spaltung des
Subjekts ist gegen diese Hoffnung auf die versöhnte Gesellschaft
gerade die Idee der prinzipiellen Unauflösbarkeit dieser Spal-
tung stark zu machen. Beide – Freud und Marx – hatten die barre
entdeckt, die die Objekte ihrer Untersuchungen durchzog: das
gespaltene Subjekt und die antagonistische Gesellschaft. Für
Gauchet ist der Totalitarismus geradezu die traumatische »Wie-
derkehr des verdrängten Politischen« (Gauchet 1990, 208). Mi-
chel Foucault bezweifelt allerdings die Entdeckung der antago-
nistischen Verfaßtheit der Gesellschaft durch Marx. So leitet
Foucault – in einer am 21. Januar 1976 gehaltenen Vorlesung –
den Umschwung zu einem antagonistischen Gesellschaftsbild
von einem früheren Diskurs einiger recht unbekannter Politiker
und Theoretiker ab (»häufig obskure Leute«, so Foucault), zu
denen Sir Edward Coke (1552-1634) und John Lilburne (1614-
1657) in England zählen, in Frankreich etwa Charles Henri
D’Estaing (1729-1794) aus dem Hause des ehemaligen Präsiden-
ten oder Filippo Michele Buonarotti (1761-1837) aus dem Hause
des ehemaligen Kaisers, weiters Augustin Thierry (1795-1837)
und Adolphe Thiers (1797-1877) (vgl. Anhang von Foucault
1986, 55ff.). Was diese Personen zu einem »Diskurs« verbindet,
ist ein Gedanke, der sich durch den gesamten Foucault der 70er-
Jahre zieht und seine Macht-Konzeption sozusagen als harter
Kern – als Skelett – stützt. In seiner kürzesten Version lautet er
94 OLIVER MARCHART

folgendermaßen: Politik ist die Fortsetzung des Krieges mit ande-


ren Mitteln.
Dieser Satz ist etwas mehr als ein lahmer Kalauer, insofern er je-
nen von Clausewitz nicht nur umdreht (was sich auch schon Le-
nin erlaubt hatte). Foucault spricht vielmehr den Verdacht aus,
daß der Gedanke bereits vor Clausewitz existierte, welcher ihn
seinerseits umdrehte. Und zwar existierte er im Diskurs4 der er-
wähnten Theoretiker. Deren Leistung sei es, nach Foucault, den
Krieg in der Friedensordnung, die Schlachtordnung in der poli-
tischen Ordnung entdeckt zu haben:
»Die rechtliche Organisation der Macht, die Struktur der Staa-
ten, der Monarchien, der Gesellschaften hat ihr Prinzip nicht
dort, wo der Lärm der Waffen verstummt. Der Krieg ist nicht zu
Ende. zunächst hat er die Geburt der Staaten eingeleitet. Das
Recht, der Frieden, die Rechte sind im Blut und Schlamm der
Schlachten geboren worden. ( … ) Das Gesetz ist nicht Befrie-
dung. Unter dem Gesetz geht der Krieg weiter, er wütet weiter
innerhalb aller Machtmechanismen, auch der geregeltsten.«
(Foucault 1986, 11f.)
Was Foucault in seiner blumigen/blutigen Sprache an diesem
Diskurs festhält, ist dessen Erkenntnis, daß es nur zwei gesell-
schaftliche Parteien gibt: »Eine binäre Struktur durchzieht die
Gesellschaft« (Foucault 1986, 12). Das ist neu gegenüber dem
organizistischen Bild vom Gesellschaftskörper, das vorherige
Gesellschaftstheorien pflegten; und es unterscheidet sich vom
Hobbesschen Naturzustand, denn nicht jeder kämpft gegen je-
den, sondern zwei Heere stehen sich gegenüber. Es existiert also
schon eine Struktur, eine Ordnung: »Eine Schlachtlinie durch-
quert die gesamte Gesellschaft durchgängig und andauernd, und
diese Schlachtlinie stellt jeden von uns in ein Lager oder in ein
anderes« (Foucault 1986, 12). Diese klare binäre Strukturierung,
als Folge des Kriegszustands hinter der Fassade des Friedens, ist
die Grundlage für die sich darauf erhebende diffusionistische
Machttheorie Foucaults. In den beiden anderen Büchern, in de-
nen er diese ausarbeitet, kehrt der auf den Kopf gestellte Clause-
witz an versteckter Stelle wieder. So fragt Foucault in Der Wille
zum Wissen: »Heißt das, daß man die Formel umkehrend sagen
muß: die Politik ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mit-
teln?« (Foucault 1983, 114). Ein paar Seiten weiter gibt Foucault
die Antwort darauf, wenn er sagt, daß »es einer der grundlegend-
sten Züge der abendländischen Gesellschaften ist, daß die Kräf-
teverhältnisse, die lange Zeit im Krieg, in allen Formen des Krie-
GIBT ES EINE POLITIK DES POLITISCHEN? 95

ges, ihren Hauptausdruck gefunden haben, sich nach und nach


in der Ordnung der politischen Macht eingerichtet haben« (Fou-
cault 1983, 124).
Und in Überwachen und Strafen stoßen wir auf denselben inver-
tierten Clausewitz, eine verborgene Konstante in Foucault: »Es
mag sein, daß der Krieg als Strategie die Fortsetzung der Politik
ist. Aber man darf nicht vergessen, daß die ›Politik‹ als die Fort-
setzung wenn schon nicht eigentlich des Krieges so doch des mi-
litärischen Modells konzipiert worden ist: als grundlegendes
Mittel zu Verhütung der bürgerlichen Unordnung« (Foucault
1992, 217). Das dürfte nun nicht nur die Sympathie Foucaults
mit der vorgestellten Tradition belegen, sondern auch den Sta-
tus, der diesem Konzept in einer Rekonstruktion einer – be-
kanntlich nicht formulierten – Politischen Theorie Foucaults zu-
zuschreiben wäre. Mit einer Betonung des Antagonismus als in-
stituierender Kategorie hinter aller Mikropolitik würde sich
Foucault zumindest tendenziell in eine Reihe politischer Philo-
sophien stellen, die das Antagonismusmodell für die Politik
übernehmen, von dem hier zitierten »disqualifizierten Diskurs«
zu Karl Marx, Carl Schmitt, Mao, Claude Lefort bis zu Ÿiÿek,
Laclau und Mouffe.
Marcel Gauchet geht zusammen mit Claude Lefort unter dem Ti-
tel »Die totalitäre Erfahrung und das Denken des Politischen«
(von Lefort redigiert) nun – wie Chantal Mouffe bezüglich der
Unauflösbarkeit des Antagonismus – von Freud aus: »Freud
gegen Marx« (Gauchet 1990, 211). Der unüberschreitbare Dua-
lismus von Lebens- und Todestrieb stehe, so Gauchet, im Zen-
trum der Organisation des Ich: »Während aber für Marx der ge-
sellschaftliche Konflikt offenkundig auf eine Gesellschaft jen-
seits des Konflikts verweist, so ist der psychische Konflikt als
letztes seelisches Organisationsprinzip für Freud ebenso offen-
kundig unauflösbar« (Gauchet 1990, 211). Diese Freudsche Kon-
zeption der Unauflösbarkeit des Konflikts muß der Marxschen
der Auflösbarkeit des Antagonismus in eine klassenlose Gesell-
schaft entgegengesetzt werden. Der kommunistische Totalitaris-
mus dementierte bekanntlich die Unauflösbarkeit des gesell-
schaftlichen Antagonismus, indem er behauptete, mit der Ab-
schaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln auch
die Ursachen des Antagonismus zwischen Kapitalisten und Ar-
beitern abgeschafft zu haben. Aber nicht nur die gesellschaftli-
che Einheit qua Beseitigung der Existenzgrundlagen der Klassen
wird vom Totalitarismus behauptet, sondern darüberhinaus die
96 OLIVER MARCHART

Identität von Staat und Volk, von Staat und Gesellschaft. Und
auch der faschistische Diskurs leugnet die Konfliktualität der
Gesellschaft, indem er die angebliche Identität der Interessen
von Kapital und Arbeit behauptet. Die demokratische Gesell-
schaft dagegen pflegt – zumindest auf den ersten Blick – ein sa-
voir vivre mit den ihr immanenten Konfrontationen und verzich-
tet auf die Illusion eines einheitlichen Volkswillens.
Was der Totalitarismus jedenfalls gezeigt hat – und der Zusam-
menbruch des Ostblocks bestätigt hierin Lefort und Gauchet
nachträglich –, war gerade das Scheitern einer bloß dekretierten
Einheit der Gesellschaft. Deren Teilung bleibt nämlich in ande-
rer Form bestehen: der Staat übernimmt jetzt mithilfe seiner
Verwaltungsbürokratie die Funktion des Ausbeuters. Wenn es
dem Totalitarismus somit nicht gelingt, die gesellschaftliche Tei-
lung qua Kollektivierung der Produktionsmittel auszulöschen,
dann drängt sich der Verdacht auf, daß die gesellschaftliche Dif-
ferenz Arbeiter/Kapitalisten nicht die politische Differenz
Staat/Gesellschaft erzeugt. An diesem Punkt stülpt Gauchet
Marx vollkommen um und behauptet das Gegenteil, nämlich die
logische Priorität des Politischen. Die politische Teilung bringt
die gesellschaftliche hervor, die Abtrennung des Staates die Klas-
senherrschaft. Doch ist die gesellschaftliche Teilung einmal als
Ursprung der politischen ausgeschlossen, schließt sich sofort die
nächste Frage an, die Frage nach dem Ursprung der politischen
Teilung.
Gauchet löst das Problem mit einem radikalen »Interpretations-
sprung«5, indem er die Kausalordnung verläßt und behauptet,
die politische Teilung sei weder ableitbar noch auflösbar, son-
dern ursprünglich:
»Ursprünglich in dem Sinne, daß der antagonistische Gegensatz
der Gesellschaft zu sich selbst auf keine vorgängig konstituierte
Grundlage in der Gesellschaft bezogen werden kann. Umgekehrt
ist es eben jener antagonistische Gegensatz der Gesellschaft zu
sich selbst, der die Gesellschaft als solche begründet, ihr zu exi-
stieren erlaubt, sie zusammenhält. Die Gesellschaft ist wesent-
lich gegensätzlich verfaßt, sie setzt sich nur im Gegensatz zu
sich selbst, d.h., indem sie sich zum Anderen ihrer selbst macht.
Ursprünglich ist die Teilung also, weil die Existenz der Gesell-
schaft ohne die politische Teilung nicht zu begreifen ist. Die
Möglichkeit von Gesellschaft hängt von der Tatsache ihrer Tei-
lung ab. Diese steht am Ursprung der Gesellschaft« (Gauchet
1990, 224f.).
GIBT ES EINE POLITIK DES POLITISCHEN? 97

Gauchet spezifiziert diese noch abstrakte Beschreibung der


Gründung des kollektiven Raums nach zwei Seiten hin. Gesell-
schaft erzeugt sich einerseits durch die Teilung zwischen sich
selbst und ihrem Außen, nämlich der Instanz der Macht, die ge-
genüber der Gesellschaft exterritorial und als symbolischer Ort
damit leer ist6. Andererseits durch die innere Teilung der durch
ihre Interessen getrennten Akteure, wofür Gauchet den Begriff
des Klassenkampfes beibehält, jedoch von jedem marxistischen
Inhalt reinigt.
Die Macht ist entgegen der Auffassung der klassischen Gesell-
schaftstheorie nicht das Zentrum der Gesellschaft, sondern ihr –
wie Derrida sagen würde – konstitutives Außen. Zwei Eigen-
schaften der Macht hält Gauchet der traditionellen Analyse ent-
gegen. Die Macht als Äußeres der Gesellschaft stellt zu ihr einen
Gegensatz dar, und sie ist die die Gesellschaft symbolisch insti-
tuierende Instanz. Besonders in ihren Repräsentationen, in
ihrem Schauspiel, demonstriert die Macht ihre Andersheit. Das
ist nicht einfach Zugabe, sondern liegt im Innersten ihrer Funk-
tion:
»Denn die Macht untersteht der Notwendigkeit, die bildliche
Darstellung einer Andersheit und Zeichen eines Außen zu sein.
Durch die Repräsentation einer Äußerlichkeit (exteriorité) richtet
sie sich im Gegensatz zur Gesellschaft ein. Die Macht bezeichnet
sich, indem sie sich als das Andere offenbart, einen Ort jenseits
und außerhalb der Gesellschaft, von dem aus diese sich als voll-
kommen erkannt, vollkommen unter einem Blick vereinigt, als
durch Zwangsmaßnahmen vollkommen erfaßbar und in ihrer
Funktionsweise vollkommen verständlich darstellt« (Gauchet
1990, 227f.).
Durch diese symbolische Instituierung einer gesellschaftlichen
Identität erlaubt die Macht es den Akteuren, die Gesellschaft als
ein Ganzes und sich selbst als diesem Ganzen zugehörig zu erle-
ben. Dieses Bewußtsein der Identität und kollektiven Zugehörig-
keit muß durch die Macht immer erst hergestellt werden. Der so-
ziale Raum wird bei Lefort und Gauchet – so wie im Anschluß
an Lacan auch bei Althusser, Pêcheux und nicht zuletzt Laclau
und Mouffe – als symbolische Ordnung konzeptualisiert. Diese
Nähe zu Lacan zeigt sich auch an der Einführung des Gesetzes-
begriffs, der für Gauchet, trotz der mit ihm verbunden Schwie-
rigkeiten, notwendig ist, die »symbolische Natur des gesell-
schaftlichen Raumes exakt zu bestimmen« (Gauchet, 229). Das
Gesetz, verstanden als das universale Prinzip des »für alle zwin-
98 OLIVER MARCHART

gend Verpflichtenden«, ist nicht die Macht selbst, deren Aufgabe


es ist, das Gesetz anzuzeigen und auf das Außen zu verweisen.
Das Gesetz (nicht zu verwechseln mit den Gesetzen) muß gerade
als »Signifikant einer das gesellschaftliche Ganze umgreifenden
Ordnung« (Gauchet 1990, 229) jenseits dieser Ordnung und ab-
seits aller Repräsentation innerhalb der Ordnung bleiben: »Die
menschliche Gesellschaft definiert sich als identischer Raum, in-
dem sie sich auf einen abwesenden Punkt bezieht« (Gauchet
1990, 230). Dadurch teilt sie sich, um überhaupt erst zu entste-
hen. Dieses grundlegende Außen war zwar schon immer Voraus-
setzung jeder Instituierung von Gesellschaft, war aber über die
längste Zeit der Menschheitsgeschichte bis zur demokratischen
Revolution besetzt: durch die Götter, die Vorfahren oder den
transzendenten Körper des absoluten Herrschers. Die Gefahr
des Totalitarismus liegt darin, den Anspruch zu erheben, diesen
gottverlassenen Ort besetzen zu können.
Der Klassenkonflikt bedeutet im Gegensatz zum ersten Augen-
schein keine Gefahr für den Zusammenhalt der Gemeinschaft,
sondern ist die zweite sie instituierende Instanz. Denn die aus
diesem grundlegenden Interessensgegensatz folgende Debatte
bildet als Differenz gerade das Band zwischen den Antagonisten:
»Durch den gesellschaftlichen Konflikt setzen sich die Einzelnen
und Gruppen als Feinde innerhalb ein und derselben Welt. Der
Kampf zwischen den Menschen erzeugt Zugehörigkeit und stellt
die Dimension der Gemeinschaft wieder her« (Gauchet 1990,
233). Wenn die Wahrheit des »fait collectif« nur in der Debatte
zu suchen ist, dann ist dessen Sinn nur im Dazwischen der Anta-
gonisten zu suchen. Dieses Dazwischen impliziert, daß der Sinn
der Gesellschaft unlokalisiert bleiben muß und sich niemand
zum Herrn und Meister des Sinns aufspielen darf.
Wiederum instituiert sich die Gesellschaft durch ihre innere Tei-
lung in Form einer fundamentalen Abwesenheit – des Grabens
zwischen den Streitenden. Es ist anzumerken, daß Gauchet hier
nicht das Wort »Diskurs« verwendet, um das Erscheinen dieser
innergesellschaftlichen Antagonismen zu bezeichnen, sondern
»Debatte«, den Titel der Zeitschrift, die er knappe zehn Jahre
später gründen sollte: »Le Débat«. Denn »Diskurs« konnotiert ja
gerade nicht eine scharfe Frontlinie zwischen den Kom-battan-
ten, die Gauchet für so wesentlich für die symbolische Institu-
ierung von Gesellschaft erachtet. Das Irrlichternde des Diskurses
wird ersetzt durch die binäre Kriegs-Logik der Debatte. Diese
binäre Codierung des Diskurses – eines Dikurses, »der dem Kö-
GIBT ES EINE POLITIK DES POLITISCHEN? 99

nig den Kopf abschlägt« (Foucault) – führt Lefort und Gauchet


wieder unausgesprochen an Michel Foucault heran. Festzuhal-
ten bleibt, daß Gauchet von zwei Teilungsachsen ausgeht, von
einer Teilung innerhalb und einer Teilung außerhalb der Gesell-
schaft, oder, wie man bei Laclau sagen könnte, von Antagonis-
men und Antagonismus. Für Lefort und Gauchet ist das Politi-
sche an die Annahme dieser zwei Achsen gebunden: »Die Ent-
scheidung, die Teilung des Gesellschaftskörpers und den Konflikt
als unauflösbar anzusehen oder nicht, führt uns mitten in das
Zentrum des Rätsels des Politischen« (Lefort/Gauchet 1990, 92).
An dieser Stelle wollen wir wieder auf Laclau und Mouffe
zurückkommen und sehen, wie sich die bisher von verschiede-
ner Seite erarbeiteten Kategorien in eine diskursanalytisch in-
formierte Hegemonietheorie einordnen lassen. In »Hegemonie
und radikale Demokratie« lassen sich zumindest zwei Verwen-
dungsweisen des Antagonismus-Begriffs unterscheiden: Antago-
nismus als »Erfahrung« der Unschließbarkeit des Sozialen und
Antagonismus als Organisationsprinzip hegemonialer diskursi-
ver Artikulation. Betrachten wir die erste Verwendungsweise, die
unmittelbar an die Überlegungen von Lefort und Gauchet ansch-
ließt. Laclau und Mouffe konstatieren eine »Erfahrung«, die
dem Scheitern der Stabilisierung einer Identität entspricht und
nicht nur – wie im Derridaschen Sinne – dem Aufschub des
transzendentalen Signifikats. Diese Erfahrung ist somit die Er-
fahrung der negativen Kehrseite des Aufschubs, seiner »Nichtig-
keit«. Die kontinuierliche Bewegung der Differenzen ist nur
möglich aufgrund der Unmöglichkeit einer stabilen Differenz.
Wir haben es hier mit zwei Perspektiven desselben Phänomens
zu tun. Dadurch stellt sich auch die Unmöglichkeit von Gesell-
schaft in diese andere Perspektive. Zur Perspektive der kontinu-
ierlichen Aufschiebung jeder Fixierung tritt als Erfahrung die
Nichtigkeit dieser Aufschiebung, die konstitutive Unmöglichkeit
der Gesellschaft als Totalität.
Laclau und Mouffe umspielen nun die Unmöglichkeit der Kon-
stitution von Totalitäten, indem sie, wie das dem Vorgehen ihres
ganzen Buches entspricht, bisherige Antagonismus-Theorien de-
konstruieren. Dabei stellen sie fest, daß oft zu erklären versucht
wurde, wie Antagonismen entstehen, selten aber, was ein anta-
gonistisches Verhältnis eigentlich ist. Hierin kommt ihnen Lucio
Collettis Rückgriff auf die Kantsche Unterscheidung zwischen
Realrepugnanz und logischem Widerspruch zu Hilfe. Im Fall der
Realrepugnanz, oder mit Colletti Realopposition, kommt beiden
100 OLIVER MARCHART

gegensätzlichen Gliedern Positivität zu: A – B. Im Unterschied


zum logischen Widerspruch existiert B unabhängig von seiner
Relation zu A, wobei man sich beide als reale Objekte vorstellen
darf. Nicht so im Fall des Widerspruchs, in dem einem Glied nur
durch seine Relation zum anderen und nicht für sich allein Sinn
zukommt. Daher existiert der Widerspruch im Gegensatz zur
Realopposition nur auf der begrifflichen Ebene von Propositio-
nen und nicht in der sogenannten Wirklichkeit.
Laclau und Mouffe kritisieren an Colletti (wie schon an Fou-
cault) die ausschließliche Disjunktion zwischen dem diskursiven
Feld der Begriffe und dem außerdiskursiven der Realobjekte.
Eine weitere Kritik ist aber folgenreicher und eröffnet eine Mög-
lichkeit, den Antagonismus näher zu bestimmen. In beiden Fäl-
len, der Realopposition wie dem logischen Widerspruch, werden
nämlich die Glieder als volle Identitäten gedacht. In beiden Fäl-
len resultiert die Relation daraus, daß A »in vollständiger Weise A
ist« (Laclau/Mouffe 1991, 180). Erst dieser prallen Identität ge-
genüber können sich B bzw. Non-A absetzen: »Im Fall des Anta-
gonismus stehen wir jedoch vor einer anderen Situation: Die
Präsenz des ›Anderen‹ hindert mich daran, gänzlich Ich selbst
zu sein. Das Verhältnis entsteht nicht aus vollen Totalitäten, son-
dern aus der Unmöglichkeit ihrer Konstitution« (Laclau/Mouffe
1991, 180).
In einem Antagonismus kommt weder mir noch meinem Anta-
gonisten vollständige Präsenz zu, weshalb unsere Relation im
Unterschied zur objektiven Relation in den Fällen von Realoppo-
sition und Widerspruch undefinierbar bleibt. Antagonismus be-
zeichnet gerade die Grenzen solcher objektiven Verhältnisse, ja
von Objektivität schlechthin, »die sich als partielle und prekäre
Objektivierung enthüllt« (Laclau/Mouffe 1991, 181). Im Spiel der
Differenzen bezeichnet der Antagonismus das Scheitern der Dif-
ferenz; er subvertiert die Fixierungsbemühungen jeder Sprache
und jeder Gesellschaft. Daher unterliegt er einer »Verdrängung«.
Das hat zwei Konsequenzen. Erstens: »Jede Sprache und jede
Gesellschaft sind durch Unterdrückung der sie durchdringenden
Unmöglichkeit konstituiert« (Laclau/Mouffe 1991, 181). Und
zweitens: Aufgrund dieser Verdrängung kann der Antagonismus
nicht wiederum durch Sprache erfaßt werden, deren Tendenz
zur Fixierung er gerade subvertiert, sondern er muß »erfahren«
werden. Nicht umsonst rekurrieren Laclau/Mouffe an dieser
Stelle auf Wittgensteins These, daß zumindest gezeigt werden
kann, was man nicht sagen kann.
GIBT ES EINE POLITIK DES POLITISCHEN? 101

Im Versuch einer Lokalisation des Antagonismus wird nun deut-


lich, daß diese Konzeption sehr nahe zu der Claude Leforts
steht. Denn indem der Antagonismus die Negativität des Sozia-
len »zeigt«, zieht er ihm eine Grenze, existiert also nicht als posi-
tives internes Moment der Gesellschaft, sondern außerhalb der
Gesellschaft, als ihr konstitutives Äußeres: »Genaugenommen
existieren Antagonismen nicht innerhalb, sondern außerhalb der
Gesellschaft; beziehungsweise sie konstituieren die Grenzen der
Gesellschaft und deren Unmöglichkeit, sich vollständig zu kon-
stituieren« (Laclau/Mouffe 1991, 181). Laclau und Mouffe setzen
sich hier gegen jede neue Substanzialisierung des Antagonis-
mus-Begriffs zur Wehr, und sie beschreiben den Antagonismus
komplementär zum Begriff des grundlegenden Außen, der in der
Fassung von Gauchet bereits vorgestellt wurde. Gleichzeitig ver-
wehren sie sich gegen die Vorstellung eines Außen als Jenseits.
Der Antagonismus grenzt nicht zwei Territorien voneinander ab.
Um nicht eine neue, vom Antagonismus »eingehegte« Totalität
zu bekommen, verlegen daher Laclau und Mouffe in einer ei-
gentümlichen Umstülpung diese äußere Grenze wiederum ins
Innere des Sozialen:
»Die Grenze des Sozialen muß innerhalb des Sozialen selbst ge-
geben sein, als etwas, das es untergräbt, seinen Wunsch nach
voller Präsenz zerstört. Gesellschaft kann niemals vollständig
Gesellschaft sein, weil alles in ihr von ihren Grenzen durchdrun-
gen ist, die verhindern, daß sie sich selbst als objektive Realität
konstituiert.« (Laclau/Mouffe 1991, 181)
Erzeugt sich Gesellschaft bei Gauchet einerseits durch Teilung
zwischen sich selbst und ihrem Außen, andererseits durch in-
nere Spaltung in der Debatte, so erzeugt sie sich damit doch nur
um den Preis ihrer Unabgeschlossenheit. Der Titel für diesen
Vorgang lautet bei Gauchet genauso wie bei Laclau und Mouffe:
Das Politische. »The political is not an internal moment of the
social but, on the contrary, that which shows the impossibility of
establishing the social as an objective order« (Laclau 1990, 160).
Der die Gesellschaft blockierende, sie verunmöglichende Anta-
gonismus ist gleichzeitig die Bedingung der prekären Möglich-
keit von Gesellschaft. Damit ist der Raum des Politischen der
Raum des Offenen, Unabgeschlossenen, Unentscheidbaren –
und bereitet damit den Raum der Entscheidung und partiellen
Schließung, den Raum der Politik. Wobei ersterer logische Vor-
aussetzung des letzteren ist.
102 OLIVER MARCHART

II – DIE ZWEI SACKGASSEN EINER


POLITIK DES POLITSCHEN

Was sind nun die Gemeinsamkeiten der Ansätze von Lefort,


Gauchet, Ÿiÿek und Laclau/Mouffe.
1. Sie unterhalten eine Metaphorik des Innen/Außen. Während
bei Lefort/Gauchet das Außen der Macht aus der Teilung der Ge-
sellschaft von sich selbst hergeleitet wird, wird bei Laclau und
Mouffe der die Konstitution von totaler Identität blockierende
Antagonismus am Rande bzw. im Außen der Gesellschaft veror-
tet, gleichzeitig aber festgehalten, daß dieses nicht-signifizier-
bare Außen (das Reale, das eine grundlegende Unentscheidbar-
keit ins System einführt, um Lacan und Derrida miteinander zu
kontaminieren) strenggenommen ein Innen ist, d.h. daß der
Rand der Gesellschaft nur innerhalb der Gesellschaft in Form
von Antagonismen erscheint. Trotzdem gilt für den Gang des Ar-
guments, was Laclau über den Antagonismus sagt: »Er ist ein
›Außen‹, welches die Identität des ›Innen‹ blockiert (und ist zur
selben Zeit dennoch eine Vorbedingung für dessen Konstitu-
tion)« (Laclau 1990, 17).
2. Wenn also die letztlich metaphorische Natur der Innen/
Außen-Unterscheidung akzeptiert wird, so wird trotzdem auf der
Differenz beider Kategorien bestanden (es wäre daher falsch,
umstandslos das Außen zum Innen zu erklären und die Diffe-
renz aufzulösen). Obwohl also das Außen immer nur im Innen
auftaucht, weil es kein Jenseits der Gesellschaft gibt, wird doch
auf einer »internen Exteriorität« bestanden. Eine solche Be-
wegung, in der das Außen im Innen auftaucht, ohne daß deren
Differenz dadurch gelöscht wird, könnte mit Deleuze als Inflek-
tion oder Faltung beschrieben werden. Ein in postfundationa-
listischen Theorien prävalenter Gedanke, der unter ähnlichen
Titeln auftaucht bei Heidegger (Dazwischen/Zweifalt), eben
Deleuze (an Leibniz und dem Barock entwickelt), Foucault (en-
krateia), Derrida (Hymen, etc.), Lacan/Ÿiÿek (»the unfathomable
fold«) oder Merleau-Ponty (Chiasmus). Auch für Lefort/Gauchet
hängt der Begriff des Gemeinwesens von einer »Gliederungs-
form zwischen Innen und Außen ab, die es nun unmöglich
macht, beide Positionen gleichzeitig zu halten und vielmehr
einen Chiasmus zwischen Innen und Außen einführt« (Gauchet
1990, 121).
GIBT ES EINE POLITIK DES POLITISCHEN? 103

3. Trotz allem scheint einiges darauf hinzudeuten, daß das


Außen bzw. die Grenzen eines Bezeichnungssystens in der Argu-
mentation Laclaus logische Priorität gegenüber den durch sie
eingeführten Dislokationen und Störungen der systemischen
Identität – ja gegenüber dem System als solchen – haben. In
»Was haben leere Signifikanten mit Politik zu tun« schreibt
Laclau: »Und angenommen, es gibt nur dort System, wo es radi-
kale Ausschließung gibt – dann ist diese Spaltung oder Ambiva-
lenz konstitutiv für jede systemische Identität. ( … ) Nun, wenn
Systemhaftigkeit des Systems eine direkte Folge der aussch-
ließenden Grenze ist, dann ist es allein diese Auschließung, wel-
che das System als solches gründet« (Laclau 1994b, 158). Radi-
kale Grenzen, Ausschließung, ein bedrohendes Außen bilden
also die Voraussetzung (die Bedingung der (Un)möglichkeit)
eines Signifikationssystems, weshalb man von einer logischen
Priorität des Außen gegenüber dem Innen sprechen könnte.
Je nach Interpretation nimmt Slavoj Ÿiÿek eine etwas differente
Position in Bezug auf die Innen/Außen-Metaphorik ein. Obwohl
Übereinstimmung darüber besteht, daß die barre zwischen dem
Realen und dem Symbolischen nur innerhalb des Symbolischen
zu finden ist, ist doch die Grenze des Systems bei Ÿiÿek eine
Veräußerlichung von dessen innerer Blockade. Das Ergebnis
bleibt dasselbe: Irgendetwas im Inneren repräsentiert das
Äußere. Das Außen der Signifikation kann selbst nicht signifi-
ziert werden (dann wäre es kein Außen), es kann nur gezeigt
werden, bzw. »paradox« signifiziert durch einen leeren Signifi-
kanten. Bei Ÿiÿek ist es das politische System selbst, welches das
Politische gegenüber den anderen Subsystemen repräsentiert.
Bei Gauchet muß sich die Macht repräsentieren und das Gesetz
ist jener Signifikant, der die Identität der Gesellschaft garantiert,
oder lacanianisch gesprochen, der die Signifikantenkette steppt.
Bei Laclau ist der leere Signifikant ein, wie er sagt, »Symbol«
der Systematizität des Signifikationssystems und der Gefahr des
Zusammenbruchs der Signifikation gleichzeitig. Der zweigesich-
tige leere Signifikant ist das Symbol für Ordnung/Chaos, für
(Nicht-)Ordnung. Hegemonie wiederum ist der Kampf um die
Inkarnation des leeren Signifikanten, der, gerade weil er nichts
anderes symbolisiert als die abwesende Fülle und Systematizität
des Systems, die Kette der anderen Signifikanten partiell fixiert.
Es ist das von Lacan her bekannte Spiel zwischen S1 (dem Her-
rensignifikanten) und S2 (der Signifikantenkette).
104 OLIVER MARCHART

Zusammenfassend läßt sich also sagen: Wir sind zu einem Ver-


ständnis des Politischen als der Logik der antagonistischen Insti-
tuierung gesellschaftlicher Systematizität gekommen und zu
einem Verständnis von Politik als der konkreten Umsetzung und
dem »Zurandekommen« mit der Instanz des Antagonismus, d.i.
der »Inflektion« des konstitutiven Äußeren in konkrete politi-
sche Kämpfe. Welchen Sinn macht es nun, unter diesen Bedin-
gungen von einer Politik des Politischen zu sprechen. Ist dann
nicht jede Politik eine Politik des Politischen, insofern jede Poli-
tik auf dem Hintergrund des Politischen, auf dem Hintergrund
von Exteriorität, antagonistischer Blockade und notwendiger
Entscheidung auf unentscheidbarem Terrain arbeitet. Natürlich,
aber eine solche Erklärung versteht sich von selbst, wir verste-
hen etwas viel Spezifischeres unter diesem Titel. Gemeint sind
mit »Politik des Politischen« Versuche, die politische Signifikati-
onslogik (das Politische) selbst noch einmal zur Politik, das heißt
zu einem politischen Inhalt, einer politischen Forderung zu ma-
chen. Zumindest zwei Wege (im diffusionistischen Pluralismus
eines populär gelesenen Lyotard etwa könnte man einen dritten
finden) wurden seit der invention démocratique vorgeschlagen.
Entweder – Weg 1 – im Sinne einer démocratie à venir, einer Po-
litik des unmöglichen Gutes oder einer »realen« Politik der Vor-
zukunft – Vorschläge, wie sie von Derrida, Ÿiÿek, Mouffe oder
Badiou ausgehen. Oder – Weg 2 – im Sinne einer jakobinischen
Verteidigung des Politischen um jeden Preis – by all means neces-
sary, wie das bei Malcom X heißt. Diese beiden Wege stellen Be-
ziehungen zum Außen her, oder um in der Metaphorik der Le-
fort-Tradition zu bleiben, zum leeren Ort der Macht. Tatsächlich
erweist sich die letzte Kategorie als äußerst hilfreich, wenn es
um eine Veranschaulichung von Politiken des Politischen geht.
Denn nach kurzer Überlegung ergeben sich diese zwei angespro-
chenen Möglichkeiten einer positiven politischen Bezugnahme
auf den leeren Ort der Macht, d.h. einer Bezugnahme, die den
leeren Charakter des Ortes respektieren und bewahren möchte.
Beginnen wir mit dem Jakobinismus.
Eine jakobinische Position wäre eine, die das Rousseausche Pa-
radox der Aufklärung verwirklicht, welches in der Überzeugung
bestand, daß man die Menschen zur Freiheit zwingen müsse7.
Oder um in der entwickelten Terminologie zu bleiben: um den
leeren Ort der Macht freizuhalten, müsse man ihn besetzen. Ge-
nau das tat der Jakobinismus. Obwohl er den leeren Ort der
Macht respektierte – d.h. die Offenheit und »Ungründbarkeit«
GIBT ES EINE POLITIK DES POLITISCHEN? 105

des demokratischen Dispositivs –, mußte er ihn gegen das ancien


régime, also Versuche, den Ort mit dem Körper des Königs be-
setztzuhalten, verteidigen. Wie ich an anderer Stelle systemati-
scher ausgeführt habe8, tat das der Jakobinismus allerdings we-
niger durch eine Besetzung des Ortes der Macht selbst, sondern
vor allem indem er sich in ein privilegiertes, »expressives« Ver-
hältnis zu ihm setzte und ihn dennoch freihielt. Denn im Unter-
schied zu »Immanentismus« und Monarchismus akzeptierte der
Jakobinismus die Leere des demokratischen Universalismus –
des Politischen –, behauptete aber, genau diese Leere allein aus-
zudrücken. Anders gesagt: Die Jakobiner waren die ersten »stra-
tegischen Essentialisten«.
Daß der Jakobinismus trotzdem am leeren Universalismus fest-
hielt, bestätigt Saint-Just, etwa wenn er nach der Revolution
über deren Ausbruch sagt: Le moment d’éclater n’est pas encore
venu. Wie ist dieser Satz Saint-Justs anders zu verstehen als im
Sinne einer révolution à venir. Nichts anderes meint Derrida,
wenn er heute über die Demokratie sagt, sie sei noch nicht ge-
kommen, aber immer im Kommen. Damit stünde bereits der Ja-
kobinismus strukturell in der Tradition eines Messianismus
ohne Messias à la Kosmismus, Benjamin und Derrida, i.e. eines
Universalismus ohne Partikularismus (bzw. mit einem immer
aufgeschobenen/verschobenen Partikularismus).
Ein anderes, überdeutliches Beispiel für die jakobinische Posi-
tion bietet Sergej Netschajew, der Saint-Just des Anarchismus,
den Bakunin einen Gläubigen ohne Gott und Helden ohne Phra-
sen nannte. Im berühmten »Revolutionären Katechismus« und
in seinen »Worten an die Jugend« sind diese von Gott gereinig-
ten Glaubensregeln in einer Deutlichkeit niedergelegt, die nichts
zu wünschen übrigläßt. Über die Revolution als Neue Ordnung
kann nichts gesagt werden, sie ist in jedem Sinne des Wortes ein
leerer Signifikant. So wird auch der Gedanke Saint-Justs, daß
eine Revolution total sein müsse, da sich der Revolutionär sonst
sein eigenes Grab schaufelt, von Netschajew ins Extrem getrie-
ben. Daß die Revolution ihre Kinder frißt, das ist für Netschajew
nicht nur kein Problem, es ist eine Notwendigkeit: Die Revolu-
tion soll und muß ihre Kinder fressen, da die Neue Ordnung
keine wie auch immer geartete Verbindung zur alten aufweisen
darf. Schließlich sind die Revolutionäre selbst vom Bestehenden
kontaminiert. Daher weist die Revolution zwei völlig getrennte
logische Zeiten auf:
106 OLIVER MARCHART

»In Bezug auf die Zeit enthält der Begriff Revolution zwei gänz-
lich verschiedene Tatsachen: Den Anfang, die Zeit der Zer-
störung der vorhandenen sozialen Formen, und das Ende, den
Aufbau, das heißt die Bildung vollkommen neuer Formen, aus
diesem Amorphismus. ( … ) Wir sagen: Eine unvollständige Zer-
störung ist unvereinbar mit dem Aufbau und daher muß sie abso-
lut und ausschließlich sein. Die jetzige Generation muß mit der
echten Revolution beginnen. Sie muß mit der völligen Verände-
rung aller sozialen Lebensbedingungen beginnen, das heißt, die
jetzige Generation muß alles Bestehende ohne Unterschied
blindlings zerstören in dem einzigen Gedanken: möglichst rasch
und möglichst viel. Und da die jetzige Generation selbst unter
dem Einfluß jener verabscheuungswürdigen Lebensbedingun-
gen stand, welche sie jetzt zu zerstören hat, so darf der Aufbau
nicht ihre Sache sein, sondern die Sache jener reinen Kräfte, die
in den Tagen der Erneuerung entstehen« (Netschajew 1984, 19).
Die neue Ordnung kann nur als »das dem bestehenden ekelhaf-
ten Zeug Entgegengesetzte« gedacht werden. Darüber hinaus-
führende Gedanken zum Neuen sind »verbrecherisch, da sie nur
der Sache der Zerstörung hinderlich sind« (Netschajew 1984,
22). Der soviel beschworene Machiavellismus und Jesuitismus
Netschajews, dem der Zweck jedes Mittel heiligt, ist deshalb in
seinem Innersten ethisch: »Wir müssen uns also aufgrund des
Gesetzes der Notwendigkeit und strengen Gerechtigkeit ganz der
beständigen, unaufhaltsamen, unablässigen Zerstörung weihen,
die so lange crescendo wachsen muß, bis nichts von den beste-
henden sozialen Formen zu zerstören bleibt« (Netschajew 1984,
22f.). Und doch, was Netschajews Auge weiß erschien, das hielt
er für schwarz, wenn es der Sache der allumfassenden Zer-
störung nützen sollte. Netschajews Machiavellismus führte also
umgekehrt eine strategische Komponente in seinen moralischen
Rigorismus ein. Die Beziehung zum leeren Universalismus, zum
X à venir, ist in der jakobinischen Tendenz einer Politik des Poli-
tischen (im Unterschied zur noch zu betrachtenden zweiten Ten-
denz) bis in ihr Innerstes praktisch – entgegen allem Anschein
nicht auf Deklamation, sondern auf Umsetzung bedacht.
»Ethisch« – im Lacanschen Sinn – kann sie genannt werden, ge-
rade weil sie nicht moralisch ist, d.h. weil sie ohne moralische
Skrupel9 das Verbrechen akzeptiert.
Gerade weil die revolutionäre Assoziation kein anderes Ziel hat
als die »vollständige Befreiung und das Glück des Volkes ( … )«,
so Netschajew die aktive Verelendungstheorie des Leninschen
GIBT ES EINE POLITIK DES POLITISCHEN? 107

Machiavellismus vorwegnehmend, »wird die Assoziation alle ihre


Mittel und alle ihre Kräfte darauf verwenden, die Leiden und das
Unglück zu vergrößern und zu vermehren, die schließlich die Ge-
duld des Volkes erschöpfen und zu einem Massenaufstand ver-
anlassen müssen« (Netschajew 1980, 123). In Bejahung des er-
habenen Verbrechens bezieht sich Netschajew auf Schillers Räu-
ber (Räuber sind für Netschajew übrigens die einzigen wirkli-
chen Verbündeten der Revolution, ja sogar »die wahren und ein-
zigen Revolutionäre«10), allerdings tut er das unter Abzug des
Schillerschen Idealismus, d.h. der Moral: »Doch muß mit jenem
Idealismus aufgeräumt werden, der es verhinderte, daß man
nach Gebühr handle; er muß durch grausame, kalte, rücksichts-
lose Konsequenz ersetzt werden« (Netschajew 1984, 18) – d.h.
durch Ethik. Diese grausame, kalte, rücksichtslose Konsequenz
– letztlich nur ein anderer Name für Terror – ist es u.a., die sei-
nen Anarchismus in die Tradition des Robespierrismus stellt11.
Es wäre nun klarerweise zutreffend, wenn auch vereinfachend,
in Netschajew das klassische Emanzipationsphantasma des ra-
dikalen Bruchs zu entdecken, wie es etwa von Laclau dekonstru-
iert wurde, wenn auch Laclau andererseits die zur politischen
Mobilisierung notwendige regulative Idee des Sorelschen Gene-
ralstreiks, der in der Realität auch nie »general« sein kann, ver-
teidigt. Tatsächlich ist Netschajews Anarchismus im selben
Sinne demokratisch wie der Robespierrismus, da er den Univer-
salismus, an dem er sich orientiert – den Begriff der Revolution
bzw. der Neuen Ordnung –, leerhält von allen partikularen Be-
stimmungen (das allerdings um jeden Preis). Und das Spezifi-
sche an der jakobinischen Politik des Politischen ist eben, daß
sie den leeren Ort der Macht – i.e. das durch das Außen des An-
tagonismus eingeführte Prinzip der Offenheit und Ungründbar-
keit/Unentscheidbarkeit der gesellschaftlichen Identität – zwar
nicht besetzt, sich aber doch als einzig legitime Verteidigerin posi-
tioniert. Traditionellerweise rechtfertigt der Jakobinismus bis
hin zu Lenin diesen Vorsprung gegenüber anderen Inkarnatio-
nen mit einem behaupteten Wissen über die Gesetze der Ge-
schichte. Ähnliches erkennt Slavoj Ÿiÿek am Jakobinismus,
wenn er fragt: »Auf der Ebene der Aussage schützt der Jakobiner
die Leere des Ortes der Macht, er hindert jeden daran, diesen
Platz einzunehmen – aber reserviert er so nicht für sich selbst
einen privilegierten Platz, wird er nicht zu einer Art Umkehrkö-
nig, d.h. ist nicht gerade die Position des Aussagens, von der aus
er handelt und spricht, die Position der absoluten Macht?«
108 OLIVER MARCHART

(Ÿiÿek 1993, 135f.) Aber gibt es dann überhaupt eine Möglich-


keit (außer den von Ÿiÿek favorisierten Monarchismus, den wir
hier einmal als Hegelian joke beiseitelassen), den Ort der Macht
freizuhalten, ohne sich selber auf der Ebene des Aussagens zu
privilegieren – ohne sich in die pole position der Geschichte zu
stellen?
Genau diesen Weg versucht eine andere Politik des Politischen
zu gehen, eine Politik des unmöglichen Gutes, des Paradoxons
oder des Erwartens eines X à venir (und nicht die passage à l’acte
zu diesem, wie bei Saint-Just, vgl. Riha 1991) oder schlicht eines
Messianismus ohne Messias. So Chantal Mouffe in der Eng-
führung der Lacanschen Idee eines unmöglichen Gutes und der
Derridaschen einer démocratie à venir:
»[Eine] pluralistische Demokratie enthält ein Paradoxon, da ge-
nau der Moment ihrer Verwirklichung ihre Desintegration sehen
würde. Sie sollte als ein Gut verstanden werden, das nur exi-
stiert, solange es nicht erreicht werden kann. Solch eine Demo-
kratie wäre daher immer eine ›kommende‹ Demokratie, da Kon-
flikt und Antagonismus gleichzeitig ihre Möglichkeitsbedingung
und die Bedingung der Unmöglichkeit ihrer vollständigen Reali-
sierung sind« (Mouffe 1993a, 8). Daß eine vollständige Realisie-
rung einer vollen und geschlossenen Identität, auch jene einer
erreichten Demokratie, nie gelingen kann, gehört zu den (Un-)
Möglichkeitsbedingungen demokratischer Politik so wie jeder
anderen Politik. Auch Totalitarismus, wie Lefort gezeigt hat, ist
ein unabgeschlossener Prozeß, der nicht in die Herstellung einer
endgültig geschlossenen Totalität führt. Wenn diese Unabge-
schlossenheit aber zur Ebene einer allgemeinen Signifikations-
logik gehört, dann stellt sich die Frage, wieso man sie nochmal
zur konkreten Forderung einer konkreten (demokratischen) Po-
litik machen sollte.
Ich verzichte an dieser Stelle auf eine Diskussion der Derrida-
schen démocratie à venir, die von Laclau (1995) bereits ausführ-
lich geleistet wurde12, und konzentriere mich auf eine lacaniani-
sche Version einer »Politik des Realen«, nämlich jene Alain Ba-
dious. Die Politik bei Badiou gehört zur Ordnung des Ereignis-
ses, des »il y a«, und nicht der Fakten oder der Repräsentation.
Die demokratische Wahl wäre für Badiou so ein Faktum (Badiou
1985, 68) und keineswegs, wie für Ÿiÿek, ein Ereignis oder »Aus-
bruch« des Realen. »Die Möglichkeit des Unmöglichen ist der
Grund der Politik« (Badiou 1985, 78). Mit dieser Möglichkeit –
oder aus quasi-transzendentaler Sicht besser Notwendigkeit –
GIBT ES EINE POLITIK DES POLITISCHEN? 109

des Unmöglichen erhebt Badiou die Politik in den Status des


Realen (so spricht er von »le reél de la politique« (Badiou 1985,
17) und einer realen Politik, deren Zeitmodus die Vorzukunft
sei), was sie der Kategorie des Politischen im Sinne Laclaus und
Ÿiÿeks gleichstellt. Es gibt viele Hinweise darauf, daß Badious
Verteidigung von la politique tatsächlich eine Verteidigung von le
politique im Laclauschen Verständnis ist. Die Begriffsverwirrung
ergibt sich aus der Herkunft der Polemik gegen das Politische,
die eine Gegenposition zu Nancys und Lacoue-Labarthes Ver-
ständnis des Politischen zu entwickeln suchte. Badiou favori-
siert den Begriff der Politik, obwohl oder gerade weil er Nancy
und Lacoue-Labarthe den Rückzug des Politischen konzediert.
Dessen Krise hängt für ihn mit der generellen Krise angeblich
konsistenter Identitäten zusammen. Und doch, wenn Badiou
sagt: »Was die Krise des Politischen enthüllt, ist, daß alle Ensem-
bles inkonsistent sind, daß es weder Frankreich noch Proletariat
gibt« (Badiou 1985, 13), dann ist doch genau diese Inkonsistenz
der Ensembles oder Identitäten nicht etwa der Grund für den
Rückzug des Politischen, sondern es ist die Folge des Politi-
schen, um nicht zu sagen, diese Inkonsistenz (die Blockade der
Identität) ist das Politische selbst.
Ohne uns hier auf eine genauere Diskussion Badious einzulas-
sen, die lohnend wäre, gehen wir davon aus, daß Badiou durch
seine Absetzung vom Begriff des Politischen im Sinne von
Nancy und Lacoue-Labarthe und dessen Lacanianisierung sich
unter dem Titel der »realen« Politik einer Vorstellung nähert, die
Laclau/Mouffes und Ÿiÿeks Begriff des Politischen verwandt ist.
Dennoch liegt der Unterschied darin, daß Badiou unter dem Be-
griff realer Politik auch eine konkrete Politik des Realen fordert,
was ihn zu einem Vertreter einer Politik des Politischen macht.
Essenz des Politischen ist für Badiou die Treue gegenüber dem
noch nicht einem Signifikationssystem eingeschriebenen Ereig-
nis, die sich in einer Intervention äußert. Durch eine interpreta-
tive Intervention auf Basis einer Hypothese, einer unterstellten
Kapazität (zum Beispiel der politischen Kapazität des Proleta-
riats wie bei Marx, also einer emanzipatorischen Kapazität
schlechthin), wird retroaktiv am Ort oder anläßlich eines Ereig-
nisses, mit unseren Worten am Ort des Antagonismus, das Sub-
jekt dieser Kapazität (Proletariat, Volk, Partei … ) instituiert (Ba-
diou 1985, 89). Was Badiou Interpretation nennt, ist aber aus
Sicht der Hegemonietheorie – so ist Badiou entgegenzuhalten –
nicht die Leistung des Denkens eines Eigennamens wie Marx,
110 OLIVER MARCHART

Rousseau, Mallarmé, etc., sondern nichts anderes als Ergebnis


einer hegemonialen Auseinandersetzung. Laclau macht das sehr
deutlich: Der Eintritt in ein antagonistisches Verhältnis erzeugt
retroaktiv die Identität der politischen Antagonisten (Partei, Be-
wegung etc.), die sich im Laufe der Auseinandersetzung, der
Verschiebung von Forderungen, dem Brechen oder Erweitern
von Äquivalenzketten, u.s.w. ständig verändern wird. Die Her-
stellung jeder vorübergehenden Identität ist demgemäß ein Er-
eignis der Vorzukunft, nicht nur im Fall von wirklicher emanzi-
patorischer Politik, wie Badiou denkt, sondern auch im Fall re-
präsentativ-demokratischer, der Badiou nur das Präsens, tota-
litärer, der Badiou nur die Vergangenheit, und klassisch-revolu-
tionärer Politik, der Badiou nur die einfache Zukunft zugestehen
will.
Badious Bestimmung der Intervention als Interpretation trifft
sich zwar mit jener der Hegemonietheorie, doch obwohl politi-
sche Ereignisse fraglos immer nur das sind, als was sie interpre-
tiert werden, ist es keine Aufgabe des Denkens, die Interpreta-
tion festzuschreiben, sondern eine Aufgabe der Hegemonie. Ba-
diou ist dahingehend zu ergänzen, daß das Wesen der Hypo-
these, sei es nun die emanzipatorische Hypothese der Möglich-
keit einer nicht-dominierten Gesellschaft oder jede andere Hy-
pothese, als Interpretationsgrundlage politischer Ereignisse he-
gemonial ausgehandelt werden muß. Vor diesem Schritt
schreckt Badiou aber bewußt zurück, da er in ihm eine Politik
des Todes vermutet. Für ihn war entgegen der Auffassung Mouf-
fes und Gauchets der Klassenkampf keineswegs Marx’ wichtig-
ste Entdeckung, sondern dieses marxistische Kriegsmodell13 griff
auf ein – darin stimmt er wiederum mit Foucault überein – we-
sentlich älteres Modell zurück. Das Modell des auf den Kopf ge-
stellten Clausewitz nämlich: »Das Modell des Krieges ist omni-
präsent. In der Sprache wenigstens nimmt man die Inversion
des Axioms von Clausewitz wahr. Man könnte sagen, die Politik
sei die Fortsetzung des Kriegs mit den gleichen Worten« (Badiou
1985, 104f.).
Wenn Badiou über das invertierte Clausewitz-Axiom schreibt:
»Marx hat eine ältere vorherrschende Konzeption wertgeschätzt
( … ), indem er die Politik dem Machtkonflikt unterordnete«
(Badiou 1985, 105), und schließt, Marx hätte sich dieser Validi-
sierung der Machtkonflikte enthalten sollen, dann beraubt sich
Badiou der Möglichkeit der Theorisierung wirklicher Machtver-
teilung – zugunsten einer ethischen Politik des Politischen. Zwar
GIBT ES EINE POLITIK DES POLITISCHEN? 111

macht Badiou bezüglich Politik zurecht denselben Punkt wie


Saint-Just, nämlich daß sie unabschließbar sei: »Es ist wichtig
festzustellen, daß die Politik, die revolutionäre Politik, wenn
man dieses Adjektiv bewahren will, essentiell unabschließbar
ist« (Badiou 1985, 106). Unsere weiter unten ausgeführten Be-
denken demgegenüber lauten nicht, daß Politik etwa nicht unab-
schließbar sei, sondern daß diese Behauptung nicht ausreicht,
da sie auf der Ebene der politischen Signifikationslogik stehen-
bleibt. In Badious Zeitbegriffe umgesetzt: Jede Politik des Futur
II muß von einem Akteur im Präsens inkarniert werden. Genau
den Schritt ist Badiou nicht bereit zu vollziehen, vor allem da er
Interpretation/Intervention als kognitiven und nicht als hegemo-
nialen Akt versteht14.
Da Badiou den Schritt in die Hegemonietheorie scheut, muß er
die Treue zum Ereignis zum eigentlichen Inhalt der »realen« Po-
litik machen, die damit zur Ethik wird. »Continuer!« ist der Im-
perativ dieser Ethik. Der ethische Appell wird notwendig, denn
welche Schlüsse man gegenüber dem Ereignis zieht (Treue oder
Verrat), ist nicht aus der politischen Signifikationslogik allein
abzuleiten, wie Badiou einsieht. Darum ist die Kapazität einer
nicht-dominierten Gesellschaft für Badiou korrekterweise eine
Hypothese und Engagement axiomatisch, denn beides läßt sich
nicht zwingend auf die Logik des Politischen rückführen, mit
anderen Worten: das Projekt einer radikalen und pluralen, offe-
nen Demokratie ergibt sich nicht aus der notwendigen Offenheit
identitärer Ensembles. Badious Aufforderung zu einer realen
Politik des Futur II, einer Politik des Politischen, ist somit ein
Imperativ (»Continuer!«), der in das Feld der Ethik fällt, und
nicht mehr in das der Politik.
Die Ermöglichungsbedingungen der Politik können also nicht
selbst Ziel der Politik sein. Besser gesagt, sie können schon, aber
es stellt sich die Frage, ob eine explizite Politik des Quasi-Trans-
zendentalismus besonders erfolgversprechend ist, wenn sie in
einer leeren Geste die Funktionsweise von Politik zu deren For-
derung erhebt. Was aber viel schwerer wiegt, sie verfängt sich
darüberhinaus in einem Selbstwiderspruch. Denn entweder gilt
die Funktionsweise von Politik (=das Politische) quasi-transzen-
dental für alle Politiken – d.h. auch für totalitäre. Dann ändert
eine inhaltlich quasi-transzendentalistische Politik an der Funk-
tionsweise, an ihren eigenen Voraussetzungen nichts. Oder sie
gilt nicht für alle Politiken, dann ist aber die Theorie nicht län-
ger quasi-transzendentalistisch und muß ihre ganze theoretische
112 OLIVER MARCHART

Fundierung, aus der sie ihr politisches Programm abgeleitet


hatte, in Frage stellen. Von einer leeren Geste wiederum muß
man sprechen, da, ausgehend von einem Verständnis der Politik
als Moment der Entscheidung auf einem unentscheidbaren Ter-
rain, eine explizite Politik der Unentscheidbarkeit eine Entschei-
dung für die Nichtentscheidung fordern müßte, für den Auf-
schub der Entscheidung – und das genau ist eine leere Geste.
Eine erhabene Geste, zweifellos, aber doch eine völlig leere und
unpolitische. Eine Politik des Politischen, also eine Politik der
Unmöglichkeit, des impossible task, mithin der Unentscheidbar-
keit zu fordern, ist heroisch aber ergebnislos – und darüberhin-
aus selbstwidersprüchlich. In ihren Auswirkungen ist sie nicht
zu unterscheiden von etwa einer adornitischen Anti-Politik15, die
aufgrund eines aus ihrem Ökonomismus gezogenen Fatalismus
die Flucht des Politischen (des Nichtidentischen) in die Kunst
konstatiert – und ihm dorthin folgt.
Das entspricht im Ergebnis einer Heideggerschen Politik des Er-
wartens – sei es auch eines Erwartens der kommenden Demo-
kratie. »Einer Politik«, wie Simon Critchley schreibt, »die auf
der Erkenntnis basiert, daß menschliche Aktion die Welt nicht
transformieren kann und wir deshalb auf die Transformation
warten müssen, die aus dem Sein selbst kommt« (Critchley
1992, 215). Michael Cholewa-Madsen faßt alle diese Bestimmun-
gen radikaler und pluraler Politik, wie sie auch bei Laclau und
Mouffe vorkommen, zusammen und fordert ein »enactment« des
Politischen. Allerdings vergißt er in der Aufzählung der differen-
tiellen Elemente des Politischen auf jede nähere Bestimmung
der Politik, die dieses »Enactment« leisten soll. Denn unter
enactment würde ich einen gewissen notwendigen Jakobinismus
verstehen. Es folgt die hilfreiche Aufzählung Cholewa-Madsens:
»Radical democracy is something tensional (Laclau and Mouffe);
it is something to be attempted; something which has a futural
(Derrida) or différantial (Critchley) character – it is always de-
mocracy to come, it is a vanishing point (Ÿiÿek), i.e. something to
which we must constantly refer, but which can never be reached
(Mouffe); its value is indeterminate (Laclau), incomplete
(Laclau); and its subject is a proliferation of finitude, a subject
whose limitations are the sources of its strengths (Laclau); and it
does not have any particular objectives (Laclau), in short an ›im-
possible‹ task which makes radical democratic relations possible.«
(Cholewa-Madsen 1995, 40)
GIBT ES EINE POLITIK DES POLITISCHEN? 113

Nun, wie der letzte Ausdruck verrät: all diese Eigenschaften sind
die Ermöglichungsbedingungen radikaler Demokratie, aber sind
sie schon deren enactment? Obwohl kein Zweifel darüber be-
steht, daß keine Politik wirklich demokratisch genannt werden
kann, die diese Bedingungen verkleistern, verleugnen oder ab-
schaffen will, so ist eine reine Politik des – wenn wir es nochmal
durchgehen – Künftigen oder Kommenden, des Differentiellen,
des Verschwindenden, des Unerreichbaren, des Unbestimmten,
des Unvollständigen, des zugleich Endlichen, des Begrenzten,
des Ziellosen, kurz des Unmöglichen kaum mehr als die Phanta-
sie einer schönen Seele. Wir würden Laclau und die Hegemonie-
theorie falsch verstehen, wenn wir nicht eine notwendige Konta-
mination dieser Logik durch die Praxis miteinrechnen würden.
Genau darin liegt die von Laclau herausgearbeitete Dialektik
von Universalismus und Partikularismus: es ist kein – noch so
leerer und aufgeschoben-verschobener – Universalismus zu ha-
ben ohne irgendeinen schmutzigen Partikularismus, der erste-
ren inkarniert. »Schmutzig« ist in diesem Zusammenhang nicht
im Sinne des truism zu verstehen, daß Politik eben ein schmutzi-
ges Geschäft sei, sondern im dekonstruktiven Sinn der notwen-
digen gegenseitigen Verunreinigung beider Pole einer binären
Opposition. Das gilt auch für die Opposition Partikularismus /
Universalismus. Das universelle unmögliche Gut existiert nur,
insofern es teilweise auch möglich ist bzw. gemacht wird. Ge-
nauso trägt jedes partikulare/mögliche Gut die Referenz auf ein
universelles/unmögliches an seinem Körper, ohne welches es
sich als Gut gar nicht legitimieren könnte. Das unmögliche Gut
kann, sobald es zur Politik kommt, nicht selbst das Gut sein, es
muß durch mögliche Güter supplementiert werden, alles andere
wäre nicht Politik, sondern Existenzphilosophie.
Für Laclau ist das Universelle der immer zurückweichende Ho-
rizont, der keiner partikularen Identität entspricht, ja sogar mit
jeder Partikularität unvereinbar ist, und doch nicht unabhängig
vom Partikularen existieren kann. Nur durch eine jeweilige, im-
mer mangelhafte und vorübergehende konkrete Inkarnation
kann Universalität überhaupt bestehen. Das führt Laclau zu dem
Schluß, daß »wenn nur partikulare Akteure oder Konstellationen
partikularer Akteure zu einem beliebigen Moment das Univer-
selle aktualisieren können, dann hängt die Möglichkeit der
Sichtbarmachung der einer post-dominierten Gesellschaft – d.h.
einer Gesellschaft, die versucht, die eigentliche Form der Herr-
schaft zu überschreiten – inhärenten Nicht-Schließung davon
114 OLIVER MARCHART

ab, der Asymmetrie zwischen dem Universellen und dem Parti-


kularen zu Dauer zu verhelfen« (Laclau 1994c, 298). Was radi-
kale und plurale Demokratie anstreben kann, ist eine Politik der
Asymmetrie zwischen dem eigenen Partikularismus und dem
demokratischen Universalismus der Äquivalenz, oder in anderen
Worten, ein nicht-expressives Verhältnis zum leeren Ort der
Macht. Eine solch plurale aber hegemoniale Demokratie vermei-
det, in die drei angrenzenden Extreme zu verfallen eines Plura-
lismus nicht-differenzierender Toleranz16, eines Jakobinismus
der (die eigenen Einsichten dementierenden) expressiven Ver-
körperung des leeren Ortes der Macht – und einer leeren Politik
des Politischen.

ANMERKUNGEN

1 Ein ausführlicher Abriß der dort geführten Diskussionen findet sich in


Fraser 1989, S. 69–93.
2 In »Die undarstellbare Gemeinschaft« versteht Nancy unter dem Politi-
schen »nicht die Organisation der Gesellschaft, sondern die Anordnung
der Gemeinschaft als solche, deren Bestimmung ihre Mit-Teilung ist«
(Nancy 1988, 87). Ebenfalls an dieser Stelle sieht Nancy die »Entwer-
kung« der gemeinschaftlichen Kommunikation gefährdet durch eine
Verdrängung des Politischen durch das Sozial-Technische: »Wenn das
Politische sich nicht in der sozio-technischen Komponente von Kräften
und Bedürfnissen auflöst (in der es sich doch eigentlich direkt vor unse-
ren Augen aufzulösen scheint), dann muß es die Mit-Teilung der Ge-
meinschaft einschreiben. Politisch wäre dann die Bahnung der Singula-
rität, ihrer Kommunikation, ihrer Ekstase. ›Politisch‹ würde bedeuten,
daß eine Gemeinschaft sich auf die Entwerkung ihrer Kommunikation
hin ausrichtet oder zu dieser Entwerkung bestimmt ist: eine Gemein-
schaft also, die ganz bewußt die Erfahrung ihrer Mit-Teilung macht.«
(Nancy 1988, 87)
3 Lacoue-Labarthe hat später in »Die Fiktion des Politischen« (Lacoue-La-
barthe 1990) diese Kategorie vor allem in ihrer faschistischen Verwen-
dung dekonstruiert, indem er zu zeigen versuchte, wie das Politische im
»Nationalästhetizismus« Heideggers immer einer antiken Vorstellung
der Kunst/Technik/Herstellung untergeordnet wird.
4 Im Diskurs in zweifacher Hinsicht, denn dieser Diskurs überträgt seinen
Inhalt auf sich selbst, auf seinen eigenen epistemologischen Status: Es
ist nicht denkbar außerhalb der Schlachtordnung zu stehen, d.h. der Dis-
kurs ist parteiisch und – für Foucault kein Zweifel – gegen die herr-
schende Ordnung gerichtet. Denn der Souverän überdeckt durch seine
Legitimationserzählung gerade seine gewalttätige Usurpation der Herr-
schaft: »Es ist ein Diskurs, der im Grunde dem König den Kopf ab-
schlägt, der sich in jedem Fall des Souveräns entledigt und ihn denun-
ziert« (Foucault 1986, 24). Aus der Parteinahme der Theorie ergibt sich
GIBT ES EINE POLITIK DES POLITISCHEN? 115

eine neue Sicht der Wahrheit. Die essentialistische Sicht der Wahrheit
wird angeklagt, sie selbst wird zu Waffe: »Es ist ein Diskurs, in dem die
Wahrheit ausdrücklich als Waffe fungiert, für einen Sieg, der ausdrück-
lich parteiisch ist«. Foucault ist sich darüber klar, daß dieser Diskurs völ-
lig disqualifiziert ist: »Er muß eliminiert werden; denn er muß annuliert
werden, damit endlich zwischen den Gegnern und über ihnen als Gesetz
der gerechte und wahre Diskurs anfangen kann« (Foucault 1986, 21 f.).
Es scheint, als hätte man es hier mit der anti-habermasianischen Theorie
schlechthin zu tun. Das illustriert auch eine anderer Stelle:
»Die Zugehörigkeit der Wahrheit zum Frieden, die Zugehörigkeit der
Wahrheit zur Neutralität, die Zugehörigkeit der Wahrheit zu den Ver-
mittlungen, von der wir gesehen haben, wie sie für die griechische Philo-
sophie – jedenfalls von einem bestimmten Zeitpunkt an – konstitutiv
war, sie löst sich auf. In einem Diskurs wie dem da wird man einerseits
die Wahrheit um so besser sagen, wenn man in einem Lager steht; es ist
die Zugehörigkeit zu einem Lager, es ist die entmittete Stellung, die es
ermöglicht, die Wahrheit zu entziffern, die Illusionen und die Irrtümer
aufzukündigen, mit denen man glauben macht, mit denen einem die
Feinde glauben machen, daß man in einer geordneten und befriedeten
Welt ist. Je mehr ich micht aus der Mitte entferne, um so mehr sehe ich
die Wahrheit. ( … ) Die wesenhafte Zugehörigkeit der Wahrheit zu den
Kräfteverhältnissen, zur Asymmetrie, zur Dezentrierung, zum Kampf,
zum Krieg ist in diesen Typen von Diskurs fest eingeschrieben« (Fou-
cault 1986, 14f.).
5 Gauchet dazu und zum Primat des Politischen, d.i. der gesellschaftlichen
Teilung: »Erforderlich ist ein radikaler Interpretationssprung. Man muß
die Unmöglichkeit, den zentralen politischen Antagonismus abzuleiten,
zu Protokoll nehmen und die Begrifflichkeit, von der wir mit Marx aus-
gegangen waren, vollständig umkehren. Die Teilung ist weder ableitbar
nach auflösbar. Zu Ende gedacht, besagt die Lehre des totalitären Phäno-
mens, daß es keinen Sinn hat, eine Ableitung des Staates, des Politi-
schen, der Spaltung der Gesellschaft zu versuchen. Letztendlich bringen
sie nichts zum Ausdruck, was ihnen vorausginge; d.h., sie verweisen
nicht auf etwas anderes, das ihnen ihre Begründung lieferte« (Gauchet
1990, 224).
6 Historisch wird die symbolische Entleerung des Ortes der Macht – des-
sen emptying out – bei Lefort bekanntlich mit dem Argument abgeleitet,
daß mit der französischen Revolution und der damit erfolgenden Guillo-
tinierung von Ludwig XVI. die Macht »dekorporiert« wurde und nun
nicht mehr im Körper des Königs symbolisiert wird. Der Ort der Macht
bleibt fortan leer. Wird seine Okkupation versucht, also der Anspruch
auf dauerhaften Besitz der Macht, führt das zum Totalitarismus. Tota-
litär heißt hier, daß die Macht nicht auf ein Außen des Gesellschaftlichen
verweist, sondern ein solches Außen der Gesellschaft verleugnet wird:
»Indem sich die Vorstellung einer homogenen und für sich selbst durch-
sichtigen Gesellschaft, des einen Volkes ausbreitet, wird die gesellschaft-
liche Teilung in allen Formen geleugnet, werden alle Zeichen des Unter-
schiedes zwischen Glaubensansichten, Meinungen und Sitten bestritten«
(in Rödel 1990, 287).
Zur Unterscheidung der Demokratie vom Totalitarismus muß man wei-
116 OLIVER MARCHART

ters Merkmale heranziehen, die zusammen das demokratische Dispositiv


bilden: die unaufhebbare Teilung des Gesellschaftskörpers und die Tren-
nung der Sphären der Macht, des Rechts und des Wissens: »Je mehr die
gesellschaftliche Einheit proklamiert wird, desto totalitärer ist das Re-
gime. Somit ist das entscheidende Kennzeichen des Totalitarismus die
Behauptung der gesellschaftlichen Einheit. Behauptet wird dabei in er-
ster Linie, daß die Existenzgrundlage der Klassen beseitigt ist. Und zwei-
tens, wird die Identität von Volk und Staat behauptet, wobei es an ent-
sprechenden handgreiflichen Formeln – vom ›Staat des ganzen Volkes‹
bis zum ›festen Block von Regierenden und Regierten‹ – nicht mangelt.«
(in Rödel 1990, 213)
7 Dieses »Zwingen« wurde immer so verstanden, daß man den Menschen
sagen muß, was Freiheit ist (z.B. Sozialisierung der Produktionsmittel),
also eine letztlich totalitäre Auskleisterung des leeren Universalismus,
während es vielmehr darum ginge, nicht zu sagen, was Freiheit ist, und
stattdessen einen Zustand der notwendigen Wahl herzustellen, indem es
nicht mehr möglich ist, sich in seiner Entscheidung auf transzendentale
Signifikate wie Gott und Vaterland zu berufen. Zwang zur Freiheit hieße
dann – durchaus aufklärerisch – Herstellung von Akzeptanz des un-
gründbaren Charakters jeder Entscheidung durch die Dekonstruktion
traditionaler Bindungen, woraus genau Verantwortung und nicht mora-
lische Beliebigkeit folgt.
8 In »(New) Order« (Marchart 1995) versuche ich zu zeigen, wie »hegemo-
nialer Pluralismus« sich sowohl diese jakobinisch pragmatische (im Ex-
tremfall leninistische) Komponente offenhalten muß, will er praxiswirk-
sam sein. Gleichzeitig muß er aber auch der Unabschließbarkeit der eige-
nen Position verpflichtet bleiben (démocratie à venir), sowie sich gegen-
über den Ansprüchen anderer Bewegungen (Pluralismus) offenhalten.
Das von mir in genanntem Aufsatz vertretene Konzept von nicht-expres-
siver und zum Pluralismus orientierter (Post-)Avantgarde entspricht
letztlich jener avantgardistischen Position, die von bell hooks in An-
spruch genommen wird: »We are avant-garde only to the extent that we
eschew essentialist notions of identity, and fashion selves that emerge
from the meeting of diverse epistemologies, habits of being, concrete
class locations, and radical political commitments« (hooks 1991, 19).
9 Paragraph 4 des Katechismus sagt folgerichtig über den Revolutionär:
»Er verachtet und haßt die gegenwärtige gesellschaftliche Moral ganz in-
stinktiv und bekundet dieses in allem, was er tut. Moralisch ist für ihn al-
les, was den Sieg der Revolution unterstützt, unmoralisch, was sich ihm
in den Weg stellt« (Netschajew 1980, 118).
10 So schlägt er vor, die revolutionäre Assoziation müsse sich »indem wir
uns wieder dem Volke nähern, vor allem mit jenen Elementen aus dem
Volke vereinigen, die seit der Gründung des Moskowiterstaates nicht nur
mit Worten, sondern vor allem durch ihre Taten niemals aufgehört ha-
ben, sich gegen alles aufzulehnen, was direkt oder indirekt mit dem
Staat verbunden ist, gegen den Adel, die Bürokratie, die Popen, den Han-
del und gegen die gemeinen Fabrikanten, die Ausbeuter des Volkes. Wir
müssen uns der abenteuerlichen Welt der Räuber anschließen, die die
wahren und einzigen Revolutionäre Rußlands sind« (Netschajew 1980,
123).
GIBT ES EINE POLITIK DES POLITISCHEN? 117

11 Im Jakobinismus liegt der Engführung von Tugend und Terror oder


Ethik und Zerstörung (bei Netschajew), wie Lefort gezeigt hat (vgl. auch
Riha 1990), die Verlagerung des Legitimitätsortes der Macht auf die
Rede und die Eröffnung ihrer performativen Dimension im Diskurs des
Terrors zugrunde, was den Terror unlösbar an die Erfindung der Demo-
kratie bindet. In diesem und nur in diesem Sinne trifft denn auch der
Satz von Babeuf zu: »Der Robespierrismus ist die Demokratie«. Das Ar-
gument ist folgendes: Da es sich im jakobinischen Terror um einen spre-
chenden und keinen sich selbst genügenden Terror handelt, schließt sich
die Frage an, mit welchem Argument er sich legitimiert. Und hier kommt
die Tugend ins Spiel. Robespierre definiert den Terror als die Anwen-
dung des allgemeinen Grundsatzes der Demokratie – der Gerechtigkeit:
»Der Terror ist nichts anderes als die unmittelbare, strenge und unbeug-
same Gerechtigkeit; er ist also eine Emanation der Tugend; er ist nicht so
sehr ein besonderer Grundsatz als vielmehr die Folge des allgemeinen
Grundsatzes der Demokratie, angewandt auf die dringendsten Bedürf-
nisse des Vaterlandes« (Robespierre 1971, 594). Schon die Wortwahl ver-
rät, daß man es offenbar nicht mit einer blutrünstigen Hetzrede zu tun
hat, sondern mit einer abstrakten argumentativen Operation. Zwei wei-
tere Begriffe tauchen neben ›Gerechtigkeit‹ immer wieder in Robespier-
res Rede auf, die alle der selben Operation unterliegen: Freiheit und
Gleichheit. Aber diese Prinzipien sind nicht die Prinzipien der Tugend,
noch sind sie – wie etwa Gerechtigkeit – die Tugend selbst. Im Gegenteil.
Für Robespierre kann man »in gewissem Sinne sagen, daß das Volk, um
die Gerechtigkeit und die Gleichheit zu lieben, keine große Tugend
benötigt; es genügt, daß es sich selber liebt« (Robespierre 1971, 592). Das
Volk braucht Gerechtigkeit und Gleichheit nicht zu lieben, denn das
Volk ist die Gerechtigkeit und die Gleichheit. Um diese zu aktualisieren,
muß es sich nur selber lieben, dafür ist keine Tugend nötig. Denn die uns
im Jakobinismus begegnende Tugend ist eben nicht die Moral in ihrem
Aggregatzustand Moralin. Tugend ist nicht der Sammelbegriff für die
Partikularität der Sitten, wie sie z.B. im Diskurstyp des Moralisierens ge-
predigt werden, sondern deren abstrakte gemeinsame Formel, die leere
Form der Moral. So wie Kants kategorischer Imperativ keine einzelne
Maxime ist, sondern die »bloße allgemeine Form« der Gesetzgebung in
Absehung jedes kontingenten Inhalts. Vor diesem Hintergrund kann Sla-
voj Ÿiÿek sagen: »der jakobinische Terror ist das konsequente Ergebnis
der Kantschen Ethik« (Ÿiÿek 1992a, 137).
12 Den Schluß von der Funktionslogik von Signifikation im allgemeinen auf
ein konkretes ethisches oder politisches Programm beschreibt Laclau in
seinem Review-Essay zu Derridas Spectre de Marx als illegitim (sh. darü-
berhinaus auch Simon Critchleys Artikel in diesem Band): »The illegiti-
mate transition is to think that from the impossibility of a presence clo-
sed in itself, from an ›ontological‹ condition in which the openness to the
event, to the heterogeneous, to the radically other is constitutive, some
kind of ethical injunction to be responsible and to keep oneself open to
the heterogeneity of the other necessarily follows. This transition is ille-
gitimate for two reasons. First, because if the promise is an ›existential‹
constitutive of all experience, it is always already there, before any injun-
118 OLIVER MARCHART

ction ( … ). But, second and most important, from the fact that there is
the impossibility of ultimate closure and presence, it does not follow that
there is an ethical imperative to ›cultivate‹ that openness or even less to
be necessarily committed to a democratic society. I think that the later
can certainly be defended from a deconstructionist perspective, but that
defence cannot be logically derived from constitutive openness – some-
thing more has to be added to the argument.« (Laclau 1995a, 93)
13 Badiou macht klar, daß sein Modell nichts mit dieser Tradition zu schaf-
fen hat. Nicht Kräftespiele lägen der Politik zugrunde, sondern die Inter-
ventionen des Denkens: »Dans la conception de la politique où je me ti-
ens, ce ne sont pas les rapports de force qui comptent, mais les processus
pratiques de la pensée. Remarquons à quel point les politiques mortes,
de quelque bord qu’elles soient, ont militarisé leur concepts: stratégie,
tactique, mobilisation, ordre du jour, offensive et défensive, mouvement
et position, conquête, troupes, état-major, alliances … « (Badiou 1985,
104). So gerechtfertigt die Kritik am militärischen Phantasma der Politik
(Clausewitz!) sein mag, sie ist natürlich nicht durch ein Phantasma der
großen denkerischen Intervention abzulösen.
14 Das ähnelt der »intellektualistischen« Lösung Ÿiÿeks. Dieser bemerkte
einmal anläßlich der rumänischen »Revolutionäre«, die aus der rumäni-
schen Fahne das Symbol des Kommunismus herausgeschnitten hatten,
sodaß in der Mitte ein rundes Loch klaffte, die oberste Pflicht des Intel-
lektuellen sei es, »an der Stelle dieses Lochs zu verweilen, um eine Distanz
zum herrschenden Symbol zu halten« (Ÿiÿek 1992b, 105). Nun, wenn er
damit eine jakobinische Strategie meint, die den leeren Platz der Macht
selbst besetzt, dann widerspricht das seiner Kritik des Jakobinismus an
anderer Stelle. Wenn er andererseits damit einfach eine »Politik des
Lochs« meint, dann stellt sich die Frage, wie das die Intellektuellen lei-
sten sollen, ohne durch eine hegemoniale Anstrengung andere leere Sig-
nifikanten (Symbole der abwesenden Fülle) an dieser Stelle zu installie-
ren.
15 In einem Interview spricht Laclau die passivierenden Effekte eines sol-
chen adornitischen Fatalismus an, eines ökonomistischen Marxismus in
der Phase der Verzweiflung, sozusagen: »Can you imagine what would
have happened if, in South Africa, the militants of the ANC had adopted
in the mid-sixties an Adornian view of the future of capitalism?« (Laclau
1994, 48)
16 »[T]o be intolerant of some things is the very condition to be tolerant of
others« (Laclau 1995b, 10)

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II

Das Reale der Politik


Jenseits der Diskursanalyse

SLAVOJ ŸIŸEK

Üblicherweise wird Hegemonie und radikale Demokratie als ein


Essay in »post-strukturalistischer« Politik gelesen, als ein Essay,
der die grundlegenden »post-strukturalistischen« Ideen in ein
politisches Projekt übersetzt: es gibt kein transzendentales Sig-
nifikat; sogenannte »Realität« ist ein diskursives Konstrukt; jede
gegebene Identität, einschließlich jener eines Subjekts, ist ein
Effekt der kontingenten differentiellen Relationen, etc. Diese
Lektüre provoziert ebenfalls die üblichen Kritiken: Sprache
dient in erster Linie als Medium außersprachlicher Machtver-
hältnisse; wir können nicht die gesamte Realität in ein Sprach-
spiel auflösen etc. Unsere Behauptung lautet, daß eine solche
Lektüre an der fundamentalen Dimension von Hegemonie vor-
beigeht, der Dimension, aufgrund derer dieses Buch den viel-
leicht radikalsten Durchbruch für die moderne Gesellschafts-
theorie darstellt.
Es ist kein Zufall, daß die grundlegende Behauptung von Hege-
monie – »Gesellschaft existiert nicht« – den Lacanschen Satz »La
femme n’existe pas« (»Die Frau existiert nicht«) evoziert. Die
wahre Errungenschaft von Hegemonie ist im Konzept »sozialer
Antagonismen« kristallisiert: weit davon entfernt, alle Realität
auf eine Art Sprachspiel zu reduzieren, verstehen sie das sozio-
symbolische Feld so, daß es um eine bestimmte traumatische
Unmöglichkeit herum strukturiert ist, um einen bestimmten
Riß, der nicht symbolisiert werden kann. Kurz, Laclau und
Mouffe haben das lacanianische Konzept des Realen als des Un-
möglichen sozusagen wiedererfunden, sie haben es als ein Werk-
zeug für soziale und ideologische Analyse nutzbar gemacht.
Simpel wie das klingen mag, ist dieser Durchbruch von einer
solchen Neuheit, daß er von den meisten Antworten auf Hegemo-
nie für gewöhnlich nicht einmal wahrgenommen wurde1.
124 SLAVOJ ŸIŸEK

DAS SUBJEKT DES ANTAGONISMUS

Warum diese Betonung der Homologie zwischen dem Laclau-


Mouffeschen Konzept des Antagonismus und dem lacaniani-
schen Konzept des Realen? Deshalb, weil unsere These ist, daß
uns die Bezugnahme auf Lacan erlaubt, einige weitere Schlüsse
aus dem Konzept sozialer Antagonismen zu ziehen, vor allem
solche, die den Status des Subjekts im Verhältnis zu dem um
eine zentrale Unmöglichkeit herum strukturierten sozialen Feld
betreffen.
Was die Frage des Subjekts betrifft, präsentiert Hegemonie sogar
einen gewissen Rückschritt gegenüber Laclaus vorangehendem
Buch Politik und Ideologie im Marxismus2: In diesem Buch fin-
den wir eine fein ausgearbeitete althusserianische Anrufungs-
theorie, während Laclau und Mouffe in Hegemonie noch das
Subjekt im Grunde auf eine Weise fassen, die den »Post-Struktu-
ralismus« charakterisiert, nämlich von einer Perspektive der An-
nahme verschiedener »Subjektpositionen« aus. Warum dieser
Rückschritt? Meine optimistische Lektüre davon lautet, es ist –
um den guten alten stalinistischen Ausdruck zu verwenden –
»ein Schwindeln vor zu viel Erfolg«, ein Effekt der Tatsache, daß
Laclau und Mouffe zu schnell vorangeschritten sind, i.e. daß sie
mit der Ausarbeitung ihres Antagonismuskonzepts solch einen
radikalen Durchbruch erzielt haben, daß es für sie nicht möglich
war, ihm unmittelbar mit einem entsprechenden Subjektkonzept
zu folgen – daher die Unsicherheit bezüglich des Subjekts in He-
gemonie.
Der Hauptstrang ihrer Argumentation richtet sich gegen den
klassischen Begriff des Subjekts als einer substantiellen, essenti-
ellen Entität, die im vorhinein gegeben ist, den sozialen Prozeß
dominiert und nicht durch die Kontingenz des diskursiven Pro-
zesses selbst produziert wird: gegen diesen Begriff machen sie
stark, daß wir es mit eine Serie partikularer Subjektpositionen
(feministischer, ökologischer, demokratischer … ) zu tun haben,
deren Signifikation nicht im vorhinein fixiert ist: sie wechselt
entsprechend der Weise, auf die sie in einer Äquivalenzreihe
durch den metaphorischen Überschuß artikuliert werden, der
die Identität jeder einzelnen von ihnen definiert. Nehmen wir
zum Beispiel die Reihe Feminismus – Demokratie – Friedensbe-
wegung – Ökologismus: insoweit der Teilnehmer am Kampf um
Demokratie »durch Erfahrung herausfindet«, daß es keine wirk-
JENSEITS DER DISKURSANALYSE 125

liche Demokratie ohne die Emanzipation von Frauen gibt, inso-


weit der Teilnehmer am ökologischen Kampf »durch Erfahrung
herausfindet«, daß es keine wirkliche Versöhnung mit der Natur
gibt, ohne daß wir die aggressiv-männliche Einstellung gegen-
über der Natur ablegen, insoweit der Teilnehmer an der Frie-
densbewegung »durch Erfahrung herausfindet«, daß es keinen
wirklichen Frieden ohne radikale Demokratisierung gibt, etc.,
das heißt, insoweit die Identität jeder der vier obengenannten
Positionen vom metaphorischen Überschuß der anderen drei
Positionen markiert ist, können wir sagen, daß so etwas wie eine
vereinheitlichte Subjektposition konstruiert wird: ein Demokrat
zu sein bedeutet gleichzeitig, ein Feminist zu sein etc. Was wir
natürlich keinesfalls übersehen dürfen, ist, daß so eine Einheit
immer radikal kontingent ist, das Ergebnis einer symbolischen
Verdichtung, und kein Ausdruck irgendeiner Art interner Not-
wendigkeit, der entsprechend die Interessen der obengenannten
Positionen langfristig »objektiv zusammenfallen« würden. Es ist
leicht möglich, sich z.B. eine ökologische Position vorzustellen,
die die einzige Lösung in einem starken, anti-demokratischen,
autoritären Staat sieht, der wieder die Kontrolle über die Aus-
beutung natürlicher Ressourcen übernimmt.
Nun ist klar, daß so ein Begriff von Subjektpositionen immer
noch innerhalb des Rahmens der Althusserschen ideologischen
Anrufung als konstitutiv für das Subjekt steht: die Subjektposi-
tion ist eine Weise, auf die wir unsere Position eines (interessier-
ten) Agenten des sozialen Prozesses anerkennen, auf die wir un-
sere Verpflichtung gegenüber einer bestimmten ideologischen
Sache erfahren. Aber sobald wir uns als ideologische Subjekte
konstituieren, sobald wir der Anrufung antworten und eine be-
stimmte Subjektposition einnehmen, sind wir a priori, per defini-
tionem getäuscht, übersehen wir die radikale Dimension des so-
zialen Antagonismus, das heißt den traumatischen Kern, dessen
Symbolisierung immer scheitert; und – so unsere Hypothese – es
ist genau der lacanianische Begriff des Subjekts als »leerer Platz
der Struktur«, der das Subjekt in seiner Konfrontation mit dem
Antagonismus beschreibt, das Subjekt, das die traumatische Si-
tuation des sozialen Antagonismus nicht bemäntelt.
Um die Unterscheidung zwischen Subjekt und Subjektpositio-
nen zu erklären, wollen wir den Fall des Klassenantagonismus
wieder aufnehmen. Das Verhältnis zwischen den Klassen ist an-
tagonistisch im Laclau/Mouffeschen Sinn des Begriffs; d.h. es ist
weder Widerspruch noch Opposition, sondern das »unmögli-
126 SLAVOJ ŸIŸEK

che« Verhältnis zwischen den zwei Termen: jeder von ihnen hin-
dert den anderen, seine Selbstidentität zu erreichen, zu werden,
was er wirklich ist. Sobald ich mich selbst – in einer ideologi-
schen Anrufung – als ein »Proletarier« anerkenne, bin ich an der
sozialen Realität beteiligt, kämpfe gegen den »Kapitalisten«, der
mich daran hindert, mein menschliches Potential voll zu reali-
sieren, der meine volle Entwicklung blockiert. Wo liegt hier die
der Subjektposition eigene ideologische Illusion? Sie liegt genau
in der Tatsache, daß es der »Kapitalist« ist, dieser externe Feind,
der mich daran hindert, meine Selbstidentität zu erreichen: die
Illusion ist, daß ich nach der eventuellen Vernichtung des anta-
gonistischen Feindes endlich den Antagonismus loswerden und
eine Identität mit mir selbst erreichen werde. Es ist dasselbe mit
dem sexuellen Antagonismus: der feministische Kampf gegen
patriarchale, männlich chauvinistische Unterdrückung ist not-
wendigerweise von der Illusion erfüllt, daß später, sobald patri-
archale Unterdrückung abgeschafft ist, Frauen ihre volle Selbsti-
dentität erreichen werden, ihre menschlichen Potentiale realisie-
ren, etc.
Und doch, um den Antagonismusbegriff in seiner radikalsten Di-
mension zu fassen, sollten wir das Verhältnis der beiden Terme
invertieren: es ist nicht der externe Feind, der mich daran hin-
dert, meine Selbstidentität zu erreichen, sondern jede Identität
ist bereits in sich selbst blockiert, von einer Unmöglichkeit mar-
kiert, und der externe Feind ist einfach das kleine Stück, der
Rest an Realität, auf den wir diese intrinsische, immanente Un-
möglichkeit »projizieren« oder »externalisieren«. Das wäre die
letzte Lektion der berühmten Hegelschen Dialektik von Herr
und Knecht3, die üblicherweise von der marxistischen Lektüre
übersehen wird: der Herr ist letzten Endes eine Erfindung des
Knechts, eine Möglichkeit für den Knecht, »seinem Begehren
nachzugeben«, die Blockade seines eigenen Begehrens durch
Projektion seines Grundes auf die äußere Repression des Herrn
zu umgehen. Das ist auch der wahre Grund für Freuds Insistie-
ren, daß die Verdrängung nicht auf eine Internalisierung der Un-
terdrückung (der externen Repression) reduziert werden kann: es
gibt ein bestimmtes fundamentales, radikales, konstitutives,
selbst-beigebrachtes Hindernis, eine Behinderung des Triebs,
und die Rolle der faszinierenden Figur externer Autorität, ihrer
repressiven Kraft, ist es, uns blind gegenüber dieser Selbst-Be-
hinderung des Triebs zu machen. Deshalb könnten wir sagen,
daß genau in dem Moment, wo wir im antagonistischen Kampf
JENSEITS DER DISKURSANALYSE 127

in der sozialen Realität den Sieg über den Feind erringen, wir
den Antagonismus in seiner radikalsten Dimension erfahren –
als ein Selbst-Hindernis: weit davon entfernt, uns zum endgülti-
gen Erreichen unserer vollen Selbstidentität zu befähigen, ist
der Augenblick des Sieges der Augenblick des größten Verlusts.
Der Knecht befreit sich vom Herrn nur, wenn er erfährt, wie der
Herr bloß die Auto-Blockade seines eigenen Begehrens verkör-
perte: was der Herr ihm durch seine externe Repression angeb-
lich enteignen wollte, ihn nicht realisieren lassen wollte, das
hatte er – der Knecht – nie besessen. Das ist der Augenblick, der
bei Hegel »der Verlust des Verlusts« heißt: die Erfahrung, daß
wir niemals hatten, was wir verloren haben sollen. Wir können
diese Erfahrung des »Verlusts des Verlusts« auch in der Erfah-
rung der »Negation der Negation« erkennen – d.h. im puren An-
tagonismus, wo die Negation zum Punkt der Selbstreferenz ge-
bracht ist.
Diese Bezugnahme auf Hegel mag seltsam scheinen: ist nicht
Hegel der »absolute Idealist« par excellence, der Philosoph, der
alle Antagonismen auf ein untergeordnetes Moment der selbst-
vermittelnden Identität reduziert? Doch vielleicht wird so eine
Lesart Hegels selbst Opfer der »Metaphysik der Präsenz«: viel-
leicht ist eine andere Lesart möglich, wo die Referenz auf Hegel
uns ermöglicht, den puren Antagonismus vom antagonistischen
Kampf in der Realität zu unterscheiden. Worum es sich beim
puren Antagonismus dreht, ist nicht länger die Tatsache, daß –
wie im antagonistischen Kampf mit dem externen Gegner – die
ganze Positivität, die ganze Konsistenz unserer Position in der
Negation der gegnerischen Position und vice versa liegt; worum
es sich dreht, ist die Tatsache, daß die Negativität des anderen,
der mich am Erreichen meiner vollen Selbstidentität hindert,
nur eine Externalisierung meiner eigenen Auto-Negativität ist,
meiner Selbst-Behinderung. Die Frage hier ist, wie die zentrale
These von Laclau und Mouffe, daß im Antagonismus die Negati-
vität als solche eine positive Existenz annimmt, genau zu lesen
ist, welcher Akzent auf sie zu legen ist. Wir können diese These
so lesen, daß in einem antagonistischen Verhältnis die Positivität
»unserer« Position nur in der Positivierung unserer negativen
Relation zum anderen, zum antagonistischen Gegner, besteht:
die ganze Konsistenz besteht in der Tatsache, daß wir den ande-
ren negieren, »wir« sind nichts als dieser Trieb, unseren Gegner
zu vernichten, zu annihilieren. In diesem Fall ist das antagonisti-
sche Verhältnis auf gewisse Weise symmetrisch: jede Position ist
128 SLAVOJ ŸIŸEK

nur ihr negatives Verhältnis zur anderen (der Herr hindert den
Knecht daran, seine volle Selbstidentität zu erreichen und vice
versa). Aber wenn wir den antagonistischen Kampf in der Rea-
lität zum Punkt des puren Antagonismus radikalisieren, muß die
These, daß im Antagonismus die Negativität als solche eine posi-
tive Existenz annimmt, auf andere Weise gelesen werden: der
andere (sagen wir der Herr) ist selbst in seiner Positivität, in sei-
ner faszinierenden Präsenz nur die Positivierung unseres eige-
nen – des Knechts – negativen Selbstverhältnisses, die positive
Verkörperung unserer eigenen Selbstblockade. Der Punkt ist,
daß hier das Verhältnis nicht länger symmetrisch ist: wir können
nicht sagen, auch der Knecht wäre auf dieselbe Weise nur die
Positivierung des negativen Verhältnisses des Herrn. Was wir
vielleicht sagen können, ist, daß er das Symptom des Herrn ist.
Wenn wir den antagonistischen Kampf bis zum Punkt des puren
Antagonismus radikalisieren, ist es immer eines der zwei Mo-
mente, die durch die Positivität des anderen ein negatives
Selbstverhältnis behält: dieses andere Element funktioniert, um
einen hegelianischen Begriff zu verwenden, als »Reflexionsbe-
stimmung« des ersten – der Herr etwa ist nur eine Reflexionsbe-
stimmung des Knechts. Oder um die sexuelle Differenz/den se-
xuellen Antagonismus zu nehmen: Mann ist eine Reflexionsbe-
stimmung der weiblichen Unmöglichkeit, eine Selbstidentität zu
erreichen (weshalb die Frau ein Symptom des Mannes ist).
Wir müssen dann die Erfahrung des Antagonismus in seiner ra-
dikalen Form als Grenze des Sozialen unterscheiden vom Anta-
gonismus als der Relation von antagonistischen Subjektpo-
sitionen: wir müssen, in lacanianischen Worten, Antagonismus
als das Reale von der sozialen Realität des antagonistischen
Kampfes unterscheiden. Und der lacanianische Begriff des Sub-
jekts zielt genau auf die Erfahrung des »puren« Antagonismus
als Selbst-Behinderung, Selbst-Blockade, diese interne Grenze,
die das symbolische Feld davon abhält, seine volle Identität zu
realisieren: im ganzen Prozeß der Subjektivierung, der Ein-
nahme verschiedener Subjektpositionen, geht es letztlich
darum, uns zu befähigen, diese traumatische Erfahrung zu ver-
meiden. Die Grenze des Sozialen, wie sie von Laclau und Mouffe
definiert ist, diese paradoxe Grenze, die bedeutet, daß »die Ge-
sellschaft nicht existiert«, ist nicht einfach etwas, das jede Sub-
jektposition, jede definierte Identität des Subjekt subvertiert; im
Gegenteil, es ist gleichzeitig das, was das Subjekt in seiner radi-
kalsten Dimension trägt: »das Subjekt« im lacanianischen Sinn
JENSEITS DER DISKURSANALYSE 129

ist der Name für diese interne Grenze, diese interne Unmöglich-
keit des Anderen, der »Substanz«. Das Subjekt ist eine paradoxe
Identität, die sozusagen ihr eigenes Negativ ist, d.h., die nur in-
soweit persistiert, als ihre volle Realisierung blockiert ist – das
voll realisierte Subjekt wäre kein Subjekt mehr, sondern Sub-
stanz. In genau diesem Sinn liegt Subjekt jenseits oder vor Sub-
jektivierung: Subjektivierung bezeichnet die Bewegung, durch
welche das Subjekt das ihm in das Bedeutungsuniversum Gege-
bene integriert – diese Integration scheitert in letzter Instanz im-
mer, es gibt einen bestimmten Überrest, der nicht in das symbo-
lische Universum integriert werden kann, ein Objekt, das der
Subjektivierung widersteht, und das Subjekt ist diesem Objekt
genau korrelativ. Mit anderen Worten, das Subjekt ist seiner ei-
genen Grenze korrelativ, dem Element, das nicht subjektiviert
werden kann, es ist der Name der Leere, die nicht mit Subjekti-
vierung ausgefüllt werden kann: das Subjekt ist der Punkt des
Scheiterns von Subjektivierung (darum ist das lacanianische
Zeichen dafür fi).
Das »unmögliche« Verhältnis des Subjekts zu seinem Objekt,
dessen Verlust das Subjekt konstituiert, wird durch die lacani-
anische Formel des Phantasmas bezeichnet: fi £ a. Phantasma
muß dann als ein imaginäres Szenario verstanden werden, des-
sen Funktion ist, eine Art positive Stütze bereitzustellen, die die
konstitutive Leere des Subjekts ausfüllt. Dasselbe gilt mutatis
mutandis für das soziale Phantasma: es ist ein notwendiges
Gegenstück zum Konzept des Antagonismus, ein Szenario, das
die Leerstellen der sozialen Struktur ausfüllt, deren konstituti-
ven Antagonismus mit der Fülle des Genießens (des rassisti-
schen Genießens, z.B.) maskiert. Das ist die im althusseriani-
schen Ansatz von Anrufung übersehene Dimension: bevor es in
der Identifizierung, in der symbolischen An(V-)erkennung ge-
fangen ist, wird das Subjekt vom Anderen durch einen parado-
xen Objekt-Grund des Begehrens, der Genießen verkörpert,
durch dieses angeblich im Anderen verborgene Ereignis in der
Mitte des Anderen gefangen.

ZU EINER ETHIK DES REALEN

Nun sollte es klar sein, wie die zwei Begriffe, mit denen wir ver-
sucht haben, den theoretischen Apparat von Hegemonie zu er-
gänzen – das Subjekt als ein leerer, dem Antagonismus korrelie-
130 SLAVOJ ŸIŸEK

render Ort; soziales Phantasma als eine elementare ideologische


Verfahrensweise, den Antagonismus zu maskieren –, sich ein-
fach ableiten, wenn wir die Konsequenzen des durch dieses
Buch errungenen Durchbruchs in Rechnung stellen.
Die Haupterrungenschaft von Hegemonie, die Errungenschaft
aufgrund derer dieses Buch – weit davon entfernt, nur eines in
der Serie von »Post-«Werken (post-marxistisch, post-strukturali-
stisch, etc.) zu sein – im Verhältnis zu dieser Serie eine Stellung
der extimité einnimmt, liegt darin, daß es vielleicht erstmals die
Konturen eines politischen Projekts artikuliert, das auf einer
Ethik des Realen basiert, des »Gangs durch das Phantasma (la
traversée du fantasme)«, einer Ethik der Konfrontation mit
einem unmöglichen, traumatischen Kern, der durch kein Ideal
(der ungestörten Kommunikation, der Erfindung des Selbst) ge-
deckt wird. Deshalb können wir effektiv sagen, daß Hegemonie
die einzige wirkliche Antwort auf Habermas ist, auf sein Projekt,
das auf der Ethik der idealen Kommunikation ohne Zwang ba-
siert. Die Weise, in der Habermas die »ideale Sprechsituation«
formuliert, verrät bereits ihren Status als Fetisch: die »ideale
Sprechsituation« sei etwas, das sobald wir in Kommunikation
eintreten, simultan verneint und behauptet wird, d.h. wir müs-
sen das Ideal einer ungebrochenen Kommunikation vorausset-
zen, als wäre sie bereits realisiert, selbst wenn wir zugleich wis-
sen, daß das nicht der Fall sein kann. Wir müssen dann zu den
zwei Beispielen der fetischistischen Logik je sais bien, mais
quand même die Formel der »idealen Sprechsituation« hinzufü-
gen: »Ich weiß sehr wohl, daß Kommunikation gebrochen und
pervertiert ist, aber dennoch … .(glaube und handle ich, als wäre
die ideale Sprechsituation bereits realisiert)«.
Was diese fetischistische Logik des Ideals verdeckt, ist natürlich
die dem symbolischen Feld als solchem eigene Begrenzung: die
Tatsache, daß das Signifikationsfeld immer um einen bestimm-
ten fundamentalen toten Punkt herum strukturiert ist. Dieser
tote Punkt hat keinerlei Art von Resignation zur Folge – oder
wenn es zu Resignation kommt, ist es ein Paradox der enthusia-
stischen Resignation: Wir verwenden hier den Begriff »Enthusi-
asmus« in seiner strikten Kantischen Bedeutung: als Indikator
einer Erfahrung des Objekts durch genau das Scheitern seiner
adäquaten Repräsentation. Enthusiasmus und Resignation sind
dann keine zwei sich gegenüberstehenden Momente: es ist die
»Resignation« selbst, d.h. die Erfahrung einer bestimmten Un-
möglichkeit, die Enthusiasmus erregt.
JENSEITS DER DISKURSANALYSE 131

ANMERKUNGEN

1 Für eine Erläuterung der Paradoxa des lacanianischen Realen vergl. Sla-
voj Ÿiÿek, The Sublime Object of Ideology, London 1989, S. 161–73
2 Ernesto Laclau, Politik und Ideologie im Marxismus. Kapitalismus – Fa-
schismus – Populismus, Berlin 1981
3 G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, FfM. 1986, S. 145-155
Politik der Treue, Treue der Politik

JELICA ÍUMI”-RIHA

Versuchen wir zunächst etwas näher die Grenzen des vorliegen-


den Eingriffes zu umreißen. Es ist keineswegs unsere Absicht,
das Werk von Ernesto Laclau, eine theoretische Unternehmung,
die ihrem theoretischen Ansatz nach tiefreichend und vielfältig,
in ihrem »Begehren« aber nichtsdestoweniger außerordentlich
konsistent ist, in seinem ganzen Umfang auszumessen. Ein sol-
ches Vorhaben würde eine detaillierte Lektüre seiner Haupttexte
erfordern, vor allem der Hegemonie und der New Reflections,
ebenso wie eine neuerliche Auseinandersetzung mit einigen je-
ner Texte, die Laclaus ständigen Bezugspunkt bilden, wie etwa
Sein und Zeit oder Leviathan. Im Gegensatz zu einem solchen
»totalisierenden« Vorgehen werden wir hier eher eine Reihe von
Anmerkungen entwickeln, Laclaus Texte als ein genuin materia-
listisches Werk, wie wir es etwa von Marx oder Lacan her ken-
nen, behandelnd. Das heißt, als ein Werk, das seiner Definition
nach nicht-alles, unvollendet ist und das deshalb eine partielle,
fragmentarische Lektüre erlaubt. Wir werden uns dabei auf
Laclaus Dekonstruktion und Reaffirmation des Emanzipations-
konzeptes konzentrieren. Gerade in dieser doppelten Geste se-
hen wir nämlich das Spezifische seiner Intervention in die
gegenwärtige Theoretisierung der Politik.
Den Leitfaden unserer Überlegungen bildet folgende Frage:
Stellt die Dekonstruktion ein bloßes Protokoll, einen modus ope-
randi der Emanzipation dar oder ist sie vielmehr ihre Bedin-
gung? Und wenn letzteres gilt, wenn die Dekonstruktion eine Be-
dingung der Emanzipation bildet, gilt dann auch das Gegenteil,
daß nämlich die Emanzipation eine Bedingung der Dekonstruk-
tion darstellt? Im Gegensatz zu gängigen Vorstellung von einem
wechselseitigen Bedingen von Dekonstruktion und Emanzipa-
tion, für die zahlreiche Belege sowohl in Laclaus eigenen Texten
als auch in jenen von Derrida, die Laclau kritisch liest1, zu fin-
POLITIK DER TREUE, TREUE DER POLITIK 133

den sind, schlagen wir hier eine andere Problemlösung vor. Wir
werden argumentieren, daß es sich beim Verhältnis zwischen
der Dekonstruktion und der Emanzipation um eine Artikulation
handelt, die nicht notwendig, sondern kontingent ist. Wir wer-
den auch zu zeigen versuchen, daß Dekonstruktion, als Bedin-
gung der Emanzipation verstanden, der Entfaltung radikaler Im-
plikationen von Laclaus Thematisierung der Emanzipation, also
auch des Politischen, im Weg steht.
Daß die Emanzipation im Mittelpunkt von Laclaus Interesse
steht, zeigen nicht zuletzt schon die Titel seiner letzten zwei
Werke an, New Reflections on the Revolution of Our Time und
Emancipation(s). Aber: Revolution? Emanzipation? Haben diese
zwei Begriffe heute noch einen operationellen Wert? Laclau
selbst antwortet auf diese Fragen bejahend, obwohl nicht ohne
Vorbehalt: Die Theorie der radikalen Demokratie, das heißt, eine
positive Alternative zur »postmodernen« Ablehnung der Eman-
zipation, läßt sich seiner Meinung nach nur entwickeln, wenn
zuvor der klassische Begriff der Emanzipation dekonstruiert
wird. Deshalb stellt er in »Beyond Emancipation«, wo er die in-
nere Widersprüchlichkeit des klassischen Emanzipationskon-
zeptes analysiert, folgende Behauptung auf:
»Dies sollte uns nicht dazu verleiten, der Logik der Emanzipa-
tion einfach abzusagen. Ganz im Gegenteil, gerade vermittels
eines Spiels, das innerhalb des Systems der logischen Inkompa-
tibilitäten dieser Logik verbleibt, können wir neuen Befreiungs-
diskursen den Weg bahnen, die nicht mehr von Antinomien und
Sackgassen behindert werden, in die der klassische Emanzipati-
onsbegriff führte«2.
Der Emanzipationskonzept soll also Laclau nach erhalten blei-
ben, aber nur, wenn darunter keine globale Emanzipation ver-
standen wird, d.h. kein Projekt, das »auf die Veränderung der
›Wurzeln‹ des Gesellschaftlichen selbst« 3 abzielte. Darum wirft
Laclau Habermas auch vor, daß dieser, bemüht, die Emanzipa-
tion als Aufklärungsprojekt der Moderne, d.h. als endgültige ver-
nünftige Versöhnung, gegen die »nihilistische« Postmoderne zu
verteidigen, blind für die emanzipatorischen Potentiale sowohl
der postmodernen Gesellschaft als auch der postmodernen Kri-
tik bleibt:
»Unser Standpunkt ist dem genau entgegengesetzt: anstatt in
der ›Krise der Vernunft‹ einen Nihilismus zu sehen, der zur Ab-
lehnung jedes emanzipatorischen Projekts führt, sehen wir in
ihr jenes, was bisher ungeahnte Möglichkeiten für eine radikale
134 JELICA ÍUMI”-RIHA

Kritik aller Formen von Herrschaft sowie für Formulierungen


von Befreiungsprojekten, die bisher von der rationalistischen
Diktatur der Aufklärung eingeengt waren, freimacht«.4
Laclaus Intervention ordnet sich unserer Meinung in das Feld je-
ner Theoretisierungen ein, die nach dem Zusammenbruch des
Kommunismus nicht der Politik der Emanzipation absagten,
bzw. für die das Mißlingen eines bestimmten Emanzipationspro-
jekts nicht auch schon die Möglichkeit der Emanzipation als sol-
cher und letztendlich die Politik selbst in Frage gestellt hat.
Laclaus theoretische Unternehmung kann deshalb denjenigen
von E. Balibar, J. Ranciere oder A. Badiou zur Seite gestellt wer-
den. Das heißt, es kann jenen Theoretisierungen der Politik zu-
geordnet werden, deren differentia specifica einerseits in der
Reaffirmation der emanzipatorischen Politik besteht, und die
andererseits von einer genauen Untersuchung der Verifizierung
ihrer prekären Bedingungen im Zeitalter des Zusammenbruches
des Kommunismus und der Globalisierung der liberalen Demo-
kratie – in einer historisch-politischen Konjunktur also, die et-
was vereinfacht als »Vergessenheit« der Emanzipation bestimmt
werden könnte – begleitet werden.
Damit ist auch angedeutet, daß schon das bloße Aufwerfen der
Frage der Emanzipation heute sowohl Strenge des Denkens als
auch äußerste Behutsamkeit in der Handhabung mit Konzepten
erfordert. Saint-Just paraphrasierend könnte man sagen, daß
sich weder unschuldig regieren noch unschuldig, d.h. instru-
mentell mit den Signifikanten manipulieren läßt. Von der Weise,
auf die Signifikanten wie etwa Emanzipaton, Revolution, Frei-
heit, Gleichheit usw. gebraucht, genauer gesagt, im Feld des
großen Anderen artikuliert werden, hängt nämlich auch das
Schicksal der Politik in einer bestimmten Situation ab. Mit an-
deren Worten, den Signifikanten der Emanzipation ins Spiel
bringen, bedeutet gleichzeitig ein spezifisches Verständnis der
Politik ins Spiel bringen. Innerhalb der klassischen Auffassung
der Politik als eines Gesamts von verschiedenen Regierungsfor-
men, in der die Politik mit dem Staat oder mit verschiedenen in-
stitutionellen Formen gleichgesetzt wird, gibt es keinen Platz für
die Emanzipation. Die Emanzipation fungiert in diesem Rah-
men als moralischer und nicht als politischer Begriff. Und um-
gekehrt, als politischer Begriff wird die Emanzipation mit jener
Auffassung verbunden, von der die Politik als Ort einer ur-
sprünglichen Spaltung gedacht wird: Als Spaltung zwischen
dem institutionellen und dem insurrektiven Moment bzw., um
POLITIK DER TREUE, TREUE DER POLITIK 135

Laclaus Formulierung zu gebrauchen, zwischen der Sedimentie-


rung des Gesellschaftlichen und der Reaktivierung des Politi-
schen.5
Die Emanzipation verlangt also als ihre Vorbedingung eine ur-
sprüngliche Spaltung. Aber sie kann mit der Spaltung auf zwei
Weisen artikuliert werden. Der ersten Auffassung nach, die von
Laclau als klassische benannt wird, bildet die Spaltung zwar den
Ausgangspunkt, nicht aber auch das Ziel der Emanzipation. Das
Ziel der Emanzipationspolitik liegt hier vielmehr in der Versöh-
nung, d.h. im Zustand einer »vollkommen harmonischen Gesell-
schaft«6. Das Verständnis der Emanzipation als Versöhnung ist
nun aus zwei Gründen problematisch. Erstens, die Aufhebung
der Spaltung zwischen dem Sozialem und dem Politischen
würde eine Abschaffung des Politischen nach sich ziehen. Zwei-
tens, zusammen mit der Spaltung verneint diese Auffassung
auch das konstitutive Nicht-Alles des Gesellschaftlichen.
Vermittels des Axioms vom konstitutiven Nicht-Alles des Gesell-
schaftlichen kann die zweite Emanzipationsauffassung umris-
sen werden. Darin wird die Emanzipation nicht als Versöhnung,
sondern als Bewahren der dem Politischen inhärenten Spaltung
verstanden. Emanzipation bedeutet hier letztendlich eine fort-
währende Reaktivierung der Spaltung. Wie artikuliert aber die
Emanzipation das Nicht-Alles des Gesellschaftlichen? Das Ge-
sellschaftliche ist inkonsistent, weil es immer ein Moment gibt,
das sich jeder Totalisierungslogik entzieht. Dieses sich entzie-
hende Moment ist das potentielle Moment des Widerstandes. Es
ist vollkommen kontingent, welches Moment zum Widerstands-
moment wird. Aus der »ontologischen« These des Nicht-Alles
folgt aber notwendigerweise, daß in einer beliebigen Situation
wenigstens der Platz der Einschreibung dieses Moments geortet
werden kann. Dieser Ort wird von Laclau als Dislokation be-
nannt. Aus der Ontologie von Nicht-Allem läßt sich deshalb fol-
gendes Axiom der emanzipatorischen Politik ableiten: Die Poli-
tik der Emanzipation ist in jeder Situation möglich, auch wenn
ihre Maximen, ihre Idiome, der Augenblick ihrer Erscheinung
kontingent sind.
Die sich heute stellende Frage lautet nun, ob dieses Emanzipati-
onskonzept, sei es auch dekonstruiert, in der neuen historischen
Konjunktur immer noch pertinent ist. Das Verschwinden einer
institutionellen politischen Form, die Auflösung realsozialisti-
scher Staaten, wird nämlich nicht nur vom Bewußtsein des Miß-
lingens, der Versagung eines politischen Projekts kollektiver
136 JELICA ÍUMI”-RIHA

Emanzipation begleitet, sondern auch vom radikalen Zweifel an


der Möglichkeit einer emanzipatorischen Politik.7 In der verän-
derten Konjunktur müßte darum unserer Meinung nach die
Emanzipationsfrage folgendermaßen reformuliert werden: Ist
der Signifikant »Emanzipation« heute noch imstande, materi-
elle Effekte hervorzubringen, ungeachtet des Zusammenbruches
des Kommunismus?8 Oder muß die Wirksamkeit dieses Signifi-
kanten erst noch bestimmt werden, ebenso wie jene spezifischen
Verhältnisse analysiert werden müssen, in denen dieser Signifi-
kant noch wirksam sein könnte?

DIE TREUE GEGENÜBER EINEM KONZEPT

Stellt die Rede von der politischen Emanzipation zu einem Zeit-


punkt, in dem gerade ihre Vergessenheit um sich greift, nicht
einen Rückfall in den Dogmatismus dar? Versuchen wir
zunächst den Vorwurf des Dogmatismus zurückzuweisen. Die
Befürwortung einer emanzipatorischen Politik ist unter einer
Bedingung nicht dogmatisch: wenn nämlich die Emanzipation
mit den kontingenten Bedingungen ihrer Verifizierung artiku-
liert wird. Bei der Rede von der Emanzipation haben wir es also
immer schon mit zwei Momenten zu tun. Einerseits mit der
Treue dem Signifikanten der Emanzipation gegenüber, anderer-
seits mit dem Kontingenten seiner Wirkungen. Wie können aber
Treue und Kontingenz zusammengedacht werden? Schließt das
subjektive Verhalten der Treue nicht jede Kontingenz aus? Lau-
tet der Imperativ der Treue nicht: Nicht nachgeben, ungeachtet
der Umstände? Was bedeutet es also, einem Konzept treu zu
sein? Worauf zielt eine solche »Ethik der Treue« ab?
Auf diese Frage antwortet unserer Meinung nach A. Badiou
überzeugend in seinem Buch L’etre et l’evénement:
»Mehr als alles andere bewundere ich bei Pascal das Bestreben,
in schwierigen Zeiten gegen den Strom zu schwimmen, aber
nicht in einer reaktiven Bedeutung des Wortes, sondern um der
einstigen Überzeugung neue, moderne Formen zu erfinden – lie-
ber als dem Gang der Welt zu folgen und sich dem Skeptizismus
preiszugeben, der in jeder Übergangsepoche auftaucht, um je-
nen Geistern dienstbar zu sein, die zu schwach sind, darauf zu
bestehen, daß es keine historische Geschwindigkeit gibt, die
nicht mit dem ruhigen Willen nach einer Weltveränderung und
der Universalisierung ihrer Form vereinbar wäre«9.
POLITIK DER TREUE, TREUE DER POLITIK 137

Was will uns Badiou hier sagen? Es ist wohl klar, daß von keiner
Treue der Treue wegen die Rede ist, daß es sich also im ange-
führten Abschnitt um keinen blinden Dogmatismus handelt.
Ganz im Gegenteil, Badiou zeigt uns, daß ein Bestehen auf der
Politik der Emanzipation, auch wenn dies keineswegs mehr
selbstverständlich ist, auch wenn es eine bloße Utopie zu sein
scheint, viel subversiver sein kann als eine sich noch so radikal
gebende moralische Verurteilung der Politik, als eine noch so ra-
dikal erscheinende Verkündigung des Todes der Politik. Die
Ethik der Treue ist, könnte man sagen, schon deshalb subversiv,
weil sie sich in das Register der Zurückweisung einschreibt. Zu
diesem Kontext gehört unserer Meinung nach auch die Reaffir-
mation der Emanzipation bei Laclau, Balibar und Ranciere.
Schon die bloße Tatsache, daß in der gegenwärtigen Konjunktur
des »Vergessens« der Emanzipation von neuem Geltung ver-
schafft wird, impliziert eine zweifache Zurückweisung der
gegenwärtig vorherrschenden Denktendenzen. Einerseits die
Zurückweisung der Realpolitik und der selbstgefälligen Apologie
der Parlamentardemokratie. Im Rahmen dieser Einstellung ist
Emanzipation nicht nötig, weil »die beste aller möglichen Wel-
ten« schon da ist. Andererseits die Abgrenzung vom postmoder-
nen »Rückzug aus der Politik«, von der »Ethisierung der Poli-
tik«, der Geste, in der die Politik der Bedingung des Ethischen
unterstellt wird10. Für diese Einstellung ist die Emanzipation un-
möglich, weil sie sich – wie jede Politik – notwendigerweise in
Terrorismus verkehrt.
Soll das nun bedeuten, daß die Treue als solche subversiv, eman-
zipatorisch sei? Daß ein solcher Schluß nicht zulässig ist, kann
schon am Beispiel des »revolutionären Konservativismus« ge-
zeigt werden. Das Paradox dieser Einstellung, die man auch
»Hüter der Emanzipation« nennen könnte, liegt darin, daß sie in
ihrer Treue der Emanzipation, Revolution, diese ins agalma, in
den wertvollsten Schatz verwandelt. Der mythischen Vergangen-
heit ein Denkmal aufstellend, gibt sie aber gleichzeitig auch
schon zu, daß dieser Schatz auf immer verloren bzw. die Eman-
zipaton nicht mehr möglich sei.
Wir werden also sagen, daß die Treue erstens nur dann als Be-
dingung der Emanzipation wirkt, wenn sie der Emanzipation als
agalma und dem Pathos des Hüters der Emanzipation absagt.
Und zweitens, daß die Treue der Emanzipation als eine subjek-
tive Maxime verstanden werden muß, von der festgesetzt wird,
daß die Emanzipation immer und überall, ungeachtet der Um-
138 JELICA ÍUMI”-RIHA

stände, ungeachtet der Forderungen der Wirklichkeit, möglich


sei.
Ist aber der Imperativ der Emanzipationstreue, von dem die
Möglichkeit der Emanzipation immer und überall gesetzt wird,
nicht seinem Wesen nach dogmatisch und anachronistisch?
Nun, er ist unter einer Bedingung nicht dogmatisch: Wenn näm-
lich die Affirmation der Emanzipationsmöglichkeit in jeder Si-
tuation, ungeachtet der Umstände, in der radikalen Kontingenz
jeder gegebenen Situation, jeder gegebenen Ordnung begründet
ist. Mit Laclau gesprochen: Die Treue der Emanzipation ist die
Treue der Reaktivierung, die Wette auf das Moment der Reakti-
vierung, genauer gesagt, darauf, daß in jeder Situation »die kon-
tingente Natur der sogenannten Objektivität«11 erschlossen wird.
Deshalb schreibt der Imperativ der Treue der Emanzipation kei-
nen Inhalt, kein operatives Protokoll vor. In dieser Hinsicht ist
der Imperativ der Treue streng immanentistisch: Er verlangt nur,
daß jedes konkrete emanzipatorische Projekt die seiner eigenen
Situation entsprechenden subjektiven Maximen und operativen
Regeln entdeckt und erfindet. Insofern ließe sich sagen, daß der
Imperativ der Emanzipation die einzige Maxime sei, die der ra-
dikalen Kontingenz treu bleibt. Aber er ist ihr nur um den Preis
des Anachronismus treu.
Der Anachronismus, der ein konstitutiver Zug der Emanzipati-
onstreue ist, stellt keineswegs ein dogmatisches Bestehen auf
einem der Zeit, der Situation »unangemessenen« Verhalten dar.
Anachronismus bedeutet nicht Widerstand um jeden Preis. Viel-
mehr geht es um ein Verhalten, das durch seine Dislokation hin-
sichtlich des Selbstverständnisses und der »Gesetze« der Situa-
tion – auf der Ebene des Subjekts – vom Zwiespalt, von der Dis-
lokation und der konstitutiven Verspätung, die der Situation
immanent sind, zeugt.

DER ANACHRONISMUS DER EMANZIPATION

Von der Dekonstruktion wird gerade dieser »ontologische« Ge-


sichtspunkt des Anachronismus hervorgehoben. Für die Dekon-
struktion stellt der Anachronismus den Modus der Spaltung
bzw. der strukturellen Dislokation dar, etwa zwischen der Aus-
sage und der Äußerung, dem Sozialen und dem Politischen, der
Repräsentation und dem Repräsentierten, dem Subjekt der Aus-
sage und dem Subjekt der Äußerung usw. Der Anachronismus
POLITIK DER TREUE, TREUE DER POLITIK 139

als Erscheinungsform der irreduziblen Spaltung wird sogar als


Musterbeispiel für die Wirkungsfähigkeit der Dekonstruktion
angesehen. Andererseits bildet aber der Anachronismus ein kon-
stitutives Bestandteil der Dekonstruktion: Wie Laclau explizit
behauptet, ist »die Existenz dieses Zwiespaltes eine Bedingung
der Möglichkeit der Dekonstruktion«12. Laclau weist außerdem
nach, daß der Anachronismus auch für die Politik selbst, die von
ihm als Desynchronisierung von Sedimentierung und Reaktivie-
rung aufgefaßt wird, konstitutiv ist. Der Anachronismus stellt
also bei Laclau den Steppunkt von Dekonstruktion und Politi-
schen bzw. der Logik der irreduziblen Verdoppelung dar, die von
Derrida Spektrallogik genannt wird, und der hegemonialen Lo-
gik, die von Laclau für die Logik der Politik selbst gehalten wird.
Aus dem Gesagten geht hervor, daß der Anachronismus nicht
schon an sich emanzipatorisch ist, sondern emanzipatorisch nur
dann wirken kann, wenn er als Bedingung der Dekonstruktion
und der Politik fungiert. Die Schlüsselfrage dabei lautet aber:
Haben wir es hier mit einer kontingenten Übereinstimmung der
Dekonstruktionslogik und der Logik des Politischen oder mit ih-
rer gegenseitigen Implikation zu tun?13 Dieser Frage kommt des-
halb eine Schlüsselbedeutung zu, weil ihre Beantwortung zu-
gleich auch die Lösung des Problems der gegenseitigen Artikula-
tion von Anachronismus und Emanzipation sowie des Verhält-
nisses von Dekonstruktion und Emanzipation ermöglicht.
Laclau setzt sich zwar an verschiedenen Stellen für die Verein-
barkeit der Spektrallogik und der hegemonialen Logik ein,14 er
weist aber ihre Angleichung zurück. Seiner Meinung nach be-
steht nämlich in der Logik der Hegemonie ein Überschuß, der in
der Spektrallogik nicht zu finden ist. Worin besteht dieser Über-
schuß? Wir können ihn durch Laclaus Analyse des Zwiespaltes
zwischen der »anachronistischen« Revolutionssprache und dem
Revolutionsinhalt veranschaulichen. Auf ihren Zwiespalt hat
schon Marx aufmerksam gemacht, aber im Unterschied zu
Marx, für den die Spaltung »Phraseologie«/«Inhalt«, seiner Auf-
fassung der Emanzipation als Versöhnung gemäß, überwunden
werden soll, zeigt Laclau, daß sich jede Revolution notwendiger-
weise in einer »anachronistischen Sprache« ausdrückt, bzw. daß
die Spaltung Sprache/Inhalt eine permanente Bedingung der
Emanzipation darstellt. Deshalb ist die Sprache der Emanzipa-
tion, die Marx ihres Anachronismus wegen den Ansprüchen der
Gegenwart unangemessen erschien, gerade in dieser ihrer Unan-
gemessenheit angemessen. Und umgekehrt, die Verwirklichung
140 JELICA ÍUMI”-RIHA

der Marxschen Forderung nach einem Zusammenfallen von »In-


halt« und »Phraseologie« würde, wie Laclau bemerkt, einen Tod
der Emanzipation herbeiführen.
Auf den ersten Blick scheint es, daß wir es in dieser strukturellen
Unmöglichkeit des Zusammenfallens von Sprache und Inhalt
mit einer Wirkung der Spektrallogik zu tun haben: Jede neue Re-
volution schreibt sich in die Tradition ein, wobei diese Ein-
schreibung subversive, deformierende Wirkungen hat, und zwar
sowohl auf der Seite des »Inhaltes« der neuen Revolution, die
sich in einem ihr nicht angemessenen Medium »ausdrücken«
muß, als auch auf der Seite der Überlieferung, der eine Aufgabe
auferlegt ist, die zu bewältigen sie nicht mehr imstande ist, näm-
lich den neuen Inhalt »auszudrücken«. Aber gerade auf diesem
sozusagen privilegierten Gebiet der Spektrallogik läßt sich zei-
gen, worin der Überschuß der Laclauschen Analyse im Verhält-
nis zu einer rein dekonstruktivistische Intervention besteht.
Den wesentlichen Durchbruch sehen wir in der Verdoppelung
der Dislokation. Die alte Revolution ist in der neuen nicht
»durch ihre Partikularität, sondern durch ihre universelle Funk-
tion anwesend, dadurch, daß sie Revolution ist, das heißt, durch
die Verkörperung des revolutionären Prinzips als solchem« 15.
Einfach gesagt, von der »Phraseologie« wird nicht der spezifi-
sche Inhalt einer vergangenen Revolution, sondern die Revolu-
tion als solche vertreten. Die Spaltung zwischen »Inhalt« und
»Phraseologie« verdoppelt sich sozusagen bzw. »reflektiert« sich
in der »Phraseologie« selbst: Diese vertritt, indem sie spezifische
partikulare Forderungen der Gegenwart »ausdrückt«, zugleich
auch das universelle Prinzip der Emanzipation.
Wie kann aber die »anachronistische« Sprache als Statthalter
des universellen Prinzips wirken? Zu erwarten wäre, daß sie es
in einem Punkt vertritt, in dem »Inhalt« und »Sprache« zusam-
menfallen. Laclau zielt unserer Meinung nach genau auf das
Gegenteil ab: Die anachronistische Sprache vertritt bzw. verkör-
pert das universelle Emanzipationsprinzip gerade im Punkt sei-
nes Mißerfolges, seiner Nichtübereinstimmung mit dem »In-
halt«. Das Universelle der Emanzipation wird so nicht von der
Transparenz der Sprache, sondern von ihrer Intransparenz ver-
körpert, von der Materialität des Signifikanten, die es mit sich
bringt, daß jede Sprache im Verhältnis zum Inhalt, den sie »aus-
drücken« soll, »anachronistisch« wirkt.
Die konstitutive Rolle der »anachronistischen« Sprache kann
mittels Laclaus Konzept des »leeren Signifikanten« (empty signi-
POLITIK DER TREUE, TREUE DER POLITIK 141

fier) erklärt werden. Diesen versucht man am häufigsten folgen-


dermaßen zu erklären: Der leere Signifikant sei ein Signifikant,
der imstande ist, zwar nicht die Totalität, das Ganze, darum aber
ihre Unmöglichkeit zu vertreten, und zwar deshalb, weil er ohne
Signifikat, jeder Bedeutung, jedes Inhaltes entleert sei. Auf diese
Weise werde eine Äquivalenz zwischen dem Repräsentierendem
und dem Repräsentierten hergestellt: Der »leere« Signifikant sei
gerade wegen seine Leere ein adäquater Repräsentant der
»Leere« auf der Ebene des Referenten, das heißt, des abwesen-
den Ganzen. Unserer Meinung nach muß aber dieses Verhältnis
wesentlich korrigiert werden: der leere Signifikant wird gerade
nicht von der Leere für seine Funktion eines Statthalters der un-
möglichen Totalität, Ganzheit bestimmt. Der »leere Siginifikant«
übt seine Funktion nicht darum aus, weil er leer, jedes Inhalts
entledigt ist. Auch der leere Signifikant ist nämlich nie vollkom-
men leer: Keine »Neubesetzung«, keine Neuinvestition, keine
Entleerung kann den Signifikanten vollkommen bereinigen. Be-
reinigen wovon? Keineswegs von seinen möglichen Signifikaten,
von Bedeutungen, sondern von der Materialität des Signifikan-
ten bzw., um Kants Ausdruck zu gebrauchen, von seiner Patho-
logie. Aber diese pathologische Moment des Signifikanten, die-
ses sein »Fleisch«, wenn wir diesen Ausdruck hier wagen dürfen,
diese Untilgbarkeit des Partikularen ist nicht etwas, was ihn kor-
rumpiert, subvertiert und ihn letztendlich daran hindert, voll-
ständig sein symbolisches Mandat – die Vorstellungsrepräsen-
tanz der unmöglichen Fülle, Totalität zu sein – zu übernehmen.
Es ist vielmehr jenes, was ihm gerade möglich macht, diese
seine Funktion auszuüben. Das Paradox des »leeren Signifikan-
ten« liegt darin, daß er die Funktion der Vertretung durch jenes
ausübt, was die Vertretung unmöglich macht, das heißt, durch
seine signifikante Materialität, die sich nicht dekonstruieren und
in ein bloßes differentielles Verhältnis umwandeln läßt. Wenn
aber der leere Signifikant undekonstruiererbar ist, wenn er die
von der Dekonstruktion aufgestellten Spielregeln verletzt, dann
deshalb, weil er nicht mehr als Signifikant fungiert. Der leere
Signifikant fällt sozusagen in die Ordnung des Realen, bzw. in
ihm kommt es zu einer Koinzidenz des Signifikanten und des
Buchstabens.
Unsere Bestimmung des leeren Signifikanten ist für die Rearti-
kulierung des Anachronismus als Bedingung der Emanzipation
wesentlich. Aus Laclaus Analyse der »anachronistischen« Spra-
che der Emanzipation geht hervor, daß die Dislokation eine con-
142 JELICA ÍUMI”-RIHA

ditio sine qua non der Emanzipation darstellt. Andererseits ver-


bindet aber Laclau das Schicksal der Emanzipation mit dem
Schicksal des Universellen.16 Laclau hebt also zwei Konstituen-
ten der Emanzipation bzw. zwei Bedingungen der Emanzipation
hervor: Dislokation und Universelles. Aber wie können Univer-
selles und Dislokation zusammengedacht werden? Fest steht,
daß das Universelle, von dessen Schicksal die Emanzipation ab-
hängt, weder ein im vorhinein bestehendes Prinzip noch eine
durch Versöhnung erreichte Totalität ist. Beiden Arten des Uni-
versellen ist nämlich die Verneinung der Dislokation gemein-
sam, dieser wesentlichen Bedingung der Emanzipaton. Daraus
folgt, daß Universelles und radikale Dislokation nur dann be-
wahrt werden können, wenn die Dislokation ein Gesetz auch für
das Universelle selbst ist.
Diesen Weg geht nun Laclaus Theoretisierung der hegemonialen
Logik. Mit einem hegemonialen Verhältnis haben wir es dann zu
tun, wenn darin das Universelle, das ohne eigenen Inhalt ist,
»nur durch eine parasitäre Bindung an einen besonderen Körper
bestehen kann«. Diese parasitäre Bindung hat aber auch zur
Folge, daß der »Körper, der zur Verkörperung einer Fülle wird,
in seiner Partikularität subvertiert und deformiert wird« 17. Die-
ser Zusammenhang von Parasitismus und Subversion (das un-
mögliche Universelle »parasitiert« an einem beliebigen konkre-
ten »Körper«, der von ihm als Vertreter »ausgesucht« wird; die-
ser Körper wird schon dadurch, daß er etwas mehr als sich
selbst, d.h. das universelle Prinzip, die Fülle, »repräsentiert«, de-
formiert und subvertiert) hat schwerwiegende Konsequenzen
für die Emanzipationsauffassung. Die »Verkörperung« des uni-
versellen Prinzips in einem partikularen Inhalt hat die Kontami-
nierung, Deformierung, Subversion des Universellen zur Folge.
Dies gilt aber auch für den partikularen Inhalt. Auch er wird
schon dadurch subvertiert, daß er die Universalität der Emanzi-
pation repräsentieren muß. Mit anderen Worten, jedes emanzi-
patorische Projekt ist konstitutiv verdoppelt, und zwar auf sei-
nen eigenen partikularen Inhalt (Forderung nach Abschaffung
einer spezifischen sozialen und politischen Diskriminierung
etwa), und auf das universelle Emanzipationsprinzip, auf die
Emanzipation. Die erste Schlußfolgerung, die sich aus der
gegenseitigen Artikulation von Universellem und Dislokation
ziehen läßt, lautet: Das Universelle gibt es nicht außerhalb seiner
»Inkarnierung«, bzw. das Universelle muß notwendigerweise
POLITIK DER TREUE, TREUE DER POLITIK 143

»verkörpert« werden, es bleibt aber kontingent, worin es »ver-


körpert« ist.
Wir schlagen vor, hier noch einen weiteren Schritt zu tun. Es
genügt nicht, die Dislokation von Universellem und Partikula-
rem nachzuweisen. Diese Dislokation ist unserer Meinung nach
nämlich in einer »ursprünglicheren« Dislokation des Universel-
len selbst begründet: In der Dislokation zwischen dem unmögli-
chen, aber immer schon antizipierten Universellen, das Laclau
nach vom leeren Signifikanten vertreten wird, und dem verkör-
perten, aber damit auch schon subvertierten Universellen. An-
ders ausgedrückt: die Antizipation des Universellen bedeutet kei-
neswegs, daß das Universelle irgendwie potentialiter schon an-
wesend wäre, sie bedeutet vielmehr, daß sich das Universelle nur
in einer retroaktiven Antizipierung des jeweiligen Emanzipa-
tionsprojekt konstituieren kann.18
Dies ist auch aus dem spezifischen Zeitmodus des Universellen
ersehbar. Die Zeit des Universellen ist, allgemein gesehen, im-
mer »out of joint«, entgleist, da das Universelle konstitutiv sich
selbst vorgeht (nichts anderes als seine eigene Antizipaton ist)
oder aber im Verhältnis zu sich immer in Verspätung ist, da es
von den jeweiligen »Verkörperungen« subvertiert, verzerrt reprä-
sentiert wird. Das hegemoniale Verhältnis, d.h. das Verhältnis,
»vermittels dessen ein besonderer Inhalt seine eigene Partikula-
rität überwindet und zur Verkörperung der abwesenden Fülle
der Gesellschaft«19, also des Universellen, wird, situiert sich ge-
rade in diesem Abstand zwischen der vergangenen Zukunft und
der Vorvergangenheit. Wesentlich dabei ist unserer Meinung
nach folgendes: Es ist zwar wahr, daß es das Universelle außer-
halb seiner jeweiligen »Verkörperungen« nicht gibt, mögen diese
noch so kontingent sein. Ebenso stimmt es, daß das hegemo-
niale Verhältnis, so wie es von Laclau gedacht wird, der einzig
denkbare Modus der Präsenz und Repräsentation des Universel-
len ist. Aber dieses hegemoniale Verhältnis ist dennoch sekundär
bzw. parasitär im Verhältnis zur inhärenten Dislokation des Uni-
versellen. Anders gesagt, das hegemoniale Verhältnis ist schon
ein Lösungsversuch der inneren Blockade des Universellen
selbst.
144 JELICA ÍUMI”-RIHA

DAS MESSIANISCHE VERSPRECHEN ODER DIE


ENTSCHEIDUNG

Dem ersten Anblick nach scheint auch Derrida in diese Richtung


zu gehen, indem er die »démocratie à venir«, wie er selbst die
Emanzipaton nennt, in den (quasi)transzendentalen Horizont
des messianischen Versprechens einortet, in jene formelle Struk-
tur also, die jeder Erfahrung und deshalb auch jeder hegemonia-
len Relation vorhergeht. Nehmen wir als Ausgangspunkt fol-
gende Schlüsselstelle aus Spectres de Marx:
»Jenes, was genauso irreduzibel auf jede Dekonstruktion, was
genauso undekonstruierbar bleibt wie die Möglichkeit der De-
konstruktion selbst, ist vielleicht eine bestimmte Erfahrung des
emanzipatorischen Versprechens: Dies ist vielleicht gerade die
Formalität eines strukturellen Messianismus, des Messianismus
ohne Religion, sogar ohne Messianismus, die Idee der Gerech-
tigkeit – die immer vom Recht und sogar von den Menschen-
rechten unterschieden ist – und die Idee der Demokratie – die
von ihrem gegenwärtigen Begriff und seinen heutigen Prädika-
ten zu unterscheiden ist« 20. Gerade in dieses messianische Ver-
sprechen ordnet Derrida auch das »unzerstörbare ›es gilt‹ [il
faut] bzw. das ›emanzipatorische Begehren‹» ein. Dieses irredu-
zible »es gilt« sieht Derrida sogar als Bedingung einer »Re-Politi-
sierung, vielleicht sogar eines anderen Begriffs des Politischen«
an21.
Jeder Inhalt eines Versprechens ist also der Definition nach de-
konstruierbar, das messianische Versprechen, das nichts ver-
spricht, ist dagegen undekonstruierbar da es keinen Inhalt hat,
bzw. da es nichts anderes ist als die formelle Struktur des Ver-
sprechens selbst. Die einzige Derrida nach vom messianischen
Versprechen zu erfüllende Bedingung besteht darin, daß es am
Prüfstein der Unentscheidbarkeit22 gemessen werden muß: Es
muß unkalkulierbar, unprogrammierbar, in keinem Gesetz und
keiner Regel begründbar sein. Und gerade als ein solches konsti-
tutiv unentscheidbares Versprechen stellt es eine Gewähr der Of-
fenheit dem Anderen und Heterogenen gegenüber dar, damit
aber auch eine Bedingung der Möglichkeit der Dekonstruktion
und Emanzipation, der »démocratie à venir«, dieser immer im
Kommen begriffenen aber konstitutiv unverwirklichbaren De-
mokratie.
POLITIK DER TREUE, TREUE DER POLITIK 145

Bei Derrida haben wir es also mit der Artikulation von drei Mo-
menten zu tun: Der Demokratie, der Dekonstruktion und des
messianischen Versprechens. Es ist gewiß nicht falsch zu be-
haupten, daß für Derrida Demokratie ohne Dekonstruktion ge-
wissermaßen nicht möglich ist. Die Dekonstruktion macht hin-
ter jedem konkreten emanzipatorischen Projekt die Leere sicht-
bar, die nichts anderes als die Offenheit des messianischen Ver-
sprechens ist. Dieses fungiert als Bedingung der Möglichkeit des
Emanzipationsprojekts, gleichzeitig verhindert es aber auch,
daß sich ein konkretes Projekt als endgültige Emanzipation bzw.
als ihr »Eigentliches« festsetzen würde. Für die Dekonstruktion
gibt es keine »eigentliche« Emanzipation, und umgekehrt, jede
Emanzipation wirkt als Verwirklichung und Verrat des messiani-
schen Versprechens zugleich. Diese Unmöglichkeit der Verwirk-
lichung ist natürlich nicht empirischen Umständen verschuldet:
Das messianische Versprechen ist kein Ideal. Ganz im Gegenteil,
die Unverwirklichbarkeit des messianischen Versprechens fun-
giert als Bedingung der Möglichkeit jeder konkreten Emanzipa-
tion.
Bis zu diesem Punkt scheint Derridas Argumentation stichhaltig
zu sein. Auch Laclau gibt in seiner ansonsten kritischen Bespre-
chung zu, daß Derridas Begriff des messianischen Versprechens
produktiv wirkt, und zwar in dem Maße als es als »existentielle«
Geschichtsform und nicht als Ansage einer endgültigen Versöh-
nung verstanden werden kann. Aber das gilt nur unter der Be-
dingung, daß es »hinsichtlich der Inhalte, die mit ihm in real exi-
stierenden Messianismen verbunden sind, verselbständigt
wird«23.
Nun ist aber bei Derrida das messianische Versprechen nicht
nur ein leerer, in die Dialektik der Inkarnation/Subversion einge-
fangener Signifikant. Derrida versucht nämlich das Versprechen
eng, sozusagen von Innen mit der Emanzipation zu verbinden.
So behauptet er einerseits, das Versprechen sei seiner Offenheit
wegen schon an sich emanzipatorisch und deshalb Bedingung
einer »démocratie à venir«. Andererseits begreift er aber diese
»démocratie à venir«, wie auch Laclau hervorhebt, als eine kon-
tinuierliche Verbundenheit dem Versprechen, der Offenheit dem
Anderen, dem Heterogenen gegenüber.24 Kurz, Emanzipation
und Versprechen setzen bei Derrida einander voraus: Das Ver-
sprechen ist als ursprüngliche Offenheit eine Bedingung der
Emanzipaton, aber nur, wenn die Emanzipation ihrerseits diese
Offenheit gewährleistet und hütet. Das Problem liegt gerade in
146 JELICA ÍUMI”-RIHA

dieser unthematisierten Voraussetzung einer privilegierten Ver-


bindung von ursprünglicher Offenheit, die vom Versprechen ver-
körpert wird, und der Emanzipation bzw. Demokratie.
Auf dieses Problem weisen auch Laclaus kritische Bemerkungen
hin. Laclau hebt zwei problematische Momente in Derridas
Konzeptualisierung der Emanzipation hervor. Erstens, die unzu-
reichende Lösung der Frage, wie Emanzipation »ontologisch«
zu begründen sei, kurz, wie die »démocratie à venir« aus dem
messianischen Versprechen abgeleitet werden könne. Und zwei-
tens, die offene Frage, wie die Verbindung vom »leeren« Verspre-
chen und seinen »Füllungen«, bzw. von »démocratie à venir«
und konkreten emanzipatorischen Projekten konzeptualisiert
werden könne.
Worin besteht hier das Problem? Wenn die Offenheit »ursprüng-
lich« ist, dann ist das Gebot »es gilt« überflüssig25. Wenn aber
das »es gilt« notwendig ist, dann ist die Offenheit nicht ur-
sprünglich. Mit anderen Worten, wenn die Offenheit ontologisch
ist, dann konvergieren zwar Emanzipation und ursprüngliche
Offenheit, aber in diesem Fall verlieren wir ihr privilegiertes Ver-
hältnis. Aus der ursprünglichen Offenheit, aus der Situation der
strukturellen Unentscheidbarkeit kann nämlich alles mögliche
folgen, sowohl Demokratie als ihre Verneinung. Was auch be-
deutet, daß das ethische Emanzipationsgebot nicht mit der
strukturellen Unentscheidbarkeit motiviert ist, bzw. daß sich der
Vorrang der Demokratie nicht ontologisch begründen läßt. Wie
Laclau prägnant festhält: »Die Unentscheidbarkeit müßte wort-
wörtlich als jene Bedingung verstanden werden, aus der notwen-
dig keine Handlung folgt. Sie dürfte also nicht in den notwendi-
gen Ursprung einer beliebigen konkreten Entscheidung innerhalb
des ethischen oder politischen Terrains verwandelt werden«.26
Wenn also die »formelle Struktur des Versprechens« eine ontolo-
gische Kategorie und deshalb konstitutiv für jede Erfahrung ist,
dann ist die »Demokratie im Kommen« keineswegs die einzige
Option. Das »es gilt« der Demokratie ist zwar mit der Offenheit
vereinbar, ist aber nicht deren logische Ableitung. Was für Fol-
gen hat dies für die Konzeptualisierung der Emanzipation im
Rahmen der Dekonstruktion? Laclau antwortet auf diese Frage
mit der Thematisierung des hegemonialen Verhältnisses zwi-
schen der »ontologischen« ursprünglichen Offenheit, Unent-
scheidbarkeit usw., und der »démocratie à venir«, aber diese
Problemlösung gilt nur unter der Bedingung, daß man dem ethi-
schen Gebot des »es gilt« absagt. Und umgekehrt, das ethische
POLITIK DER TREUE, TREUE DER POLITIK 147

Gebot kann nur unter der Bedingung pertinent sein, daß die Of-
fenheit eine ethische und keine ontologische Kategorie ist. In
diesem Fall müßte aber Derrida seiner »Ontologisierung« des
Versprechens absagen. Das wiederum kann oder will Derrida
nicht tun, da für ihn die Politik nur im Horizont der Ethik denk-
bar ist. Deshalb kann er auch nicht eine Verbindung von Eman-
zipation und ontologischer Offenheit annehmen, die »bloß« kon-
tingent wäre. So stellt Derrida, anstatt die Verbindung von onto-
logischer Offenheit und Emanzipation zu thematisieren, das
»emanzipatorische Begehren«, jenes »es gilt«, als Gewährlei-
stung der Offenheit auf. Das »es gilt« ist eine Art Fetisch, von
dem das Fehlen der Ableitung der Demokratie aus dem Verspre-
chen verdeckt wird.
Wenden wir uns nun den Folgen von Laclaus Kritik für Derridas
Emanzipations- und Dekonstruktionsauffassung zu. Für Laclau
ist Derridas Schritt aus der ontologischen Offenheit ins ethische
Gebot nicht nur deshalb problematisch, weil er »ungerechtfer-
tigt«, das heißt unbegründbar ist, sondern auch, weil er auf die
Begründungsproblematik zurückführt. In der Einführung der
ethischen Problematik zeichnet sich so im Grunde ein Rückfall
der ansonsten subversiven Dekonstruktion ab, da das Unter-
scheidungsmerkmal des Dekonstruktivismus gerade darin liegt,
jeden Grund, jeden Ursprung, jede Hierarchie zu subvertieren,
sie als ungerechtfertigt auszuweisen. Das ethische Gebot »sün-
digt« deshalb sowohl gegen die Dekonstruktion wie gegen die
Demokratie. Es sündigt gegen die Dekonstruktion, weil die De-
konstruktion eine Operation ist, die hinter jedem Grund seine
Abgründigkeit zum Vorschein kommen läßt und deshalb mit
dem ethischen Gebot, das Laclau nach nur als Gebot der Be-
gründung »sinnvoll« ist, unvereinbar ist. Gegen die Demokratie
wiederum sündigt das ethische Gebot deshalb, weil es als Vorbe-
dingung der »démocratie à venir« nicht nur eine unnötige For-
derung darstellt, sondern der Demokratie genau in dem Maße
widerspricht, als diese nach keiner »radikalen Begründung« ver-
langt. Die Demokratie unterscheidet sich nämlich von allen an-
deren politischen Formen darin, daß sie der Begründung absagt
bzw. sich auf dem Axiom »Es gibt keinen Anderen des Anderen«
begründet.
Was sind nun die Implikationen dieses Axioms für das Denken
der Emanzipation? Wie lassen sich die Bedingungen der Mög-
lichkeiten der Emanzipation denken, sobald sich einmal heraus-
gestellt hat, daß die Emanzipation der radikalen Kontingenz kei-
148 JELICA ÍUMI”-RIHA

neswegs näher steht als andere politische Praxen und daß der
Bezug auf das ethische Gebot als Bedingung und Gewähr der
Emanzipation nicht zulässig ist? Die Antwort auf diese Frage
muß unserer Meinung nach in der »Dialektik« von Sedimentie-
rung und Reaktivierung gesucht werden, genauer gesagt, in der
Vernähung der unendlichen Menge, von der die Situation gebil-
det wird, mit der endlichen, kontingenten Entscheidung.
Es stimmt zwar, daß der Begriff der Entscheidung in Derridas
Dekonstruktion eine immer bedeutendere Rolle zu spielen be-
gann. Das Paradox liegt aber darin, daß es Derrida, der das Ver-
hältnis zwischen dem Unentscheidbaren der Situation und der
Entscheidung, kurz, die radikale Abgründigkeit der Entschei-
dung zu denken versucht – bei aller Hervorhebung des Wahn-
sinns der Entscheidung – gerade an der Tapferkeit für die Ent-
scheidung, genauer gesagt, an der Tapferkeit, dem »Wahnsinn«
der Entscheidung gegenüber blind zu bleiben, mangelt. Das er-
laubt uns zu behaupten, daß die Dekonstruktion, weit davon ent-
fernt, ein Denken der Entscheidung zu sein, eine Operation ist,
durch die der Entscheidung auf dem Terrain des Unentscheidba-
ren gerade ausgewichen werden soll. Die Dekonstruktion, die für
jede konkrete Entscheidung im nachhinein zeigen kann, daß sie
kontingent in Bezug auf ihre Situation ist, und die antizipiert,
daß dies auch für jede künftige Entscheidung gilt, da die for-
melle Struktur der Entscheidung in beiden Fällen gleich bleibt,
kann überzeugend nachweisen, daß kein konkretes Emanzipa-
tionsprojekt das messianische Versprechen einlösen kann, daß
also jedes konkrete Emanzipationsprojekt »das Wahre« nicht
sei. Deswegen ist für die Dekonstruktion das Deklarativ »Das ist
es!«, »Das ist das Wahre!«, durch das sich jedes Emanzipations-
projekt konstituiert, vollkommen unvorstellbar. Mit anderen
Worten, im Horizont der Dekonstruktion bleibt verkannt, daß
das emanzipatorische Projekt nur dann möglich wird, wenn
schon eine Verblendung am Werk ist, ein blinder, durch Nichts
begründeter Glauben: »Das ist es!«, »Das ist das Wahre!« Im Ho-
rizont der Dekonstruktion ist es strukturell unmöglich, die Ent-
scheidung als solche zu denken. Gerade diese in Nichts begrün-
dete Entscheidung stellt nun unserer Meinung nach eine Bedin-
gung der Emanzipation dar. Anders gesagt, jedem konkreten
Emanzipationsprojekt, sei es im Denken oder in der politischen
Praxis, geht die Entscheidung für die Emanzipation voraus. Das
einzige, was sich der Dekonstruktion entzieht, was genuin unde-
POLITIK DER TREUE, TREUE DER POLITIK 149

konstruierbar ist, ist die Wette auf die Emanzipation selbst, und
nicht, wie Derrida dies meint, das messianische Versprechen.
Aber setzen wir uns mit einer solchen Interpretation nicht wie-
der der Kritik von Laclau aus? Ist die Entscheidung für die
Emanzipation weniger fraglich als das ethische Gebot, die Of-
fenheit zu »kultivieren«, das von Laclau an Derrida als proble-
matisch befunden wird? Wie läßt sich, nachdem gezeigt wurde,
daß das ethische Gebot, die Offenheit zu behüten, unnötig und
ungerechtfertigt sei, die Notwendigkeit der Entscheidung be-
gründen? Unsere Antwort auf diese Frage ist, daß die Entschei-
dung aus denselben Gründen notwendig ist, aus denen Derridas
ethisches Gebot überflüssig ist. Die Entscheidung ist deshalb
notwendig, weil aus der Situation, das heißt, aus der inkonsi-
stenten Menge alles mögliche, sowohl Demokratie als auch
Nicht-Demokratie folgen kann. Es stimmt zwar, daß die in einer
Situation einbeschlossenen Möglichkeiten nicht vollkommen be-
liebig sind, aber kein Situationsgesetz, keine Situationsregel gibt
an sich einer unter ihnen den Vorrang. Versuchen wir also die
Entscheidung für die Emanzipation etwas näher zu bestimmen.
Die Entscheidung für die Emanzipation zielt auf keinen Zweck
ab (auf die Versöhnung etwa), sie weist der Emanzipation kei-
nen besonderen Inhalt zu, ebenso schreibt sie ihr nicht im vor-
aus einen operativen Verwirklichungsmodus vor. Und umge-
kehrt, gerade weil diese genuin unbegründbare Entscheidung
für die Emanzipation jedem Inhalt gegenüber autonom ist, kann
sich ihr ein beliebiger Inhalt »anhängen«, d.h. ein beliebiger de-
konstruierbarer Inhalt. Nichts kann besser diese bloße, jedem
Inhalt vorgängige Entscheidungsgeste, dieses Zusammenfallen
von Entscheidung und Akt, vom Signifikanten und Handlung
veranschaulichen als jenes berühmt-berüchtigte »Aude!«, das
mindestens seit Kant als Losung der Aufklärung gilt: Wage es (zu
wissen, zu kämpfen, dich zu befreien)! Die Entscheidung für die
Emanzipation ist in gewisser Hinsicht nichts anderes als die
Leerstelle, in die konkrete emanzipatorische Forderungen einge-
schrieben werden.
Dem ersten Anblick nach scheinen wir das gleiche wie Derrida
zu behaupten: Auch für Derrida ist nämlich das messianische
Versprechen jene Leerstelle, in welche und in Bezug auf welche
konkrete Emanzipationsprojekte eingeordnet werden. Aber im
Unterschied zu Derrida, bei dem die Leere ursprünglich ist, als
(quasi)transzendentale Bedingung jeder Erfahrung fungiert, lau-
tet unsere These, daß diese Leere nicht etwas unmittelbar Gege-
150 JELICA ÍUMI”-RIHA

benes ist, sondern erst durch die Entscheidung »erschaffen«


wird. Die erste Schlußfolgerung, die sich aus dem bisher Gesag-
ten ziehen läßt, lautet also: Die Emanzipation wird nicht mit
Fülle, Substanz, sondern mit Leere artikuliert. Die Emanzipa-
tion evoziert die Leere als Bedingung ihrer Möglichkeit, gleich-
zeitig ist die Leere jenes, was von der Emanzipaton, genauer ge-
sagt, von der Entscheidung für die Emanzipaton, vom emanzi-
patorischen Deklarativ, überhaupt erst erschaffen wird: Die Ent-
scheidung für die Emanzipation erschafft die Leere, in die sie
sich einschreibt. Es würde aber heißen, vollkommen den sprin-
genden Punkt der Entscheidung für die Emanzipation zu verfeh-
len, wenn man sie als eine Art creatio ex nihilo verstehen wollte.
Unsere These lautet, daß die Entscheidung für die Emanzipaton
dieser Operation symmetrisch entgegengesetzt ist: Wird im er-
sten Modell Etwas aus Nichts erschaffen, so wirkt die Emanzi-
pation als Kreation des Nichts aus Etwas, das heißt auch immer
das Nichts als Etwas, eines »materialisierten« Nichts. Was wie-
derum bedeutet, daß das Sein dem Ereignis, die Situation der
Entscheidung vorgängig ist. Die Entscheidung, mag sie noch so
unbegründet, noch so kontingent, noch so »ein Augenblick des
Wahnsinns« sein, ist nicht vollkommen arbiträr, sondern stellt
eine Entscheidung in der gegebenen Situation dar, sie ist eine
Entscheidung der gegeben Situation. Insofern könnte gesagt
werden, daß jede Entscheidung situationell ist.
Jetzt kann auch deutlicher gesehen werden, warum die Dekon-
struktion in einem radikalen Sinn nicht imstande ist, die Ent-
scheidung zu denken. Sie kann sie deshalb nicht denken, weil sie
das Problem der Unentscheidbarkeit falsch stellt und loziert. Die
Unentscheidbarkeit ist keine ursprüngliche »Gegebenheit«, son-
dern wird erst retroaktiv hergestellt, durch die Intervention des
Realen, des Ereignisses, von dem die »Homeosthasis«, die Herr-
schaft des Situationsgesetztes gebrochen wird. In Laclaus Termi-
nologie könnte gesagt werden, daß die Unentscheidbarkeit eine
Folge, eine Wirkung der Dislokation sei. Vor ihr, zur Zeit der
»Herrschaft« des Gesetzes, konnte das Nicht-Alles der Situation
überhaupt nicht gesehen werden. Mehr noch, vom Gesichts-
punkt des Gesetzes aus erscheint die Dislokation, wenn sie über-
haupt bemerkbar ist, nur als empirisches Hindernis und nicht
als jenes, was die Schließung der Situation unmöglich macht.
Es gilt jetzt zu zeigen, wie Situation, Dislokation und Entschei-
dung artikuliert werden. Setzen wir fest, daß die Dislokation der
Ort in der Situation, in der Struktur ist, an dem sich das Ereig-
POLITIK DER TREUE, TREUE DER POLITIK 151

nis situiert. Wenn aber die Dislokation auf eine bestimmte Weise
immer schon da ist, zumindest potentialiter, dann gilt das kei-
neswegs auch für das Ereignis. Das Ereignis kommt vor oder
kommt nicht vor. Sein Vorkommen bleibt kontingent. Was aber
notwendigerweise gegeben werden muß, ist der Ort seiner Ein-
schrift, seiner Intervention: Die Dislokation. Das Problem liegt
hier darin, daß wir in einem Zirkelschluß gefangen sind. Denn
auch die Dislokation ist, auch wenn sie der Situation immanent
ist, keineswegs für jeden und von jedem Gesichtspunkt aus be-
merkbar. Im Gegenteil, sie ist, wie schon erwähnt, vom Gesichts-
punkt des Gesetzes aus überhaupt nicht bzw. nur in der verzerr-
ten Form einer empirischen Zufälligkeit wahrnehmbar. Um
überhaupt als Dislokation bemerkbar zu sein, muß ein Ereignis
vorkommen. Das Ereignis ist die »Verwirklichung« der Disloka-
tion, es ist die Verwirklichung der Destabilisierungseffekte der
Dislokation.
Aber so wie bei der Dislokation kommt auch beim Ereignis wie-
der das Bestimmungsproblem zum Vorschein, ja, es spitzt sich
sogar zu. Wenn das Verhältnis von Dislokation und Ereignis zir-
kulär ist, dann gilt das Gleiche für das Verhältnis von Entschei-
dung und Ereignis. Das Ereignis ist, wie wir mit Badiou sagen
werden, nur in der Situation möglich, bzw. die Situation ist im
Verhältnis zum Ereignis vorgängig27. Der Kern des Problems
liegt nun darin, daß das Ereignis der Ordnung des »Realen« an-
gehört, was wiederum bedeutet, daß seine zufällige und prekäre
Präsenz der Definition nach in kein Situationsgesetz einge-
schrieben werden kann. Wenn nämlich das Ereignis etwas ist,
das im Augenblick seines Erscheinens auch schon ausgelöscht
ist, dann liegt das Problem gerade darin, wie festzustellen sei, ob
das Ereignis überhaupt vorgekommen ist. In letzter Instanz muß
deshalb gesagt werden, daß es das Ereignis nur für die Entschei-
dung gibt, für das Deklarativ, das sein Bestehen verkündet.28 An-
ders gesagt, der Definition nach unentscheidbar ist das Ereignis,
und nicht die Situation. Hinsichtlich des Ereignisses bleibt näm-
lich stets der Verdacht bestehen, daß wir uns geirrt haben bzw.
daß wir ein Simulakrum des Ereignisses für ein Ereignis gehal-
ten haben. Diese Unentscheidbarkeit, das heißt, die Unent-
scheidbarkeit zwischen dem Ereignis und dem Nicht-Ereignis,
läßt sich der Definition nach nicht abschaffen. Was für Folgen
zieht diese radikale Unentscheidbarkeit für die Emanzipation
und für die Treue der Emanzipaton nach sich? Die »Postmoder-
nisten« folgern aus der Unentscheidbarkeit, daß jede Handlung,
152 JELICA ÍUMI”-RIHA

jede Politik, auch die erhabenste, emanzipatorisch gesehen nich-


tig sei, da für sie auch jedes Ereignis fiktiv ist, ein Simulakrum
bleibt. Laclaus und Badious Theoretisierung des Politischen und
der Emanzipation lehrt uns etwas anderes: Die Unentscheidbar-
keit des Ereignisses bedeutet nur, daß es vom Gesichtspunkt des
Situationsgesetzes unentscheidbar ist. Gerade deshalb kommt
dem Eingriff der Entscheidung, der Wette auf die Emanzipation
eine Schlüsselbedeutung zu.
Damit haben wir auch schon angedeutet, daß die Emanzipation
erst dann gedacht werden kann, wenn man aus dem dekonstruk-
tivistischen Horizont heraustritt, bzw. daß sie in jenem Horizont
gedacht werden kann, von dem die Emanzipation mit dem Er-
eignis artikuliert wird.
In diese Richtung bewegt sich auch Laclau, wenn er die Emanzi-
pation als eine Aufführung bestimmt, »zu der wir immer zu spät
kommen und die uns zum peinlichen Nachdenken über ihre my-
thischen bzw. unmöglichen Ursprünge zwingt«.29 Diese Stelle ist
unserer Meinung nach wesentlich, da in ihr zwei Argumentati-
onsstränge übereinstimmen: die »dekonstruktivistische« und die
»ereignishafte«. Es braucht wohl nicht besonders hervorgeho-
ben zu werden, daß die Enthüllung des Ursprungsmythos einer
der Einsätze der dekonstuktivistischen Operation ist. Der zweite
Argumentationsstrang, von Laclau bloß angedeutet, nicht aber
auch wirklich entwickelt, zeigt uns aber, daß die Emanzipation
in der Ordnung des Realen bzw. des Ereignisses gedacht werden
muß. Also als jenes, das im Augenblick seines Erscheinens auch
schon verschwindet, das kontingent und prekär ist und deshalb
in seiner wirklichen Präsenz immer dem Zweifel ausgesetzt
bleibt. Deshalb kann gesagt werden, daß die Emanzipation im-
mer eine Post-Emanzipation ist. Die Tatsache, daß es eine sub-
jektive Maxime der Treue gibt, mehr noch, daß ein emanzipato-
risches Ereignis benannt wurde, bedeutet nämlich auch schon,
daß sich das Ereignis aufgelöst hat. Die Post-Emanzipation be-
deutet, die Situation, in der das Ereignis vorzukommen schien,
vom Gesichtspunkt dieses Ereignisses zu denken und zu reorga-
nisieren. Die Situation vom Gesichtspunkt des Ereignisses be-
trachten bedeutet, eine andere, neue Situation zu erblicken. Ge-
rade das haben wir hier im Sinn, wenn wir von der Treue der
Emanzipation sprechen. Nicht die Treue, die Treue der Emanzi-
pation mit einem großem T geschrieben, nicht Treue dem Derri-
daschen messianischen, leeren Versprechen, sondern Treue der
subjektiven Maxime der Emanzipation gegenüber. Bei der Treue
POLITIK DER TREUE, TREUE DER POLITIK 153

der Emanzipation geht es, wie wir gesehen haben, um kein Be-
wahren eines Emanzipationsinhaltes, wie erhaben dieser auch
sein mag (politische, rechtliche, soziale Gleichheit, Menschen-
rechte, Offenheit dem Anderen gegenüber), um kein Bewahren
eines Emanzipationsideals – sondern Treue der subjektiven Ma-
xime der Emanzipation, die Treue der Unterbrechung, die von
einer solchen Entscheidung bewirkt wird. Die Treue der Eman-
zipation ist also nichts anderes als die immer wieder beschlos-
sene Entscheidung für die Emanzipation.30 Und es ist also in
nichts widerspüchlich, wenn die subjektive Maxime Wage es! mit
dem Anachronismus artikuliert wird, ist ja der Anachronismus
nichts anderes als die Operation der Unterbrechung, eine Un-
zeitgemäßheit, von der eine neue Zeit möglich gemacht wird.
Wie ist das zu verstehen? Nun, damit wird nur behauptet, daß es
immer fortzufahren gilt, daß in jeder Situation die Dislokation
als Stelle einer möglichen Erneuerung des emanzipatorischen
Ereignisses von Neuem geortet weden muß, daß Spuren des
emanzipatorischen Ereignisses in der jeweiligen Situation auf-
gedeckt werden müssen. Damit erscheint auch die »unmögliche
Aufgabe«, von der Laclau spricht, in einem anderen Licht: Wenn
die Emanzipation nur als Post-Emanzipation möglich ist, dann
besteht die »unmögliche Aufgabe« nicht so sehr in der Dekon-
struktion von Grundlagen, Inhalten usw. der Emanzipation.
Eher besteht sie in einer fortwährenden Verifizierung des Eman-
zipationsaxioms. Diese Verifikation verlangt aber ein fort-
währendes Auffinden von Reaktivierungsmöglichkeiten, mit
Laclau gesprochen, ein fortwährendes Erschließen neuer Optio-
nen, das Erfinden neuer Protokolle, neuer Regeln, neuer Inhalte
für das Grundaxiom der Emanzipation. Emanzipation und Re-
aktivierung stimmen in gewisser Weise notwendig überein.
Die Treue der Emanzipation hat Folgen für das Verständnis und
die Praktizierung der Politik: die Politik ist weder mit der Ethik,
noch mit dem Recht, noch mit der Philosophie vernäht, sie ist
vielmehr autonom, d.h. sie schreibt sich selbst ihre eigenen
Axiome und Gesetze vor. In einer auf der Treue der Emanzipa-
tion aufgebauten Theorisierung der Politik geht es um eine Ope-
ration, die derjenigen der »Postmodernisten« symmetrisch ent-
gegengesetzt ist: Derrida und Lyotard »ethisieren« Politik und
Ontologie, bestehen auf dem Vorrang der Ethik bezüglich der
Politik, Laclau und andere emanzipationstreue Theoretiker wie-
derum »ontologisieren« die Politik. Von den ersten wird die Poli-
tik en bloc zurückgewiesen, da für sie jede Politik, auch die »be-
154 JELICA ÍUMI”-RIHA

ste«, schon in voraus verdächtig ist. Für die zweiten ist aber jede
Diskriminierung zwischen »politischer« oder »guter« Demokra-
tie und »unpolitischem« oder »schlechtem« Totalitarismus usw.
unpertinent und verdächtig, da sie darin nur verschiedene For-
men der politischen Subjektivierung, verschiedene Arten der Po-
litik sehen. Ihnen nach haben wir mit jenen Arten der Politik, die
»wir nicht mögen« (mit dem Totalitarismus, dem Terrorismus,
Faschismus usw.) nicht schon dadurch abgerechnet, daß wir sie
aus dem Feld des Politischen ausschließen und für eine Un-Poli-
tik erklären. Ganz im Gegenteil, gegen die Politik muß mit politi-
schen Aussagen, Diskursen, Praxen, und nicht mit moralischer
Verurteilung gekämpft werden.
Deshalb ist der Leitfaden und die »ewige« subjektive Maxime
einer der Emanzipation treuen Theorisierung und Praktizierung
der Politik in der Maxime, die wir Badiou entlehnen, zu finden:
Aussagen, Diskurse und Praxen, die in logischem Widerspruch
zu dem emanzipatorischen Gleichheitsaxiom stehen, müssen
praktisch unmöglich gemacht werden.31 Diese »ewige« Maxime,
die als Grundaxiom der Emanzipation zu verstehen ist, kann auf
verschiedene Weise formuliert werden: als Gleichheitsaxiom,
wie etwa bei Badiou und Ranciere, als Gleichsetzung von
Gleichheit und Freiheit, wie Balibar meint, als Gerechtigkeit,
wie Derrida behauptet. Daraus kann geschlossen werden, daß
die jeweilige Formulierung des Axioms nicht das ist, was wirk-
lich zählt: wesentlich ist vielmehr, daß das Axiom als eine immer
von Neuem zu verifizierende Voraussetzung behandelt werden
muß, d.h. als Axiom, das gewissermaßen nur so viel wert ist, wie
es wirksam ist.

ANMERKUNGEN

1 Wir denken hier vor allem an Laclaus Besprechung von Derridas Spect-
res de Marx »Time is out of Joint«, in Acta Philosophica, Institut of Philo-
sophy, Ljubljana, 2/1995.
2 E. Laclau, »Beyond Emancipation«, in Development and Change (SAGE,
London, Newbury Park and New Delhi), Vol. 23, 1992, No. 3, S. 122.
3 E. Laclau, New Reflections on the Revolution of Our Time, Verso, London,
New York, 1990, S. 37.
4 Ibid., S. 3f.
5 E. Laclau, New Reflections on the Revolution of Our Time, S. 34–35. Man
kann heute verschiedene Formulierungsweisen dieser Spaltung finden,
angefangen von Leforts schon klassischer Unterscheidung zwischen la
politique und le politique, über Balibars Begriffspaar der konstitutiven
POLITIK DER TREUE, TREUE DER POLITIK 155

und insurrektiven Politik bis zur Rancierschen Unterscheidung der Poli-


zei als distributiver Ordnung und der Verifikation des Gleichheitsaxioms
als einem insurrektiven Moment. »Der politische Gesichtspunkt der
Welt«, um mit J.C. Milner zu reden, hängt somit von der Artikulations-
weise dieser zwei Momente ab: Wird in ihr das »revolutionäre« Moment
der Reaktivierung oder das »konservative« Moment der Sedimentierung
hervorgehoben? Wesentlich für uns ist die Tatsache, daß in diesen Theo-
retisierungen das insurrektive Moment, das Moment der Reaktivierung,
nicht als ein dem Denken Fremdes aufgefaßt wird, als das Andere des
Denkens, das in einer undenkbaren mythischen Vegangenheit liegen
würde. Ganz im Gegenteil, es wird als etwas Denkbares begriffen, ja, als
Moment der Wirksamkeit des Denkens selbst, als eine Verbindung von
Denken und Revolte. Zur wahrscheinlich bündigsten Formulierung die-
ser Verbindung cf. J.C. Milner, Constat, Verdier, Paris 1992, S. 11.
6 E. Laclau, New Reflections on the Revolution of Our Time, S. 33.
7 Dieser Zweifel wird von Badiou etwa folgendermaßen formuliert: »Zeugt
die Politik – wenigstens jene, die für das Denken zählt, die Politik der
Emanzipation, die lange Zeit den Namen einer revolutionäre Politik ge-
tragen hat – heute nicht von ihrer Katastrophe?«, in: Conditions, Seuil,
Paris 1993, S. 215.
8 So lautet Badious prinzipielle Stellungsnahme. Für ihn stellt nämlich der
Tod als solcher, damit also auch der »Tod« des Kommunismus, kein »Er-
eignis« dar, etwas also, was eines Denkengagements wert wäre. So ging
es seiner Meinung nach beim »Tod des Kommunismus« nur darum, daß
eine bestehende institutionelle Form mit einer anderen ausgewechselt
wurde, keineswegs aber um eine Abschaffung der Politik. Die Politik ist
nämlich Badiou nach nicht an den Staat gebunden, d.h. an einen gesetz-
mäßig bestimmten Zustand. Sie ist vielmehr an das Ereignis gebunden,
an ein Moment, durch das das Gesetz der Situation und damit die Situa-
tion selbst in Frage gestellt werden. In der Sprache Laclaus könnte ge-
sagt werden, daß Badiou das Moment der Reaktivierung und nicht der
Sedimentierung hervorhebt. Sedimentierung bedeutet für Badiou gerade
den »Tod« der Politik. Cf. vor allem D’un désastre obscur. Droit, Etat, Po-
litique, Ed. de l’aube, Paris 1991, S. 10 f.
9 A. Badiou, L’etre et l’evénement, Seuil, Paris 1988, S. 245.
10 So will J. Ranciere von neuem die Emanzipation als Kern des Politischen
jenseits eines nostalgischen Bedauerns »des Verschwindens egalitärer
und gemeinschaftlicher Abenteuer, des Triumphes der liberalen Demo-
kratie und der Verkündigung vom Ende der Ideologien, des Politischen
und der Geschichte« affirmieren. Cf. J. Ranciere, On the Shores of Poli-
tics, S. 4. Auch Laclau verweist auf den allgemeinen Eindruck, daß die
großen Erzählungen der Moderne erschöpft und die klar eingegrenzten
öffentlichen Räume aufgelöst sind, wobei die Logik des Unentscheidba-
ren so wirkt, daß sie die kollektive Aktion jeden Sinns beraubt und einen
allgemeinen Rückzug aus dem Politischen bewirkt. Cf. E. Laclau, »Po-
wer and Representation«, in Politics, Theory and Contemporary Culture,
hrsg. v M. Poster, Columbia University Press, New York, 1993, S. 277. Zu
diesem Kontext gehört unserer Meinung nach auch Laclaus Derrida-Kri-
tik. Laclau weist nämlich, sich positiv über Derridas Zurückweisung Fu-
156 JELICA ÍUMI”-RIHA

koymas und anderer Apologeten des kapitalistischen Westens äußernd,


überzeugend nach, daß Derrida aus seiner Dekonstruktion nicht die ihr
angemessenen radikalen Konsequenzen ziehen kann, weil er, ähnlich
wie Levinas, im Verhältnis von Ethik und Politik der Ethik Vorrang gibt.
Diese Einstellung Derridas ist etwa schon daraus ersehbar, daß er die
Emanzipation nur als ein messianisches Versprechen, das von allem es-
chatologischen Beiwerk gesäubert ist, verstehen kann. Cf. E. Laclau,
»The Time is out of Joint«, in Acta philosophica, S. 117 f.
11 E. Laclau, New Reflections … , S. 34–35.
12 E Laclau, »The Time is out of Joint«, Acta philosophica, S. 115. So findet
sich Laclau nach der konstitutive Anachronismus in den Wurzeln jeder
Identität; cf. dazu seine Analyse der Dislokation des Proletariats als Sub-
jekt der Emanzipation und des Proletariats als einer vom kapitalisti-
schem Diskurs hervorgebrachten Subjektposition, in New Reflections … ,
S. 78.
13 Auf ihre Übereinstimmung zielt etwa S. Critchley ab, wobei er hervor-
hebt, daß diese Konvergenz nur für eine Auffassung pertinent ist, die das
»Irreduzible des Politischen, das als Moment der Widerlegung von sedi-
mentierten Bedeutungen des Sozio-Ökonomischen verstanden wird, af-
firmiert«, nur für jene Auffassung also, für die das Politische selbst auf
einer irreduziblen Dislokation aufgebaut ist. Cf. S. Critchley, »Dekon-
struktion, Marxismus, Hegemonie – zu Derrida und Laclau« im vorlie-
genden Band.
14 Cf. vor allem »Time is out of Joint« und »Deconstruction, Pragmatism,
Hegemony«, in Deconstruction and Pragmatism, hrsg. v. Chantal Mouffe,
Routledge, London, New York, 1996.
15 Ibid.
16 Cf. »Beyond Emancipation«, S. 132.
17 »Time is out of Joint«, S. 117f
18 Von R. Riha wird dieser spezifische Modus des Universellen am Problem
des Unrechten analysiert: Das Unrechte »ist etwas, das immer überflüs-
sig, singulär ist, der nichtintegrierbare Rest einer gegebenen Ordnung.
Gleichzeitig ist es aber auch etwas, was in polemischer Weise Alle anbe-
trifft, universell ist, die verwirklichte Form der universellen Gleichheit.
Mit anderen Worten, als Partikulares, das aus dem Universellen systema-
tisch ausgeschloßen wird, ist das Unrechte gleichzeitig der singuläre Ort
der Konstitution eines (neuen) Universellen.« R. Riha »Das Politische
der Emanzipation«, in Politik der Wahrheit, hrsg. v. R. Riha, Turia&Kant,
Wien 1996.
19 E. Laclau, »Time is out of Joint«, S. 114.
20 J. Derrida, Spectres des Marx, Galilée, Paris 1993, S. 102 (Hervorhebung
J.S-R).
21 Ibid., S. 126.
22 Ibid..
23 E. Laclau, »Time is out of Joint«, S 121.
24 Ibid., S. 116.
25 Wie Laclau bemerkt: »Wenn das Versprechen ›existentiell‹, d.h. konstitu-
tiv für jede Erfahrung ist, dann ist es immer schon da, vor allem Gebot«,
ibid..
POLITIK DER TREUE, TREUE DER POLITIK 157

26 Ibid..
27 Hier folgen wir in gewissem Maße Badious Konzeptualisierung des Ver-
hältnisses von Sein und Ereignis in Etre et événement.
28 Badiou spricht hier mehr von der interpretativen Intervention und der
Benennung des Ereignisses und weniger von der Entscheidung.
29 Ibid., S. 123.
30 Es ist wohl klar, daß es hier um keine Wiederholung einer »ursprüngli-
chen« Entscheidung geht. In der Terminologie Laclaus könnten wir sa-
gen, daß sich die Entscheidung in das Moment der Reaktivierung einord-
net. Cf. New Reflections … , S. 34–35.
31 Cf. A. Badiou, »Wahrheiten und Gerechtigkeit«, in Politik der Wahrheit,
hrsg. v. R. Riha, Turia&Kant, Wien 1996.
Das reine Politische

ODER EINE (POST)MODERNE FORM DER


POLITISCHEN MYSTIK

THANOS LIPOWATZ

I
Im folgenden versuchen wir, bestimmte Grundmotive der Theo-
rie Ernesto Laclaus kritisch zu würdigen. Davon bleibt sein Ver-
dienst um ein originelles Weiterdenken des Politischen unge-
schmälert. Ein Hauptanliegen seiner Theorie dürfte dabei die
Angst vor dem »Verschwinden« des politischen Diskurses sein.
Das bezeichnet er mit »Implosion«1 der Gesellschaft. Diese Ge-
fahr wurde erst in der nach-totalitären Ära nach 1945 sichtbar,
als der liberal-demokratische Gesellschaftsrahmen nicht aus-
reichte, um die Entpolitisierung der Massen und den Sinn-
schwund des Politischen zu verhindern, die er z.T. trotz aller De-
mokratisierungserfolge selbst erzeugte. Insbesondere scheint die
Herrschaft der Ökonomie und der Technik als der alles besim-
menden Diskurse die ganze Gesellschaft in ein amorphes Ge-
bilde von kleinkarierten Interessenskonflikten und Bedürfnisbe-
friedigungen zu verwandeln, in dem der Mangel und die symbo-
lische Differenz infolge der Nivellierung durch die Warenäquiva-
lente verschwinden.
Ernesto Laclau rekurriert auf die historischen Theorie-Praxis-
Debatten am Anfang des 20sten Jahrhunderts und in den 20er
Jahren, welche schon eine ähnliche Problematik zum Gegen-
stand hatten2. Allerdings fangen hier die Probleme der Interpre-
tation an, welche bedeutende praktische Folgen nach sich zie-
hen. Laclau meint, im Begriff des Antagonismus3 das Instrument
gefunden zu haben, mit dem er das Politische jenseits des Öko-
nomismus »lebendig« erhalten will. Er hat erkannt, daß der Be-
griff der Hegemonie4 darüber hinaus eine conditio sine qua non
DAS REINE POLITISCHE 159

des Politischen darstellt; in der Tat, fallen der Antagonismus und


die Hegemonie weg, dann ist auch das Politische als solches ver-
schwunden, und keine kommunikative Theorie des Handelns
kann es wieder »lebendig« machen. Das Problem ist nur, was
man darunter versteht.
Ernesto Laclau nimmt auf implizite Weise die Grundthesen von
Carl Schmitt modifiziert auf. Darauf deutet auch seine Präferenz
für Hobbes hin5. Aber er bemüht sich, sowohl den Souverä-
nitätsbegriff als auch das Freund-Feind-Schema »durchlöchert«
wieder aufzunehmen. Man kann unschwer diese zwei Grundp-
feiler der Schmittschen Lehre6 hinter den Begriffen der Hegemo-
nie und des Antagonismus wiedererkennen. Nur, Laclau dekon-
struiert als postmoderner Denker den vollen, ganzen Souverän
als auch die abgeschlossenen, kompakten Freundes-, bzw. Fein-
desidentitäten. Aber tut er das wirklich? Wenn man das »Politi-
sche« so sehr ausweitet und es (wie C. Schmitt) als eine existen-
tielle Kategorie7 aufbaut, dann kann es nicht ausbleiben, daß der
imaginäre (volle) Charakter seiner Kategorien zurückkehrt. Das
geschieht wenn man das (lacansche) Reale, das die existentielle
Grenzerfahrung umreißt, mit dem »Ausschluß« jenseits des
Symbolischen, aber gleichzeitig mit dem realen anderen, dem
»Feind«, imaginärerweise identifiziert. Laclau verwendet dabei
den (lacanschen) Begriff des Imaginären nicht. Das hängt mit
seiner Wahlverwandtschaft mit Jacques Derrida zusammen, der
alle Kulturtatsachen auf die endlose Metonymisierung8 einer
Textkette zu reduzieren versucht. Dabei fällt die Last der Bil-
dung von geschlossenen Entitäten auf die Signifikanten selbst.
Laclau ist aber für die Bildung von partiell offenen Einheiten.
In der lacanschen Theorie ist es anders, denn Lacan verschmäht
nicht, die Notwendigkeit einer Minimalstruktur zu akzeptieren
(drei Instanzen: Reales, Symbolisches, Imaginäres; vier Dis-
kurse)9. Das Symbolische ist dann sowohl das, was eine Öffnung,
eine Arbitrarität, eine Nicht-Identität 10 garantiert, als auch was
zur Sinnbildung und zur Wahrheit, jenseits des Imaginären,
drängt. Wenn man das vergißt, dann kehren die Figuren des
Imaginären, (gewaltträchtige, ambivalente Haß-Liebe-Beziehun-
gen zum Bild des anderen (mit kleinem a)) unkontrolliert
zurück. Laclau betont immer wieder die polarisierende, mobili-
sierende und identitätsstiftende Bedeutung der Feindbilder11 in
der Politik, sodaß er unabhängig von seiner Intention die ima-
ginär induzierte Gewalt und ihre Folgen verharmlost und nicht
in Frage stellt. So kann unter der Hand ein politischer Ma-
160 THANOS LIPOWATZ

nichäismus entstehen, der seit eh und je in nationalistischen und


populistischen Messianismen wirksam war und ist.
Laclau hat in seinen Analysen immer wieder die Figur des ima-
ginären, vollen Einen dekonstruiert; was er aber nicht gleicher-
maßen zu Ende gedacht hat, ist die Tatsache der ebenso ima-
ginären Zweiheit, der Polarität. D.h. die eine, durch den Signifi-
kanten gespaltene Subjektidentität, die einer anderen ebensol-
chen Subjektidentität gegenübersteht, impliziert die Abkehr so-
wohl vom Einen/Ganzen als auch von der Konfrontation zwi-
schen Zwei/Ganzen. Allerdings kann es sich für politische »Rea-
listen« als plausibel erweisen, daß die »reale« Politik immer
schon polarisiert war. Andererseits hilft es nicht, darauf hinzu-
weisen, daß »eigentlich« eine volle Identität nicht existiert12, wie
es Laclau tut. Denn daraus kann man höchstens die »morali-
sche« Genugtuung schöpfen, daß man es besser weiß. Aber die
im politischen Kampf stehenden Subjekte erleben es anders; sie
verhalten sich immer so, daß sie ihre Freund-Feind-Schemata
mobilisieren, d.h. ihre »vollen« Identitäten aufeinanderprallen
lassen.
Die Suche nach dem »eigentlichen« Politischen kann nicht der
Gegenstand der Theorie sein, sondern nur die Forderung nach
einer »anderen« Form des Politischen. Letztere impliziert auch
das Denken des »anderen« des Politischen, seines Jenseits.
Laclau versucht das Politische mit der Identitätsproblematik zu
verknüpfen und damit zu erhellen. Er bleibt aber auf halber
Strecke stehen, denn er macht nur selektive Anleihen bei der la-
canschen Theorie. Auf der anderen Seite geht er vom (modifi-
zierten) Diskursbegriff von Foucault13 aus. Aber ein solcher der
Kombinierung gegensätzlicher Ansätze wirft mehr Probleme
auf, als er löst; es stellen sich auch methodologische Fragen,
wenn man versucht, Kategorien der Existenz auf das Politische
zu übertragen (und umgekehrt).

II

Die Theorie der Identifizierung ist bei Freud und Lacan14 viel-
schichtig und zweideutig. Obwohl sie explizit den Übergang ins
Politische mitenthält, enthält sie doch auch die Frage nach dem
»Jenseits des Seins« (der Identität). Wenn das Politische der In-
halt der verkehrten Welt, des Seins der Realität ist, so ist das
zwar dialektisch zu verstehen, aber die Identität der Subjekte als
gespaltene weist auf etwas anderes hin. Der Begriff der Identifi-
DAS REINE POLITISCHE 161

zierung ist nicht vom Begriff des Begehrens (den Laclau nicht
erwähnt, denn er geht direkt zum Genießen über) zu trennen.
Und hier ist vom Differenzbegriff auszugehen. Sprachmäßig be-
deutet Differenz sowohl etwas Symbolisches als auch etwas Ima-
ginäres. In Anlehnung an das, was wir oben über die Figuren des
Imaginären gesagt haben, müßten wir die lacansche Unterschei-
dung zwischen einer symbolischen und einer imaginären Iden-
tität einführen. Beide existieren zwar zusammen, aber es geht
um die jeweilige Dominanz der einen über die andere. In der
imaginären Identität ist der Herrensignifikant des Namens der
Kristallisationspunkt aller Bilder des Selbst (moi). Andererseits
aber ist das Ichideal15 der Signifikant, der in der imaginären For-
mation das Symbolische vertritt, d.h. die Nicht-Identität später
ermöglichen wird.
Die Subjekte sind in ihrer Konsistenz zwischen der imaginären
(rivalisierenden, dämonisierenden, idealisierenden) und der
symbolischen (differenzierenden, mangelbejahenden, gewaltlo-
sen) Identität gespalten. Es genügt nicht, die Spaltung bloß als
einen Effekt des reinen Signifikanten zu bezeichenn und dann
die Beliebigkeit des imaginären Inhalts zu betonen. Der Haupt-
signifikant ist, bevor er zum Herrensignifikanten wird, der
Name-des-Vaters16, d.h. jener »Ur-Signifkant«, der garantiert,
daß das Subjekt jene symbolische Minimalkonsistenz erhält, die
es vor der Psychose schützt (was nicht immer gelingt), bevor es
sich anschließend in die Abenteuer des Begehrens der Neurose
und der Perversion stürzt (aber es gibt noch den Ausweg der
Sublimierung). D.h. der »leere« Signifikant ist nicht vom ethi-
schen Anspruch frei, denn letzterer ergeht an das Subjekt (zuerst
im Alter seiner Bildung, in der Kindheit und in der Pubertät) am
Platz des Anderen, der der Platz der Wahrheit ist. Das hat auch
Folgen für den Differenzbegriff und das Verhältnis des Subjekts
zur Gesellschaft.
Die symbolische Differenz17 ist jene Differenz (im Singular), wel-
che das Subjekt spaltet, weil es spricht und begehrt, wogegen die
Differenzen (im Plural) jene Differenzen im gesellschaftlichen,
empirischen Leben sind, welche die Bilder des Imaginären auf-
rechterhalten. Z.B. die Warendifferenzen, die ideologischen Dif-
ferenzen, die Gruppendifferenzen, die Interessensdifferenzen,
usw. Sie alle sind auswechselbar, äquivalent. Laclau hat das
Spiel zwischen den Differenzen18 und den Äquivalenzen analy-
siert; gleichwohl wird er dem psychoanalytischen Blick nicht ge-
recht. Denn die symbolische Differenz verschwindet hier hinter
162 THANOS LIPOWATZ

den vielen Differenzen, die zu Äquivalenzen degradiert werden.


Die Respektierung der symbolischen Differenz bedeutet, daß die
Subjekte auf nicht gewaltsame Art ihre Differenzen austragen
und sich nicht gegenseitig radikal ausschließen. So kann man
auch das Politische auf Grund der Differenz und nicht nur des
Antagonismus definieren.
Das hat Folgen für den Subjektbegriff. Denn die Spaltung zwi-
schen dem Allgemeinen und dem Besonderen, Partikularen19
(was der Inhalt des politischen Diskurses ist), ist nicht die Sub-
jekt-Spaltung, von der die Psychoanalyse spricht. Diese ist viel-
mehr die Trennung, welche der Signifikant in den Körper des
sprechenden Subjekts einschreibt, indem dort ein Ab-Fall, das
Objekt klein a des Begehrens erzeugt wird; es geht also um das
Verhältnis zwischen dem (In-)dividuum und dem Absoluten,
dem Ding, insofern das Objekt klein a ein Splitter des letzteren
ist. Die Individualität des gespaltenen Subjekts geht nicht in der
Partikularität des Politischen auf; dazwischen gibt es einen
Bruch, den man respektieren und überbrücken soll. Andererseits
hat das Subjekt, das an der Dialektik des Allgemeinen und des
Besonderen nicht teilnimmt, keine »Welt« und keine Realitätser-
fahrung. Aber es geht eben nicht in ihr auf, wenn es sich auf sie
einläßt.
Laclau scheint dies ignorieren zu wollen, indem er jeden Bezug
auf das Ethische bzw. das Religiöse verleugnet20. Wobei mit Ethi-
schem bzw. Religiösem die Positionen von Kant und Levinas,
vermittelt durch die Paradoxien Kierkegaards und die Aporien
Adornos zu verstehen wären21. Ethisch wäre hier die Spaltung
des Gesetzes oder die Spannung zwischen den Gesetzen und der
Gerechtigkeit, durch welche Spannung sich das ethische Subjekt
auch definiert. Kant hat gerade die Trennung zwischen dem
ethischen und dem empirischen Subjekt bzw. die Legitimität der
Frage nach der Seelenunsterblichkeit als wesentlich erachtet
(wobei letztere primär eine philosophische und keine monothei-
stische Frage ist). Das Verleugnen dieser Fragen dürfte nicht
ohne Einfluß auf das Politische bleiben. Deswegen, weil gerade
das Leiden und die Rezeptivität der Subjekte grundsätzlich aus
dem Politischen ausgeblendet werden.
Andererseits ist die eschatologische Frage22 nicht ohne Bedeu-
tung für das Politische, schon deswegen nicht, weil alle moderne
Politik eine säkularisierte Eschatologie darstellt, aber in einer
gnostischen Form. Bezeichnenderweise wird der Begriff der Es-
chatologie oft mit demjenigen der Apokalyptik vermischt, auch
DAS REINE POLITISCHE 163

in Zusammenhang mit Walter Benjamin. Denn der Eschatologie


der alttestamentarischen Propheten liegt eine Geschichtskon-
zeption zugrunde, welche die Kontingenz kennt und keinen Ge-
schichtsdeterminismus suggeriert, sondern einen Hoffnungsho-
rizont der Gerechtigkeit postuliert. Während die Apokalyptik,
ein Produkt aus der Zeit des zweiten Jahrhunderts vor Christi
Geburt, eine dualistische Ideologie darstellt, welche mit Gewalt-
und Rachephantasien und magisch-mystischen Vorstellungen
einhergeht. So ist es wichtig für den Begriff des Politischen, jene
beiden Momente des Religiösen (die leidende Rezeptivität und
die aktive Intervention der Subjekte in der Geschichte) nicht zu
verleugnen, denn sie geben die Folie her, vor der es für das Poli-
tische möglich wird zu existieren. Laclau, als konsequenter Den-
ker des reinen Politischen, beharrt auf der totalen Dekonstruk-
tion23, d.h. Eliminierung dieser Fragen. Darin äußert sich ein ge-
wisser hegelscher Automatismus, der hier das Absolute durch
die Kontingenz total abschaffen will.Aber die Abkehr von der to-
talen Dekonstruktion würde sich mit der Kontingenz in der Ge-
schichte besser vertragen, wenn sie dem ethischen und religiö-
sen Diskurs einen Platz zuweisen würde, von dem aus das Politi-
sche beurteilt werden könnte.
Hier müßte man von der Pluralität der Diskurse reden. Der Be-
griff des Diskurses bei Lacan ist aber nicht mit dem bei Foucault
identisch, mit dem Laclau arbeitet. Wenn man davon ausgeht,
daß es für Lacan vier Diskurstypen24 gibt, welche den »Kreislauf«
des Begehrens der Subjekte darstellen, dann kann man auch
eine strukturelle Pluralität von Diskursvarianten annehmen, in-
nerhalb derer das Politische nur ein Diskurs ist. Natürlich läßt
sich das Politische als eine Vielfalt von empirischen Diskursen
auffassen; nur, hier bekommt das Wort »Diskurs« einen anderen
Sinn als oben. Hegemonie und Antagonismus (oder besser: Au-
torität des Gesetzes und Führungskämpfe) legen nahe, daß das
Politische immer ein Diskurs des Herrn ist (auch unter »emanzi-
pierten«). Aber die Infragestellung des Herrn in der Demokratie,
sowie die Dominanz des Wissens in der Neuzeit bedeuten, daß
der Diskurs der Hysterie und der Diskurs der Universität ebenso-
sehr zum politischen Diskurs gehören. Denen gegenüber aber
bleibt der Diskurs der Wahrheit (der Analyse) dem Politischen
etwas Äußerliches. Hier ist die Stelle, an der der geschlossene
Diskurs der Macht inkonsistent wird und etwas anderes auf-
blitzt: Kunst, Ethik, Philosophie, Psychoanalyse und Religion
sind ebensolche Varianten eines alternativen Diskurses, der aber
164 THANOS LIPOWATZ

das Politische nicht verleugnet sondern dekonstruiert. (Freilich


enthalten diese Varianten auch Momente der anderen drei Dis-
kurse, indem sie ebenfalls einen Moment des Politischen selbst
enthalten).
Laclau integriert in seinem Diskursbegriff Worte und »Taten«.
Das ist richtig, wenn man nicht vergißt, daß nicht alle Diskurse
die gleiche Struktur haben. So ist der psychoanalytische Diskurs
ein Diskurs, in dem das Wort allein bestimmend ist. Nur da-
durch wird es zum »Tatwort«, und nur so ermöglicht es eine Be-
sinnung und eine Entscheidung jenseits des Imaginären.

III

Der Automatismus der totalen Dekonstruktion bei Laclau verab-


solutiert25 die Kontingenz (Indifferenz, Äquivalenz) sowohl in
der Geschichte als auch bei der Begriffsbildung. Die Verabsolu-
tierung der Annahme der Relativität und der negativen Bestim-
mung der Signifikanten in der Signifikanten-Kette erhebt die
Beliebigkeit zur Norm. Laclau will das andererseits nicht26, aber
er kann nur verbal das Gegenteil behaupten. Die Inhaltsnivellie-
rung und die Beliebigkeit der politischen Kämpfe bleiben bei
seinen Analysen ein offenes Problem. Das kommt von der endlo-
sen Metonymisierung der Signifikanten, welche ein rastloses
Wollen der Subjekte darstellen. Aber das Wollen ist nicht das Be-
gehren und letzteres, sollte es nicht in einem permanenten hy-
sterischen Diskurs gefangen bleiben, verlangt nach partiellen
Fixpunkten, welche als solche respektiert werden müssen.
Die Problematik der Kontingenz in der Geschichte entstand in
dem Moment, in dem man entdeckte, daß Arbeiter rechts und
Bürger links stehen können, oder daß nicht nur materielle, son-
dern auch ethische Fragen die Menschen bewegen. Dies war
aber eine Inkonsistenz des marxschen Determinismus. Das Pro-
blem entsteht aber auch aus der intellektuellen Betrachtungs-
weise der Phänomene. Denn wenn man die geschichtlichen und
politischen Ereignissse aus der Perspektive des Weltgeistes (bzw.
des Diskurses des Wissens, der Universität) betrachtet, dann
kommt einem alles kontingent vor. Das gleiche gilt, wenn man
die Phänomene nachträglich betrachtet. Aber vom Standpunkt
der reell in die Zukunft hineinblickenden und intentional han-
delnden Subjekte ist die Kontingenz ihrer Taten gebunden, sie
ist von bestimmten Notwendigkeiten struktureller Natur be-
DAS REINE POLITISCHE 165

dingt. Das sind auch die partiellen Fixierungen und Realisierun-


gen des Begehrens der Subjekte und der vorangegangenen Gene-
rationen, welche in der Erinnerung festgehalten werden. Sollte
der Begriff der Kontingenz nicht zum Dogmatismus führen,
dann kann er nur aus seinem Verhältnis zur Notwendigkeit und
zum Unmöglichen heraus verstanden werden.
Die »leeren« Signifikanten, die Signifikanten zweiten Grades
und »Wörter über Wörter« sind, sind nicht total beliebige leere
Formeln. Sie erzeugen eine Ambiguität und Ambivalenz, welche
nach einer Interpretation und einer Entscheidung verlangen. Die
Signifkantenketten schneiden immer ein Stück des Realen ab,
während das Imaginäre diese Schnittstellen mit seinen Bildern
drapiert. Aber die eine Drapierung ist nicht äquivalent mit der
anderen, und das ist nicht nur eine Frage der Kontingenz. Denn
die totale Beliebigkeit ist ein Zug der Psychose. Andererseits ist
die totale Indifferenz und die Äquivalenzsetzung ein Merkmal
der reinen Wesenslogik. Nur daß wir in der Realität nie mit solch
einer Logik zu tun haben.
Laclau hat dies Problem auch erkannt und meint der Beliebig-
keit zu entkommen27, wenn er die zustandegekommenen Präfe-
renzen aus den geschichtlichen Kräftekonstellationen aus-
schließlich ableitet. Aber das ist zuwenig; das kann nur die Ober-
flächenschicht der Realität empirisch beschreiben, denn diese
Betrachtung schaltet die ebensosehr vorhandenen strukturellen
Bedingungen aus, bzw. sie erhebt die Macht und den Willen zur
Macht zum alleinigen Kriterium dessen was ist. Z.B. daß in der
Politik oft eine rechte und linke Gruppe ähnlicher Machtmittel
sich bedient, klärt noch lange nicht die Frage nach ihrer (symbo-
lischen) Differenz. Ihre Differenz, als bloße Etikettendifferenz,
würde hier zur reinen Machtfrage reduziert (also hier ginge es
um Differenzen, die austauschbar sind).
Laclau verwirft als Dekonstruktivist jeden Strukturansatz28 bei
der Analyse der gesellschaftlichen Phänomene. D.h. er interes-
siert sich nicht für die Konstitutionsfrage, sondern nur für das
was Veränderung und Bewegung in die Sache bringt. Die Struk-
turfrage kann nicht verdrängt werden, da sie für das Beharrende
in der Zeit, für die Synchronie der Differenzen in ihrem Unter-
schied zu der Diachronie der Veränderungen Rechnung ablegen
muß. Der Strukturansatz wäre hier gleichbedeutend mit der An-
erkennung der Existenz verschiedener Diskurstypen in einer Ge-
sellschaft, welche notwendigerweise das Verhältnis der Subjekte
zu den Sachen, zu sich selbst und zu den Signifikanten als sol-
166 THANOS LIPOWATZ

chen auf jeweils differente Weise artikulieren. Hier geht es also


keinesfalls um Unter-Überbau Hierarchien, wohl aber um die
Artikulation von Diskursen, welche der Komplexität des Gegen-
standes gerecht wird. So ist die Verdrängung des Ökonomischen
durch Laclau im Namen der Ablehnung des Ökonomismus29
nicht überzeugend. Denn das Ökonomische stellt das zähe,
träge, banale Moment des Sozialen dar, das sich dem Aktivismus
des Politischen entgegenstellt. Freilich ist das nur ein Aspekt der
Verhältnisse. Aber das Ökonomische kann durchaus als das Not-
wendige bezeichnet werden, das sich dem Politischen als dem
Möglichen entgegenstellt. Das Ökonomische gibt dem Politi-
schen Konsistenz und vertritt das Realitätsprinzip ihm gegen-
über.
Laclau kann das alles nicht akzeptieren, denn er setzt den Anta-
gonismus, als das Herz des Politischen, mit dem (lacanschen)
Realen30 gleich, so wie dieses im Sozialen am Werke ist. Das ist
aber in doppelter Hinsicht fragwürdig. Denn einerseits ist es
problematisch, den Begriff des Politischen mit dem psychoana-
lytisch-existentiellen Begriff des Sozialen gleichzusetzen. Im
Gegenteil, das Reale blitzt auf in allen Diskursen des Sozialen
gleichermaßen: im Ökonomischen, Politischen, Kulturellen. Z.B.
ist der Zusammenbruch einer Wirtschaft infolge einr Krise der
Moment der Wahrheit, in dem das Reale aufscheint. Anderer-
seits aber ist das Politische bei Laclau voluntaristisch, d.h. unter
Absehung des Momentes des Gesetzes und der Norm konzipiert,
und gerade dieser Voluntarismus ist wesentlich imaginärer Na-
tur, denn er orientiert sich am Feindbild und am Diskurs des
Herrn. Das Politische als »Sprung ins Reale«, als Entscheidung
über Letztes, ist der Kern der Theorie Carl Schmitts, der uner-
laubterweise den »Sprung in den Glauben« bei Kierkegaard poli-
tisch säkularisiert und mißbraucht31.
Laclau geht von der Kritik der vollen, geschlossenen Identität
aus32; aber er hat einen halbierten Kritikbegriff, auf Grund des-
sen er die Position der Psychoanalyse teilweise mißversteht und
die Bedeutung des Gesetzes für das Politische verleugnet. Den
Inbegriff seiner Methode bildet die Dekonstruktion von Begrif-
fen, indem er ihren Essentialismus kritisiert und die Begriffe in
Signifikanten-Ketten auflöst, welche im Politischen gleichzeitig
Träger von Konflikten und Hegemonie werden. Die ist aber nicht
die Psychoanalyse, und die direkte Übertragung psychoanalyti-
scher Begriffe auf die Politik bleibt immer problematisch, vor al-
DAS REINE POLITISCHE 167

lem wenn sie selektiv und fragmentarisch bleibt, ohne den jewei-
ligen Rahmen zu berücksichtigen.
Die Psychoanlyse aber ist als Diskurs ein symbolisches Verhält-
nis zwischen zwei Subjekten, das auf einem Vertrag und auf der
Übertragung basiert; dieses Verhältnis hat ein aufklärerisches
Ziel33: dem Analysanden zu erlauben, sein eigenes Begehren zu
entdecken und sein Verhältnis zum Gesetz neu zu schreiben.
D.h. die (partielle) Wahrheit34 seines Begehrens ist unlöslich mit
seiner (partiellen) Freiheit verbunden: indem er sich von den
Phantasmen der Vergangenheit befreit (partiell) kann er so frei
werden, um mit dem realen Mangel jenseits der Phantasmen
konfrontiert zu werden, ohne ihm (dem Tod, der Depression) zu
verfallen, sondern stattdessen das Leben zu bejahen.
Daraus kann das Subjekt einen Sinn (partiell) entdecken und
sich gleichermaßen frei von Zwängen und von Beliebigkeit hal-
ten. Dabei ist das Gesetz keinesfalls identisch mit dem tyranni-
schen Über-Ich; wenn das bei Freud noch der Fall ist, so ist es
bei Lacan nicht mehr ganz der Fall, trotz seines Schwankens.
Unter Gesetz verstehen wir hier die lacanschen Definitionen:
»Du darfst Dein Begehren nicht aufgeben« und »Nicht alles ist
möglich«35.
Diese Problematik übersteigt diejenige des Politischen, obwohl
beide miteinander verflochten sein können. Man könnte die (an-
gebliche) Fragwürdigkeit des Gesetzes dahingehend verstehen,
daß das Gesetz auf überflüssige Weise etwas befiehlt oder verbie-
tet, das ohnehin unmöglich ist. Auf dieses Paradoxon hat Lacan
schon hingewiesen36; dies ist nur so zu verstehen, daß das Sub-
jekt einen realen und sprechenden Körper hat, d.h. mit den Trie-
ben behaftet ist, welcher auf Grund des Narzißmus die Tendenz
hat, den Mangel aufheben zu wollen. Man will gerade »alles«
und die »Stimme des Gewissens« erinnert einen daran, daß es
Grenzen gibt, bei deren Übertretung der Mangel verdrängt, ver-
leugnet oder verworfen wird.
Daß die Grenzen sekundärerweise immer imaginär besetzt wer-
den, ändert nichts an der Sache. Die Grenze selbst ist aber das
Gesetz, und es besteht eine Dialektik zwischen dem moralischen
und dem politischen Gesetz, welche aber keine Innerlichkeit,
sondern die Spaltung des Gesetzes voraussetzt. In diesem Sinne
kann das Politische nur zweierlei heißen: entweder das tradierte
Gesetz ausnutzen und zu Herrschaftszwecken zementieren oder
es immer wieder neu schreiben, damit dem Postulat der Freiheit
und der Gerechtigkeit (partiell) Genüge getan wird. Laclau be-
168 THANOS LIPOWATZ

zeichnet diese Problematik richtig, wenn er für die offene und


nicht-ganze Identität von Gruppen spricht. Aber das kann nicht
alles sein; es muß ausdrücklich auf die Verbindung zwischen den
zwei Formen des gespaltenen Gesetzes hingewiesen werden.
Denn jeder Konflikt verwischt das Anliegen der Gerechtigkeit
und Freiheit (ihre Universalität) auch bei ihren eigenen Anhän-
gern, welche dadurch eine geschlossene Identität bekommen.

IV

In dieser Analyse haben wir angedeutet, wie es möglich und not-


wendig ist, das Politische als eine Verknüpfung des Machtmo-
ments mit der Autorität des Gesetzes darzustellen. Fällt aber der
Bezug zum Gesetz weg, dann haben wir mit der Verleugnung37
des Gesetzes und der realistischen (wenn nicht zynischen) Vor-
stellung des Politischen zu tun, welche sowohl eine rechte als
auch eine linke Interpretation erlaubt. Hier hieße »rechts« und
»links« nur das Etikett, das reell existierende Subjekte sich und
den anderen anheften. Ob das ihrem »Begriff« entspricht, bleibt
zunächst eine offene Frage. Die gegenwärtige Diskussion über
das Politische wäre nicht da, wenn es eindeutig wäre, daß die
Linke ethisch »besser« sei als die Rechte. Dies war zwar nie ein-
deutig der Fall und erst recht nicht seitdem linke Parteien an die
Macht gekommen sind. Trotzdem aber kann man nicht die in-
haltliche Motivation der politischen Handlungen durch Ideen
ausschalten und als Essentialismus denunzieren. Denn dann ist
nicht nur eine Beliebigkeit und eine totale Äquivalenz zwischen
Rechts und Links da, sondern auch ein Sinnverlust des Politi-
schen, wodurch letzteres notwendigerweise durch anderes legiti-
miert wird: durch reine Machtinteressen und durch unverar-
beitete Phantasmen paranoider, perverser oder neurotischer Na-
tur.
Der Begriff des Politischen, den wir hier meinen, setzt eine
Asymmetrie in der Differenz zwischen Rechts und Links voraus,
welche, wenn sie reell abhanden gekommen ist, rekonstruiert
werden muß. Wobei dann »links« heißen würde: als Ausge-
schlossene und mit den Ausgeschlossenen einer »wohlanständi-
gen« Wohlstandsgesellschaft die Überwindung des Ausschlusses
erzwingen, ohne selber den Spieß umzudrehen (selber zu den
Herrschaften aufsteigen zu wollen und andere dafür auszusch-
ließen und den Phantasmen der Ausgeschlossenen unkritisch zu
DAS REINE POLITISCHE 169

huldigen) und ohne zu glauben, daß dadurch der Mangel total zu


beseitigen wäre. Die Persistenz des Mangels und die Unmöglich-
keit seiner Abschaffung sollten auch keinesfalls zur zynischen
Hinnahme von Ausschlüssen führen. Andererseits ist nicht jede
Ungleichheit gleich ein Ausschluß (in seiner radikalen, realen
Form).
Diese Analysen könnten uns ermöglichen, die Arbeitermobilisie-
rungen in diesem Jahrhundert in Europa nicht bloß aus der Exi-
stenz eines Feindbildes heraus zu verstehen, sondern auch und
vor allem aus dem Vorhandensein einer reellen Not und einer re-
ellen Solidarität unter den Arbeitern. Diese war nicht mit der
»Solidarität« einer Gangstergruppe gleichzusetzen, sondern sie
war von einem ethischen Ideal und einer eschatologischen Hoff-
nung getragen. Außerdem wurden sie durch die Erinnerung an
alte Kämpfe mobilisiert, wobei diese Erinnerung auch legenden-
hafte Züge trug, und der Anspruch der kritischen Verarbeitung
ihrer eigenen Geschichte bleibt auch für die Arbeiterbewegung
bestehen.
Die Differenz Rechts-Links steht hier allgemein für die Differenz
zwischen den gesellschaftlichen Kräften der Aufbewahrung des
schlechten Bestehenden und denjenigen, die auf seine Änderung
drängen. Historisch gesehen gab es immer mehrere »rechte«
und mehrere »linke« Varianten. Eine Analyse der politischen An-
tagonismen zeigt, daß die empirische Differenz Rechts-Links
eindimensional ist. Es gibt mindestens eine andere Differenz,
welche zu jener Differenz »senkrecht« steht: es ist die Differenz
zwischen antidemokratisch und demokratisch; denn es gibt
rechte und linke Antidemokraten bzw. Demokraten. Die »neuen
soziale Bewegungen« werden durch alle tradierten Fragen und
Unzulänglichkeiten der alten Bewegungen gekennzeichnet. »Ra-
dikal« und »antiautoritär« zu sein, bedeutet an sich nichts ein-
deutiges und nichts, was zeigen könnte, daß diejenigen, die sich
so bezeichnen, ihre politische Identität als eine gespaltene be-
greifen. Im Gegenteil, manche Gruppen schwanken zwischen
Stalinismus, Anarchismus und totaler Anpassung an die Waren-
und Medienästhetik.
Dieser Begriff des Politischen ist nicht dem Vorwurf des Essen-
tialismus auszusetzen38; man sollte sich auch hüten, eine neuro-
tische Angst vor diesem Vorwurf zu entwickeln. In diesem Be-
griff des Politischen geht das griechische Polis-Erbe ein, welches
den Respekt vor allgemeinen Regeln verlangt und die Demokra-
tie auf dem öffentlichen Diskurs mit vernünftigen Argumenten
170 THANOS LIPOWATZ

aufbaut. Hier hat die Konnotation etwas agonales aber nicht


kriegerisches, denn »polemos« ist nicht »agon«39. Das Wort »An-
tagonismus« hat jedoch die Konnotation des Krieges bekom-
men, so auch in den Analysen von Laclau. Krieg und Bürger-
krieg stellen Grenzfälle des Politischen dar; es wäre aber falsch,
das Politische vom Krieg her zu definieren und dadurch die Ge-
walt zu hypostasieren. Andererseits wäre es auch unzulässig,
jede Art von Auseinandersetzung mit symbolischen Mitteln als
»Krieg« oder »Gewalt« zu bezeichnen (so wie etwa die Kritik).
Allzu leicht besteht die mystische Faszination des Realen darin,
die Gewalt40 des Imaginären mit der Stärke des Realen zu ver-
wechseln und führt viele dahin, der Faszination der Gewalt zu
erliegen. Gewaltradikalismus ist spezifisch für antidemokrati-
sche Rechts- und Linksextremisten.
Die Analyse Laclaus stellt zum Teil eine postmoderne Version
der Massenpsychologie Freuds dar, aber ohne die positive Bin-
dung an den Führer, sondern nur durch die negative Bindung
durch den Feind. Freud war in dieser Schrift durchaus der Mei-
nung, daß das Politische das Wesen des Sozialen und die auto-
ritären Verhältnisse in der Masse das Wesen des Politischen
seien. Insofern ist Kritik an seiner Analyse anzumelden, die da-
mals von vielen Konservativen und Rechten so verstanden und
akzeptiert wurde. Aber wenn man andere Schriften von Freud
berücksichtigt, insbesondere »Totem und Tabu« und »der Mann
Moses«41, dann ändert sich das Bild. Denn in diesen Schriften ist
nicht die Rede vom lebenden Tyrannen der Horde, sondern vom
toten Vater, der zum Träger des Gesetzes in der Gesellschaft wird,
die dadurch von der Willkür des Einen (oder der Vielen) befreit
wird (trotz aller Unvollkommenheiten und der Rückfälle, die
dann stattfinden).
Dies führt zum Begriff der Wahrheit des Politischen. Diese meint
nicht, daß das positive Gesetz wahr und gerecht an sich sei, denn
das Gesetz schafft die Autorität und nicht die Wahrheit. Die
Wahrheit des Politischen meint vielmehr die Enthüllung der
Wahrheit über die Machenschaften der politisch tätigen Sub-
jekte, und ihre anschließende Kritik. Dieser Begriff der Wahrheit
des Politischen42 ist dem Begriff der Wahrheit des Begehrens des
Subjekts in der Psychoanalyse strukturell homolog. Er ist des-
wegen wichtig, weil er es erlaubt, der Beliebigkeit und dem
Machtrealismus des politischen Handelns zu entkommen. Denn
die Wahrheit verleiht der ungebundenen Freiheit des Handelns
jenes Gewicht der Notwendigkeit, welches der Freiheit, als
DAS REINE POLITISCHE 171

bloßer Möglichkeit und Dezisionismus, abgeht43. Hierin ist auch


der Ursprung der Hegelschen Dialektik, als Vermittlung der
Gegensätze zu finden. So ist die Überwindung der Beliebigkeit
durch die Kontingenz der Kräftekonstellation keine echte Lö-
sung.

Laclau spricht statt von der Wahrheit vom Mythos44. Wenn man
unter Mythos eine gewisse Erzählstruktur über Vergangenes
oder Zukünftiges versteht, dann ist dieses Moment auch in der
Struktur der Wahrheit wiederzufinden. Aber Laclau meint, im
Anschluß an G. Sorel45, etwas anderes. Sorel hat jedoch seinen
eigenen Begriff des Mythos entwickelt, in Absetzung von den in-
tellektuellen Fiktionen, welche die Utopien sind. »Mythos«
meint hier den Mythos des Generalstreiks, mittels dessen eine
Mobilisierung der »Leidenschaften« der Proletarier oder ihrer
Substitute (Nation, usw.) gegen das »System« erreicht wird, die
ein Selbstzweck ist, ohne daß sie ihr vorgestelltes Ziel der Syste-
mabschaffung erreichen könnte. Dieser Mythosbegriff ist
äußerst problematisch, und nicht nur weil er gleichermaßen von
extrem Rechten und extrem Linken beansprucht wurde. Laclau
dekonstruiert die Sorelschen Analysen, ohne sich zu fragen, ob
das vielleicht in den Irrationalismus führt. Dahinter steckt aber
eine Verachtung der Massen, die bereit sein sollen, dieses Spiel
mitzumachen.
Denn damit der Mythos funktioniert, muß er geglaubt werden.
Nur die schlauen Intellektuellen werden wissen, daß dieser My-
thos den Mangel des Realen verdeckt, während die Massen wohl
an die totale Abschaffung des Mangels glauben werden. Reine
Politik schlägt hier in politische Mystik um; das war ja das Ziel
von Sorel, denn er verachtete die »schmutzige« und »korrupte«
Politik des liberal-sozialistischen »Systems« der Demokratie.
Aber die Dekonstruktionsmethode dürfte helfen, jenes »System«
der Demokratie nicht rigoristisch zu denunzieren, sondern es als
ein »Symptom« zu begreifen, mit dem man leben muß. Laclau
sieht das z.T. ein und identifiziert sich nicht explizit mit Sorel46,
sein Lob Sorels zeigt aber, daß er dessen Analysen für brauchbar
hält. Dieser Mythos von Sorel kann aber seine irrationale Struk-
tur nicht verbergen, denn die vergebliche Wiederholung des
Gleichen, die ewige Wiederkehr des Scheiterns, wobei die Gewalt
172 THANOS LIPOWATZ

reelle Opfer produziert, haben genau die Struktur aller archai-


schen Mythen. Psychoanalytisch gesehen entspricht das Ausblei-
ben des Ziels der hysterischen Aufschiebung der Befriedigung
des Begehrens. Diese Vorstellung kann auf keinen Fall auf die hi-
storischen Mißerfolge der Emanzipationsbewegungen ange-
wandt werden. Denn diese waren z.T. selbstverschuldet,
während es andererseits auch partielle, reelle Erfolge gegeben
hat.
Diese mystisch-mythische Haltung führt auch zu einer Ästheti-
sierung/Formalisierung des Politischen, welche bekanntlich
auch die Politik des Faschismus gewesen ist. Der politische My-
thos konnte in der Geschichte des 20sten Jahrhunderts niemals
als leerer Signifikant funktionieren, sondern wurde immer
durch Phantasmen der Fülle und der Gewalt, d.h. durch die per-
verse Verleugnung des Mangels begleitet. Z.B. Antisemitismus,
Nationalsozialismus47 aber auch terroristischer Anarchismus
waren solche Mythen, welche großen Massen auch eine ima-
ginäre Identität verliehen und ein perverses Genießen ermög-
lichten. Warum sollte der Mythos heute anders funktionieren?
Die Opposition zum Mythos ist nicht so sehr die Utopie, wie es
Laclau glaubt, sondern vielmehr die Eschatologie. Dies weil die
jüdisch-christliche Eschatologie durchaus die Massen mobilisie-
ren kann jenseits des Mythos, denn sie impliziert keine zyklische
Zeit der ewigen Wiederkehr, sondern die Linearität der Ge-
schichte. Und statt der Ästhetisierung des Politischen verlangt
sie nach der Ethisierung des Politischen. Die Psychoanlyse kann
sich nur mit dieser Wirkung des Symbolischen im Politischen
vertragen, denn sie geht von der Analyse der privaten Mythen
der Subjekte aus (während Sorel die Mythenzerlegung ab-
lehnt)48. Eine neue Emanzipationsbewegung, die nicht in den
Essentialismus der alten verfallen will, braucht gerade keine mo-
dernen Mythen und Ideologien, sondern eine (entmythologi-
sierte) Eschatologie.
Wenn Laclau für eine Art Sorelschen Mythos plädiert, so ist er
nicht in der Lage zu erklären, wann der Mythos »progressiv«
und wann er »reaktionär« funktioniert. Aber man muß hier an-
merken, daß der Mythos als solcher in der Politik immer reak-
tionär ist, gleichgültig ob ihn auch Linke vertreten. Das Archai-
sche und Unpolitische kommt bei Sorel deutlich heraus, wenn er
mit »jansenistischem« Eifer seinen Kampf gegen das dämoni-
sierte »System« ansagt, und gegen »Korruption« und »Deka-
denz« eine apokalyptische Gewalt einsetzen will, die zur
DAS REINE POLITISCHE 173

»Größe« des Proletariats (oder der Nation) führen soll. Die Re-
kurse auf Walter Benjamin49 ändern die Sache nicht. Denn er hat
zwar solche apokalyptischen Momente der Gewalt in seiner
»Theorie der Gewalt« integriert, aber seine Perspektive ist trotz
allem eine eschatologische. Schließlich ist die Position von Sorel
antiliberal, antisozialistisch und antidemokratisch – weil sie
apokalyptisch ist.

VI

Laclau teilt diese extreme Position von Sorel nicht, bleibt aber
zweideutig. Aus dieser Zweideutigkeit der Position resultiert
sein Dezisionismus, dem etwas Heroisches anhaftet. Dies
kommt auch aus der Verabsolutierung des Politischen und sei-
ner Gleichsetzung mit dem existentiellen Sprung ins Reale her-
aus. Diese Haltung kommt aus einer existentiellen Verzweif-
lung50 heraus, die den reinen Willen zur Macht zu einem Willen
zur Revolution ohne Perspektive hochstilisiert. Der reine Wille
bedeutet hier die Verabsolutierung der Kontingenzen und der
Möglichkeiten eines Aktivismus, der sich weigert, das Realität-
sprinzip und seine Zwänge zu akzeptieren. So werden die parti-
ellen und reellen Erfolge im liberal-demokratischen Rahmen
verachtet; und so tritt die Realität gegenüber dem Realen
zurück. Der Dezisionismus ist dann der Sprung ins Reale; aber
ohne den Glauben, auf den Kierkegaard sich in seinen Analysen
bezieht, führt das zum Nihilismus, zur Entscheidung für die
Entscheidung.
Diese Haltung ist auch z.T. für Lacan charakteristisch. Seine
frühe Hochstilisierung des »reinen Begehrens«, das eigentlich
ein »Begehren-zum-Tod« ist, führte Lacan zur Idealisierung der
Figur Antigones51. Das ist aus dem großen Einfluß, den Alex-
andre Kojève auf ihn ausgeübt hatte, zu erklären. Später modifi-
zierte Lacan seine Haltung, und so schrieb er in Seminar XI52,
daß das Begehren des Analytikers kein reines Begehren sei. Aber
die nihilistische Haltung blieb bei ihm und bei vielen seiner
Schüler in der psychoanalytischen Praxis weiter bestehen.
Diese Einschätzung des Denkens Laclaus entspricht der ge-
schichtlichen Lage der postmodernen 80er und 90er Jahre. Diese
Lage hat eine gewisse Ähnlichkeit zu früheren Zeitabschnitten,
insbesondere zu den Anfängen des Jahrhunderts und zu der
Zwischenkriegszeit. Die postmoderne Lage wird spezieller durch
174 THANOS LIPOWATZ

die Massenapathie53, die gesellschaftliche Zersplitterung, die An-


omie, den Normenverlust, die Enttäuschung über die traditio-
nelle linke Theorie und Praxis gekennzeichnet. Insbesondere ist
die Differenz zwischen Links und Rechts zunehmend ver-
schwunden. Wenn diese Differenz verschwindet, dann ist auch
die Legitimität des liberalen und sozialen Staates selbst gefähr-
det. So ist kein Wunder, daß die Lösung oft in undemokratischen
oder unpolitischen Ersatzhandlungen gesucht wird, welche
einen ästhetisch-mythischen und privatisierenden Charakter be-
kommen, der sich gegenüber der Gewalt mindestens indifferent
verhält, und dessen Ausdruck die Medien sind. Die Krise der Le-
gitimität der Demokratie und der Linken führte zu einem Amo-
ralismus, der uns weißmachen will, daß ethische Fragen in der
linken Politik keine Rolle spielen54. Man vergißt aber allzuleicht,
daß der wesentliche Antrieb der Studentenbewegung von 1968
und der antistalinistischen Opposition in Osteuropa bis 1989
ethischer Natur war. Die Theorie des leeren Signifikanten wird
schwerlich eine echte Alternative zur Eschatologie der Hoffnung
und zu den ethischen Ansprüchen anbieten können, wobei die
materielle Frage und die ökologischen Forderungen immer eine
große Rolle spielen werden.

ANMERKUNGEN

1 Vgl. O. Marchart, Diskurs – Hegemonie – Antagonismus, in Mesotes,


Wien, 2/1994; E. Laclau, Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale De-
mokratie, Wien, 1991, S. 255 (im folgenden als HrD)
2 Vgl. HrD, S. 198; E. Laclau, New Reflections on the Revolution of Our
Time, London/New York 1990 (im folgenden als NRRT), S. 193, 195, 196,
219
3 Vgl. E. Laclau, Was haben leere Signifikanten mit Politik zu tun?, in Me-
sotes Nr.2, Wien, 1994, S. 158 (im folgenden als LSP); NRRT, S. 5, 235
4 Vgl. LSP, S. 160; HrD, S. 165, 181; NRRT, S. 206
5 Vgl. LSP, S. 163, 164
6 Vgl. C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, Berlin, 1979; Th. Lipowatz,
Die Verleugnung des Politischen, Weinheim/Berlin, 1986; LSP, S. 159,
160, 165; NRRT, S. 29
7 Vgl. LSP, S. 159; NRRT, S. 235
8 Vgl. HrD, S. 162, 165; E.L. akzeptiert nicht den Derridaschen Metonym-
ismus, aber sein Hervorheben des wiederholten Identitätsscheiterns er-
zeugt den gleichen Effekt. Im ständigen Fluß der Identitäten ist das
Primäre, das einen Haltepunkt anbietet (trotz seiner Spaltung), das Ge-
setz, das aber E.L. nicht akzeptiert.
DAS REINE POLITISCHE 175

9 Vgl. Lacan, Séminaire XVII, L’envers de la psychanalyse, Paris, 1991


10 Vgl. Th. Lipowatz, Das Symbolische als Nicht-Identität, in: Riss, Zeit-
schrift für Psychoanalyse, Nr. 11, Zürich, 1989
11 Vgl. LSP, S. 159, 162
12 Vgl. LSP, S. 158, 159
13 Vgl. HrD, S. 156
14 Vgl. S. Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, Studienausgabe (SA),
IX; J. Florence, L’identification dans le théorie freudienne, Bruxelles,
1984; Th. Lipowatz, Über den Begriff der Identifizierung bei Freud, in:
Riss, Nr. 12; Le clivage du sujet et son identification, in: Scilicet 2/3, Pa-
ris, 1970; S. Ÿiÿek, Die Identifizierung und ihr Jenseits, in: Riss, Nr. 10;
Les identifications, Paris, 1987
15 Vgl. J. Lacan; Ecrits, Paris 1966, S. 677, 817
16 Vgl. J. Lacan, Ecrits; op.cit., S. 531f., 817; ders. Séminaire III, Les psy-
choses, Paris 1981; Th. Lipowatz, Der Name des Vaters, in: Riss, Nr. 3,
1986
17 Vgl. Th. Lipowatz, Die Verleugnung des Politischen, op.cit.
18 Vgl. LSP, S. 158, 161; HrD, S. 185
19 Vgl. LSP, S. 158, 161, 163; NRRT, S. 226
20 Vgl. LSP, S. 160
21 Vgl. S. Kierkegaard, Der Begriff Angst, Frankfurt/M., 1984; Th. W.
Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt(M., 1966; E. Levinas, Totalité et
Infini, La Haye/Boston/London, 1980
22 G. von Rad, Die Botschaft der Propheten, München, 1981; NRRT, S. 73
23 Vgl. J. Derrida, Spectres de Marx, Paris, 1993
24 Vgl. J. Lacan, Séminaire XVII, op.cit.; Th. Lipowatz, Diskurs und Macht,
Marburg/L., 1982
25 Vgl. LSP, S. 162; NRRT, S. 18, 19, 21
26 Vgl. LSP, S. 160
27 Vgl. LSP, S. 160, 162
28 Vgl. LSP, S. 162; NRRT, S. 25, 224
29 Vgl. LSP, S. 160, 161, 162; NRRT, S. 221
30 Vgl. LSP, S. 159; HrD, 182, 183, 185
31 Vgl. S. Kierkegaard, op.cit.; Chr. Grad von Krockow, Die Entscheidung,
Frankfurt/M., 1990
32 Vgl. LSP, S. 158
33 Vgl. Lacan, Ecrits, op.cit.; P. Widmer, Freud und die Demokratie, in:
Riss, Nr. 29/30; A. Juranville, Recht, Psychoanalyse, Politik, in: Der Riss,
Nr. 29/30, Y. Stavrakakis, Die Doppeldeutigkeit der Demokratie und die
Ethik der Psychoanalyse, in: Riss, Nr. 29/30
34 Vgl. J. Lacan, Die Wissenschaft und die Wahrheit, in: Schriften II, Olten,
1975, S. 231f.
35 Das Gesetz wird noch folgenderweise definiert: »Du sollst begehren«
(nicht: Du sollst genießen; das ist die Formel der Perversion). Alle diese
Definitionen wollen den symbolischen Mangel aufrechterhalten. Dieses
Gesetz hat ein dialektisches Verhältnis zum Begehren, insofern letzteres
weder pervers noch neurotisch ist. Freilich ist das immer nur partiell der
Fall. Vgl. J. Lacan, Séminaire VII, L’éthique de la psychanalyse, Paris
1986; ders. Seminar XI, Die vor Grundbegriffe der Psychoanalyse, Olten,
176 THANOS LIPOWATZ

Freiburg i.Br., 1978, S. 175f.; A. Juranville, Lacan und die Philosophie,


München, 1990, S. 248f.; ebenda, S. 199, 207, 254, 264f.
36 Die Mutter ist verboten, obwohl sie unmöglich zu erreichen ist.
37 Vgl. Th. Lipowatz, Das Ethische und das Politische: Fragen an die Psy-
choanalyse, in: H.-D. Gondek und P. Widmer (Hrsg.), Ethik und Psycho-
analyse, Frankfurt/M., 1994
38 Vgl. LSP, S. 160
39 Vgl. H. Arendt, Über die Revolution, München, 1974; ders. Macht und
Gewalt, München, 1981
40 Vgl. LSP, S. 159; HrD, S. 185; NRRT, S. 11, 47, 193, 232
41 Vgl. S. Freud, Massenpsychologie … , op.cit., ders. Totem und Tabu,
(SA) IX, ders. Der Mann Moses und der Monotheismus, (SA) IX; S. Mos-
covici, L’°age des foules, Paris, 1981; M. Borch-Jacobsen, Le sujet freu-
dien. Du politique à l’éthique, in: Confrontations, Nr. 20, S. 62
42 Vgl. H. Arendt, Wahrheit und Politik, Franfurt/M., 1972
43 Vgl. S. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, Frankfurt/M., 1984, S. 35;
NRRT, S. 43, 44
44 Vgl. LSP, S. 160, 162; NRRT, S. 61, 62, 63, 67, 77, 79, 193, 196, 205, 232,
233
45 Vgl. G. Sorel, Über die Gewalt, Frankfurt/M., 1969; L. Kolakowski, Main
currents of Marxism, London, 1985; H. Berding, Rationalismus und My-
thos. Geschichtsauffassung und politische Theorie bei G. Sorel, Mün-
chen/Wien, 1969
46 Vgl. HrD, S. 198
47 Vgl. H. Heller, Rechtsstaat oder Diktatur?, Tübingen, 1930; K. Sonthei-
mer, Antidemokratisches Denken in der Zeit der Weimarer Republik,
München, 1978; Z. Sternhell, Ni droite, ni gauche. L’idéologie fasciste en
France, Paris, 1987
48 Ebensowenig ist aber die Eschatologie eine bloße Ideologie. Ideologie ist
auf der Ebene des Sozialen, was die Phantasmen für die Subjekte sind.
Aber die symbolisch-kulturellen Produkte einer Gesellschaft sind nicht
mit der Ideologie identisch, obwohl sie mit ihr überlappen. Die Ideologie
entspringt gleichermaßen aus dem Ökonomischen, dem Politischen und
dem Kulturellen.
49 Vgl. W. Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, Frankfurt/M., 1965
50 Vgl. S. Kierkegaard, die Krankheit zum Tode, op.cit.; M. Theunissen, Der
Begriff Verzweiflung, Frankfurt/M., 1993
51 Vgl. P. Guyomard, La jouissance du tragique. Antigone, Lacan et le désir
de l’analyste, Paris, 1992; Th. Lipowatz, Das Ethische und das Politische
vom Standpunkt der Psychoanalyse, in: Riss, Nr. 29/30, 1995
52 Vgl. J. Lacan, Seminar XI, op.cit., S. 290
53 Die Medien produzieren heute Mythen, Ideologien und Führerfiguren.
54 Die »politische Korrektheit« ist eine stalinistische Karrikatur der linken
Politik heute.
Laclau mit Lacan

YANNIS STAVRAKAKIS

ZUM VERHÄLTNIS VON POLITISCHER THEORIE


UND PSYCHOANALYSE

Auf einer Konferenz, die dem Verhältnis zwischen Lacan und


der Gesellschaftstheorie gewidmet war, wurde unlängst im Call
for Papers Ernesto Laclaus Werk als einer der primären loci prä-
sentiert, in dem dieses Verhältnis artikuliert wird1. Bedeutet das,
daß sich Ernesto Laclau nun völlig der lacanianischen Theorie
verschrieben hat und sein intellektuelles Projekt als einen Ver-
such sieht, ähnlich wie Slavoj Ÿiÿek die Bedeutung Lacans für
soziopolitische Analyse und politische Philosophie zu demon-
strieren? Dieser »Verdacht« hat eine Menge Verwirrung erzeugt,
besonders unter jenen, die Laclau bereits als »Derridianer« kate-
gorisiert hatten. Viele Wissenschafter schienen erpicht darauf,
wenn auch unfähig, Laclaus Loyalität auszumachen. Ist er in
letzter Instanz, so lautet die operative Frage, Derrida oder Lacan
gegenüber loyal? Überflüssig zu sagen, daß das üblicherweise als
Nullsummenspiel abläuft. Was dabei allerdings ingnoriert wird,
ist eine dritte Möglichkeit: daß Laclau weder Derridianer noch
Lacanianer ist, sondern überwiegend Laclauianer. Schließlich
beginnt Laclau theoretische und politische Entwicklung vor der
poststrukturalistischen Revolution und dem dynamischen Auf-
kommen des lacanianischen Diskurses in den Geisteswissen-
schaften2. Es ist seine einzigartige theoretische und politische
Unternehmung, die Laclau zur Ausarbeitung bestimmter
Schlußfolgerungen und spezifischer Fragen führt, die die Bedin-
gungen für einen sinnvollen Dialog mit sowohl derridianischen,
als auch lacanianischen Theorien erzeugen. Unnötig zu sagen,
daß dieser Dialog sowohl für Forschung, die mit der Dekon-
struktion, als auch mit Forschung, die mit dem Lacanianismus
in Verbindung steht, produktiv geworden ist. In diesem Sinne
178 YANNIS STAVRAKAKIS

liegt Bellamy nur teilweise richtig, wenn sie behauptet, daß


»Laclaus & Mouffes Projekt der Artikulation der Komplexitäten
postmoderner Politik genauso innovativ und überzeugend ohne
die psychoanalytischen Metaphern wäre. Der Autoren zentrale
Konzepte von Artikulation, Antagonismus und radikaler Un-
möglichkeit werden nicht besonders durch ihren Rekurs auf ›La-
canianismen‹ vorangetrieben, die, obwohl sie eine gewisse pro-
vokative Herausforderung mit sich tragen, keinen weitergehen-
den polemischen Wert besitzen« (Bellamy 1993:34). Ich sage
»teilweise richtig«, denn Bellamy bietet eine statische Sicht der
Situation, wie sie sich 1985 dargestellt hat, und stellt nicht den
gesamten Dialog in Rechnung, der nach 1985 stattgefunden hat
– etwa zwischen Laclau und Ÿiÿek – und der seine distinktiven
Merkmale in Laclaus Werk hinterlassen hat – am deutlichsten in
New Reflections on the Revolution of our Time (Laclau 1990). In
einem von D. Zeginis und mir 1993 geführten Interview macht
Laclau deutlich klar, daß obwohl »lacanianische Theorie eine
wichtige Rolle in ( … ) [meiner] theoretischen Entwicklung seit
Anfang der Achtziger spielte ( … ), dieser Einfluß während der
letzten Jahre zugenommen hat« und zu einer sehr wichtigen
Neudefinition mancher der Kategorien seiner Hegemonietheorie
geführt hat, wie sie in New Reflections (Laclau 1993:58) vorge-
stellt werden.
Meine Hauptabsicht in diesem kurzen Text wird sein, die wich-
tigsten Kritikpunkte zu diskutieren, die gegen diese Phase von
Laclaus Werk gerichtet wurden, das heißt, gegen seine sich her-
ausbildende Verbindung zur lacanianischen Theorie. Aus dieser
Sicht werde ich auch einige generelle Kritiken an Laclaus Werk
behandeln, die sich aus einer bestimmten lacanianischen Per-
spektive ergeben. Wie zu hoffen ist, werden die Terme dieser Re-
lation im weiteren Verlauf klarer werden. Darüberhinaus sollte
man sich vergegenwärtigen, daß mein Zugang keineswegs als in
irgendeiner Weise fixiert zu verstehen ist. Vielmehr repräsentiert
er eine Art Schnappschuß der Relation, wie sie sich gegenwärtig
entwickelt, und deren künftige Artikulation in keiner Weise vor-
herbestimmt ist. Denn Laclaus Projekt bleibt eine der originell-
sten und dynamischsten Interventionen in gegenwärtige politi-
sche Theorie.
LACLAU MIT LACAN 179

Zu Beginn möchte ich eine Konfusion aus dem Weg räumen, die
viele Diskussionen des Verhältnisses zwischen psychoanalyti-
scher Theorie und soziopolitischer Analyse begleitet. Wir kön-
nen uns diesem Punkt durch die Frage nähern: »Was verbindet
diese zwei Zugänge?«. Die übliche – aber völlig irreführende –
Antwort lautet: »Natürlich die Rolle des individuellen Akteurs in
der Politik«. Eine solche Sicht wurde als Kritik an Laclaus und
Mouffes Werk von Bellamy artikuliert: »Um ihre Einführung
psychoanalytischer Begriffe sinnvoller zu machen, müßten
Laclau & Mouffe genauer bezüglich der präzisen Natur der
Überschneidung zwischen dem Sozialen ( … ) und dem Psychi-
schen sein, das, so fragmentiert, entfremdet und dekonstruiert
auch immer, sicher ein bedeutender Faktor in der Implementie-
rung politischer Aktionen ist. Ihre Verwendung psychoanalyti-
scher Begriffe, um bestimmte ideologische und politische Phä-
nomene weiter zu beleuchten, ist zu breit eingesetzt, um die in-
dividuelle Psyche als Faktor in den Operationen der Ideologie in
Betracht zu ziehen« (Bellamy 1993:34–35). Hier möchte ich das
Konzept der »individuellen Psyche«, das Bellamy im Sinn hat, in
Frage stellen. Denn ihre Formulierung scheint einen gewissen
Widerstand zu verraten, eine letztlich essentialistische Perspek-
tive aufzugeben.
Hier muß betont werden, daß für Lacan die Psyche nichts ande-
res ist, als das pure substanzlose Subjekt als Mangel. Es ist die-
ser Mangel – als das charakteristische Merkmal von Subjekti-
vität –, der jede Identitätskonstruktion durch einen Identifika-
tionsprozeß gehen läßt. Durch die Einführung der Konzeption
des Subjekts als Mangel und durch die Anerkennung der konsti-
tutiven Gespaltenheit jeder Subjektivität (der Ich-Spaltung) radi-
kalisiert daher die Freudo-Lacanianische Psychoanalyse nicht
nur unser Verständnis des Subjekts in der Politik, sondern bietet
eine kohärente Beschreibung der Relation zwischen der subjek-
tiven und der objektiven Ordnung, wobei die letztere zur Ebene
des Sozialen gehört. Der Schlüsselbegriff für das Verständnis
dieser Relation ist natürlich »die psychoanalytische Kategorie
der Identifikation, mit ihrer expliziten Annahme eines Mangels
an der Wurzel jeder Identität: Man muß sich mit etwas identifi-
zieren, weil es einen originären und unübersteigbaren Mangel
an Identität gibt« (Laclau 1994:3).
180 YANNIS STAVRAKAKIS

Aber am wichtigsten ist, daß Laclau nicht zufrieden mit diesem


Schema ist. Meiner Ansicht nach spürt er, daß die Bedeutung
der lacanianischen Theorie für soziopolitische Analyse nicht auf
diese, wenn auch bedeutende, subjektive Ebene reduziert wer-
den kann, nicht einmal auf die Beziehung zwischen dem Subjekt
und dem Sozialen. Lacanianische Theorie ist gleichfalls mit der
objektiven Ebene befaßt, der Ebene des Objekts der Identifika-
tion per se. (Diesbezüglich wichtig sind Kategorien wie das
Reale, das Symbolische und das Imaginäre, die die Gesamtheit
menschlicher Erfahrung begleiten – und nicht nur die soge-
nannte »subjektive Ebene« –, und natürlich Konzepte wie Phan-
tasma, der Andere, das Objekt klein a und die »objektive« Logik,
die diese begleiten.) Darüberhinaus betrifft den einsichtsvolleren
Vorschlag, den Lacan in Bezug auf den Bereich des Objektiv-So-
zialen macht, was er den Mangel im Anderen nennt. Wie Ÿiÿek
sagt: »Die radikalste Dimension der lacanianischen Theorie liegt
nicht im Anerkennen [»daß das lacanianische Subjekt gespalten,
durchgestrichen, identisch mit einem Mangel in einer Signifika-
tionskette ist«], sondern im Realisieren, daß der große Andere,
die symbolische Ordnung an sich, genauso gebarrt ist, durchge-
strichen von einer fundamentalen Unmöglichkeit, strukturiert
um einen unmöglich/traumatischen Kern, um einen zentralen
Mangel« (Ÿiÿek 1989:122). Dies übersetzt sich effektiv in den ge-
spaltenen Charakter jedes Identifikationsobjekts – was wir die
ultimative Unmöglichkeit von Gesellschaft nennen –, den Laclau
als den Spalt zwischen der Ausfüllungsfunktion selbst und dem
diese aktualisierenden konkreten Inhalt faßt.
Nebenbei möchte ich hinzufügen, daß die lacanianische Theorie
mindestens noch drei weitere Wege anbietet, sich dieser Spal-
tung im Identifikationsobjekt anzunähern: 1) Diese Spaltung
kann in der Tatsache lokalisiert werden, daß das Identifikations-
objekt immer sowohl zu uns (da es internalisiert ist), als auch
zum Anderen (der Ebene des ideologischen Diskurses etwa)
gehört, was eine Quelle von Entfremdung und Ambivalenz dar-
stellt. 2) Die Spaltung jedes Identifikationsobjekts kann als
einem perversen Genießen – das mit der Logik des Begehrens as-
soziiert wird – dienend gedacht werden, welches Befriedigung
im ultimativen Scheitern jeder Identifikation findet. 3) Die Spal-
tung kann auch als ein Auftauchenlassen der Differenz zwischen
den zwei entgegengesetzten Komponenten des ideologischen
Diskurses verstanden werden, d.h. als Spaltung zwischen (sozia-
lem) Phantasma und Symptom. Phantasma ist hier als die totale
LACLAU MIT LACAN 181

Harmonie verstanden, die von der Ideologie versprochen wird,


deren ultimative Unmöglichkeit von der Ideologie selbst einem
Sündenbock zugeschrieben wird, dem Symptom (dem Juden im
Fall des Nazi-Antisemitismus). Die Ideologiekritik (die unsere
täglichen Praktiken inkludiert) zeigt, daß die Eleminierung des
Symptoms die Realisierung des Phantasmas nicht garantiert.
Tatsächlich ist die Kohärenz des ideologischen Phantasmas inte-
gral abhängig vom Symptom und konstruiert auf diese Weise
das Identifikationsobjekt als gespaltenes Objekt3.
Um zu rekapitulieren: Um was es im Zusammenfließen von laca-
nianischer Theorie und soziopolitischer Analyse geht, ist nicht
irgendein autonomes Subjekt; noch ist es irgendein homogeni-
siertes oder vereinheitlichtes Soziales. Stattdessen betrifft es zu-
erst die angemessene Konzeptualisierung des Subjekts qua Man-
gel als Subjekt des Politischen; zweitens das Verständnis dieses
Mangels als Möglichkeitsbedingung von Identifikation; drittens
– und aus der Perspektive der Sozialanalyse am wichtigsten – die
Anerkennung des irreduzibelen Mangels im Anderen, die sich im
gespaltenen Charakter aller Objektivität manifestiert und die als
die Möglichkeitsbedingung von Hegemonie dient4. Und es
scheint mir, daß Ernesto Laclau sich dessen voll bewußt ist.

II

In einem Artikel für eine griechische Zeitschrift (Lipowatz


1993), sowie in seinem Beitrag zu diesem Band, hat Thanos Li-
powatz unlängst eine Kritik an Ernesto Laclaus Projekt vorge-
tragen, die innerhalb des Kontexts eines bestimmten psychoana-
lytischen Ansatzes artikuliert ist. Wie ich es verstehe, ist Lipo-
watz’ primärer Einwand, daß Ernesto Laclau die Bedeutung des
Politischen überbetont (sowie die verwandten Elemente von An-
tagonismus und Kontingenz) bis zu dem Punkt, an dem das Poli-
tische in Laclaus Diskurs einen absoluten, omnipotenten und
damit imaginären Status annimmt5. Um dieses Mißverständnis
zu zerstreuen, ist es wohl nützlich, einerseits zu unterscheiden
zwischen der Entscheidung eines Theoretikers, die Dimension
des Politischen zu erkunden (und gleichzeitig dessen Interaktion
mit anderen Dimensionen unserer Erfahrung anzuerkennen),
und andererseits der Zuschreibung solch eines imaginären Sta-
tus zum Politischen. Denn es ist offensichtlich, daß in E. Laclaus
Werk das Politische immer in seinem Verhältnis zum Sozialen
182 YANNIS STAVRAKAKIS

untersucht wird, der Ebene sedimentierter Praktiken und Insti-


tutionen (i.e. der Ebene sozialer Konstruktion) (Laclau 1990:33).
Für ihn ist das Politische der Moment, in dem das Soziale ge-
stört wird und dabei neue Versuche einleitet, es über imaginär-
symbolische Reartikulationen (die im Kontext hegemonialer
Kämpfe ausgespielt werden) zu reinstituieren. Das Moment des
Politischen wird immer im Verhältnis zur Ordnung des Sozialen
untersucht, die es disloziert, und der als Resultat ihres Einbre-
chens artikulierten Neuen Sozialen Ordnung. In diesem Sinn ist
das Politische nie omnipotent oder absolut. Wenn sich Laclaus
Arbeit auf die Komplikationen der politischen Dimension kon-
zentriert, dann weil diese Dimension historisch im theoretischen
Diskurs von verschiedenen essentialistischen Formen des Sozia-
len unterdrückt wurde.
Um genauer zu sein, Lipowatz’ Kritik an der Verwendung des
Politischen ist zweigeteilt: Er behauptet, indem er das Politische
überbetont, würde Laclau zwei andere Dimension negieren: 1)
Die materielle Infrastruktur der Gesellschaft, die Ökonomie, so-
wie andere distinktive diskursive Bereiche (die kulturelle Dimen-
sion, etc.). 2) Die ethische Dimension. Ich werde die erste Kritik
in diesem Teil des Aufsatzes behandeln und die zweite für den
letzten Teil aufsparen.
Ich habe den Eindruck, daß die erste Kritik auf einer Konfusion
gründet, die leicht geklärt werden und entweder zurückgeführt
werden kann auf entweder ein Mißverstehen des Konzepts des
Politischen in E. Laclaus Arbeiten, oder auf eine Meinungsver-
schiedenheit bezüglich der Weise, in der es eingesetzt wird. Li-
powatz scheint das Politische im traditionellen Sinn als ein Dis-
kurs unter anderen (dem Religiösen, dem Ökonomischen, etc.)
zu verstehen, was ihn zum Schluß führt, daß in Laclaus Werk
dieser Diskurs im Vergleich zu den anderen überbetont ist. Aber
das Politische, wie es von Laclau verstanden wird, ist definitiv
kein Diskurs. Was wir auf der diskursiven Ebene finden, der
Ebene des Sozialen (die alle von Lipowatz genannten diskursi-
ven Bereiche beinhaltet), nennen wir üblicherweise Politik, das
heißt: ideologische Diskurse, politische Institutionen, etc. Das
Politische andererseits liegt außerhalb (doch immer in Interak-
tion mit dem Sozialen Feld – und daher »innerhalb«) des Sozia-
len Felds. Das Politische ist, was das diskursive Feld aufstört
und zu dessen Reartikulation führt. Daher gehören bei Laclau
das Politische und das Soziale (das verschiedene diskursive Fel-
der inklusive unsere religiösen, ökonomischen und politischen
LACLAU MIT LACAN 183

Konstruktionen inkorporiert) zu unterschiedenen und inkom-


mensurablen Ordnungen.
Lipowatz insistiert besonders darauf, daß Laclau die Ebene der
Ökonomie negiert. Er unterstellt, dessen radikale Kritik des
Ökonomismus würde ihn fälschlicherweise dazu führen, das Po-
litische gegenüber dem Ökonomischen zu privilegieren. Tatsäch-
lich wird dieses Argument in einer ziemlich traditionellen Weise
artikuliert – in einer, welche die »materielle« Basis der Ökono-
mie als etwas hervorhebt, das das Politische einschränkt. Die
gleiche Konfusion, auf die ich mich bereits bezog, ist hier am
Werk. Laclau ist in keiner Weise ein Solipsist. Tatsächlich argu-
mentiert Laclau, daß dieses materielle Element präsent ist und
immer in unseren Diskursen artikuliert wird, Diskursen, die
nicht auf eine »Kombination aus Sprechen und Schreiben« re-
duziert sind, sondern »sowohl linguistische als auch non-lingui-
stische Elemente« inkorporieren (Laclau 1990:100). Das trifft
nicht nur für die Ökonomie zu, sondern für alle diskursiven Fel-
der. Und während es zutreffen mag, daß die Ökonomie innerhalb
eines Rahmens diskursiver Interaktion unsere politischen Dis-
kurse beschränken kann (und vice versa), ist der ökonomische
Raum selbst als eine diskursive Konstruktion6 immer der struk-
turalen Kausalität des Politischen unterworfen; er ist vom Politi-
schen begrenzt. Unsere ökonomischen Konstruktionen, Systeme
und Institutionen sind Unterbrechungen und Dislokationen un-
terworfen und immer artikuliert durch hegemoniale, nicht algo-
rithmische Prozesse, die durch »Materie« selbst gelenkt werden
würden (als wäre es mögliche, direkten, unvermittelten Zugang
zu ihr zu erlangen). In der Tat könnte es scheinen, daß Lipowatz
selbst diese Tatsache akzeptiert, wenn er über die Intervention
des Realen ins ökonomische Leben spricht und es mit dem Mo-
ment der Dislokation oder Krise eines ökonomischen Systems
gleichsetzt, die zur Formierung einer neuen ökonomischen Ord-
nung führt. Diese Tatsache kann zwei verschiedene Dinge bedeu-
ten. Lipowatz hat den Verdacht, es bedeute, daß das Reale nicht
nur in den politischen, sondern auch im Leben ökonomischer
Diskurse präsent ist. Das trifft natürlich zu, wenn wir das Politi-
sche im traditionellen Sinn als einen Diskurs unter anderen ver-
stehen. Es existiert dennoch eine zweite logische Möglichkeit,
die wir genau in Laclaus Werk artikuliert finden: Das Politische
(weit davon entfernt, imaginär zu sein) ist eine bestimmte
Annäherungs- oder Präsentationsweise des Realen und der
strukturalen Kausalität, das es gegenüber allen diskursiven Fel-
184 YANNIS STAVRAKAKIS

dern vertritt, einschließlich der Ökonomie. Aus dieser Sicht dient


Lipowatz’ Beispiel von der Präsenz des Realen im ökonomischen
Raum daher der Rechtfertigung der Laclauschen Argumentation
– anstatt eine Basis der Kritik an ihr zu formen7. Tatsächlich
möchte ich vorschlagen, daß diese Annäherungslinie einen ge-
meinsamen Grund eröffnet, der von beiden Theoretikern geteilt
wird und als Basis für einen weiteren Dialog dienen könnte.
Das bedeutet dennoch nicht, daß Lipowatz’ Argument völlig de-
plaziert wäre. Es trifft zum Beispiel zu, daß der Gebrauch des
Antagonismuskonzepts in Hegemonie und radikale Demokratie
ein antagonistisches Verhältnis zwischen zwei Kräften impli-
ziert, welche die imaginäre (phantasmatische) Konstruktion der
jeweils anderen bekämpfen. In diesem Sinn mag eine Betonung
des Antagonismus als entscheidendes Moment des Politischen
die imaginäre Dimension privilegieren. Das Antagonismuskon-
zept scheint daher in seiner eigentlichen Natur solch einer Kritik
gegenüber offen. Das wurde von Ÿiÿek herausgestellt, der in Jen-
seits der Diskursanalyse es zu lösen versuchte, indem er den radi-
kal-realen Antagonismus vom Allerweltsverständnis des Antago-
nismus unterschied, das eindeutig nicht mit Laclaus und Mouf-
fes Intuition korrespondiert: »Wir müssen dann die Erfahrung
des Antagonismus in seiner radikalen Form als Grenze des So-
zialen unterscheiden vom Antagonismus als der Relation von
antagonistischen Subjektpositionen: wir müssen, in Lacaniani-
schen Worten, Antagonismus als das Reale von der sozialen Rea-
lität des antagonistischen Kampfes unterscheiden«. Ernesto
Laclau selbst ging in seinem Versuch, dieses Problem zu lösen,
sogar weiter. Im gleichen Interview, auf das ich mich bereits be-
zog, stellt er fest: »Es gab eine bestimmte Ambiguität in der
Weise, in der die Kategorie des Antagonismus in Hegemonie und
radikale Demokratie formuliert wurde ( … ) Heute glaube ich,
daß die Konstituierung des anderen als antagonistisch bereits
eine bestimmte diskursive Einschreibung voraussetzt – in ande-
ren Worten, den anderen als einen Feind wahrzunehmen, setzt
voraus, daß wir uns bereits vorgängig mit einer bestimmten Po-
sition innerhalb des Rahmens der symbolische Ordnung identi-
fizieren [Es setzt in den meisten Fällen ebenfalls die imaginär-
phantasmatische Konstruktion beider antagonistischer Pole vor-
aus]. Deshalb habe ich in meinen neueren Arbeiten meine Auf-
merksamkeit auf die Kategorie der ›Dislokation‹ verschoben –
als einer dem ›Antagonismus‹ vorgängigen Ebene« (Laclau
1993:58). Tatsächlich bedeutet die Einführung der Kategorie der
LACLAU MIT LACAN 185

Dislokation in New Reflections als einem zentralen – wenn nicht


dem zentralen – Konzept einen entscheidenden Durchbruch, der
nicht Lipowatz’ Bedenken betrifft, sondern auch einen turn in
Laclaus Werk deutlich signalisiert, der ihn sogar näher an die la-
canianische Theorie bringt; und das, weil Dislokation nur als
eine Begegnung mit dem lacanianischen Realen verstanden wer-
den kann. Beide sind unrepräsentierbar und gleichzeitig einer-
seits traumatisch/disruptiv, andererseits produktiv. Dislokatio-
nen sind traumatisch in dem Sinne, daß sie »Identitäten bedro-
hen«, und sie sind produktiv in dem Sinne, daß sie als »Funda-
ment« dienen, »auf dem neue Identitäten gebildet werden«
(Laclau 1990:39). Ähnlich unterbricht das traumatisch Reale im-
mer alle Versuche der Symbolisierung; und dennoch hört es nie
auf, neue Symbolisierungen zu fordern. Es ist für mich klar, daß
das Auftreten dieses Konzepts realer Dislokation als Kern des
Politischen eines der wichtigsten Produkte aus Laclaus Dialog
mit der Psychoanalyse8 ist, und es stellt meiner Ansicht nach die
einsichtsvollste rezente Ausarbeitung dar.

III

Aber was ist mit Lipowatz’ zweiter Befürchtung, also der Be-
fürchtung, daß Laclau die ethische Dimension negiere und daß
das Primat, welches er dem Politischen, dem Kontingenten und
der Negativität zuschreibt, zu einem Relativismus oder einem
Nihilismus führt, der jedes demokratische Projekt gefährdet?
Zuallererst muß gesagt werden, daß Laclau in keiner Weise das
Moment der Ethik negiert, besonders nicht im Kontext seines
radikal-demokratische Projekts. Das letzte Kapitel von Hegemo-
nie, sowie eine Reihe seiner Artikel inklusive »Universalism, Par-
ticularism and the Question of Identity« (Laclau 1992) und »God
Only Knows« (Laclau 1991), um nur zwei zu nennen, sind be-
sonders mit diesen Themen befaßt. Daher besteht der einzige
Weg, aus Lipowatz Kritik Sinn zu machen, darin, sie als Wider-
spruch zur bestimmten Weise zu lesen, in der Laclau mit diesen
Fragen umgeht. Lipowatz’ Angst scheint zu sein, daß durch die
Betonung der Irreduzibilität und Konstitutivität des Politischen
und des Kontingenten Laclau jede rationale Basis für Ethik und
Demokratie zerstören und deren Zukunft gefährden würde. Ähn-
liche Punkte wurden von Bellamy und Butler vorgetragen. Bel-
lamys Bedenken werden auf der subjektiven Ebene artikuliert:
186 YANNIS STAVRAKAKIS

»Können bestimmte Formen politischen Kompromisses (ein


kollektives ›wir‹, das aus Diversität und Konflikt geformt werden
muß) als die Überwindung psychischen Konflikts charakterisiert
werden ( … )?« (Bellamy 1993:35). Die Angst hinter all diesen
Statements ist verbreitet; sie besteht darin, daß die Betonung des
Politischen, des realen Mangels und der Dislokation die Mög-
lichkeit ausschließen könnte, einen mehr oder weniger stabilen
(gegenwärtigen oder zukünftigen) Grund für Ethik und Demo-
kratie zu präsentieren, daß sie deren universalen Charakter und
die Möglichkeit irgendeiner letzten Versöhnung auf entweder
der subjektiven oder der sozialen Ebene unterminiere.
Nun trifft es zu, daß für Laclau eine solche Versöhnung unmög-
lich ist. Kein ethisches Projekt, nicht einmal Demokratie, ist von
vornherein garantiert. Doch das ist eine pragmatische, politische
und auch theoretische Erkenntnis, die durch unsere historische
Erfahrung erhärtet wird. Das ist kein ethisches Argument per se
– und doch kann keine adäquate Ethik formuliert werden, ohne
daß dies anerkannt wird. In diesem Sinn negiert Laclau weder
das ethische Element, noch die Bedeutung von Demokratie; viel-
mehr versucht er, beides auf der Anerkennung des Politischen zu
gründen, der zentralen Unmöglichkeit des Sozialen. Das ist eine
Ethik, die nicht um ein bestimmtes Gotteskonzept artikuliert
wird (das im traditionellen ethischen Diskurs als von vornherein
garantiert verstanden wird, um auf diese Weise die zentrale Un-
möglichkeit des Sozialen zu maskieren), sondern um realen
Mangel. Der ethische Standpunkt, der Laclaus Werk unterliegt,
scheint dem sehr nahe zu sein, was Ÿiÿek eine »Ethik des Rea-
len« genannt hat. Solch eine Ethik basiert auf der psychoanalyti-
schen Annahme, daß eine ethisch befriedigende Position erlangt
werden kann, indem man das Reale, den Mangel als solchen,
einkreist, statt ihn auf einem imaginär-phantasmatischen Weg
(den Fußstapfen der gescheiterten Strategien des traditionellen
ethischen Diskurses folgend) zu umgehen. Die Ethik des Realen
beinhaltet eine Anerkennung der Irreduzibilität des Realen und
einen Versuch, den sozialen Mangel zu institutionalisieren. Da-
mit könnte es möglich sein, eine Institution des sozialen Felds
jenseits des Phantasmas der Schließung zu erreichen, das sich
als so problematisch, wenn nicht katastrophal erwiesen hat. Mit
anderen Worten mag der beste Weg, das Soziale zu symbolisie-
ren, einer sein, der die ultimative Unmöglichkeit anerkennt, um
die es immer strukturiert ist.
LACLAU MIT LACAN 187

Dieser ethische Standpunkt ist an Laclaus demokratischen Pro-


jekt offensichtlich. Hier nähert er sich dem Mangel im Anderen –
der Unmöglichkeit des Sozialen – durch den irreduziblen Spalt
zwischen dem Bedürfnis nach einem universalen Referenzpunkt
(i.e., nach einer Kraft, die im Namen der gesamten Gemein-
schaft agiert und auf diese Weise Gesellschaft als ein mehr oder
weniger kohärentes Ganzes instituiert) und dem Partikularis-
mus aller sozialer Kräfte (Laclau 1991:59). Dieser Spalt, weit da-
von entfernt, ein »un-ethisches« Hindernis wirklicher Demokra-
tie zu sein, macht genau Demokratie möglich: »Die Anerken-
nung der konstitutiven Natur dieses Spalts und seine politische
Institutionalisierunng sind Ausgangspunkt moderner Demokra-
tie« (Laclau 1994:8). Es ist diese Anerkennung, die Demokratie
von anderen phantasmatischen, d.h. potentiell »totalitären« po-
litischen Mythen unterscheidet und sie ihnen ethisch überlegen
macht. Doch diese »Überlegenheit«, und das ist es wert zu beto-
nen, kann ihre künftige Hegemonie nicht garantieren. So wie
Derrida sagte, daß »unberechenbare Gerechtigkeit von uns zu
rechnen verlangt« (Derrida 1990:971), so verlangt auch die Ethik
einer realen Demokratie konstanten Kampf und Entschlossen-
heit.

ANMERKUNGEN

Ich möchte Ernesto Laclau, Thanos Lipowatz und Jason Glynos danken, mit
denen allen ich frühere Versionen dieses Artikels diskutiert habe.

1 Elizabeth J. Bellamy, um ein anderes Beispiel zu geben, argumentiert:


»In den letzten Jahren gab es ermutigende Zeichen einer zunehmenden
Bereitschaft, die Relevanz der Psychoanalyse für die Ideologiekritik zu
erneuern. Im besonderen Jean-Joseph Goux, Slavoj Ÿiÿek und Ernesto
Laclau und Chantal Mouffe verdienen Anerkennung für ihren Versuch, in
verschiedenem Ausmaß Psychoanalyse im Ideologischen zu kontextuali-
sieren.« (Bellamy 1993:24)
2 In vielen seiner Interviews betont Ernesto Laclau, daß er nicht denkt, »es
gäbe eine radikale Diskontinuität in ( … ) [seiner] intellektuellen Evolu-
tion«. Wie er es ausdrückt: »Auf die eine oder andere Weise denke ich,
diese Entwicklung war ein Prozeß der Vertiefung einiger Intuitionen, die
bereits da waren. Etwa die Idee von Politik als Hegemonie und Artikula-
tion ist etwas, das immer meine politische Entwicklung begleitet hat«
(Laclau 1990:177). Dieses Statement sollte nicht als Versuch Laclaus bei-
seitegeschoben werden, ein simplistisches Bild von sich als konsistentem
Autor zu zeichnen. Es ist meine Ansicht, daß die Wendungen in Laclaus
Entwicklung primär auf seinen fortgesetzten Versuch zurückzuführen
sind, diese Keimzelle von Ideen zu redefinieren, indem er sich an den
188 YANNIS STAVRAKAKIS

Spannungen abarbeitete, die in den theoretischen Rahmen präsent wa-


ren, in denen er zuerst seine Ideen zu entwickeln suchte (Althusserianis-
mus, z.B.); Dislokationen, die sowohl in einem Verhältnis zu theoreti-
schen Entwicklungen standen, als auch zu den Diskrepanzen zwischen
Theorie und Praxis. Wie Ernesto Laclau selbst in einem anderen Inter-
view deutlich macht: »Ich mußte nicht auf die Lektüre post-strukturali-
stischer Texte warten, um zu verstehen, was ein ›Scharnier‹, ›Hymen‹,
›flottierender Signifikant‹ oder die ›Metaphysik der Präsenz‹ war: Ich
hatte das bereits durch meine praktische Erfahrung als politischer Akti-
vist in Buenos Aires gelernt« (Laclau 1990:200). Laclaus Entwicklung
sollte daher als eine Evolution gedacht werden; nicht eine essentialisti-
sche Evolution im historischen Sinn, sondern eine Evolution, die cha-
rakterisiert ist durch die Emergenz bereits präsenten Spannungen, wel-
che wiederholt als Fragen artikuliert werden – Fragen, die den Raum für
neue und zwingende Denkrichtungen öffnen.
3 Für eine tiefere Ausarbeitung dieser drei Perspektiven auf den Spalt im
Objekt vgl. Stavrakakis 1995a. Slavoj Ÿiÿeks tour de force The Sublime
Object of Ideology (Ÿiÿek 1989) bleibt unentbehrlich soweit es die Kon-
zepte des Phantasmas, des Symptoms und der Logik des Antisemitismus
betrifft.
4 Es ist aus diesem Grund, daß die Bedeutung lacanianischer Theorie für
soziopolitische Analyse und politische Theorie jenseits jeder Art von
»Psychologismus« oder »psychoanalytischem Reduktionismus« situiert
ist.
5 Unnötig zu sagen, daß innerhalb eines psychoanalytischen Rahmens der
Begriff des »Imaginären« üblicherweise eine sehr negative und kritische
Konnotation mit sich führt.
6 Vgl. Daly 1991.
7 Was die Verwendung des Konzepts des Realen in diesem Text betrifft,
möchte ich anmerken, daß das Reale – zusammen mit dem Imaginären
und dem Symbolischen – die grundlegenden Triade in Lacans konzeptu-
ellen Apparat bildet. Das Reale ist das Unmögliche, das heißt, unmöglich
zu symbolisieren oder durch ein Bild zu repräsentieren. Das Reale ist,
was letztlich jeder symbolischen und imaginären Repräsentation ent-
kommt (i.e., jeder Repräsentation in Form eines Signifikanten oder Bil-
des.
8 Ein anderes wichtiges Resultat dieses Dialogs war die Verscheibung von
Laclaus Subjektivitätskonzeption von Hegemonie (wo Subjektivität im
Sinn von Subjektpositionen verstanden wurde) zu New Reflections (wo
das Subjekt als Mangel dominant wird). Nach Laclaus eigenen Worten
gab es in Hegemonie »wie Slavoj Ÿiÿek korrekt klargemacht hat, eine
Tendenz, das Subjekt auf ›Subjekpositionen‹ zu reduzieren (eine struktu-
ralistische Konzeption). Heute tendiere ich dazu, zwischen objektiven
Subjektpositionen und dem Subjekt als Subjekt des Mangels zu unter-
scheiden« (Laclau 1993:58).
LACLAU MIT LACAN 189

LITERATUR

Bellamy J.E. (1993) »Discourses of Impossibility: Can Psychoanalysis be Po-


litical?« in Diacritics 23/1
Daly G. (1991) »The Discursive Construction of Economic Space: Logics of
Organization and Disorganization« in Economy and Society 20/1
Derrida J. (1993) »Force of Law: The ›Mystical Foundation of Authority‹ in
Cardozo Law Review 11/5–6, dt. Gesetzekraft. Der ›mystische Grund der
Autorität‹, FfM.: Suhrkamp 1991
Laclau E. (1994) »Introduction« in Laclau E. (Hg.) The Making of Political
Identities, London: Verso
Laclau E. & Mouffe Ch. (1985) Hegemony and Socialist Strategy, London:
verso, dt. Hegemonie und radikale Demokratie, Wien: Passagen 1991
Laclau E. (1991) »God only knows« in Marxism Today, Dezember
Laclau E. (1992) »Universalism, Particularism and the Question of Identity«
in October, Bd.61
Laclau E. (1993) »Interview with Yannis Stavrakakis und Dimitris Zeginis«
in Diavazo, Nr. 324 (gr.)
Laclau E. (1990) New Reflections on the Revolution of our Time, London:
Verso
Lipowatz Th. (1993) »Book review for E. Laclau’s New Reflections on the Re-
volution of our Time« in Synchrona Themata, Nr.49 (gr.)
Lipowatz Th. (1995) »Das Ethische und das Politische vom Standpunkt der
Psychoanalyse« in Riss, Nr. 29/30, Februar
Lipowatz Th. (1996) »Das reine Politische, oder eine (post)moderne Form
der politischen Mystik«, Artikel in diesem Band
Stavrakakis Y. (1995a) »Split Subject and Split Object: Towards a generaliza-
tion of the Lacanian logic of lack« in Essex Papers in Politics and Govern-
ment, Nr.7
Stavrakakis Y. (1995b) »Die Doppeldeutigkeit der Demokratie und die Ethik
der Psychoanalyse« in RISS, Nr.29/30, Februar
Ÿiÿek S. (1989) The Sublime Object of Ideology, London: Verso
Ÿiÿek S. (1994) The Metastases of Enjoyment, London: Verso
Ÿiÿek S. (1996) »Jenseits der Diskursanalyse«, in diesem Band
III

Das Unentscheidbare der Politik


Dekonstruktion, Marxismus, Hegemonie

ZU DERRIDA UND LACLAU

SIMON CRITCHLEY

Zu Beginn sollten wir versuchen, uns ganz klar darüber zu wer-


den, was Derrida in Marx’ Gespenster (Spectres des Marx=SdM1)
vorbringt. Obwohl er von Anfang bis Ende von SdM behauptet,
daß es mehr als einen (plus d’un, also auch »nicht mehr einen«)
Marxismus gibt, daß Dekonstruktion weder marxistisch noch
nicht-marxistisch gewesen ist (SdM 126–7/125) und daß, wie
Marx vor ihm sagte, »Sicher ist, daß ich kein Marxist bin« (MG
145/143), läuft Derridas Behauptung in diesem Text wie folgt:
»Die Dekonstruktion hat, zumindest in meinen Augen, immer
nur Sinn und Interesse gehabt als eine Radikalisierung, das
heißt auch in der Tradition eines gewissen Marxismus, in einem
gewissen marxistischen Geist.« (MG 151/149–50)
Obwohl Derrida verständliche Bedenken gegenüber der Wahl
des Wortes »Radikalisierung« hat, spricht er an anderer Stelle,
um ein weiteres von ihm problematisiertes Wort zu benutzen,
von der Position (MG 92/90), die er verteidigen wird, um Marx’
Erbe zu übernehmen: » … daß wir nämlich das Erbe des Marxis-
mus übernehmen müssen … (il faut – mit all der Kraft, die das il
faut in einer ganzen Reihe von Derridas Texten beherrscht)«
(MG 93/92).
Dekonstruktion ist Marxismus, könnte es scheinen. Eine For-
mel, die wir neben Derridas andere hyperbolische Formulierun-
gen zu stellen haben, so wie »Dekonstruktion ist Gerechtigkeit«.
Ich weiß nicht, wie schockierend diese Identifizierung der De-
konstruktion mit dem Marxismus erscheinen mag. Beobachter
Derridas sollte es nicht überraschen, besonders wenn man eine
Anzahl von Elementen in seiner Karriere bedenkt: Sein frühes
Interesse an Tran Duc Thaos versuchter Versöhnung von Phäno-
menologie und dialektischem Materialismus, seine Radikalisie-
194 SIMON CRITCHLEY

rung des Denkens der Ökonomie von seinem frühesten Werk an,
insbesondere in seinem Essay zu Bataille, und seine erhellenden
Kommentare zum Marxismus während des »Politischen Semi-
nars« zu Les fins de l’homme.2 Wenn allerdings Dekonstruktion
eine bestimmte Rezeption, Fortführung und fortgeführte Radi-
kalisierung des marxistischen Erbes darstellt, dann sind wir
einem Verständnis dessen, was das bedeuten könnte, immer
noch nicht nähergekommen. Um das zu tun, möchte ich kurz
die in SdM vorgetragene Hypothese diskutieren und ein paar Be-
merkungen zum Kontext des Buches machen. In Fortführung
dieser Diskussion möchte ich mich dann dem Thema des Politi-
schen zuwenden und dessen Sub-Themen der Hegemonie, der
Entscheidung und der Neuen Internationale. In diesem Zusam-
menhang werde ich die Verbindung zwischen Derridianischer
Dekonstruktion und dem Werk Ernesto Laclaus erkunden.

DIE HYPOTHESE

Derridas Hypothese in SdM hat eine Struktur, die Lesern seines


Werks äußerst bekannt vorkommen wird. Er beschreibt sie sche-
matisch auf den Schlußseiten seines Textes:
»Einerseits (D’une part) legt Marx Wert darauf, die Originalität
und die Eigenwirkung, die Verselbständigung und die Automati-
sierung der Idealität als endlich-unendliche Prozesse der (ge-
spenstigen, phantastischen, fetischistischen und ideologischen)
Differänz zu respektieren ( … ). Andererseits (d’autre part) hört
Marx nicht auf, seine Kritik oder seinen Exorzismus des gespen-
stigen Simulakrums auf eine Ontologie gründen zu wollen ( … ).
Es handelt sich um eine – kritische, aber prä-dekonstruktive –
Ontologie der Präsenz als tatsächlicher Wirklichkeit und Gegen-
ständlichkeit. Diese kritische Ontologie vermag die Möglichkeit
zu entfalten, das Gespenst als das ein Subjekt repräsentierende
Bewußtsein aufzulösen. sagen wir noch einmal: es zu be-
schwören, und sie vermag diese Repräsentation auf ihre Bedin-
gungen in der materiellen Welt der Arbeit, der Produktion und
des Tauschs zurückzuführen. Prä-dekonstruktiv heißt hier nicht
falsch, überflüssig oder illusorisch.« (MG 269/267–8)
D’une part … d’autre part – das ist die doppelte Geste, der Rhyth-
mus des Doubles, oder was ich an anderer Stelle clôturale Lek-
türe genannt habe, welche Derridas Werk seit den 1960ern heim-
gesucht hat, deren unzählige Fälle das am meisten distinkte Mo-
DEKONSTRUKTION, MARXISMUS, HEGEMONIE 195

tiv von Dekonstruktion als Leseweise bilden. Wie immer liest


Derrida mit zwei Händen, beharrlich und unermüdlich der in-
stabilen Grenze folgend, die das, was wir die Logik eines Textes
nennen können, seine fundamental aporetischen und unent-
scheidbaren Basisbegriffe und Unterscheidungen, trennt von
den Absichten, die diesen Text beherrschen wollen, der Auto-
rität, die solche Aporien aufzulösen oder zu kontrollieren ver-
sucht. Wie es so oft der Fall ist, fokusiert Derrida diese doppelte
Geste im ambivalenten Gebrauch eines bestimmten Wortes
durch den entsprechenden Autor, in diesem Fall Spectre, Ge-
spenst. Frühere Beispiele sind natürlich Geist bei Heidegger,
pharmakon bei Platon, supplément bei Rousseau, und so weiter.
SdM zumindest auf der formalen Ebene also: »c’est du bon Der-
rida, n’est-ce pas?« Immer dasselbe, wenn auch immer verschie-
den in jeder einzelnen Instanz des Lesens; ein singulares Ereig-
nis und die ewige Wiederkehr desselben. Doch schließlich, könn-
ten oder sollten wir von Derrida erwarten, nicht Derrida zu sein?
Doch, um strategisch mit einer vor-dekonstruktiven Unterschei-
dung zu arbeiten, wenn die doppelte Geste uns die Form von
Derridas Marxlektüre gibt, was ist dann der Inhalt zu dieser Hy-
pothese? Derridas wesentliche Behauptung ist, daß Marx einer-
seits die Spektralität der différance an der Basis jeder begriffli-
chen Ordnung, ökonomischer Organisation oder politischer
Herrschaftsform respektiert. Für Derrida gibt es dafür eine
Reihe verschiedener Beispiele: Marx’ Behandlung der Technolo-
gie und der Medien, sein Denken der Spektralität des Kommu-
nismus (»Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des
Kommunismus«) und die Spektralität des Kapitals selbst: der
Fetischcharakter der Warenform, das nicht-phänomenologisier-
bare Mysterium des Tauschwerts und die subtile, schwer faßbare
Tendenz-zur-Unsichtbarkeit der Ideologie. Das führt Derrida zu
der einen Seite seiner Hypothese, daß nämlich die Figur des Ge-
spensts oder Phantoms nicht einfach eine Figur unter anderen
in Marx’ Text sei, sondern eher »la figure cachée de toutes les fi-
gures« (MG 194/191). Das wesentliche Ziel von Derridas Lektüre
in SdM ist es, diese phantomachia peri tes ousias zu betrachten,
die sich durch Marx’ Texte zieht, deren Spuren verfolgt werden
durch eine Teillektüre des Kommunistischen Manifests, des zwei-
ten Kapitels des Kapital, Bd.1, und, am beeindruckendsten, der
Lektüre von Marx’ Kritik an Stirner in der Deutschen Ideologie.
Das führt Derrida zur Behauptung, es gebe, um seinen Neologis-
mus zu verwenden, eine Hantologie in Marx’ Text, eine be-
196 SIMON CRITCHLEY

stimmte nichtreduzierbare Spektralität und différance sei am


Werk, eine Logik der Heimsuchung, welche für Derrida die Be-
dingung der Möglichkeit und Unmöglichkeit jeder begrifflichen
Ordnung darstellt. Eine der Kernunterscheidungen in SdM dreht
sich, charakteristisch für Derrida, um ein Homonym, nämlich
die Differenz zwischen Ontologie und Hantologie, eine Differenz,
die nur grammatologisch im Schreiben markiert werden kann,
das die Phonetisierung umgeht. Ich werde Ontologie in Kürze
spezifizieren, aber wir wollen festhalten, daß Derrida bereits
früher im Buch feststellt, daß diese Hantologie nicht nur mächti-
ger und umfassender als jede Ontologie und jedes Denken des
Seins ist, z.B. jenes Heideggers, sondern in sich auch als Sekun-
däreffekt jede mit einer solchen Ontologie verbundene Eschato-
logie oder Teleologie enthält, sei es eine Eschatologie des Seins,
des Klassenkampfs, der göttlichen Offenbarung oder was auch
immer (SdM 31/28). In einer Geste, die Derrida-Kennern be-
kannt vorkommen wird, ist Ontologie ein apokalyptischer Dis-
kurs des Endes oder über das Ende, während Hantologie ein Dis-
kurs ist über das Ende des Endes.
Nach Derrida ist Marx deshalb ein hantologischer Denker. Das ist
es, was seine Texte sagen. Das ist die Logik, die sie beherrscht
und sie – gegen sie selbst – ermöglicht. Doch wenn Marx’ Texte,
entsprechend der anderen Seite der doppelten Geste – d’autre
part –, eine Logik der Spektralität respektieren, welche, wie Der-
rida im obigen Zitat durchblicken läßt, dekonstruktiv ist, so will
Marx genauso Phantome und Geister loswerden, wie Derrida in
seiner Lektüre der Kritik an Stirner in der Deutschen Ideologie
kristallklar zeigt. Natürlich teilt Marx diese Absicht mit den
Junghegelianern (Bauer, Feuerbach, Stirner) – und wie ich be-
haupten würde mit Hegel selbst –, insofern diese Philosophie
und Bewußtsein von den Illusionen befreien wollten, denen sie
sich selbst in der Geschichte unterworfen hatten, im besonderen
der illusorischen Spektralität der Religion. Aber bekanntlich war
das Problem des jungen Marx mit den Junghegelianern, daß sie
sich mit »deutscher Philosophie und nicht deutscher Realität«
beschäftigten und ihre Kritik der Spektralität auf den Bereich
des Bewußtseins und seiner Objekte beschränkten. Aber Marx’
Diskurs war nicht nur gegen die Spektralität und das Vorstel-
lungsdenken der Junghegelianer gerichtet, sondern auch gegen
das Gespenst der Ideologie, d.h. die »rechtlichen, politischen, re-
ligiösen, ästhetischen oder philosophischen« Formen, durch
welche die Ideen der hegemonialen Klasse zu den Ideen der
DEKONSTRUKTION, MARXISMUS, HEGEMONIE 197

Epoche werden, und auch gegen die vom Fetischcharakter der


Warenform und von der Phantomnatur des Tauschwerts chara-
kerisierte bürgerliche Ökonomie.
Darüberhinaus wollte Marx seine Kritik der Spektralität in et-
was verankern, das Derrida als eine Ontologie beschreibt, was
kritisch ist aber prä-dekonstruktiv. Warum prä-dekonstruktiv?
Weil es, um Derridas Worte zu wiederholen, eine Kritik der poli-
tischen Ökonomie ist, die als ihren Horizont oder Grund eine
Konzeption von Präsenz als effektive Realität oder Objektivität
besitzt, worauf Derrida an anderer Stelle bezugnimmt als le-
bende Gegenwart von Leben, Praxis, Produktion und Arbeit. Die
unbeständige Grenze, die Marx’ Text an verschiedenen Punkten
durchzieht, ist jene zwischen dem Dekonstruktiven und dem
Prä-Dekonstruktiven, zwischen Hantologie und Ontologie. Somit
lautet hier die allgemeine Hypothese, daß Marx’ Analyse und
Kritik der Junghegelianer (aus der Deutschen Ideologie) dekon-
struktiv und hantologisch ist, aber prä-dekonstruktiv wird, so-
bald diese Kritik auf eine Ontologie der Präsenz, Effektivität,
Praxis und Objektivität bezugnimmt oder gegründet wird. Derri-
das charakteristisch quasi-transzendentale Behauptung ist, daß
Hantologie die Bedingung der Möglichkeit von Ontologie sei,
d.h. obwohl Marx sich entscheidet, die Kritik des Kapital auf
eine Ontologie der Präsenz zu beziehen, kann diese Entschei-
dung nicht unterdrücken, was wir den spektralen Trieb oder dif-
férance nennen können, welche so eine Ontologie avant la lettre
ruinieren würden. Daher ist Derridas Lektüre, obwohl er mit
beiden Händen liest, nicht unparteiisch, er bietet keine gleichbe-
rechtigte Wahl an zwischen Hantologie und Ontologie. Vielmehr
zeigt er, wie diese Ambivalenz in Marx’ Text strukturiert oder auf
die Bühne gebracht wird, aber Hantologie hat theoretische Prio-
rität, von diesem spektralen Trieb aus werden so etwas wie Ge-
danken geboren. (SdM 260/258)

KONTEXT

Trotz allem, wenn Derridas Hypothese in SdM ein theoretisches


Argument für das Primat von Spektralität vorbringt, ist das dann
Derridas einziger Grund für die Abfassung von SdM? Gibt es
nicht durch SdM hindurch, um ein weiteres prä-dekonstruktives
Paleonym zu verwenden, einen normativen Anspruch, der uns
erlaubt, so etwas wie den Kontext für diesen Text zu einzurich-
ten?
198 SIMON CRITCHLEY

In dem der bereits kommentierten Hypothese folgenden Absatz


macht Derrida die folgende Bemerkung:
»Wenn das Ontologische und das Kritische hier auch prä-dekon-
struktiv sind, so sind die politischen Konsequenzen daraus doch
vielleicht nicht zu vernachlässigen. Und das vor allem – um hier
in aller Kürze darauf hinzuweisen –, was den Begriff des Politi-
schen, was das Politische selbst angeht.« (SdM 270/268)
Der normative Trieb von SdM und was ich so beindruckend, so
dringlich und so klar am Text finde, ist, um einen Gedanken tele-
graphisch auszudrücken, seine Bemühung um eine Politisierung
oder besser Repolitisierung (SdM 144/142) der Dekonstruktion,
eine versuchte Neuerfindung des Politischen in Begriffen einer
marxistischen Hantologie. Aber wogegen streitet Derrida? D.h.,
was sind die politischen Konsequenzen einer prä-dekonstrukti-
ven Ontologie und Kritik? Eine Konsequenz liegt innerhalb des
Marxismus.
Hier ist ein starker Punkt in Derridas Lektüre die Verbindung,
die er zwischen dem von ihm ziemlich euphemistisch so ge-
nannten »totalitäre(n) Erbe des Marxschen Denkens« (SdM
170/168) und der Zurückweisung der Spektralität zieht. Totalita-
rismus, oder was Jean-Luc Nancy »Immanentismus« nennt, ist
in all seinen mehr oder weniger neuen Verkleidungen eine politi-
sche Gesellschaftsform, die von einer Identifikationslogik be-
herrscht wird, wo »alles politisch ist«, d.h. wo von allen Berei-
chen des sozialen Lebens behauptet wird, sie würden inkarnierte
Macht repräsentieren: Das Proletariat wird mit dem Volk identi-
fiziert, die Partei mit dem Proletariat, das Politbüro mit der Par-
tei, der Führer mit dem Politbüro, und so weiter. Totalitarismus
ist das Phantasma einer geschlossenen und transparenten sozia-
len Ordnung, eines geeinten Volkes, unter dem Differenz oder
soziale Teilung verneint wird. In Begriffen von SdM setzt Totali-
tarismus eine Zurückweisung von Spektralität voraus, er stellt,
wie Derrida es ausdrückt, eine »Panik vor dem Phantom im all-
gemeinen« dar, d.h. vor etwas, das der sozialen Ordnung ent-
kommt, sie transzendiert und zurückkommt sie heimzusuchen.
Obwohl Totalitarismus eine groteske Verzerrung des Marxschen
Denkens darstellt, besonders seines, wie ich es sehen würde, de-
mokratischen Ethos (welches natürlich zurecht äußerst kritisch
gegenüber dem Formalismus der bürgerlichen liberalen Demo-
kratie ist und deren Bemühung um politische Gleichheit ohne
ökonomische Gleichheit), so ist klar, wie Totalitarismus eine be-
stimmte Konzeption des »Endes der Politik« in Marx’ Text be-
DEKONSTRUKTION, MARXISMUS, HEGEMONIE 199

erbt – was er die Abschaffung des Staates nennt und worauf En-
gels sich bezieht als dessen Schwinden. Gegen die störende Ten-
denz, innerhalb Marx’ Ontologie das Politische dem Sozio-Öko-
nomischen unterzuordnen, was in den Ökonomismus der Zwei-
ten Internationale überführt wurde, kann Derridas Argument für
eine Logik der Spektralität im Marxismus angebunden werden
an die Forderung nach der Irreduzierbarkeit des Politischen,
verstanden als jener Moment, in dem die sedimentierten Bedeu-
tungen des Sozio-Ökonomischen herausgefordert werden. Erne-
sto Laclaus Radikalisierung Gramscis folgend ließe sich die Lo-
gik der Spektralität mit der Logik der Hegemonie verbinden;
d.h., wenn man – wie man muß – die kommunistische eschatolo-
gische »A-Theodizee« der unweigerlich in Revolution kulminie-
renden ökonomischen Widersprüche zurückweist, dann ist Poli-
tik und politisch-kulturell-ideologische Hegemonisierung für die
Möglichkeit radikaler Veränderung unerläßlich.
Laclau hat auf die hier versuchte Lektüre von SdM in seinem Re-
view-Essay »The Time is Out of Joint« geantwortet, der in
Diacritics erscheinen wird, wo er einige wichtige kritische Klari-
fikationen von Derridas Argumenten anbietet, insbesondere zur
Frage der Notwendigkeit von Inkarnationsdiskursen und der
irreduziblen Teleologie des klassischen Emanzipationsdiskurses,
den Derrida angeblich unterstützen wolle. Doch Laclau ist nicht
überzeugt von der Notwendigkeit des Schritts von einem Begriff
der messianischen Versprechung zu einer ethisch-politischen
Forderung, in dem von mir in diesem Essay und in meinen an-
deren Arbeiten entwickelten Sinn. Für Laclau fließt kein ethi-
scher Imperativ levinasischer Art aus der Unentscheidbarkeit,
und demokratische Politik braucht nicht in einem solchen ver-
ankert werden. Er schließt, indem er die von ihm so einge-
schätzte Ambiguität in Derridas Arbeit zwischen Unentscheid-
barkeit als Terrain der Radikalisierung der Entscheidung und
Unentscheidbarkeit als Quelle einer ethischen Forderung ins
Auge nimmt. Sollte das tatsächlich eine Ambiguität bei Derrida
sein (und ich bin nicht völlig überzeugt davon), dann stehen
Laclau und ich an den gegenüberliegenden Polen dieser Ambi-
guität. Trotzdem habe ich mit der folgenden Diskussion des Poli-
tischen die Ambition zu zeigen, wie diese zwei Pole in eine Form
produktiver Spannung eintreten können.
200 SIMON CRITCHLEY

DAS POLITISCHE

In seiner Dekonstruktion des Marxismus radikalisiert Laclau


Gramscis Kritik am ökonomistischen und historischen Determi-
nismus des traditionellen Marxismus3. Kurz gesagt stellt sich
Laclau gegen die beinahe mechanistische Sicht des Historischen
Materialismus, wie sie in der Zweiten Internationale und in be-
stimmten Marxistischen Texten (als Beispiel war die Einleitung
zu den Grundrissen der Kritik der Politischen Ökonomie ange-
führt) vertreten wird, mit einem Verständnis von Geschichte,
das auf der Irreduzibilität von Klassenkampf und Antagonismus
basiert – eine Tendenz, die man auch in Texten von Marx finden
kann, zum Beispiel am Beginn des Kommunistischen Manifests.
So glaubt Laclau nicht, obwohl er die traditionelle marxistische
Darstellung des Kapitalismus in Begriffen seiner oft verderbli-
chen dislokatorischen Effekte unterstützen würde, daß diese
Dislokationen einfach der vermeintlichen ökonomischen und hi-
storischen Objektivität der Widersprüche zwischen Produktiv-
kräften und -verhältnissen zugeschrieben werden können, son-
dern vielmehr die Konsequenz von fortgesetzten »hegemonialen
Artikulationen« sind (für mich das zentrale Konzept in Laclaus
Arbeit), von Eingriffen des Politischen und des Ideologischen in
den sozio-ökonomisch-historischen Bereich, wo Basis und Über-
bau einen, wie Gramsci es nennen würde, »historischen Block«
formen. Solche hegemonialen Artikulationen fixieren oder stabi-
lisieren vorübergehend die Bedeutung der sozialen Beziehungen
zu einem vergänglichen Gleichgewicht. Solch ein »hegemoniales
Gleichgewicht« ist nicht in Richtung einer kommunistischen,
von Macht, Kontingenz, Antagonismus und selbst Politik freien
Gesellschaft hin zu überschreiten – die millenaristische Vision
kommunistischer Gesellschaft, die manchmal über Marx die
Oberhand gewinnt, und die – aus dem Privileg der späten Ein-
sicht heraus – allzuleicht mit dem totalitären Mythos der sozia-
len Transparenz verwechselt werden kann. Im Gegensatz zur
traditionellen marxistischen Theodizee, die behaupten würde,
daß die Dislokationen des Kapitalismus unerbittlich zur Verein-
fachung der Klassenstruktur und zur Heraufkunft des Proleta-
riats als der revolutionären Klasse und dem privilegierten Agen-
ten der Geschichte führen würde, macht Laclau geltend, daß ge-
nau diese dislokatorischen Effekte des Spätkapitalismus – woran
wir mit dem Phänomen der kombinierten und ungleichen Ent-
DEKONSTRUKTION, MARXISMUS, HEGEMONIE 201

wicklung denken könnten – stattdessen zu einer fortschreiten-


den Fragmentierung des Sozialen und einer Vervielfachung so-
zialer Akteure führt (etwa die Abnahme der organisierenden
Kraft des Staates und der Glaubwürdigkeit traditioneller politi-
scher Parteien sowie das zunehmende Hervortreten ethnischer,
nationaler, sexueller oder ökologischer Protestbewegungen).
Vielleicht ist Laclaus am meisten herausfordernde und kontro-
versielle These, daß diese Phänomene von Dislokation und Frag-
mentierung nicht bloß zu einer Vervielfältigung politischer Mög-
lichkeiten führen, sondern darüberhinaus die Bedingungen sind,
unter denen so etwas wie Freiheit möglich ist; daß Freiheit eine
Konsequenz von Dislokation ist. Die demokratische Transforma-
tion der Gesellschaft – was ich immer noch Sozialismus nennen
möchte – ist eine dieser politischen Möglichkeiten (und nur eine,
es gibt insbesondere auf der radikalen Rechten andere, die in
den vergangenen Jahrzehnten signifikant erfolgreicher in ihren
Hegemonisierungsbestrebungen waren), aber es gibt keine öko-
nomische oder historische Unvermeidlichkeit eines solchen Er-
gebnisses. Sozialismus wird nur die Konsequenz, oder besser,
die permanente Aktivität einer intensiven hegemonialen Artiku-
lation und politischen Anstrengung sein. Es ist, um das wenigste
zu sagen, unklar, ob der traditionelle Begriff der politischen Par-
tei, gebunden an den Nationalstaat, einer solchen Aufgabe ange-
messen ist.
Ein erweiterter Hegemoniebegriff wird zum Argument für das
Primat der Politik über sozio-ökonomische Verhältnisse, obwohl
Politik in keiner Weise ohne kontinuierliche Bezugnahme auf
diese verfahren kann und das auch um derentwillen tut. Als sol-
ches deutet das Hegemoniekonzept gleichzeitig in zwei verschie-
dene zeitliche Richtungen: zuerst ist Hegemonie, mit Bezug auf
die Geschichte, ein Weg zu erklären, wie bestimmte soziale Ver-
hältnisse fixiert wurden, und zeigt, daß so ein Fixieren nicht die
Konsequenz der »objektiven« Widersprüche zwischen Produkti-
vkräften und -verhältnissen ist, sondern vielmehr das Produkt
von Kontingenz, Antagonismus und Macht, was heißt, es ist die
Konsequenz einer Entscheidung (d.h. die Transformation von
Geschichte in Genealogie). Zweitens läßt das Konzept der Hege-
monie die Zukunft radikal offen und unbestimmt, was bedeutet,
daß nichts garantiert ist, aber auch nichts verloren, zumindest
noch nicht. Aus dieser Sicht kann gesagt werden, daß wir weni-
ger am Ende der Geschichte stehen als an einer Art Anfang, an
dem Punkt, an dem wir die radikale Kontingenz und Unbe-
202 SIMON CRITCHLEY

grenztheit unserer Endlichkeit anerkennen können. Eine solche


Situation muß nicht in den Pessimismus eines Adorno oder in
die Passivität oder die Resignation eines späten Heidegger
führen, sondern kann auch die Voraussetzung für eine »neue Mi-
litanz und neuen Optimismus«4 sein.
Wenn Dekonstruktion der Versuch ist, die konstitutive Unent-
scheidbarkeit, radikale Unvollständigkeit oder Nicht-Totalisier-
barkeit textueller, institutioneller, kultureller, sozialer und öko-
nomischer Strukturen zu zeigen, dann ist Hegemonie eine Theo-
rie der auf dem von der Dekonstruktion eröffneten unentscheid-
baren Terrain getroffenen Entscheidungen, was aus meiner
Sicht genau die Weise ist, in der wir beginnen können, über die
Politik der Dekonstruktion nachzudenken. Die brennende Frage
ist hier, ob und wie wir die Logik der Dekonstruktion mit der Lo-
gik der Hegemonie verbinden können: lähmt Unentscheidbar-
keit die Möglichkeit der Entscheidung oder ganz im Gegenteil,
eröffnet sie diese erst?
SdM betreffend hängt das Schicksal der Frage nach Dekonstruk-
tion und Hegemonie aus meiner Sicht an der Interpretation des
folgenden Gedankens: Derrida behauptet, daß angesichts der all-
gemeinen Dislokation der gegenwärtigen Welt das Messianische
zaudert, es bangt. So schreibt er:
»Dieses messianische Zaudern legt keine Entscheidung, keine
Zustimmung, keine Verantwortung lahm. Es stellt im Gegenteil
die elementare Voraussetzung dafür dar. Es ist die Erfahrung
von Entscheidung, Zustimmung, Verantwortung selbst.« (SdM
269/267)
Ist messianisches Zaudern die Erfahrung der Entscheidung? Das
ist hier die Frage, wie Hamlet zu sich sagen würde. Sollte unsere
Antwort positiv ausfallen, dann wären wir fähig, die Logiken von
Dekonstruktion und Hegemonie an dieser Stelle zu verlöten.
In SdM spricht Derrida tatsächlich von Hegemonie. Er benutzt
das Wort – das nach meinem Wissen relativ neu in seinem Voka-
bular ist5 – bei zumindest acht Gelegenheiten (SdM 69[x2],
73[x2], 90, 91, 96–7, 149/37[x2], 40[x2], 51, 52, 55, 90), meistens
während der Diskussion von Fukuyama und dem sogenannten
Tod des Marxismus. Beim ersten Gebrauch des Wortes bezieht
er sich sogar auf Laclaus Werk und macht die interessante und
wertvolle Bemerkung: »Die Heimsuchung gehört zur Struktur
jeder Hegemonie« (SdM 69/67). Allerdings, statt Hegemonie
eher als Theorie der Entscheidung und positiven Möglichkeit
der Politisierung zu sehen, (miß)versteht Derrida Hegemonie in
DEKONSTRUKTION, MARXISMUS, HEGEMONIE 203

ihrem negativen traditionellen Sinn als Beherrschung. Er


schreibt beispielsweise, daß »eine Dogmatik versucht, ihre welt-
weite Hegemonie zu errichten, unter paradoxen und verdächti-
gen Bedingungen. Es gibt heute in der Welt einen dominierenden
Diskurs … etc.« (SdM 90/88). Das ist unglücklich. Doch wenn
auch das Hegemoniekonzept in SdM auf traditionelle Weise
(miß)verstanden ist, so arbeitet trotzdem, wie ich glaube, eine
Logik der Hegemonie im Text. Diese Logik dreht sich um eine
Phrase, die einen Teil des Untertitels des Buches darstellt, und
die wir, in George Sorels Terminologie, als den mobilisierenden
»Mythos« von SdM beschreiben könnten: Die Neue Internatio-
nale.6 Auf viele Arten ist das der Schlüssel zu SdM, aber meine
Sorge ist, ob dieser Schlüssel in das Loch der gegenwärtigen po-
litischen Situation paßt.
Derrida listet in einer Art tableau noir (SdM 134–39/132–37) auf,
was er die zehn Heimsuchungen der »Neuen Weltordnung«
nennt. Nachdem er Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und andere
Nöte aufgelistet hat, ist der letzte Punkt auf seiner Liste, der den
anderen übergeordnet ist (»vor allem, vor allem«, schreibt er,
SdM 138/136), der gegenwärtige Zustand des internationalen
Rechts, das er richtigerweise als von den Interessen bestimmter
»hegemonialer« Nationalstaaten dominiert sieht. In Abgrenzung
davon schlägt Derrida vor, wir würden eine Neue Internationale
benötigen: »Eine ›neue Internationale‹ sucht sich durch diese
Krisen des internationalen Rechts hindurch; sie denunziert be-
reits die Grenzen eines Diskurses über die Menschenrechte, der
unangemessen, manchmal scheinheilig, auf jeden Fall formal
und in sich selbst inkonsequent bleibt … « (SdM 141/138–39).
Diese Referenz auf den Formalismus der Menschenrechte, in
der die hegelianisch-marxistische Kritik an deren Abstraktion
und Einseitigkeit widerhallt, ist erhellend und wird von einigen
näheren Bestimmungen der Neuen Internationale gefolgt. Er
schreibt über das Band, um das herum sich so etwas wie Solida-
rität formen kann: »Es ist ein Band der Verwandtschaft, des Lei-
dens und der Hoffnung, ein noch diskretes Band, wie um 1848,
das aber immer sichtbarer wird – dafür gibt es mehr als ein Zei-
chen.« (SdM 141/139). So wäre die Neue Internationale um ein
gemeinsames Band oder Glied fokusiert, welches – zumindest zu
diesem geschichtlichen Zeitpunkt – fast geheim ist. Derrida fährt
weiter mit der Behauptung, dieses Band wäre »zuordnungs-,
partei- und heimatlos, ohne nationale Gemeinschaft (Internatio-
nale vor und jenseits jeder nationalen Bestimmung und über
204 SIMON CRITCHLEY

diese hinaus), ohne Mitbürgerschaft und ohne gemeinsame Zu-


gehörigkeit zu einer Klasse« (SdM 142/139–40). Ein seltsames
Band also: Ohne Bezugnahme auf die Figuren der Gemein-
schaft, Klasse, Partei, Nation oder den anderen traditionellen
Mitteln kollektiver Identifikation oder Hegemonisierung. Und
doch insistiert Derrida, daß dieses Band der Neuen Internatio-
nale durch wenigstens einen der Geister des Marxismus inspi-
riert sei. Welchen? Klarerweise nicht der ontologische Marxis-
mus des Proletariats, der Partei und der Revolution, wie sie be-
reits als ontologisch charakterisiert wurden. Derrida fährt in
einer erhellenden Passage fort, die ich in ihrer ganzen Länge zi-
tiere:
»Wenn es nun einen Geist des Marxismus gibt, auf den zu ver-
zichten ich niemals bereit wäre, dann ist das nicht nur die kri-
tische Idee oder die fragende Haltung (die Derrida auf der
vorhergehenden Seite als den Geist der Aufklärung qualifi-
ziert, S. C.) … Es ist eher eine gewisse emanzipatorische und
messianische Affirmation, eine bestimmte Erfahrung des Ver-
sprechens, die man von jeder Dogmatik und sogar von jeder me-
taphysisch-religiösen Bestimmung, von jedem Messianismus zu
befreien versuchen kann. Und ein Versprechen muß verspre-
chen, daß es gehalten wird, das heißt, es muß versprechen, nicht
›spirituell‹ oder ›abstrakt‹ zu bleiben, sondern Ereignisse zu zei-
tigen, neue Formen des Handelns, der Praxis, der Organisation,
usw. Mit der ›Parteiform‹ oder mit dieser oder jener Form des
Staats oder der Internationale zu brechen heißt nicht, auf jede
praktische oder effektive Form von Organisation zu verzichten.
Genau das Gegenteil ist es, was uns hier am Herzen liegt.« (SdM
146–47/ 145)
Ich könnte nicht mehr zustimmen. Die Neue Internationale muß
dem Geist der marxistischen Idee der Kritik (Kritik der Ideologie
und des Kapitals) und des quasi-atheistischen Begriffs von mes-
sianischer Bejahung und Versprechen folgen, das im Namen von
Gerechtigkeit und Emanzipation fortschreitet. Darüberhinaus
muß ein solches kritisches und messianisches Versprechen mit
der Absicht gemacht werden, auch gehalten zu werden, und so
muß das Versprechen der Neuen Internationale ihrerseits wie-
derum neue Formen von Organisation, Aktivismus und politi-
scher Aggregation entstehen lassen. In Relation zu dem, was
Derrida über la démocratie à venir sagt, kann die Dringlichkeit
der neuen Internationale nicht unendlich aufgeschoben oder
DEKONSTRUKTION, MARXISMUS, HEGEMONIE 205

verschoben werden; man muß sich ihr in messianischen Begrif-


fen annähern als l’ici maintenant sans présence.
Für Derrida ereignet sich der ethisch-politische Imperativ des
Marxismus jetzt, er ist in genau diesem Augenblick bewahrt und
nicht in eine utopische Zukunft verschoben. Es scheint mir, daß
die gesamte Plausibilität von SdM abhängt von diesem schwieri-
gen Gedanken des hier- und jetzt-Behaltens ohne Präsenz als un-
mögliche Erfahrung der Gerechtigkeit. Wenn sich dieser Gedanke
als absolut nicht intelligibel erweisen sollte, dann kann man Der-
rida möglicherweise nicht weiter folgen.
Derrida verbindet die Verfügung der différance oder die Verfü-
gung Marx’ mit seinem Begriff der zu kommenden Demokratie
(la démocratie à venir), die ein zunehmend persistentes Thema in
Derridas letzten Arbeiten war (SdM 110-111/109-110). Wie-
derum ist Derrida bemüht, la démocratie à venir von der Idee
einer zukünftigen Demokratie zu unterscheiden, wo die Zukunft
eine Modalität der lebendigen Gegenwart wäre, nämlich des
noch-nicht-Präsenten. Derridas Diskurs ist an diesem Punkt
voller Negationen: Demokratie darf nicht mit der lebendigen
Gegenwart liberaler Demokratie verwechselt werden, wie sie als
Ende der Geschichte von Fukuyama gepriesen wurde, noch ist
sie eine regulative Idee oder eine Idee im kantischen Sinn, nicht
einmal ein Utopia, insofern alle die Konzepte die Zukunft als
eine Modalität der Gegenwart verstehen (SdM 110/109). Es ist
hier eine Frage der Verknüpfung von la démocratie à venir mit
différance, im bereits erwähnten Sinn verstanden als l’ici mainte-
nant sans présence, als eine Erfahrung der Unmöglichkeit, ohne
die Gerechtigkeit bedeutungslos wäre. In diesem Sinn meint la
démocratie à venir nicht, daß morgen (und morgen und morgen)
Demokratie realisiert sein wird, sondern vielmehr daß die Erfah-
rung von Gerechtigkeit als das Jetzt-Bewahren des Verhältnisses
zu einer absoluten Singularität das à venir der Demokratie dar-
stellt. Die Temporalität der Demokratie ist Kommen, sie ist jetzt
stattfindende Ankunft. Wie ich an anderer Stelle gemutmaßt
habe, ist Demokratie die Zukunft der Dekonstruktion, aber diese
Zukunft ereignet sich jetzt, sie ereignet sich indem das Jetzt das
Kontinuum der Gegenwart durchbricht7. In diesem Sinne sollten
wir von la démocratie à venir nicht als einer fixierten politischen
Gesellschaftsform sprechen, sondern eher als einem Prozeß der
Demokratisierung.
Die Neue Internationale also geschieht jetzt, zu genau diesem
Zeitpunkt. Derrida schreibt:
206 SIMON CRITCHLEY

»Und es gibt Zeichen. Es ist wie ein neue Internationale, doch


ohne Partei oder Organisation oder Mitgliedschaft. Es ist Su-
chen und Leiden, es weiß, daß etwas falsch läuft, es akzeptiert
nicht die ›neue Weltordnung‹ … «8
Aus meiner Sicht scheint Derrida hier zu versuchen, die Vorbe-
dingungen für eine neue sozialistische hegemoniale Artikulation
zu umreißen, eine politische Entscheidung getroffen im Namen
der Gerechtigkeit und angesichts der Leiden der Welt.
Die einzige Frage, die ich hier habe, lautet: Wie kann die Neue In-
ternationale hegemonisiert werden? Welche Formen und Mittel
sollte sie einsetzen? Um welche Figuren herum sollte sie agitie-
ren? Sollte sie um Figuren herum agitieren? Wen schließt sie
ein? Wem stellt sie sich entgegen? Stellt sie sich entgegen?
Schließt sie aus?
Ich habe keine überzeugenden Antworten auf diese Fragen, und
ich bin nicht wirklich gewöhnt, die Massen mit Prophezeiungen
zu beliefern, aber, um zu schließen, möchte ich drei kritische Ge-
danken wagen:
1. Ich halte Derridas Vorschläge betreffend des Subjekts der
Neuen Internationale für ein wenig vage. Er behauptet, die neue
Internationale » … gehört nur der Anonymität an« (SdM
148/147). Im selben Paragraph fährt er mit dem Vorschlag fort,
daß innerhalb der akademischen und intellektuellen Welt die
Neue Internationale jene einschließt, die dem anti-marxistischen
Dogma der letzten Jahre widerstanden hätten und dem Geist der
Aufklärung gegenüber hyper-kritisch geblieben seien, ohne die
Ideale von Demokratie und Emanzipation zurückzuweisen. Wen
hat Derrida hier im Sinn? Jürgen Habermas?
2. Auch die Grenzen der Neuen Internationale beginnen etwas
vage auszusehen, wenn Derrida schreibt: »Ob sie es wollen und
wissen oder nicht, alle Menschen auf der ganzen Erde sind heute
in gewissem Maße die Erben Marx’ und des Marxismus« (SdM
149/147). Vielleicht hat er recht. Aber was weiter? Könnte nicht
dasselbe – mit vielleicht größerer Rechtfertigung – von Adam
Smith oder John Locke gesagt werden? Sind wir nicht alle Erben
ihrer Marketing-Strategien? Folglich gibt es an diesem Punkt
das Risiko eines ziemlich leeren Universalismus von Derridas
Seite.
3. Zuletzt die Frage der Organisation. Obwohl Derrida zurecht
an der Idee einer kommunistischen Partei als das privilegierte
und einzige Mittel revolutionärer Veränderung zweifelt, verbin-
det er das mit einem eher fragwürdigen historischen Positivis-
DEKONSTRUKTION, MARXISMUS, HEGEMONIE 207

mus, der behauptet: »Was vielleicht in der sich ankündigenden


politischen Welt dazu tendiert, zu verschwinden – und vielleicht
auch in einer neuen Epoche der Demokratie –, das ist die Vor-
herrschaft jener ›Partei‹ genannten Organisationsform … «
(SdM 167/164). Auf der nächsten Seite sagt er weiters über diese
Hypothese, » … daß diese Umwandlung schon begonnen hat
und daß sie irreversibel ist« (SdM 168/165). Derrida versieht
diese Hypothese mit zwei Behauptungen: (i) daß das Korrelat
der Partei, d.h. der Staat, ebenfalls erschöpft sei; und (ii) der Be-
griff der Partei sich nicht den Erfordernissen der von Medien
und Teletechnologie dominierten gegenwärtigen Öffentlichkeit
anpassen könne. Bezüglich des zweiten Punktes kann ich zwei
Worte anbieten: Forza Italia. Wenn Derrida recht hat, wie läßt
sich der kurze aber erstaunliche Wahlerfolg dieser Allianz er-
klären, die eine ziemlich klassische Parteistruktur mit den Erfor-
dernissen der televisuellen Medienformen (aus meiner Sicht völ-
lig zynisch) zu verbinden scheint? Einer Analyse der südafrika-
nischen Wahlen von 1994, die allerdings ein fortschrittlicheres
Ergebnis hatten, würde ebenfalls diese Frage der Verbindung
zwischen Parteiform (in diesem Fall ANC), Medien und demo-
kratischem Prozeß bedenken. Trotzdem ist, um zum ersten
Punkt zurückzukommen, meine Frage die folgende: Wenn die
politische Partei kein adäquates Vehikel für die Beförderung von
etwas wie der Neuen Internationale ist, was gerechtfertigt sein
mag, obwohl ich meine (zweifellos nostalgischen) Zweifel daran
habe, wie läßt sich dann etwas wie die Neue Internationale
außerhalb traditioneller Parteistrukturen hegemonisieren? Wel-
che Identifikations-, Figurations- und Hegemonisierungsmittel
sind erreichbar? Wie arbeitet man schließlich außerhalb tradi-
tioneller Parteistrukturen, ohne in eine »teile und herrsche« De-
signer-Politik des Individualismus zu verfallen oder sich auf die
immer bescheidenen sozio-ökonomischen Veränderungen einer
single issue-Politik zu beschränken – oder, schlimmste aller Wel-
ten, sich einer inner-akademischen Politik des leeren Radikalis-
mus und der Reaktion zu verschreiben?
208 SIMON CRITCHLEY

ANMERKUNGEN

1 Die angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Paginierung des


französischen Texts von Spectres de Marx (Paris 1993), gefolgt von der
Paginierung des deutschen Texts.
2 Les fins de l’homme. A partir du travail de Jacques Derrida (Galilée, Paris,
1981), S. 526–27
3 Meine kurze Präsentation der Laclauschen Arbeiten basiert eher auf dem
titelgebenden Eröffnungsessay zu New Reflections on the Revolution of
our Time (Verso, London, 1990 S. 3–85) als Laclau und Mouffes Hege-
mony and Socialist Strategy (Verso, London, 1985), dt. als Hegemonie und
radikale Demokratie (Passagen, Wien, 1991), das dieselbe Dekonstruktion
des Marxismus aus einer einer Genealogie des Hegemoniekonzepts her-
aus präsentiert.
4 New Reflections on the Revolution of our Time, op.cit. S. 82
5 Obwohl Derrida von »l’hégémonie centralisatrice« und »l’hégémonie na-
tionale« in L’autre cap (Minuit, Paris, 1991), S. 45 und 48, spricht.
6 Dieser Begriff wird zuerst in Kapitel 1 (SdM 58/56), doch erhält er eine
ausführlichere Diskussion als Zentralstück von Kapitel 3
7 Sh. »The Ethics of Deconstruction«, op.cit. S. 241
8 »The Deconstruction of Actuality«, op.cit. S. 39
Poststrukturalismus und Postmarxismus

JUDITH BUTLER

Ich möchte zwei Begriffe – »Poststrukturalismus« und »Post-


marxismus« – einander gegenüberstellen, nicht nur weil sie in
einer Reihe rezenter Theorien zusammenlaufen, sondern weil es
scheint, daß es eine Art Verbindung gibt, eine in der Tat histori-
sche Verbindung zwischen beiden, die befragt sein will. Man
mag erwarten, daß ein Zugang gewählt würde, der die Emergenz
und das Leben der Reihe von Theorien namens »Poststruktura-
lismus« im Verhältnis zum sogenannten Niedergang des Marxis-
mus versteht, und daß mit diesem »Niedergang« die Auflösung
der marxistischen Staaten gemeint sei; statt dessen werde ich
vorschlagen, daß einige Poststrukturalismen nun die unbeab-
sichtigten politischen Möglichkeiten theorisieren, die sich durch
den Verlust der Glaubwürdigkeit auftaten, den marxistische Ge-
schichtsversionen vor kurzem erlitten haben.
Ich nehme an, daß manche eine gründliche Historisierung des
Poststrukturalismus bevorzugen würden, als wäre Historisie-
rung von der Arbeit des Poststrukturalismus zu trennen oder ihr
vorgängig; diese Historisierung würde durch ihre Einsetzung die
Widerlegung des Poststrukturalismus herbeiführen, dessen
letzte Überwindung. Aber hier, an der Frage, was tatsächlich Hi-
storisierung herbeiführt, ist der philosophisch ausgebildete Den-
ker gezwungen haltzumachen. Die Frage wird für mich tatsäch-
lich nicht sein, wie man Poststrukturalismus im Verhältnis zum
Niedergang des Marxismus oder sogar im Verhältnis zu den in-
tellektuellen Bewegungen, die als »postmarxistisch« bezeichnet
werden, historisieren könne. Im Gegenteil, ich möchte fragen,
wie das Zusammenlaufen von Poststrukturalismus und Post-
marxismus bestimmte Fragen bezüglich des Historisierungspro-
zesses selbst hervorbringt.
Im besonderen möchte ich vorschlagen, daß in rezenten Gesell-
schaftstheorien, die durch das offensichtliche Scheitern marxi-
210 JUDITH BUTLER

stischer Teleologien informiert sind, Theorie sich in einer Zeit-


lichkeit einrichtet, die in einem wesentlichen und notwendigen
Verhältnis zu der Geschichte situiert ist, die es nicht mehr gibt.
Laclau wird sich auf diese Version von Geschichte als eschatolo-
gisch beziehen, während Drucilla Cornell sie messianisch nen-
nen wird. In beiden Fällen jedoch ist es nicht so, daß diese Ver-
sion von Geschichte sich erledigt hätte, stattgefunden hätte und
nun vorüber wäre; eher trifft zu, daß der Glaube an die Möglich-
keit, daß eine solche Geschichte je stattfinden könne, unabhän-
gig von ihrer zeitlichen Verortung in Vergangenheit, Gegenwart
oder Zukunft, sich nun in permanenter Krise befindet.1
Mit diesem Begriff im Hinterkopf möchte ich kurz das Werk
eines Theoretikers und einer Theoretikerin betrachten, für die
der Glaube in eine bestimmte Version von Geschichte erklärter-
maßen nicht länger möglich ist: Der erste ist Ernesto Laclau, der
postmarxistische Theoretiker, dessen Bücher Hegemonie und ra-
dikale Demokratie, zusammen mit Chantal Mouffe, und New Re-
flections on the Revolution of Our Times einschließen; die zweite
ist Drucilla Cornell, Philosophin und Rechtswissenschafterin,
die unlängst Beyond Accommodation publiziert hat, ein Werk zu
feministischer Rechtswissenschaft, und The Philosophy of the Li-
mit, ein Werk zu Dekonstruktion und Gesetz. Im folgenden
werde ich mich hauptsächlich auf den Essay »Beyond Emanci-
pation« von Laclau und auf Abschnitte aus Cornells Philosophy
of the Limit beziehen.
In beiden Texten erscheint nicht länger erfüllbar, was als das Ver-
sprechen messianischer Geschichte verstanden werden mag. Das
ist nicht die Position, wie sie mit Francis Fukuyama und vor ihm
Alexandre Kojève assoziiert wird, daß nämlich Geschichte an ihr
Ende gekommen sei, und daher ist es nicht vom Jenseits des En-
des der Geschichte, von wo aus die beiden Theoretiker schrei-
ben. Vielmehr hat sich das »Ende«, auf das zu – wie man dachte
– Geschichte sich bewegen würde, als illusorisch erwiesen; es ist
entweder permanent verschoben oder aufgeschoben, um die de-
konstruktive Terminologie zu verwenden, oder es wurde als ein
unmögliches Ideal entlarvt. In diesem Sinne unterscheiden sich
diese Positionen, die wir lose poststrukturalistisch nennen kön-
nen, von Kojèves Hypothese, wie sie in Fukuyama nachhallt, daß
Geschichte an ein Ende gekommen sei und wir nun in einer
posthistorischen Zeit leben würden. Die poststrukturalistische
Position, wenn es eine Position ist, argumentiert, daß dieses
Ende in der Zukunft liegt, aber – und das ist die zentrale Wende
POSTSTRUKTURALISMUS UND POSTMARXISMUS 211

– in einer Zukunft, die im Prinzip unrealisierbar ist. Das Verspre-


chen der Geschichte ist dazu bestimmt, gebrochen zu werden.
Das Ende der Geschichte ist eine Unmöglichkeit; es geschah nie,
und es wird nie geschehen. Es ist ein Ideal, und wenn es statt-
fände, würde es sofort in seiner Idealität bezwungen werden,
und somit nicht mehr verstanden in der Ordnung des Ereignis-
ses. Aber in keiner dieser Formulierungen ist die Signifikanz der
Geschichte durch das Postulat ihrer Unrealisierbarkeit annul-
liert. Im Gegenteil, in einem Sinn, den zu befragen noch wichtig
wird, ist die Unrealisierbarkeit des Endes der Geschichte genau
die Garantie für Zukünftigkeit, denn wenn Geschichte ein Ende
hätte, ein Telos, und wenn dieses Ende in der Gegenwart erkenn-
bar wäre, dann wäre die Zukunft bereits vor ihrem Eintreten be-
kannt, und die Zukunft wäre immer schon gegenwärtig. Seltsa-
merweise würde das Postulat des Endes der Geschichte – ein Po-
stulat, das immer in der Gegenwart stattfindet – dieses Ende der
Gegenwart einverleiben und damit die eigentliche Geschichte,
die das Postulat antizipiert, verwerfen. Der Zukunft eine defini-
tive Form zuzuschreiben, heißt, sie von vornherein zu kennen,
und dann die eigentliche Unerkennbarkeit, genau die Kontin-
genz, die die Zukunft als etwas kennzeichnet, das noch nicht ist,
zu verwerfen und auszuschließen.
Es ist genau dieser Spalt, diese Differenz zwischen Antizipieren
und Wissen, den Laclau und Cornell bewahren wollen. Diese Be-
wahrung ist eine seltsame Form von Aktivität, denn sie ist die
Bewahrung genau dessen, was begrifflich nicht vollständig ge-
meistert werden kann; es ist das Ausstrecken nach dem, was
dem kognitiven und linguistischen Griff der Gegenwart ent-
kommt, und es ist daher der Akt, durch den eine nicht meister-
bare Zukunft gesichert wird. Auf bestimmte Weise wird die he-
gelianische Sicht auf Geschichte von Laclau wie Cornell voraus-
gesetzt; tatsächlich wird sie in ihrer Unmöglichkeit vorausge-
setzt. Aber was bedeutet das? Für Laclau war das Versprechen
des Hegelianismus, durch Geschichte eine in universellen Prin-
zipien gegründete Gemeinschaft herzustellen, eine Gemein-
schaft, die durch diese Universalität zusammengehalten wird.
Aber ein Folgesatz des hegelianischen Erbes ist, daß das soziale
Andere, um für einen Moment hegelianisch zu reden, nicht voll-
ständig erkennbar, nicht vollständig assimilierbar ist, d.h. in sei-
ner Alterität undurchsichtig bleibt. Ein ähnliches Paradox ver-
folgt den dekonstruktiven Futurismus Cornells. Für sie soll der
Anspruch des Ethischen – ein Begriff, den sie von Levinas über-
212 JUDITH BUTLER

nimmt – genau eine Gemeinschaft bilden, in der Anerkennung


einen uniformen Willen weder manifestiert noch produziert,
sondern eine, in der die Anerkennung des Anderen immer auch
ein Scheitern ist, diesen Anderen zu kennen. Für Laclau ist so-
ziale Emanzipation, soweit sie das Ideal von Universalität bein-
haltet, von einem rivalisierenden Ideal durchkreuzt, das die Un-
meisterbarkeit des Anderen anerkennt. Und wo für Hegel das
Universale im partikularen Anderen vermittelt und eine Harmo-
nie zwischen ihnen erreicht werden sollte, ist klar, daß für
Laclau – wie für Cornell – genau das Scheitern der Vermittlung
den Dynamismus des demokratischen Prozesses sichert. Denn
die Ausdehnung von Universalität beinhaltet die Auslöschung
von Differenz, und der Begriff der Vermittlung beinhaltet, daß
Universalität und Differenz nur durch die Unterordnung der Dif-
ferenz unter Universalität versöhnt werden können; Harmonie
wird dann durch Beherrschung erreicht, und Vermittlung stellt
sich als die Auslöschung von Differenz heraus – und weniger als
deren Anerkennung.
Genau die Unmöglichkeit von hegelianischer Geschichte wird
somit für Laclau zur Bedingung einer bestimmten Art demokra-
tischen Wettstreits, denn insofern keine Vermittlung zwischen
den Forderungen nach Universalität und den Forderungen nach
Differenz erreicht wird, erscheint, wie Laclau argumentiert, ein
bestimmter Antagonismus zwischen den zwei Forderungen und
mobilisiert und dynamisiert das Feld des demokratischen Wett-
streits. Mit anderen Worten, wir sollten froh sein, daß es keine
Garantie auf Harmonie zwischen miteinander streitenden For-
derungen gibt, denn es ist wertvoller, das Feld des Wettstreits zu
bewahren, als von vornherein dessen harmonischen Abschluß zu
garantieren. Tatsächlich liegt die Gefahr der Demokratie, wie
Laclau und Mouffe sagen würden, in der Verwerfung des Felds
des Wettstreits, der Vorentscheidung darüber, was und was nicht
als Forderung in solch einem Feld qualifiziert ist.
Für Cornell liegt das Scheitern der hegelianischen Geschichte in
der Unmeisterbarkeit des Anderen, und hier schlägt sie vor, daß
was der Assimilation in die Geschichte widersteht, was das unas-
similierbare »Außen« dieser Geschichte konstituiert, genau die
Undurchsichtigkeit und Alterität des Anderen ist. Das ethische
Verhältnis ist genau ein Streben nach einem sozialen Gut, in
dem volle Anerkennung verbürgt ist, aber es ist genau das Schei-
tern daran, diesen Status gegenseitiger Anerkennung je zu errei-
chen, was das ethische Verhältnis als ethisches garantiert.
POSTSTRUKTURALISMUS UND POSTMARXISMUS 213

Ethisch zu sein, heißt mit anderen Worten, in einem radikal un-


erreichbaren Verhältnis zum Anderen zu stehen, darin zu schei-
tern, den Anderen zu meistern, und das Scheitern dieses Mei-
sterns durch das Markieren der Grenzen der Anerkennung zu
kennzeichnen. Wenn man, in hegelianischen Begriffen, volle An-
erkennung aussprechen wollte, müßte man den Anderen als eine
Version von sich selbst etablieren, aber es ist genau das Unmei-
sterbare im Anderen, das – nach Cornell – in und durch das ethi-
sche Verhältnis bewahrt werden muß.
In Beyond Accommodation breitet Cornell die spezifischen femi-
nistischen Konsequenzen für ein Überdenken des ethischen Ver-
hältnisses aus. Während die Figur des »unmeisterbaren« und
»mysteriösen« Femininen in maskulinistischen ethischen Befra-
gungen verwandt wurde, um die eines reziproken Verhältnisses
zwischen Männern und Frauen zu befestigen, behauptet Cornell,
daß genau diese Unmeisterbarkeit im Feminismus neubewertet
weden sollte, um ethische Gegenseitigkeit als eine List zu entlar-
ven. Das Feminine muß aus ihrer Sicht unmöglich – im Sinne
von unrealisierbar – bleiben, damit Feminismus der »Anpas-
sung« an existierende Gender-Ungleichheiten widersteht. In dem
Ausmaß, in dem gegenwärtige Repräsentationsweisen diese Un-
gleichheiten voraussetzen und reinstallieren, ist feministische
Forschung gezwungen, die Grenzen der Repräsentierbarkeit als
solcher zu denken. In diesem Sinn besetzt Cornell utopisches
Denken neu als (a) die Weigerung, die Möglichkeit von Gegen-
seitigkeit in gegenwärtigen repräsentationellen Schemata anzu-
nehmen; und (b) das Neudenken des Ethischen und des Utopi-
schen als genau ein Denken der Grenze der Repräsentierbarkeit.
In ihren Worten
»verlangt utopisches Denken das fortgesetzte Erkunden und
Wiedererkunden des Möglichen und doch auch Unrepräsentier-
baren. Dekonstruktion erinnert uns an die Grenzen der Vorstel-
lung, aber eine Grenze anzuerkennen, heißt nicht, die Vorstel-
lung zu verneinen. Es ist einfach das: die Anerkennung der
Grenze. Das politische Bedürfnis nach der Beachtung von Gren-
zen wie nach deren Vorstellung resultiert aus der Gefahr, daß je-
des vorgestellte Schema wieder als die einzige Wahrheit gesehen
werden wird.« [Beyond Accommodation 169]
Diese Art Denken schlägt vor, daß es die Grenze der Erkennbar-
keit ist, die man im Anderen erkennt, wenn man in einem ethi-
schen Verhältnis mit dem Anderen steht, eine Grenze, die durch
die Grenzen der Darstellbarkeit bedingt ist. Weit von einer femi-
214 JUDITH BUTLER

nistischen Forderung entfernt, volle Repräsentation vor dem Ge-


setz zu erwerben, ist Cornells Rezept, daß Feminismus die Gren-
zen der Darstellbarkeit verfolgt und verteidigt. Die Annahme
hier ist, daß das Denken der Grenze jedes Vorstellen kontingent
werden läßt und, auf parallele Weise zu Laclau, einen Schutz er-
richten wird gegen die Annahme, daß man zu jedem gegebenen
Zeitpunkt die vollen Parameter der Verständlichkeit kennt, daß
man weiß, was sich als repräsentierbare Realität qualifizieren
wird und kann. Die Grenze des Darstellbaren anzuerkennen, be-
deutet daher, den eigentlichen Begriff der Anerkennung zu be-
grenzen, Anerkennung neu zu verstehen als Geste der Demut ge-
genüber dem, was man nicht vollständig kennen kann, was der
konzeptuellen Meisterung widersteht und seine ethische Signifi-
kanz aus diesem Widerstand bezieht.
Ich biete diese Beispiele des »Scheiterns« des Hegelianismus an,
um vorzuschlagen, daß es sich hierbei um Theorien handelt,
welche das Scheitern, die Unmöglichkeit einer bestimmten Ver-
sion von fortschreitender Geschichte zu genau dem Fundament
eines differenten Sets sozialer Verhältnisse machen: ein emanzi-
patorisches Feld der Herausforderung und des Antagonismus im
Falle Laclaus – und ein ethisches Verhältnis, das die Grenzen der
Aneignung kennzeichnet, im Falle Cornells. In der Unrealisier-
barkeit von Geschichte wohnt ihr Versprechen, denn die reali-
sierte Geschichte würde Herausforderung, Differenz, Alterität
verwerfen. Diese unmeisterbare Dimension von Sozialität wird
dann zur Basis einer differenten Form von Versprechen, einem
Versprechen, das nie fällig wird. Für Laclau wäre dieses Verspre-
chen eine bestimmte Öffnung eines Felds von streitenden Mög-
lichkeiten; für Cornell eine Schlußfolgerung, die sowohl das
ethische Verhältnis als auch ihre Version des Feminismus hütet,
die die List der Aneignung zurückweist, wie sie durch die Aus-
weitung universaler Normen und den Akt der Anerkennung vor-
geführt wird, die Unterordnung durch die Annahme einer Alter-
ität zurückweist, die keinen existierenden Formen maskulinisti-
scher Universalität assimiliert werden kann.
Es ist für manche von uns ohne Zweifel seltsam anzunehmen,
daß eine bestimmte politische oder ethische Versprechung aus
dem Scheitern von Anerkennung, von Universalität, von Ge-
schichte gezogen wird. Sind nicht genau diese Ideale schon ge-
nug gescheitert? Und wollen wir wirklich solche Begriffe alle-
samt loswerden? Signifikanterweise werden für beide Theoreti-
ker diese Begriffe, die ihre Versprechung nicht länger erfüllen,
POSTSTRUKTURALISMUS UND POSTMARXISMUS 215

deshalb noch nicht nutzlos. Im Gegenteil, genau ihr Scheitern


wird zum provisorischen Grund, und neue Verwendungsweisen
werden aus ihrem Scheitern abgeleitet: Der Anspruch auf Uni-
versalität wird nicht länger vom Antagonismus trennbar sein,
durch den er ständig herausgefordert wird; Anerkennung wird
nicht länger in der Frage bestehen, ob man sich selbst im Ande-
ren findet, sondern wird genau zur Frage, sich nicht im Anderen
zu finden – die Bewahrung einer Differenz, welche Anerkennung
nicht überwinden kann.
Mein Eindruck ist weiters, daß für beide dieser Denker auf ver-
schiedene Weise die wachsende Unglaubwürdigkeit der histori-
schen Ideale, die einst Marxismus mit hegelianischen Gemein-
schaftsmodellen verknüpft hatten und mit der Ausdehnung des
liberal-demokratischen Ideals von Universalität und sozialer An-
erkennung, keinen Grund für Verzweiflung darstellt; diese Ideale
haben ihre Fehlerhaftigkeit nur bewiesen, indem sie auf eine an-
dere Ordnung von Werten deuteten, welche auf dem Widerstand
gegen die Formen von totalisierenden Bewegungen basiert, die
bestimmte Versionen des Marxismus charakterisierten. Und
doch wird man vielleicht bemerken, daß Hegel hier immer noch
im Spiel ist, denn die Negation der hegelschen Vorstellung von
universaler Geschichte scheint an deren Stelle eine andere Kon-
figuration von Ethik und Sozialität zu produzieren. Und auf
diese Weise bleibt die Vorstellung von universaler Geschichte be-
stehen als die negierte und doch notwendige Bedingung für die
Inauguration einer posthistorischen Zeit. Die gegenwärtige Wie-
dereinschreibung solcher Begriffe wie Universalität, Anerken-
nung, Emanzipation wird genau die Definitionen wiederbe-
schwören und wiederbearbeiten, die unmöglich geworden sind –
unmöglich aber notwendig.
Das führt natürlich zu einer Reihe von Fragen: Warum ist es z.B.
diese bestimmte hegelianische Version geschichtlichen Fort-
schritts, deren Überschreiten determiniert, wie das heutige Feld
der Sozialität aussehen wird? Gibt es keine anderen konkurrie-
renden Versionen von Geschichte, welche die Erbschaft unseres
heutigen Verständnisses von historischer Bewegung, Stellung,
Möglichkeit formen? Zweitens bleibt die hegelianische Szene, in
der ein Subjekt einem Anderen gegenübersteht, in der soziale
Verhältnisse als dyadisch verstanden werden, paradigmatisch
für beide Theorien – obwohl Cornell darauf bestehen wird, daß
es immer ein »Drittes« gibt; am einstigen Platz der Vermittlung
finden wir dennoch entweder das ethisch belebende Scheitern
216 JUDITH BUTLER

der Anerkennung oder einen Antagonismus, der die Annahme


von Universalität untergräbt und doch das Feld der politischen
Herausforderung mobilisiert.
In beiden Theorien gibt es dann die Annahme, daß das Scheitern
bestimmter Arten von Idealen selbst mobilisierend ist, belebend,
ausdehnend, das Neue inaugurierend, Möglichkeiten produzie-
rend. Was ist der Status einer solchen Behauptung? Ist das
Scheitern des Ideals selbst in irgendeiner Weise befreiend? Wie
müssen wir dieses pyrrhische Erscheinen von Möglichkeit auf
der Szene der Übertragung verstehen? Cornell wird argumentie-
ren, daß das Ideal gegenseitiger Anerkennung nun als ein Ideal
affirmiert werden sollte, als eines, das niemals realisiert werden
kann; sie wird darüber hinausgehen und argumentieren, daß die
Differenz zwischen dem Idealen und dem Realen gehütet und
bewahrt werden muß2. In der Tat tritt genau aus dieser Diffe-
renz, diesem Spalt, dieser Inkommensurabilität zwischen dem
Realisierbaren und dem Idealen ein gewisses Streben hervor, das
immer das Ideal zu realisieren versucht, es aber nie kann, das
das Scheitern als die Gelegenheit wahrnimmt, die Anstrengung
zu mobilisieren, sich dem Ideal immer und immer wieder – un-
endlich – anzunähern. Schließlich ist es in der Wertschätzung
dieses unendlichen Strebens, wo die Wiedereinschreibung von
Ethik stattfindet; das ethische Verhältnis wird nicht mehr als die
Verkörperung des Ideals gegenseitiger Anerkennung verstanden,
sondern als das unendliche Scheitern dieser Verkörperung und
damit als das unendliche Streben, welches das Scheitern auf ir-
gendeine Weise motiviert3.
Aber was ist nun genau verantwortlich für den Bewertungstrans-
fer dieser »Desillusionierung« in eine Wertschätzung von Unrea-
lisierbarkeit als Gut für sich, sogar als letztes Gut? Das ist eine
Bewegung, die annimmt, das aus dem Verlust des Ideals resultie-
rende Pathos könne in eine Affirmation dieses Verlusts als fort-
währender Bedingung menschlichen Strebens transformiert
werden. Hier ist vielleicht ein Punkt, an dem sich Cornell von
Laclau unterscheidet, denn die Unrealisierbarkeit des Ideals
gegenseitiger Anerkennung stellt für Cornell in keiner Weise den
Wert oder die Idealität des Ideals in Frage, welches an höchster
Stelle bleibt. Es ist das Scheitern einer Annäherung an das Ideal
oder einer Verkörperung des Ideals, das dem Bewertungstrans-
fer unterliegt: dieses Scheitern macht aus dem Streben nach Ver-
körperung des Ideals ein unendliches Streben, und die Unend-
lichkeit dieses Strebens wird nun als ultimatives Gut geschätzt
POSTSTRUKTURALISMUS UND POSTMARXISMUS 217

[97-100]. Aber welche Art Verknüpfung besteht zwischen dem


Scheitern des Ideals und der erneuten Wertschätzung unendli-
chen Strebens? Das Resultat könnte genauso sein (a) die Herab-
würdigung des Ideals, (b) die Verbreitung anderer Ideale, (c) das
Schließen des Spalts zwischen dem Ideal und dem Realisierba-
ren, (d) permanente Enttäuschung, Desillusionierung, Groll und
zweifellos ein Vielzahl an anderen Möglichkeiten.
Als Kontrapunkt zu diesen Positionen könnte man auf einen an-
deren Strang innerhalb des Poststrukturalismus zurückgreifen,
nämlich jenen von Nietzsche animierten und von Foucault auf-
gegriffenen, der die Unterwerfung – wenn nicht die Versklavung
–, von der unrealisierbare ethische Ideale herrühren, in Frage
stellen würde. Im dritten Essay seiner Genealogie der Moral argu-
mentiert Nietzsche, daß die Fabrikation unerreichbarer Ideale
retroaktiv das Subjekt als ein notwendig scheiterndes Streben
konstituiert. Und Nietzsches Kritik an Idealen, in diesem Text
verstanden als eine Kritik an asketischen Idealen, ist genau eine
Kritik der Formulierung des Subjekts als einer notwendig man-
gelnden und scheiternden Seinsweise. Zu dem Ausmaß, in dem
Ideale an dem mitschuldig sind, was Nietzsche Sklavenmoral
nannte, sind solche Ideale – definiert als das Unerreichbare und
Unannäherbare – eine Deformation des Willens zur Macht, der
sich gegen sich selbst richtet, sich selbst besiegt und dann diesen
Sieg über sich selbst als seine eigene konstitutive Notwendigkeit
valorisiert und romantisiert.
Nietzsches Kritik unrealisierbarer Ideale wirft dann die Frage
auf, wie wir diese Art Theorien verstehen müssen, in denen die
Unrealisierbarkeit von Emanzipation oder die Unrealisierbarkeit
des Guten als Bedingung neuer ethischer und politischer Mög-
lichkeiten valorisiert wird. Rationalisieren diese Theorien ein
gegenwärtiges Gefühl des Scheiterns, machen sie eine philo-
sophische Tugend aus einer historischen Zufälligkeit? Oder deu-
ten diese Theorien auf eine Reihe von post-teleologischen politi-
schen Möglichkeiten, die nach einer Reformulierung histori-
scher wie politischer Vokabularien verlangen? Ich werde in
kürze bezüglich Foucaults auf diese Frage zurückkommen. Die
Frage wird dort zweifach auftauchen: Sind die post-teleologi-
schen Möglichkeiten, die beschrieben werden, logische oder hi-
storische Möglichkeiten – oder sind sie in irgendeinem Sinne
beides? Gibt es auch subtile Wege, auf denen Machtverhältnisse
das informieren und begrenzen, was als das »logisch Mögliche«
zählt?
218 JUDITH BUTLER

Für Cornell ist die Unrealisierbarkeit des Guten, wie sie es


nennt, die eigentliche Möglichkeit des ethischen Verhältnisses;
für Laclau ist die Unrealisierbarkeit von »Emanzipation« die
Möglichkeitsbedingung eines durch Antagonismus mobilisierten
und erweiterten politischen Feldes; und für mich war und ist der
Verlust des Subjekts als Zentrum und Grund von Bedeutung die
Möglichkeitsbedingung einer diskursiven Modalität von Hand-
lungsfähigkeit. Es ist logisch möglich, daß solche Verluste solche
glücklichen Konsequenzen zeitigen können, aber beschreibt ir-
gendwer von uns Verhältnisse, die sozial oder historisch genannt
werden könnten? Sofern wir eine Bewegung beschreiben, die
eine andere Art von Zukunft inauguriert, ist das eine Beschrei-
bung, ein Rezept oder die Ausarbeitung und Valorisierung einer
bestimmten Art von Möglichkeit, die Extrapolation aus einer po-
tentiell affirmativen Schlußfolgerung auf das Ableben eines hi-
storischen Paradigmas? Transformiert diese Bewegung die Ver-
suchung zu trauern in eine Affirmation der grenzenlosen Mög-
lichkeiten, die dieser Verlust mit sich bringt – die Wiederein-
führung des Mythos von persönlicher Wiedergeburt, unendli-
chen Strebens, permanentem Dynamismus genau auf der Seite,
wo politische Desillusionierung droht, der Hoffnung ein Ende zu
setzen?
Laclau wird argumentieren, daß bestimmte Freiheiten und Mög-
lichkeiten durch das Scheitern einer konventionellen Emanzipa-
tionsvorstellung eröffnet werden und daß der Begriff »Emanzi-
pation« ein neues Leben bekommen wird, nachdem Funda-
mente als widersprüchlich und unhaltbar bloßgestellt wurden.
Einen Begriff weiterzubenutzen, nachdem seine Gründung nicht
mehr gesichert werden kann, bedeutet gewissermaßen, diesen
Begriff in Bezug auf seine anderen Verwendungsweisen zu benut-
zen – aber nicht auf ein Konzept, das die Signifikationskette
transzendiert, in der er gedeiht. In diesem postfundationalisti-
schen Sinn wird der Gebrauch des Begriffs zitathaft sein, der
Gebrauch wird einen vorherigen Gebrauch aufrufen und neuver-
wenden, und dieser Gebrauch wird immer in medias res auftre-
ten: provisorisch und reversibel, aber auch von einer Historizi-
tät, die kein partikularer Gebrauch vollständig vorhersagen oder
kontrollieren kann. Tatsächlich wird der Verfasser von »Emanzi-
pation« nicht im vorhinein wissen, für welche Zwecke oder in
welche Richtung der Begriff signifizieren wird, und obwohl man
zu einer gegebenen Konjunktur den Begriff in dieser Historizität
POSTSTRUKTURALISMUS UND POSTMARXISMUS 219

übernehmen und wenden wird können, wird die Historizität des


Begriffs jeden Versuch, seine Richtung zu sichern, übersteigen.
Paradoxerweise hängen die »Möglichkeiten« und die »Freiheit«,
auf die Laclau zeigt, von der Überwindung der Emanzipation ab
– zur gleichen Zeit wie sie deren Neueinschreibung in die Tat um-
setzen.
Welche Form linguistischer und politischer Praxis ist das, die
vorgibt, »Emanzipation« neu einzusetzen und gleichzeitig deren
konventionelle Fundierung zu verschieben? Und was ist es, das
die »spielerische« Verwendung der Kategorie von der seriösen
und fundationalistischen unterscheidet? Das ist das Problem,
das weiterhin Derridas Sporen heimsucht, denn wir könnten sa-
gen, daß uns der Gebrauch von »Frau« in einem gegebenen Text
zu keinen ontologischen Behauptungen verpflichtet, daß der Be-
griff immer und ausschließlich zitathaft ist, doch wir können die
Signifikationsfunktion des Begriffs nicht durch Rekurs auf die
Intention oder Disposition des Sprechenden sichern (verlorener
Glaube und Spielhaftigkeit sind Beispiele). Denn wie jeder Autor
weiß, sind die von ihm in die Welt gesetzten Begriffe – ob in fet-
ten Anführungszeichen, kursiviert oder als Fußnoten – Verwen-
dungsweisen unterworfen, die der Autor nicht kontrollieren
kann und die ohne weiteres einer Neugründung in fundationali-
stischen Begriffen verfügbar sind, die nicht bewiesen werden
können.
Wie Laclau bereits weiß, ist dies das Risiko jeder »Neueinschrei-
bung«, daß sie die Begriffe, die sie ersetzen will, nämlich zu
stark imitieren und die Glaubwürdigkeit des Grundes reprodu-
zieren wird, umgedreht und domestiziert werden wird und dabei
– durch Wiederholung – das Konzept genau dieser Gründung
wiederherstellt, das sie in Frage stellen sollte. Die durch die Un-
möglichkeit von »Emanzipation« eröffneten Möglichkeiten wer-
den paradoxerweise von der immer fortgesetzten Annahme die-
ser Unmöglichkeit abhängen. In gewisser Weise wird »Emanzi-
pation« immer und immer wieder als das vitalisiert werden, was
unmöglich ist, und sie wird leben und gedeihen als diese Un-
möglichkeit. Tatsächlich werden die Möglichkeiten, die aus die-
ser unmöglichen Emanzipation entspringen, in notwendiger Op-
position zu dieser unmöglichen Emanzipation definiert werden.
Wie müssen wir dann dieses »Entspringen«, die Bewegung von
»Emanzipation« zu ihrem »Jenseits«, verstehen? Ist das eine hi-
storische Bewegung, beschrieben und vorhergesagt, oder ist es
220 JUDITH BUTLER

eine logische Möglichkeit, die als eine hypothetische abgeleitet


wurde?
Die »Emanzipation«, von der Laclau spricht, könnte ein Ort logi-
scher Merkmale genannt werden, aber ist diese Logik (oder ir-
gendeine Logik) jemals rein logisch, oder ist sie mit sozialen
Praktiken in dem Ausmaß sedimentiert, daß das als rein logisch
Erscheinende selbst von praktischen Sedimentationen destilliert
oder abstrahiert ist, die ihre konstitutive Bedingung sind – in
solch einer Weise destilliert oder abstrahiert, daß die Sedimenta-
tion, durch die sie ermöglicht ist, dadurch verdeckt wird? Laclau
scheint diese Frage anzusprechen, wenn er nicht nur behauptet,
daß Emanzipation eine Logik ist, sondern daß es eine Logik ist,
die soziale Praktiken strukturiert. In seinen Worten »konstru-
ieren soziale Praxen Konzepte und Institutionen, deren innere
Logik auf der Operation unvereinbarer Logiken basiert« [126].
Die Frage ist, ob die innere Logik dieser Konzepte und Institu-
tionen irgendwie unbefleckt durch die Konstitutionsprozesse
operiert, die in und durch soziale Praktiken initiiert werden.
Wenn wir – wie Laclau vorschlägt – diese Logik als innerhalb so-
zialer Praktiken operierend verstehen, als das sozialen Praktiken
interne strukturale Prinzip, dann akzeptieren wir eine problema-
tische Topographie, die soziale Praktiken als eine Art Außen-
schale darstellt, die logische Prinzipien einschließt, die von ihr
dennoch ontologisch unterschieden sind. Soziale Praktiken wer-
den daher in einer externen, kontingenten Relation zu den logi-
schen Prinzipien gezeigt, durch die sie in einem bestimmten
Sinn organisiert und motiviert sind. Nicht nur erscheint diese
Position ontologisch dualistisch, sie privilegiert das Logische ge-
genüber dem Sozialen und schließt effektiv die Möglichkeit
einer Konstitution des Logischen durch das Soziale aus. Daher
kann Logik nur ihre eigene Geschichte haben, die konzeptuelle
Geschichte vorgängiger Logik, und diese Geschichte wird von je-
dem sozialen Inhalt gereinigt sein. Immer innerhalb des Sozia-
len beheimatet, doch nie »durch« das Soziale, erscheint diese
Logik als der Ort des neuen Traums, des Traums reinen Den-
kens, reiner Möglichkeit im Denken und damit vielleicht auch
der Transzendenz des Sozialen selbst als dem neuen Ziel für
»Emanzipation«.
Es scheint, daß Laclau uns eine Beschreibung der logischen
Merkmale anbietet, durch die jede soziale Praxis fortschreitet,
und dabei eine Logik postuliert, der alle sozialen Praktiken un-
terworfen sind, die aber selbst keiner sozialen Praxis unterwor-
POSTSTRUKTURALISMUS UND POSTMARXISMUS 221

fen ist. Aber welche Form von sozialer Praxis ist Logik – insofern
sie die soziale Konstruktion und Sanktion ihrer eigenen Arbeits-
weise überdeckt?
Hier wird man die Unterscheidung zwischen einerseits konzep-
tuellen Idealen oder Prinzipien bemerken, und andererseits so-
zialen Formationen, wie sie sowohl in habermasianischen
Bemühungen, kommunikative Ethik zu gründen, als auch in
manchen dekonstruktiven Ausarbeitungen des Utopischen auf-
scheinen. In beiden Kontexten wird die Kantsche Annahme
getätigt, die Kriterien, durch die eine gegebene soziale Forma-
tion vermessen wird, seien selbst kein Effekt genau dieser sozia-
len Formation, sondern Idealitäten oder Prinzipien, die sich
einer ontologischen Integrität unabhängig von (oder sogar in-
nerhalb von) den sozialen Formationen oder Praktiken erfreuen,
die sie sowohl motivieren wie vermessen. Was ist für die schein-
bare Trennbarkeit des Logischen vom Sozialen verantwortlich,
sodaß man die Logik des Sozialen anrufen könnte, als wäre
diese Logik nicht selbst der destillierte und sedimentierte Effekt
sozialer Praktiken?
Das bedeutet nicht zu sagen, daß da kein Raum für eine logische
Analyse sei, sondern nur zu fragen, ob die theoretische Demar-
kation »des logisch Möglichen« als ein normatives Ideal für so-
ziale Praktiken ausreicht, wenn die Annahme einer radikalen lo-
gischen Trennung zwischen dem Logischen und dem Sozialen
von Anfang an die Realisierbarkeit einer logischen Norm inner-
halb der Domäne des Sozialen ausschließt.
Wenn wir Logik selbst als eine soziale Praxis verstehen, eine Art
Sprachspiel, dann scheint es, daß wir mit einer anderen Reihe
von Fragen schließen können, die uns zur Frage zurückbringen,
was es bedeuten könnte, Poststrukturalismus als eine Theorie
für postmarxistische Zeiten zu historisieren. Letzteres würde
nicht die Frage beinhalten, eine Theorie namens Poststruktura-
lismus innerhalb eines Kontexts namens Geschichte zu plazie-
ren, denn das hieße, Poststrukturalismus seiner historischen
Kraft zu berauben und gleichzeitig Geschichte ihre theoreti-
schen Voraussetzungen zu verunmöglichen. Die Sphäre logi-
scher Relationen nicht nur von sozialer Praxis zu reinigen, son-
dern – wichtiger – von sozialer Macht, heißt die soziale Macht
der logischen Analyse zu ratifizieren und das logisch Ableitbare
an die Stelle des historisch Produzierbaren zu setzen. Denn we-
der das radikal Neue noch die subversive Wiederholung kann lo-
gisch garantiert werden; es wird eine notwendige Differenz zwi-
222 JUDITH BUTLER

schen dem geben, was als logisch möglich gezeigt wird, und
dem, was in jedem gegebenen Nexus von Diskurs und Macht zu
realisieren möglich ist.
Der Begriff »Poststrukturalismus« schließt heute eine Reihe von
Theorien ein, die nicht immer miteinander kompatibel sind, und
die derridianischen Positionen, die ich skizziert habe, hängen
von einer logischen Analyse ab, die nicht immer den breiteren
Diskursbegriff, wie er in Foucault zu finden ist, und noch viel
weniger dessen Machttheorie in Betracht zieht. Würde man in
einer foucaultianischen Stimmung fragen, wie die Domäne des
Möglichen, des Intelligiblen, des Logischen umschrieben wird –
und durch diese Umschreibung also auch produziert wird –,
dann würde man den Grenzen des Intelligiblen begegnen als von
sozialen Regulationsstrategien kontrolliert. Was tatsächlich
denkbar oder intelligibel ist oder nicht, was sagbar ist oder
nicht, wird durch ein variables Set von Begrenzungen fixiert, die
Verschiebungen unterliegen, die mit stärkerer und schwächerer
Rigidität aufscheinen. Diese Begrenzungen werden Effekte spe-
zifischer Machtstrategien sein. Wenn wir die Beschränkungen
des Denkbaren als historische Beschränkungen denken, fragen
wir, wie Machtverhältnisse bestimmte Objektarten als denkbar
und wißbar konstruieren und wie diese Konstruktion durch die
simultane und begleitende Konstruktion des Undenkbaren und
Unwißbaren stattfindet. Die Domäne der Logik ist genau so ein
Instrument zur Regulation dessen, was und was nicht gesagt
werden kann; logische Relationen sind, wie Paul de Man vor-
schlug, nicht beschreibend, sondern befehlend: nicht »das ist,
wie die Welt ist«, sondern vielmehr »das ist, wie die Welt sein
sollte« (de Man 198). Was das Logische vom Unlogischen unter-
scheidet, wird im Verhältnis zur vorschreibenden Dimension
von Macht bestimmt und wird den Machtstrategien entspre-
chend variieren. Die Grenzen des intelligiblen Diskurses werden
dann zu den Orten, an denen die Produktion des Intelligiblen
ihre dürftigen und strategischen Fundamente exponiert. Aber
das bedeutet natürlich auch, daß durch Macht reguliert wird,
was das »logisch Mögliche« konstituiert, und daß gleichermaßen
reguliert wird, was das Unmögliche konstituiert. Auf diese Weise
ist dann die Domäne des Logischen Instrument und Effekt so-
zialer Macht und weder deren innere Arbeitsweisen noch das
transzendentale Ideal, durch das es implizit reguliert ist, aber
dem es sich nie völlig annähert. Denn das unrealisierbare Ideal
ist vielleicht vollständiger sanktioniert als das realisierbare
POSTSTRUKTURALISMUS UND POSTMARXISMUS 223

Ideal; und im nietzscheanischen Sinn begrenzt es nicht nur den


Sinn für Macht oder Wirksamkeit, sondern sanktioniert diese
Grenzen ebenso. Das legt eine Verschiebung der Art von Frage
nahe, die gestellt werden muß: Eine Verschiebung von »Welche
politischen Praxisformen eröffnen sich nun, da Emanzipation
und das Gute ihre Unrealisierbarkeit bewiesen haben?« zur stär-
ker nietzscheanischen Frage: »Wie kommt es, daß die Unreali-
sierbarkeit des Guten und/oder der Emanzipation einen paraly-
sierten oder begrenzten Sinn politischer Wirksamkeit produziert
hat, und wie – allgemeiner – könnte die Fabrikation lokalerer
Ideale den Sinn für politisch praktikable Möglichkeiten för-
dern?« Die erste Frage valorisiert die Produktion grenzenloser
und logischer Möglichkeiten gegenüber jenen, die auf irgendeine
Weise praktikabel sein mögen; die zweite fragt, wie genau die
Produktion der grenzenlosen Möglichkeiten paradoxerweise den
politischen Willen paralysiert.
Hierin unterscheidet sich vielleicht ein foucaultianischer Zu-
gang, der logische Verhältnisse als die Wissenseffekte von Macht
formulieren würde, vom derridianischen Zugang, der größten-
teils von Laclau und Cornell bevorzugt wird. In solch einem Ver-
gleich wird die Produktion logischer Möglichkeit als ein Mach-
teffekt auf dem Spiel stehen, als ein Effekt, der die Mechanismen
seiner Produktion verbirgt, deren Abstraktion als eine Abstrak-
tion von konstitutiven Machtverhältnissen gelesen werden muß.
Aber vielleicht können wir dann zu fragen beginnen, wie histo-
risch die Begrenzung des logischen Raums als Ort für eine be-
stimmte Ungezügeltheit des utopischen Glaubens nach Marx
verstanden werden kann.
Was man letztlich auch aus dem historischen Status solcher
Möglichkeiten in diesen Theorien machen wird, es scheint klar,
daß diese Dekonstruktionen keine Destruktionen sind, sondern
eher eine Art historischer Affirmation, die nicht nur der Erbitte-
rung über gescheiterte historische Ideale widersteht, sondern
von diesem Ort des Scheiterns aus arbeitet, um genau die Be-
griffe zu resignifizieren, die – von ihrem Fundament losgemacht
– gleichzeitig die Überbleibsel dieses Verlusts sind und die Res-
sourcen, aus denen heraus die Zukunft artikuliert werden muß.
Diese Bewegung ist weniger eine hegelianische Ableitung als
eine Abweichung von Hegel, eine Wiederholung nach vorn, in
Kierkegaards Sinn, oder vielleicht angemessener: die paradoxe
Figur des Benjaminschen Engels, der rückwärts in die Zukunft
fliegt.
224 JUDITH BUTLER

ANMERKUNGEN

1 In andere Worten, in beiden Theorien könnte man keine Geschichte er-


zählen, in der Fortschritt einmal möglich war, aber unter gegenwärtigen Be-
dingungen Fortschritt unmöglich wurde und gemacht wurde. Im Gegenteil,
vielmehr verhält es sich so, daß der Glaube an die Möglichkeit von Fort-
schritt nicht länger aufrecht erhalten werden kann, was heißt, daß dieses
Narrativ nicht länger mit jenem Grad an Plausibilität erzählt werden kann,
den es einmal besaß. Tatsächlich enthüllt das gegenwärtige Scheitern des
Glaubens in die eschatologische Zukunft diese Geschichtsversion als abhän-
gig von jenen Glaubenssätzen, durch die er aufrechterhalten wird. Und wenn
die Lebensfähigkeit dieser Geschichte von Glauben aufrechterhalten wird,
dann gibt es keine Geschichte – und hat es nie eine gegeben – ohne diesen
Glauben. Mit anderen Worten, es wird enthüllt, daß die progressivistische
Version von Geschichte immer von einer Reihe von Glaubenssätzen auf-
rechterhalten wurde, aber genau dieses Abhängigkeitsverhältnis wird erst
jetzt klar, d.h. es wird erst jetzt unter der Bedingung klar, daß der Glaube
nicht länger aufrechterhalten werden kann.
Zu sagen, der Glaube an eine bestimmte Geschichtsversion sei nicht länger
möglich, heißt einfach zu sagen, daß das Narrativ, das diese Geschichtsver-
sion erzählt und darstellt, nicht länger plausibel ist. Wo können wir diesen
Glauben finden, wenn nicht in genau den historischen Artikulationen, die es
aufrechterhalten? Hier würde ich vorschlagen, daß es, einerseits, keinen
Glauben als einer mentalen Repräsentation, die in einem Bewußtsein behei-
matet ist, gibt, und andererseits Geschichte als das narrativisierte Objekt die-
ses Glaubens. Im Gegenteil, der Ort, an dem dieser Glaube aktiviert wird, be-
lebt, entzündet, ist in genau dem Erzählen, als genau das Erzählen, in dem,
was wir als die Narrativisierbarkeit der Vergangenheit verstehen können.
Der Glaube an Geschichte erscheint dann als das Erzählen von Geschichte,
die Zuversicht, die Linearität, die Vorwärtsbewegung des Erzählens selbst.
Glaube begleitet nicht Geschichte, sondern ist die Intelligibilität ihrer Entfal-
tung. Wenn der Glaube nicht von den Praktiken, durch die erzeugt wird, be-
freit werden kann, dann wird der Glaube an historischen Fortschritt nicht
vom Narrativ des Fortschreitens abtrennbar sein, welches der »Beweis« die-
ses Glaubens ist.
2 Vergl. »The Good, the Right, and Legal Interpretation« in The Philo-
sophy of the Limit.
3 Man könnte diese Lösung als eine Neubewertung des deutschen Roman-
tizismus lesen, als das unendliche Streben von Goethes Faust, einem Vor-
gänger von Hegels Philosophie, der nun interessanterweise wieder als Posts-
kriptum zum Hegelianismus beschworen wird.

LITERATUR

Cornell, Drucilla. Beyond Accommodation: Ethical Feminism, Deconstruction


and the Law. New York: Routledge, 1991
— The Philosophy of the Limit. New York: Routledge, 1992
de Man, Paul. Allegories of Reading. New Haven: Yale UP, 1979
Derrida, Jacques. Spurs: Nietzsche’s Styles. Chicago: U of Chicago P, 1978
Laclau, Ernesto, and Chantal Mouffe. Hegemony and Socialist Strategy. Lon-
don: Verso, 1986
Nietzsche, Friedrich Wilhelm. On the Genealogy of Morals. New York: Vin-
tage, 1967
Das Unbehagen der Hegemonie

DIE POLITISCHEN THEORIEN VON JUDITH BUTLER,


ERNESTO LACLAU UND CHANTAL MOUFFE

ANNA MARIE SMITH

Judith Butlers Das Unbehagen der Geschlechter1 hat breite Aner-


kennung erfahren als bahnbrechender Beitrag zur feministi-
schen Theorie und zu lesbian und gay studies. Ihre Konzeptuali-
sierung von Geschlechtsidentität (im weiteren gender, d.Ü.) als
performativer Konstruktion, als Effekt von Praktiken, die in
einem komplexen Feld von unterdrückenden Kräften und Wi-
derständen stattfinden, stellt eine radikale Herausforderung der
verschiedenen gender-Reduktionismen dar, die das feministische
Denken einschränken. Es sollte allerdings angemerkt werden,
daß Butlers Text auch einen Beitrag zur Politischen Theorie dar-
stellt, namentlich zur Hegemonietheorie. Butlers Verwendung
des Hegemoniebegriffs quer durch ihren Text markiert ihre
Zurückweisung von Herrschafts- und Befreiungstheorien zugun-
sten eines foucaultianischen Zugangs zu Machtverhältnissen. In
dieser Hinsicht hat Butler vieles mit Ernesto Laclau und Chantal
Mouffe gemeinsam. Wie Butler haben Laclau und Mouffe sich in
ihrem Versuch, gegenwärtige politische Strategien zu theorisie-
ren, poststrukturalistische und psychoanalytische Kategorien
angeeignet. Obwohl Butler deren Background der gramscia-
nisch-marxistischen Tradition fehlt und obwohl Laclau und
Mouffe die feministischen Debatten zu gender und Sexualität
nur kurz erwähnt haben, sind ihre theoretischen und politischen
Positionen bemerkenswert ähnlich. Ich werde zeigen, daß ob-
wohl diese Theoretiker bei ihrer Ausarbeitung der Hegemonie-
theorie in Schwierigkeiten kommen, dies doch zu verschiedenen
Momenten geschieht, und daß sie tatsächlich auf das Werk der
jeweils anderen zurückgreifen könnten, um über diese Schwie-
rigkeiten hinauszukommen.
226 ANNA MARIE SMITH

Laclaus und Mouffes Hegemonietheorie2 kann lokalisiert wer-


den als kritische Antwort auf die Fehler des Klassen-zentrierten
Denkens, das linke Strategien geformt hat. Der klassistische An-
satz kann in drei grundlegende Argumente zusammengefaßt
werden: Das Soziale ist fundamental in zwei Klassen struktu-
riert, die Arbeiterklasse und die Bourgeoisie; die Arbeiterklasse
ist das historische Vehikel revolutionärer Veränderung; und in-
sofern wirkliche Arbeiter darin versagen, sich in revolutionären
Strategien zu engagieren, operieren Intellektuelle als notwendi-
ges Supplement der Arbeiterklasse, indem sie diese zu ihrem ei-
genen wahren Bewußtsein führen. Gegen dieses Modell insistie-
ren Laclau und Mouffe auf dem »Dezentrieren« von Klasse: sie
behaupten, daß wir nicht vorhersagen können, ob Klasse in ir-
gendeinem partikularen Kontext als über andere Formen vor-
herrschende Identifikationsform operieren wird oder nicht. Mit
dem Dezentrieren von Klasse wird es möglich zu sagen, daß
Klasse in manchen Kontexten in Begriffen von »Rasse« oder in
anderen in Begriffen von Sexualität gelebt werden mag. Laclau
und Mouffe argumentieren also, daß wir die politische Tendenz
eines sozialen Akteurs nicht aufgrund seiner Klassenelemente
vorhersagen können: Eine Bewegung, die großteils aus Personen
der Arbeiterklasse besteht, kann genauso rassistisch, sexistisch
oder homophob sein wie Bewegungen, in denen bürgerliche In-
dividuen die Mehrheit haben. Laclaus und Mouffes Dezentrieren
von Klasse wird weitenteils als eine Verabschiedung von Klasse
mißverstanden. Dieses Mißverständnis mag im Kontext des ame-
rikanischen Mythos vom Triumph des Kapitalismus über den
Sozialismus besonders ansprechend sein. Post-Marxismus ist je-
doch nicht dasselbe wie die bürgerliche Fantasie von Post-Sozia-
lismus, genauso wie die Kritik am Gender-Reduktionismus nicht
dasselbe ist wie die sexistische Fantasie des Post-Feminismus.
Post-Marxismus versucht, aus der marxistischen Tradition die
demokratischsten Aspekte herauszuziehen und sie in eine politi-
sche Theorie zu integrieren, die der Komplexität der gegenwärti-
gen Identitätsspiele entspricht. (Ich verwende den Begriff Iden-
titätsspiele nicht um deren Ernsthaftigkeit abzustreiten, sondern
um eine Analogie zwischen den Strategien um Identität herum
und Wittgensteins Kategorie der Sprachspiele zu ziehen. Wir
können nicht außerhalb des Felds der Identitätsstrategien ste-
hen, was seinerseits impliziert, daß, obwohl wir nie wirklich Po-
sitionen voll ausfüllen können, wir immer positioniert sind –
DAS UNBEHAGEN DER HEGEMONIE 227

und daß unsere unmöglichen Identitätsansprüche Positionsef-


fekte haben.)
Laclau und Mouffe bieten tatsächlich einen extrem nützlichen
Zugang zu Klasse für lesbian, gay und bisexual studies an. Wenn
das Politische nicht länger als Ausdruck des Ökonomischen be-
trachtet wird und Identitätsspiele nicht im Sinne von a priori-
schen Klassenkategorien analysiert werden können, dann gibt es
keinen legitimen Grund, Sexualität als »marginales Thema« zu
übergehen. Sexualität mag in der Tat als jener Ort operieren, an
dem Zustimmung zu autoritären Projekten organisiert wird. In
meiner eigenen Forschung habe ich zum Beispiel argumentiert,
daß die Dämonisierung der Homosexualität in Großbritannien
von 1984 bis 1990 für die Legitimation des Thatcherismus zen-
tral war3. Diese Dämonisierung der Homosexualität, insbeson-
dere in Form der Section 28, die die Bewerbung von Homose-
xualität verbot, bezog sich auf die neu-rechte Tradition des Dä-
monisierens der »inneren Feinde« im allgemeinen und auf die
Tradition des Neuen Rassismus im besonderen. Klassistisches
Denken würde diese Art der Analyse von Beginn an aussch-
ließen. Mit Laclau, Mouffe und Stewart Hall würde ich behaup-
ten, daß der Thatcherismus nur in Begriffen einer Hegemonie-
theorie verstanden werden kann.
Hegemonie tritt in Laclau und Mouffes Text als eine Formation
auf, die durch die kontingente Praxis der Artikulation konstru-
iert ist. Artikulation beinhaltet die Verknüpfung disparater
Kräfte, Elemente und Positionen. Als einer kontingenten Praxis
gibt es nichts Prädeterminiertes an Artikulation; jedes artiku-
lierte Ensemble ist einzigartig und kontextuell spezifisch. That-
cherismus beispielsweise wurde von Stewart Hall beschrieben
als Juxtaposition von Freiem-Markt-Individualismus, Moneta-
rismus, Anti-Etatismus, Anti-Unionismus, rassistischen Law-
and-Order-Kampagnen, xenophobem Nationalismus, Pro-Fami-
lien-Traditionalismus und anti-lesbischem und anti-schwulem
Moralismus4. Obwohl Thatcherismus in viele verschiedene Tra-
ditionen gesetzt werden kann, gehören seine Spezifitäten einzig
dem partikularen Kontext britischer Politik in den 1970ern und
1980ern an. Jedes der Elemente in diesem artikulierten Ensem-
ble wurde zu einem bestimmten Ausmaß durch seine Artikula-
tion transformiert. Die Attacke des Thatcherismus auf die lesbi-
sche und schwule community glich nicht exakt früheren
Attacken, denn sie war durch den Neuen Rassismus der briti-
schen Rechten geformt. Es ist genau dieser konstitutive Aspekt
228 ANNA MARIE SMITH

von Artikulation, der die Hegemonietheorie von Koalitionstheo-


rien absetzt. Die Formierung eines hegemonialen Blocks bein-
haltet nicht die bloße Kombination präkonstituierter Elemente.
Für Laclau und Mouffe arbeiten Artikulationen nicht außerhalb
von oder zusätzlich zu präkonstituierten Identitäten; Identitäten
– und das Soziale selbst – sind nichts als die Effekte von Artiku-
lation.
Es gibt allerdings einige Argumente in Laclaus und Mouffes
Text, die mit ihrer Hegemonietheorie inkompatibel sind. Sie be-
haupten richtigerweise, daß der Begriff »Neue Soziale Bewegun-
gen« diese Kämpfe unangemessen zusammenfaßt, nur weil sie
nicht in Klassen-Begriffen definiert sind. Sie insistieren, daß die
spezifische Form der anti-sexistischen, anti-rassistischen und
anti-heterosexistischen Kämpfe von spezifischen Artikulationen
abhängt, sodaß es unmöglich wird, die »Fortschrittlichkeit« ir-
gendeines dieser Kämpfe für garantiert anzusehen. Sie anerken-
nen die Unterschiede, die in jedem dieser Kämpfe auftreten kön-
nen, wie etwa die Möglichkeit eines rassistischen Feminismus
oder selbst eines Feminismus, der demokratisch zu sein behaup-
tet, aber in seiner Forderung nach Zensur autoritäre Effekte zei-
tigt5. Trotz allem erklären Laclau und Mouffe, daß die Aufgabe
der Linken darin bestünde, »die Äquivalenzketten zwischen den
verschiedenen Kämpfen gegen Unterdrückung«6 auszuweiten.
Obwohl sie auf einen alternativen hegemonialen Block abzielen,
in dem die »Autonomie« der artikulierten Kämpfe wenigstens
teilweise bewahrt bleibt, und obwohl sie die Formation eines
neuen common sense fordern, in dem der Fortschritt eines
Kampfes nie auf Kosten eines anderen zustandekäme7, legen sie
nicht genug Augenmerk auf die Tatsache, daß wir in der gegen-
wärtigen Konjunktur unendlich weit von diesem Ideal entfernt
sind. Sie erklären, daß die »äquivalentielle Relation zwischen
Anti-Rassismus, Anti-Sexismus und Anti-Kapitalismus ( … ) eine
hegemoniale Konstruktion erfordert, die unter bestimmten Um-
ständen die Bedingung für die Konsolidierung jedes einzelnen
dieser Kämpfe sein kann«8.
In vielen Kontexten jedoch ist genau das Gegenteil erforderlich.
Wo Lesbierinnen etwa mit einer ausgesprochen nicht-verhandel-
baren Mauer von Sexismus durch schwule Männer konfrontiert
sind, mag die Konsolidierung unseres lesbischen Kampfes vom
Verfolgen eines anderen – und gleichermaßen unmöglichen –
Ziels abhängen: der Organisation eines autonomen lesbischen
Raumes. Im Fall »rassischer« Differenzen wäre es für »weiße«
DAS UNBEHAGEN DER HEGEMONIE 229

Aktivisten sicher nicht legitim, »Farbige« darüber aufzuklären,


daß ihren Interessen am besten gedient wäre, wenn sie in existie-
renden »weißen« Organisation arbeiteten. Widerstände sollten
immer durch das Prinzip der gegenseitigen Abhängigkeit von
Unterdrückung informiert sein – daß »Anti-Queerness« von Se-
xismus abhängt, der von Rassismus abhängt, der seinerseits von
Klassenprivilegien abhängt –, aber wir können die besten Wider-
standsformen nur innerhalb eines spezifischen Kontexts festle-
gen, und diese Evaluierung wird offensichtlich von unterschied-
lichen Positionen zu unterschiedlichen Resultaten führen. June
Jordan kommentiert in einem Interview mit der asiatisch-briti-
schen Feministin Pratinha Parmar: »Ich würde über Koalitionen
sagen, was ich über Einheit gesagt habe. Wozu soll sie gut sein?
Das Thema sollte die sozialen Konfigurationen der Politik be-
stimmen«9. Chela Sandoval legt eine ähnliche Betonung auf die
Kontextualisierung strategischer Entscheidungen. Sie fordert
die Formation eines »oppositionellen Bewußtseins«, das »die
Möglichkeit für flexible, dynamische und taktische Antworten«
herstellt.
»Feministinnen der Dritten Welt rufen nach ( … ) einer neuen
Subjektivität, einer politischen Revision, die jede einzelne Per-
spektive als Antwort verneint, und statt dessen eine wechselnde
taktische und strategische Subjektivität postuliert, welche die
Kapazität der Rezentrierung besitzt, entsprechend den Unter-
drückungsformen, mit denen man konfrontiert ist.«10
Obwohl Laclau und Mouffe anerkennen, daß strategische Ent-
scheidungen im Sinne spezifischer Kontexte getroffen werden
sollten, kompromittieren sie dennoch diese Kontextualisierung,
indem sie einen Mythos eines anti-autoritären hegemonialen
Blocks konstruieren. Dagegen sind Jordan und Sandoval weitaus
skeptischer bezüglich Unifikationsstrategien. Ihre Betonung
temporärer und taktischer Einheiten und der Kontextualisie-
rung von Widerständen ist genau die Art strategischen Zugangs,
der mit Laclaus und Mouffes nicht-essentialistischer Konzeption
des Sozialen kompatibel ist.
Butler teilt Jordans und Sandovals Skepsis gegenüber Unifika-
tionsstrategien. Im Unterschied zu Laclaus und Mouffes Ten-
denz zur Homogenisierung von Differenz bleibt Butler tief miß-
trauisch gegenüber einfachen Verboten und singularen Identitä-
ten und konfrontiert psychoanalytische Theorien mit genealo-
gischen Befragungen und dekonstruktiven Kontextualisierun-
gen. Allerdings wurde ihre Theorie allgemein gelesen, als würde
230 ANNA MARIE SMITH

sie voluntaristische und individualistische Lösungen für Hetero-


sexismus vorschlagen. Durch einen Vergleich von Butlers Hege-
monietheorie mit jener von Laclau und Mouffe kann gezeigt
werden, daß diese Lesart eine inakkurate Karikatur ist, welche
die wichtigsten Aspekte ihrer Arbeit negiert.
Genauso wie Laclaus und Mouffes Hegemonie und radikale De-
mokratie setzt Das Unbehagen der Geschlechter dekonstruktivisti-
sche Taktiken ein, um Essentialismus zu unterminieren. Laclau
und Mouffe schwächen das reduktionistische Argument, das
Ökonomische determiniere das Ideologische, indem sie zeigen,
daß die Grenze zwischen diesen beiden Sphären immer verletzt
wird, daß die Entwicklung ökonomischer Technologien z.B. im-
mer durch politische Überlegungen geformt wird. Butler bezieht
sich auf den essentialistischen Dualismus von Sex (Geschlecht)
und Gender (Geschlechtsidentität), in dem Geschlecht als das
Prädiskursive postuliert und Geschlechtsidentität auf das sekun-
däre Terrain sozialer Interpretation verwiesen ist. Foucault fol-
gend denaturalisiert Butler Geschlecht, indem sie Geschlecht als
eine fiktive Natur lokalisiert, welche die Ausdehnung und Inten-
sifikation von Disziplinierungsstrategien legitimiert. Durch das
Aufzeigen des strategischen Charakters geschlechtlicher Katego-
risierung unterminiert Butler den Dualismus von Geschlecht-
als-Natur versus Geschlechtsidentität-als-soziale-Konstruktion.
Diese theoretischen Interventionen haben bedeutende politische
Konsequenzen. Wäre unsere fundamentale Identität bereits von
der ökonomischen Sphäre determiniert und Politik in letzter In-
stanz abwesend vom Ökonomischen, dann würde sich Politik
auf Kämpfe zwischen bereits-konstituierten Subjekten beziehen.
Wenn Geschlecht bereits gegeben und Geschlechtsidentität ein
»Ausdruck« von Geschlecht wäre, dann blieben feministische
Kämpfe in den Grenzen des gegenwärtigen Sex/Gender-Systems
gefangen. Wie Gayle Rubin in ihrem Essay »The Traffic in Wo-
men« argumentiert, sind die Kosten dieses Systems gewaltig11.
Butler formuliert Rubins Kontextualisierung der offenbar natür-
lichen heterosexuellen Zwangsordnung als hegemoniales System
Geschlecht/Geschlechtsidentität. Für Butler ist Geschlecht nicht
prä-politisch, es ist eine politische Fiktion. Für Laclau, Mouffe
und Butler ist Politik damit kein Machtkampf zwischen natürli-
chen Subjekten, sie ist ein Kampf um genau den Prozeß der
Konstruktion und Herausforderung von Identität. Wo Laclau
und Mouffe das gefährlich Phantasma einer Revolution kritisie-
ren, die uns gleichzeitig in einen originären Zustand zurückver-
DAS UNBEHAGEN DER HEGEMONIE 231

setzen und die Auflösung von Politik zum Ergebnis haben


würde, bemerkt Butler die totalitären Möglichkeiten von Wittigs
Theorie der Wiederentdeckung einer originären Natur für
Frauen. Indem sie das Phantasma der Wiederentdeckung einer
unterdrückten Natur und einer Außenposition zu repräsentatio-
naler Politik zurückweist, hallt bei Butler Laclau/Mouffes Insi-
stenz nach, daß es nichts außerhalb des Diskursiven gibt. Statt
Utopien vorzuschlagen, die unweigerlich ausschließende Effekte
hätten, argumentieren Laclau, Mouffe und Butler, daß der Mo-
ment der letzten Herausforderung zur Identifikation unendlich
verschoben ist. Wiederum ist diese unendliche Verschiebung der
Schließung nicht bloß ein interessantes theoretisches Problem;
die Verletzbarkeit selbst der hegemonialsten Formationen ist ge-
nau die Bedingung für Demokratie.
Eine weitere Analogie kann zwischen Laclaus und Mouffes Arti-
kulationskonzept und Butlers Konzept des performativen Cha-
rakters von Geschlecht gezogen werden. Artikulationen werden
nicht bloß einer unterliegenden Struktur hinzuaddiert; die sozia-
len Ordnungen, in die wir geworfen sind, sind nichts als sedi-
mentierte Artikulationseffekte. Ähnlich sagt Butler: »That the
gendered body is performative suggests that it has no ontologi-
cal status apart from the various acts which constitute its rea-
lity«.12 Auch für Butler ist Geschlechtsidentität nichts als die se-
dimentierten Effekte wiederholter Praktiken, sie ist rein kontin-
gent: Das scheinbar »Natürliche« und das »Unnatürliche« haben
tatsächlich denselben ontologischen Status. Jedes »Original« ist
tatsächlich die Kopie einer Kopie, es gibt keine absolut »wahre«
Geschlechtsidentität, die als neutraler Standard benutzt werden
könnte, um »falsche« Geschlechtsidentitäten zurückzuweisen,
etc. Die Artikulationen oder Performative, welche das Soziale
konstituieren, sind deshalb kontingent: Sie sind weder externe
Additionen noch Determinationen einer unterliegenden Notwen-
digkeit.
Kontingenz bedeutet jedoch nicht, daß »alles geht«. In techni-
schen Begriffen ist es wichtig, zwischen dem Akzidentiellen und
dem Kontingenten zu unterscheiden. Wären Performative akzi-
dentiell – ausgesprochen zufällig, völlig außerhalb jeder Rationa-
lität –, dann würde Butler einen apolitischen Voluntarismus ver-
treten. Den ganzen Text hindurch widerspricht Butler jedoch
dem »anything goes«-Ansatz. Sie gibt zu, daß Parodie für sich
genommen nicht subversiv ist. Für Butler sind gender-Praktiken
in dem Sinne »regulativ«, als Geschlechtsidentitäten immer in
232 ANNA MARIE SMITH

Begriffen normativer Ideale konstruiert werden, die Ausschlie-


ßungseffekte haben. Um Norma Alarcón zu paraphrasieren:
»Frau« zu werden, bedeutet immer, »diese bestimmte Frau« zu
werden, nicht nur in Opposition zu »diesem bestimmten Mann«,
sondern auch in Opposition zu »jener bestimmten Frau«, die in
Begriffen von »Rasse« und Klasse unterschiedlich positioniert
ist. Butler betont ausdrücklich diesen ausschließenden und
überdeterminierten Charakter von Geschlechtsidentitäten: Auf
den Eröffnungsseiten ihres Textes argumentiert sie, daß das
Fortschreiten der universalistischen Konzeptionen von »Frau«
und Patriarchat rassistische Implikationen hat. Ihre ursprüngli-
chen Referenzen auf die »rassische« Regulation von Geschlecht-
sidentitäten werden durch den Text hindurch nicht aufrecht er-
halten. Sie lokalisiert performative Praktiken dennoch konsi-
stent innerhalb des Kontexts asymmetrischer Machtrelationen.
De Beauvoir kommentierend sagt sie: »Gender is the repeated
stylization of the body, a set of repeated acts within a highly ri-
gid regulatory frame that congeal over time to produce the ap-
pearance of substance, of a natural sort of being.«13
Butlers Argument kann nutzbringend durch Laclaus neuere
phänomenologische Konzeption von Hegemonie gelesen wer-
den14. Laclau argumentiert, eine Artikulation würde in dem Aus-
maß hegemonial, zu dem sie als ein Horizont operieren würde.
Da sie gänzlich kontingent ist, kann die Institutionalisierung
einer bestimmten Artikulation nur durch die gewaltsame Unter-
drückung von Alternativen erreicht werden. Habituelle Wieder-
holungen der hegemonialen Artikulation verdecken die Spuren
dieser gewaltsamen Unterdrückung; mit der Zeit installieren die
Wiederholungen die hegemoniale Artikulation als einzig mögli-
che kohärente Formation. Die hegemoniale Artikulation verliert
graduell ihr Erscheinen als eine Alternative unter vielen und be-
ginnt als die Regel zu operieren, die eine ahistorische und apoli-
tische Unterscheidung zwischen dem Intelligiblen und dem
Nicht-Intelligiblen installiert. Um die Sprache des Thatcheris-
mus zu verwenden, Hegemonie hängt nicht von Popularität ab,
sie hängt von der Normalisierung der Idee ab, es gäbe keine Al-
ternativen. im Britannien der 1980er wurde es fast unmöglich,
außerhalb des thatcheristischen Rahmens von Politik zu spre-
chen – inklusive queer- und anti-queer Diskurs.
Butlers Kritik des gender-Essentialismus ist ebenfalls von einer
politisierten Phänomenologie gerahmt. Sie argumentiert, in psy-
choanalytischer Theorie behaupte das Symbolische, Intelligi-
DAS UNBEHAGEN DER HEGEMONIE 233

bilität zu sein. Geschlechtsidentitäten und Sexualitäten, die dem


zwangsheterosexuellen Rahmen trotzen, würden »out of order«
gestellt: Sie sollen undarstellbar und undenkbar sein. Wie
Laclau praktiziert Butler Reaktivierung: Keine husserlsche
Rückkehr zu Ursprüngen und Essenzen, sondern eine Rückkehr
zu einem Bewußtsein der Kontingenz dessen, was sich selbst als
Notwendigkeit repräsentiert. Reaktivierung ist in diesem Sinne
die Rückkehr zum Politischen, die Ausstellung der gewaltsamen
Kräfte, Marginalisierungen und Hierarchien, die im Herzen je-
der stillen Natur arbeiten. Butler versucht deshalb, den histori-
schen und politischen Charakter der hegemonialen Begrenzun-
gen der »denkbaren« Geschlechter und Geschlechtsidentitäten
zu zeigen. Ihr Ziel sei es nicht, jede neue Möglichkeit als Mög-
lichkeit zu feiern, »but to reinscribe those possibilities that al-
ready exist, but which exist within cultural domains designated
as culturally unintelligible and impossible«15.
Butler und Laclau nehmen natürlich unterschiedliche theoreti-
sche Wege. Butlers Kritik der Konstruktion einer sozialen Ord-
nung z.B., die sich als die Ordnung der Repräsentation etablie-
ren kann, bezieht sich auf die foucaultsche Theorie der kreativen
und differenzierenden Effekte des Gesetzes. Laclau wendet sich
an diesem Punkt Wittgenstein zu: Obwohl wir nicht außerhalb
von Sprachspielen stehen können, existieren die Regeln in
Sprachspielen nur »in den praktischen Instanzen ihrer Anwen-
dung – und sind konsequenterweise durch diese modifiziert und
deformiert«. Butler und Laclau kommen beide am selben Ort
an, sie insistieren nämlich, daß selbst die naturalisiertesten Ord-
nungen und Regeln der Intelligibilität gegenüber Subversionen
verwundbar sind, die der totalen Domestizierung wenigstens
teilweise entkommen.
Butler unterscheidet sich von Laclau in drei wichtigen Punkten.
Erstens schlägt sie vor, Koalitionen hätten weniger ausschlie-
ßende Effekte, würden ihre Teilnehmer ein Modell temporärer,
fragmentierter und unvollständiger Einheitsformen akzeptieren.
Diese Theorie ist problematisch, denn sie basiert auf einer sebst-
bewußten Zurückweisung des Willens zur Identität. Obwohl Ver-
einheitlichungsstrategien immer in Begriffen eines bestimmten
Kontexts analysiert werden sollten, sollte auch anerkannt wer-
den, daß wir selbst mit den besten Absichten immer im Willen
zur Identität gefangen sind und immer verwendet werden, um
ausschließende Strategien zu befördern. In Laclaus Begriffen:
234 ANNA MARIE SMITH

Konsens beinhaltet immer Zwang, und ein Konsens über Frag-


mentierung würde keinen besonderen Fall darstellen.
Obwohl Laclaus theoretische Argumente oft hochabstrakt sind,
versucht er dennoch konsistent, sie in Begriffen historischer
Forschung zu situieren. Seine Methode, durch gegenwärtige po-
litische Historien zu arbeiten, ist besonders evident in seinem
Austausch mit Aletta Norval zur Apartheid in Südafrika. Ande-
rerseits legt Butler nicht genug Augenmerk auf die spezifischen
Kontexte ihrer Subversionsbeispiele. Eines ihrer Beispiele bein-
haltet ein hypothetisches »benachbartes Schwulenrestaurant«.
Dessen Besitzer geben bekannt, daß das Restaurant geschlossen
ist, indem sie ein Schild aushängen, das sagt, »sie« sei überar-
beitet und brauche Ruhe. Butler beschreibt dieses Schild als
eine ausgesprochen schwule Appropriation des Weiblichen. Sie
behauptet, das Schild würde keine »kolonisierende Aneignung«
des Weiblichen darstellen, da diese Bewertung auf der irrtümli-
chen Annahme beruhen würde, daß das Weibliche zu den
Frauen gehört. Butler sollte hier bemerken, wie sie anderswo
tut, daß es viele verschiedene schwule Aneignungen des Weibli-
chen gibt. Mit Sicherheit sollte eine Evaluation der kolonisieren-
den Effekte dieser bestimmten Aneignung die »rassischen«, ge-
schlechtsidentitären und sexuellen Aspekte der Verhältnisse um
dieses Schild miteinbeziehen: die Verhältnisse zwischen Mana-
gement und Angestellten dieses Restaurants, seine Marketing-
strategien, seinen Platz innerhalb der räumlich-politischen Ver-
hältnisse der Nachbarschaft, usw.
Schließlich schlägt Butler die permanente Problematisierung
von »Identität« durch subversive Aneignungen vor: »The more
insidious and effective strategy it seems is a thouroughgoing ap-
propriation and redeployment of the categories of identity them-
selves, not merely to contest ›sex‹, but to articulate the conver-
gence of multiple sexual discourses at the site of ›identity‹ in or-
der to render that category, in whatever form, permanently pro-
blematic«16. Laclau würde zustimmen, daß jede Dislokation
eines hegemonialen Raums Möglichkeiten eröffnet, die in eine
residuale Sphäre des Undenkbaren relegiert waren. Er insistiert
dennoch, daß neue Verräumlichungen unvermeidbar sind, für
Laclau nehmen hegemoniale Strategien die Form der Verräumli-
chung von Temporalität an. In anderen Worten, Identitätsan-
sprüche konstruieren Räume: Sie geben uns einen Sinn des Lo-
ziertseins innerhalb einer teilweise gebundenen Ordnung, deren
unvollständige Grenzen simultan als Verteidigungen gegen Un-
DAS UNBEHAGEN DER HEGEMONIE 235

terbrechung und die Grenzen unserer Freiheit operieren. Wir


können nicht im nicht-verräumlichbaren Jenseits aller Iden-
titätsansprüche verbleiben: Jede Subversion eines hegemonialen
Raums hängt von den Ressourcen marginalisierter Räume ab,
und die Verteidigung der Möglichkeiten, die durch Subversion
eröffnet werden, hängt ihrerseits von der Konstruktion und Stär-
kung alternativer Räume ab. Die Ausstellung des Schildes in
einem öffentlichen Raum, um auf Butlers Beispiel zurückzu-
kommen, wäre unmöglich ohne die kollektiven Kämpfe, die zu-
allererst den Raum für das Restaurant erzeugten – die Wider-
stände homosexueller Unternehmer gegen Polizei, Regierung,
Autoritäten, heterosexuelle Unternehmervereinigungen, usw.;
homosexueller Publikationen, die Platz für Inserate zur Verfü-
gung stellen, gegen das Rechtssystem und die Mainstream-
Presse; »alternativer« Nachbarschaft, Homosexuelle, Studenten,
Künstler, Drogendealer, Prostituierte, etc. gegen Innenstadtent-
wickler und lokale Autoritäten, die für die Familie eintreten. Das
Restaurant-Schild ist tatsächlich in dieser Tradition des Kamp-
fes um die Definition von Raum verortet und hat seine eigenen
Effekte in Begriffen der Raumnahme. In dieser kurzen Analyse
habe ich Butlers hypothetisches Schwulenrestaurant in den
Kontext der 1980er räumlich-politischen Verhältnisse der
Church Street in Toronto, Kanada, gestellt. Rein hypothetische
Beispiele sind nicht sehr nutzbringend in politischer Theorie;
theoretische Formulierungen sollten immer durch irgendeine
Art Begegnung mit den Komplexitäten spezifischer historischer
Situationen entwickelt werden. Obwohl Butlers Text klar durch
gegenwärtige lesbische, schwule, bisexuelle und trans-gender
Kämpfe informiert ist, wird die Theorie-Praxis-Begegnung nicht
ausreichend detailliert analysiert.
Auf jeden Fall bleibt eine signifikante Differenz zwischen »Das
Unbehagen der Geschlechter« und dem Projekt von Laclau und
Mouffe. Diese erachten Identitätsformation sowohl als eine er-
mächtigende Strategie als auch als eine gefährliche Disziplinie-
rung von Differenz, während Butler dazu tendiert, letzteres Mo-
ment zu betonen und ersteres zu negieren. Laclau und Mouffe
bieten eine doppelte Analyse der Identitätspolitik: der Formen,
in denen alle Identitäten immer gegenüber Problematisierung,
Subversion, Parodie, usw. offen bleiben, und der Formen, in de-
nen das politische Terrain immer gleichzeitig durch neue Artiku-
lationen oder Identitätsansprüche wiederverräumlicht wird.
Butler konzentriert sich auf Problematisierung, ohne Wiederver-
236 ANNA MARIE SMITH

räumlichung adäquat anzusprechen. Die Unentwirrbarkeit von


Subversion und Verräumlichung, oder von Re-Zitation und Neu-
Situierung kann tatsächlich in der derridianischen Konzeption
von Iteration gefunden werden, die für Laclaus und Butlers Wi-
derstandstheorien zentral ist. Für Derrida nimmt Signifikation
die »Form« von Iteration an, von Wiederholung vergangener
Wiederholungen, bei denen immer eine irreduzible Differenz
zwischen jede Wiederholung eingeführt ist. Jede Aussage, die
»unsinnig« oder »unlogisch« erscheint, kann vom Kontext, in
dem sie unmöglich erscheint, abgelöst werden und mit einem
Kontext neu verbunden, sodaß sie als eine sinnvolle Aussage
funktioniert. Kein Kontext kann sich als einzig sinnvoller eta-
blieren. In anderen Worten: Was undenkbar erscheint, kann
durch die Subversion des hegemonialen Diskurses als denkbar
resituiert werden.
Indem sie permanente Problematisierung – sogar als regulative
Idee – vorschlägt, verwirft Butler einige wichtige Strategien. Wie
können nur Verantwortung für die Weisen übernehmen, in de-
nen wir positioniert sind, wie wenig perfekt auch immer diese
Positionierung sein mag, wenn wir anerkennen, daß wir immer
in Identitätsansprüchen gefangen sind. Die Effekte dieser Iden-
titätsansprüche sind unentscheidbar; in manchen Fällen, wie
der Auslöschung des Lesbischen aus offiziellen Diskursen zu Se-
xualität, ist es für Widerstandsstrategien von entscheidender Be-
deutung, unmögliche Ansprüche, Positionen einzunehmen. Per-
manente Problematisierung als Zugang mag eine nützliche Ant-
wort auf die Repräsentation »weißer«, schwuler Männlichkeit
als einem hyper-sexuellen Exzeß sein, aber sie kann begrenzten
Wert für lesbische und bi-sexuelle Frauen und farbige schwule
Männer haben, die gegen Auslöschung kämpfen. Es sollte auch
angemerkt werden, daß autoritäre Diskurse oft sehr gut mit Pro-
blematisierungen umgehen. Im Großbritannien der 80er waren
es oft die Anhänger Thatchers, die mit subversiven Wiederaneig-
nungen beschäftigt waren und die der Linken etwas über ihre es-
sentialistische Konzeption natürlicher politischer Subjekte lehrt.
In diesem Kontext war es absolut zentral, daß Widerstands-
strategien nicht nur die Schwächung hegemonialer Intelligi-
bilitäts-Horizonte beinhalteten, sondern auch direkte kollektive
Kämpfe, um alternative Räume zu verteidigen.
DAS UNBEHAGEN DER HEGEMONIE 237

ANMERKUNGEN

1 Judith Butler, Gender Trouble, New York, Routledge, 1990 (dt. Das Un-
behagen der Geschlechter, FfM., Suhrkamp, 1991)
2 Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, Hegemony and Socialist Strategy,
London, Verso, 1985
3 Anna Marie Smith, New Right discourse on race and sexuality, Cam-
bridge, Cambridge University Press, 1994
4 Stuart Hall und Martin Jacques (Hg.), The Politics of Thatcherism, Lon-
don, Lawrence and Wishart, 1983; und Stuart Hall, The Hard Road to Re-
newal, London, Verso, 1988.
5 Dies sind meine Beispiele.
6 Laclau und Mouffe, Hegemony and Socialist Strategy, op.cit., S. 159
7 Ibid. S. 183–4.
8 Ibid. S. 182, Italisierung A.-M. S.
9 June Jordan, interviewt von Prathiba Parmar, »Black feminism: The Po-
litics of Articulation«, in Jonathan Rutherford (Hg.), Identit: Community,
Culture, Difference, London, Lawrence and Wishart, 1990, S. 112
10 Chela Sandoval, »Feminism and Racism: A Report on the 1981 National
Women’s Studies Association Conference«, in Gloria Anzaldúa (Hg.),
Making Face, Making Soul, San Francisco, Aunt Lute Foundation Books,
1990, S. 66–7.
11 Gayle Rubin, »The Traffic in Women: Notes on the ›Political Economy‹
of Sex«, in Reyna Reiter (Hg.), Toward an Anthropology of Women, New
York, Monthly Review Press, 1975, S. 157–210.
12 Butler, Gender Trouble, op.cit., S. 136
13 Ibid, S. 33
14 Ernesto Laclau, New Reflections on the Revolution of Our Time, London,
Verso, 1990
15 Butler, Gender Trouble, op.cit., S. 149
16 Ibid., S. 128
Gleichheiten und Differenzen

EINE DISKUSSION VIA E-MAIL

JUDITH BUTLER
ERNESTO LACLAU

Ernesto,
wir wurden gebeten, ein Gespräch über Gleichheit und zum Pro-
blem akzeptabler und inakzeptabler Differenzen zu beginnen.
Ich weiß kaum, wo ich anfangen soll, und denke, Sie würden
wohl das Gefühl von Unbehagen teilen, das aus der Bitte um
eine Entscheidung darüber folgt, welche Arten von Differenzen
in eine ideale politische Ordnung inkludiert werden sollten, und
welche Arten von Differenzen die eigentliche Möglichkeit politi-
scher Ordnung untergraben, vielleicht sogar die eigentliche Ide-
alität, ohne die kein demokratischer Begriff von politischer Ord-
nung verfahren kann. Ich bin auch ein wenig verwirrt durch die
Frage, ob oder ob nicht die Idee von Einschließung und Aussch-
ließung, von der ich weiß, daß sie Ihr Werk nun seit einiger Zeit
beschäftigt, strikt mit dem Gleichheitsbegriff korreliert. So
werde ich vielleicht beginnen, indem ich eine Reihe von Unter-
schieden zwischen »Inklusivität« und »Gleichheit« anbiete. Es
scheint mir, daß Inklusivität ein Ideal ist, ein Ideal, das unmög-
lich zu realisieren ist, aber dessen Unrealisierbarkeit dennoch
den Weg anzeigt, auf dem ein radikal-demokratisches Projekt
fortschreitet.
Ich denke, daß einer der Gründe oder der zentrale Grund,
warum Inklusivität zum Scheitern verurteilt ist, genau darin
liegt, daß die verschiedenen Differenzen, die in die politische
Ordnung zu inkludieren sind, nicht im vorhinein feststehen, daß
sie in entscheidender Weise in einem Prozeß der Formulierung
und Ausarbeitung stehen und daß es keine Möglichkeit gibt, im
vorhinein die Form zu umschreiben, die ein Ideal von Inklusi-
DISKUSSION 239

vität annehmen würde. Diese Offenheit oder Unvollständigkeit,


die das Ideal der Inklusion konstituiert, ist genau ein Effekt des
unrealisierten Status dessen, was der Inhalt des Einzuschließen-
den ist oder sein wird. In diesem Sinne also muß Inklusion als
Ideal durch ihre eigene Unmöglichkeit konstituiert werden;
tatsächlich muß sie ihrer eigenen Unmöglichkeit verschrieben
sein, um auf dem Weg der Realisierung fortzukommen.
Gleichheit ist natürlich ein seltsames Konzept, wenn es in Rela-
tion zu diesem Modell gedacht wird (einem Modell, das sich von
Ihrem und Chantal Mouffes Denken zu diesem Thema ableitet).
Gleichheit wäre nicht die Gleichschaltung gegebener Differen-
zen. Diese Formulierung deutet darauf hin, daß Differenzen als
gleichbedeutend mit Besonderheiten und Partikularitäten ver-
standen werden müssen. Und eine zukünftige Wiedererarbei-
tung des Begriffs von Gleichheit würde darin liegen, auf der
Möglichkeit zu bestehen, daß wir noch nicht wissen, wer oder
was sich auf Gleichheit berufen könnte, wo und wann die
Gleichheitsdoktrin Anwendung finden mag und daß ihr Arbeits-
feld weder gegeben noch geschlossen ist. Die Unbeständigkeit
der Equal Protection Clause in der US-Verfassung legt darüber
auf interessante Weise Zeugnis ab. Trifft es zu, daß die Adressa-
ten von »hate speech« ihrer Möglichkeiten beraubt sind, glei-
chermaßen an der öffentlichen Sphäre teilzunehmen? Manche
Feministinnen wie Catharine MacKinnon argumentieren, Por-
nographie müsse abgelehnt werden, weil sie eine epistemische
Atmosphäre produziert, in der Frauen nicht erlaubt ist, ihre
Rechte auf Gleichbehandlung und Partizipation auszuüben. Ob-
wohl ich MacKinnons Sicht (und ihr Verständnis der performa-
tiven Repräsentationsoperation) ablehne, begrüße ich die Weise,
in der die Gleichheitsdoktrin ein Ort des Disputs in den rezenten
US-Verfassungsdebatten wurde. Das deutet darauf hin, daß wir
noch nicht wissen, wann und wo die Inanspruchnahme von
Gleichheit aufkommen mag, und es hält an der Möglichkeit
einer zukünftigen Artikulation dieser Doktrin fest.
So scheint es dann in gewissem Sinne, daß die Gleichheitsidee
undemokratisch verfahren würde, beanspruchten wir im vorhin-
ein zu wissen, wer sie in Anspruch nehmen darf und welche Ar-
ten von Fragen in ihren Geltungsbereich fallen. Und das steht im
Bezug zum Ideal einer unmöglichen Inklusivität: Wer von de-
nen, die sich auf Gleichheit berufen, wird inkludiert? Welche Ar-
ten von Fragen unterminieren die Möglichkeit für bestimmte
Gruppen, solch einen Anspruch überhaupt zu erheben?
240 JUDITH BUTLER – ERNESTO LACLAU

Aber das führt zu einer anderen Frage: Müssen nämlich Aus-


schließungen immer überwunden werden, und gibt es be-
stimmte Ausschließungsarten, ohne die eine politische Ordnung
nicht verfahren kann? Wie sollen wir solche ausgeschlossenen
Möglichkeiten spezifizieren? Sicherlich sind und müssen man-
che Verbrechen strafbar sein, ausgeschlossen vom Bereich des
Akzeptablen, und sicherlich gibt es Tabus – Verwerfungen im la-
canianischen Sinn –, ohne die kein Subjekt als ein Subjekt funk-
tionieren kann. Die »Einschließung« aller ausgeschlossenen
Möglichkeiten würde zur Psychose führen, zu einem radikal un-
lebbaren Leben und zur Zerstörung der politischen Ordnung,
wie wir sie verstehen. Wenn wir also akzeptieren – was, wie ich
denke, wir beide tun –, daß es keine politische Ordnung, keine
Gesellschaftlichkeit, kein Feld des Politischen gibt, ohne daß be-
reits bestimmte Arten von Ausschließung getroffen wurden –
konstitutive Ausschließungen, die ein konstitutives Äußeres ge-
genüber jedem Ideal von Inklusivität produzieren –, bedeutet
das nicht, daß wir alle Ausschließungsarten als legitim akzeptie-
ren. Es wäre ungerechtfertigt zu schließen, nur weil Ausschlie-
ßungen unvermeidlich seien, wären alle Ausschließungen ge-
rechtfertigt. Doch das führt uns auf das heikle Terrain des Pro-
blems, Ausschließungen zu rechtfertigen. Und hier bin ich
genötigt, das Wort Ihnen zu überlassen …

*
DISKUSSION 241

Liebe Judith,
ich stimme Ihnen weitestgehend zu. Lassen Sie mich Ihre Ana-
lyse mit drei Anmerkungen ergänzen. Die erste betrifft das Ver-
hältnis zwischen Gleichheit und Differenz. Nicht nur denke ich,
daß diese beiden Begriffe nicht unvereinbar sind, sondern ich
würde sogar hinzufügen, daß die Verbreitung von Differenzen
die Vorbedingung für die Ausbreitung der Äquivalenzlogik ist.
Zu sagen, daß zwei Dinge gleich sind – i.e., daß sie sich in eini-
gen Hinsichten gleichen –, setzt voraus, daß sie in einigen ande-
ren Hinsichten voneinander verschieden sind (andernfalls gäbe
es keine Gleichheit sondern Identität). Im politischen Feld ist
Gleichheit ein Diskurstyp, der mit Differenzen zu arbeiten ver-
sucht; sie ist eine Weise, diese zu organisieren, wenn Sie so wol-
len. Etwa das Recht aller nationaler Minoritäten auf Selbstbe-
stimmung anzunehmen, bedeutet anzunehmen, daß diese Mino-
ritäten einander äquivalent (oder gleich) sind. Als allgemeine
Regel würde ich sagen, daß je fragmentierter eine soziale Iden-
tität ist, desto weniger überschneidet sie sich mit der Gemein-
schaft als ganzer und desto stärker wird sie ihren Ort in Rechts-
begriffen (i.e. in Begriffen eines Gleichheitsdiskurses, der die
fragliche Gruppe transzendiert) innerhalb dieser Gemeinschaft
verhandeln müssen. Das ist der Grund, warum ich denke, daß
eine Politik des reinen Partikularismus sich selbst besiegt. Ande-
rerseits, denke ich, ist es notwendig, solche Situationen, in de-
nen eine anti-egalitäre Politik durch die Imposition eines domi-
nanten und uniformen Kanons stattfindet (das ist die Situation,
mit der heute multikulturelle Kämpfe in der angelsächsischen
Welt konfrontiert sind), von jenen zu unterscheiden, in denen
die Diskriminierung durch die gewaltsame Verteidigung von Dif-
ferenzen stattfindet, wie in der Idee der »separaten Entwicklun-
gen«, die das Herz der Apartheid bildete. Das bedeutet, daß je
nach Umständen Gleichheit zu einer Verstärkung oder zu einer
Schwächung von Differenzen führen kann.
Meine zweite Anmerkung betrifft die Frage der Ausschließung.
Ich stimme Ihnen darin zu, daß das Ideal totaler Gleichheit un-
erreichbar ist, und auch darin, daß eine Gesellschaft ohne jegli-
che Art von Ausschließung ein psychotisches Universum wäre.
Was ich hinzufügen möchte, ist, daß die Erfordernis von Aus-
schließung der Struktur jedes Entscheidens eingeschrieben ist.
Wie ich an anderer Stelle zu zeigen versucht habe, muß eine
Entscheidung, um eine Entscheidung zu sein, auf strukturell un-
entscheidbarem Terrain getroffen werden – andernfalls wäre,
242 JUDITH BUTLER – ERNESTO LACLAU

wenn die Entscheidung durch die Struktur prädeterminiert


wäre, sie nicht meine Entscheidung. Die Vorbedingung einer
Entscheidung ist, daß tatsächliche Wahl nicht algorithmisch
vorgebildet ist. Aber in diesem Fall, wenn die Entscheidung ihr
eigener Grund ist, sind die ausgeschiedenen Alternativen einfach
beseitegestellt, d.h. ausgeschlossen worden. Wenn wir von indi-
viduellen zu kollektiven Entscheidungen übergehen, ist das so-
gar noch deutlicher, denn die ausgeschlossene Alternative hätte
von bestimmten Gruppen von Leuten bevorzugt werden können,
und so zeigt Ausschließung eine Dimension von Unterdrückung,
die in der individuellen Entscheidung verborgen war. Ich würde
hinzufügen, daß eine Gesellschaft ohne Ausschließungen aus
fundamentaleren Gründen unmöglich ist, als nur deshalb, weil
sie ein empirisch unerreichbares Ideal ist: Sie ist auch logisch
unmöglich, insoweit das Soziale durch auf einem unentscheid-
baren Terrain getroffene Entscheidungen konstruiert wird. Wir
können so demokratisch wie möglich mit Ausschließungen um-
gehen (z.B. durch das Mehrheitsprinzip oder durch Minderhei-
tenschutz), aber das kann die Tatsache nicht verbergen, daß Po-
litik zu einem großen Ausmaß eine Serie von Verhandlungen um
das Prinzip der Ausschließung ist, das es immer gibt als das un-
auslöschbare Terrain des Sozialen. Wie üblich, determinatio est
negatio.
Das führt mich zu meiner dritten Bemerkung. Wir wurden um
ein Kriterium gebeten, um zu bestimmen, welche Differenzen
akzeptabel sind und welche nicht. Nun, das kann auf verschie-
dene Weise interpretiert werden. Es könnte zum Beispiel die
Forderung nach einem strikt ethischen Kriterium einschließen,
unabhängig von jedem Kontext. Wenn dem so wäre, würde die
einzige mögliche Antwort sein, daß kein solches Kriterium gege-
ben werden könne. Es könnte auch eine Frage nach Sozialethik
sein – nämlich welche Differenzen kompatibel sind mit den
tatsächlichen Funktionsweisen einer Gesellschaft. Das wäre eine
angemessenere Frage, da sie eine historizistische Antwort er-
möglicht. Der Kern meiner Antwort läge darin zu sagen, daß das
Kriterium dessen, was akzeptabel ist oder nicht, selbst Ort einer
Vielfalt von sozialen Kämpfen ist und daß es falsch ist zu versu-
chen, irgendeine Art dekontextualisierter Antwort zu geben. Of-
fensichtlich ist das keine Antwort auf die Frage: »Wie würden
Sie die Grenze zwischen dem in westeuropäischen Gesellschaf-
ten heute Akzeptablen und dem Nicht-Akzeptablen ziehen?«,
aber es erlaubt uns wenigstens, zwischen angemessenen und
nicht-angemessenen Fragen zu unterscheiden.
DISKUSSION 243

Ernesto,
danke für Ihre Antwort. Ich würde mich gerne auf Ihre letzten
zwei Punkte konzentrieren, den einen betreffend Ausschließung
und ihre Rolle in jedem Entscheiden, den anderen die Frage be-
treffend, wie man entscheiden könnte, welche Ausschließungsar-
ten getroffen werden müssen, damit Gleichheit ein aktives Ideal
bleibt. Ich denke, daß die zwei auf interessante Weise miteinan-
der verknüpft sind, und die Verknüpfung drängt sich mir durch
Ihren Fokus auf das »Entscheiden« in beiden Kontexten auf. Ich
denke, Sie behaupten zurecht, daß keine Entscheidung eine Ent-
scheidung sein kann, wenn sie im vorhinein von einer Struktur
irgendeiner Art determiniert ist. Denn damit es eine Entschei-
dung gibt, muß es irgendeine Kontingenz geben, was nicht das-
selbe ist, wie zu sagen, es müsse radikale Kontingenz geben. Ich
nehme an, daß es die relative Determination einer Struktur ist,
die eine Position wie Ihre unterscheidet von einer existentialisti-
scheren oder von einer konventionellen liberal-individualisti-
schen Sicht auf das »Entscheiden«. Ist es allerdings nicht mög-
lich, ein Konzept von Kontext zu entwickeln – wie es in Ihrer
Antwort auf die Frage angesprochen wurde, wie zu entscheiden
sei, was und was nicht in eine politische Ordnung inkludiert
werden sollte, und welche bestimmte »Differenzen« unzulässig
sind? Es scheint klar, daß eine dekontextualisierte Antwort auf
die Frage, was nicht inkludiert werden sollte, unmöglich ist, und
ich denke, daß das Bemühen, Prinzipien auszuarbeiten, die radi-
kal kontextfrei sind, wie es manche »Prozeduralisten« erstreben,
einfach darin besteht, den Kontext in das Prinzip einzubetten
und dann das Prinzip so zu rarifizieren, daß dessen eingebette-
ter Kontext nicht länger lesbar ist. Und doch läßt uns das in
einem Dilemma zurück, da ich mir vorstellen könnte, daß Sie
die von Derrida in »Signatur, Ereignis, Kontext« aufgeworfenen
Fragen bezüglich der »Unbegrenzbarkeit« von Kontexten so
überzeugend finden wie ich. Ich denke, daß Kontexte in be-
stimmter Weise von Entscheidungen produziert werden, das
heißt, es gibt eine bestimmte Verdopplung des Entscheidens in
der Situation (dem Kontext?), in der jemand zu entscheiden ge-
beten wird, welche Differenzarten in eine gegebene politische
Ordnung nicht inkludiert werden sollten. Da gibt es zuerst die
Entscheidung, den Kontext, in dem solch eine Entscheidung ge-
troffen werden wird, zu markieren oder einzugrenzen, und dann
gibt es die Markierung bestimmter Differenzarten als unzuläs-
244 JUDITH BUTLER – ERNESTO LACLAU

sig. Die erste Entscheidung ist selbst nicht ohne Kontext, aber
sie wäre demselben infiniten Regreß unterworfen wie die zweite,
denn es gäbe keinen originalen oder bestimmenden Kontext, der
nicht gleichzeitig durch eine Entscheidung irgendeiner Art be-
grenzt wäre.
Ich halte es für einen Fehler zu denken, wir wären fähig, un-
zulässige »Differenzarten« aufzulisten, nicht nur weil Sie und
ich nicht die Macht zu solchen Entscheidungen haben, sondern
weil die Form der Frage sowohl mißdeutet, was eine Entschei-
dung ist, als auch was wir unter »Differenzen« verstehen kön-
nen. Wenn es, wie Sie sagen, keine Entscheidung ohne Aus-
schließung gibt, ohne daß etwas verworfen und dabei ein Set von
Möglichkeiten umrissen wird, das durch diese Verwerfung her-
vortritt, dann macht Ausschließung, wie Sie sagen, Entscheiden
möglich. So ist die Frage vielleicht, welche Entscheidungsarten
machen Entscheiden möglich, und muß das Treffen einer »Ent-
scheidung« dergestalt bewertet werden, daß bestimmte Arten
von Ausschließungen konstitutive Ausschließungen bleiben soll-
ten? Das erinnert mich an Nietzsches Frage: Wie wird der
Mensch zu einem Tier, das dazu fähig ist, Versprechen zu geben?
Wie kann irgendwer von uns (durch eine bestimmte Art konsti-
tutiver Verwerfung) zu einem solchen Lebewesen werden, das
Entscheidungen treffen kann und trifft? Ich habe nicht die Ab-
sicht, die an uns gestellte Frage über die Unzulässigkeit be-
stimmter »Differenzen« zu umgehen, aber ich habe immer noch
Schwierigkeiten, die Frage zu lesen. Ich frage mich, ob es sich
um ein Problem von »Differenzen« handelt, verstanden als spe-
zielle Identitätsformen oder Gruppenformationen, oder ob wir
das Feld der Differenzen im Spiel halten wollen, im Disput,
während das, worauf unter der Rubrik »unzulässige Differen-
zen« Bezug genommen wird, wirklich etwas ist, das das Spiel
der Differenzen zum Stillstand bringt. Ich freue mich auf Ihre
weiteren Gedanken.
Judith
*
DISKUSSION 245

Liebe Judith,
ersteinmal denke ich, daß das Spiel der Differenzen zur selben
Zeit eine Eröffnung und eine Stillstellung dieses Spiels ist. Ich
sage das, weil ich nicht denke, etwas wie ein unbegrenztes Spiel
der Differenzen könne beibehalten werden, nicht einmal als ein
aktives Ideal. Ich kann das Terrain mancher historischer Mög-
lichkeiten nur öffnen, indem ich andere schließe. Das entspricht
der Behauptung, daß es Politik ist, und nicht die Idee unbe-
schmutzter Präsenz, die soziale Verhältnisse organisiert. Ande-
rerseits verstehe ich nicht, was ein »sich selbst ›internes‹ Spiel
der Differenzen« sein könnte. Wenn Identität Differenz bedeutet,
dann erfasse ich die Idee eines der Differenz internen »Spiels der
Differenzen« nicht vollständig. Statt dessen denke ich, daß das
Spiel der Differenzen jede rigide Grenze zwischen dem Internen
und dem Externen subvertiert. Was mich dazu führt, daß ich
den Gleichheitsbegriff – vom Gesichtspunkt seiner konstitutiven
Strukturierung – im Feld dessen orten würde, was ich die »Äqui-
valenzlogik« genannt habe; d.h. ein Prozeß, durch den die diffe-
rentielle Natur jeder Identität gleichzeitig behauptet und subver-
tiert wird. Nun ist eine Äquivalenzkette nach ihrer eigentlichen
Definition konstitutiv offen, es gibt keine Möglichkeit, ihre
Grenzen in einem dekontextualisierten Universum zu etablieren.
Politik ist in diesem Sinn eine doppelte Operation des Brechens
und Ausweitens von Äquivalenzketten. Jeder ernsthafte politi-
sche Prozeß in einem konkreten Kontext ist genau ein Versuch,
teilweise Äquivalenzen auszuweiten und teilweise deren endlose
Ausweitung zu begrenzen. Ich verstehe Liberalismus als einen
Versuch, die Bedeutung von Gleichheit innerhalb definiter Para-
meter (Individualismus, die rigide Unterscheidung zwischen öf-
fentlich/privat, etc.) zu fixieren, die historisch begrenzt und in
vielerlei Hinsicht durch die Erfahrung gegenwärtiger Politik
überkommen sind – und nicht immer in eine fortschrittliche
Richtung. Die grundlegenden liberalen Unterscheidungen zu de-
konstruieren und dabei ein demokratisches Potential zu behal-
ten, ist, wie ich es sehe, die Aufgabe einer radikal-demokrati-
schen Politik.
Ich komme nun, Judith, zu Ihren Reaktionen auf meine Bemer-
kungen. Ich freue mich festzustellen, daß wir in den meisten
Fragen übereinstimmen. Wir wollen zu Beginn einen Punkt
klären. Ich stimme Ihnen mit Sicherheit darin zu, daß »radikale
Kontingenz« ein inakzeptabler Begriff ist, wenn wir darunter
246 JUDITH BUTLER – ERNESTO LACLAU

eine Art Abgrund verstehen, der einen totalen Mangel an Struk-


turierung erzeugt. Was wir als Quelle von Kontingenz bezeich-
nen, ist eher eine verfehlte Strukturierung. Daher sollte Kontin-
genz – wenn sie richtig kontextualisiert ist – wieder dem grund-
legendsten Feld der notwendigen Unterscheidung eingeschrie-
ben werden (kontextuelle Notwendigkeit natürlich, nicht logi-
sche oder kausale Notwendigkeit). Dennoch würde ich, nach-
dem Kontingenz auf diese Weise abgeleitet wurde, immer noch
sagen, daß sie radikal ist, insofern sie sich innerhalb eines partiell
destrukturierten Kontexts auf sich selbst nur als ihre eigene
Quelle berufen kann. Wären Sie damit einverstanden?
Das führt mich zu den wichtigen von Ihnen aufgeworfenen Fra-
gen, beginnend mit Ihrer Kritik des »Prozeduralismus« – einer
Kritik, die ich unterschreibe. Ich denke, die Fragen, die Derrida
in »Signatur, Ereignis, Kontext« stellt, müssen beantwortet wer-
den, und man muß der doppelten Dimension, die sie öffnen, ge-
genüber sehr aufmerksam sein. Einerseits sagt er, es sei genau-
genommen nicht möglich, einem Kontext umschließende Gren-
zen zuzuschreiben. Da er aber dennoch nicht für die Rückkehr
zu einer platonischen, dekontextualisierten Bedeutung argu-
mentiert, bleiben wir nur mit der bloßen Unmöglichkeit zurück,
Kontexte einzugrenzen. Sie müssen durch ihre Grenzen defi-
niert werden, und doch sind diese Grenzen unmöglich. Alles
dreht sich hier um dieses flüchtige Objekt, die »Grenze«, die so
etwas wie die Präsenz einer Absenz darstellt. Oder, um es in
Kantische Begriffe zu fassen, ein Objekt, das sich durch die Un-
möglichkeit einer adäquaten Repräsentation zeigt. Meine eigene
Sicht ist nun, daß diese Grenze unmöglich, aber gleichzeitig not-
wendig ist – so etwas wie Lacans »Objekt klein a«; es wird in der
einen oder der anderen Weise in das Feld der Repräsentation
eintreten müssen. Aber da es notwendig und doch auch unmög-
lich ist, wird seine Repräsentation konstitutiv inadäquat sein.
Eine partikulare Differenz wird immer innerhalb der Grenzen
die Grenzrolle annehmen müssen und auf diese Weise einen
vorübergehenden Kontext fixieren (in sich schließen). Diese Re-
lation von Fixiertheit/Unfixiertheit, durch die ein »ontischer« In-
halt die »ontologische« Funktion annimmt, einen vorübergehen-
den Kontext zu konstituieren, nenne ich, wie Sie wissen, eine he-
gemoniale Relation. Wie sie sehen, beinhaltet das die derridiani-
sche Kritik von Begrenzungen, aber es versucht, diese über
einen Begriff der Dialektik zwischen Unmöglichkeit/Notwendig-
DISKUSSION 247

keit zu verlängern, der die Konstruktion hegemonialer Kontexte


ermöglicht.
Das gibt mir einen Ausgangspunkt, an dem ich eine Art Antwort
auf die in unserem Austausch involvierten Fragen beginnen
kann. Welche Differenzen sind akzeptabel oder nicht-akzepta-
bel? Wir stimmen beide darin überein, daß die Frage nicht
außerhalb jedes Kontexts beantwortet werden kann und auch
der Begriff Kontext weit davon entfernt ist, unproblematisch zu
sein. Wenn Kontexte trotzdem auf die von mir vorgeschlagene
Weise konstituiert werden, hat das mehrere Vorteile: 1) man
kann die letztinstanzliche Instabilität von Grenzen mit tatsächli-
chen Begrenzungen in Übereinstimmung bringen; 2) man be-
sitzt bestimmte Regeln zu entscheiden, was als eine gültige In-
klusion oder Exklusion zählen wird: es wird von der tatsächli-
chen hegemonialen Konfiguration einer bestimmten Gemein-
schaft abhängen; 3) diese hegemoniale Konfiguration ist kein
einfach Gegebenes, sondern das Resultat der vorübergehenden
Artikulation zwischen konkretem Inhalt und Universalisierung
der Gemeinschaft durch die Konstruktion einer Grenze, die kein
notwendiges Verbindungsglied zu diesem Inhalt hat; diese hege-
moniale Konfiguration ist immer offen für Disput und Wandel.
Auf diese Weise erreichen wir eine demokratischere Sicht, als
wenn die hegemoniale Konfiguration abhinge von einer nicht-
kontingenten Verbindung zwischen Kontextbegrenzung/Konsti-
tutionsfunktion und tatsächlichem Inhalt, der die Rolle der
Grenze spielt; 4) die Ungleichzeitigkeit schließlich, die hegemo-
niale Spiele in differentielle soziale Identitäten einführen, er-
laubt uns, einige der mit dem »Spiel der Differenzen« verbunde-
nen Aporien zu lösen und uns der Logik zu nähern, durch wel-
che diese Differenzen in unserer tatsächlichen politischen Welt
konstituiert werden. Ich warte auf Ihre Reaktion.
Beste Grüße, Ernesto

*
248 JUDITH BUTLER – ERNESTO LACLAU

Ernesto,
vieles in Ihrem letzten Text gibt zu Denken auf, und ich hoffe im-
stande zu sein, im folgenden in einige der angesprochenen Fra-
gen einzudringen. Ich stimme Ihrer Formulierung der Äquiva-
lenzlogik durchaus zu, nämlich als einem »Prozeß, durch den
die differentielle Natur jeder Identität gleichzeitig behauptet und
subvertiert wird«. Und ich frage mich, ob ein Nachdenken über
Äquivalenzen nicht das durch die Gleichheitsfrage hervorge-
brachte Dilemma signifikant beeinflußt. Es schien mir immer,
daß Sie und Chantal Mouffe versuchten, eine strukturelle Offen-
heit (und somit einen »Poststrukturalismus«) am Problem der
Identität zu unterstreichen, die gleichzeitig den Platz der Iden-
tität in gegenwärtigen politischen Formationen honoriert, aber
dessen gründenden oder »ontologischen« Anspruch keineswegs
honoriert. Ich nehme an, daß Ihr im folgenden Absatz einge-
brachtes Argument der Kontingenz ebenfalls auf die Frage von
Identität und Äquivalenz antwortet: Soweit alle Identitäten
darin scheitern, vollständig strukturiert zu sein, sind sie alle glei-
chermaßen (obwohl nicht wesenhaft oder »ontologisch«) durch
dasselbe konstitutive Scheitern geformt. Diese »Selbigkeit« ist
interessant, da man sie nicht rigoros im Sinne eines gegebenen
»Inhalts« verstehen darf. Im Gegenteil, sie ist es, was das Schei-
tern jedes gegebenen »Inhalts« garantiert, auf den Status des
Ontologischen oder – wie ich es nenne – »Gründenden« erfolg-
reich Anspruch zu erheben. Ich verstehe, daß sie auf Lacan
zurückgreifen, um diesen Mangel oder dieses Scheitern zu er-
klären, und das ist es, worin ich mich möglicherweise von Ihnen
unterscheiden würde; ein Unterschied in der Betonung. Denn
ich denke, daß das Scheitern jeder Subjektformation ein Effekt
ihrer Wiederholbarkeit ist; sie muß in der Zeit formiert werden,
immer und immer wieder. Man möchte sagen, via Althusser, daß
das Ritual, durch das Subjekte formiert werden aufgrund dieser
Notwendigkeit, sich selbst zu wiederholen und zu reinstallieren,
immer einem wiederholten Gang oder Verlauf unterworfen ist.
Doch ich frage mich, ob dieses Scheitern für uns beide nicht zu
einer Art universaler Bedingung (und Grenze) der Subjektforma-
tion wird; zu einem Weg, über den wir immer noch eine gemein-
same Bedingung geltend zu machen versuchen, die von einem
transzendentalen Status im Verhältnis zu partikularen Differen-
zen ausgeht. Insoweit als wir – was unsere »Differenz« auch sein
mag – immer nur partiell als wir selbst konstituiert sind (und
DISKUSSION 249

das als Ergebnis unserer Konstitution innerhalb eines Feldes


von Differenzierungen); und bis zu welchem Ausmaß sind wir
durch dieses »Scheitern« auch aneinander gebunden? Wie wird
die Begrenztheit der Subjektkonstitution kurioserweise zu einer
neuen Quelle von Gemeinschaft oder Kollektivität oder einer
vermutlichen Kondition von Universalität? Ich würde gerne
mehr darüber wissen, wie eine kontextuelle Notwendigkeit eta-
bliert wird. Gibt es einen Hintergrund oder Kontext, der den
dünnen und doch notwendigen Horizont dessen formt, was wir
»Kontext« nennen? Besäße der Kontext, der auch partiell de-
strukturiert ist, der noch nicht vollständig den Status des Onto-
logischen angenommen hat, auch eine Notwendigkeit, die
strenggenommen keine logische oder kausale Notwendigkeit
wäre, sondern vielleicht eine historische Notwendigkeit irgend-
einer Art? Ist es eine verräumlichte historische Notwendigkeit
(Benjamin dachte, post-teleologische Geschichte würde an einer
Landschaft abgelesen werden müssen)? Und was sind die Bedin-
gungen, unter denen so eine Notwendigkeit für uns als solche
lesbar wird?
Ich denke, daß es in Ihrem Begriff von demokratischer Hegemo-
nie immer eine radikale Inkommensurabilität zwischen Inhalt
und Universalisierung geben wird – aber daß die zwei auch im-
mer einander in irgendeiner Weise hervorrufen werden. Die de-
mokratische Aufgabe würde darin liegen, jede gegebene Univer-
salisierung von Inhalt daran zu hindern, eine letztgültige zu wer-
den, d.h. den zeitlichen Horizont zu schließen, den künftigen
Horizont der Universalisierung selbst. Wenn ich das richtig ver-
stehe, dann stimme ich dem aus ganzem Herzen zu.
Ich frage mich somit, ob wir unsere Unterhaltung nicht be-
schließen möchten, indem wir uns der Frage der »Amerikas« zu-
wenden, einem Begriff, der in der Rubrik figuriert, unter der un-
sere Unterhaltung stattfindet. Ich frage das, weil es so interes-
sant ist zu sehen, wie etwa in den »American Studies« – wie sie
in den Vereinigten Staaten betrieben werden – die Grenzen der
Amerikas gezogen werden. Oft ist es der Fall, daß die Grenzen
mit den Vereinigten Staaten synonym werden, wobei an diesem
Punkt die Grenze des epistemologischen Objekts »die Amerikas«
eine Geschichte des Kolonialismus enkodiert und dissimuliert.
Oder wenn es auf den Kontinent Nord-Amerika eingeschränkt
wird und Süd-Amerika und die Inseln dazwischen ausschließt,
gibt es bestimmte Geschichten, die man nicht über Handel,
Sklaverei und koloniale Expansion erzählen kann. Hier wird in-
250 JUDITH BUTLER – ERNESTO LACLAU

teressant, wie wir über Gleichheit unter dieser Rubrik denken,


wo das zuhandene »Subjekt« nicht exakt eine Identität ist, son-
dern ein politisches Imaginäres, wo genau die Grenzen dessen,
was mit pluralisierten »Amerikas« gemeint ist, auf wichtige
Weise unsicher bleiben. Klarerweise kann die Frage der Gleich-
heit oder eigentlich der Äquivalenz nicht bezüglich einer Entität
– »die Amerikas« – gestellt werden, wenn die eigentliche Abgren-
zung dieses Phänomens noch nicht bekannt ist. Oder gibt es
einen Weg, die Frage der Gleichheit zu stellen, ohne im vorhin-
ein ein Wissen davon zu behaupten, woraus dieses Phänomen
besteht? Oder noch wichtiger: Gibt es einen Weg, die Frage der
Gleichheit zu stellen, der die Frage danach eröffnet, was die
»Amerikas« sind und was sie werden? Wie treibt man die künfti-
gen Möglichkeiten innerhalb der ontischen Artikulation voran,
um deren Verwerfung als das Ontologische abzuwenden?
Beste Grüße, Judith

*
DISKUSSION 251

Liebe Judith,
die Probleme, die Sie in Ihrem letzten Text angesprochen haben,
würden in der Tat mehr Gedanken und Raum beanspruchen als
mir die Grenzen dieses Austauschs erlauben. Lassen Sie mich
dennoch einige Ihrer grundlegenden Punkte ansprechen.
1) Sie sagen bezüglich meines Begriffs der demokratischen He-
gemonie, daß Sie ihm aus vollem Herzen zustimmen, wenn Sie
ihn richtig verstanden haben. Tatsächlich haben Sie ihn perfekt
verstanden, also gibt es da keinen Streit zwischen uns über die-
sen zentralen Punkt meines Arguments.
2) Lassen Sie mich zu unserer Differenz in der Betonung des
Scheiterns jedes gegebenen Inhalts, den Status des »Gründen-
den« zu behaupten, folgendes sagen. Ich stimme völlig mit Ih-
nen darin überein, »daß das Scheitern jeder Subjektformation
ein Effekt ihrer Wiederholbarkeit ist«. Diese Formulierung prä-
sentiert dennoch eine Ambiguität. Denn es ist ohne weiteres
möglich, diese Wiederholbarkeit als etwas zu denken, dessen Re-
kurrenz – oder besser Linearität – die ontologische Differenz
auslöscht – i.e., dessen Bewegung zwar auf jeder Stufe unvoll-
ständig ist (und in diesem Sinne ein Scheitern), das aber als ein
System nichts außerhalb seiner selbst läßt. In diesem Fall wür-
den wir uns im Bereich von Hegels Logik befinden: Das Schei-
tern jeder einzelnen Stufe kann nicht als solches repräsentiert
werden, da es »für sich« auf einer höheren Stufe ist – und es
ergo nie ein konstitutives Scheitern, nie ein ultimatives Stecken-
bleiben gibt. Die Insistenz des Seins durch seine verschiedenen
Manifestationen ist nichts jenseits der Sequenz der letzteren.
Was jedoch, wenn die Logik von Scheitern/Wiederholung nicht
die Logik der Aufhebung ist, wenn es die Kontingenz der Serien
ist, die in der Wiederholung insistiert, die Hoffnungslosigkeit ih-
res Versuchs einer ultimativen Schließung? In diesem Fall kann
sich der Moment des Scheiterns und der Hoffnungslosigkeit
dem Repräsentationsfeld nicht entziehen. Die Varietät der Insi-
stenz, die Präsenz der Absenz des Objekts, das jede mögliche
Wiederholung in Gang hält, muß irgendeine Form diskursiver
Präsenz haben. Das Scheitern der ontologischen Absorption des
ganzen ontischen Inhalts öffnet den Weg für eine konstitutive
»ontologische Differenz«, die Macht, Politik, Hegemonie und
Demokratie ermöglicht. Nun denken Sie, daß das – soweit es
mich betrifft – die Einnahme eines lacanianischen Standpunkts
mit sich bringt. Ich bin mir dessen nicht ganz sicher. Was ich zu
252 JUDITH BUTLER – ERNESTO LACLAU

tun versuche, ist, die Vielheit diskursiver Oberflächen zu erfor-


schen, in denen sich diese irreduzible »ontologische Differenz«
in der modernen und postmodernen Philosophie und politischen
Theorie zeigt. Lacans Theorie ist mit Sicherheit eine dieser
Oberflächen. Aber ich würde nicht behaupten, sie wäre die
hauptsächliche – geschweige denn die einzige.
3) Schließlich »Amerika«. Wie sie zeigen, ist »Amerika« eine Art
leerer, zweideutiger Signifikant: Er kann sowohl Süd- wie Nord-
Amerika bedeuten, aber er kann auch bloß letzteres bedeuten.
Das heißt, daß Amerika als eine Art unmarkierter Begriff funk-
tioniert, während die Serie von Suffixen, die die Marke des Sü-
den konstruiert, in ihrer Abfolge eine ganze Geschichte imperia-
listischer Herrschaft involviert. Amerika ohne Unterschiede war
der Diskurs der Unterordnung des Süden unter den Norden: die
Monroe-Doktrin. »Hispano-Amerika« der Name eines älteren
Kolonialismus. »Ibero-Amerika« die seiner Erweiterung, um
Portugal miteinzuschließen. Schließlich war »Lateinamerika«
eine Erfindung des französischen Kolonialismus zur Zeit des
maximilianischen Kaiserreichs von Mexiko, um eine Interven-
tion zu legitimieren, welche die Verbindungen sowohl mit der
iberischen Vergangenheit, als auch mit dem aufsteigenden
(nord)amerikanischen Imperialismus unterbrechen wollte. Die
Tatsache, daß die französische Intervention auf dem Kontinent
keine Zukunft hatte, machte (latein-) zu einem ausreichend
harmlosen Präfix, um als eine politische Grenze zu funktionie-
ren, die den Süden von den politischen Interventionen des Nor-
dens separierte.
Die Frage, die dennoch zu beantworten bleibt, ist diese: Hat – so-
weit es die Lateinamerikaner betrifft – der Signifikant »Ame-
rika« ohne Unterscheidungen, ohne Separation des Süden vom
Norden, irgendeine positive Rolle zu spielen? Meine Antwort ist:
Nein. Ich denke nicht, daß es für Lateinamerikaner irgend etwas
dabei zu gewinnen gibt, wenn sie mit dem Gedanken einer
Schicksalsgemeinschaft mit den Angloamerikanern herumspie-
len. Dennoch, was ist mit den Afroamerikanern und den hispani-
schen Minoritäten in Nordamerika: Gibt es für sie irgendein
Sprachspiel um die Ambiguitäten und den fließenden Charakter
des Signifikanten »Amerika«? Die Antwort muß in diesem Fall
anders lauten. Es wäre definitiv falsch zu denken, der Signifi-
kant »Amerika« sei für diese Gruppen ein für allemal auf die
enge Geschichte fixiert, wie sie von der angloamerikanischen
Tradition dargestellt wird. Die Erweiterung des Diskurses der
DISKUSSION 253

Rechte, der pluralistischen Diskurse, die die Forderungen ethni-


scher, nationaler oder sexueller Gruppen anerkennen, kann als
eine Erweiterung der Freiheiten und Rechte auf Gleichheit prä-
sentiert werden, welche im (nord)amerikanischen politischen
Imaginären seit dessen Beginn enthalten aber auf begrenzte Be-
völkerungssektoren beschränkt waren. Dieses multikulturelle
und freie Amerika wird Ort einer Vielzahl von ambigen und offe-
nen Signifikationen sein, doch es ist diese Offenheit und Ambi-
guität, die einer demokratischen politischen Kultur ihre Bedeu-
tung gibt.
Ihr ergebener
Ernesto Laclau

*
Weitere Reflexionen zu
Hegemonie und Gender

JUDITH BUTLER

Der Austausch, den Ernesto Laclau und ich letztes Jahr über e-
mail führten, wird jetzt zu einem Gespräch, das sich – wie ich er-
warte – fortsetzen wird. Und ich würde gerne diese »supplemen-
tierende« Reflexion nutzen, um darüber nachzudenken, was
solch ein Gespräch möglich macht und welche Möglichkeiten
aus solch einem Gespräch entspringen können.
Zuallererst wurde ich wohl in das Werk von Laclau und Mouffe
gezogen, als ich Hegemonie und radikale Demokratie zu lesen be-
gann – und realisierte, daß ich marxistische Denker gefunden
hatte, für die Diskurs nicht einfach nur eine Repräsentation
präexistenter sozialer und historischer Realitäten war, sondern
auch für das Feld des Sozialen und Historischen konstitutiv war.
Der zweite Moment kam, als ich realisierte, daß für das Konzept
der Artikulation – von Gramsci übernommen – das Konzept von
Re-Artikulation zentral war. Als ein zeitlich dynamisches und re-
lativ unvorhersagbares Kräftespiel wurde Hegemonie von
Laclau und Mouffe als eine Alternative zu statischen Formen
von Strukuralismus gefaßt, welche dazu tendieren, gegenwärtige
soziale Formen als zeitlose Totalitäten zu konstruieren. Ich lese
Laclau und Mouffe als politische Transkription von Derridas
»Die Struktur, das Zeichen und das Spiel«: Eine Struktur ge-
winnt ihren Status als Struktur, ihre Strukturalität, nur durch
ihre wiederholte Neueinsetzung. Die Abhängigkeit dieser Struk-
tur von ihrer Wiedereinsetzung bedeutet, daß die eigentliche
Möglichkeit von Struktur von einer Wiederholung abhängt, die
in keinem Sinne vollständig im vorhinein determiniert ist, daß
es – damit Struktur und im Ergebnis soziale Struktur möglich
wird – an ihrer Basis zuerst eine kontingente Wiederholung ge-
ben muß. Darüber hinaus bedeutet für manche soziale Forma-
WEITERE REFLEXIONEN 255

tionen ihr Auftreten als strukturiertes, daß sie auf irgendeine


Weise die Kontingenz ihrer Einsetzung verdeckt haben.
Die theoretische Reartikulation von Struktur kennzeichnete das
Werk von Laclau und Mouffe als konsequent poststrukturali-
stisch und bot das vielleicht wichtigste Verbindungsglied zwi-
schen Politik und Poststrukturalismus der letzten Jahre (neben
dem Werk Gayatri Chakravorty Spivaks). Die Bewegung von
einer strukturalistischen Auffassung, in der Kapital als soziale
Verhältnisse auf relativ homologe Weise strukturierend verstan-
den wird, zu einer Sicht von Hegemonie, in der Machtverhält-
nisse Wiederholung, Kontingenz und Reartikulation unterwor-
fen sind, brachte die Frage der Zeitlichkeit in das Denken der
Struktur und kennzeichnete eine Bewegung von einer althusse-
rianischen Theorie, die strukturale Totalitäten als theoretische
Objekte faßt, zu einer, in der die Einsicht in die kontingente
Möglichkeit von Struktur eine erneuerte Konzeption von Hege-
monie als an die kontingenten Orte und Strategien der Macht-
Reartikulation gebunden inauguriert.
Es ist in diesem Kontext natürlich unmöglich, den genauen Weg
zu rekonstruieren, auf dem die Arbeiten von Derrida und Fou-
cault in der Rekonzeptualisierung von Hegemonie zusammen-
treffen, die Laclau und Mouffe anbieten. Dennoch, einer der
Punkte, die für mich am hevorspringendsten waren, ist die Wie-
dereinführung von Temporalität und, in der Tat, von Zukünftig-
keit in das Denken sozialer Formationen. Es gab unter vielen
kritischen sozialen Theoretikern eine Tendenz zu unterschätzen,
wie stark der systematische Charakter des Kapitals dazu ten-
diert, jede Oppositionsinstanz in den Dienst der Selbstvermeh-
rung des Kapitals zu stellen. Ich würde klarerweise zustimmen,
daß die inkorporativen und domestizierenden Möglichkeiten des
Kapitals immens sind. Aber ich würde auch behaupten, daß jede
Theorie, welche die Möglichkeiten einer Transformation vom In-
nen der »systemischen« Formation aus nicht denken kann,
selbst eine Komplizin der Idee des »ewigen« Charakters des Ka-
pitals ist, welche das Kapital so bereitwillig produziert. Hegemo-
nie markiert auch eine Grenze gegenüber den totalisierenden
Begriffen, in denen soziale Formationen gedacht werden müs-
sen. Denn worauf Hegemonie ihr Augenmerk legt, sind die Mo-
mente des Bruchs, der Reartikulation, Konvergenz und des Wi-
derstandes, die nicht sofort von sozialen Formationen in ihrer
vergangenen und gegenwärtigen Form kooptiert werden. Daß
keine soziale Formation fortdauern kann, ohne wiedereingesetzt
256 JUDITH BUTLER

zu werden, und daß jede Wiedereinsetzung die fragliche »Struk-


tur« aufs Spiel setzt, legt nahe, daß die Möglichkeit ihrer eigenen
Öffnung gleichzeitig die Möglichkeitsbedingung von Struktur
selbst ist.
Bevor ich die Arbeiten von Laclau und Mouffe besser kannte,
kam ich dieser Einsicht in meiner Arbeit zu gender nahe1. Dort
argumentierte ich, daß gender kein innerer Kern oder keine stati-
sche Essenz ist, sondern eine wiederholte Einsetzung von Nor-
men, die retroaktiv das Erscheinen von gender als einer dauern-
den inneren Tiefe produziert. Mein Argument war auch, daß ob-
wohl gender performativ durch eine Wiederholung von Akten
(die selbst kodierte Normhandlungen sind) konstituiert ist, es
aus diesem Grund nicht determiniert ist. Tatsächlich kann gen-
der durch die reiterative Notwendigkeit, durch die es konstituiert
ist, wiedererzeugt und wiederaufgeführt werden. Hierbei kon-
zentrierte ich mich auf die Übersetzung zweier Derridascher
Einsichten in die gender Theorie, was die Vorgangsweise von
Laclau und Mouffe in der Theorisierung hegemonialer Politik
spiegelt: (1) daß der Begriff, der a priori Realität zu repräsentie-
ren vorgibt, diese Priorität retroaktiv als einen Effekt seiner eige-
nen Operation produziert; und (2) daß jede determinierte Struk-
tur ihre Determination durch eine Wiederholung gewinnt und
damit durch eine Kontingenz, die den determinierten Charakter
dieser Struktur aufs Spiel setzt. Für den Feminismus bedeutet
das, daß gender keine innere Tiefe repräsentiert, sondern diese
Interiorität und Tiefe performativ als einen Effekt ihrer eigenen
Operation produziert. Und es bedeutet, daß »Patriarchat« oder
»Systeme« maskuliner Herrschaft keine systemischen Totalitä-
ten sind, die Frauen in Positionen der Unterdrückung halten
müssen, sondern vielmehr hegemoniale Machtformen, die ihre
eigene Zerbrechlichkeit genau in dieser Operation ihrer Wieder-
holbarkeit enthüllen. Die strategische Aufgabe des Feminismus
ist es, diese Gelegenheiten der Zerbrechlichkeit auszunützen, so-
bald sie auftreten.
Doch unlängst hat Laclau eine andere Reihe von Einsichten an-
geboten, die auf interessante Weise mit meinem eigenen Denken
zusammenfallen. Die erste hat mit seiner enorm provokativen
Behauptung zu tun, daß »der essentiell performative Charakter
der Benennung/Namensgebung die Vorbedingung aller Hegemo-
nie und Politik ist« (Vorwort zu The Sublime Object of Ideology
von Slavoj Ÿiÿek). Was hier mit »performativ« gemeint ist, ist
von äußerster Wichtigkeit. Denn Namen bringen nicht bloß in
WEITERE REFLEXIONEN 257

Existenz, was sie benennen, wie es göttliche Namen tun. Namen


in der Sphäre der Politik produzieren die Möglichkeit der Identi-
fikation – aber durchkreuzen diese Möglichkeit auch. Soweit sie
nicht deskriptiv sind (und somit, für Laclau, nicht an etablierte
Inhalte gebunden), werden sie zu Orten für eine hegemoniale
Reartikulation von Subjektpositionen. Ein Name beschreibt das
Subjekt nicht vollständig, das es dennoch in sozialem Raum und
sozialer Zeit inauguriert. Aber worin besteht seine produktive
Macht; und was sind die Bedingungen der Möglichkeit einer sol-
chen Macht? Laclau bezieht sich auf das, was im Subjekt durch
die Macht des Namens indeterminiert bleibt, die referentiellen
Grenzen der Anrufung. Was konstituiert die Begrenzungen der
performativen Macht der Benennung? Was hält den Namen als
einen Ort hegemonialer Artikulation offen?
Wir könnten sagen, daß Namen in dem Ausmaß funktionieren,
in dem sie in Sprachspielen verwendet werden, in denen ihre
Funktionen bereits etabliert sind. Oder wir könnten argumentie-
ren, daß Namen einen Referenten fassen wollen, der sich der Be-
nennung immer entzieht, durch die dieses Fassen erreicht wer-
den soll. Wir könnten sagen, daß es etwas »in« der Psyche gibt,
das der Anrufung widersteht, wie Mladen Dolar argumentiert
hat, und wir könnten das – dem lacanianischen Protokoll ent-
sprechend – »das Reale« nennen. Öffnet sich durch den Namen
andererseits vielleicht ein Abgrund, der den Wettkampf um seine
»richtigen« oder »eigentlichen« Funktionen ermöglicht? Und
wenn dem so ist, wie können wir uns dem Denken eines solchen
Abgrunds zu nähern beginnen? Ist der Heideggersche Begriff
der »ontologischen Differenz« die primäre Weise, auf die Laclau
diese persistente Notwendigkeit der Indetermination versteht?
Ist die Indetermination, die jede Entscheidung (im relativen
Sinn) kontingent macht, die gleiche wie das, was den Namen als
unendlichen Ort des Wettkampfs produziert (auf der Beschrei-
bungsebene)?
Dies scheint mir eine Reihe von Fragen aufzuwerfen, die ich
hoffe weiterzuverfolgen, wenn ich an weitere Gespräche mit
Laclau denke, Gespräche, die wir mit Sicherheit fortsetzen wer-
den. Im Geiste dieser Übung lasse ich also das Ende offen.

ANMERKUNG

1 Anna-Marie Smiths Arbeit half mir, die Verbindungen zwischen unseren


Positionen deutlicher zu verstehen.
Konvergenz in offener Suche

ERNESTO LACLAU

Ich habe den Dialog ebenfalls sehr genossen, den Judith Butler
und ich letztes Jahr über eine e-mail Korrespondenz geführt ha-
ben zwischen den – wie es Borges genannt hätte – »unwahr-
scheinlichen Geographien« von Berkeley und London. Die Kon-
vergenzpunkte unserer jeweiligen Zugänge sind klar: Wie Butler
herausstreicht, treffen sich die gender-Formationsprozesse, die
sie beschreibt, und die Logik der Hegemonie, wie sie in meinen
Arbeiten (und in jener Arbeit, die ich in Zusammenarbeit mit
Chantal Mouffe geschrieben habe) präsentiert wurde, in einigen
ihrer Annahmen. Weder wir noch Butler sehen Identitäten – po-
litische in einem Fall, gender-Identitäten im anderen – als Aus-
druck eines zeitlosen Mechanismus oder Prinzips, sondern als
Produkte der Einsetzung kontingenter Normen; und wir alle
sprechen diesen Normen einen transzendentalen Status ab, eine
apriorische »Härte«, die sich unverändert in allen historischen
Instanzen reproduziert. Im Gegenteil, wir sehen sie historischen
Variationen unterworfen und durchdrungen von einer konstitu-
tiven Unbestimmtheit und Ambiguität.
Ich habe das Wort »transzendental« ex professo verwendet, denn
es ist der Status des Transzendentalen, der an der Wurzel vieler
entscheidender Probleme gegenwärtiger Theorie liegt. Die mei-
sten würden zustimmen, daß Transzendentalismus in seinen
klassischen Formulierungen heute unhaltbar ist, aber es gibt ge-
nauso eine allgemeine Übereinstimmung darüber, daß irgend-
eine Art weicher Transzendentalismus unvermeidlich ist. In der
dekonstruktiven Tradition etwa hat das Konzept von »Quasi-
Transzendentalien« beträchtliche Verbreitung gefunden. Aber
die meisten theoretischen Zugänge werden von der verwirren-
den Frage nach dem präzisen Status dieses »quasi« heimge-
sucht. Das Problem berührt einerseits die Frage der »Metaspra-
che«, andererseits – in der Theoriekonstruktion – den Status der
KONVERGENZ IN OFFENER SUCHE 259

Kategorien, die sich offensichtlich auf empirische Ereignisse be-


ziehen, die aber in Praxis einen quasi-transzendentalen Status
besitzen und als die Intelligibilitäts-Bedingungen a priori einer
ganzen diskursiven Domäne operieren. Was ist z.B. in der Psy-
choanalyse der Status solcher Kategorien wie »Phallus« oder
»Kastrationskomplex«? Aufgrund des unentschiedenen Status
des »quasi« sind wir mit einer Vielzahl von Alternativen konfron-
tiert, an deren zwei polaren Extrempunkten einerseits eine to-
tale Verhärtung dieser Kategorien stünde, die damit Bedingun-
gen a priori aller möglichen menschlichen Entwicklung würden,
und andererseits eines nicht weniger extremen Historizismus,
der in ihnen nur kontingente Ereignisse sieht, Produkte partiku-
larer kultureller Formationen. Das erste Extrem ist mit dem
ganzen Problemfeld konfrontiert, das aus jeder Transzendentali-
sierung empirischer Konditionen erwächst; das zweite mit den
Schwierigkeiten, die sich aus der Nichtbehandlung jener Kondi-
tionen ergeben, die selbst einen historizistischen Diskurs ermög-
lichen. Die Logik des »quasi« versucht beide Extreme zu vermei-
den, aber es ist äußerst unklar, worin diese Logik bestehen
würde. Das sind Fragen, die weder in Butlers noch in meinem
Ansatz ausreichend behandelt wurden; aber es sind Themen, zu
denen beide von uns – vielleicht in einem künftigen Austausch –
zurückkehren müssen.
Ich möchte nun zwei zentrale Punkte ansprechen, die in Butlers
letztem Text enthalten waren. Sie beziehen sich auf das Verhält-
nis von Hegemonie und Wiederholung und auf die Rolle von Na-
men im Fixieren von Bedeutung. Ich denke, daß Wiederholung
zur Struktur jeder hegemonialen Operation gehört – aber daß
diese sowohl eine Dimension der Wiederholung, als auch eine
Dimension der Verschiebung von Bedeutung betont. Es ist ent-
scheidend zu verstehen, wie diese zwei Dimensionen miteinan-
der interagieren, will man die Logik des Politischen begreifen.
(Ich verstehe Hegemonie als die zentrale Kategorie politischer
Analyse). Wie Derrida gezeigt hat, gehört Wiederholbarkeit (die
Möglichkeit der Wiederholung in einer Vielzahl von Fällen) zur
Essenz des Zeichens. Was wäre etwas, das nur in einem Fall auf-
tritt? Es wäre einfach kein Zeichen. Aber wenn das Zeichen das
gleiche sein muß, so muß es doch jedesmal different sein – und
in diesem Fall muß die Instanz seines differentiellen Gebrauchs
genauso Teil seiner internen Struktur sein wie die Dimension
der Gleichheit. Nun kann es in diesem Fall nur gleich bleiben,
wenn es zu etwas wird, das sich von sich selbst konstant unter-
260 ERNESTO LACLAU

scheidet. Das ist der Punkt, an dem die Nützlichkeit dieser Ana-
lyse für eine Hegemonietheorie sichtbar wird: Denn Hegemonie
beinhaltet sowohl eine Machtrelation, in der etwas Differentes
vom Gleichen assimiliert wird, als auch eine Bewegung in die
andere Richtung, durch die die differentielle Instanz – insofern
sie Teil einer Serie von äquivalentiellen Fällen ist – das Gleiche
nur produzieren kann, indem es dessen Bedeutung fortschrei-
tend entleert. Die einzigen logischen Erfordernisse, damit das
denkbar ist, sind: 1) Wir verstehen Wiederholung als einen addi-
tiven Prozeß und nicht bloß als eine diskrete Serie; und 2) die
Äquivalenzdimension der differenten Instanzen wird soweit un-
terstrichen als der Entleerungseffekt gegenüber dem hegemonia-
len Term frei operieren kann. Diese zwei Erfordernisse können –
ohne der Struktur des Wiederholungsprozesses Gewalt anzutun
– leicht erfüllt werden. Es verhält sich wie mit Wittgensteins Ar-
gument bezüglich der Befolgung von Regeln: Die Instanz der An-
wendung muß Teil der Regel selbst sein. In Begriffen der Hege-
monie haben wir eine Konstruktion der fortschreitenden Entlee-
rung dessen, was die iterativen Serien auf der Basis einer additi-
ven Pluralisierung der Fälle zusammenführt. Deshalb ist Hege-
monie eine gefährliche Operation: Einerseits hängt ihr Erfolg
davon ab, sich selbst in immer größere Systeme von kontextuel-
len Differenzen zu absorbieren; aber genau aufgrund dieses Er-
folges wird die Verbindung des hegemonialen Prinzips mit den
Differenzen, die dessen ursprüngliche Identität konstitutierten,
immer dünner.
Zum Schluß: Namen. Butler stell sich die Frage: »Was konstitu-
iert die Begrenzungen der performativen Macht der Benennung?
Was hält den Namen als einen Ort hegemonialer Artikulation of-
fen?« Meine Argumente verlaufen hier parallel zu jenen bezüg-
lich Wiederholung. Mein ursprünglicher Kommentar zu diesem
Thema – auf den sich Butler bezieht – stand in Verbindung zu
Slavoj Ÿiÿeks Analyse der Polemik zwischen Deskriptivisten und
Anti-Deskriptivisten über die Frage, wie sich Namen auf Realität
beziehen. Ÿiÿek ergreift Partei – wie ich es tue – für die Anti-Des-
kriptivisten (für Kripkes Begriff eines primal baptism), aber er
fügt die entscheidende Bemerkung hinzu, daß das X, das den
Benennungsprozeß unterstützt, nichts ist, was zum Objekt
gehören würde, sondern ein retroaktiver Effekt des Benennungs-
prozesses selbst. Das habe ich folgendermaßen kommentiert:
»Wenn die Einheit des Objekts der retroaktive Effekt von Benen-
nung selbst ist, dann ist Benennung nicht nur das reine nomina-
KONVERGENZ IN OFFENER SUCHE 261

listische Spiel, einem präkonstituierten Subjekt einen leeren Na-


men zuzuschreiben. Sie ist die diskursive Konstruktion des Ob-
jekts selbst. Die Konsequenzen dieses Arguments für eine Hege-
monie- oder Politiktheorie sind leicht zu erkennen. Wäre der
deskriptivistische Zugang korrekt, dann würde die Bedeutung
des Namens und die deskriptivistischen Merkmale des Objekts
bereits im vorhinein gegeben sein und damit die Möglichkeit je-
der diskursiven hegemonialen Variation beeinträchtigen, die den
Raum für eine politische Konstruktion sozialer Identitäten öff-
nen würde. Aber wenn der Prozeß der Benennung der Objekte
auf genau den Akt ihrer Konstitution hinausläuft, dann werden
deren deskriptive Merkmale fundamental instabil und gegen-
über allen Arten hegemonialer Reartikulationen offen sein«.2
Was ist die Bedingung dafür, daß Namen auf diese Weise funk-
tionieren? Klarerweise sollte zwischen Merkmalen und Namen
eine Kluft existieren, sodaß der Name an kein partikulares Ob-
jekt permanent geknüpft werden kann. Aber das erfordert, daß
die Namen partiell oder tendentiell leer sein sollten – und daß
deren partielle Fixierung essentiell verwundbar ist. Durch Be-
nennung und Neubenennung wird das Objekt konstruiert und
neukonstruiert. Wie wir sehen, sind wir in der selben Lage wie
im Fall der Wiederholung. Namen sind natürlich Plätze für he-
gemoniale Reartikulationen, weil ihre Inhalte konstant verhan-
delt werden. Wenn die Leere von Namen durch vorübergehende
Stabilisierungen begrenzt wird, ist jede Stabilisierung von der
Leere bedroht, die der Struktur der Benennung inhärent ist.
***
Das sind nur einige Thesen, die keineswegs ausgeschöpft sind
und von deren Wiederkehr in gegenwärtigen politischen und
theoretischen Diskussionen mit Sicherheit ausgegangen werden
kann. Ich hoffe, daß der Austausch zwischen Judith Butler und
mir als ein bescheidener Stimulus für andere dienen kann, an
einer Unternehmung teilzunehmen und ihr beizutragen, deren
Erfolg nur gesichert sein kann, wenn sie zu einer wirklich kol-
lektiven wird.

ANMERKUNG

1 E. Laclau, Vorwort zu S. Ÿiÿek, The Sublime Object of Ideology, London,


Verso, 1989, S. XIV
IV

Anhang
Von den Namen Gottes

ERNESTO LACLAU

Eckhart sagt: »Gott ist namenlos, denn weder kann man von
ihm sprechen noch ihn kennen ( … ) Daher ist es nicht wahr,
wenn ich sage, daß ›Gott gut ist‹. Ich bin gut, doch Gott ist nicht
gut! Tatsächlich würde ich sogar sagen, daß ich besser als Gott
bin, denn was gut ist, kann besser werden und was besser wer-
den kann, kann das Beste werden! Wenn Gott nun nicht gut ist,
kann er nicht besser werden, er kann nicht der Beste werden.
Diese drei sind weit von Gott entfernt: ›gut‹, ›besser‹, ›das Beste‹,
denn er ist völlig transzendent ( … ) Auch solltest du nicht wün-
schen, irgend etwas von Gott zu verstehen, denn er ist jenseits
alles Verstehens ( … ) Wenn du etwas von ihm verstehst, dann ist
er nicht darin, und wenn du etwas von ihm verstehst, fällst du in
Unwissenheit, du wirst wie ein Tier, denn der tierische Teil in Ge-
schöpfen ist das, was Unwissen ist.«1
Wenn Gott namenlos ist, wie von Meister Eckhart im obigen Zi-
tat behauptet, dann aufgrund Seiner absoluten Einfachheit, die
von sich selbst jede Differenzierung oder jedes repräsentationale
Bild ausschließt: »Du solltest Gott nicht-geistig lieben, das heißt,
die Seele sollte nicht-geistig werden und von ihrer geistigen Na-
tur losgelöst. Denn solange die Seele geistig ist, wird sie Bilder
besitzen. Solange sie Bilder besitzt, wird sie Verbindungsglieder
besitzen und solange sie diese besitzt, wird sie keine Einheit
oder Einfachheit besitzen. Solange sie der Einfachheit erman-
gelt, liebt sie Gott nicht wirklich, denn wahre Liebe hängt von
Einfachheit ab«2.
Das einzige wahre Attribut Gottes ist Einssein, denn es ist das
einzige Attribut, das nicht bestimmt ist. Wenn ich sage, daß Gott
gut ist, dann ist »Gutsein« eine Bestimmung, die die Negation
266 ERNESTO LACLAU

dessen impliziert, was sich von ihr unterscheidet, während Gott


die Negation der Negation ist. Einssein als solches, als ein Nicht-
Attribut, das keine Differenz und daher keine Negation mit sich
bringt, ist die einzige Sache, die wir Ihm zuschreiben können.
»Einssein ist reiner als Gutsein oder Wahrheit. Obwohl Gutsein
und Wahrheit nichts hinzufügen, fügen sie dennoch etwas dem
Geist hinzu: Wenn sie gedacht werden, wird etwas hinzugefügt.
Aber Einssein fügt nichts hinzu, wo Gott in sich selbst existiert,
bevor er in den Sohn und den Heiligen Geist ausfließt ( … )
Wenn ich sage, daß Gott gut ist, dann füge ich ihm nichts hinzu.
Einssein ist andererseits eine Negation der Negation und eine
Verneinung der Verneinung. Was heißt ›eins‹? Eins ist das, zu
dem nichts hinzugefügt wurde«3.
Wenn wir Gott »Herr« rufen oder »Vater«, entehren wir Ihn,
denn diese Namen sind mit Einheit inkompatibel – ein Herr er-
fordert einen Knecht und ein Vater einen Sohn. Daher »sollten
wir lernen, daß es keinen Namen gibt, den wir Gott geben kön-
nen, sodaß es scheinen könnte, wir hätten ihn genug gepriesen
und geehrt, denn Gott ist ›über Namen‹ und ist unaussprech-
bar«4.
Daraus scheint offensichtlich notwendig mit Dionysius Areopa-
gite zu folgen, daß
»der Grund alles Verständlichen selbst nichts Verständliches
ist«. Das ebnet den Weg für den mystischen Weg, die via nega-
tiva. Gott ist
»nicht Seele, nicht Intellekt,
nicht Vorstellung, Meinung, Vernunft und nicht Einsicht,
nicht Logos, nicht Verstand,
nicht Gesprochenes, nicht Denken,
nicht Nummer, nicht Ordnung,
nicht Größe, nicht Kleinheit,
nicht Gleichheit, nicht Ungleichheit,
nicht Ähnlichkeit, nicht Unähnlichkeit«5.
Etc. Was wir hier durch all diese Negationen vorgestellt bekom-
men, ist eine bestimmte Manipulation der Sprache, durch die et-
was Unaussprechliches ausgedrückt wird. Das ist eine generali-
sierte Tendenz im Mystizismus: eine Verzerrung der Sprache,
die sie aller ihrer repräsentativen Funktionen beraubt, zeigt auf
etwas, das jenseits aller Repräsentation ist. In manchen Texten,
wie etwa jenen, die mit dem Merkabah-Mystizismus in Verbin-
dung stehen, wird dieser Effekt erreicht, indem jedem Körperor-
VON DEN NAMEN GOTTES 267

gan des Schöpfers – in deren Beschreibungen – solch eine


enorme Länge gegeben wird, daß eine visuelle Repräsentation
unmöglich wird. Wie G. Scholem hervorhebt: »Die enormen Fi-
guren haben keine verständliche Bedeutung oder keinen Sinnen-
Inhalt, und es ist wirklich unmöglich, den ›Körper des Shekinah‹
zu visualisieren, den sie zu beschreiben suchen; sie werden im
Gegenteil dazu herangezogen, jeden Versuch einer solchen Vi-
sion auf eine Absurdität zu reduzieren«6. In einem hochintellek-
tualisierten Diskurs wie dem Eckharts sind die Kunstgriffe
natürlich viel sophistizierter – sie bauen auf die erlösende Natur
der Sprache, derzufolge »die Worte vom Wort kommen«. Doch
in jedem Fall ist es eine Verzerrung des normalen Sprachge-
brauchs, um die es geht. Woraus besteht eine solche Verzerrung?
Wir wollen uns für einen Augenblick auf die Serie der Nega-
tionen konzentrieren, über die Dionysius sich der (Nicht-)Es-
senz der Gottheit anzunähern versucht. Ersteinmal sind alle In-
halte, die negiert werden, Teil einer Enumeration, die keine in-
terne Hierarchie oder Struktur besitzt. Sie stehen in einer rein
parataktischen Beziehung zueinander. Zweitens ist die Enume-
ration offen: Viel mehr Inhalte – tatsächlich jeder repräsentatio-
nale Inhalt – hätten Teil derselben Enumeration sein können.
Nun ist diese enumerative Operation zentral, um den Bedeu-
tungseffekt zu produzieren, um den es Dionysius geht. Hätte er
nur gesagt, daß Gott z.B. nicht »Imagination« sei, hätte immer
die Möglichkeit bestanden, daß Er etwas anderes ist und mit po-
sitivem Inhalt ausgestattet. Es ist nur die Plazierung von »Imagi-
nation« in einer enumerativen Kette zusammen mit »Meinung«,
»Logos«, »Nummer«, »Verstand«, etc., zusammen mit dem offe-
nen Charakter der Enumeration, die garantieren, daß Gott mit
dem »Unaussprechbaren« identifiziert werden kann. Doch in
diesem Fall ist die Enumeration nicht bloß eine Enumeration, in
der jeder ihrer Terme die Fülle seiner eigenen isolierten Bedeu-
tung ausdrücken würde (wie wenn wir etwa sagten, daß die USA
letztes Jahr von vielen Briten, Franzosen und Italienern besucht
wurde). Im Fall des Textes von Dionysius ist jeder Term der Enu-
meration Teil einer Kette, die – nur wenn sie als eine Totalität ge-
nommen wird – die Nicht-Essenz von Ihm ausdrückt, der die Ur-
sache aller Dinge ist. Das bedeutet, daß wir es mit einem ei-
gentümlichen Enumerationstypus zu tun haben, dessen Terme
nicht einfach nebeneinander koexistieren, sondern statt dessen
einander ersetzen können, da sie alle innerhalb des enumerati-
268 ERNESTO LACLAU

ven Arrangements dasselbe ausdrücken. Das ist der Relati-


onstyp, den ich Äquivalenz nenne.
Es könnte vielleicht eingewandt werde, diese Möglichkeit einer
äquivalentiellen Substitution sei einfach Resultat des negativen
Charakters jedes Terms der dionysischen Enumeration. Doch
ich denke nicht, daß dies der Fall ist. Wenn die einzige Sache,
die wir in der Aufeinanderfolge der negativen Terme hätten, die
Negation dessen wäre, von dem sie die Träger sind, würde die
Möglichkeit verloren gehen, das »Unaussprechbare« auszu-
drücken. Denn wenn wir nur sagen, daß Gott nicht A, nicht B
und nicht C ist, schließt das von alleine noch nicht die Möglich-
keit aus, daß Er D, E oder F ist. Das heißt, wenn wir uns aus-
schließlich auf das »nicht« der Negation fokussieren, gibt es kei-
nen Weg, die Dimension des offenen Endes der Enumeration
sinnvoll zu konstruieren (von der die Möglichkeit abhängt, das
»Unaussprechbare« auszudrücken). Wir haben es hier offenbar
mit zwei sich widersprechenden Bedingungen zu tun: Wir wol-
len den unaussprechbaren Charakter der Erfahrung der Gottheit
bewahren, und wir wollen gleichzeitig durch Sprache solch eine
unaussprechbare Präsenz zeigen. Wie wir sagten, wird keine
reine Konzentration auf das »nicht« diese zwei Bedingungen er-
füllen. Dennoch hat Dionysius’ Enumeration eine andere Di-
mension, denn er sagt nicht, Gott wäre »nicht Imagination« –
Absatz – »nicht Logos« – Absatz, etc. Was er tatsächlich sagt, ist:
1) daß Gott etwas ist, das die spezifische Bedeutung solcher
Terme wie »Imagination«, »Logos«, »Verstand«, etc. überschrei-
tet, und daß 2) diese Transzendenz, dieses Überschreiten der spe-
zifischen Bedeutungen dieser Terme durch die Äquivalenz ge-
zeigt wird, welche die Terme zueinander herstellen. Denn es ist
klar, daß eine äquivalentielle Enumeration – im Unterschied zu
einer rein additiven – die partikularisierten Bedeutungen ihrer
Terme genauso zerstört wie eine Abfolge von Negationen. Ich
kann ohne weiteres »nicht Imagination«, »nicht Logos« und
»nicht Verstand« durch die äquivalentielle Abfolge »Imagina-
tion«, »Logos« und »Verstand« ersetzen. In beiden Fällen würde
ich exakt dasselbe sagen, denn wenn ich mich – um eine Äquiva-
lenzkette zu etablieren – darauf konzentrieren müßte, was »Ima-
gination«, »Logos« und »Verstand« gemeinsam haben, müßte
ich die meisten der partikularisierten Bedeutungen jedes dieser
Terme fallen lassen, und wenn die Äquivalenzkette ausgedehnt
genug ist, kann sie zur Ausdrucksweise von etwas werden, das
über den repräsentationalen Charakter aller ihrer Verbindungs-
VON DEN NAMEN GOTTES 269

glieder hinausschießt – d.h. zur Ausdrucksweise des »Unaus-


sprechbaren«. Der Vorteil, das »nicht« aus der Enumeration zu
eliminieren, liegt darin, daß auf diese Weise ihr äquivalentieller
Charakter ansichtiger und ihre Unendlichkeit – die Natur ihres
offenen Endes – vollständig sichtbar wird. Wenn ich »nicht-A«,
»nicht-B«, »nicht-C« aufzähle, kann ich D in der Fülle seiner po-
sitiven Bedeutung ohne weitere Erfordernisse dieser Kette ein-
gliedern. Aber wenn ich Äquivalenz zwischen den positiven Ter-
men A, B und C habe, kann ich D dieser Kette nicht ohne die zu-
sätzliche Erfordernis eingliedern, D auf das zu reduzieren, was
es mit den drei vorhergehenden Termen gemeinsam hat.
So können wir aus der bisherigen Analyse schließen, daß die Be-
hauptung, Gott sei ein von jedem partikularen Attribut, das wir
Ihm zuschreiben können, Unterschiedenes, genau auf dasselbe
hinausläuft wie die Behauptung, Er drücke Sich durch die Tota-
lität all dessen aus, was existiert7. Ist Gleichheit (=Äquivalenz)
zwischen den Dingen die Weise, in der Gott – Sich aktualisiert?,
Sich ausdrückt? Befragen wir Eckhart:
»Gott gibt allen Dingen gleichermaßen, und so sind alle Dinge,
so sie von Gott fließen, gleich. Engel, Männer und Frauen und
alle Geschöpfe sind gleich, wo sie aus Gott erstmals hervorkom-
men. Wer immer Dinge in ihrem ersten Auftreten von Gott
nimmt, nimmt alle Dinge als gleich ( … ) Wenn wir eine Fliege
als etwas nehmen, das in Gott existiert, dann ist sie nobler in
Gott als der höchste Engel es ist in sich selbst. Nun sind alle
Dinge gleich in Gott und sie sind Gott. Und diese Gleichheit ent-
zückt Gott dermaßen, daß seine ganze Natur und sein ganzes
Sein durch ihn selbst in dieser Gleichheit fließt ( … ) Es ist ihm
ein Vergnügen, seine Natur und sein Sein in diese Gleichheit
auszuschütten, denn Gleichheit ist, was er selbst ist.«8
Soweit die Erfahrung der »Unaussprechbarkeit« Gottes durch
die Äquivalenz der Inhalte hindurchgeht, die weniger als Er
sind, ist Er sowohl jenseits dieser Inhalte, als auch zur selben
Zeit bezüglich seiner Aktualisierung vollständig abhängig von
ihnen. Je größer sogar Sein »Jenseits«, desto ausgedehnter die
Äquivalenzkette, von der Seine Aktualisierung abhängt. Seine
Transzendenz selbst ist kontingent gegenüber einer zunehmen-
den Immanenz. Zitieren wir noch einmal Eckhart:
»Gott ist in allen Dingen. Je mehr er in Dingen ist, desto mehr ist
er außerhalb von ihnen: je mehr innerhalb, desto mehr außer-
halb, und je mehr außerhalb, desto mehr innerhalb.«9
Wie David in Brownings’ »Saul« sagt:
270 ERNESTO LACLAU

»Do I task any faculty highest, to imagine success?


I but open my eyes, – and perfection, no more and no less,
In the kind I imagined, full-fronts me, and God is seen God
In the star, in the stone, in the flesh, in the soul and the clod.«10
Wenn Gott nun präsent ist »in the star, in the stone, in the flesh,
in the soul and in the clod«, ist klar, daß mystische Erfahrung
nicht zu einer tatsächlichen Trennung von Dingen und täglichen
Verrichtungen führt, sondern im Gegenteil zu einem besonderen
Weg, an diesen teilzunehmen, sodaß wir in jedem von ihnen eine
Manifestation von Gottes Präsenz sehen. Nach Eckhart:
»Die Rechtgesinnten tragen Gott wahrhaft mit sich. Und wer im-
mer Gott auf die rechte Weise wahrhaft besitzt, besitzt ihn in al-
len Orten: auf der Straße, in jeglicher Begleitung, wie in einer
Kirche oder einem entlegenen Platz oder in ihrer Zelle. Niemand
kann diese Personen behindern, denn sie wollen und suchen
nichts anderes als Gott und beziehen ihre Freude nur aus ihm,
der mit ihnen in allen ihren Zielen vereint ist. Und so wie keine
Vielheit Gott teilen kann, kann nichts diese Personen erschüt-
tern oder teilen, denn sie sind Eins in dem Einen, in dem alle
Vielheit Eins ist und Nicht-Vielheit ist«11.
Diese Erfahrung täglicher Involviertheit als eine, in der Vielheit
nicht verneint, sondern als der bunte Ausdruck einer transzen-
denten Einheit gelebt wird, ist das distinktive Merkmal eines
»einheitlichen Lebens«, wie es vom mystischen Bewußtsein ver-
langt wird. Eckhart gibt zwei metaphorische Beispiele dafür,
was es bedeutet, Vielheit in Einheit zu leben. Das erste ist der
Fall jemandes, der durstig ist: Sein Durst wird alle seine Aktivitä-
ten begleiten, denen er nachgeht – unabhängig von ihrer Va-
rietät. Das andere bezieht sich auf jemanden, der verliebt ist:
Sein oder ihr Gefühl wird die mannigfaltigen Unternehmungen
des täglichen Lebens dieser Person anstecken.
Ein letzter wichtiger Aspekt, der noch betrachtet werden muß,
ist die mystische Loslösung, deren innere Struktur für unsere
Zwecke äußerst aufschlußreich ist. Die fragliche Loslösung kann
keine eines Einsiedlers sein, der eine abgesonderte Existenz
führt, denn der Mystiker lehnt die Teilnahme am täglichen Le-
ben nicht ab. Der Mystiker sollte völlig an der Welt anteilneh-
mend und gleichzeitig völlig losgelöst von ihr sein. Wie ist das
möglich? Wie wir wissen, können tatsächlich existierende weltli-
che Dinge – Brownings »star, stone, flesh, soul and clod«, Julians
Haselnuß – von zwei Perspektiven aus betrachtet werden: entwe-
VON DEN NAMEN GOTTES 271

der in ihrer isolierten Partikularität, in der jedes von ihnen eine


separate Existenz führt, oder in ihrer äquivalentiellen Verbin-
dung, in der jedes von ihnen die Göttliche Existenz anzeigt. So
muß der Mystiker jede Instanz seiner weltlichen Erfahrung als
etwas lieben, durch das sich die Gottheit selbst zeigt; da aller-
dings nicht die partikulare Erfahrung in ihrer nackten Partikula-
rität Gott zeigt, sondern vielmehr ihre äquivalentielle Verbin-
dung mit allem anderen, ist es nur diese Verbindung, die Kontin-
genz der Tatsache, daß es diese Erfahrung ist und weniger ir-
gendeine andere, die ich im Moment habe, die mich der Gottheit
annähert. Essentielle Losgelöstheit und tatsächliche Teilnahme
sind zwei Seiten derselben Medaille. Es verhält sich wie in der
Formation des revolutionären Willens einer untergeordneten
Klasse: Jede Teilnahme an einem Streik, einer Wahl, einer De-
monstration zählt nicht so sehr als das betreffende partikulare
Ereignis, sondern als eine kontingente Instanz in einem Prozeß,
der jedes partikulare Engagement überschreitet: Die Erziehung
der Klasse, die Konstitution ihres revolutionären Willens. Einer-
seits überschreitet letzterer jedes partikulare Engagement und
verlangt in diesem Sinne, daß sich die Klasse von solchem los-
löst; andererseits gibt es ohne ernsthaftes Engagement am parti-
kularen Ereignis keine Konstitution des revolutionären Willens.
Paradoxerweise ist es die losgelöste Natur dessen, was in die
partikulare Aktion investiert wird, ihre rein kontingente Verbin-
dung mit ihr, die garantiert, daß die Teilnahme an dieser Aktion
ernsthaft sein wird. Lassen wir Eckhart zum letzten Mal zu Wort
kommen:
»Wir müssen uns darin üben, in nichts unsere eigenen Interes-
sen zu verfolgen, sondern vielmehr Gott in allen Dingen zu fin-
den und zu fassen. All die Gaben, die er uns im Himmel oder auf
Erden geschenkt hat, wurden ausschließlich gegeben, um uns
auf jene Gabe vorzubereiten, die er selbst ist ( … ) und so sage
ich euch, wir sollten Gott in allen Gaben und Werken sehen, we-
der mit irgend etwas zufrieden bleibend noch an etwas gebun-
den werdend. Für uns kann es keine Bindung an ein bestimmte
Verhaltensweise in diesem Leben geben, noch war das jemals
richtig, wie erfolgreich wir auch immer gewesen sein mögen.
Vor allem sollten wir uns immer und immer wieder aufs Neue
auf die Gaben Gottes konzentrieren«12.
Ziehen wir zwei wichtige Schlußfolgerungen aus unserer kurzen
Erkundung des Mystizismus. Die erste betrifft die spezifischen
Probleme, welche die Benennung Gottes mit sich bringt. Inso-
272 ERNESTO LACLAU

fern Gott der Unaussprechbare ist, könnten wir jeden Namen be-
nutzen, den wir möchten, um uns auf Ihn zu beziehen, solange
diesem Namen kein bestimmter Inhalt zugeschrieben wird. Eck-
hart sagt, daß es genau aus diesem Grund das beste ist, einfach
»Gott« zu sagen, ohne Ihm irgendwas zuzuschreiben. So muß
der Name Gottes, wenn wir Seine erhabene Realität (und unsere
Erfahrung von dieser) nicht beschmutzen wollen, ein leerer Sig-
nifikant sein, ein Signifikant, dem kein Signifikat angeheftet
werden kann. Und das stellt uns vor ein Problem. Ist »Gott«
solch ein leerer Signifikant oder ist dieser Name bereits eine In-
terpretation des Erhabenen, der absoluten Fülle? Wenn zweites
der Fall ist, dann wäre es die schlimmste Respektlosigkeit, das
Erhabene »Gott« zu nennen. Mit anderen Worten: während die
mystische Erfahrung einer unaussprechlichen Fülle unterliegt,
die wir »Gott« nennen, ist dieser Name – Gott – Teil eines diskur-
siven Netzwerks, das nicht auf diese Erfahrung reduziert werden
kann. Und tatsächlich hat die Geschichte des Mystizismus eine
Fülle an alternativen Namen bereitgestellt, um auf diese Erha-
benheit zu verweisen: das Absolute, Realität, Der Grund, etc. Es
gab sogar einige mystische Schulen – wie bestimmte Zweige des
Buddhismus –, die konsequent atheistisch waren. Wenn die my-
stische Erfahrung wirklich die Erfahrung eines absoluten Trans-
zendierenden sein soll, muß sie unbestimmt bleiben. Nur Stille
wäre angemessen. Es »Gott« zu nennen, heißt bereits, es zu ver-
raten, und das gleiche würde auf jeden anderen gewählten Na-
men zutreffen. »Gott« einen Namen zu geben, ist eine viel
schwierigere Operation, als wir erwartet hätten.
Kommen wir nun zu unserer zweiten Schlußfolgerung. Wie wir
gesehen haben, gibt es einen alternativen Weg, Gott zu benen-
nen, und zwar durch die Selbstzerstörung der partikularisierten
Inhalte einer Äquivalenzkette. Wir können auf Gott durch die
Namen »star, stone, flesh, soul and clod« verweisen, da – soweit
sie Teil einer universellen Äquivalenzkette sind – jeder dieser Na-
men durch jeden beliebigen anderen substituiert werden kann.
Ergo wären sie alle austauschbare Begriffe, um die Totalität alles
Existenten zu benennen – i.e. das Absolute. Hier sind wir jedoch
mit einem von der direkten Namensgebung Gottes unterschiede-
nen Problem konfrontiert – oder vielleicht mit dem gleichen Pro-
blem aus einem anderen Blickwinkel –, denn wenn diese Opera-
tion gelingen würde, hätten wir mehr zustande gebracht als nur
eine universelle Äquivalenz. Wir hätten die äquivalentielle Rela-
tion zerstört und in eine einfache Identität zusammenbrechen
VON DEN NAMEN GOTTES 273

lassen. Betrachten wir die Sache sorgfältig. In einem Äquiva-


lenzverhältnis verschwinden die partikularen Bedeutungen eines
Terms nicht einfach; sie werden teilweise beibehalten, und die
Substitution eines Terms durch die anderen operiert nur in be-
stimmter Hinsicht. So gibt es einige Stränge des Hindu-Mystizis-
mus, die einen totalen Zusammenbruch der Differenzen in un-
differenzierte Identität befürwortet haben, aber westlicher My-
stizismus spielte immer um ein aristotelisch-tomistisches Kon-
zept von Analogie, das in einer Äquivalenz gründet, die weniger
als Identität ist. Ein Mystiker wie Eckhart versuchte, die »Ein-
heit in der Differenz« zu denken, und aus diesem Grund war das
analoge Äquivalenzverhältnis zentral in seinem Diskurs. Das
Universum der Differenzen mußte in eine Einheit gebracht wer-
den, ohne daß das differentielle Moment verloren ging. Aber ge-
nau hier finden wir ein Problem, denn wenn die Äquivalenz ab-
solut universal wird, bricht der differentielle Partikularismus ih-
rer Verknüpfungen zusammen. Wir hätten eine undifferenzierte
Identität, in der jeder beliebige Term auf die Totalität verweisen
würde, aber in diesem Fall könnte die Totalität – das Absolute –
auf eine unmittelbare, direkte Weise benannt werden, und ihre
transzendente Dimension, die für die mystische Erfahrung (und
den Diskurs) essentiell ist, würde verlorengehen. Wenn anderer-
seits die Äquivalenz eine Äquivalenz bleibt und nicht in Identität
kollabiert, wird sie weniger als universell sein. In diesem Fall, in-
sofern sie eine Äquivalenz bleibt, wird sie fähig sein, zum Reprä-
sentationsmittel von etwas zu werden, das sie transzendiert;
doch insofern die Kette weniger als universell sein wird, werden
»clod«, »flesh« und »stone« nicht einfach das transparente Aus-
drucksmedium des Absoluten sein, sondern auch dessen Kerker-
meister: Der Rest der Partikularität würde sich ganz gehörig
zurückmelden – da er nicht eliminiert werden kann, wird er die
mystische Intervention von einem freien Spaziergang ins Abso-
lute transformieren in einen absoluten Wert, der einer Partikula-
rität zugeschrieben wird, die mit ihm völlig inkommensurabel
ist.
Wenn wir unsere zwei Schlußfolgerungen zusammenziehen, er-
halten wir ein einziges Resultat: Gott kann nicht benannt wer-
den; die Operation Seiner Benennung – entweder direkt oder in-
direkt, durch die Äquivalenz der Inhalte, die weniger als Er sind
– führt uns in einen Prozeß, in dem der Überrest an Partikula-
rität, den die mystische Intervention zu eliminieren versucht,
sich als irreduzibel erweist. Allerdings zeigt in diesem Fall der
274 ERNESTO LACLAU

mystische Diskurs in Richtung einer Dialektik zwischen dem


Partikularen und dem Absoluten, welche komplexer ist als sie
vorgibt und die wir nun untersuchen müssen.

II

Wollen wir uns für einen Moment auf diese doppelte Unmöglich-
keit konzentrieren, um die der mystische Diskurs organisiert ist,
und beobachten, zu welchem Ausmaß er ausschließlich dem
Feld der mystischen Erfahrung zugehört, oder ob er eher als der
Ausdruck von etwas verstanden werden sollte (in mystischem
Gewand), das der generellen Struktur aller möglichen Erfahrung
angehört. Die Benennung Gottes ist unmöglich, sagten wir, weil
er das absolute Transzendierende ist. Er ist jenseits aller positiven
Bestimmung. Wenn wir die logischen Implikationen dieser Un-
möglichkeit radikalisieren, sehen wir, daß selbst die Annahme,
Gott sei eine Entität, daß selbst die Annahme von Einheit – wenn
Einheit verstanden wird als die Ungeteiltheit einer Entität – eine
bereits unangemessene Interpretation darstellt, weil es etwas
einen Inhalt zuschreibt, das jenseits jedes möglichen Inhalts ist.
Wenn wir innerhalb des Gebiets des Diskurses bleiben, des Re-
präsentierbaren, ist das Erhabene – das Numinose, wie Rudolph
Otto es nennt – etwas, das radikal unrepräsentierbar ist. Wenn
wir nicht von der rationalistischen Annahme ausgehen, daß es
nichts in der Erfahrung gibt, das nicht in einen positiven reprä-
sentationalen Inhalt übersetzt werden könne, wird diese Unmög-
lichkeit – als Grenze aller Repräsentation – nicht einfach ein lo-
gische Unmöglichkeit sein, sondern eine der Erfahrung. Eine
lange Tradition hat dem einen Namen gegeben: die Erfahrung
der Endlichkeit. Endlichkeit beinhaltet die Erfahrung der Fülle,
des Erhabenen, als einem radikalen Mangel – und ist in diesem
Sinn ein notwendiges Jenseits. Erinnern wir uns, wie Lacan die
imaginäre Identifikation beschreibt, die im Spiegelstadium
stattfindet: Sie setzt einen konstitutiven Mangel voraus; es ist die
Primäridentifikation, die als Matrix für all die folgenden sekun-
dären dient – sodaß das Leben des Individuums die vergebliche
Suche nach einer Fülle sein wird, der es systematisch beraubt
werden wird. Das Objekt, das ultimative Fülle erzeugen könnte,
ist das Jenseits, von dem der Mystiker eine direkte Erfahrung zu
haben behauptet. Als solches ist es etwas, das jede mögliche Er-
fahrung begleitet. Die historische Bedeutung des mystischen
VON DEN NAMEN GOTTES 275

Diskurses besteht darin, daß er – durch die Radikalisierung des


»Jenseits« – die essentielle Endlichkeit gezeigt hat, die für jede
Erfahrung konstitutiv ist. Seine historische Begrenzung bestand
darin, daß er der Versuchung nachgab, dem »Jenseits« einen po-
sitiven Inhalt zu geben. Der positive Inhalt wurde nicht durch
die mystische Erfahrung selbst diktiert, sondern durch die reli-
giöse Überzeugung des Mystikers. Das kann am deutlichsten an
dem Argument gesehen werden, Gott zeige Sich in allem Existie-
renden. Würde das Argument in all seinen Implikationen ge-
nommen, dann sollten wir schließen, daß Aktionen, die wir un-
moralisch nennen würden, Gott genauso ausdrücken wie alle
anderen. Diese Schlußfolgerung wurde von manchen extremen
mystischen Sekten akzeptiert: Soweit ich in Gott lebe, bin ich
jenseits aller moralischen Grenzen. Doch in den meisten Fällen
akzeptiert der Mystiker konventionelle religiöse Moral. Es ist
dennoch klar, daß letztere nicht durch die mystische Erfahrung
diktiert ist, sondern durch die positive Religion, der der Mystiker
angehört.
Gehen wir nun zur anderen Seite dessen, was wir die doppelte
Unmöglichkeit, den mystischen Diskurs zu strukturieren, ge-
nannt haben: die Repräsentation des »Jenseits« durch eine Äqui-
valenzkette. Wie wir bereits gesagt haben, ist die Bedingung die-
ser Repräsentationsform des Absoluten, daß die Äquivalenz
nicht in Einheit kollabiert (denn in diesem Fall handelte es sich
um eine direkte Repräsentation, und die Dimension des »Jen-
seits« ginge verloren). Um eine wahre Äquivalenz zu haben, muß
die differentielle Partikularität ihrer Terme geschwächt werden,
darf aber nicht vollständig verloren werden. Was sind die Effekte
der zurückbleibenden Partikularität? Der Haupteffekt ist, jenen
Verbindungen, die Teil der Äquivalenzkette werden können,
Grenzen zu setzen. Nehmen wir zum Beispiel an, in einem Äqui-
valenzverhältnis befänden sich »Keuschheit«, »tägliches Gebet«
und »Nächstenliebe«. Wenn die Differenzkette in Identität zu-
sammengebrochen wäre – d.h. wenn jede differentielle Bedeu-
tung getilgt worden wäre –, würde dem Eintritt von »freier
Liebe« in die Kette nichts entgegenstehen. Aber wenn die Kette
eine Kette von Äquivalenzen ist, dann wurden die partikularen
Bedeutungen nicht vollständig eliminiert, und in diesem Sinne
widersteht »Keuschheit« der Eingliederung von »freier Liebe« in
die Kette. Die differentiellen Bedeutungen sind eine Begrenzung
aber gleichzeitig die Bedingung der Möglichkeit von Äquivalenz.
Allerdings ist die Äquivalenz, wie wir gesehen haben, eine Bedin-
276 ERNESTO LACLAU

gung der Repräsentation des »Jenseits«. Wenn die Äquivalenz


teilweise Beibehaltung der differentiellen Bedeutungen ihrer
Terme erfordert (was impliziert, daß ihrer Ausdehnung Grenzen
gesetzt werden), ist die einzige mögliche Schlußfolgerung, daß
genau die Konstitution des »Jenseits« den differentiellen Inhal-
ten gegenüber, deren Äquivalenz die Bedingung ihrer Repräsen-
tation ist, nicht indifferent ist. Wir könnten das Argument in
einer syllogistischen Manier präsentieren:
Begrenzung und Beibehaltung von Partikularität ist die Bedin-
gung für Äquivalenz;
Äquivalenz ist die Bedingung für jedes »Jenseits«;
Also ist die Begrenzung und Beibehaltung von Partikularität die
Bedingung für jedes »Jenseits«.
Die Konsequenzen dieser Folgerung sind bedeutend für die
Strukturierung der mystischen Erfahrung (i.e. für die Möglich-
keit eines absolut leeren Signifikanten, der das Jenseits aller Par-
tikularismen und Differenzen signifizieren würde). Denn die ein-
zige mögliche Schlußfolgerung ist, daß es keine Möglichkeit
eines Jenseits von Differenzen gibt, die nicht einer Operation der
Wiedereinführung von Differenzen untergeordnet wäre. Dieser
Rückstand von Differenz und Partikularismus kann nicht elimi-
niert werden und kontaminiert – als ein Resultat – notwendiger-
weise genau den Inhalt des »Jenseits«. Hier haben wir einen Pro-
zeß, der auf zwei Weisen beschrieben werden kann: Entweder
als eine »Materialisierung« Gottes, indem Ihm ein differentieller
Inhalt gegeben wird, der Seine eigentliche Möglichkeitsbedin-
gung ist, oder als die Deifikation eines partikularen Sets an De-
terminationen, die mit der Funktion ausgestattet sind, das Abso-
lute zu inkarnieren. Doch beide Wege führen in dieselbe Sack-
gasse: Ein direkter Ausdruck der Göttlichen Essenz, der durch
direkte Benennung sich als unmöglich erwiesen hat, ist nicht
weniger unmöglich, wenn wir auf indirekte Weise eine Äquiva-
lenzkette benutzen. Wir sehen, warum ein Mystiker wie Eckhart
sich auf die Inhalte einer positiven Religion stützen muß: Weil
die mystische Erfahrung – sich selbst überlassen – unfähig ist,
jene differentiellen Überreste zur Verfügung zu stellen, die trotz
allem die Bedingung ihrer Möglichkeit sind.
Mystischer Diskurs enthüllt auf diese Weise etwas, das zur gene-
rellen Struktur von Erfahrung gehört. Nicht nur die Trennung
der beiden Extreme der radikalen Endlichkeit und der absoluten
Fülle, sondern auch die komplexen Sprachspiele, die sich auf
Basis ihrer gegenseitigen Kontamination spielen lassen. Ich
VON DEN NAMEN GOTTES 277

werde mich nun auf die Strategien beziehen, die durch diese un-
vermeidliche Kontamination ermöglicht werden. Ich werde zwei
Beispiele geben, eines aus dem Feld der Politik und das andere
aus der Ethik.
Wie ich in meinen bisherigen Arbeiten argumentiert habe, ist
»Hegemonie« das Schlüsselkonzept, um Politik zu denken13. Ich
verstehe unter »Hegemonie« ein Verhältnis, in dem ein partiku-
larer Inhalt in einem bestimmten Kontext die Funktion über-
nimmt, eine abwesende Fülle zu inkarnieren. In einer Gesell-
schaft zum Beispiel, die unter einer tiefen sozialen Disorganisa-
tion leidet, kann »Ordnung« als die positive Kehrseite einer Si-
tuation generalisierter Anomie gesehen werden. Die Initialsitua-
tion, der »Ordnung« entgegengesetzt wird, ist die Erfahrung von
Deprivation, Endlichkeit und Faktizität. Wenn diese Erfahrung
einmal an verschiedenen Punkten des Sozialen auftritt, werden
alle diese als einander äquivalent gelebt werden, denn – jenseits
ihrer Differenzen – werden alle auf eine gemeinsame Situation
der Dislokation und Unvollständigkeit deuten. So ist Fülle als
positive Kehrseite dieser Situation des konstitutiven Mangels
das, was die Gemeinschaft vervollständigen soll. Hier allerdings
tritt eine zweite Dimension in den Vordergrund. Wir wissen, daß
eine Äquivalenzrelation differentielle Bedeutung schwächt.
Wenn wir uns darauf konzentrieren müssen, was alle Differen-
zen gemeinsam haben (worauf die Äquivalenz zeigt), müssen
wir uns in Richtung eines »Jenseits« aller Differenzen bewegen,
das tendenziell leer sein wird. »Ordnung« kann keinen partikula-
ren Inhalt haben, wenn sie die einfache Kehrseite aller als unge-
ordnet gelebter Situationen ist. Wie im Fall der mystischen
Fülle, muß die mystische Fülle von Begriffen benannt werden,
die – soweit möglich – von jedem positiven Inhalt entleert sind.
Die beiden beginnen sich an jenem Punkt zu trennen, an dem
Mystizismus alle möglichen Strategien einsetzen wird, um die
ultimativ unvermeidliche Positivität von Inhalt auf ein Mini-
mum zu reduzieren, während eine hegemoniale Praktik aus die-
ser ultimativen Unmöglichkeit ihre raison d’être machen wird.
Weit davon entfernt, den Spalt zwischen Fülle und differentiel-
lem Inhalt zu vergrößern, wird sie aus einem bestimmten parti-
kularen Inhalt den eigentlichen Namen dieser Fülle machen. An
diesem Punkt tritt jedoch eine dritte Dimension in Operation.
Wir haben bereits hervorgestrichen, daß die Bedingung einer
Äquivalenzrelation ist, daß die differentiellen Bedeutungen – ob-
wohl geschwächt – nicht verschwinden und daß sie der Möglich-
278 ERNESTO LACLAU

keit einer unendlichen Ausdehnung der Äquivalenzkette Gren-


zen setzen. Nun sind die Grenzen offensichtlich in einem politi-
schen Diskurs wichtiger als in einem mystischen, da ersterer
eine stabile Artikulation zwischen Fülle und Differenz zu etablie-
ren versucht. Sobald »Marktökonomie« in einem Diskurs einmal
zum Namen der Fülle der Gemeinschaft geworden ist, werden
einige Äquivalenzen möglich, während manche andere mehr
oder weniger permanent ausgeschlossen sein werden. Diese Si-
tuation ist mit Sicherheit nicht fixiert, da diskursive Figuratio-
nen unter einem sie deformierenden Druck stehen (manche
Äquivalenzen können etwa die Bedeutung von »Markt« verän-
dern), aber der entscheidende Punkt ist, daß wenn die Repräsen-
tationsfunktion der Fülle den partikularen Inhalt deformiert, der
diese Funktion einnimmt, reagiert dieser partikulare Inhalt mit
der Begrenzung der Unbestimmtheit der Äquivalenzkette.
Meine zweite Schlußfolgerung betrifft Ethik. Es gab in den letz-
ten Jahren eine große Diskussion um die Konsequenzen der
»Postmoderne« – und, in einem breiteren Sinn, der Kritik am
philosophischen Essentialismus – für moralisches Engagement.
Beraubt nicht die Infragestellung eines absoluten Grundes mo-
ralische Verpflichtungen jeder Fundierung? Wenn alles kontin-
gent ist, wenn es keinen »kategorischen Imperativ« gibt, der eine
Grundlage der Moral schaffen würde, sind wir dann nicht einer
Situation überlassen, in der »alles geht«, und in Konsequenz
moralischer Indifferenz und der Unmöglichkeit, zwischen ethi-
schen und unethischen Handlungen zu unterscheiden? Untersu-
chen wir, was die theoretischen Voraussetzungen dieser Schluß-
folgerung sind. Ich denke, daß wir hier zwischen zwei Aspekten
unterscheiden müssen. Der erste betrifft die Möglichkeit eines
ernsthaften moralischen Engagements qua irgendwelcher Hand-
lungen (einmal deren tatsächlichen Inhalt beseitelassend). Die
Kritik des Essentialismus impliziert, daß es keinen Weg gibt, a
priori zwischen partikularen Handlungsweisen moralisch zu un-
terscheiden – nicht einmal im Sinne der Etablierung eines mini-
malen Inhalts für einen kategorischen Imperativ. Daß impliziert
aber logisch nicht, daß nicht ernsthafte moralische Verpflichtun-
gen Engagements zugeordnet werden könnten, wenn sie von we-
niger als apriorisch diktierten Handlungensweisen eingegangen
werden. Auf das Gegenteil zu schließen, käme der Behauptung
gleich, nur die Partikularität einer Handlungsweise, die als Par-
tikularität verstanden wird, könne die Quelle eines ernsthaften
moralischen Engagements sein. Aber genau das verneint die Ge-
VON DEN NAMEN GOTTES 279

samtheit der mystischen Erfahrung. Erinnern wir uns, was vor-


hin über die Dialektik zwischen Loslösung und Engagement in
Eckhart gesagt wurde. Nur insofern ich meinen Kontakt mit der
Gottheit als einer absoluten (jenseits jedes partikularisierten In-
halts) erfahre, kann ich meinen moralischen Handlungsweisen
ihre moralische Ernsthaftigkeit geben. Und wenn wir in die
Richtung generalisieren, die bereits angedeutet wurde: Nur
wenn ich das Absolute als einen ausgesprochen leeren Platz er-
fahre, kann ich in kontingente Handlungsweisen eine morali-
sche Tiefe projezieren, die sie – auf sich allein gestellt – nicht ha-
ben. Wie wir sehen können, ist die »postmoderne« Erfahrung
der radikalen Kontingenz jedes partikularen Inhalts, der mora-
lisch gültig zu sein behauptet, die eigentliche Voraussetzung je-
ner ethischen Überinvestition, die ein höheres moralisches Be-
wußtsein ermöglicht. Wie im Fall der »Hegemonie« haben wir
hier eine bestimmte »Deifikation« des Konkreten, deren Grund
paradoxerweise genau ihre Kontingenz ist. Ernsthaftes morali-
sches Engagement erfordert eine radikale Trennung zwischen
moralischem Bewußtsein und seinen Inhalten, sodaß kein Inhalt
a priori einen Anspruch darauf erheben kann, der exklusive
Nutznießer des Engagements zu sein.
Gehen wir nun zu unserem zweiten Aspekt. Selbst wenn wir zu-
geben, daß dieser Spalt zwischen der Erfahrung des Absoluten
als einem leeren Platz und dem Engagement für die partikularen
Inhalte, die es inkarnieren wollen, permanent wird, sind wir
dann nicht vollständig führungslos, was die richtigen inkarnie-
renden Inhalte betrifft? Mit Sicherheit sind wir das. Diesen Man-
gel an Führung nannten wir vorher Faktizität, Endlichkeit.
Würde eine Logik existieren, die a priori die Erfahrung des Ab-
soluten mit partikularen Inhalten verknüpft, dann bekäme die
Verbindung zwischen dem inkarnierten Absoluten und seinem
inkarnierenden Inhalt eine Notwendigkeit – und das Absolute
hätte seine Jenseits-Dimension verloren. In diesem Fall wären
wir fähig, Gott auf direkte Weise einen Namen zu geben oder
wenigstens zu behaupten, Seine Essenz diskursiv meistern zu
können, wie es Hegel in seiner Logik tat. Das Gegenteil zu be-
haupten, bedeutet nicht, daß jeder Inhalt zu jedem Zeitpunkt ein
gleichberechtigter Kandidat für die Inkarnation des Absoluten
sein kann. Das trifft nur sub specie aeternitatis zu. Doch histori-
sches Leben findet auf einem Terrain statt, das geringer als die
Ewigkeit ist. Aber wenn die Erfahrung dessen, was wir in der
Doppelbewegung von »Materialisierung Gottes«/»Deifizierung
280 ERNESTO LACLAU

des Konkreten« beschrieben haben, ihren beiden Seiten gerecht


werden will, können weder das Absolute noch das Partikulare
endgültig miteinander Frieden schließen. Das bedeutet, daß die
Konstruktion eines ethischen Lebens davon abhängen wird, daß
die zwei Seiten dieses Paradoxons offengehalten werden: Ein
Absolutes, das nur durch etwas aktualisiert werden kann, das
weniger als es selbst ist, und eine Partikularität, deren einzige
Bestimmung ist, die Inkarnation einer »Erhabenheit« zu sein,
die ihren eigenen Körper transzendiert.

ANMERKUNGEN

1 Meister Eckhart, Selected Writings, London, Penguin Books, 1994, Ser-


mon 28 (DW 83, W 96), S. 236–237
2 Op. cit., S. 238
3 Op. cit., Sermon 17 (DW 21, W 97), S. 182
4 Op. cit., Sermon 5 (DW 53, W 22), S. 129
5 Pseudo-Dionysius Areopagite, »Mystical Theology«, in The Divine Names
and Mystical Theology, Milwaukee, Wisconsin, Marguette University
Press, 1980, S. 221
6 Gershom Scholem, Majot Trends in Jewish Mysticism, New York, Scho-
ken Books, 1995, S. 64
7 Hier beginnen natürlich verschiedene mystische Linien auseinanderzu-
laufen. Ist die Erfahrung der Einheit Gottes Er Selbst, oder die eines
Ausdrucks Gottes? Für unser Argument in diesem Essay ist die Debatte
um Dualismus, Monismus und Pantheismus nicht wirklich relevant. Ich
möchte im Vorübergehen nur anmerken, daß vom Gesichtspunkt der Lo-
gik des mystischen Diskurses Pantheismus die einzige letzlich kohärente
Position ist.
8 Eckhart, op. cit., Sermon 16 (DW 12, W 57), S. 177-178
9 Op. cit., Sermon 4, (DW 30), W 18), S. 123
10 Jacob Korg (ed), The Poetry of Robert Browning, Indianapolis and New
York, The Bobbs-Merril Company, 1971, S.286. Im folgenden gebe ich
einige andere Beispiele eines in mystischer Literatur ziemlich häufigen
Themas. Julian of Norwich bezieht sich auf ein kleines Ding in der Größe
einer Haselnuß, das sie besitzt. Und sie sagt: »In diesem kleinen Ding sah
ich drei Eigenschaften. Die erste ist, daß Gott es schuf: die zweite, daß
Gott es liebte: die dritte, daß Gott es hütete. Und was erblicke ich darin?
Wahrlich, den Schöpfer, den Liebenden und den Hüter«. (The Revelation
of Divine Love of Julian of Norwich, translated by James Walsh, SJ, Lon-
don, Burns and Oates, 1961, S.60) George Fox sieht in seinem Tagebuch
in allem Existierenden die »versteckte Einheit im Ewigen Sein«. Die Pas-
sage kommentierend sagt Evelyn Underhill: »Die versteckte Einheit im
Ewigen Sein zu wissen – sie mit unverwundbarer Sicherheit zu wissen,
im allumfassenden Bewußtseinsakt, mit dem wir der Persönlichkeit je-
ner gewahr werden, die wir wahrhaft lieben – das bedeutet, bis zu sei-
VON DEN NAMEN GOTTES 281

nem Vollsten das erleuchtete Leben zu führen, sich an ›allen Geschöpfen


in Gott und Gott in allen Geschöpfen‹ zu erfreuen.« (Evelyn Underhill,
Mysticism. A Study in the Nature and Development of Man’s Spiritual Con-
sciousness, New York, E P Dutton and Co, sd, S.309)
11 Eckhart, op. cit., »The Talks of Instruction«, S. 9
12 Op. cit., »The Talks of Instruction«, S. 40
13 Die ursprüngliche Formulierung dieses Arguments ist zu finden in E.
Laclau und Ch. Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie, Wien, Pas-
sagen-Verlag, 1991. Ich habe verschiedene Dimensionen des hegemonia-
len Verhältnisses (insbesondere was das Verhältnis Fülle/Partikularität
betrifft) in dem Essayband Emancipation(s), London, Verso, 1996 ent-
wickelt.
Bibliographie von Ernesto Laclau

(a) Bücher:

1. Politics and Ideology in Marxist Theory. Capitalism. Fascism. Populism,


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2. (mit Chantal Mouffe) Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radical
Democratic Politics, London, Verso, 1985, dt. als Hegemonie und radikale
Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien, Passagen-Verlag,
1991
3. New Reflections on the Revolution of our Time, London, Verso, 1990
4. (als Hg.) The Making of Political Identities, London and New York, Verso,
1994
5. Emancipation(s), London, Verso, 1996
6. in Vorbereitung: (mit Isabel Bastos und Francisco Panizza) From Libe-
ralism to Populism: the Transformation of the Political Imaginary in Latin
America, London, Verso, 1997

(b) Artikel

»Un impacto en la lucha de clases: el proceso immigratorio argentino«, Si-


tuation, Buenos Aires 1960
»Nota sobre la historia de mentalidades«, Desarrollo Economico, Buenos Ai-
res 1963, Nr. 2
»Modos de produccion, sistemas economicos y poblacion excedente. Appro-
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Oktober 1970
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TEXTNACHWEISE

Judith Butlers Beitrag erschien zuerst unter dem Titel Poststructuralism and
Postmarxism in diacritics 4/93, Anna-Marie Smiths Beitrag unter dem Titel
Hegemony Trouble: The Political Theories of Judith Butler, Ernesto Laclau and
Chantal Mouffe in Jeffrey Weeks (Hg.), The Lesser Evil and the Greater
Good. The Theory and Politics of Social Diversity, London (Rivers Oram
Press) 1994, jener Slavoj Ÿiÿeks unter dem Titel Beyond Discourse Analysis
als Nachwort zu Ernesto Laclau: New Reflections on the Revolution of Our
Time, London/New York 1990, und jener Simon Critchleys ist eine überar-
beitete Fassung eines Textes, der unter dem Titel The Hypothesis, the Con-
text, the Messianic, the Political, the Economic, the Technological in Acta Phi-
losophica (Laibach), 2/1995, erschien.
Die Texte von Butler, Critchley, Dyrberg, Laclau, Smith, Stavrakakis und
Ÿiÿek wurden aus dem Englischen ins Deutsche gebracht von Oliver Mar-
chart.

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