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Aristoteles

Elektrobuch 2005/1
Aristoteles Politik - I. Buch

Erstes Buch

1. Da wir sehen, daß jeder Staat eine Gemeinschaft ist und jede
Gemeinschaft um eines Gutes willen besteht (denn alle Wesen tun
alles um dessentwillen, was sie für gut halten), so ist es klar, daß zwar
alle Gemeinschaften auf irgendein Gut zielen, am meisten aber und
auf das unter allen bedeutendste Gut jene, die von allen
Gemeinschaften die bedeutendste ist und alle übrigen in sich
umschließt. Diese ist der sogenannte Staat und die staatliche
Gemeinschaft.
Alle diejenigen nun, die meinen, daß ein Staatsmann, ein Fürst, ein
Hausverwalter und ein Herr dasselbe seien, irren sich; sie meinen
nämlich, der Unterschied bestünde nur in der größeren und geringeren
Zahl und nicht in der Art jedes einzelnen, so daß etwa, wer über
wenige regiert, ein Herr sei, wer über mehrere, ein Hausverwalter, und
wer über noch mehrere, ein Staatsmann oder Fürst; denn zwischen
einem großen Hause und einem kleinen Staate sei kein Unterschied
vorhanden; was den Staatsmann und den Fürsten beträfe, so sei einer
ein Fürst, wenn er souverän regiere, wenn er es aber nach den Regeln
der entsprechenden Wissenschaft tue und abwechselnd regiere und
gehorche, dann sei er ein Staatsmann.
Daß dies falsch ist, wird klar werden, wenn wir die Untersuchung
nach der hier gegebenen Methode führen.
Wie man nämlich auch anderswo das Zusammengesetzte bis zu den
nicht mehr zusammengesetzten Teilen zerlegen muß (denn diese sind
die kleinsten Teile des Ganzen), so müssen wir auch beim Staate
erkennen, woraus er zusammengesetzt ist, und werden besser
begreifen, worin sich jene Verhältnisse voneinander unterscheiden und
ob sich über jedes einzelne etwas wissenschaftlich Brauchbares
feststellen läßt.

2. Die beste Methode dürfte hier wie bei den anderen Problemen sein,
daß man die Gegenstände verfolgt, wie sie sich von Anfang an
entwickeln. Als Erstes ist es notwendig, daß sich jene Wesen

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Aristoteles Politik - I. Buch

verbinden, die ohne einander nicht bestehen können, einerseits das


Weibliche und das Männliche der Fortpflanzung wegen (und dies
nicht aus freier Entscheidung, sondern weil es wie anderswo, bei den
Tieren und Pflanzen, ein naturgemäßes Streben ist, ein anderes Wesen
zu hinterlassen, das einem selbst gleich ist), anderseits das naturgemäß
Regierende und Regierte um der Lebenserhaltung willen. Denn was
mit dem Verstand vorauszuschauen vermag, ist von Natur das
Regierende und Herrschende, was aber mit seinem Körper das
Vorgesehene auszuführen vermag, ist das von Natur Regierte und
Dienende. Darum ist auch der Nutzen für Herrn und Diener derselbe.
Von Natur sind das Weibliche und das Regierte verschieden; denn die
Natur macht nichts derart ärmlich wie die Schmiede das delphische
Messer, sondern immer Eines für Eines. Denn so wird jedes einzelne
Werkzeug am schönsten herauskommen, wenn es nicht vielen
Aufgaben, sondern nur einer einzigen dient. Bei den Barbaren freilich
haben das Weibliche und das Regierte denselben Rang. Dies kommt
daher, daß sie das von Natur Herrschende nicht besitzen, sondern die
Gemeinschaft bei ihnen nur zwischen Sklavin und Sklave besteht.
Darum sagen die Dichter: »Daß Griechen über Barbaren herrschen, ist
gerecht«, da nämlich von Natur der Barbar und der Sklave dasselbe
sei.
Aus diesen beiden Gemeinschaften entsteht zuerst das Haus, und
Hesiod hat mit Recht gedichtet: »Allererst nun ein Haus und das Weib
und den pflügenden Ochsen.« Denn der Ochse tritt für die Armen an
die Stelle des Sklaven. So ist denn die für das tägliche
Zusammenleben bestehende natürliche Gemeinschaft das Haus.
Charondas nennt ihre Glieder Tischgenossen, der Kreter Epimenides
Troggenossen.
Die erste Gemeinschaft, die aus mehreren Häusern und nicht nur um
des augenblicklichen Bedürfnisses willen besteht, ist das Dorf. Das
Dorf scheint seiner Natur nach am ehesten eine Verzweigung des
Hauses zu sein, und seine Glieder werden von einigen
»Milchgenossen« und »Kinder und Kindeskinder« genannt. Darum
standen auch die Staaten ursprünglich unter Königen, und bei den
Barbarenvölkern ist es noch jetzt so. Denn es waren Untertanen von

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Aristoteles Politik - I. Buch

Königen, die da zusammentraten. Jedes Haus wird nämlich vom


Ältesten wie von einem König regiert und entsprechend auch die
Verzweigungen auf Grund der Verwandtschaft. Dies meint Homer: »
Jeder gibt das Gesetz für Kinder und Gattinnen.« Jene lebten nämlich
zerstreut, und so wohnten die Menschen in der Urzeit überhaupt. Aus
demselben Grunde behaupten auch alle, daß die Götter durch einen
König. regiert werden, weil sie selbst teils jetzt noch, teils früher unter
Königen standen. Wie nämlich die Menschen die Gestalten der Götter
nach sich selbst abbilden, so auch deren Lebensformen.
Endlich ist die aus mehreren Dörfern bestehende vollkommene
Gemeinschaft der Staat. Er hat gewissermaßen die Grenze der
vollendeten Autarkie erreicht, zunächst um des bloßen Lebens willen
entstanden, dann aber um des vollkommenen Lebens willen
bestehend. Darum existiert auch jeder Staat von Natur, da es ja schon
die ersten Gemeinschaften tun. Er ist das Ziel von jenen, und das Ziel
ist eben der Naturzustand. Denn den Zustand, welchen jedes Einzelne
erreicht, wenn seine Entwicklung zum Abschluß gelangt ist, nennen
wir die Natur jedes Einzelnen, wie etwa des Menschen, des Pferdes,
des Hauses.
Außerdem ist der Zweck und das Ziel das Beste. Die Autarkie ist aber
das Ziel und das Beste.
Daraus ergibt sich, daß der Staat zu den naturgemäßen Gebilden
gehört und daß der Mensch von Natur ein staatenbildendes Lebewesen
ist; derjenige, der auf Grund seiner Natur und nicht bloß aus Zufall
außerhalb des Staates lebt, ist entweder schlecht oder höher als der
Mensch; so etwa der von Homer beschimpfte: »ohne Geschlecht, ohne
Gesetz und ohne Herd«. Denn dieser ist von Natur ein solcher und
gleichzeitig gierig nach Krieg, da er unverbunden dasteht, wie man im
Brettspiel sagt.
Daß ferner der Mensch in höherem Grade ein staatenbildendes
Lebewesen ist als jede Biene oder irgendein Herdentier, ist klar. Denn
die Natur macht, wie wir behaupten, nichts vergebens. Der Mensch ist
aber das einzige Lebewesen, das Sprache besitzt. Die Stimme zeigt
Schmerz und Lust an und ist darum auch den andern Lebewesen eigen
(denn bis zu diesem Punkte ist ihre Natur gelangt, daß sie Schmerz

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Aristoteles Politik - I. Buch

und Lust wahrnehmen und dies einander anzeigen können); die


Sprache dagegen dient dazu, das Nützliche und Schädliche mitzuteilen
und so auch das Gerechte und Ungerechte. Dies ist nämlich im
Gegensatz zu den andern Lebewesen dem Menschen eigentümlich,
daß er allein die Wahrnehmung des Guten und Schlechten, des
Gerechten und Ungerechten und so weiter besitzt. Die Gemeinschaft
in diesen Dingen schafft das Haus und den Staat.
Der Staat ist denn auch von Natur ursprünglicher als das Haus oder
jeder Einzelne von uns. Denn das Ganze muß ursprünglicher sein als
der Teil. Wenn man nämlich das Ganze wegnimmt, so gibt es auch
keinen Fuß oder keine Hand, außer dem Namen nach, wie etwa eine
Hand aus Stein; nur in diesem Sinn wird eine tote Hand noch eine
Hand sein. In Wahrheit ist alles bestimmt durch seine besondere
Leistung und Fähigkeit, und wenn es diese nicht mehr besitzt, kann es
auch nicht mehr als dasselbe Ding bezeichnet werden außer dem
bloßen Namen nach.
Daß also der Staat von Natur ist und ursprünglicher als der Einzelne,
ist klar. Sofern nämlich der Einzelne nicht autark für sich zu leben
vermag, so wird er sich verhalten wie auch sonst ein Teil zu einem
Ganzen. Wer aber nicht in Gemeinschaft leben kann oder in seiner
Autarkie ihrer nicht bedarf, der ist kein Teil des Staates, sondern ein
wildes Tier oder Gott.
Alle Menschen haben also von Natur den Drang zu einer solchen
Gemeinschaft, und wer sie als erster aufgebaut hat, ist ein Schöpfer
größter Güter. Wie nämlich der Mensch, wenn er vollendet ist, das
beste der Lebewesen ist, so ist er abgetrennt von Gesetz und Recht das
schlechteste von allen. Das schlimmste ist die bewaffnete
Ungerechtigkeit. Der Mensch besitzt von Natur als Waffen die
Klugheit und Tüchtigkeit, und gerade sie kann man am allermeisten in
verkehrtem Sinne gebrauchen. Darum ist der Mensch ohne Tugend
das gottloseste und wildeste aller Wesen und in Liebeslust und Eßgier
das schlimmste. Die Gerechtigkeit dagegen ist der staatlichen
Gemeinschaft eigen. Denn das Recht ist die Ordnung der staatlichen
Gemeinschaft, und die Gerechtigkeit urteilt darüber, was gerecht sei.

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Aristoteles Politik - I. Buch

3. Es ist also klar, aus welchen Teilen der Staat besteht. Sprechen wir
nun zuerst über die Hausverwaltung. Denn jeder Staat ist aus Häusern
zusammengesetzt. Die Teile der Hausverwaltung sind wiederum jene,
aus denen sich das Haus zusammensetzt. Das vollständige Haus setzt
sich aus Sklaven und Freien zusammen.
Da nun alles zuerst in seinen kleinsten Teilen untersucht werden muß
und die ursprünglichen und kleinsten Teile des Hauses Herr und
Sklave, Gatte und Gattin, Vater und Kinder sind, so muß man diese
drei Verhältnisse untersuchen und fragen, was jedes sei und wie es
sein soll. Es handelt sich also um die Wissenschaft vom
Herrenverhältnis, vom ehelichen Verhältnis (denn die Verbindung von
Mann und Frau hat sonst keinen eigenen Namen) und vom väterlichen
Verhältnis(auch dieses hat keinen eigenen Namen). Diese drei seien
an-genommen. Dazu kommt noch ein Teil, der für die einen die
gesamte Hausverwaltung ausmacht, für die andern ihr bedeutendster
Teil ist (wie es sich damit verhält, werden wir noch prüfen); ich meine
die sogenannte Erwerbskunst.
Als erstes wollen wir über den Herrn und den Sklaven reden, um die
praktischen Notwendigkeiten zu erkennen und zu sehen, ob wir
hierüber nicht auch theoretisch Besseres erreichen können als die
gegenwärtig geltenden Meinungen. Die einen meinen nämlich, das
Herrenverhältnis sei eine Wissenschaft, und zwar sei sie dieselbe wie
die Kunst des Hausverwalters, des Staatsmannes und des Fürsten, wie
wir im Eingang bemerkt haben. Andere behaupten, das Herrenver-
hältnis sei gegen die Natur; nur durch Konvention sei der eine ein
Sklave, der andere ein Freier, der Natur nach bestünde dagegen kein
Unterschied. Darum sei es auch nicht gerecht, sondern gewaltsam.

4. Da nun der Besitz ein Teil des Hauses ist und die Lehre vom Besitz
ein Teil der Lehre von der Hausverwaltung (denn ohne die
notwendigen Güter kann man weder leben noch voll-kommen leben),
und da wie für die einzelnen bestimmten Künste die zugehörigen
Werkzeuge vorhanden sein müssen, wenn die Aufgabe erfüllt werden
soll (und von den Werkzeugen sind die einen beseelt und die andern

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Aristoteles Politik - I. Buch

unbeseelt, wie etwa für den Steuermann das Steuer ein unbeseeltes
und der Steuergehilfe ein beseeltes Werkzeug ist – denn beim
Handwerk steht der Gehilfe im Rang eines Werkzeugs), so ist auch für
den Hausverwalter der Besitz im einzelnen ein Werkzeug zum Leben
und im ganzen eine Sammlung solcher Werkzeuge und der Sklave ein
beseelter Besitz; jeder Diener ist gewissermaßen ein Werkzeug, das
viele andere Werkzeuge vertritt. Wenn nämlich jedes einzelne
Werkzeug auf einen Befehl hin, oder einen solchen schon voraus
ahnend, seine Aufgabe erfüllen könnte, wie man das von den
Standbildern des Daidalos oder den Dreifüßen des Hephaistos erzählt,
von denen der Dichter sagt, sie seien von selbst zur Versammlung der
Götter erschienen, wenn also auch das Weberschiffchen so webte und
das Plektron die Kithara schlüge, dann bedürften weder die Bau-
meister der Gehilfen, noch die Herren der Sklaven.
Die Werkzeuge im geläufigen Sinne sind produzierende Werkzeuge,
der Besitz dagegen dient dem Handeln. Denn durch das
Weberschiffchen wird etwas hergestellt, was von seinem Gebrauch
verschieden ist; das Kleid und das Bett sind aber ausschließlich zum
Gebrauche da.
Ferner: da sich das Produzieren seiner Art nach vom Handeln
unterscheidet und beide der Werkzeuge bedürfen, so müssen auch
diese denselben Unterschied aufweisen. Das Leben wiederum ist ein
Handeln und kein Produzieren. Dar-um ist auch der Sklave ein Gehilfe
beim Handeln.
Von einem Besitzstück redet man gleich wie von einem Teil. Der Teil
ist nun nicht nur der Teil eines Anderen, sondern gehört überhaupt
einem Anderen. Ebenso das Besitzstück. Darum ist der Herr bloß Herr
des Sklaven, gehört ihm aber nicht; der Sklave dagegen ist nicht nur
Sklave des Herrn, sondern gehört ihm ganz.
Welches die Natur und die Fähigkeit des Sklaven ist, wird hieraus
klar. Der Mensch, der seiner Natur nach nicht sich selbst, sondern
einem anderen gehört, ist von Natur ein Sklave; einem andern
Menschen gehört, wer als Mensch ein Besitzstück ist, das heißt ein für
sich bestehendes, dem Handeln dienendes Werkzeug.

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Aristoteles Politik - I. Buch

5. Ob es nun einen Menschen gibt, der von Natur derart ist oder nicht,
und ob es besser und gerecht ist für einen Menschen, Sklave zu sein
oder nicht, oder ob überhaupt jede Sklaverei gegen die Natur ist, dies
ist nun zu untersuchen.
Es ist nicht schwer, dies theoretisch zu erkennen und aus der
Erfahrung zu entnehmen.
Das Herrschen und Dienen gehört nicht nur zu den notwendigen,
sondern auch zu den zuträglichen Dingen. Einiges trennt sich gleich
von Geburt an, das eine zum Dienen, das andere zum Herrschen. Es
gibt viele Arten von Herrschenden und Dienenden; und immer ist jene
Herrschaft besser, wo Bessere regiert werden, also besser diejenige
über einen Menschen als diejenige über ein Tier. Denn was von
Besseren zustande gebracht wird, ist auch eine bessere Leistung; und
wo eines regiert und das andere regiert wird, gibt es eine gemeinsame
Leistung beider.
Allgemein: wo immer Eines aus Mehrerem zusammengesetzt ist und
ein Gemeinsames entsteht, entweder aus kontinuierlichen oder aus
getrennten Teilen, da zeigt sich ein Herrschendes und ein
Beherrschtes, und zwar findet sich dies bei den beseelten Lebewesen
auf Grund ihrer gesamten Natur. Sogar beim Unbelebten gibt es eine
Art von Herrschaft, wie in der musikalischen Harmonie. Doch eine
Untersuchung darüber gehört wohl nicht hieher.
Das Lebewesen besteht primär aus Seele und Leib, wovon das eine
seiner Natur nach ein Herrschendes, das andere ein Beherrschtes ist.
Was dabei naturgemäß sei, muß man eher an dem ablesen, was sich
normal verhält, als an dem, was verdorben ist. So muß man auch jenen
Menschen untersuchen, der sich nach Leib und Seele in der besten
Verfassung befindet. Da wird dies klar. Denn bei Menschen, die
schlecht oder in schlechter Verfassung sind, könnte es oft scheinen, als
regiere der Körper die Seele, weil sie sich schlecht und naturwidrig
verhalten.
Zuerst also kann man, wie wir sagen, beim Lebewesen das
Herrenverhältnis und das staatsmännische Verhältnis beobachten.
Denn die Seele regiert über den Körper in der Weise eines Herrn und
der Geist über das Streben in der Weise eines Staatsmannes oder

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Aristoteles Politik - I. Buch

Fürsten. Daraus wird klar, daß es für den Körper naturgemäß und
zuträglich ist, von der Seele beherrscht zu werden; ebenso für den
leidenschaftsbegabten Teil der Seele, vom Geiste und vom
vernunftbegabten Teil beherrscht zu werden; Gleichheit oder ein
umgekehrtes Verhältnis wäre für alle Teile schädlich.
Ebenso steht es mit dem Verhältnis zwischen dem Menschen und den
anderen Lebewesen. Die zahmen sind ihrer Natur nach besser als die
wilden, und für alle zahmen Tiere ist es am besten, wenn sie vom
Menschen regiert werden. Denn so bleiben sie am Leben erhalten.
Desgleichen ist das Verhältnis des Männlichen zum Weiblichen von
Natur so, daß das eine besser, das andere geringer ist, und das eine
regiert und das andere regiert wird.
Auf dieselbe Weise muß es sich nun auch bei den Menschen im
allgemeinen verhalten. Diejenigen, die so weit voneinander
verschieden sind wie die Seele vom Körper und der Mensch vom Tier
(dies gilt bei allen denjenigen, deren Aufgabe die Verwendung ihres
Körpers ist und bei denen dies das Beste ist, was sie leisten können),
diese sind Sklaven von Natur, und für sie ist es, wie bei den vorhin
genannten Beispielen, besser, auf die entsprechende Art regiert zu
werden.
Von Natur ist also jener ein Sklave, der einem andern zu gehören
vermag und ihm darum auch gehört, und der so weit an der Vernunft
teilhat, daß er sie annimmt, aber nicht selbständig besitzt. Die andern
Lebewesen dienen so, daß sie nicht die Vernunft annehmen, sondern
nur Empfindungen gehorchen. Doch ihre Verwendung ist nur wenig
verschieden : denn beide helfen dazu, mit ihrer körperlichen Arbeit
das Notwendige zu beschaffen, die Sklaven wie die zahmen Tiere.
Die Natur hat die Tendenz, auch die Körper der Freien und der
Sklaven verschieden zu gestalten, die einen kräftig für die
Beschaffung des Notwendigen, die anderen aufgerichtet und
ungeeignet für derartige Verrichtungen, doch brauchbar für das
politische Leben (das seinerseits aufgeteilt wird in die Bedürfnisse des
Krieges und diejenigen des Friedens). Immer-hin kommt oft das
Gegenteil vor, daß die einen den Körper von Freien haben und die
andern die Seele. Doch dies ist allerdings klar: wenn sich die einen

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Aristoteles Politik - I. Buch

bloß körperlich so weit abhöben wie die Standbilder der Götter, so


würden schon alle zugeben, daß diejenigen, die dies nicht erreichten,
mit Recht die Sklaven von jenen wären. Wenn dies beim Körper
zutrifft, so kann man dasselbe mit noch viel mehr Recht von der Seele
behaupten. Nur ist es nicht gleich leicht, die Schönheit der Seele zu
erkennen, wie diejenige des Körpers.
Es ist also klar, daß es von Natur Freie und Sklaven gibt und daß das
Dienen für diese zuträglich und gerecht ist.

6. Daß aber auch jene, die das Gegenteil behaupten, in einer gewissen
Weise recht haben, ist nicht schwer einzusehen. Denn Sklaverei und
Sklave werden in einem doppelten Sinne verstanden. Es gibt nämlich
auch Sklaven und Sklaverei gemäß dem Gesetz. Das Gesetz ist ja eine
Vereinbarung darüber, daß, wie man sagt, das im Kriege Besiegte
Eigentum des Siegers wird. Gegen dieses Recht erheben viele von
denen, die sich theoretisch mit den Gesetzen beschäftigen, Klage auf
Gesetzwidrigkeit, als gingen sie gegen einen Politiker vor: es wäre
schrecklich, wenn das Überwältigte der Sklave und Diener dessen sein
sollte, der es überwältigen könne und es an Macht überträfe. So haben
sogar unter den Weisen die einen diese, die andern jene Meinung.
Die Ursache dieser Differenz, die bewirkt, daß die Argumente hin und
her gehen, ist die, daß die Tüchtigkeit, wenn sie die Mittel besitzt, in
gewisser Weise auch am leichtesten anderes zu überwältigen vermag
und daß das Siegende stets auch eine Überlegenheit an irgendeinem
Gute aufweist. Also scheint die Gewalt nicht ohne Tüchtigkeit zu
bestehen. Der Streit betrifft nur die rechtmäßige Ausübung der
Gewalt; so scheint nämlich den einen die Gerechtigkeit im
Wohlwollen zu bestehen, den andern aber gerade die Herrschaft des
Stärkeren gerecht zu sein. Wenn man indessen diese Begriffe von-
einander trennt, so hat die erste Behauptung, daß nämlich das: an
Tüchtigkeit Bessere herrschen und regieren solle, weder Gewicht noch
Glaubwürdigkeit.
Allgemein gesagt, halten sich einige an ein gewisses Recht, wie sie
meinen (denn das Gesetz ist ein gewisses Recht), und erklären, die
Sklaverei auf Grund von Kriegen sei gerecht und auch wieder nicht.

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Aristoteles Politik - I. Buch

Denn der Ausgangspunkt von Kriegen kann ungerecht sein, und wer,
ohne es zu verdienen, in Sklaverei gerät, den kann man in keiner
Weise einen Sklaven nennen. Andernfalls könnten die anerkannt
Adligsten zu Sklaven werden und zu Kindern von Sklaven, wenn sie
eben gefangengenommen und verkauft werden. Darum wollen jene
auch nicht solche Menschen als Sklaven bezeichnen, sondern nur die
Barbaren.
Aber wenn sie so reden, suchen sie nichts anderes als das naturgemäße
Sklaventum, von dem wir am Anfang gesprochen haben. Denn man
muß sagen, daß es Menschen gibt, die unter allen Umständen Sklaven
sind, und solche, die es niemals sind.
Dasselbe gilt auch von der Adligkeit. Sich selbst halten sich nicht nur
bei sich zu Hause, sondern überall für adlig, die Barbaren aber nur in
deren Land; denn es gebe eine Adligkeit und Freiheit, die dies
schlechthin sei, und eine andere, die es nicht sei, wie etwa die Helena
des Theodektes sagt: »Von bei den Seiten bin ich Sproß aus
Götterstamm, wer darf es wagen mich zu nennen eine Dienerin ?«
Wenn sie dies sagen, so unterscheiden sie Sklaven und Freie, Adlige
und Unadlige ausschließlich nach der Tugend oder Schlechtigkeit. Sie
meinen nämlich, wie aus dem Menschen ein Mensch und aus einem
Tier ein Tier entstehe, so werde auch aus Edlem ein Edles Dies
erstrebt die Natur zwar vielfach, erreicht es aber nicht immer.
Daß also der Streit einen Grund hat und nicht alle Menschen einfach
von Natur Freie oder Sklaven sind, ist klar, aber auch. daß dieser
Unterschied in einigen Fällen tatsächlich besteht, wo es denn für den
einen zuträglich und gerecht ist zu dienen und für den anderen zu
herrschen; und zwar muß jedes in der Art regiert werden oder
regieren, wie es seiner Natur entspricht, was denn auch zum
Herrenverhältnis führen kann. Schlechtes Regieren ist für beide Teile
unzuträglich; denn das Zuträgliche ist dasselbe für den Teil wie für
das Ganze, für den Körper wie für die Seele; und der Sklave ist ein
Teil des Herrn, gewissermaßen ein beseelter, aber getrennter Teil des
Leibes.
Darum gibt es auch etwas Zuträgliches und eine gegenseitige
Freundschaft zwischen einem Herrn und einem Sklaven, die dieses ihr

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Aristoteles Politik - I. Buch

Verhältnis von Natur aus verdienen. Besteht es aber nicht von Natur,
sondern nach Gesetz und Gewalt, so gilt das Gegenteil.

7. Es ergibt sich auch hieraus, daß das Herrenverhältnis und das


staatsmännische Verhältnis nicht identisch sind, und daß überhaupt
nicht alle Formen der Regierung einander gleich sind, wie einige
meinen. Die eine besteht über von Natur aus Freie, die andere über
Sklaven; die Hausverwaltung ist eine Monarchie – denn jedes Haus
wird von einem Einzigen regiert –, die Staatsverwaltung ist dagegen
eine Herrschaft über Freie und Gleichgestellte.
Herr heißt einer nicht auf Grund einer Wissenschaft, sondern auf
Grund seiner Qualität, und ebenso der Freie und der Sklave. Immerhin
kann es eine Wissenschaft vom Herren- und vom Sklavenverhältnis
geben, die zweite etwa von einer Art, wie sie jener in Syrakus lehrte;
dort unterrichtete nämlich jemand für Lohn die jungen Sklaven in den
üblichen Dienstleistungen. Eine solche Unterweisung ließe sich auch
weiter ausdehnen, etwa auf die Kochkunst und andere derartige
Dienste. Denn die Aufgaben sind verschieden, die einen ehren-voller,
die anderen notwendiger, und, wie das Sprichwort sagt: »Jeder Sklave
ist nicht wie der andere und jeder Herr auch nicht wie der andere.«
Dies sind nun alles Wissenschaften für Sklaven. Die Wissenschaft des
Herrn ist aber diejenige, die die Sklaven zu verwenden weiß. Denn der
Herr zeigt sich nicht im Erwerben, sondern im Verwenden von
Sklaven. Doch hat diese Wissenschaft nichts Großes oder Edles an
sich; sie besteht ja nur darin, das anordnen zu können, was der Sklave
ausführen können muß. Wer es sich also leisten kann, sich nicht selbst
abzumühen, bei dem übernimmt ein Verwalter dieses Amt, und die
Herren selbst treiben Politik oder Philosophie.
Die Wissenschaft, Sklaven zu erwerben, ist aber verschieden von
beiden; sofern sie von gerechtem Erwerb spricht, ist sie eine Art von
Kriegskunst oder Jagdkunst.
Über Sklave und Herr sei also dies festgestellt.

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Aristoteles Politik - I. Buch

8. Wir wollen nun nach der gegebenen Methode im allgemeinen die


gesamte Lehre von Besitz und Erwerb betrachten, da ja auch der
Sklave sich als ein Teil des Besitzes erwies.
Als erstes kann man fragen, ob die Erwerbskunst mit der
Hausverwaltung identisch oder ein Teil von ihr sei, oder eine
Hilfskunst, und wenn sie dies ist, ob sie sich verhält wie die Kunst,
Weberschiffchen zu produzieren, zur Webekunst, oder wie die
Erzgießerei zur Plastik (denn diese dienen nicht in derselben Weise,
sondern die eine stellt die Werkzeuge zur Verfügung, die andere die
Materie; unter Materie verstehe ich das Zugrundeliegende, aus
welchem ein Werk verfertigt wird, wie die Wolle für den Weber und
das Erz für den Bildhauer).
Daß nun die Hausverwaltung mit der Erwerbskunst nicht identisch ist,
ist klar; die eine schafft herbei, die andere verwendet. Denn welche
Wissenschaft soll die Dinge im Hause verwenden, wenn nicht die
Hausverwaltungskunst?
Ob nun aber die Erwerbskunst ein Teil von ihr ist oder der Art nach
von ihr verschieden, das ist strittig. Denn es scheint die Sache des
Erwerbskundigen zu sein, zu prüfen, woher das Geld und der Erwerb
kommen. Der Erwerb hat allerdings viele Teile und ebenso der
Reichtum, so daß man sich als erstes fragen kann, ob die
Landwirtschaft ein Teil der Hausverwaltung ist oder gattungsmäßig
von ihr verschieden, und ebenso im allgemeinen Besorgung und
Erwerb der Nahrung.
Es gibt indessen viele Arten der Ernährung, weshalb es denn auch
viele Lebensformen von Tieren und Menschen gibt. Denn ohne
Nahrung kann man nicht leben, und so verändern die Unterschiede in
der Ernährung auch die gesamten Lebensformen der Lebewesen.
Von den Tieren leben die einen in Herden, die andern verstreut, so wie
es für ihre Ernährung zweckmäßig ist, da die einen Fleischfresser, die
andern Pflanzenfresser und wieder andere Allesfresser sind; und um
ihnen das Aufsuchen ihrer Nahrung zu erleichtern, hat die Natur ihre
Lebensformen verschieden eingerichtet. Da nämlich nicht jedem von
Natur dasselbe schmeckt, sondern dem einen dies, dem andern jenes,
so sind auch die Lebensformen der Fleischfresser und der

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Aristoteles Politik - I. Buch

Pflanzenfresser als solcher unter sich verschieden. Dasselbe gilt auch


von den Menschen. Auch deren Lebensformen sind außerordentlich
verschieden. Die arbeitsscheusten unter ihnen sind Nomaden; ihre
Ernährung erhalten sie durch die zahmen Tiere in aller Muße ohne
Mühe, und nur weil das Vieh gezwungen ist, wegen der Weide den
Ort zu wechseln, so müssen auch sie mitgehen, »als ob sie einen
lebendigen Acker bebauten«. Andere leben von der Jagd, von der es
wiederum verschiedene Arten gibt: die einen vom Raub, die andern,
soweit sie an Seen, Sümpfen, Flüssen und geeigneten Meeresküsten
wohnen, von der Fischerei, andere wiederum von Vögeln und wilden
Tieren. Die Mehrzahl der Menschen indessen lebt von der Erde und
ihren eßbaren Früchten.
Dies sind ungefähr die Lebensformen, bei denen natürliche Arbeit
geleistet und die Nahrung nicht durch Tausch und Handel beschafft
wird: das Leben der Nomaden, der Bauern, der Räuber, der Fischer
und der Jäger.
Manche vermischen auch diese Lebensweisen und leben insofern
angenehm, als sie das allzu dürftige Leben ergänzen, soweit es zur
Autarkie nicht ausreicht. Die einen sind gleichzeitig Nomaden und
Räuber, die anderen Bauern und Jäger und so weiter. Wie es das
Bedürfnis erfordert, so leben sie.
Diese Art von Besitz scheint allen von der Natur selbst dargeboten zu
werden, wie gleich bei ihrer Geburt, so auch später, wenn sie
erwachsen sind. Manche Lebewesen bringen nämlich gleich beim
Gebären so viel Nahrung mit hervor, als es braucht, bis sich das
Neugeborene die Nahrung selbst beschaffen kann, so die Würmer oder
Eier gebärenden Tiere. Die Lebendgebärenden haben dagegen bis zu
einer bestimmten Zeit die Nahrung für die Jungen in sich, die
sogenannte Milch. In gleicher Weise ist augenscheinlich anzunehmen
(was auch gilt, wenn sie erwachsen sind), daß die Pflanzen der Tiere
wegen da sind und die Tiere der Menschen wegen, die zahmen zur
Verwendung und zur Nahrung, von den wilden, wenn nicht alle, so
doch die meisten zur Nahrung und sonstigem Nutzen, sofern Kleider
und andere Ausrüstungsgegenstände aus ihnen verfertigt werden.
Wenn nun die Natur nichts unvollkommen und nichts zwecklos macht,

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Aristoteles Politik - I. Buch

so muß die Natur all dies um der Menschen willen gemacht haben.
Darum ist auch die Kriegskunst von Natur eine Art von Erwerbskunst
(die Jagdkunst ist ein Teil von ihr), die man anwenden muß gegen die
Tiere und gegen jene Menschen, die von Natur zum Dienen bestimmt
sind und dies doch nicht wollen. Denn ein solcher Krieg ist von Natur
gerecht.
So ist denn eine Art der Erwerbskunst der Natur nach ein Teil der
Hausverwaltungskunst. Sie muß vorhanden sein oder beschafft
werden, damit von den Gütern, die in der Gemeinschaft des Staates
oder des Hauses für das Leben notwendig und nützlich sind,
diejenigen zur Verfügung stehen, die auf-gespeichert werden können.
Aus diesen Dingen scheint auch der wahre Reichtum zu bestehen.
Denn der Bedarf an solchem Besitz zur Autarkie eines vollkommenen
Lebens ist nicht unbegrenzt wie jener, von dem Solon dichtet:
»Reichtum hat keine Grenze, die nennbar den Menschen gesetzt ist.«
Denn es ist eine gesetzt wie auch bei den andern Künsten. Kein
Werkzeug irgendeiner Kunst ist nach Zahl und Größe unbegrenzt. Der
Reichtum ist aber nichts als eine Vielheit von Werkzeugen für die
Haus-und Staatsverwaltung.
Daß es also eine naturgemäße Erwerbskunst für die Hausverwalter
und die Staatsmänner gibt und weshalb, ist damit festgestellt.

9. Es gibt indessen noch eine andere Art von Erwerbskunst, die man
vorzugsweise und mit Recht als die Kunst des Gelderwerbs
bezeichnet; im Hinblick auf sie scheint keine Grenze des Reichtums
und des Erwerbs zu bestehen. Viele halten sie wegen ihrer
Nachbarschaft für identisch mit der eben genannten. Sie ist aber weder
identisch noch allzusehr von ihr entfernt. Die eine ist von Natur, die
andere nicht, sondern ergibt sich eher aus einer Art von Erfahrung und
Kunst.
Beginnen wir die Untersuchung über sie mit folgendem : für jedes
Besitzstück gibt es eine doppelte Verwendung. Jede ist Verwendung
des Dings als solchen, aber nicht in derselben Weise, sondern die eine
ist dem Ding eigentümlich, die andere nicht, so etwa beim Schuh das
Anziehen und die Verwendung zum Tausch. Beides ist Verwendung

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Aristoteles Politik - I. Buch

des Schuhs. Auch wer den Schuh um Geld oder Nahrungsmittel


jemandem gibt, der ihn nötig hat, verwendet den Schuh als Schuh,
aber nicht zu dem ihm eigentümlichen Gebrauche. Denn er ist nicht
um des Tausches willen verfertigt worden. Ebenso verhält es sich mit
den andern Besitzstücken. Der Tausch ist bei allem möglich,
anknüpfend an die naturgemäße Tatsache, daß die Menschen von den
notwendigen Gütern hier zuviel und dort zuwenig haben. Daraus
ergibt sich sofort, daß das Kaufmannsgewerbe nicht von Natur zur
Erwerbskunst gehört. Denn zunächst mußte der Tausch nur so weit
gehen, als man seiner unmittelbar bedurfte.
In der ursprünglichen Gemeinschaft nun (diese ist das Haus) hat diese
Erwerbskunst offenbar keine Aufgabe, sondern erst, wenn die
Gemeinschaft größer geworden ist. Denn jene hatten alle Anteil an
einem und demselben Besitze, in der ausgebreiteten Gemeinschaft
dagegen besaß der eine für sich dieses, der andere anderes. Dies mußte
also je nach dem Bedürfnis aus-getauscht werden, so wie es auch jetzt
noch viele von den Barbarenstämmen tun. Sie tauschen einander
gegenseitig nur die Gebrauchsgüter selbst und nicht mehr, also Wein
gegen Korn und so weiter.
Ein derartiger Tauschhandel ist weder gegen die Natur, noch ist er
eine besondere Form der Erwerbskunst (denn er dient nur der
Erfüllung der naturgemäßen Autarkie); aber allerdings entsteht
folgerichtig aus ihm jene andere Kunst. Denn durch die Einfuhr
dessen, was man entbehrte, und die Ausfuhr des Überschusses dehnte
sich die Hilfeleistung über die Landesgrenzen hinaus aus, und so
ergab sich mit Notwendigkeit die Verwendung von Geld. Denn nicht
alle natur-gemäß notwendigen Güter sind leicht zu transportieren.
Also kam man überein, beim Tausch gegenseitig eine Sache zu
nehmen und zu geben, die selbst nützlich und im täglichen Verkehr
handlich war, wie Eisen, Silber usw. Zuerst bestimmte man sie einfach
nach Größe und Gewicht, schließlich drückte man ihr ein Zeichen auf,
um sich das Abmessen zu ersparen. Denn die Prägung wurde als
Zeichen der Quantität gesetzt.
Als nun schon das Geld aus den Bedürfnissen des Tauschverkehrs
geschaffen war, entstand die zweite Art der Erwerbskunst, die

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Aristoteles Politik - I. Buch

Kaufmannskunst, anfangs wohl nur ganz einfach, später kunstmäßiger


auf Grund der Erfahrung, woher und wie man Güter vertauschen
müsse, um den größten Gewinn zu erzielen.
Darum scheint die Erwerbskunst sich vor allem auf das Geld zu
beziehen, und ihre Aufgabe scheint darin zu bestehen, zu erkennen,
woher man das meiste Geld gewinnen kann; sie gilt dann als
Erzeugerin des Reichtums und des Geldes. Denn als Reichtum
versteht man oft eine Menge von Geld, da sich doch die Erwerbskunst
und die Kaufmannskunst gerade damit befassen.
Für andere wiederum gilt das Geld als ein Unsinn und eine reine
gesetzliche Fiktion, in keiner Weise von Natur gegeben; denn wenn
jene, die es verwenden, es verändern, so ist es nichts mehr wert und
für die notwendigen Bedürfnisse in keiner Weise zu gebrauchen; und
oft hat einer viel Geld und ermangelt der notwendigen Nahrung. Aber
dies muß doch ein unsinniger Reichtum sein, bei dessen Besitz man
Hungers sterben könnte, wie man es von jenem Midas erzählt,
demwegen der Unersättlichkeit seiner Wünsche alles, was ihm
vorgesetzt wurde, zu Gold wurde.
So sucht man eine andere Bestimmung des Reichtums und der
Erwerbskunst, und mit Recht. Denn die rechte Erwerbskunst ist etwas
anderes und ebenso der naturgemäße Reichtum; es ist die
Hausverwaltungskunst. Die Kaufmannskunst dagegen produziert zwar
Vermögen, aber nicht schlechthin, sondern nur durch den Umsatz von
Gegenständen; und nur sie scheint sich um das Geld zu drehen. Denn
das Geld ist das Element und die Grenze des Umsatzes. Darum ist der
Reichtum, der von dieser Erwerbskunst kommt, allerdings unbegrenzt.
Wie nämlich die Heilkunst unbegrenzt auf Gesundheit ausgeht und
ebenso jede andere Kunst unbegrenzt auf ihr Ziel (denn sie wollen es
so weit als möglich verwirklichen), während die Mittel zur Erreichung
des Zieles nicht ins Unbegrenzte gehen (denn für sie alle ist das Ziel
die Grenze), so findet auch für diese Erwerbskunst das Ziel keine
Grenze; Ziel ist aber eben dieser Reichtum und der Erwerb von Geld.
Die Hausverwaltung dagegen, die nicht diese Erwerbskunst ist, hat
eine Grenze. Denn dieser Reichtum ist ja nicht ihre Aufgabe.

XVII
Aristoteles Politik - I. Buch

Insofern scheint es denn, daß jeder Reichtum eine Grenze haben


müsse. In Wirklichkeit sehen wir aber das Gegenteil: alle, die sich mit
Erwerb befassen, vermehren ihr Geld ins Unbegrenzte. Der Grund
liegt in der Verwandtschaft beider Künste. Da beide denselben
Gegenstand haben, so geht die Verwendung ineinander über. Hier wie
dort wird derselbe Besitz verwendet, aber nicht in derselben Weise: im
einen Fall ist das Ziel ein anderes, im anderen ist es eben seine
Vermehrung. So meinen denn einige, dies sei die Aufgabe der
Hausverwaltung, und verharren bei der Meinung, der Geldbesitz
müsse entweder bewahrt oder ins Unbegrenzte vermehrt werden.
Ursache dieser Verfassung ist, daß man sich um das Leben, aber nicht
um das vollkommene Leben bemüht. Da jenes Verlangen unbegrenzt
ist, so verlangen sie auch nach unbegrenzten Mitteln dazu. Aber auch
alte diejenigen, die auf das vollkommene Leben achten, suchen die
Mittel für den körperlichen Genuß, und da auch diese mit dem Besitz
gegeben zu sein scheinen, so richtet sich ihr ganzes Interesse auf den
Gelderwerb, und so entsteht jene andere Art der Erwerbskunst. Denn
da der Genuß in der Überfülle besteht, so suchen sie die Kunst, die die
Überfülle des Genusses verschafft. Und wenn sie dies nicht durch die
Erwerbskunst zustande bringen, so versuchen sie es auf andern Wegen
und benützen dazu alle Fähigkeiten, aber gegen die Natur; denn die
Tapferkeit soll nicht Geld verdienen, sondern Mut erzeugen, und auch
die Feldherrnkunst und die Medizin sollen das nicht, sondern Sieg und
Gesundheit verschaffen. Doch jene machen aus alledem einen
Gelderwerb, als ob dies das Ziel wäre, auf das hin alles gerichtet
werden müßte.
So haben wir von der überflüssigen Erwerbskunst gesagt, was sie sei
und aus welchem Grunde wir uns ihrer bedienen, und ebenso von der
notwendigen, daß sie von jener verschieden und ihrer Natur nach eine
Hausverwaltungskunst sei (sie betrifft nämlich die Ernährung), und
daß sie nicht wie jene unbegrenzt sei, sondern eine Grenze besitze.

10. So beantwortet sich auch die Frage des Anfangs, ob nämlich die
Erwerbskunst zur Aufgabe des Hausverwalters und des Staatsmanns
gehört oder nicht, oder ob dies schon vorausgesetzt wird (wie nämlich

XVIII
Aristoteles Politik - I. Buch

die Politik auch die Menschen nicht erzeugt, sondern sie von der Natur
übernimmt und sie verwendet, so muß die Natur auch die Nahrung
darbieten, nämlich die Erde, das Meer usw.); dem Hausverwalter
käme dann nur zu, dies richtig zu disponieren. Denn auch die Weberei
produziert nicht die Wolle, sondern verwendet sie und beurteilt,
welche gut und brauchbar ist und welche nicht. Sonst könnte man ja
fragen, weshalb nur die Erwerbskunst ein Teil der
Hausverwaltungskunst sei und nicht etwa auch die Medizin. Denn
schließlich müssen die Hausbewohner auch gesund sein, so gut wie sie
zu leben haben müssen und so weiter.
Da es indessen teils die Aufgabe des Hausverwalters und des
Regenten ist, für die Gesundheit zu sorgen, teils aber diejenige des
Arztes, so sorgt auch für das Geld teils der Hausverwalter, teils die
ihm untergeordnete Kunst. Vor allem aber, wie schon bemerkt, muß
dies von Natur vorhanden sein. Denn es ist die Aufgabe der Natur,
dem erzeugten Lebewesen die Nahrung zu bieten, wie ja allen Wesen
von ihrer Geburt an das, was neben ihnen übrigbleibt, zur Nahrung
dient. Darum liegt die naturgemäße Erwerbskunst für alle Menschen
im Bereich der Pflanzen und Tiere.
Da es aber eine doppelte Erwerbskunst gibt, wie wir gesagt haben, die
des Kaufmanns und die des Hausverwalters, und da diese notwendig
und lobenswert ist, die Tauschkunst da-gegen mit Recht getadelt wird
(denn sie hat es nicht mit der Natur zu tun, sondern mit den Menschen
untereinander), so ist erst recht der Wucher hassenswert, der aus dem
Geld selbst den Erwerb zieht und nicht aus dem, wofür das Geld da
ist. Denn das Geld ist um des Tausches willen erfunden worden, durch
den Zins vermehrt es sich aber durch sich selbst. Daher hat es auch
seinen Namen : das Geborene ist gleicher Art wie das Gebärende, und
durch den Zins (Tokos) entsteht Geld aus Geld. Diese Art des
Gelderwerbs ist also am meisten gegen die Natur.

11. Da wir nun das Theoretische hinlänglich untersucht haben, müssen


wir auch das Praktische durchgehen. Denn in allen diesen Dingen ist
die Theorie frei, während die Erfahrung von den Notwendigkeiten
ausgeht.

XIX
Aristoteles Politik - I. Buch

Die Teile der Erwerbskunst sind für die Praxis bestimmt: man muß in
den Besitzstücken aus Erfahrung wissen, welche am
gewinnbringendsten sind und wo und wie, etwa wie man Pferde kauft
und Rinder oder Schafe, und ebenso bei den übrigen Tieren (man muß
nämlich darin erfahren sein, welche Tiere vergleichsweise am
gewinnbringendsten sind und welche in welchen Gegenden, da ja das
Vieh in den verschiedenen Ländern verschieden gedeiht); ferner in der
Landwirtschaft, und hier sowohl beim Getreideland wie auch beim
Pflanzland, weiterhin in der Zucht der Bienen und der anderen Tiere,
Fische oder Vögel, soweit sie von Nutzen sind.
Dies sind die Teile der eigentlichen und ursprünglichen Erwerbskunst;
bei der Tauschkunst ist der Hauptteil der Handel (dieser hat wieder
drei Teile : Seehandel, Binnenhandel und Kleinhandel. Der
Unterschied zwischen ihnen besteht darin, daß der eine sicherer ist,
der andere mehr Gewinn einträgt), der zweite Teil ist das
Zinsgeschäft, der dritte die Lohnarbeit (sie scheidet sich wiederum in
die banausischen Künste und in die ungelernte, bloß körperliche
Arbeit). Eine dritte Hauptform der Erwerbskunst zwischen dieser und
der ersten (sie berührt nämlich teils die naturgemäße Erwerbskunst,
teils die Tauschkunst) betrifft die Güter, die in der Erde sind oder von
der Erde hervorgebracht werden, und zwar keine Früchte bringen, aber
doch nützlich sind, wie der Holzschlag und jede Art von Bergbau.
Dieser umfaßt wiederum viele Unterabteilungen. Denn es gibt viele
Arten der aus der Erde geförderten Metalle.
Dies sei nun hier nur im allgemeinen besprochen; es im einzelnen
genau zu beschreiben ist zwar nützlich für die Praxis uns dabei
aufzuhalten wäre aber doch zu ordinär. Die kunst vollsten dieser
Verrichtungen sind diejenigen, bei denen e; am wenigsten auf den
Zufall ankommt, die banausischster jene, die den Körper am meisten
schädigen, die sklavischster jene, bei denen der Körper die meiste
Arbeit zu verrichten hat die niedrigsten jene, bei denen es am
wenigsten der Tüchtig keit bedarf. Und da nun einige hierüber
geschrieben haben wie Charetides von Paros und Apollodoros von
Lemnos übel die Landwirtschaft, und zwar Ackerbau wie Gartenbau,

XX
Aristoteles Politik - I. Buch

und andere über anderes, so mag, wer sich dafür interessiert, diese
Werke nachlesen.
Man muß auch die verstreuten Nachrichten darüber sammeln, wie es
diese oder jene gemacht haben, um zu Geld zu kommen. Denn dies
alles ist nützlich für jene, die die Erwerbskunst schätzen, so etwa die
Geschichte von Thales von Milet: es ist ein finanzieller Einfall, den
man jenem wegen seiner Weisheit zuschreibt, der aber von
allgemeinem Interesse ist. Als man ihn nämlich wegen seiner Armut
verhöhnte und behauptete, die Philosophie sei unnütz, da habe er, da
er mit Hilfe der Astronomie eine ergiebige Olivenernte voraussah,
noch im Winter mit dem wenigen Geld, das er besaß, sämtliche
Ölpressen in Milet und Chios für einen geringen Betrag gepachtet, da
ihn niemand überbot; als dann die rechte Zeit gekommen war und
plötzlich und gleichzeitig viele Ölpressen verlangt wurden, da
verpachtete er sie so teuer, wie ihm beliebte, und gewann viel Geld
und zeigte so, daß es für den Philosophen leicht ist, reich zu werden,
wenn er nur wolle, daß er aber darauf keinen Wert lege. Auf diese
Weise soll also Thales einen Beweis seiner Weisheit geliefert haben.
Es gehört aber, wie wir gesagt haben, überhaupt zur Erwerbskunst,
wenn man sich auf diese Weise ein Monopol zu verschaffen vermag.
Deshalb gebrauchen auch viele Staaten dieses Mittel, wenn sie in
Geldverlegenheit sind. Sie machen den Verkauf von Waren zum
Staatsmonopol.
So kaufte in Sizilien einer aus dem Geld, das bei ihm hinterlegt war,
das ganze Eisen aus den Eisenwerken auf, und als dann die Käufer
von den Handelsplätzen zu ihm kamen, verkaufte er allein, doch ohne
den Preis besonders aufzuschlagen; dennoch gewann er auf fünfzig
Talente hundert. Als dies Dionysios erfuhr, ließ er ihn zwar sein Geld
mitnehmen, verbot ihm aber in Syrakus zu bleiben, da er
Erwerbsquellen entdeckt habe, die ihm selbst abträglich seien.
Der Einfall des Thales und dieser hier sind derselbe. Beide
verschafften sich durch einen Kunstgriff ein Monopol. Dies zu wissen
ist auch für die Staatsmänner nützlich. Denn viele Staaten bedürfen
des Gelderwerbs und derartiger Einnahmen. genauso wie ein Haus,

XXI
Aristoteles Politik - I. Buch

nur in größerem Umfang. Darum sehen auch einige Politiker dies als
ihre einzige Aufgabe an

12. Da wir nun drei Teile der Hausverwaltungslehre unter-schieden


haben, das Herrenverhältnis, von dem vorhin gesprochen wurde, das
Vaterverhältnis und drittens das eheliche Verhältnis [so steht es dem
Manne zu], über die Frau und dit Kinder zu regieren, über beide als
über Freie, aber nicht in derselben Weise, sondern über die Frau als
Staatsmann und über die Kinder als Fürst. Denn das Männliche ist von
Natur zur Leitung mehr geeignet als das Weibliche (wenn nicht etwa
ein Verhältnis gegen die Natur vorhanden ist), und ebenso das Ältere
und Erwachsene mehr als das Jüngere und Unerwachsene.
In den meisten Verfassungsstaaten wechseln das Regierende und das
Regierte miteinander ab; dieser Staatstyp strebt seiner Natur nach zur
Gleichheit und Unterschiedslosigkeit. Dennoch wird, solange das eine
regiert und das andere regiert wird, ein Unterschied in Auftreten,
Anrede und Ehren gefordert, entsprechend der Erzählung von Amasis
und der Fußwanne. Das Männliche verhält sich nun zum Weiblichen
immer in dieser Weise.
Die Herrschaft über die Kinder ist eine königliche. Denn das
Erzeugende geht in der Liebe und im Alter voran, und dies
charakterisiert die königliche Herrschaft. Daher hat Homer den Zeus
richtig als »Vater der Götter und Menschen« bezeichnet, nämlich als
König über diese alle. Denn der König muß seiner persönlichen Natur
nach unterschieden, der Gattung nach aber derselbe sein; und in
diesem Verhältnis steht das Altere zum Jüngeren und der Erzeuger
zum Kind.

13. Es ist also klar, daß die Aufmerksamkeit der Hausverwaltung sich
mehr auf die Menschen richten wird als auf den unbeseelten Besitz,
und mehr auf die Tüchtigkeit von jenen als auf den Vorzug des
Besitzes, den man Reichtum nennt, und mehr auf die Tugend der
Freien als auf die der Sklaven.
Man könnte aber erstens beim Sklaven fragen, ob es bei ihm neben
seinen Vorzügen als Werkzeug und Diener auch noch eine andere,

XXII
Aristoteles Politik - I. Buch

höhere Tugend gibt, wie Mäßigkeit, Tapferkeit, Gerechtigkeit und die


andern derartigen Haltungen, oder ob es für ihn nichts gibt außer der
körperlichen Dienstleistung. Die Schwierigkeit besteht nach beiden
Richtungen. Wenn nämlich jenes gilt, worin unterscheidet sich dann
der Sklave vom Freien? Daß aber jenes nicht gelten soll, ist auch
unsinnig, da sie doch Menschen sind und an der Vernunft teilhaben.
Indessen stellt sich beinahe dieselbe Frage auch bei Frau und Kind, ob
nämlich auch diese ihre Tugenden besitzen, und ob auch eine Frau
besonnen, tapfer und gerecht sein muß, und ob es auch bald zügellose,
bald besonnene Kinder gibt oder nicht.
Ganz im allgemeinen ist bei dem von Natur Regierenden und
Regierten zu untersuchen, ob sie dieselbe Tugend besitzen oder nicht.
Wenn nämlich beide an der Vollkommenheit teilhaben sollen, warum
soll dann der eine ein für allemal befehlen und der andere gehorchen?
(Einen Unterschied des Mehr oder Weniger kann es da nicht geben.
Denn Regieren und Regiertwerden unterscheiden sich der Art nach,
was ein Mehr oder Weniger keineswegs tut.) Wenn es sich aber umge-
kehrt verhielte, so wäre dies sonderbar. Denn wenn der Re-gierende
nicht besonnen und gerecht ist, wie wird er dann gut regieren? Und
wenn es der Regierte nicht ist, wie kann er dann gut regiert werden?
Denn ist er zügellos und träge, wird er seine Pflicht nicht tun. Es ist
also klar, daß beide an der Tugend teilhaben müssen, daß es aber einen
Unterschied geben wird, wie ja auch die von Natur Regierenden sich
unterscheiden.
Ein Vorbild dafür haben wir gleich an der Seele. Denn in ihr gibt es
ein von Natur Herrschendes und ein Dienendes, und jedes von beiden,
das Vernunftbegabte und das Vernunftlose, hat seine eigene Tugend.
Offensichtlich verhält es sich so auch beim anderen. Also gibt es von
Natur mehrere Arten von Herrschendem und Dienendem. Denn anders
herrscht der Freie über den Sklaven, das Männliche über das
Weibliche und der Erwachsene über das Kind. Bei allen finden sich
die Teile der Seele, aber in verschiedener Weise. Der Sklave besitzt
das planende Vermögen überhaupt nicht, das Weibliche besitzt es
zwar, aber ohne Entscheidungskraft, das Kind besitzt es, aber noch
unvollkommen. Ebenso muß es sich auch mit den ethischen Tugenden

XXIII
Aristoteles Politik - I. Buch

verhalten. Alle müssen an ihnen teilhaben, aber nicht auf dieselbe


Weise, sondern soviel ein jedes für seine besondere Aufgabe braucht.
So muß der Regentdie ethische Tugend vollkommen besitzen (denn
seine Aufgabe ist schlechthin die des Werkleiters, und Werkleiter ist
die Vernunft) und von den anderen jedes so viel, als ihm zu kommt.
Also gehört die ethische Tugend allen Genannten doch ist die
Besonnenheit des Mannes und der Frau nicht die-selbe und auch nicht
die Tapferkeit und die Gerechtigkeit wie Sokrates meinte, sondern das
eine ist eine regierende Tapferkeit, das andere eine dienende und so
weiter.
Dies zeigt sich auch, wenn man im einzelnen prüft. Ganz in
allgemeinen täuschen sich jene, die sagen, die Tugend se. »eine gute
Verfassung der Seele« oder »ein Rechthandeln« oder ähnliches. Viel
richtiger reden da jene, die (wie Gorgias: die Tugenden einfach
aufzählen, anstatt sie so zu bestimmen. Es gilt also überall, was der
Dichter vom Weibe sagt: »Den Weibe bringt das Schweigen Zier«,
aber für den Mann trifft dies nicht mehr zu. Das Kind ist noch
unentwickelt, und se hat natürlich seine Tugend noch keinen
selbständigen Charakter, sondern bezieht sich auf den Erwachsenen,
der es leitet. Ebenso ist die Tugend des Sklaven auf seinen Herrn
bezogen. Wir haben gesagt, daß der Sklave nur für die Arbeiten des
Lebensbedarfs gebraucht wird, so daß er auch nur geringer Tugend
bedarf, gerade genügend, damit er nicht aus Zuchtlosigkeit oder
Trägheit den Dienst versäumt.
Man könnte ferner fragen, ob auch die Handwerker der Tugend
bedürfen, wenn das Gesagte wahr ist. Denn sie versäumen oft aus
Zuchtlosigkeit ihre Arbeit. Oder liegt hier viel-mehr ein wesentlicher
Unterschied vor? Der Sklave lebt mit seinem Herrn zusammen, der
Handwerker steht ihm ferner und hat nur so viel Anteil an der Tugend,
als er Anteil an der Sklavenarbeit hat. Der banausische Handwerker
lebt nämlich in einer teilweisen und begrenzten Sklaverei. Außerdem
ist der Sklave von Natur, was er ist: Schuster und ein sonstiger
Handwerker ist aber keiner von Natur.
Klar ist demnach, daß der Herr den Sklaven zu der diesem
entsprechenden Tugend bringen muß, und nicht etwa derjenige, der

XXIV
Aristoteles Politik - I. Buch

ihm den Unterricht in den Dienstverrichtungen erteilt. Darum irren


auch jene, die den Sklaven die Vernunft absprechen und erklären, man
müsse ihnen bloß befehlen. Die Sklaven müssen im Gegenteil noch
viel mehr ermahnt werden als die Kinder.
Dies sei also auf diese Weise festgelegt. Über Mann und Frau aber,
Kinder und Vater, über ihre jeweilige Tugend und ihren gegenseitigen
Verkehr, und was darin richtig und falsch ist, und wie man das
Richtige aufsuchen und das Falsche meiden soll, darüber muß in den
Untersuchungen über die Staatsverfassungen gesprochen werden.
Denn jedes Haus ist ein Teil des Staates, und jene Verhältnisse sind
ein Teil des Hauses, und die Tugend des Teils muß man im Hinblick
auf diejenige des Ganzen bestimmen. So ist es notwendig, die Kinder
und die Frauen im Hinblick auf die Staatsverfassung zu erziehen,
sofern es für die Tüchtigkeit des Staates etwas ausmacht, daß auch die
Kinder und die Frauen tüchtig seien. Es muß in der Tat etwas
ausmachen. Denn die Frauen sind die Hälfte der Freien, und die
Kinder sind die künftigen Teilhaber an der Staatsverwaltung.
Da wir nun dies festgelegt haben und das übrige anderswo behandeln
werden, so werden wir diese Untersuchung als abgeschlossen
betrachten und einen neuen Ausgangspunkt wählen und als erstes
diejenigen prüfen, die über die beste Staatsverfassung sich geäußert
haben.

XXV
Aristoteles Politik - II. Buch

Zweites Buch

1. Da wir uns vorgenommen haben, zu untersuchen, welches von allen


die beste staatliche Gemeinschaft ist für diejenigen Menschen, die in
der Lage sind, soweit als irgend möglich ihren Wünschen gemäß zu
leben, so müssen wir auch die sonstigen Staatsverfassungen beachten,
teils jene, die in einigen Staaten, die als gut eingerichtet gelten, im
Gebrauche sind, teils solche, die von Theoretikern beschrieben wurden
und gerühmt werden; wir müssen erkennen, was an ihnen richtig und
brauchbar ist, und den Schein meiden, als sei unsere Absicht, etwas
anderes neben ihnen zu suchen, bloß dem Ehrgeiz entsprungen,
Scharfsinn zu zeigen, und als hätten wir diese Untersuchung nicht
vielmehr deshalb begonnen, weil die vorhandenen Verfassungen nicht
befriedigen können.
Wir müssen mit dem beginnen, was der naturgemäße Anfang einer
solchen Prüfung ist. Notwendigerweise haben alle Bürger entweder
alles gemeinsam, oder nichts, oder einiges. Daß sie nichts gemeinsam
haben, ist offenbar unmöglich. Denn der Staat ist eine Gemeinschaft,
und es ist als erstes notwendig, den Raum gemeinsam zu haben; der
Raum Eines Staates ist Einer, und die Bürger sind Teilhaber eben an
Einem Staate. Aber ist es für einen Staat, der gut eingerichtet sein soll,
am besten, daß die Bürger möglichst viel gemeinsam haben, oder nur
einiges? Denn die Bürger können ja auch Frauen, Kinder und Besitz
untereinander gemeinsam haben, wie es im Staate Platons der Fall ist.
Dort sagt nämlich Sokrates, daß Kinder, Frauen und Besitz
gemeinsam sein sollen. Ist es nun besser, es so zu halten, wie es
tatsächlich ist, oder wie es in Platons Staat geregelt wird?

2. Neben vielen anderen Schwierigkeiten bringt nun die all-gemeine


Gemeinschaft der Frauen besonders jene mit sich, daß der Zweck, um
dessentwillen nach der Behauptung des Sokrates dieses Gesetz gelten
soll, mit seinen Erwägungen gar nicht erreicht wird. Außerdem ergibt
sich als das Ziel, das nach ihm der Staat erreichen soll, Unmögliches,
so wie er nämlich die Sache formuliert. Wie man da aber
unterscheiden müsse, davon wird nichts gesagt.

I
Aristoteles Politik - II. Buch

Ich meine dies, daß es das beste sein soll, wenn der gesamte Staat so
sehr als möglich eins wird; diese Voraussetzung macht nämlich
Sokrates. Es ist aber doch klar, daß ein Staat, der immer mehr eins
wird, schließlich gar kein Staat mehr ist. Seiner Natur nach ist er eine
Vielheit. Wird er immer mehr eins, so wird er aus dem Staat ein Haus
und aus dem Hause ein einzelner Mensch. Denn wir dürfen wohl
sagen, daß ein Haus mehr eins ist als ein Staat, und ein einzelner
Mensch noch mehr als ein Haus. Auch wenn man also diese Einheit
herstellen könnte, dürfte man es nicht. Denn man würde den Staat
überhaupt aufheben.
Der Staat besteht außerdem nicht nur aus vielen Menschen, sondern
auch aus solchen, die der Art nach verschieden sind. Aus ganz
Gleichen entsteht kein Staat. Denn ein Staat und eine
Bundesgenossenschaft sind verschieden. Diese ist begründet in ihrer
Quantität, auch wenn keine Unterschiede in der Art vorhanden sind
(denn die Bundesgenossenschaft ist ihrem Wesen nach um der
gegenseitigen Hilfe willen da), so wie etwa ein Gewicht rein durch
seine Größe hinunterzieht. Auf dieselbe Weise unterscheidet sich ja
auch ein Staat von einem Stamme, soweit die Leute nicht nach
Dörfern getrennt sind, sondern wie bei den Arkadern. Wo aber eine
Einheit entstehen soll, da muß es Verschiedenheiten der Art geben;
daher bewahrt die ausgleichende Gerechtigkeit den Staat, wie wir
früher in der Ethik gesagt haben.
Dies muß auch bei Freien und Gleichberechtigten gelten. Denn es
können nicht alle gleichzeitig regieren, sondern jahrweise oder nach
irgendeiner andern Ordnung oder Zeit. Auf diese Weise werden doch
alle regieren, wie wenn etwa Schuster und Schreiner in der Arbeit
abwechselten und nicht immer die-selben Schuster und Schreiner
wären. Da aber im Hinblick auf die Kunst das zweite besser ist, so
wird es auch im Hinblick auf die staatliche Gemeinschaft so sein; also
ist es offenbar besser, wenn immer dieselben regieren, falls es möglich
ist. Wo dies aber nicht möglich ist, weil alle von Natur gleich sind und
dies auch gerecht ist, da müssen alle an der Regierung teilhaben, mag
dies nun zweckmäßig oder unzweckmäßig sein; dies wird dargestellt
dadurch, daß abwechslungsweise die Gleichberechtigten einander

II
Aristoteles Politik - II. Buch

Platz machen und außerhalb des Amtes einander ebenbürtig sind. Da


regieren sie denn abwechslungsweise und werden regiert, als wären
sie andere geworden. Auf dieselbe Weise verwalten a auch die
Beamten bald dieses, bald jenes Amt.
Hieraus wird klar, daß der Staat von Natur nicht in dem Sinne Einer
ist, den einige meinen, und daß das, was als das größte Gut für den
Staat bezeichnet wird, den Staat vielmehr aufhebt. Dabei wird doch
jedes Wesen durch das, was sein Gut ist, bewahrt.
Es zeigt sich noch in anderer Weise, daß es nicht gut ist, den Staat
allzusehr vereinheitlichen zu wollen. Das Haus ist mehr autark als der
Einzelne, der Staat mehr als das Haus; und er wird erst dann wirklich
zu einem Staat, wenn die Gemeinschaft der Menge autark geworden
ist. Wenn also die größere Autarkie das Wünschbarere ist, so ist auch
die geringere Einheitlichkeit das Wünschbarere.

3. Aber selbst wenn es das beste wäre, daß die Gemeinschaft


möglichst einheitlich ist, so ist dies der Sache nach nicht damit
erreicht, daß alle gleichzeitig »mein« und »nicht mein« sagen.
Sokrates meint ja, daß dies ein Zeichen davon sei, daß der Staat
vollkommen eins sei. Der Begriff »alle« hat indessen eine doppelte
Bedeutung. Wenn er heißt »jeder einzelne für sich«, dann existiert
eigentlich schon, was Sokrates erstrebt; denn jeder wird seinen Sohn
als seinen Sohn und seine Frau als seine Frau bezeichnen, und ebenso
wird er vom Vermögen und allem, was ihn betrifft, sprechen. Aber
jene, die die Frauen und Kinder gemeinsam haben, werden gerade
nicht so reden : alle zusammen können es, aber nicht jeder einzelne
und ebenso alle zusammen vom Vermögen, aber nicht jeder einzelne.
Es ist also offensichtlich ein Trugschluß, hier von »allen« zu sprechen
(die Begriffe Alle, Beide, Ungrade, Gerade erzeugen auch in der
Logik wegen ihres Doppelsinnes eristische Schlüsse. Darum ist der
Zustand, daß alle dieselben Begriffe gebrauchen, teils ideal, aber nicht
zu verwirklichen, teils gar kein Beweis von Eintracht).
Außerdem hat jene Lehre einen weiteren Fehler. Was den meisten
gemeinsam ist, erfährt am wenigsten Fürsorge. Denn um das Eigene
kümmert man sich am meisten, um das Gemeinsame weniger oder nur

III
Aristoteles Politik - II. Buch

soweit es den einzelnen angeht. Denn, abgesehen vom übrigen,


vernachlässigt man es eher, weil sich doch ein anderer darum
kümmern wird, so wie auch in den häuslichen Dienstleistungen viele
Diener zuweilen weniger leisten als wenige. Nun bekommt aber jeder
Bürger tausend Söhne, und diese nicht als Söhne eines einzelnen,
sondern jeder beliebige ist gleichmäßig Sohn von jedem beliebigen.
Also werden sie sie alle gleichmäßig vernachlässigen.
Ferner wird jeder von einem Bürger, dem es gut oder schlecht geht,
sagen »mein Sohn« mit dem Maß an Interesse, als der Teil groß ist,
den er von der Zahl der Väter bildet; er sagt »der meinige« oder »der
des X« mit Hinblick auf jeden der tausend Söhne, oder wie viele der
Staat haben mag, und dies erst noch mit Ungewißheit; denn es bleibt
unbekannt, wem ein Kind geboren wurde und wem es am Leben blieb.
Ist es nun besser, daß jeder einzelne so von »dem meinigen« spricht
und dieselbe Anrede mit zweitausend oder zehntausend andern teilt,
oder so wie jetzt in den Staaten das »meinige« verstanden wird? Heute
nennt einer seinen Sohn, der andere seinen Bruder mit eben diesen
Namen, ein dritter den Vetter oder einen sonstwie Verwandten, auf
Grund von wirklicher Blutsverwandtschaft oder Angehörigkeit und
Schwägerschaft, sei es durch ihn persönlich oder durch seine
Verwandten; ein anderer wiederum spricht von seinen Geschlechts-
und Stammesgenossen. Denn es ist besser, ein wirklicher Vetter zu
sein, als auf jene unwirkliche Weise ein Sohn.
Es wird auch nicht zu umgehen sein, daß einige ihre Brüder, Kinder,
Väter und Mütter erraten; denn gemäß der Ähnlichkeit, die die Kinder
mit den Erzeugern haben, müssen sie dies voneinander annehmen.
Daß dies tatsächlich vorkommt, lesen wir in manchen Erd-
beschreibungen : bei einigen Stämmen des oberen Libyen seien die
Frauen gemeinsam, doch die Kinder würden nach der Ähnlichkeit
verteilt. Es gibt ja auch Weibchen bei andern Lebewesen, wie Pferden
und Rindern, die erstaunlich dazu veranlagt sind, den Erzeugern
ähnliche Junge zu gebären; so die Stute in Pharsalos, die die Gerechte
hieß.

IV
Aristoteles Politik - II. Buch

4. Auch die folgenden Schwierigkeiten sind nicht leicht zu vermeiden


für jene, die eine solche Gemeinschaft einrichten, nämlich
Verletzungen und Morde (teils unfreiwillige, teils freiwillige), Streit
und Beschimpfungen. Dies sind Dinge, die vielleicht gegen
Fernstehende, aber keinesfalls gegen Väter und Mütter und nahe
Verwandte vorkommen dürfen. Sie müssen jedoch öfter vorkommen,
wenn man einander nicht kennt, als wenn man einander kennt. Und
sind sie geschehen, so können unter Menschen, die einander kennen,
die gebräuchlichen Sühnen geleistet werden, im andern Falle aber
nicht.
Unsinnig ist auch, zwar die Söhne gemeinsam sein zu lassen, den
Liebhabern aber nur das Schlafen bei ihren Geliebten zu verbieten, die
Liebe selbst aber nicht zu verhindern und auch nicht den sonstigen
Umgang, der doch zwischen Vater und Sohn und unter Brüdern
äußerst unpassend ist, wie ja auch schon Liebesgefühle selbst. Ebenso
unsinnig ist es, das Beieinanderschlafen aus keinem andern Grunde zu
verbieten, als weil die Lust allzu heftig würde. Daß es sich aber dabei
um Vater und Sohn oder um Brüder handeln kann, scheint nichts
auszumachen.
Ferner scheint die Gemeinschaft der Frauen und Kinder eher bei den
Bauern nützlich zu sein als bei den Wächtern. Wo nämlich Frauen und
Kinder gemeinsam sind, da wird weniger Freundschaft bestehen, und
dies ist insofern zweck-mäßig, als dann die Regierten leichter
gehorchen und nicht Neuerungen planen.
Allgemein wird notwendigerweise durch ein derartiges Gesetz das
Gegenteil von dem erreicht, was ein richtiges Gesetz erreichen soll,
und weshalb Sokrates glaubt, die Verhältnisse der Frauen und Kinder
auf diese Weise ordnen zu müssen. Wir meinen nämlich, daß die
Freundschaft das größte Gut für einen Staat ist (denn so werden wohl
am wenigsten Bürgerkriege stattfinden), und Sokrates lobt aufs
höchste die Einheit des Staates, die (wie er sagt und wie es auch
zutrifft) das Werk der Freundschaft ist; denn so hören wir auch im
Dialog über die Liebe den Aristophanes sagen, daß die Liebenden
wegen der Heftigkeit ihrer Liebe zusammenzuwachsen begehren und
aus zweien eins werden möchten. Da müssen nun notwendigerweise

V
Aristoteles Politik - II. Buch

entweder alle beide oder der eine der beiden zugrunde gehen. Im
Staate wiederum muß bei einer solchen Gemeinschaft die
Freundschaft fad werden, und Väter und Söhne werden am
allerwenigsten zueinander »mein« sagen. Denn wie ein wenig Süßes,
in viel Wasser hineingetan, die Mischung unbemerkbar macht, so
geschieht es auch mit der gegenseitigen Vertrautheit, die in solchen
Namen liegt. In einem derartigen Staat wird man sich als Vater um die
Söhne, als Sohn um den Vater oder als Brüder umeinander am
allerwenigsten zu kümmern verpflichtet fühlen. Denn zwei Dinge
erwecken vor allem die Fürsorge und Liebe der Menschen: das Eigene
und das Geschätzte. Bei den Bürgern eines solchen Staates kann
weder das eine noch das andere vorhanden sein.
Aber auch die Versetzung der neugeborenen Kinder der Bauern und
Handwerker unter die Wächter und umgekehrt schafft große
Verwirrung. Denn wie soll sie vor sich gehen? Jene, die die Kinder
übergeben und vertauschen, müssen notwendigerweise wissen, wem
sie welche Kinder geben.
Überdies muß das früher Bemerkte bei den so Vertauschten noch mehr
vorkommen, Verletzungen, Liebeshändel und Mord. Denn die zu den
andern Bürgern Gegebenen nennen die Wächter nicht mehr Brüder,
Kinder, Väter und Mütter, und ebenso umgekehrt die zu den Wächtern
Versetzten die andern Bürger, so daß sie sich etwa wegen der
Verwandtschaft hüten könnten, derartiges zu tun.
Über die Frauen- und Kindergemeinschaft sei also dies gesagt.

5. Hieran schließt sich die Untersuchung über den Besitz. Wie soll er
in einem Staate, der die beste Verfassung besitzen wird, eingerichtet
werden: soll er gemeinsam sein oder nicht? Man kann diese Frage
getrennt von derjenigen nach der Gesetzgebung über Frauen und
Kinder behandeln, nämlich, ob der Besitz oder sein Gebrauch
gemeinsam sein sollen, auch wenn jenes, wie es in Wirklichkeit für
alle Staaten zutrifft, nicht gemeinsam ist. Soll der Grundbesitz
Privateigentum bleiben, der Ertrag aber zusammengetan und
zusammen verbraucht werden (wie dies einige Völkerstämme tun),
oder soll umgekehrt das Land gemeinsamer Besitz sein und

VI
Aristoteles Politik - II. Buch

gemeinsam bebaut und nur der Ertrag zu individuellem Verbrauch


verteilt werden (es heißt, daß einige Barbarenvölker auch diese Art
von Gemeinschaft haben), oder sollen endlich die Grundstücke und
die Erträgnisse gemeinsam sein? Wenn nun das Land von andern als
den Bürgern bebaut würde, so wäre die Lage anders und leichter; da
sie nun aber selbst und für sich selbst arbeiten, so werden die Fragen
hinsichtlich des Besitzes größere Schwierigkeiten bereiten. Denn
wenn in Genuß und Arbeit keine Gleichheit, sondern Ungleichheit
besteht, so werden jene, die viel arbeiten und wenig erhalten,
denjenigen Vorwürfe machen, die viel genießen oder erhalten, aber
weniger arbeiten.
Im allgemeinen ist das Zusammenleben und die Gemeinschaft in allen
menschlichen Angelegenheiten schwer und besonders in diesen. Das
zeigen etwa die Reisegesellschaften. Denn da streiten sich die meisten
wegen Alltäglichkeiten und Kleinigkeiten und geraten aneinander.
Auch ärgern wir uns über jene Diener am meisten, die wir am
häufigsten zu den alltäglichen Verrichtungen verwenden.
Die Gemeinschaft des Besitzes hat also diese und ähnliche
Schwierigkeiten. Dagegen dürfte die gegenwärtige Einrichtung, durch
Sitten und Anordnung richtiger Gesetze verbessert, nicht wenige
Vorzüge bieten. Sie würde das Gute von beidem haben, ich meine
vom Prinzip des gemeinsamen Besitzes und dem Prinzip des
Privatbesitzes. Denn in bestimmtem Sinne müssen die Güter
gemeinsam sein, im allgemeinen dagegen privat. Wenn jeder für das
Seinige sorgt, werden keine Anklagen gegeneinander erhoben werden,
und man wird mehr vorankommen, da jeder am Eigenen arbeitet. Die
Tugend wiederum wird den Gebrauch nach dem Sprichwort: »Den
Freunden ist alles gemeinsam« regeln. Schon jetzt ist es in einigen
Staaten in dieser Weise skizziert, so daß also die Sache nicht
unmöglich ist. Vor allem in wohleingerichteten Staaten ist manches
schon verwirklicht, manches könnte wohl noch verwirklicht werden.
Jeder hat da seinen Privatbesitz, aber manches stellt er seinen
Freunden zur Benutzung zur Verfügung, anderes benutzt er als ein
gemeinsames Gut, wie etwa in Sparta sich jeder der Sklaven des
andern gewissermaßen wie seiner eigenen bedient, ebenso der Pferde

VII
Aristoteles Politik - II. Buch

und Hunde, und wenn sie auf dem Lande der Wegzehrung bedürfen.
Es ist also offenbar besser, daß der Besitz privat bleibt, aber durch die
Benutzung gemeinsam wird. Daß aber die Bürger sich dem-
entsprechend verhalten, ist die besondere Aufgabe des Gesetzgebers.
Es ist auch unbeschreiblich, welche Lust es gewährt, etwas als sein
Eigentum bezeichnen zu können. Gewiß besitzt jeder nicht umsonst
die Liebe zu sich selbst, sondern dies ist von Natur so. Die Eigenliebe
wird zwar mit Recht getadelt. Aber da handelt es sich nicht um die
Selbstliebe, sondern um die übertriebene Liebe zu sich selbst, so wie
beim Geldgierigen, während doch sozusagen alle jedes ihrer
Besitzstücke lieben.
Aber auch den Freunden, Gästen oder Gefährten Freundlichkeiten
oder Hilfe zu gewähren, macht die größte Freude. Dies kann man aber
nur, wenn es Privateigentum gibt.
Dies alles erreichen nun jene nicht, die den Staat allzusehr
vereinheitlichen; außerdem heben sie offensichtlich die Übung zweier
Tugenden auf, der Selbstzucht gegenüber den Frauen (denn es ist edel,
aus Selbstzucht die Ehefrau eines anderen zu respektieren) und der
Freigebigkeit in Vermögenssachen. Denn eine freigebige Gesinnung
kann nicht sichtbar werden, und eine Tat der Freigebigkeit kann nicht
geschehen; ihr Werk ist ja gerade die Verwendung des
Privateigentums.
So sieht jene Gesetzgebung zwar großartig und menschenfreundlich
aus, und wer von ihr hört, nimmt sie gerne an (denn er meint, es werde
eine wunderbare Freundschaft aller zu allen entstehen), vor allem,
wenn man die jetzt in den Staaten bestehenden Übel der Tatsache
zuschreibt, daß der Besitz nicht gemeinsam ist; ich meine die
gegenseitigen Prozesse über Verträge, die Gerichtsurteile wegen
falscher Zeugnisse, das Schmeicheln bei den Reichen. Aber diese
Dinge kommen nicht vom Fehlen der Gütergemeinschaft, sondern von
der Schlechtigkeit der Menschen; wir sehen auch, daß solche, die
einen gemeinsamen Besitz haben und ihn gemeinsam benutzen, viel
mehr Streit miteinander haben als die Besitzer von Privateigentum.
Aber wir beachten nur wenige, die über Gemeinschaftsgut streiten,
und vergleichen sie mit den vielen, die Privatbesitz haben.

VIII
Aristoteles Politik - II. Buch

Es wäre ferner auch gerecht, nicht nur die vielen Übel zu nennen, die
bei Gütergemeinschaft wegfallen, sondern auch die vielen Vorteile.
Dann erweist es sich als ganz unmöglich, auf diese Weise zu leben.
Die Schuld an dem Fehler des Sokrates muß man seiner unrichtigen
Voraussetzung zuschreiben. In gewisser Weise müssen das Haus und
der Staat allerdings eins sein, aber nicht schlechthin. Es gibt einen
Grad der Einheit, bei dem der Staat überhaupt nicht mehr existiert,
und es gibt einen, bei dem der Staat beinahe kein Staat mehr ist und
jedenfalls ein schlechterer Staat wird, so wie wenn man die
Symphonie zur Homophonie und den Rhythmus zu einem einzigen
Takte machen würde. Man muß vielmehr den Staat, der eine Vielheit
ist, wie früher bemerkt, durch die Erziehung zu einer Gemeinschaft
und Einheit machen. Und es ist sonderbar, daß jemand, der erziehen
will und den Staat durch Erziehung tüchtig zu machen hofft, meint,
ihn mit solchen Mitteln zurechtzurichten und nicht viel-mehr durch
Gewöhnung, Philosophie und Gesetze, wie etwa in Sparta und Kreta
der Gesetzgeber durch die gemeinsamen Mahlzeiten eine
Gemeinschaft des Besitzes zustande brachte.
Man muß auch die lange Zeit und die vielen Jahre bedenken, in
welchen es nicht verborgen geblieben wäre, wenn jene Einrichtung
richtig wäre. Denn so ziemlich alles ist schon erfunden worden, nur
hat man manches nicht gesammelt, und anderes ist zwar bekannt, wird
aber nicht angewendet. Am klarsten würde es, wenn man eine solche
Verfassung einmal tatsächlich eingeführt sähe. Man würde den Staat
gar nicht aufbauen können, ohne die Dinge zu teilen und zu sondern,
in Tischgemeinschaften, Geschlechter- und Stammesverbände.
Es verbliebe also an gesetzlichen Neuerungen nur die, daß die
Wächter nicht das Land bebauen sollen; dies ist nichts andere als was
die Spartaner gegenwärtig einzuführen versuchen.
Auch welches die Lebensart des gesamten Staates in jener
Gemeinschaft sein soll, hat Sokrates nicht gesagt. Es läßt sich auch
nicht leicht sagen. Denn die Masse im Staate besteht au: der Menge
der gewöhnlichen Bürger, und da wird nicht bestimmt, ob auch die
Bauern einen gemeinsamen Besitz haben sollen oder nicht, und ob sie
die Frauen und Kinder gemeinsam. haben sollen oder nicht. Denn

IX
Aristoteles Politik - II. Buch

wenn in derselben Weise allen alles gemeinsam ist, worin werden sich
dann diese von den Wächtern unterscheiden? Oder was hätten sie
davon, wenn sie jenen dienten? Oder auf Grund welcher Tatbestände
werden sie ihnen dienen? Falls man sich nicht etwas Ähnliches aus-
denkt wie die Kreter: sie haben sich in allem mit den Sklaven auf
gleichen Fuß gestellt und ihnen nur die Gymnastik und den Besitz von
Waffen verboten. Wenn dagegen diese Dinge bei den Bauern wie in
den andern Staaten eingerichtet sein sollen, was für eine Gemeinschaft
wird dann dies sein? In dem einen Staate gäbe es dann zwangsläufig
zwei Staaten, und diese in einem Gegensatz zueinander. Denn
Sokrates macht die Wächter zu einer Art von Besatzung und die
Bauern, Handwerker usw. zu Bürgern. Und Klagen und Prozesse und
die andern Übel, die er den übrigen Staaten zuschreibt, werden alle
auch da vorhanden sein. Und doch sagt Sokrates, daß sie wegen ihrer
Erziehung nicht vieler Gesetze bedürfen, etwa über Stadtpolizei,
Marktpolizei usw. Aber eine Erziehung gewährt er dabei nur den
Wächtern. Ferner macht er die Bauern gegen Abgabe einer Steuer zu
Herren ihres Besitzes. Aber es ist anzunehmen, daß sie auf diese
Weise viel schwieriger und hochmütiger werden als anderswo die
Heloten, Penesten und sonstigen Sklaven.
Ob also diese Einrichtungen gleichmäßig notwendig sind oder nicht,
darüber wird nichts gesagt und auch nicht über das damit
Zusammenhängende, welches nun die Verfassung, Erziehung und
Gesetze dieser Bauern sind. Dies ist nicht leicht auszudenken; es
macht auch für die Bewahrung der Gemeinschaft der Wächter keinen
kleinen Unterschied aus, was für einen Charakter jene haben werden.
Wenn etwa der Gesetzgeber die Frauen gemeinsam sein läßt, die
Felder aber im Privatbesitz, wer wird dann die Häuser verwalten, so
wie die Männer die Felder bestellen? Wenn aber die Frauen der
Bauern und der Besitz gemeinsam sind [dann wird die Schwierigkeit
noch größer]. Es ist auch unsinnig, mit den Tieren zu vergleichen (daß
nämlich die Frauen dieselbe Arbeit leisten sollen wie die Männer), da
jene ja keinen Haushalt führen.
Auch die Sache mit den Regenten ist heikel, so wie sie Sokrates
einrichtet. Denn er macht immer dieselben zu Regenten. Dies führt zu

X
Aristoteles Politik - II. Buch

Aufruhr selbst bei solchen, die keine Selbstachtung besitzen, und erst
recht bei leidenschaftlichen und kriegerischen Männern. Daß er aber
gezwungen ist, immer dieselben regieren zu lassen, ist klar. Denn »das
von den Göttern kommende Gold« ist nicht bald diesen, bald jenen
Seelen beigemischt, sondern stets denselben. Er sagt ja, gleich bei der
Geburt habe die Gottheit den einen Gold, den andern Silber
beigemischt und Erz und Eisen denjenigen, die Handwerker und
Bauern zu werden bestimmt waren.
Wenn er endlich den Wächtern die Glückseligkeit wegnimmt, so
behauptet er, der Gesetzgeber müsse den ganzen Staat glückselig
machen. Er kann aber unmöglich in seiner Gesamtheit glückselig
werden, wenn nicht alle, oder die meisten, oder doch einige Teile die
Glückseligkeit besitzen. Denn es steht mit dieser nicht so wie mit der
geraden Zahl. Hier kann das Ganze gerade sein, ohne daß es
irgendeiner der Teile ist. Bei der Glückseligkeit ist es aber unmöglich.
Wenn aber die Wächter nicht glückselig sind, wer soll es dann sonst
sein? Doch nicht die Handwerker und die Menge der Banausen.
Die Verfassung also, über die Sokrates gesprochen hat, hat diese wie
auch andere nicht geringere Schwierigkeiten.

6. Ziemlich ähnlich verhält es sich mit den später geschriebenen


>Gesetzen<. So wird es gut sein, auch die dortige Verfassung kurz zu
prüfen.
Im >Staate< hat Sokrates nur wenige Punkte festgelegt, wie es mit der
Frauen-, Kinder- und Gütergemeinschaft gelten soll und mit der
Ordnung der Bürgerschaft (er teilt die Gesamtheit der Einwohner in
zwei Teile, in die Bauern und in die Krieger; aus diesen entnimmt er
den dritten, den beratenden, der den Staat regiert); über die Bauern
und Handwerker aber, ob sie an der Regierung Anteil haben oder
nicht, und ob auch sie Waffen besitzen und mit in den Krieg ziehen
sollen oder nicht, darüber hat Sokrates nichts bestimmt. Er meint bloß,
die Frauen müßten mitkämpfen und dieselbe Erziehung genießen wie
die Wächter; im übrigen hat er das Buch mit Exkursenaußerhalb des
Gegenstandes angefüllt und mit Gesprächen darüber, wie die
Erziehung der Wächter sein soll.

XI
Aristoteles Politik - II. Buch

Von den >Gesetzen< enthält der größte Teil bloß Gesetze und über die
Verfassung wird nur wenig gesagt. Und obwohl er diese den
bestehenden Staaten näher anpassen will, komm er doch schrittweise
wieder auf die erste Verfassung zurück Denn, abgesehen von der
Frauen- und Gütergemeinschaft läßt er für beide Verfassungen
dasselbe gelten. Er gibt der Regierenden dieselbe Erziehung, läßt sie
frei von aller Arbeit für den Lebensunterhalt leben und redet auch über
die gemeinsamen Mahlzeiten gleich. Nur fordert er hier gemeinsame
Mahlzeiten auch für die Frauen und nimmt dort tausend Waf-
fentragende an, hier dagegen fünftausend.
Kühnheit, Geist, Originalität und Energie des Forschen zeigen nun
zwar alle Gespräche des Sokrates, aber daß sie immer recht haben,
kann man kaum sagen; so darf man auch bei der hier angegebenen
Zahl nicht übersehen, daß so viele Menschen ein Land von der Größe
Babyloniens oder von ähnlichem riesigem Umfang haben müßten,
damit fünftausend Müßiggänger ernährt werden können und zu diesen
hinzu eine andere, noch vielfach größere Masse von Frauen und
Dienern. Man darf gewiß Voraussetzungen nach Wunsch machen,
aber keine unmöglichen.
Es heißt ferner, daß der Gesetzgeber beim Erlassen der Gesetze auf
zweierlei achten müsse, auf das Land und auf die Menschen. Es wäre
gut, auch beizufügen: auf die Nachbargebiete, vor allem, wenn der
Staat nicht für sich isoliert, sondern in politischer Tätigkeit leben soll
(er muß also nicht nur so weit für den Krieg bewaffnet sein, als es im
eigenen Lande zweckmäßig ist, sondern auch mit Hinblick auf die
Gebiete außerhalb). Selbst wenn man ein Leben in solcher Tätigkeit
weder für den Einzelnen noch für die Gesamtheit des Staates billigt, so
muß man trotzdem den Feinden Schrecken einflößen können, nicht
nur wenn sie ins Land eindringen, sondern auch wenn sie abziehen.
Auch in bezug auf den Umfang des Besitzes muß man prüfen, ob man
ihn nicht besser und klarer anders bestimmen kann. Er sagt, er müsse
so groß sein, daß man maßvoll leben könne, womit er wohl sagen will,
daß man gut leben könne; denn dies ist allgemeiner. Außerdem kann
man zwar maßvoll, aber arm-selig leben. Besser ist die Bestimmung:
maßvoll und freigebig (jedes für sich genommen, wird das eine mit

XII
Aristoteles Politik - II. Buch

Verschwendung verbunden sein und das andere mit Dürftigkeit); denn


dies sind die einzigen erstrebenswerten Verhaltensweisen im
Gebrauch des Vermögens. Denn das Vermögen sanft oder tapfer zu
gebrauchen geht nicht, wohl aber maßvoll und freigebig, so daß auch
das Verhalten zum Vermögen ein derartiges sein muß.
Unsinnig ist es ferner, den Besitz gleich zu machen, dagegen
hinsichtlich der Zahl des Bürgers nichts vorzukehren, sondern die
Zeugung der Kinder unbestimmt zu lassen, als ob die Konstanz der
Zahl durch die Zahl der Kinderlosen hinlänglich gewahrt bliebe, wenn
auch noch so viele geboren würden, wie dies faktisch in den
bestehenden Staaten der Fall zu sein scheint. Aber dies vermag sich in
den Staaten, wie sie dann sein würden, durchaus nicht genau gleich
auszuwirken wie jetzt. Denn jetzt kommt keiner in Not, weil das
Vermögen unter eine beliebige Zahl von Kindern verteilt werden
kann; da aber dort der Besitz unteilbar ist, gehen die Überzähligen,
mögen es ihrer mehr oder weniger sein, notwendigerweise leer aus.
Man sollte also meinen, daß eher die Kinderzeugung begrenzt werden
müßte als das Vermögen, so daß man nicht mehr als eine bestimmte
Anzahl von Kindern zeugen dürfte. Diese Zahl müßte festgelegt
werden mit Hinblick auf die Fälle, daß einige der Kinder früh sterben
und anderswo die Ehen kinderlos bleiben. Wird aber die
Kinderzeugung freigegeben wie in den meisten Staaten, so muß das
die Armut der Bürger zur Folge haben, und die Armut führt zu
Aufruhr und Verbrechen.
Pheidon aus Korinth, einer der ältesten Gesetzgeber, meinte, die Zahl
der Häuser und der Bürger müsse konstant bleiben, auch wenn von
vornherein alle ungleiche Besitzanteile hätten. In diesen Gesetzen aber
ist es umgekehrt. Doch darüber, wie es nach unserer Meinung besser
einzurichten wäre, wollen wir später reden.
Es fehlt in den >Gesetzen< auch eine Erklärung darüber, wie die
Regierenden sich von den Regierten unterscheiden sollen. Er sagt nur,
wie der Zettel aus anderer Wolle sei als der Ein-schlag, so müßten sich
auch die Regierenden zu den Regierten verhalten. .
Wenn er ferner gestattet, daß der ganze Besitz bis zum Fünffachen
anwachsen darf, warum soll dies bis zu einem gewissen Grade nicht

XIII
Aristoteles Politik - II. Buch

auch beim Boden erlaubt sein? Auch bei der Teilung der Feuerstellen
müßte man prüfen, ob sie der Hausverwaltung nicht abträglich ist.
Jedem hat er zwei getrennte Feuerstellen zugeteilt; aber es ist
schwierig, zwei Häuser zu bewohnen.
Die gesamte Staatsform soll weder eine Demokratie noch eine
Oligarchie, sondern ein Mittelding zwischen beiden sein, was man
Politeia nennt. Da besteht der Staat aus den waffenfähigen Bürgern.
Wenn er nun diese Staatsform als die allgemeinste aller Verfassungen
konstruiert, so mag dies vielleicht richtig sein. Daß sie aber die beste
sein soll nächst der ersten Verfassung, ist falsch. Denn man dürfte
leicht die lakonische höher loben oder eine andere Verfassung, die
mehr aristokratisch ist. Einige meinen, die beste Verfassung müßte aus
allen gemischt sein; darum loben sie auch die spartanische. Denn die
einen sagen, sie bestünde aus Oligarchie, Monarchie und Demokratie,
indem das Königtum monarchisch sei, die Regierung der Alten
oligarchisch und die Regierung der Ephoren demokratisch, da die
Ephoren aus dem Volke stammten. Andere nennen den Ephorat eine
Tyrannis und finden die Demokratie in den gemeinsamen Mahlzeiten
und den andern Sitten des täglichen Lebens. In Platons >Gesetzen<
aber heißt es, die beste Verfassung müßte aus Demokratie und
Tyrannis zusammengesetzt sein, die man doch gar nicht als
Verfassungen ansehen wird, oder dann als die schlechtesten von allen.
Besser machen es also jene, die mehrere Verfassungen mischen. Denn
eine Verfassung, die aus mehreren zusammengesetzt ist, ist besser.
Außerdem zeigt jene Verfassung gar nichts Monarchisches, sondern
nur Oligarchisches und Demokratisches. Dabei neigt sie ihrer Tendenz
nach mehr zur Oligarchie. Dies zeigt die Einsetzung der Regenten.
Denn daß diese gewählt und dann erbst werden, ist beiden
Verfassungen gemeinsam, daß aber die Besitzenden gezwungen
werden, an den Volksversammlungen teilzunehmen, Behörden zu
stellen und andere staatliche Geschäfte zu besorgen, während die
andern davon frei sind, das ist oligarchisch; ebenso das Bestreben, die
Mehrzahl der Ämter mit den Reichen zu besetzen und die höchsten
Ämter mit den Höchstbesteuerten. Oligarchisch richtet er auch die
Wahl des Rates ein. Alle sind zu wählen verpflichtet, aber von

XIV
Aristoteles Politik - II. Buch

Ratsmitgliedern der ersten Vermögensklasse, dann wieder von gleich


vielen aus der zweiten und nochmals von solchen aus der dritten; aber
hier brauchen nicht alle Bürger der dritten und vierten Klasse zu
wählen, und an der Wahl von Ratsmitgliedern der vierten Klasse sich
zu beteiligen sind nur die Bürger der zwei obersten Steuerklassen
verpflichtet. Sodann soll, sagt er, aus diesen so Vorgewählten je eine
gleiche Zahl aus jeder Klasse endgültig zu Ratsmitgliedern bestellt
werden. So werden denn die Wähler aus den obersten Steuerklassen
und aus den Adligen zahlreicher sein, da manche Leute aus dem Volke
nicht wählen werden, weil sie nicht dazu gezwungen sind.
Daß eine solche Verfassung nicht als eine aus Demokratie und
Monarchie zusammengesetzte gelten darf, ist hieraus klar und auch
aus dem, was später zu sagen sein wird, wenn die Untersuchung zu
dieser Art von Verfassung gelangen wird.
Auch ist es bei der Wahl der Beamten gefährlich, wenn sie aus
Vorgewählten ausgewählt werden sollen. Wenn hier einige
zusammenhalten, so wird die Wahl immer nach ihrem Willen
ausfallen, selbst wenn sie nur gering an Zahl sind.
Mit der Verfassung in Platons >Gesetzen< verhält es sich also auf
diese Weise.

7. Es gibt nun auch andere Verfassungsentwürfe, teils von Laien, teils


von Philosophen und Politikern, aber alle sind den bestehenden und
gegenwärtig in Kraft befindlichen Verfassungen näher als die beiden
genannten. Denn kein anderer hat jene Neuerung über die Frauen- und
Kindergemeinschaft vorgebracht oder über die Syssitien der Frauen,
sondern sie gehen mehr vom Notwendigen aus.
Einige meinen, es sei das Wichtigste, wenn die Vermögens-
verhältnisse gut geordnet sind. Denn nach ihrer Meinung drehen sich
alle Revolutionen darum.
Als erster hat Phaleas von Chalkedon solche Erwägungen angestellt.
Er fordert, daß der Besitz der Bürger gleich sein solle. Dies hielt er
nicht für schwer, wenn es gleich bei der Gründung von Staaten
angeordnet würde; bei schon bestehenden sei es mühsamer; da würde
der Ausgleich am raschesten geschehen, wenn die Reichen Mitgiften

XV
Aristoteles Politik - II. Buch

gäben, aber nicht nähmen, die Armen sie dagegen nähmen, aber nicht
gäben (Platon wollte, als er die >Gesetze< schrieb, hier bis zu einem
gewissen Grade Freiheit lassen; immerhin dürfe kein Bürger mehr als
das Fünffache des kleinsten Besitzes erwerben, wie wir vorhin schon
gesagt haben).
Jene, die solche Gesetze geben, dürfen indessen nicht übersehen (was
sie doch tun), daß man, wenn man den Umfang des Vermögens
festsetzt, auch die Zahl der Kinder festsetzenmuß. Übersteigt die Zahl
der Kinder die Größe des Vermögens, so muß das Gesetz
durchbrochen werden; und wem man davon absieht, ist es schlimm,
wenn aus wenigen Reicher viele Arme werden. Es ist dann beinahe
unvermeidlich, daß solche Leute zu Revolutionären werden.
Daß die Vermögensgleichheit einen gewissen Einfluß au die politische
Gemeinschaft hat, scheinen auch einige von der Alten erkannt zu
haben, wie denn Solon entsprechende Gesetze gegeben hat und es
auch bei anderen ein Gesetz gibt, da: es verbietet, Land zu erwerben,
soviel man will. Ebenso ver bieten Gesetze, den Besitz zu verkaufen,
wie etwa bei der Lokrern ein Gesetz existiert, daß man nicht verkaufen
darf falls man nicht einen offensichtlichen Notstand nachweiser kann;
oder es gibt Gesetze, die gebieten, die alten Landlose zu bewahren
(die Aufhebung dieses Gesetzes machte die Verfassang in Leukas
allzu demokratisch; denn es wurde nun nicht mehr möglich, auf Grund
der bis dahin festgesetzten Steuerklassen zu den Ämtern zu gelangen).
Man kann ferner zwar eine Gleichheit des Vermögens festhalten,
dieses aber entweder zu groß ansetzen, so daß man Luxus treibt, oder
zu gering, so daß man nur kümmerlich lebt Also muß der Gesetzgeber
offenbar die Vermögen nicht nur gleich machen, sondern auch nach
einer mittleren Größe zielen Doch auch wenn man für alle ein
mittleres Vermögen festsetzte, würde es nichts nützen. Denn man muß
weit eher die Begierden ausgleichen als die Vermögen, und dies ist
nicht möglich, wenn die Bürger nicht hinlänglich durch die Gesetze
erzogen sind.
Aber vielleicht würde Phaleas erwidern, daß er selbst eben dies meint.
Er meint nämlich, daß in den Staaten in diesen zwei Dingen Gleichheit
bestehen solle, in Besitz und Erziehung. Man muß aber sagen, was

XVI
Aristoteles Politik - II. Buch

man da unter Erziehung versteht; daß sie überall eine und dieselbe sei,
ist durchaus unbefriedigend. Denn sie kann einheitlich sein und dabei
doch so beschaffen, daß sie die Menschen dazu führt, durch Geld oder
Einfluß herrschen zu wollen, oder durch beides.
Außerdem gibt es Revolutionen nicht nur wegen der Ungleichheit des
Besitzes, sondern auch wegen solcher in der Ehre, allerdings in
entgegengesetztem Sinne: die Leute werden gegen die Ungleichheit
des Besitzes rebellieren, die Gebildeten aber gegen die Gleichheit der
Ehren; wie es dann heißt: »In gleicher Ehre steht der Gemeine wie der
Edle.«
Die Menschen tun nicht bloß Unrecht wegen der lebensnot-wendigen
Dinge (hiefür meint er in der Gleichheit des Besitzes ein Heilmittel zu
haben, so daß man wegen Kälte und Hunger nicht mehr zu stehlen
braucht), sondern auch um zu genießen und nicht mehr nur zu
begehren. Denn wenn ihre Begierde über das Notwendige hinausgeht,
so werden sie Unrecht tun, um diese zu stillen; und nicht nur darum
tun sie dies, sondern auch um jenseits der Begierden sich an Genüssen
zu erfreuen, die keinen Schmerz bringen.
Was ist nun das Heilmittel für diese drei? Für die einen ist es mäßiger
Besitz und Arbeit, für die andern Selbstzucht. Und wenn es drittens
solche gibt, die sich für sich selbst freuen möchten, so werden sie das
Heilmittel wohl nirgend anderswo suchen können als in der
Philosophie. Denn bei den andern Genüssen ist man auf die Menschen
angewiesen. Am meisten Unrecht tun jene, die das Übermaß, und
nicht jene, die das Notwendige suchen (denn man wird ja nicht
Tyrann, um nicht zu frieren, darum erhalten nicht jene hohe Ehren, die
einen Dieb, sondern jene, die einen Tyrannen erschlagen). Also kann
die Verfassungsart des Phaleas nur gegen die kleinen Unge-
rechtigkeiten helfen.
Außerdem trifft er die meisten Anordnungen, damit der Staat nach
innen gut organisiert sei; es bedarf aber auch des Hinblicks auf die
Nachbarn und die gesamten auswärtigen Staaten. Also muß die
Verfassung auch auf kriegerische Kraft hin ausgerichtet sein, und
darüber hat er nichts gesagt.

XVII
Aristoteles Politik - II. Buch

Dasselbe gilt vom Besitz. Er muß nicht nur für die innern Bedürfnisse
des Staates ausreichen, sondern auch im Hinblick auf die Gefahren
von außen. Also darf er nicht so groß sein, daß die Nachbarn und die
Stärkeren nach ihm begehren und die Besitzenden die Angreifer nicht
abzuwehren vermögen, aber auch nicht so klein, daß sie einen Krieg
auch nur mit Gleichen und Ebenbürtigen nicht auszuhalten vermögen.
Jener hat darüber nichts gesagt; doch darf nicht unentschieden bleiben,
welches Maß von Vermögen zuträglich ist. Die beste Bestimmung ist
wohl die, daß der Stärkere nicht daran denken soll, bloß um eines
übermäßigen Reichtums willen Krieg zu führen, sondern nur unter
Bedingungen, die von einem solchen Besitze absehen. So empfahl
Eubulos dem Autophradates, der beabsichtigte, Atarneus zu belagern,
zuerst zu prüfen, nach wie langer Zeit er den Platz einnehmen würde
und welche Kosten er für diese Zeit hätte. Er sei bereit, schon für
einegeringere Summe Atarneus zu räumen. Mit diesem Vorschlag
brachte er Autophradates zur Besinnung, und dieser hob die
Belagerung auf.
Gewiß ist es also, um Bürgerkriege zu verhindern, zuträglich, wenn
das Vermögen der Bürger gleich ist, aber viel nützt es in Wahrheit
nicht. Denn die Gebildeten werden sich ärgern, als verdienten sie es
nicht, bloß gleich viel wie die andern zu besitzen, und darum werden
sie sich oft verschwören und Aufstände machen. Außerdem ist die
Schlechtigkeit der Menschen unersättlich; zuerst mögen sie sich mit
zwei Obolen begnügen, aber wenn ihnen das erste gewohnt geworden
ist, verlangen sie immer mehr, bis sie ins Unbegrenzte kommen. Denn
die Natur des Begehrens ist unbegrenzt, und die große Menge lebt nur,
um es zu sättigen.
Ausgangspunkt von Gesetzen hierüber ist weniger der Ausgleich der
Vermögen als der, die von Natur Anständigen dahin zu bringen, daß
sie kein Übermaß haben wollen, und die Schlechten dahin, daß sie es
nicht können: wenn sie nämlich die Schwächeren sind und kein
Unrecht erleiden.
Auch hat er die Gleichheit der Vermögen unrichtig bestimmt. Denn er
schafft bloß einen Ausgleich im Grundbesitz; es gibt aber auch einen
Reichtum an Sklaven, Vieh und Geld und einen großen Bestand von

XVIII
Aristoteles Politik - II. Buch

sogenannten Mobilien. Man muß nun entweder in allen diesen Dingen


die Gleichheit suchen oder eine angemessene Ordnung, oder eben
alles fahren lassen.
Es zeigt sich ferner an seiner Gesetzgebung, daß er nur einen kleinen
Staat einrichtet, wenn nämlich alle Handwerker Staatssklaven sein
sollen und nicht im Staate mit umfaßt werden. Doch wenn es schon
Staatssklaven geben soll, so sollen es jene sein, die für die
Öffentlichkeit arbeiten, so wie es in Epidamnos ist, und wie es einmal
Diophantos in Athen einzurichten versuchte.
Was also die Verfassung des Phaleas betrifft, so mag man aus dem
Gesagten entnehmen, was an ihr richtig ist und was nicht.

8. Hippodamos, der Sohn des Euryphon aus Milet (der die Aufteilung
der Städte erfand und den Peiraieus einteilte und aus Ehrgeiz auch
sonst in seinem Leben sehr auffällig war, so daß einige fanden, er lebe
zu extravagant mit der Masse der Haare und kostbarem Schmuck,
außerdem mit einem einfachen, aber warmen Kleide, das er nicht nur
im Winter, sondern auch in der heißen Jahreszeit trug – und der
außerdem auch als kundig in der Naturphilosophie gelten wollte), war
der erste, der, ohne Politiker zu sein, etwas über den besten Staat zu
sagen versuchte. Er nahm einen Staat an, der zehntausend Männer
umfaßte, und teilte ihn in drei Teile: einen der Handwerker, einen der
Bauern und den dritten Teil, der kämpfte und die Waffen besaß. Auch
das Land teilte er in drei Teile, heiliges, öffentliches und privates.
Heilig sei das Land, aus welchem die Kosten für den Kultus bestritten
würden, öffentlich dasjenige, von welchem die Krieger leben sollen,
privat das Land der Bauern. Ebenso meinte er, es gebe auch nur drei
Arten von Gesetzen: denn Prozesse gebe es nur über drei
Gegenstände, Beleidigung, Schädigung, Totschlag. Er setzte auch ein
oberstes Gericht ein, vor das alle Prozesse gebracht werden sollten, die
nicht richtig entschieden zu sein schienen. Dieses setzte er aus
einzelnen ausgewählten Greisen zusammen. Die Urteile vor Gericht
wollte er nicht durch bloße Abstimmung geschehen lassen, sondern
jeder solle ein Täfelchen haben, auf welchem er das Urteil
aufzuzeichnen hätte, wenn er schlechthin verurteile; wenn er

XIX
Aristoteles Politik - II. Buch

schlechthin freispräche, so solle er es einfach leer lassen; täte er aber


weder das eine noch das andere, so solle er dies genau angeben. Denn
so, wie die Gesetzgebung jetzt sei, sei sie nicht richtig: jetzt seien die
Richter gezwungen, einfach so oder so zu urteilen und damit gegen
ihren Eid zu handeln.
Er entwarf auch ein Gesetz über jene, die etwas für den Staat
Förderliches ausgedacht hätten, damit sie zu ihrer Ehre kämen; ebenso
sollten die Kinder der im Kriege Gefallenen auf Staatskosten
aufgezogen werden, was damals noch nirgendwo sonst festgesetzt
worden war. Inzwischen aber gibt es dieses Gesetz in Athen wie auch
in anderen Staaten. Die Beamten sollten alle vom Volke gewählt
werden. Als Volk bezeichnete er die drei genannten Abteilungen; die
Gewählten sollten sich um die öffentlichen Dinge kümmern, um die
Fremden und um die Waisen.
Das ist das Wichtigste und am meisten Erwähnenswerte aus der
Ordnung des Hippodamos.

Man wird aber zuerst Schwierigkeiten in der Einteilung des Volkes


finden. Die Handwerker, Bauern und Waffenträger sind bei ihm
insgesamt Teile der Bürgerschaft, die Bauern ohne Waffen und die
Handwerker ohne Land und ohne Waffen, so daß sie so ziemlich zu
Sklaven der Waffenträger werden. Daß nun alle diese an allen Amtern
teilhaben können, istunmöglich. Denn notwendigerweise müssen die
Feldherren und die Wächter über die Bürger aus den Waffenträgern
genommen werden, ebenso, allgemein gesagt, alle wichtigsten Ämter.
Haben aber die andern Stände keinen Anteil am Staate, wie werden sie
dann der Verfassung wohlwollend gegenüberstehen können? Es
müssen also die Waffenträger stärker sein als die beiden anderen Teile
zusammen. Dies ist nicht leicht möglich, wenn sie nicht zahlreich
sind. Wenn aber dies doch der Fall ist, wozu müssen dann die andern
am Staate teilnehmen und über die Bestellung der Beamten
mitentscheiden? Ferner: inwiefern sind die Bauern für den Staat
notwendig? Handwerker muß es notwendig geben (denn jeder Staat
bedarf der Handwerker), und sie können wie in den andern Staaten
von ihrem Gewerbe leben. Die Bauern dagegen wären

XX
Aristoteles Politik - II. Buch

vernünftigerweise ein Teil des Staates, wenn sie nur den


Waffenträgern die Nahrung zu bringen hätten; aber bei ihm haben sie
ein eigenes Land und bebauen es für sich allein.
Was ferner den öffentlichen Boden betrifft, aus welchem die Krieger
die Nahrung entnehmen, so wird es zwischen den Kriegern, wenn sie
ihn selbst beackern, und den Bauern keinen Unterschied geben, was
doch der Gesetzgeber meint. Sind es aber andere als jene, die das
eigene Feld beackern, und als die Waffenträger, so hätten wir einen
vierten Teil des Staates, der an gar nichts teilhat und vom politischen
Leben ausgeschlossen ist. Wird man endlich dieselben Leute
annehmen, die ihr privates wie das öffentliche Land beackern, so wird
die Menge des Ertrags es nicht möglich machen, daß jeder zwei Güter
bestellt; und warum beschaffen sie dann nicht gleich aus demselben
Lande und aus denselben Losen die Nahrung für sich selbst und
versorgen zudem die Waffenträger? Dies alles hat also viele
Unklarheiten.
Auch das Gesetz über die Rechtsprechung ist nicht richtig, daß
nämlich der, der richten soll, die Klage, die doch einfach formuliert
ist, teilen soll und so aus einem Richter zu einem Schiedsmann werde.
In einem Schiedsgericht ist dies zwar in sehr vielen Fällen möglich
(denn sie besprechen sich unter-einander über das Urteil), aber bei den
Gerichten geht es nicht, sondern im Gegensatz zu unserm Gesetzgeber
sorgen die meisten dafür, daß die Richter sich nicht untereinander
besprechen dürfen.
Ferner, wie führt das nicht zu verwirrten Urteilen, wenn der Richter
zwar meint, der Beklagte müsse zahlen, aber nicht so viel, wie der
Kläger angibt? Jener fordert zwanzig Minen, der Richter setzt auf
zehn Minen fest (oder umgekehrt), ein anderer auf fünf, wieder ein
anderer auf vier (auf diese Weise werden sie offenbar differenzieren),
andere werden ihm alles zuerkennen, andere wieder gar nichts. Wie
werden nun die Meinungen der Stimmenden abgewogen?
Ferner bedeutet es keineswegs eine Verletzung des Eides, wenn man
aus gerechten Gründen die Forderung schlechthin verwirft oder
anerkennt, wenn nämlich die Klage einfach formuliert ist. Denn wer
die Forderung zurückweist, erklärt damit nicht, daß der Beklagte

XXI
Aristoteles Politik - II. Buch

nichts schulde, sondern nur, daß er keine zwanzig Minen schulde.


Wohl aber verletzt jener Richter den Eid, der die Forderung anerkennt,
obwohl er glaubt, daß jener die zwanzig Minen nicht schulde.
Das Gesetz ferner, daß jene eine Ehre erhalten sollen, die etwas für
den Staat Zuträgliches herausgefunden haben, ist nicht ungefährlich
und nur zum Hören ansehnlich. Denn es führt zu Denunziationen und
je nachdem zu Verfassungsumstürzen.
Dies führt zu einem andern Problem und einer andern Untersuchung.
Einige fragen sich nämlich, ob es nützlich oder schädlich für den Staat
ist, die überlieferten Gesetze zu ändern, wenn etwa ein anderes besser
ist. Jedenfalls ist es nicht leicht, dem Vorschlag des Hippodamos ohne
weiteres zuzustimmen, wenn eine Veränderung grundsätzlich nicht
zuträglich sein sollte. Es ist ja möglich, daß einige die Aufhebung der
Gesetze und der Verfassung beantragen, weil dies für die
Gemeinschaft gut sei.
Da wir nun diesen Punkt erwähnt haben, ist es besser, noch etwas
ausführlicher darauf einzugehen. Es gibt nämlich, wie wir sagten, eine
Schwierigkeit, und es könnte besser erscheinen, die Gesetze zu
verändern. Denn in andern Wissenschaften ist dies von Nutzen
gewesen, so der Bruch mit der Überlieferung in der Medizin, ebenso
in der Gymnastik und überhaupt bei allen Künsten und Fähigkeiten;
wenn also die Politik eine von ihnen ist, so verhält es sich
augenscheinlich und notwendigerweise mit ihr gleich.
Als einen Beweis dafür könnte man die Tatsachen selbst anführen.
Denn die alten Gesetze sind äußerst einfach und barbarisch: die
Griechen gingen dauernd in Waffen und kauften die Frauen
voneinander, und wo irgendwelche altertümliche Gesetze noch
erhalten sind, da sind sie vollkommen einfältig,wie etwa in Kyme das
Gesetz über Totschlag: Wenn der Kläger irgendeine bestimmte Anzahl
von Zeugen aus seiner Verwandtschaft beibringt, so soll der Beklagte
des Mordes schuldig erklärt werden.
Im allgemeinen fragt man überhaupt nicht nach dem Überlieferten,
sondern nach dem Guten. Es ist auch anzunehmen, daß die ersten
Menschen, mögen sie nun aus der Erde entsprungen sein oder sich aus
irgendeiner Katastrophe gerettet haben, gleich gewesen sind wie die

XXII
Aristoteles Politik - II. Buch

jetzigen beliebigen und einfältigen Menschen, wie es ja auch von den


Erdentstandenen ausdrücklich erzählt wird. So wäre es denn töricht,
bei deren Ansichten zu bleiben.
Außerdem ist es besser, auch geschriebene Gesetze nicht einfach
unberührt zu lassen. Denn wie bei den andern Künsten, ist es auch bei
der politischen Ordnung unmöglich, alles genau festzulegen. Denn
niedergeschrieben wird das Allgemeine, die Handlungen betreffen
aber das Einzelne. Daraus ergibt sich also, daß einzelne Gesetze
gelegentlich geändert werden müssen.
Betrachtet man es aber auf andere Weise, so scheint große Vorsicht
notwendig zu sein. Ist die Korrektur unbedeutend, dagegen
bedenklich, die Menschen daran zu gewöhnen, daß die Gesetze leicht
aufgehoben werden können, so ist es klar, daß man einzelne Fehler der
Gesetzgeber und der Regenten auf sich beruhen lassen soll. Denn der
Nutzen bei der Veränderung ist geringer als der Schaden, wenn die
Gewohnheit beginnt, den Regierenden nicht zu gehorchen. Ebenso ist
das Beispiel der Künste falsch. Denn eine Kunst zu verändern und ein
Gesetz ist nicht dasselbe. Das Gesetz kann sich durch keine andere
Macht durchsetzen als durch die Gewohnheit, und diese entsteht erst
in langer Zeit, so daß der leichte Übergang von bestehenden Gesetzen
zu anderen neuen dazu führt, die Kraft des Gesetzes überhaupt zu
schwächen. Ferner: wenn sie verändert werden sollen, sollen es dann
alle und in jeder Verfassung oder nicht? Und durch jeden Beliebigen
oder nur durch Bestimmte? Denn dies macht einen großen
Unterschied. Doch verschieben wir nun diese Untersuchung auf einen
anderen Augenblick.

9. Bei der spartanischen und der kretischen Verfassung und auch bei
den meisten anderen Verfassungen sind zwei Dinge zu untersuchen,
erstens, ob sie im Vergleich zur besten Verfassung gut oder schlecht
eingerichtet sind, zweitens, ob sie im Widerspruch zu der Absicht und
der Art der ihnen vorschwebenden Verfassung stehen.
Daß in einem gut eingerichteten Staat das Staatsvolk von der Sorge für
das Lebensnotwendige frei sein muß, ist allgemein anerkannt. Wie das
aber geschehen soll, ist nicht leicht zu erkennen. Der Stand der

XXIII
Aristoteles Politik - II. Buch

Penesten in Thessalien hat sich oft gegen die Thessaler erhoben,


ebenso wie die Heloten gegen die Spartaner (denn sie lauern
gewissermaßen ständig auf deren Unglücksfälle). Bei den Kretern ist
dagegen noch nichts Derartiges vorgekommen. Die Ursache ist
vielleicht, daß dort die untereinander benachbarten Staaten, auch wenn
sie gegeneinander Krieg führen, sich doch nie mit den Aufrührern
verbünden, weil es ihnen nichts nützt, da sie selbst Periöken besitzen.
Den Spartanern dagegen waren alle Nachbarn Feinde, die Argiver,
Messenier und Arkader. Auch von den Thessalern fielen am Anfang
die Penesten ab, als sie noch mit den Nachbarn kämpften, den
Achaiern, Perrhaibern und Magneten.
So scheint denn, von allem andern abgesehen, die Frage nach der
Fürsorge für sie, und wie man mit ihnen umgehen soll, mühsam. Denn
läßt man sie gewähren, so werden sie zügellos und maßen sich
dasselbe an wie ihre Herren, geht es ihnen schlecht, so stellen sie ihren
Herren nach und hassen sie. Jedenfalls haben diejenigen nicht den
besten Weg gefunden, denen es so geht wie den Spartanern mit den
Heloten.
Ebenso ist die Zügellosigkeit der Frauen der Absicht der Verfassung
und der Glückseligkeit des Staates schädlich. Wie nämlich Mann und
Frau Teile des Hauses sind, so ist anzunehmen, daß auch der Staat
nahezu halbiert wird in die Gruppe der Männer und die der Frauen, so
daß es in allen Staaten, wo die Lage der Frauen schlecht geordnet ist,
darauf hinausgeht, daß die Hälfte des Staates ohne rechte
Gesetzgebung bleibt. Dies ist in Sparta wirklich der Fall. Denn
während der Gesetzgeber will, daß der ganze Staat sich in Disziplin
übe, hat er sich offensichtlich nur im Hinblick auf die Männer darum
bekümmert, dagegen es bei den Frauen vernachlässigt. Denn sie leben
in jeder Richtung hemmungslos und ausschweifend. So wird denn in
einer solchen Verfassung mit Notwendigkeit der Reichtum hoch
geschätzt, besonders wenn erst noch die Frauen regieren, wie es bei
vielen kämpferischen und kriegslustigen Völkern der Fall ist, außer
bei den Kelten, und soweit es andere Völker gibt, die offen die
Homosexualität in Ehren halten. Es scheint denn auch derjenige, der
zuerst die Mythen erfunden hat, nicht ohne Sinn Ares und Aphrodite

XXIV
Aristoteles Politik - II. Buch

verbunden zu haben. Denn alle solche Menschen haben eine starke


Neigung zum Umgang entweder mit Männern oder mit Frauen. So gab
es dies auch bei den Spartanern, und als sie herrschten, wurde vieles
durch die Frauen bestimmt. Denn was macht es für einen Unterschied,
ob die Frauen regieren oder die Regenten sich von den Frauen
beherrschen lassen? Dies ergibt durchaus dasselbe.
Da außerdem die Tollkühnheit im gewöhnlichen Leben nichts nützt,
sondern, wenn überhaupt, dann nur im Kriege, so waren auch in dieser
Hinsicht die Frauen der Spartaner verhängnisvoll. Das zeigte sich
beim Einfall der Thebaner. Nützlich waren sie zu nichts, wie etwa in
anderen Staaten, und stifteten mehr Verwirrung an als die Feinde.
Am Anfang freilich scheint die Zuchtlosigkeit der Frauen bei den
Spartanern einen guten Grund gehabt zu haben. In-folge der Feldzüge
waren die Spartaner lange Zeit weit weg von ihrer Heimat, im Kriege
mit den Argivern, dann mit den Arkadern und den Messeniern. Als sie
schließlich Ruhe hatten, erwiesen sie sich als schon vorbereitet für den
Gesetzgeber durch das Leben im Kriege (denn dieses enthält viele
Teile der Tugend); als dagegen, wie man berichtet, Lykurgos
versuchte, auch die Frauen den Gesetzen zu unterwerfen, da zeigten
sie sich widerspenstig, so daß er darauf verzichtete. Das sind also die
Ursachen des Geschehenen und so auch dieses Fehlers. Aber wir
fragen nicht danach, wem man dies verzeihen soll oder nicht, sondern
was richtig ist und was nicht.
Die Mißstände im Hinblick auf die Frauen scheinen nun nicht nur, wie
schon vorhin bemerkt, die Verfassung an sich zu verunstalten, sondern
überdies die Habgier zu fördern. Denn außer dem soeben Bemerkten
muß man in Sparta auch wohl die Ungleichheit des Besitzes tadeln.
Die einen haben ein übermäßig großes Vermögen erworben, die
andern nur ein geringes, und so ist das Land in wenige Hände
gekommen. Dies ist auch in den Gesetzen schlecht eingerichtet. Den
Kauf oder Verkauf von ererbtem Gute bezeichnete er als verwerflich,
und dies war richtig. Dagegen ließ er die Freiheit, es Beliebigen zu
schenken oder zu vererben, obschon auf diese Weise dasselbe
herauskommen mußte wie auf jene.

XXV
Aristoteles Politik - II. Buch

Auch gehören nahezu zwei Fünftel des ganzen Landes den Frauen,
weil es viele Erbtöchter gibt, und weil sie große Aussteuern geben.
Und doch wäre es besser, gar keine Aussteuer zuzulassen oder nur
eine geringe und mäßige. Außerdem kann man seine Erbtochter
geben, wem man will, und wenn man stirbt, ohne eine Verfügung
getroffen zu haben, so gibt sie der hinterlassene Erbverwalter, wem er
will. Obschon also das Land in der Lage war, tausendfünfhundert
Reiter zu ernähren und dreißigtausend Hopliten, so waren es faktisch
nicht einmal tausend.
Es zeigten auch die Ereignisse, daß diese Ordnung falsch war. Der
Staat war nicht fähig, einen einzigen Schlag zu ertragen, sondern ging
zugrunde infolge seines Menschenmangels.
Es heißt, daß sie unter den früheren Königen Fremden das Bürgerrecht
verliehen hätten, so daß trotz den langen Kriegen kein
Menschenmangel entstand. Einmal soll es zehntausend Spartiaten
gegeben haben. Mag nun dies wahr sein oder nicht, besser ist es, durch
gleichmäßige Verteilung des Besitzes den Staat mit Männern zu
bevölkern. Aber diese Korrektur wird auch gehindert durch das Gesetz
über die Kinderzeugung. Denn da der Gesetzgeber die Zahl der
Spartiaten soviel als möglich vermehren wollte, veranlaßte er die
Bürger, so viele Kinder als möglich zu zeugen. Es gibt nämlich ein
Gesetz bei ihnen, daß der, der drei Söhne gezeugt hat, vom
Wachdienst, und der, der vier hat, von allen Abgaben frei sei. Aber
wenn die Zahl groß, das Land aber auf die genannte Weise verteilt ist,
so muß es viele Arme geben.
Auch der Ephorat ist schlecht eingerichtet. Das Amt als solches hat bei
den Spartanern die Entscheidung in den wichtigsten Angelegenheiten,
doch Mitglied kann jeder Beliebige aus dem Volke werden, so daß oft
ganz arme Leute, die wegen ihrer Armut käuflich waren, in diese
Behörde gelangten. Das zeigte sich schon früher oft und jetzt im
Konflikt mit Antipater. Einige Ephoren waren mit Geld bestochen und
hätten, was an ihnen lag, den ganzen Staat zugrunde gerichtet. Und da
ihre Macht sehr groß und der eines Tyrannen gleich war, waren sogar
die Könige gezwungen, ihnen zu schmeicheln, so daß auch dies ein

XXVI
Aristoteles Politik - II. Buch

Schaden für die Verfassung wurde. Denn so wurde sie aus einer
Aristokratie zu einer Demokratie.
Diese Behörde hält nun die Verfassung zusammen (denn das Volk
bleibt ruhig, da es an diesem obersten Amte teilhat, und mag dies nun
der Wille des Gesetzgebers oder der Zufall gewesen sein, so ist dies
doch den Verhältnissen zuträglich; wenn nämlich eine Verfassung
Bestand haben soll, so müssenalle Teile des Staates wollen, daß sie
existiere und dauere. Die Könige sind zufrieden wegen ihres Ranges,
die Aristokraten wegen der Gerusie – denn dieses Amt ist der Preis der
Tugend - und das Volk wegen des Ephorates, da er sich ja aus allen
rekrutiert); aber sie hätte wählbar sein müssen zwar aus allen. aber
nicht auf die Weise, wie es jetzt geschieht, denn dies ist gar zu
kindisch.
Außerdem liegen die wichtigsten Entscheidungen bei ihnen, und da sie
beliebige Leute sind, die kein eigenes Urteil haben, so wäre es besser,
sie entschieden sich nach geschriebener Regel und Gesetz. Auch ist
die Lebensweise der Ephoren der Absicht des Staates nicht
entsprechend. Denn sie sind für sich äußerst zügellos, bei den anderen
übertreiben sie dagegen eher an Härte, so daß diese es nicht ertragen
können, sondern heimlich das Gesetz umgehen und die körperlichen
Freuden genießen.
Auch die Gerusie ist nicht richtig eingerichtet. Sind sie nämlich
anständig und zur Tugend hinreichend erzogen, so kann man wohl
sagen, daß es dem Staate nützt, obschon es eine heikle Sache ist, daß
sie auf Lebenszeit Herr über bedeutende Entscheidungen sein sollen
(denn es gibt ein Greisenalter der Vernunft ebenso wie des Körpers).
Wenn sie aber so schlecht erzogen sind, daß sogar der Gesetzgeber
ihnen nicht traut, weil sie nicht tugendhaft sind, so ist es gefährlich. Es
zeigt sich denn auch, daß die Mitglieder dieser Behörde durch
Geschenke beeinflußbar sind und viele öffentliche Angelegenheiten
nach Gunst behandeln. So wäre es besser, wenn sie sich irgendwo
verantworten müßten, was sie aber faktisch nicht tun.
Es scheint zwar, daß die Ephoren alle andern Behörden zur
Verantwortung ziehen. Aber dies ist wiederum ein zu großes
Nachgeben dem Ephorat gegenüber, und wir verstehen es durchaus

XXVII
Aristoteles Politik - II. Buch

nicht so, wenn wir fordern, daß zur Verantwortung gezogen werden
müsse.

Auch ist die Art, wie die Auswahl der Geronten getroffen wird,
kindisch. Es ist auch nicht richtig, daß der, welcher des Amtes für
würdig erachtet wird, selbst darum ersuchen muß. Denn wer des
Amtes würdig ist, soll es ausüben, mag er wollen oder nicht. Faktisch
aber macht es der Gesetzgeber hier so wie in der sonstigen
Verfassung: er macht die Bürger ehrgeizig und verwendet dies als
Basis für die Wahl der Geronten. Denn keiner würde da um ein Amt
ersuchen, der nicht ehrgeizig ist.
Dabei geschehen wohl die meisten freiwilligen Vergehen unter den
Menschen aus Ehrgeiz oder aus Geldgier.
Was das Königtum betrifft, so soll anderswo gefragt werden, ob es für
einen Staat gut sei oder nicht. Aber jedenfalls wäre es besser, wenn es
nicht so wäre wie jetzt, sondern wenn jeder einzelne König auf Grund
seiner eigenen Lebensart gewählt würde. Daß der Gesetzgeber selbst
nicht erwartet, sie zu edlen Männern machen zu können, ist klar. Denn
er mißtraut ihnen, wie wenn sie nicht hinreichend tugendhaft wären.
Darum pflegte man ihnen auch ihre Feinde als Mitgesandte
beizugeben, und sie hielten es für die Rettung des Staates, wenn die
Könige untereinander uneins wären.
Auch wer zuerst die Gesetze über die Syssitien, die sogenannten
Phiditia, gegeben hat, hat es nicht richtig gemacht. Denn die Kosten
hätten eher aus öffentlichen Mitteln bestritten werden sollen wie in
Kreta. Bei den Spartanern dagegen muß jeder Einzelne das Seinige
mitbringen, und dies, obwohl einige außerordentlich arm sind und
diese Ausgabe gar nicht er-schwingen können, so daß also das
Gegenteil von dem eintritt, was der Gesetzgeber gewollt hat. Denn
nach seiner Absicht sollen die Syssitien eine demokratische
Einrichtung sein, aber wenn sie gesetzlich so organisiert werden, sind
sie alles andere als demokratisch. Denn die allzu Armen können gar
nicht an ihnen teilnehmen, und dabei ist es eine überlieferte Bestim-
mung ihrer Verfassung, daß, wer diesen Beitrag nicht leisten kann, an
der Staatsverwaltung nicht teilnehmen darf.

XXVIII
Aristoteles Politik - II. Buch

Das Gesetz über die Flottenkommandanten haben schon andere


getadelt, und dies mit Recht. Denn es ist eine Ursache von Unruhen.
Neben den Königen, die für alle Zeiten Heerführer sind, besteht das
Flottenkommando beinahe als ein zweites Königtum.
Man kann die Absicht des Gesetzgebers auch in derselben Richtung
tadeln, wie es schon Platon in den >Gesetzen< getan hat. Der ganze
Aufbau der spartanischen Gesetze zielt nur auf einen einzigen Teil der
Tugend, nämlich die kriegerische. Denn sie ist es, die zum Herrschen
nützt. Darum hatten sie Erfolg als Krieger und gingen zugrunde als
Regenten, weil sie nicht Ruhe zu halten verstanden und überhaupt
nichts anderes geübt hatten als nur eben die Kriegskunst.
Ein nicht geringerer Fehler ist der folgende. Sie meinen, daß »die viel
umkämpften Güter« eher durch Tugend als durch Schlechtigkeit zu
erwerben seien, und darin haben sie recht; daß sie aber jene Güter
noch über die Tugend stellen, ist nicht richtig.
Schlecht steht es endlich mit den öffentlichen Geldern bei den
Spartanern. In der Staatskasse findet sich nichts, auch wenn sie
gezwungen sind, große Kriege zu führen, und die Abgaben laufen
schlecht ein. Denn da das meiste Land den Spartiaten gehört,
kontrollieren sie einander gegenseitig die Abgaben nicht. So ergibt
sich für den Gesetzgeber das Gegenteil von dem, was zuträglich
gewesen wäre: er macht den Staat mittellos und die Privatleute
geldgierig.
Dies mag über die Verfassung der Spartaner gesagt sein; denn dies ist
es, was man ihr am meisten vorwerfen könnte.

10. Die kretische Verfassung ist dieser ähnlich. Einzelnes ist nicht
schlechter, das meiste ist aber weniger ausgeführt. Es scheint denn
auch und wird auch gesagt, daß die spartanische Verfassung in den
meisten Dingen die kretische nachgeahmt habe. Denn das Alte ist in
der Regel weniger gegliedert als das Neuere. So wird berichtet, daß
Lykurgos, als er die Vormundschaft über den König Charillos
niedergelegt hatte, sich auf Reisen begab und sich damals die meiste

XXIX
Aristoteles Politik - II. Buch

Zeit auf Kreta aufhielt, und zwar wegen der Verwandtschaft der
Völker. Denn die Lyktier waren spartanische Kolonisten, und diese
hatten bei der Koloniegründung diejenige gesetzliche Ordnung
angenommen, die sie bei den damaligen Einwohnern vorgefunden
hatten. Darum wird diese Ordnung noch heute von den Periöken in
alter Weise festgehalten, da es Minos gewesen sein soll, der sie als
erster eingerichtet habe.
Es scheint auch die Insel zur Herrschaft über die Griechen von Natur
bestimmt und günstig dazuliegen. Denn sie beherrscht das ganze
Meer, und dabei wohnen so ziemlich alle Griechen um das Meer
herum. Auf der einen Seite ist die Entfernung kurz zur Peloponnes,
auf der andern zur asiatischen Küste beim Triopion und nach Rhodos.
Darum gewann auch Minos die Herrschaft über das Meer, und von
den Inseln unterwarf er die einen und besiedelte die anderen, schließ-
lich griff er Sizilien an und endete sein Leben dort bei Kamikos.
Die kretische Staatsordnung verhält sich analog zur spartanischen. Das
Land wird für jene von den Heloten, für die Kreter von den Periöken
beackert, bei beiden gibt es Syssitien, und in früher Zeit hießen diese
bei den Spartanern nicht Phiditia, sondern Andria, wie bei den
Kretern, so daß es klar ist, daß sie von dorther gekommen sind. Dazu
kommt die Ordnung der Verfassung. Die Ephoren haben dieselbe
Gewalt wie bei den Kretern die sogenannten Kosmoi, nur daß die
Ephoren fünf, die Kosmoi dagegen zehn an der Zahl sind. Die
Geronten hier sind den Geronten dort, die bei den Kretern Rat heißen,
gleich. Ein Königtum gab es früher, dann beseitigten es die Kreter,
und nun haben im Kriege die Kosmoi die Führung. An der
Volksversammlung nehmen alle teil, aber sie hat keine andere
Kompetenz als die, die Entschlüsse der Geronten und der Kosmoi
durch Abstimmung zu bestätigen.
Was die Syssitien angeht, so sind sie bei den Kretern besser
eingerichtet als bei den Spartanern. In Sparta hat jeder nach der
Kopfzahl den festgesetzten Betrag zu entrichten, und tut er es nicht, so
wird er durch Gesetz von den politischen Rechten ausgeschlossen, wie
schon früher gesagt; in Kreta vollzieht sich dies liberaler. Denn von
der gesamten Feldfrucht und dem Vieh, das dem Staate gehört, und

XXX
Aristoteles Politik - II. Buch

von den Steuern, die die Periöken leisten, wird ein Teil für die Götter
und die öffentlichen Ausgaben ausgeschieden, der andere aber für die
Syssitien, so daß alle, Frauen, Kinder und Männer, auf Staatskosten
ernährt werden. Um die Mäßigkeit im Essen zu erreichen, die nützlich
ist, hat der Gesetzgeber vieles ausgedacht; und damit die Männer nicht
allzu viele Kinder zeugten, hat er sie von den Frauen ferngehalten
dadurch, daß er die Knabenliebe einführte; ob diese etwas Gutes oder
etwas Schlechtes ist, wird bei anderer Gelegenheit zu prüfen sein.
Daß also die Syssitien bei den Kretern besser eingerichtet sind als bei
den Spartanern, ist deutlich; die Kosmoi dagegen sind noch schlimmer
als die Ephoren. Was nämlich bei der Behörde der Ephoren schlecht
ist, findet sich auch bei diesen (es können ganz Beliebige dazu
gelangen); der Nutzen aber, der dort für den Staat besteht, ist hier
nicht vorhanden. Dort nämlich hat das Volk, da ja die Ephoren aus
allen gewählt werden, Anteil an der wichtigsten Behörde und hat
demgemäß ein Interesse daran, daß die Verfassung bestehen bleibt.
Hier aber wählen sie die Kosmoi nicht aus allen, sondern nur aus
bestimmten Geschlechtern, und die Geronten aus jenen, die Kosmoi
gewesen sind. Im übrigen wird man dasselbe sagen können wie über
die Einrichtungen in Sparta: daß sie nicht zur Verantwortung gezogen
werden können und ihre Stellung lebenslänglich behalten, sind
Privilegien, die sie nicht verdienen, und daß sie sich nicht an
Geschriebenes halten, sondern an ihre persönliche Meinung, ist
gefährlich.
Daß aber das Volk ruhig bleibt, obschon es an jenen Ämtern keinen
Anteil hat, ist kein Beweis, daß sie gut eingerichtet sind, Die Kosmoi
empfangen nämlich keine Entlöhnung wie die Ephoren; außerdem
wohnen die Kreter weit weg von denen. die sie gefährden könnten, auf
einer Insel.
Das Mittel gegen jenen Fehler ist unsinnig und nicht politisch, sondern
despotisch. Oftmals nämlich tun sich einige zusammen, seien es
Amtsgenossen oder Privatleute, und vertreiben die Kosmoi. Die
Kosmoi dürfen auch mitten in der Amtszeit ihre Würde niederlegen.
Alle diese Dinge geschähen aber besser auf Grund von Gesetzen als

XXXI
Aristoteles Politik - II. Buch

nach dem Willen von Menschen; denn dieser ist keine zuverlässige
Richtschnur.

Das allerschlimmste ist die Einrichtung der Akosmia, die oftmals von
solchen mächtigen Männern eingeführt wird, die sich den Gerichten
entziehen wollen. Daraus ergibt sich gerade, daß jene Ordnung zwar
etwas von einer Verfassung an sich hat, aber keine Verfassung ist,
sondern eher eine Dynastenherrschaft. Sie pflegen auch zusammen mit
Gruppen aus dem Volke und Freunden eine Anarchie herbeizuführen
und Aufruhr und Streit untereinander zu beginnen. Aber was bedeutet
dies anderes, als daß ein solcher Staat zeitweilig gar kein Staat mehr
ist, sondern die politische Gemeinschaft sich aufgelöst hat? Ein Staat,
der sich so verhält, ist in Gefahr, wenn es Leute gibt, die ihn angreifen
wollen und auch können. Aber wie gesagt: er rettet sich dank seiner
Lage. Seine Abgelegenheit macht, daß keine Fremden vorhanden sind.
Darum bleiben auch die Periöken den Kretern gehorsam, die Heloten
dagegen fallen oftmals ab. Die Kreter verfügen auch über keine aus-
wärtigen Herrschaftsgebiete. Neuerdings freilich ging ein Krieg vom
Ausland auf die Insel über und machte die Schwäche der dortigen
Gesetze deutlich. Über diese Verfassung sei so viel gesagt.

11 . Es scheinen auch die Karthager eine gute und im Vergleich mit


den anderen vielfach überlegene Verfassung zu besitzen; vor allem ist
einiges den Spartanern ähnlich. Denn diese drei Verfassungen stehen
einander irgendwie nahe und unterscheiden sich stark von allen
übrigen, die kretische, die spartanische und nun drittens die
karthagische. Viele Anordnungen bei ihnen sind ausgezeichnet.
Beweis einer guten Ordnung ist, daß das Volk gerne in der
Staatsverfassung bleibt und sich bisher keine irgendwie nennenswerte
Empörung oder eine Tyrannis gezeigt hat.
Ähnlich wie in Sparta die Phiditien existieren hier die Syssitien der
Verbände; das Amt der Hundertundvier entspricht den Ephoren (nur
ist es besser: denn jene werden aus Beliebigen ausgewählt, hier aber
aus den Besten), die Könige und die Gerusie hier entsprechen den
Königen und den Geronten dort. Besser ist es auch, daß die Könige

XXXII
Aristoteles Politik - II. Buch

nicht aus einem bestimmten Geschlechte entstammen noch aus einem


beliebigen; doch soweit ein Unterschied in Betracht kommt, ist es eher
der nach dem Geschlechte als der nach dem Alter. Denn sie verfügen
über große Macht, und wenn sie unbedeutend sind, so schaden sie viel
und haben auch schon dem spartanischen Staate sehr geschadet.

Das meiste, was man tadeln wird, weil es Entartungen sind, ist allen
genannten Staaten gemeinsam, und soweit etwas der Tendenz zur
Aristokratie und zum Verfassungsstaat zuwiderläuft, so biegt
Karthago teils eher zur Volksherrschaft ab, teils zur Oligarchie. Denn
die Könige zusammen mit den Geronten entscheiden, ob sie etwas
vors Volk bringen wollen oder nicht, sofern sie alle miteinander einig
sind; sind sie es aber nicht, so entscheidet auch darüber das Volk. Wo
sie etwas vors Volk bringen, da hat dieses nicht nur die Möglichkeit,
anzuhören, was die Regierenden beschlossen haben, sondern es kann
auch entscheiden, und jeder Beliebige darf den vorgebrachten An-
trägen widersprechen, was in den andern Verfassungen nicht der Fall
ist. Daß aber die Pentarchien, die viele bedeutende Dinge zu
entscheiden haben, sich aus sich selbst ergänzen und ihrerseits den Rat
der Hundert, die wichtigste Behörde, wählen, und daß diese längere
Zeit im Amte sind als die anderen (denn sie sind noch Beamte, wenn
sie die Behörde schon verlassen haben, und schon, wenn sie erst im
Begriffe sind einzutreten), das ist oligarchisch. Daß sie aber ohne
Entlöhnung und nicht durch Loswahl amten, muß man aristokratisch
nennen, ebenso anderes mehr; ebenso, daß alle Prozesse von den
obersten Behörden entschieden werden (und nicht die einen durch
diese, die andern durch andere wie in Sparta). Die karthagische
Ordnung gleitet ab von der Aristokratie vorzugsweise in die
Oligarchie, und zwar gemäß einer Tendenz, die durchaus dem Volke
gefällt. Sie meinen nämlich, sie müßten die Beamten nicht nur der
Tüchtigkeit, sondern auch dem Reichtum nach wählen. Denn es sei
unmöglich, daß der Bedürftige gut regiere und die nötige Muße finde.
Wenn nun die Wahl auf Grund des Reichtums oligarchisch ist und
diejenige auf Grund der Tüchtigkeit aristokratisch, so wäre also dies
eine dritte Ordnung, der gemäß der Staat der Karthager ein-gerichtet

XXXIII
Aristoteles Politik - II. Buch

ist. Denn sie wählen im Hinblick auf diese beiden Dinge vor allem die
wichtigsten Ämter, die der Könige und der Feldherren.

Man muß aber dieses Abgleiten aus der Aristokratie als einen Fehler
des Gesetzgebers ansehen. Denn es ist gewiß etwas vom
Allernotwendigsten, von Anfang an dafür zu sorgen, daß die Besten
Muße pflegen können und nicht in unwürdige Verhältnisse geraten,
und zwar nicht nur als Beamte, sondern auch als Privatleute. Wenn
man nun um der Muße willen auch auf das Vermögen schauen muß,
so ist es doch schlecht, die höchsten Ämter käuflich sein zu lassen, das
Königtum und das Feldherrenamt. Denn ein solches Gesetz macht das
Geld wertvoller als die Tugend und macht den ganzen Staat
geldgierig. Denn was immer das Regierende für wertvoll hält, dem
wird mit Notwendigkeit auch die Meinung der anderen Bürger folgen.
Wo aber nicht vor allen Dingen die Tugend geehrt wird, da ist der
aristokratische Charakter der Verfassung nicht gesichert. Es ist auch
begreiflich, daß jene, die das Amt mit großen Unkosten gekauft haben,
sich daran gewöhnen, aus ihm Gewinn zu ziehen. Denn es wäre doch
unsinnig, wenn ein Armer, aber Anständiger daraus Gewinn machen
will, der Schlechtere aber es nicht wollen sollte, der doch Auslagen
dafür gehabt hat. Darum müssen jene regieren, die am besten in der
Lage sind, Muße zu haben. Und wenn auch der Gesetzgeber sich um
das materielle Auskommen der Anständigen nicht kümmern sollte, so
wäre es doch gut, für ihre Muße zu sorgen, wenigstens solange sie
Beamte sind.
Es scheint auch schlecht, daß dieselbe Person mehrere Ämter
bekleidet, was bei den Karthagern gerade in Ansehen steht. Denn jeder
einzelne leistet am besten ein einziges Werk. Der Gesetzgeber muß
also darauf schauen, daß er so herauskomme, und nicht demselben
auftragen, Flöte zu blasen und Schuhe zu verfertigen. Wo also der
Staat nicht zu klein ist, ist es verfassungsmäßiger und demokratischer,
wenn mehrere an den Regierungsämtern teilhaben. Denn dies
entspricht mehr dem Sinn der Gemeinschaft, wie wir sagten, und jedes
einzelne Werk wird besser zustande gebracht und schneller. Das zeigt

XXXIV
Aristoteles Politik - II. Buch

sich im Krieg und im Seewesen. In beiden diesen Fällen geht das


Regieren und Regiertwerden sozusagen durch alle hindurch.
Da nun die Verfassung oligarchisch ist, so kommen sie doch aufs
beste [aus allen Schwierigkeiten] dadurch, daß sie das Volk reich
machen, indem sie immer einen Teil in die abhängigen Städte
schicken. Mit diesem Mittel korrigieren sie den Mangel und machen
die Verfassung dauerhaft. Doch dies ist die Sache des Glücks; daß
aber keine Aufstände entstehen, dafür muß der Gesetzgeber sorgen.
Wenn also ein Unglück geschieht und die Menge der Regierten
abfällt, so geben die Gesetze in diesem Falle kein Heilmittel, um die
Ruhe wieder herzustellen.
Mit der Verfassung Spartas, der Kreter und der Karthager, die alle mit
Recht berühmt sind, verhält es sich also auf diese Weise.

12. Von denen, die sich über Verfassungen geäußert haben, haben
einige sich überhaupt niemals mit politischer Tätigkeit befaßt, sondern
blieben ihr ganzes Leben hindurch Privatleute; soweit von ihnen etwas
Bemerkenswertes zu sagen war, haben wir von ihnen allen
gesprochen. Einige dagegen waren Gesetzgeber, teils in ihrem eigenen
Staate, teils in fremdem, und waren selbst politisch tätig. Einige von
diesen haben nur Gesetze aufgestellt, andere auch ganze Verfassungen
wie Lykurgos und Solon. Denn diese haben sowohl Gesetze wie auch
Verfassungen geschaffen.
Über die spartanische Verfassung ist schon gesprochen worden. Von
Solon wiederum meinen einige, er sei ein bedeutender Gesetzgeber
gewesen: er habe die Oligarchie beseitigt, die allzu extrem gewesen
war, habe das Volk von der Sklaverei befreit und die überlieferte
Demokratie geschaffen, indem er die Verfassung geschickt mischte.
Denn der Rat auf dem Areopag sei oligarchisch, die Wählbarkeit der
Beamten aristokratisch, die Gerichte demokratisch. Solon scheint
allerdings einiges schon vorgefunden und nicht beseitigt zu haben, den
Rat und die Wahl der Beamten; dagegen hat er die Demokratie ge-
schaffen, indem er die Gerichte aus dem ganzen Volke rekrutierte.
Darum tadeln ihn auch einige: er habe die eine Hälfte der Verfassung
aufgehoben, indem er die auf der Loswahl beruhenden Gerichte zu

XXXV
Aristoteles Politik - II. Buch

Herren über alles machte. Denn als diese zur Macht kamen,
schmeichelte man dem Volke wie einem Tyrannen und verwandelte
die Verfassung in die jetztbestehende Demokratie. Den Rat auf dem
Areopag schränkten Ephialtes und Perikles ein, bei den Gerichten
führte Perikles die Entlöhnung ein, und auf diese Weise trieb es jeder
der Volksführer weiter bis zur jetzigen Demokratie. Dies scheint
freilich nicht der Absicht des Solon entsprochen zu haben, sondern
eher von den Umständen zu kommen: denn nachdem in den
Perserkriegen das Volk die Seeherrschaft begründet hatte, wurde es
selbstbewußt und nahm sich schlechte Führer, die gegen die
Anständigen Politik trieben. Solon hingegen scheint dem Volk nur die
notwendigste Macht gegeben zu haben, die Beamten zu wählen und
sie zur Verantwortung zu ziehen (wenn nämlich das Volk nicht einmal
darüber Gewalt hätte, wäre es ein Sklave und ein Feind des Staates),
die Beamten holte er aber alle aus den Angesehenen und Reichen, den
Pentakosiomedimnern, den Zeugiten und aus der dritten Steuerklasse
der sogenannten Ritter. Die vierte waren die Theten, die von allen
Amtern ausgeschlossen waren.
Gesetzgeber waren auch Zaleukos für das epizephyrische Lokroi und
Charondas aus Katane für seine Mitbürger und für die andern
chalkidischen Städte in Italien und Sizilien. Einige versuchen
nachzuweisen, daß Onomakritos als erster in der Gesetzgebung tüchtig
gewesen sei; er habe sich, als ein Lokrer, nach Kreta begeben und sich
dort in der Kunst der Mantik ausgebildet. Sein Freund sei Thales
gewesen, und dessen Schüler Lykurgos und Zaleukos und der Schüler
des Zaleukos Charondas. Aber das behaupten sie, ohne sich die
chronologischen Verhältnisse zu überlegen.
Es war auch Philolaos von Korinth Gesetzgeber in Theben. Er
stammte aus dem Geschlecht der Bakchiaden, wurde Liebhaber des
Olympiasiegers Diokles, und als dieser aus Abscheu vor den
Liebesanträgen seiner Mutter Halkyone die Stadt Korinth verließ, ging
auch er nach Theben. Und dort beendigten beide ihr Leben. Noch jetzt
zeigt man ihrer beider Gräber, die gegenseitig voneinander aus gut
sichtbar sind; vom Gebiet der Korinther aus ist dagegen nur das eine
sichtbar und das andere nicht. Man erzählt denn auch, sie hätten beide

XXXVI
Aristoteles Politik - II. Buch

ihre Gräber so angelegt, Diokles so, daß wegen seines Hasses auf jene
Leidenschaft Korinth von seinem Grabhügel aus nicht gesehen werden
könne, Philolaos dagegen, daß man es sähe. Aus dieser Ursache also
wohnten sie in Theben, und Philolaos wurde ihr Gesetzgeber unter
anderem im Gebiet der Kinderzeugung, was jene Thetische Gesetze
nennen. Dies ist eine besondere Gesetzgebung von ihm, damit die
Zahl der Landlose gewahrt bleiben könne.

Bei Charondas findet sich nichts Eigentümliches außer der


Prozeßordnung über falsches Zeugnis (er ist der erste, der dies
verfolgen ließ), doch in der Genauigkeit der Gesetze ist er sogar
vollkommener als die gegenwärtigen Gesetzgeber.
Dem Phaleas ist eigentümlich die Ausgleichung der Vermögen, bei
Platon die Gemeinschaft der Frauen, Kinder und des Besitzes sowie
die Syssitien der Frauen, ebenso das Gesetz über die Trunkenheit, daß
nämlich im Symposion die Nüchternen den Vorsitz führen sollten,
ferner die Übung zum Kriege, damit sie durch Übung beidhändig
würden, da kein Anlaß sei, weshalb die eine Hand nützlich sein sollte
und die andere nicht.
Von Drakon gibt es Gesetze, aber er hat sie einer schon bestehenden
Verfassung gegeben. Eigentümlich und erwähnenswert ist an diesen
Gesetzen nichts außer ihrer Grausamkeit, weil die Strafen so hoch
sind.
Auch Pittakos war Schöpfer von Gesetzen, aber nicht einer
Verfassung. Ein ihm eigentümliches Gesetz ist, daß die Betrunkenen,
wenn sie sich verfehlen, eine größere Strafe erleiden sollen als die
Nüchternen. Denn da mehr Betrunkene sich verfehlen als Nüchterne,
so berücksichtigte er nicht, daß die Betrunkenen eher Verzeihung
verdienen, sondern schaute nur auf das Zuträgliche.
Ferner war Androdamas von Rhegion Gesetzgeber der Chalkidier in
Thrakien mit Gesetzen über Totschlag und über die Erbtöchter; doch
etwas Charakteristisches dürfte niemand bei ihm finden können.
So weit seien also die Verfassungen betrachtet, sowohl die
eigentlichen als auch diejenigen, die von Einzelnen entwickelt
wurden.

XXXVII
Aristoteles Politik - III. Buch

Drittes Buch

1. Wer untersuchen will, welches das Wesen und die Eigen schafften
der verschiedenen Verfassungen sind, muß zuerst nach dem Staate
fragen, was er wohl sein mag. Faktisch ist man darüber uneinig: die
einen sagen etwa, der Staat habe eine Handlung vollzogen, die
anderen, nicht der Staat, sondern die Oligarchie oder der Tyrann. Wir
sehen nun, daß die gesamte Arbeit des Staatsmannes und des
Gesetzgebers sich auf den Staat bezieht. Die Verfassung wiederum ist
eine Art von Ordnung unter denjenigen, die den Staat bevölkern.
Da nun der Staat ein Zusammengesetztes ist, so wie irgend ein anderes
Ganzes, das aus vielen Teilen zusammengesetzt ist so ist es klar, daß
man zuerst nach dem Staatsbürger fraget muß. Denn der Staat besteht
aus einer bestimmten Anzahl von Staatsbürgern. Also fragen wir, wen
man Bürger nennen sol und wer ein Staatsbürger ist. Auch darüber
gibt es vielfach Zweifel. Denn nicht alle bezeichnen denselben als
Staatsbürger und wer in der Demokratie ein solcher ist, ist es oft in der
Oligarchie keineswegs.
Beiseite lassen wir jene, die auf eine besondere Weise dies
Bezeichnung erlangen, wie etwa die Staatsbürger, die da; Bürgerrecht
geschenkt bekommen. Staatsbürger ist man nur nicht bloß dadurch,
daß man an einem bestimmten Orte woht (denn dies gilt auch für die
Metöken und Sklaven), noch dadurch, daß man berechtigt ist, Recht
zu vertreten und vor Gericht zu erscheinen (denn dies gibt es auch bei
jenen, die auf Grund eines Vertrages in die Gemeinschaft
aufgenommen sind und dann dieses Recht besitzen; umgekehrt steht
es vielfach nicht einmal den Metöken zu, sondern diese müssen sich
einen Vertreter besorgen, so daß sie also nur unvollkommen an dieser
Art von Gemeinschaft beteiligt sind), sondern in diesem Falle verhält
es sich wie mit den Kindern, die wegen ihres Alters noch nicht in die
Bürgerliste aufgenommen sind und den Greisen, die von den
Bürgerpflichten befreit sind sie sind in gewisser Weise Bürger, aber
nicht schlechthin, sondern mit dem Zusatze, daß die einen es
unvollständig sind und die anderen als ehemalige oder dergleichen (es
kommt ja nicht darauf an; was wir meinen, ist klar).

I
Aristoteles Politik - III. Buch

Wir suchen aber jenen, der schlechthin Staatsbürger ist ohne eine
solche Einschränkung, die der Korrektur bedarf; denn sonst müßte
man auch nach denjenigen fragen, denen die bürgerlichen Rechte
aberkannt wurden, und nach den Verbannten. Der Staatsbürger
schlechthin läßt sich nun durch nichts anderes genauer bestimmen als
dadurch, daß er am Gerichte und an der Regierung teilnimmt. Von den
Regierungsämtern sind einige zeitlich unterschieden, so daß die einen
überhaupt nicht zweimal von demselben bekleidet werden dürfen,
andere nur nach bestimmten festgelegten Fristen. Anderswo wieder,
wie beim Richter oder Mitglied der Volksversammlung, ist die Dauer
unbestimmt. Man kann nun vielleicht sagen, daß solche auch gar keine
Regierungsbeamten seien, und daß man in dieser Funktion noch
keineswegs an der Regierung teilhabe. Doch wäre es lächerlich, jenen
die Regierungsfunktion abzustreiten, die die bedeutendsten
Angelegenheiten entscheiden. Aber es soll darauf nichts ankommen.
Die Frage geht nur nach einem Namen; denn man weiß nicht, wie man
das gemeinsame Wesen des Richters und Mitglieds der
Volksversammlung bezeichnen soll, da es keinen eigenen Namen
besitzt. Man mag es um der Distinktion willen eine unbestimmte
Regierungsfunktion nennen. Wir nennen also Staatsbürger die, die
daran teilnehmen.
Das wäre die Bestimmung, die wohl so ziemlich am ehesten auf alle
jene zutrifft, die man Staatsbürger nennt. Man darf aber nicht
übersehen, daß in den Bereichen, deren Gegenstände der Art nach
verschieden sind, und wo es eine erste und zweite und nachfolgende
Arten gibt, ein Gemeinsames entweder überhaupt nicht existiert,
sofern sie solche sind, oder dann nur ganz schwach. So ist evident, daß
die Staatsverfassungen der Art nach voneinander verschieden und die
einen sekundär, die andern primär sind: die fehlerhaften und
abgleitenden müssen sekundär sein gegenüber den fehlerlosen (was
wir unter den abgleitenden verstehen, wird später klar werden);
dementsprechend wird also auch der Staatsbürger je nach der Ver-
fassung ein anderer sein müssen. So existiert der Bürger, wie wir ihn
bestimmt haben, vor allem in der Demokratie, in den anderen
Verfassungen kann er existieren, muß es aber nicht. In einzelnen

II
Aristoteles Politik - III. Buch

Verfassungen gibt es kein Volk, und man redet von keiner


Volksversammlung, sondern nur von Ratsversammlungen, und die
Rechtsprechung vollzieht sich durch verschiedene Behörden, wie etwa
in Sparta der eine Ephor in diesen, ein anderer in anderen
Vertragssachen Recht spricht,die Geronten wiederum in Mordsachen
und möglicherweise eine andere Behörde abermals in anderen
Angelegenheiten. Ebenso ist es in Karthago: alle Rechtsfragen werden
von bestimmten Behörden entschieden.
Die Bestimmung des Bürgers kann jedoch korrigiert werden. Denn in
den anderen Verfassungen ist nicht der in unbestimmtem Sinne
Regierende Mitglied der beratenden Versammlung und Richter,
sondern ein dazu bestimmter Beamter. Von diesen haben alle oder
einige das Recht, sich zu beraten und Recht zu sprechen in allen oder
in einigen Dingen.
Es ergibt sich daraus, wer der Staatsbürger sei: wer das Recht hat, an
der beratenden oder richtenden Behörde teilzunehmen, den nennen wir
also Bürger des betreffenden Staates, Staat aber eine soweit
ausreichende Anzahl solcher Staatsbürger, als es zur Autarkie des
Lebens notwendig ist, um es einfach zu sagen.

2. Zivilstandsmäßig freilich bezeichnet man als Bürger den, der


beiderseits von Bürgern abstammt und nicht bloß von der einen Seite,
also von Vater oder Mutter. Andere verlangen da noch mehr und
wollen, daß zwei, drei oder mehr Vorväter auch Bürger gewesen sein
müßten. Wenn man aber auf diese Weise politisch und summarisch
bestimmt, so fragen einige, wie dann eben jener dritte oder vierte
Vorfahr Bürger gewesen sein soll. Gorgias und Leontinoi sagte, halb
fragend, halb wohl ironisch: wie das ein Mörser sei, was die
Mörsenmacher fabriziert hätten, so seien auch jene Larisaier, die von
den entsprechenden Handwerkern dazu gemacht worden seien; es
gebe nämlich Fabrikanten von Larisaiern. Aber das Problem ist
einfach: wenn jene Vorfahren nach der gegebenen Bestimmung an der
Staatsverfassung teilnahmen, so waren sie Bürger. Es ist ja auch nicht
möglich, die Bestimmung, Vater und Mutter müßten Bürger gewesen

III
Aristoteles Politik - III. Buch

sein, auf solche anzuwenden, die einen Staat als erste besiedeln oder
gründen.
Aber vielleicht eine größere Schwierigkeit machen jene, die infolge
eines Umsturzes zur Teilnahme am Staatsleben zugelassen wurden,
wie es in Athen Kleisthenes nach der Vertreibung der Tyrannen hielt.
Da nahm er viele Fremde und ansässige Sklaven in die Stämme auf.
Bei denen ist die Frage nicht die, wer ein Bürger sei, sondern ob jene
es mit Recht seien oder nicht. Überdies ließe sich weiterhin fragen, ob
einer, der nicht rechtmäßig Bürger sei, nun überhaupt kein Bürger sei,
so daß also Unrechtmäßigkeit dasselbe zu bedeuten hätte wie
Nichtigkeit. Da wir aber sehen, wie einige ungerecht regieren, die wir
durchaus Regenten nennen, aber eben nicht gerechte, und da der
Staatsbürger durch eine bestimmte Regierungsgewalt ausgezeichnet ist
(denn wer an solcher Gewalt teilhat, der ist Staatsbürger, wie wir
sagten), so ist es klar, daß man auch diese Staatsbürger nennen muß.

3. Was die Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit betrifft, so berührt


sich dies mit der vorhin genannten Schwierigkeit. Denn einige fragen,
wann ein Staat handelt und wann nicht, etwa wenn aus einer
Oligarchie oder einer Tyrannis eine Demokratie wird. Einige wollen,
daß dann die vertraglichen Verpflichtungen nicht mehr eingelöst
werden, da nicht der Staat, sondern der Tyrann sie eingegangen habe,
und vieles andere dergleichen mehr, da einige Staatsformen sich nur
auf die Macht stützen und nicht auf das der Gemeinschaft Zuträgliche.
Indessen werden auch einige demokratische Staaten auf dieser
Grundlage regiert, und so werden wir sagen, daß die Handlungen einer
solchen Staatsform genauso sehr Handlungen des Staates selbst sind
wie diejenigen der Oligarchie oder der Tyrannis.
Das dieser Schwierigkeit eigentümliche Problem scheint dies zu sein,
inwiefern man sagen kann, daß ein Staat derselbe bleibt oder ein
anderer wird. Die oberflächlichste Antwort auf diese Frage bezieht
sich auf den Ort und die Menschen. Denn die Siedlung kann aufgelöst
werden, und von den Menschen können die einen hier, die anderen
dort wohnen.

IV
Aristoteles Politik - III. Buch

Diese Schwierigkeit darf man als milde bezeichnen; denn da der


Begriff des Staates viele Bedeutungen hat, so kann man dieses
Problemes leicht Herr werden. Wenn nun aber die Menschen
kontinuierlich denselben Ort bewohnen, woran soll man feststellen, ob
es sich um einen einzigen Staat handelt? Jedenfalls nicht an den
Mauern. Denn man könnte ja die Peloponnes mit einer einzigen Mauer
umgeben. So scheint es in der Tat mit Babylon zu sein und mit jedem
andern Orte, der mehr den Umfang eines Volkes als einer Stadt
besitzt. Man berichtet ja, daß nach der Eroberung Babylons noch am
dritten Tage ein Teil der Einwohner keine Kenntnis davon erhalten
hatte. Doch diese Frage sei passend auf einen andern Augenblick
verschoben (denn der Staatsmann muß darüber Bescheid wissen, wie
groß ein Staat sein muß und ob er besser bloß ein Volk umfaßt oder
mehrere). Aber soll der Staat als derselbegelten, solange dieselben
Einwohner denselben Ort besiedeln und ihr Geschlecht vorhanden
bleibt, obschon immer die einen untergehen und die andern neu
entstehen, wie wir ja auch Flüsse und Quellen dieselben nennen,
obschon immer neues Wasser dazukommt und hinwegfließt? Oder soll
man sagen, daß aus dieser Ursache die Menschen dieselben bleiben,
der Staat aber ein anderer wird? Da nämlich der Staat eine Gemein-
schaft ist, und zwar eine solche von Staatsbürgern in einer bestimmten
Verfassung, so scheint auch der Staat nicht mehr derselbe sein zu
können, wenn die Verfassung ihrer Art nach eine andere wird und sich
wandelt. Wie wir einen tragischen und einen komischen Chor
voneinander unterscheiden, obschon es vielfach dieselben Menschen
sind, so wird jede Gemeinschaft und Zusammensetzung eine andere
sein, wenn die Art der Zusammensetzung eine andere ist; wir nennen
auch den Zusammenklang derselben Töne einen anderen, wenn er ein
dorischer oder ein phrygischer ist. Wenn es sich so verhält, so wird
man offenbar dann am ehesten von der Kontinuität eines Staates reden
können, wenn man von der Verfassung ausgeht. Seinen Namen kann
man ändern oder bestehen lassen, mögen nun dieselben Menschen an
dem Orte wohnen oder ganz andere.

V
Aristoteles Politik - III. Buch

Ob aber der Staat seine vertraglichen Verpflichtungen erfüllen soll


oder nicht, wenn die Verfassung eine andere wird, das ist eine andere
Frage.

4. Im Zusammenhang mit dem Gesagten steht die Frage, ob die


Tugend des tüchtigen Mannes und die des tüchtigen Bürgers dieselbe
sei oder nicht. Will man aber dies untersuchen, so muß man zuvor im
Umriß die Tugend des Bürgers feststellen. Wie nun der Seemann zur
Schiffsgemeinschaft gehört, so steht es auch mit dem Bürger. Die
Funktion der einzelnen Seeleute ist eine verschiedene (der eine ist
Ruderer, der andere Steuermann, der dritte Vordersteuermann usw.),
und so wird offenbar die genaueste Bestimmung jedes Einzelnen von
der ihm eigentümlichen Leistung ausgehen. Gleichzeitig wird es eine
allgemeine Bestimmung geben, die auf sie alle paßt. Denn die
Erhaltung des Schiffes auf der Fahrt ist ihr gemeinsames Werk und
das Ziel jedes der Seeleute. So ist denn auch bei den Bürgern, obschon
sie untereinander verschieden sind, die Erhaltung der Gemeinschaft
ihr gemeinsames Werk, und diese Gemeinschaft ist eben die
Staatsverfassung. Also muß die Tugend des Bürgers an der
Staatsverfassung orientiert sein. Da es aber mehrere Formen der
Staatsverfassung gibt, so kann offenbar die Tugend des tüchtigen
Bürgers nicht eine einzige und nicht die vollkommene Tugend sein.
Der tüchtige Mann dagegen besitzt eine einzige, und zwar die
vollkommene Tugend. Es ist also klar, daß man ein tüchtiger Bürger
sein kann, ohne die Tugend des tüchtigen Mannes zu besitzen.
Man kann die Frage auch anders stellen und dieselbe Untersuchung im
Blick auf die vollkommene Staatsverfassung führen. Wenn nämlich
der Staat unmöglich aus lauter vollkommenen Menschen bestehen
kann, und dennoch jeder das ihm eigentümliche Werk gut erfüllen
muß, und dies von der Tugend herkommt, und wenn es unmöglich ist,
daß alle Bürger von gleicher Art sind, so wird vermutlich die Tugend
des Bürgers und des vollkommenen Mannes nicht dieselbe sein
können. Denn die Tugend des tüchtigen Bürgers müssen alle besitzen
(nur so wird der Staat zum besten Staate); daß sie diejenige des
schlechthin tugendhaften Mannes haben, ist hingegen unmöglich, es

VI
Aristoteles Politik - III. Buch

wäre denn notwendig, daß alle Bürger des besten Staates auch
vollkommen gut seien.
Ferner: da der Staat aus ungleichen Teilen besteht, wie schon das
Lebewesen aus Seele und Leib, und die Seele aus Vernunft und
Streben, und das Haus aus Mann und Frau und Herrn und Sklaven: auf
dieselbe Weise besteht auch ein Staat aus allen diesen Gliedern und
dazu noch aus andern, wieder andersartigen Teilen. So kann denn auch
die Tugend aller Staatsbürger nicht eine und dieselbe sein, wie auch
im Chor die Leistung des Chorführers und des Statisten nicht dieselbe
ist.
Daß sie also im ganzen gesehen nicht dieselbe ist, ergibt sich aus dem
Gesagten. Aber vielleicht ist in einem bestimmten Punkte die Tugend
des vollkommenen Bürgers und des vollkommenen Menschen doch
dieselbe? Wir meinen allerdings, daß der vollkommene Regent gut
und einsichtig sein soll; der Bürger dagegen braucht nicht notwendig
einsichtig zu sein. Außerdem sagen einige, daß von vornherein die
Erziehung des Regenten eine andere sein müsse, wie denn auch die
Söhne der Könige bekanntlich in Reiten und Kriegführung erzogen
werden, und wie Euripides sagt: »Nicht mir das Spitzfindige, sondern
was die Stadt braucht«, als ob es also eine besondere Erziehung für
den Regenten gäbe.
Wenn aber die Tugend des vollkommenen Regenten und des
vollkommenen Mannes dieselbe ist, zu den Bürgern aber auch [der
Regent wie] der Regierte gehört, so wird die Tugend des Bürgers und
des Mannes nicht schlechthin dieselbe sein, wohl aber die eines
bestimmten Bürgers. Denn die Tugend des Regenten und des Bürgers
überhaupt ist nicht dieselbe, und darum hat wohl Iason gesagt, er
müßte hungern, wenn er nicht Tyrann wäre, da er es nicht verstünde,
Privatmann zu sein.
Aber es ist löblich, wenn man ebenso zu regieren wie regiert zu
werden versteht, und es scheint in gewisser Weise die Tugend des
Bürgers zu sein, gut zu regieren und gut regiert werden zu können.
Wenn wir jedoch die Tugend des vollkommenen Mannes als eine nur
regierende auffassen, und die des Bürgers als eine des Regierens und

VII
Aristoteles Politik - III. Buch

Regiertwerdens, so werden nicht beide auf dieselbe Weise lobenswert


sein.
Da es also zuweilen scheint, als handle es sich um verschiedene Dinge
und als müßten der Regent und der Regierte nicht dasselbe lernen, der
Bürger aber beides verstehen und an beidem teilhaben, so wird man
das Richtige aus folgendem entnehmen. Es gibt eine despotische
Herrschaft. Diese betrifft die für das Leben notwendigen
Verrichtungen, die der Regent nicht selbst ausführen zu können,
sondern eher nur zu benutzen braucht. Denn das andere wäre
sklavisch, ich meine, wenn er selbst die Pflichten eines Sklaven zu
erfüllen vermöchte.
Es gibt nun verschiedene Arten von Sklaven; denn die Arbeiten sind
verschieden. Einen Teil bilden die Arbeiter der Hand; das sind jene,
wie auch ihr Name anzeigt, die von ihren Händen leben, und zu ihnen
gehört auch der gewöhnliche Handwerker. Darum hatten früher auch
bei einigen die Handwerker überhaupt nicht teil an der Regierung,
bevor nämlich die extreme Demokratie eintrat.
Die Arbeiten der in diesem Sinne Regierten braucht weder der gute
Staatsmann noch der gute Bürger kennen zu lernen, außer für den Fall
der Not zum eigenen Gebrauche. Denn sonst wäre nicht mehr der eine
Herr, der andere Sklave.
Aber es gibt auch eine Herrschaft, in der man über Gleichartige und
Freie regiert. Diese nennen wir die politische Herrschaft. Sie muß der
Regent lernen dadurch, daß er regiert wird: Reiterführer wird er,
indem er als Reiter dient, Feldherr, indem er als Soldat dient, und
ebenso Taxiarch und Lochage. Darum wird auch mit Recht gesagt,
daß keiner gut regieren
kann, der nicht sich gut hat regieren lassen. Hier handelt es sich um
verschiedene Tugenden; der gute Bürger aber muß sich sowohl
regieren lassen, wie auch regieren können, und dies ist die Tugend des
Bürgers: die Regierung von Freien in beiden Richtungen zu verstehen.
Beides gehört nun in der Tat auch zum vollkommenen Manne, auch
wenn die Besonnenheit und die Gerechtigkeit des Regenten eine
besondere ist. Denn offensichtlich ist die Tugend dessen, der regiert
wird, aber frei ist, nicht einfach diejenige des Tugendhaften, etwa als

VIII
Aristoteles Politik - III. Buch

Gerechtigkeit, sondern sie ist ausdifferenziert, sofern der eine regiert


und der andere regiert wird, wie ja auch die Besonnenheit des Mannes
und diejenige der Frau eine andere ist (ein Mann würde feige wirken,
wenn er in dem Sinne tapfer wäre, wie es die Frau ist, und umgekehrt
eine Frau geschwätzig, wenn sie in dem Sinne zurückhaltend ist, wie
es ein tüchtiger Mann sein soll. So ist auch die Aufgabe im Haushalt
für Mann und Frau verschieden: der eine erwirbt, der andere
verwaltet). Die Einsicht scheint dem Regierenden allein eigentümlich
zu sein. Denn die andern Tugenden sind doch wohl notwendigerweise
den Regierenden und den Regierten gemeinsam; doch der Regierte hat
als Tugend nicht die Einsicht, sondern das richtige Meinen. Denn der
Regierte ist wie ein Flötenfabrikant, der Regierende ist aber der
Flötenspieler, der das Instrument anwendet.
Ob nun also die Tugend des vollkommenen Mannes und die des
tüchtigen Bürgers dieselbe oder eine andere ist, und inwiefern dieselbe
und inwiefern eine andere, ist damit festgestellt.

5 . Doch in bezug auf den Bürger bleiben noch einige Fragen offen.
Soll man nämlich als Bürger im wahren Sinne nur bezeichnen, wer
regimentsfähig ist, oder zählen auch die Banausen zu den Bürgern?
Wenn man nämlich auch diese dazu nimmt, die nicht regimentsfähig
sind, so ist es nicht möglich, daß jeder Bürger die Tugend besitzt, von
der wir sprachen; denn dann sind auch andere Bürger. Wenn aber
keiner von denen als Bürger gelten soll, wohin soll man sie dann
rechnen? Denn sie sind doch weder ansässige Ausländer, noch
überhaupt Fremde. Oder kommen wir auf diese Weise dennoch zu
einem durchaus annehmbaren Zustand? Denn auch die Sklaven
gehören ja zu keiner der genannten Kategorien und ebenso die
Freigelassenen.
Wahr ist auf alle Fälle, daß man nicht jeden als Bürger bezeichnen
soll, ohne den der Staat keinen Bestand hat; denn auch die Kinder
gehören zu diesen, aber anders als die Männer: die einen sind Bürger
schlechthin, die andern nur voraussetzungsweise. Sie sind Bürger,
aber noch unvollkommen.

IX
Aristoteles Politik - III. Buch

In alten Zeiten waren in einigen Staaten die Banausen einfach Sklaven


oder Ausländer; das ist ja auch heute noch meistens der Fall. Der
vollkommene Staat wird jedenfalls keinen Banausen zum Bürger
machen. Sollte er indessen doch Bürger sein, dann gehört offenbar
jene Tugend des Bürgers, von der wir redeten, nicht allen, und nicht
den Freien schlechthin, sondern nur jenen, die von der Arbeit für die
Notdurft des Lebens befreit sind. Wer sich aber mit der Notdurft plagt,
der ist entweder Sklave eines Einzelnen oder arbeitet für die Ge-
meinschaft und heißt dann Banause und Tagelöhner.
Wenn wir ein bißchen näher zusehen, erkennen wir, wie es mit ihnen
steht. Denn die Sache selbst macht das Gesagte klar. Da es nämlich
mehrere Staatsformen gibt, so muß es auch mehrere Arten von
Bürgern geben und vor allem von Regierten; so kann in dem einen
Staat der Banause mit Notwendigkeit Bürger sein und ebenso der
Tagelöhner, in einem andern ist es ausgeschlossen, etwa in der
sogenannten Aristokratie, in welcher die Ämter nach Tugend und
Verdienst verteilt werden. Denn wer das Leben eines Banausen oder
Tagelöhners führt, hat keine Möglichkeit, sich um die Tugend zu
bekümmern. In den Oligarchien wiederum kann der Tagelöhner kein
Bürger sein, da die Regimentsfähigkeit an eine hohe Steuerklasse
gebunden ist, aber der Banause kann es; denn die meisten Handwerker
sind reich.
In Theben gab es ein Gesetz, daß erst an der Regierung teilhaben
durfte, wer sich während zehn Jahren von den Marktgeschäften
ferngehalten hatte. In vielen Verfassungen berücksichtigt das Gesetz
teilweise auch die Ausländer; so gilt man in einigen Demokratien als
Bürger, wenn nur die Mutter Bürgerin ist, und ähnlich verhält es sich
vielfach mit den unebenbürtigen Kindern. Man macht auch aus
Mangel an Vollbürgern vielfach solche Leute zu Bürgern (wegen
Menschenmangels wenden sie die Gesetze in diesem Sinne an); sind
aber genügend Menschen vorhanden, schalten sie zuerst die
Nachkommen von Sklaven oder Sklavinnen aus, dann jene von
ausländischen Vätern und lassen zum Schlusse nur jene als Bürger
gelten, die beidseits von Bürgern abstammen.

X
Aristoteles Politik - III. Buch

Daß es also viele Typen von Bürgern gibt, ist aus dem Gesagten klar,
ebenso, daß derjenige vorzugsweise Bürger heißt, der an den Ämtern
teilnimmt; so spricht Homer von einem »ämterlosen Fremden«, da
derjenige, der nicht regimentsfähig ist, wie ein Ausländer wirkt. Aber
wo dergleichen nicht klar zum Ausdruck kommt, so geschieht es, um
die Gemeinschaft zu betrügen.
Ob also die Tugend, die einen zum vollkommenen Manne und zum
tüchtigen Bürger macht, eine verschiedene oder dieselbe ist, ergibt
sich aus dem Dargelegten. In einigen Staaten ist sie dieselbe, in andern
nicht, und dort handelt es sich nicht um jedermann, sondern um den
Staatsmann und denjenigen, der regiert oder zu regieren und für die
Gemeinschaft zu sorgen fähig ist, sei es als einzelner oder mit andern
zusammen.

6. Nachdem dies geklärt ist, haben wir nun zu prüfen, ob man eine
Staatsform oder mehrere ansetzen soll, und wenn mehrere, welche und
wie viele, und welches ihre Unterschiede sind.
Eine Verfassung ist eine Ordnung des Staates hinsichtlich der
verschiedenen Ämter und vor allem des wichtigsten von allen. Das
wichtigste ist überall die Regierung des Staates, und diese Regierung
repräsentiert eben die Verfassung. Ich meine es so: in der Demokratie
regiert das Volk, in der Oligarchie umgekehrt die Wenigen, und so
kennen wir auch noch andere Staatsformen. Dasselbe gilt auch vom
übrigen.
Wir müssen zuerst als Voraussetzung feststellen, um welchen
Zweckes willen der Staat entstanden ist, und wie viele Formen der
Regierung es gibt im Hinblick auf den Menschen und die
Lebensgemeinschaft.
Es wurde in den einleitenden Untersuchungen, in welchen wir über die
Hausverwaltung und die Herrschaft über die Sklaven sprachen, auch
gesagt, daß der Mensch von Natur auf die staatliche Gemeinschaft hin
angelegt ist. Darum wünschen die Menschen beisammenzuleben, auch
ohne daß sie voneinander Hilfe erhoffen. Außerdem führt sie auch der
gemeinsame Nutzen zusammen, so weit eben ein jeder an einem
würdigen Leben Anteil besitzt.

XI
Aristoteles Politik - III. Buch

Dies ist das oberste Ziel, für das Ganze wie für den Einzelnen. Die
Menschen treten aber auch einfach um des Lebens willen zusammen
und bilden eine staatliche Gemeinschaft. Und vielleicht gibt es ein
Element der Würde auch im bloßen Leben allein, wenn die täglichen
Beschwerlichkeiten nicht garzu sehr überwiegen. Denn offenbar
halten die meisten Menschen viele Widerwärtigkeiten aus und
klammern sich an das Leben, da dieses eine gewisse Erfreulichkeit
und natürliche Süßigkeit in sich hat.
Man kann nun leicht die genannten Arten von Regierung
auseinanderhalten. Schon in den publizierten Schriften haben wir
vielfach davon geredet. Die Despotie etwa regiert (obschon der
Wirklichkeit nach der Nutzen dessen, der von Natur Herr ist, und der
Nutzen dessen, der von Natur Sklave ist, einer und derselbe ist)
vorzugsweise zum Nutzen des Herrn und nur beiläufig zu demjenigen
des Sklaven, sofern nämlich die Despotie nicht aufrecht erhalten
werden kann, wenn der Sklave zugrunde geht. Dagegen vollzieht sich
die Herrschaft über die Kinder, die Frau und das ganze Haus, die wir
die Hausverwaltung nennen, entweder dem Beherrschten zum Nutzen,
oder zum gemeinsamen Nutzen beider, an sich aber für den
Beherrschten, wie wir das auch bei den andern Künsten sehen, etwa
der Medizin und der Gymnastik, die nur nebenbei dem Künstler selbst
zugute kommen. Denn der Turnlehrer kann natürlich zuweilen selbst
auch unter den Turnenden sein, wie der Steuermann auch immer zu
den Mitfahrenden gehört. Doch grundsätzlich achtet der Turnlehrer
oder der Steuermann auf das Wohl derer, die er regiert; sofern er aber
auch zu diesen zählt, nimmt er nebenbei auch an dem Nutzen teil.
Dann wird der eine zu einem der Mitfahrenden, der andere zu einem
der Turnenden, obschon er eigentlich der Turnlehrer ist. Darum achtet
man auch darauf, daß die Staatsämter, soweit sie auf der
Ebenbürtigkeit und Gleichheit der Bürger aufgebaut sind, immer
abwechselnd besetzt werden, so daß einer, wie es sich gehört, zuerst
der Gesamtheit dient und dann wieder seinen eigenen Nutzen
wahrnimmt, genauso wie er früher selbst als Regierender den Nutzen
der andern wahrgenommen hat. Gegenwärtig freilich blickt man nur
auf den Nutzen, den man persönlich aus der Gemeinschaft und den

XII
Aristoteles Politik - III. Buch

Ämtern ziehen kann; so will jeder dauernd die Ämter besetzen, als ob
die Regierenden dauernd gesund bleiben könnten, obschon auch sie
für Krankheiten anfällig sind; nur so hätten sie vielleicht das Recht,
immer den Ämtern nachzujagen.
Soweit also die Verfassungen das Gemeinwohl berücksichtigen, sind
sie im Hinblick auf das schlechthin Gerechte richtig; diejenigen aber,
die nur das Wohl der Regierenden im Auge haben, sind allesamt
verfehlt und weichen von den richtigen Verfassungen ab. Denn dann
sind sie despotisch; der Staat ist aber eine Gemeinschaft von Freien.

7. Nach dieser Feststellung haben wir zu untersuchen, wie viele


Staatsformen es gibt, und welche sie sind, und vor allem, welches die
richtigen sind. Denn kennt man diese, werden auch die verfehlten
sichtbar werden.
Da nun die Staatsverfassung und die Staatsregierung dasselbe meinen
und die Staatsregierung das ist, was den Staat beherrscht, so wird
dieses Beherrschende Eines oder Einige oder die Mehrheit sein
müssen. Wenn nun der Eine oder die Einigen oder die Vielen im
Hinblick auf das Gemeinwohl regieren, dann sind dies
notwendigerweise richtige Staatsformen, verfehlte aber jene, wo nur
der eigene Nutzen des Einen, der Einigen oder der Vielen bezweckt
wird. Denn entweder dürfen diejenigen, die nicht am Nutzen
teilhaben, nicht Bürger genannt werden oder sie müssen als Bürger am
Nutzen teilhaben.
Wir nennen nun von den Monarchien jene, die auf das Gemeinwohl
schaut, das Königtum, von den Regierungen Einiger, also mehrerer als
Eines, die entsprechende die Aristokratie (entweder weil die Besten
regieren, oder weil sie zum Besten des Staates und der Gemeinschaft
regieren). Wenn aber die Menge zum allgemeinen Nutzen regiert, so
wird dies mit dem gemeinsamen Namen aller Verfassungen, nämlich
Politie benannt. Dies mit Recht: denn daß sich Einer oder Einige an
Tugend auszeichnen, ist wohl möglich, daß dagegen Viele in jeder
Tugend hervorragen, schwierig; am ehesten noch in der kriegerischen,
denn diese besitzt die Masse, und darum ist auch in einer solchen

XIII
Aristoteles Politik - III. Buch

Verfassung das kriegerische Element das maßgebende, und es haben


diejenigen an ihr teil, die Waffen tragen.
Verfehlte Formen im genannten Sinne sind für das Königtum die
Tyrannis, für die Aristokratie die Oligarchie und für die Politie die
Demokratie. Denn die Tyrannis ist eine Alleinherrschaft zum Nutzen
des Herrschers, die Oligarchie eine Herrschaft zum Nutzen der
Reichen und die Demokratie eine solche zum Nutzen der Armen.
Keine aber denkt an den gemeinsamen Nutzen aller.

8. Jede dieser Staatsformen sei nun noch etwas ausführlicher


behandelt. Denn da gibt es allerlei Fragen, und wer methodisch zu
forschen unternimmt und nicht nur zum Handeln drängt, wird diese
Fragen nicht übersehen und nichts beiseite lassen, sondern in jedem
einzelnen Fall die Wahrheit feststellen.
Die Tyrannis also ist, wie wir sagten, eine Alleinherrschaft, die
despotisch über die staatliche Gemeinschaft herrscht; die Oligarchie
besteht dann, wenn die Reichen die Verfassung in den Händen haben,
und die Demokratie umgekehrt, wenn nicht die Besitzenden, sondern
die Armen regieren.
Die erste Schwierigkeit erhebt sich bei der Einteilung. Wenn nämlich
die Mehrzahl reich wäre und den Staat regierte, so wäre das eine
Demokratie, insofern als dann die Menge regiert; und umgekehrt,
wenn die Armen an Zahl geringer wären als die Reichen, aber
dennoch stärker und Regenten des Staates, so müßte man, da in
diesem Falle eine Minderheit regierte, von einer Oligarchie reden. So
scheint also die Einteilung der Verfassungen nicht richtig zu sein.
Aber wenn man die Minderheit zugleich reich sein läßt und die
Mehrheit arm, und die Verfassungen dementsprechend benennt, so
daß Oligarchie wäre, in welcher die reiche Minderheit regiert, und
Demokratie, wo die arme Mehrheit herrscht, so ergibt dies eine zweite
Schwierigkeit.
Denn wie sollen wir dann die eben angeführten Staatswesen benennen,
in welchen die Reichen die Mehrheit und die Armen die Minderheit
bilden und die einen hier, die andern dort regieren, und es doch keine
andern Verfassungen außer den genannten gibt? Diese Überlegung

XIV
Aristoteles Politik - III. Buch

scheint zu zeigen, daß es zufällig ist, ob nun viele oder wenige


regieren, in den Oligarchien hier und den Demokratien dort; denn
überall sind die Wohlhabenden wenige und die Armen zahlreich, und
so werden denn auch die angegebenen Ursachen von Differenzen
faktisch keine Rolle spielen. Der Punkt, in dem sich Demokratie und
Oligarchie voneinander unterscheiden, ist Armut und Reichtum. Wo
die Regierung auf dem Reichtum beruht, da handelt es sich
notwendigerweise um eine Oligarchie, mögen die Regierenden viele
oder wenige sein, wo aber die Armen regieren, da ist es eine
Demokratie, und es ist, wie wir sagten, eine Nebensache, daß die
einen zahlreich und die andern wenige sind. Denn am Reichtum haben
nur wenige einen Teil, aber an der Freiheit alle, und aus diesem
Grunde nehmen beide Parteien die Verfassungsmäßigkeit für sich in
Anspruch.

9. Zuerst gilt es, die Theorien der Oligarchie und Demokratie und die
Gerechtigkeit im oligarchischen und im demokratischen Sinne richtig
zu beschreiben. Denn alle haben es mit irgendeiner Gerechtigkeit zu
tun, aber nur bis zu einem
gewissen Grade und nicht mit der ganzen und eigentlichen
Gerechtigkeit. So scheint etwa die Gleichheit gerecht zu sein, und sie
ist es auch, aber nicht unter allen, sondern nur unter den Ebenbürtigen.
Und ebenso scheint die Ungleichheit gerecht zu sein, und ist es auch,
aber unter den Unebenbürtigen. Wird diese Beziehung weggelassen,
so kommt es zu einer falschen Auffassung. Ursache ist, daß man darin
über sich selbst urteilt; und fast alle Leute urteilen schlecht in ihren
eigenen Angelegenheiten.
Da also die Gerechtigkeit ihrem Wesen nach eine Beziehung darstellt,
und zwar in derselben Weise eine Beziehung auf Sachen und auf
Menschen, wie früher in der Ethik gesagt wurde, so geben die Leute
zwar die Gleichheit in den Sachen zu, streiten aber hinsichtlich der
Menschen, vor allem aus dem eben genannten Grunde, weil sie über
sich selbst falsch urteilen, und dann, weil beide Parteien bis zu einem
gewissen Grade recht haben und darum glauben, sie verträten die
Gerechtigkeit überhaupt. So meinen die einen, wenn sie in einem

XV
Aristoteles Politik - III. Buch

Punkte, nämlich im Vermögen ungleich seien, so seien sie überhaupt


ungleich, die andern, wenn sie in einem Punkt, nämlich der Freiheit
gleich sind, so seien sie überhaupt gleich.
Das Entscheidende aber sagen sie nicht. Wenn sie nämlich um des
Besitzes willen zu ihrer Gemeinschaft zusammengetreten wären, so
würden sie am Staate nur soweit teilnehmen, als sie am Besitze
teilnehmen. Dann würde die Auffassung der Oligarchen recht
behalten, die erklärt, es sei nicht recht, daß derjenige, der von hundert
Minen nur eine beigesteuert habe, demjenigen, der alles übrige
gegeben habe, sei es an Kapital oder an Zinsen, gleichgestellt sei.
Wenn man aber nicht bloß um des Lebens, sondern um des edlen
Lebens willen beisammen ist (denn sonst gehörten auch Sklaven und
andere Lebewesen zum Staate; dies trifft aber nicht zu, da diese weder
an der Glückseligkeit, noch an einem Leben auf Grund freier
Entscheidung beteiligt sind), und auch nicht nur um des Beistands
willen, um von niemandem unterdrückt zu werden, und auch nicht
wegen des gegenseitigen Handelsverkehrs und Nutzens voneinander -
- denn sonst müßten die Tyrrhener und Karthager und alle Völker, die
Handelsverträge miteinander haben, gewissermaßen Bürger eines
einzigen Staates sein. Sie haben bekanntlich Abmachungen über die
Importe und Verträge, einander nicht zu schädigen, und Urkunden
über militärischen Beistand. Aber die
Regierungen sind durchaus nicht in allen diesen Staaten dieselben,
sondern bei jedem eine andere, noch kümmert sich der eine um die
Eigenschaften, die der andere haben muß, oder darum, daß der andere
Vertragspartner nicht ungerecht wird und keiner Schlechtigkeit
verfällt, sondern ausschließlich darum, daß sie einander gegenseitig
keinen Schaden antun.
An die politische Tugend und Schlechtigkeit denken nur jene, die sich
um gute Gesetze kümmern. Und in der Tat muß ein Staat, der in
Wahrheit und nicht bloß dem Namen nach ein Staat ist, sich um die
Tugend kümmern. Denn sonst wäre die Gemeinschaft ein bloßer
Beistandsvertrag, der sich von den andern solchen Verträgen (die weit
voneinander getrennte Staaten verbinden) nur durch die räumlichen
Verhältnisse unterschiede, und das Gesetz würde eine bloße

XVI
Aristoteles Politik - III. Buch

Abmachung und, wie der Sophist Lykophron sagte, ein gegenseitiger


Bürge der Gerechtigkeit, aber nicht in der Lage, die Bürger tugendhaft
und gerecht zu machen. Daß es sich so verhält, ist klar. Denn wenn
einer die Orte konzentrierte, so daß die Städte der Megarer und
Korinther sich mit ihren Mauern berührten, so entstünde daraus doch
nicht Ein Staat; auch nicht, wenn sie Ehegemeinschaft miteinander
vereinbarten, obschon dies eine dem Staate eigentümliche
Gemeinschaftsform ist; auch nicht, wenn die Leute in einiger Distanz
voneinander wohnten, aber doch so nahe, daß sie miteinander
verkehren könnten und Abmachungen hätten, einander im
Warenaustausch nicht zu betrügen : wenn also der eine ein Schreiner
wäre, der andere ein Bauer, der dritte ein Schuster usw. und sie der
Zahl nach zehntausend wären, aber in nichts anderm eine
Gemeinschaft hätten als eben in Handelsabmachungen und
Beistandsverträgen, so wäre dies doch noch kein Staat. Warum? Nicht
weil die Gemeinschaft nicht eng genug ist. Denn auch wenn sie in
solcher Gemeinschaft ganz nahe beisammen lebten (während jeder
sein eigenes Haus wie seinen Staat behandelte), und sie eine
Bundesgenossenschaft besäßen gegen die Angriffe dritter, so wird
auch dies für den, der es genau nimmt, nicht als ein Staat gelten
können, da sie ja am gemeinsamen Orte so verkehren, als wären sie
getrennt.
Offensichtlich ist also der Staat nicht bloß eine Gemeinschaft des
Ortes und um einander nicht zu schädigen und um des Handels willen.
Sondern dies sind nur notwendige Voraussetzungen, wenn es einen
Staat geben soll; aber auch wenn all das vorhanden ist, ist noch kein
Staat vorhanden, sondern dieser beruht auf der Gemeinschaft des
edlen Lebens in Häusern und Familien um eines vollkommenen und
selbständigen Lebens willen.
Freilich kann dies nicht zustande kommen, wo man nicht an
demselben Orte wohnt und keine Ehegemeinschaft hat. Und so gibt es
in den Staaten Verschwägerungen und Brüderschaften und Opferfeste
und Formen des geselligen Lebens. Das ist das Werk der
Freundschaft. Denn der Wille, zusammenzuleben, ist Freundschaft.

XVII
Aristoteles Politik - III. Buch

Ziel des Staates ist also das edle Leben, und jenes andere ist um dieses
Zieles willen da. Und der Staat ist die Gemeinschaft der Geschlechter
und Dorfgemeinden um des vollkommenen und selbständigen Lebens
willen. Dieses endlich ist, wie wir betonen, das glückselige und edle
Leben. Man muß also die politischen Gemeinschaften auf die edlen
Handlungen hin einrichten und nicht bloß auf das Beisammenleben.
Wer darum zu einer solchen Gemeinschaft am meisten beiträgt, der
hat auch einen größern Anteil an dem Staate als jene, die an Freiheit
und Abkunft gleich oder sogar überlegen sind, aber an politischer
Tugend weniger besitzen, oder jene, die an Reichtum hervorragen, an
Tugend aber zurückstehen. Offensichtlich haben also jene, die über
die Verfassungsformen diskutieren, nur einen Teil der Gerechtigkeit
im Auge.

10. Gefragt wird nun, was das Entscheidende im Staate sein soll: die
Menge, die Reichen, die Anständigen, der Eine, der der beste von
allen wäre, oder der Tyrann? All das scheint Schwierigkeiten zu
haben. Denn wenn die Armen zufolge ihrer Mehrzahl den Besitz der
Reichen aufteilen, ist dies nicht ungerecht? Und doch schien es dem
entscheidenden Teile in der Tat gerecht. Wie soll man dann die
äußerste Ungerechtigkeit bezeichnen? Wenn man noch einmal alles
nimmt und die Mehrzahl noch einmal das Vermögen der Minderzahl
aufteilt, so werden sie den Staat offensichtlich zugrunde richten. Aber
die Tugend kann nicht den zerstören, der sie besitzt, und die
Gerechtigkeit kann nicht einen Staat ruinieren. Also kann
augenscheinlich eine solche Regelung nicht gerecht sein.
Außerdem müßten dann auch die Handlungen des Tyrannen alle
gerecht sein, da er sich als der Stärkere mit Gewalt durchsetzt, so wie
die Menge den Reichen gegenüber.
Sollen also die Minderzahl und die Reichen gerechterweise regieren?
Wenn nun jene dasselbe tun, rauben und der Menge den Besitz
wegnehmen, ist das gerecht? Dann wäre es auchdas erste. Daß also all
das schlecht und ungerecht ist, ist offenkundig.
Demnach sollen die Anständigen regieren und Herren über alles sein?
Dann müssen alle andern ehrlos sein und von der Ehre der politischen

XVIII
Aristoteles Politik - III. Buch

Ämter ausgeschlossen bleiben. Solche Ämter nennen wir ja Ehren,


und wenn sie immer von denselben besetzt werden, so sind die andern
eben ehrlos. Oder soll der eine, der der Beste ist, regieren? Doch dies
ist noch oligarchischer, weil dann die Zahl der Ehrlosen noch größer
wird. Aber vielleicht wird man sagen, es sei überhaupt verkehrt, daß
ein Mensch regiere und nicht das Gesetz, da ja der Mensch den
seelischen Affekten unterliege. Aber wenn nun ein Gesetz herrschte,
ein demokratisches oder ein oligarchisches, was würde dies an der
Frage ändern? Das vorhin Geschilderte würde auch da zutreffen.

11. Vom übrigen sei nun an anderer Stelle die Rede. Daß aber die
Entscheidung eher bei der Menge als bei der geringen Zahl der Besten
zu liegen habe, das scheint zu bestehen und sich verteidigen zu lassen,
ja vielleicht sogar wahr zu sein. Denn die Menge, von der der einzelne
kein tüchtiger Mann ist, scheint doch in ihrer Gesamtheit besser sein
zu können als jene Besten; nicht jeder Einzelne für sich, sondern die
Gesamtheit, so wie die Speisungen, zu denen viele beigetragen haben,
besser sein können als jene, die ein Einzelner veranstaltet. Denn es
sind viele, und jeder hat einen Teil an Tugend und Einsicht. Wenn sie
zusammenkommen, so wird die Menge wie ein einziger Mensch, der
viele Füße, Hände und Wahrnehmungsorgane hat und ebenso, was den
Charakter und den Intellekt betrifft. So beurteilt auch die Menge die
Werke der Musik und der Dichter besser; der eine beurteilt diese, der
andere jene Seite, und so urteilen alle über das Ganze. Aber es
unterscheiden sich die tüchtigen Männer von jedem einzelnen aus der
Menge ebenso, wie man sagt, daß sich die schönen Menschen von den
unschönen unterscheiden und das künstlerisch Gezeichnete vom
Wirklichen, daß nämlich das in Wirklichkeit zerstreut Vorhandene auf
Eines konzentriert wird, wobei beim zerstreut Vorhandenen hier das
Auge und dort ein anderer Körperteil schöner sein kann als beim
Gezeichneten.
Ob nun bei jedem Volke und jeder Menge dieser Unterschied der
Vielen gegenüber den wenigen Edlen besteht, ist unklar; oder
vielmehr ist es sehr klar, daß das einigen Völkern unmöglich ist;
dieselbe Überlegung könnte man auch bei den Tieren anstellen – und

XIX
Aristoteles Politik - III. Buch

einige Völker unterscheiden sich sozusagen gar nicht von den Tieren.
Aber in bestimmten Fällen kann das Gesagte wohl richtig sein.
Damit kann man die gestellte wie auch eine anschließende Frage
beantworten, worüber nämlich die Freien und die Menge der Bürger
zu entscheiden haben sollen; wir meinen damit diejenigen, die sich
weder an Reichtum noch an irgendeiner Tugend auszeichnen. Daß sie
an den höchsten Ämtern teilnehmen sollen, ist gefährlich – denn
wegen ihrer Ungerechtigkeit und Torheit werden sie hier Unrecht, dort
Fehler begehen. Ihnen aber überhaupt keinen Anteil zu geben und sie
auszuschließen, ist noch bedenklicher. Denn wenn die Zahl der
Ehrlosen und der Armen sehr groß ist, so wird dieser Staat
zwangsläufig voll von Feinden sein. Es bleibt also nur übrig, sie am
Beraten und Entscheiden teilnehmen zu lassen.
So übertragen ihnen Solon und einige andere Gesetzgeber die Wahl
der Beamten und deren Rechenschaftsabnahme, aber selbständig
regieren lassen sie sie nicht. Denn wenn sie alle zusammenkommen,
haben sie genügend Verstand, und wenn sie mit Besseren zusammen
sind, so nützen sie dem Staate, so wie die unreine Nahrung, wenn sie
der reinen beigemischt wird, das Ganze nahrhafter macht, als wenn es
nur wenig wäre. Für sich allein ist aber der Einzelne unfähig zu
entscheiden.
Diese Verfassungsordnung hat allerdings eine erste Schwierigkeit, daß
nämlich doch wohl derjenige, der beurteilen kann, wer ein guter Arzt
ist, und der, der selbst Arzt ist und den Kranken von der vorliegenden
Krankheit heilen kann, derselbe Mann sein dürfte. Das ist eben der
Arzt. Dasselbe gilt von den andern Fertigkeiten und Künsten. Wie sich
ein Arzt vor Ärzten rechtfertigen soll, so auch die andern vor ihren
Fachgenossen. Arzt ist aber erstens der Ausübende, zweitens der
Anordnende und drittens der in der Kunst Gebildete; denn solche gibt
es in fast allen Künsten. Das Urteil trauen wir dem so Gebildeten
ebenso zu wie dem Fachmann.
Dasselbe gilt wohl auch für die Wahl. Denn recht zu wählen ist Sache
der Fachleute: die Geometer wählen einen Geometer und die
Steuerleute einen Steuermann. Mögen auch Laien etwas von einzelnen
Arbeiten und Künsten verstehen, so doch sicher nicht mehr als die

XX
Aristoteles Politik - III. Buch

Fachleute. So sollte man also die Menge weder in den


Beamtenwahlen, noch in den Rechenschaftsabnahmen entscheiden
lassen.
Aber vielleicht ist dies nicht alles richtig, erstens wegen der früheren
Erwägung, vorausgesetzt, daß die Menge nicht gar zu sklavenartig ist
(denn jeder einzelne ist als Richter schlechter als der Fachmann, alle
zusammengenommen aber sind sie besser oder doch nicht schlechter);
außerdem urteilt wohl nicht immer der Verfertiger allein und am
besten, nämlich dort, wo auch Nichtfachleute die Leistungen
beurteilen können: ein Haus kann nicht nur der Baumeister beurteilen,
sondern noch besser der, der in ihm zu wohnen hat, also der Hausherr;
ein Steuerruder beurteilt der Steuermann besser als der Schreiner und
»ein Essen der Gast besser als der Koch«. Doch diese Schwierigkeit
wird man wohl leicht lösen können.
Eine andere schließt sich an. Es scheint nämlich unsinnig, daß die
Gemeinen über Wichtigeres entscheiden sollen als die Anständigen;
zum Wichtigsten gehören die Wahlen und Rechenschaftsablagen der
Beamten. In einigen Staaten werden sie, wie gesagt, dem Volke
überlassen. Da ist die Volksversammlung die oberste Instanz in allen
diesen Dingen. Aber an den Volksversammlungen nehmen als
Mitberatende und Richtende auch Leute teil mit den kleinsten
Einkommen und jeden Alters, dagegen sind die Angehörigen der
hohen Steuerklassen Finanzbeamte, Feldherren und Träger der
höchsten Ämter.
Auch diese Frage wird sich gleich wie die vorige beantworten lassen.
Denn vielleicht ist es so richtig: nicht der einzelne Richter, der
Ratsherr oder das Mitglied der Volksversammlung ist die Behörde,
sondern das Gericht, der Rat und das Volk, und davon ist jeder der
Genannten bloß ein Teil; ich meine den Ratsherrn, Richter und das
Mitglied der Volksversammlung. So ist mit Recht die Menge Herr
über die bedeutenden Entscheidungen. Denn aus einer Vielheit setzt
sich das Volk, der Rat und das Gericht zusammen. Und die Steuerkraft
aller dieser zusammen ist größer als die jener Einzelnen, die nur als
wenige die hohen Amtsstellen innehaben. Dies sei also in diesem
Sinne festgestellt.

XXI
Aristoteles Politik - III. Buch

Die erstgenannte Frage aber zeigt mit besonderer Klarheit, daß


entscheidend die richtig formulierten Gesetze sein sollen, daß aber der
Beamte, mag er einer sein oder mehrere, darin maßgebend wird, wo
die Gesetze nichts Genaues festlegen können, weil man nicht leicht
allgemein über alle Fälle Bestimmungen treffen kann.
Wie diese richtig formulierten Gesetze aussehen sollen, ist allerdings
noch nicht klar, sondern es bleibt das frühere Problem. Denn zugleich
mit den Verfassungen werden notwendigerweise auch die Gesetze
schlecht oder gut, gerecht oder ungerecht sein. Nur müssen
offensichtlich die Gesetze der Verfassung entsprechen. Dann ist auch
klar, daß die den richtigen Verfassungen entsprechenden Gesetze
gerecht und die den abweichenden Verfassungen entsprechenden nicht
gerecht sein werden.

12. Da nun in allen Wissenschaften und Künsten das Gute das Ziel ist,
so gilt dies am meisten und vor allem in der wichtigsten von allen,
nämlich der Kunst des Staatsmannes. Das politische Gute ist das
Gerechte, und dieses ist das, was der Allgemeinheit zuträglich ist. Das
Gerechte scheint nun Gleichheit für alle zu sein, und bis zu einem
gewissen Grade stimmt dies mit den philosophischen Erwägungen der
Ethik überein. Denn diese stellen fest, was und für wen etwas gerecht
sei, und daß Gleiche Gleiches erhalten sollen. Worin aber Gleichheit
und Ungleichheit zu bestehen haben, muß man auch wissen. Denn
auch dies ist eine Frage und bedarf staatsphilosophischer
Untersuchung.
Man könnte sagen, daß die Ämter je nach dem Vorrang in
irgendeinem Gute ungleich verteilt werden müßten, wenn auch im
übrigen keine Unterschiede bestünden, sondern alle gleich wären.
Denn wo überhaupt Unterschiede vorhanden sind, da ist auch die
Gerechtigkeit und die Würdigkeit eine andere. Wenn aber dies stimmt,
so müssen auch jene, die sich an Farbe, Größe und sonst einem Gute
auszeichnen, einen Überschuß an politischer Gerechtigkeit erfahren.
Oder liegt hier nicht der Fehler zutage? In den andern Wissenschaften
und Künsten ist es klar: wo Flötenspieler von gleichem Können
vorhanden sind, da wird man nicht etwa den Vornehmeren die

XXII
Aristoteles Politik - III. Buch

besseren Flöten geben. Denn sie werden darum nicht besser spielen.
Wer sich also in der Leistung auszeichnet, der soll auch das bessere
Werkzeug erhalten.
Wenn dies noch nicht deutlich genug ist, so wird es doch im weitern
Verlaufe klar werden. Wenn sich nämlich einer in der Flötenkunst
auszeichnet, aber an Vornehmheit oder Schönheit weit zurückbleibt,
so würde man doch, obschon die beiden Güter Vornehmheit und
Schönheit für sich höher stehen als die Flötenkunst, und im Verhältnis
höher über der Flötenkunst stehen als der Flötenspieler durch seine
Kunst über den andern, dem Flötenspieler die besseren Flöten gehen.
Denn der Vorrang in Adel und Reichtum müßte zur Leistung
beitragen, aber das tut er nicht.
Nach diesem Prinzip würde sonst jedes Gut mit jedem vergleichbar
sein, und wenn irgendeine Größe in Betracht zu ziehen wäre, so
könnte die Größe überhaupt mit dem Reichtum oder der Freiheit
rivalisieren. Wenn sich also der eine mehr durch Größe auszeichnete
als der andere durch Tugend, mag auch im ganzen die Tugend
hervorragender sein als die Größe, so wird dann doch alles
vergleichbar sein. Denn wenn eine Größe die andere übertrifft, so sind
sie offenbar vergleichbar. Da das unmöglich ist, so kann man auch im
Staate vernünftigerweise bei dem Kampf um die Ämter nicht auf jede
Art von Ungleichheit hinweisen (denn wenn die einen schnell, die
andern langsam sind, so dürfen doch nicht darum die einen mehr und
die andern weniger erhalten, sondern eine solche Differenz kommt nur
in den gymnischen Wettspielen zu Ehren). Man muß also vielmehr in
den Dingen wetteifern, die den Staat konstituieren, und so bewerben
sich vernünftigerweise die Edlen, Freien und Reichen um die Ämter.
Denn man muß frei sein und Steuern entrichten (nur aus Armen kann
ein Staat ebensowenig bestehen wie nur aus Sklaven), und wenn dies
notwendig ist, dann ist es auch die Gerechtigkeit und die kriegerische
Tugend. Denn ohne diese läßt sich ein Staat nicht behaupten : ohne
das frühere kann ein Staat überhaupt nicht sein, ohne das spätere kann
er nicht gut regiert werden.

XXIII
Aristoteles Politik - III. Buch

13. Im Hinblick auf die Existenz des Staates also wird man mit Recht
in alledem oder doch in einigem davon wetteifern, wo es sich aber um
das tugendhafte Leben handelt, so werden wohl mit dem größten
Rechte die Bildung und die Tugend im Wettbewerb stehen, wie schon
früher gesagt. Da aber nicht an allem den gleichen Anteil jene haben
dürfen, die nur in einem einzigen Punkte gleich sind, noch einen
ungleichen solche, die nur in einem Punkte ungleich sind, so müssen
also alle Verfassungen, in denen dies der Fall ist, Abweichungen sein.
Es ist aber schon vorhin gesagt worden, daß alle in gewisser Weise
mit Recht in Wettbewerb stehen, aber nicht schlechthin mit Recht. Die
Reichen führen an, daß ihnen der größte Teil des Landes gehört, und
dieses der Allgemeinheit zugute kommt; außerdem sind sie bei
Verträgen meist zuverlässiger. Die Freien und die Adligen wiederum
stehen einander nahe; denn die Edleren sind eher Bürger als die
Unedlen, und jeder ehrt in seinem Lande den Adel; außerdem darf
man vermuten, daß, wer von besseren Vorfahren abstammt, auch
selber besser ist; denn die Adligkeit ist die Tüchtigkeit der Familie.
Mit gleichem Rechte, werden wir sagen, tritt aber auch die Tugend in
den Wettstreit, denn die Gerechtigkeit ist die Tugend in der
Gemeinschaft, der alle andern folgen müssen. Ebenso streitet die
Mehrzahl gegen die Minderzahl, denn sie ist mächtiger, reicher und
besser, wenn man die Mehrzahl im ganzen mit der Minderzahl
vergleicht.
Wenn nun alle in demselben Staate wären, die Tüchtigen, die Reichen
und die Edlen und sonst noch eine Menge von Bürgern, wird man
dann schwanken, wer regieren soll oder nicht? Für jede der genannten
Staatsformen würde die Entscheidung darüber, welche regieren sollen,
unzweifelhaft sein (denn in der Frage nach der Regierung
unterscheiden sie sich, ob diese bei den Reichen oder bei den
Tüchtigen liegen soll usw.). Dennoch wollen wir prüfen, wie man
entscheiden wird, wo all das gleichzeitig beisammen ist. Wenn nun
diejenigen, die die Tugend besitzen, nur in ganz kleiner Zahl
vorhanden sind, wie soll man da entscheiden? Muß man das »in ganz
kleiner Zahl« in bezug auf ihre Aufgabe verstehen, ob sie nämlich den

XXIV
Aristoteles Politik - III. Buch

Staat regieren können, oder sollen es so viele sein, daß sie für sich
allein einen Staat bilden könnten?
Es gibt nun eine Frage bei allen, die sich um die politischen Ämter
bewerben. Jene, die wegen ihres Reichtums die Regierung
beanspruchen, und ebenso jene, die es wegen des Adels tun, könnten
damit etwas Ungerechtes verlangen; wenn nämlich etwa ein Einzelner
reicher wäre als alle andern, so wird nach demselben Prinzip dieser
Eine über alle andern regieren müssen, und ebenso der eine Adlige
über alle jene, die ihre Freigeborenheit geltend machen. Dasselbe
könnte vielleicht auch in der Aristokratie in bezug auf die Tugend
geschehen. Denn wenn ein Einzelner besser wäre als alle andern
Tüchtigen in dem Staate, so muß nach derselben Gerechtigkeit dieser
allein Herr sein. Endlich, wenn zwar die Menge regieren soll, weil sie
stärker ist als die Wenigen, und wenn dann dennoch einer oder
mehrere (mehr als einer, aber weniger als die Menge) stärker sind als
die übrigen, so müßten dann diese eher regieren als die Menge.
All das scheint zu zeigen, daß von diesen Bestimmungen keine richtig
ist, soweit man daraus das Recht ableitet, zu herrschen und alle andern
abhängig sein zu lassen. Auch gegenjene, die wegen ihrer Tüchtigkeit
beanspruchen, den Staat zu regieren, oder wegen des Reichtums,
könnte die Menge mit gewissem Recht Einspruch erheben. Denn
nichts hindert, daß die Menge zuweilen besser sei als die Wenigen und
Reichen, nicht als Einzelne, aber als Gesamtheit.
Darum kann man auch auf die Frage, die einige stellen und verfolgen,
in diesem Sinne antworten. Es wird nämlich gefragt, ob der
Gesetzgeber bei seiner Arbeit und im Bestreben, die richtigsten
Gesetze zu geben, auf den Nutzen der Besseren oder der Mehrzahl zu
achten hat, wenn die angegebene Situation vorliegt. Das »richtig« ist
da als »gleichmäßig« zu verstehen. Das gleichmäßig Richtige bezieht
sich auf den Nutzen des ganzen Staates und auf die Gemeinschaft der
Bürger. Bürger ist im allgemeinen der, der am Regieren und
Regiertwerden beteiligt ist, in jeder Verfassung ein anderer, in der
besten aber derjenige, der fähig und willens ist, zu regieren und sich
regieren zu lassen im Sinne des tugendgemäßen Lebens.

XXV
Aristoteles Politik - III. Buch

Wenn nun ein Einzelner oder Mehrere, die aber für sich doch nicht
einen ganzen Staat ausmachen können, sich in der Tugend so sehr
auszeichnen, daß die Tugend aller andern zusammen sich mit der
ihrigen nicht vergleichen läßt und auch nicht die politische Fähigkeit
mit derjenigen jener ersten, wenn es Mehrere sind, oder des Einen,
wenn es Einer ist, so darf man diese nicht mehr als einen Teil des
Staates auffassen. Denn es geschähe ihnen Unrecht, wenn sie andern
gleichgestellt würden, obschon sie an Tugend und an politischer
Fähigkeit dermaßen hervorragen. Ein solcher wird wohl wie ein Gott
unter den Menschen wirken müssen.
So wird sich offenbar auch die Gesetzgebung mit den an Herkunft und
Fähigkeit Gleichen zu befassen haben. Für die andern dagegen gibt es
kein Gesetz. Denn sie sind selber Gesetz, und wer versuchte, ihnen
Gesetze zu geben, würde sich lächerlich machen. Sie würden etwa
sagen, was Antisthenes die Löwen sagen ließ, als die Hasen
Volksversammlung hielten und für alle gleiches Recht verlangten. Aus
eben dieser Ursache haben auch die demokratischen Staaten den
Ostrakismos eingeführt. Denn sie scheinen von allen am meisten auf
Gleichheit Wert zu legen, so daß sie jene, die übermäßige Macht zu
haben schienen (durch Reichtum, viele Freunde oder einen sonstigen
politischen Einfluß), ostrakisierten und für bestimmte Zeiten aus dem
Staate entfernten. Aus derselben Ursache sollen auch
die Argonauten Herakles zurückgelassen haben. Denn er wollte nicht
mit den andern die Argo antreiben, da er viel schwerer wäre als die
Mitfahrenden. Darum tun doch wohl jene, die die Tyrannis und den
dem Thrasybul von Periander gegebenen Rat tadeln, dies nicht ohne
weiteres mit Recht (man sagt nämlich, Periander habe dem zu ihm um
einen Rat ausgesandten Herold kein Wort gesagt, sondern durch
Abhauen der hervorstehenden Ähren das Getreidefeld ausgeglichen.
Der Herold verstand den Sinn dieses Handelns nicht, habe es aber
gemeldet, Thrasybul dagegen begriff, daß er die hervorragenden
Männer beseitigen solle). Dies nützt nämlich nicht nur den Tyrannen,
und nicht nur die Tyrannen tun dies, sondern genauso auch die
Oligarchien und Demokratien. Denn der Ostrakismos hat in gewisser
Weise dieselbe Wirkung, die Hervorragenden zu unterdrücken und zu

XXVI
Aristoteles Politik - III. Buch

verbannen. Dasselbe machen auch die Machthaber in den Staaten und


Völkern, die Athener mit den Samiern, Chiern und Lesbiern (denn
sowie sie sich der Herrschaft über sie bemächtigt hatten, demütigten
sie sie gegen die Verträge), und der Perserkönig hat die Meder und
Babylonier und die andern, die stolz waren, weil sie selbst einmal
geherrscht hatten, oftmals niedergeschlagen.
Das Problem stellt sich für alle Verfassungen, auch die richtigen. Die
unrichtigen handeln so, indem sie auf das eigene Interesse schauen,
aber auch bei denen, die das Gemeinwohl im Auge haben, kommt es
zu derselben Situation. Das zeigt sich auch an den sonstigen Künsten
und Wissenschaften. Auch ein Maler wird nicht ein Lebewesen mit
einem ganz disproportioniert großen Fuße gelten lassen, selbst wenn
er noch so schön wäre, noch auch ein Schiffbaumeister den Schlußteil
oder sonst einen Teil des Schiffes, noch wird ein Chorleiter einen
Sänger, der stärker und schöner singt als der ganze Chor, in diesem
Chore mitsingen lassen.
Insofern können also die Alleinherrscher und die andern Staaten in
diesem Punkte durchaus dasselbe tun, wenn sie es wirklich so tun, daß
ihre eigene Herrschaft dem Nutzen des Staates dient. Soweit hat der
Gedanke des Ostrakismos bei offensichtlichen Überlegenheiten ein
gewisses politisches Recht. Es ist aber besser, daß der Gesetzgeber die
Verfassung von Anfang an so einrichtet, daß derartige Heilmittel über-
haupt nicht nötig werden. Der zweite Weg, wenn er doch notwendig
sein sollte, wäre, dies mit einer Korrektur zurechtzurichten. Dies ist
allerdings in den Staaten nicht geschehen.
Denn da schaute man nicht auf den Nutzen des eigenen Staates,
sondern verwendete den Ostrakismos als eine Waffe im Parteikampfe.
Und daß in den verfehlten Verfassungen diese Einrichtung dem
partikularen Nutzen dient und gerecht ist, ist klar, ebenso wohl auch,
daß sie dort nicht schlechthin gerecht heißen kann.
Im vollkommenen Staate besteht jedoch die große Schwierigkeit nicht
im Übermaß in den andern Gütern, wie dem Einfluß, dem Reichtum
und den Beziehungen, sondern darin, was geschehen soll, wenn einer
an Tüchtigkeit hervorragt. Man wird doch einen solchen nicht
verbannen und entfernen und noch weniger über einen solchen

XXVII
Aristoteles Politik - III. Buch

regieren wollen. Denn das wäre, als wollte man über Zeus regieren
und die Herrschaft reihum gehen lassen. Es bleibt also, was ja auch
das Natürliche scheint, daß alle einem solchen willig gehorchen, so
daß diese in ihren Staaten Könige auf Lebenszeit werden.

14. Es ist vielleicht zweckmäßig, nach diesen Untersuchungen


weiterzugehen und nach dem Königtum zu fragen. Denn dies war
doch eine der richtigen Verfassungen. Wir haben also zu prüfen, ob
die Königsherrschaft einem Staate und Lande, die gut verwaltet
werden sollen, zuträglich ist oder nicht, oder eher eine andere
Verfassung, oder ob sie hier zuträglich ist und dort nicht. Zuerst muß
man wissen, ob es nur eine oder mehrere verschiedene Arten des
Königtums gibt. Es ist freilich leicht zu erkennen, daß es mehrere
Arten umfaßt und die Weise des Regierens nicht überall dieselbe ist.
Das Königtum der spartanischen Verfassung scheint im höchsten
Grade gesetzmäßig zu sein; es ist aber nicht souverän, sondern der
König hat nur, wenn er außer Landes zieht, den Oberbefehl im Kriege;
außerdem sind die Kultverrichtungen den Königen vorbehalten. Ein
solches Königtum ist also wie ein selbständiges und lebenslängliches
Feldherrenamt. Der König hat keine Gewalt über das Leben, außer im
Falle der Feigheit vor dem Feinde, also wie bei den Alten im
Standrecht und »nach dem Gesetz der bewaffneten Hand«, wie dies
Homer zeigt. Denn in den Volksversammlungen mußte Agamemnon
es sich gefallen lassen, beschimpft zu werden, aber beim Ausmarsch
hatte er auch das Recht, töten zu lassen. Er sagt ja: »Wen ich aber fern
der Schlacht . . . dem wird es nichts nützen, den Hunden und Vögeln
zu entfliehen. Denn bei mir steht Leben und Tod.«
Dies ist also die eine Art des Königtums, lebenslängliches
Strategentum, und diese haben ihre Würde entweder ererbt oder durch
Wahl erhalten. Daneben gibt es eine andere Art der Alleinherrschaft,
wie bei einigen Barbarenvölkern, die Königtümer haben. Diese haben
alle eine tyrannenähnliche Macht, sind aber gesetzlich begründet und
ererbt. Denn da die Barbaren sklavischeren Charakters sind als die
Griechen, und die Asiaten eher als die Europäer, so ertragen sie eine
despotische Herrschaft, ohne sich aufzulehnen. Tyrannisch sind sie

XXVIII
Aristoteles Politik - III. Buch

also, aber beständig, weil sie ererbt und gesetzmäßig sind. Aus
demselben Grunde ist dort auch die Leibwache
königlich und nicht tyrannisch, denn die Bürger bewachen mit ihren
Waffen den König, bei den Tyrannen sind es aber Söldner; denn die
einen lassen sich durch Gesetze und freiwillig beherrschen, die andern
unfreiwillig. Also besorgen im einen Falle die Bürger den Schutz, im
andern die Söldner gegen die Bürger.
Dies sind also zwei Arten der Alleinherrschaft; eine dritte ist die, die
bei den alten Griechen bestand und die man Aisymneten nennt. Dies
ist, um es in einem Wort zu sagen, eine gewählte Tyrannis, und sie
unterscheidet sich von der barbarischen nicht dadurch, daß sie
gesetzlos, sondern nur dadurch, daß sie nicht erblich ist. Einige nun
hatten eine solche Herrschaft lebenslänglich, andere für bestimmte
Zeiten oder Aufgaben, so wie die Mytilenaier den Pittakos wählten
gegen die von Antimenides und dem Dichter Alkaios geführten
Verbannten. Daß sie den Pittakos zum Tyrannen wählten, zeigt
Alkaios in einem seiner Skolien, wo er den Vorwurf erhebt, »daß sie
den niedrig geborenen Pittakos zum Tyrannen bestellten über die feige
und gottverfluchte Stadt, einhellig mit lautem Jubel«. Solche
Herrschaften sind und waren tyrannisch, weil sie despotisch sind,
königlich dagegen, weil sie auf Wahl und auf freiem Willen beruhen.
Eine vierte Art königlicher Alleinherrschaft ist die der heroischen
Zeiten und beruhte auf Freiwilligkeit, Gesetz und Erbfolge. Denn da
jene die ersten Wohltäter der Menge wurden in Künsten oder im
Krieg, oder weil sie sie zusammenschlossen, oder Land beschafften,
so wurden sie freiwillig zu Königen erhoben, und ihr Amt durch
Weitergabe erblich. Sie waren Herren über die Führung im Krieg und
über die Opfer, soweit sie nicht den Priestern vorbehalten waren, und
sprachen außerdem Recht. Dies taten die einen auf Grund von
Schwüren. dieandern ohne Schwüre, und der Schwur bestand im
Emporheben des Zepters. Diese Könige der Vorzeit regierten
gleichzeitig die Angelegenheiten der Stadt, die des Volkes und die
auswärtigen Dinge. Später leisteten sie selbst auf einiges Verzicht,
anderes wurde ihnen vom Volke weggenommen, und in den meisten
Staaten verblieben ihnen nur die Opfer; wo man aber mit Recht noch

XXIX
Aristoteles Politik - III. Buch

von Königtum sprechen konnte, da behielten sie wenigstens die


Führung in den auswärtigen Kriegen.
Dies sind also die Formen des Königtums, vier an der Zahl, die erste
das des Heroenzeitalters (es bestand über frei Zustimmende, aber mit
beschränkten Kompetenzen; denn der König war Feldherr, Richter
und Verwalter der religiösen Dinge), zweitens das barbarische (eine
erbliche und gesetzlich begründete despotische Herrschaft), drittens
das der sogenannten Aisymneten (eine gewählte Tyrannis) und endlich
als viertes das spartanische (das nichts anderes als ein erbliches Feld-
herrenamt ist). Auf diese Weise also unterscheiden sie sich
voneinander. Eine fünfte Art des Königtums besteht dort, wo Einer
Herr über alles ist und wo ein einzelnes Volk oder einzelner Staat in
den gemeinsamen Dingen nach der Art einer Hausverwaltung regiert
wird. Denn wie die Hausverwaltung eine Art von Königtum im Hause
ist, so ist dieses Königtum die Verwaltung eines oder mehrerer Staaten
und Völker.

15. Näher zu prüfen sind wohl nur zwei der genannten Arten, die eben
angeführte und die spartanische. Denn von den andern sind die
meisten zwischen diesen in der Mitte. Sie haben weniger
Kompetenzen als das Universalkönigtum und mehr als dasjenige der
Spartaner. Und so geht die Frage so ziemlich nach zwei Dingen, ob es
nämlich dem Staate nützt, einen lebenslänglichen Feldherrn zu haben,
sei es erblich oder abwechselnd oder nicht, und weiterhin, ob es
zweckmäßig ist, daß einer Herr über alles sei oder nicht.
Die Frage nach einem solchen Feldherrenamt berührt mehr die
Gesetze als die Verfassungen, da es in jeder Verfassung vorkommen
kann, so daß wir sie fürs erste beiseite lassen. Dagegen ist das, was
sonst vom Königtum bleibt, durchaus eine Verfassungsform, so daß
man dies prüfen und die vorhandenen Schwierigkeiten untersuchen
muß.
Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Frage, ob es besser ist, vom
vollkommenen Menschen oder von den vollkommenen Gesetzen
beherrscht zu werden. Jene, die eine Königsherrschaft vorziehen,
glauben, daß die Gesetze nur das Allgemeine

XXX
Aristoteles Politik - III. Buch

sagen, aber keine Vorschriften von Fall zu Fall geben können. Es ist
aber in jeder Kunst einfältig, sich nach Geschriebenem zu richten, und
in Ägypten ist es nach dem vierten Tag den Ärzten erlaubt, von den
Regeln abzuweichen (tun sie es vorher, dann auf eigene Gefahr). Aus
demselben Grunde wird also
auch die auf Geschriebenes und auf Gesetze aufgebaute Verfassung
nicht die beste sein können.
Indessen müssen auch die Regierenden im Besitze jenes allgemeinen
Begriffes sein; dabei ist etwas, das ganz frei von Leidenschaften ist,
besser als das, dem sie angeboren sind. Dies gilt nicht von den
Gesetzen, dagegen hat jede menschliche Seele notwendigerweise
diesen Charakter. Aber vielleicht könnte man behaupten, daß der
Mensch dafür im Einzelnen besser zu raten vermag.
Klar ist also, daß der König selbst Gesetzgeber sein muß, und daß
Gesetze vorhanden sein müssen, die aber nicht gelten dürfen, wo sie
Fehler machen, wohl aber im Sonstigen. Was aber das Gesetz
überhaupt nicht oder nicht richtig regeln
kann, soll da der Eine als der Beste regieren oder Alle? Denn auch
jetzt tritt man zu Kollegien zusammen zum Gericht, zum Rat und zur
Entscheidung, und diese Entscheidungen betreffen immer Einzelnes.
Jeder für sich allein ist vielleicht, verglichen mit den andern,
schlechter. Aber der Staat besteht aus vielen, so wie ein Festessen, wo
viele beitragen, schöner ist als eins, das einer für sich allein bestellt.
Und so wird die Menge vieles besser beurteilen können als ein
beliebiger Einzelner.
Außerdem ist eine Menge schwerer zu verwirren. So wie eine größere
Menge Wasser, so ist auch eine größere Anzahl Menschen schwerer
zu verderben als eine kleine. Wenn etwa der Eine von Zorn
überwältigt wird oder von einer andern solchen Leidenschaft, so muß
sein Urteil verdorben werden; es wird aber kaum eintreffen, daß alle
zugleich in Zorn geraten und sich verfehlen. Diese Menge muß aber
aus Freien bestehen und darf nichts gegen das Gesetz tun, sondern nur
dort handeln, wo das Gesetz ergänzt werden muß.
Wenn sich das auch nicht leicht bei einer Vielheit findet, so besteht
doch die Frage, ob, wo eine Mehrzahl tüchtiger Männer und Bürger

XXXI
Aristoteles Politik - III. Buch

vorhanden ist, der Einzelne, der herrscht, weniger dem Verderben


ausgesetzt ist als die andern, die eine Mehrzahl und alle insgesamt
tüchtig sind. Offensichtlich die Mehrzahl. Freilich können diese in
Zwistigkeiten geraten, der Eine dagegen nicht. Dem steht freilich
vielleicht wiedergegenüber, daß sie doch seelisch tugendhaft sind
genauso wie jener Einzelne.
Wenn man also die Herrschaft von Mehreren, die alle tüchtig sind, als
Aristokratie bezeichnen soll und die des Einzelnen als Königtum, so
ist offenbar für die Staaten die Aristokratie wünschbarer als das
Königtum, mag die Herrschaft mit Machtmitteln ausgestattet sein oder
nicht, wenn es nur gelingt, mehrere gleich Tüchtige zu finden. Darum
bestanden wohl früher die Königtümer, weil Männer, die an Tugend
besonders ausgezeichnet waren, selten zu finden waren, vor allem bei
der damaligen Kleinheit der Staaten.
Außerdem setzte man die Könige ein wegen ihrer Wohltaten, wie eben
tüchtige Männer sie vollbringen. Wie dann sich eine Mehrzahl fand,
die alle an Tüchtigkeit ebenbürtig waren, da blieben sie nicht mehr
beim Königtum, sondern strebten nach einer gemeinsamen Regierung
mehrerer und errichteten eine Politie. Dann wurden sie schlechter,
profitierten vom öffentlichen Gute und kamen so begreiflicherweise
zur Oligarchie. Denn sie betrachteten den Reichtum als das
Ehrwürdigste. Von daher gerieten sie zuerst in Tyrannis und aus dieser
zur Demokratie. Denn durch die Habgier wurde ihre eigene Zahl
immer geringer und die Menge immer mächtiger, so daß sie
schließlich einen Angriff unternahm, und die Demokratie entstand. Da
gleichzeitig die Staaten auch größer wurden, so kann heute wohl nicht
mehr leicht eine andere Staatsform entstehen als die Demokratie.
Wenn man aber das Königtum für die beste Staatsform hält, wie soll
es dann mit den Kindern des Königs sein? Soll auch das ganze
Geschlecht König sein? Dies ist gefährlich, da sie ja werden können,
wie es sich auch schon getroffen hat. Oder wird er als souveräner Herr
die Herrschaft den Kindern nicht übergeben? Dies wiederum ist nicht
leicht zu erwarten; denn dies ist hart und fordert mehr Tugend, als es
die menschliche Natur zuläßt.

XXXII
Aristoteles Politik - III. Buch

Eine Schwierigkeit macht auch die Frage der bewaffneten Macht: soll
derjenige, der König sein will, eine solche Macht um sich herum
haben, mit der er jene zwingen kann, die ihm nicht gehorchen wollen,
oder wie soll er seine Herrschaft ausüben? Wenn er nämlich Herr ist
nach dem Gesetz, und auch nicht gegen das Gesetz seinen Willen
durchzusetzen sucht, so wird er doch eine Streitmacht zur Verfügung
haben müssen, mit deren Hilfe er über die Beobachtung der Gesetze
wacht.
Indessen ist die Frage, wo es sich um einen solchen König handelt,
nicht schwer zu beantworten. Er muß eine Macht haben; sie soll so
groß sein, daß sie jedem Einzelnen und auch einer Mehrheit überlegen
ist, dagegen kleiner als diejenige der ganzen Menge; so gestatteten
auch die Alten Leibwachen, als sie für den Staat einen Mann
bestellten, den sie Aisymneten oder Tyrannen nannten, und so
empfahl jemand, als Dionysios Wachen verlangte, zur Antwort den
Syrakusanern, ihm eine solche von genau dieser Größe zu geben.

16. Die Untersuchung führt uns nun zu der Frage nach dem König, der
alles nach seinem eigenen Willen regiert. Denn das sogenannte
gesetzmäßige Königtum beruht, wie wir sagten, auf keiner besonderen
Staatsform. (In allen Verfassungen kann es ein lebenslängliches
Feldherrenamt geben, auch in einer Demokratie und Aristokratie, und
vielfach wird ein Einzelner zum Herrn über die ganze
Staatsverwaltung gemacht. So ist es in Epidamnos und im geringeren
Umfange auch in Opus.)
Was aber das sogenannte Universalkönigtum anlangt, so besteht es
dort, wo der König über alle nach seinem Willen regiert. Einige
meinen, es sei nicht überhaupt naturgemäß, daß ein Einzelner Herr
über alle Bürger sei, sofern der Staat aus Ebenbürtigen bestehe. Denn
wo eine natürliche Gleichheit vorliegt, da muß auch der Natur nach
dasselbe Recht und dieselbe Würde vorhanden sein, und wie es dem
Körper schädlich sei, wenn Ungleiche die gleiche Nahrung oder
Kleidung erhalten, so ist es auch mit den Ämtern; also schadet es
auch, wenn Gleiche Ungleiches bekommen. Darum ist es dann recht,
daß keiner eher regiere als regiert werde, und daß dies abwechselnd

XXXIII
Aristoteles Politik - III. Buch

geschehe. Dies ist dann schon ein Gesetz. Denn Gesetz heißt ja
Ordnung. So scheint es wünschbarer, daß das Gesetz regiert als ein
Einzelner; und wenn es doch gut ist, daß Einige regieren, so ist es
nach demselben Prinzip besser, daß diese nur Wächter und Diener der
Gesetze seien. Denn es muß ja Ämter geben, aber es sei nicht gerecht,
sagt man, daß ein Einzelner sie innehabe, wo doch alle gleich sind.
Und wenn es scheint, daß ein Gesetz nicht alles regeln könne, so wird
ja wohl auch ein Mensch nicht alles wissen können. Das Gesetz wird
also in angemessener Weise erziehen und läßt dann die Beamten das
übrige so gerecht als möglich entscheiden und verwalten. Es kann
auch verbessert werden, wenn die Erfahrung zeigt, daß man Dinge
noch besser regeln kann.
Wer also fordert, daß das Gesetz regiere, scheint zu fordern,daß nur
Gott und die Vernunft regieren, wer aber einen Menschen dazu
beansprucht, der nimmt auch das Tier dazu. Denn die Begierde ist von
solcher Art, und der Zorn verwirrt die Beamten und die besten
Menschen. Darum ist das Gesetz eine Vernunft ohne Streben. Das
Beispiel der Künste scheint falsch zu sein, daß nämlich das Heilen auf
Grund von Geschriebenem schlecht und es besser sei, die Fachleute
heranzuziehen. Denn die Ärzte tun nichts aus Freundschaft wider ihr
Wissen, sondern empfangen den Lohn, nachdem sie die Kranken
gesund gemacht haben. Die politischen Beamten aber pflegen immer
vieles aus Abneigung oder Gunst zu tun. Sogar in der Medizin möchte
man wohl, falls man vermutete, die Ärzte würden, durch die Feinde
bestochen, einen Kranken um des Gewinns willen zugrunde richten,
lieber die Heilung bei Geschriebenem suchen. Die Ärzte selbst ziehen,
wenn sie krank werden, andere Ärzte und die Turnlehrer bei ihren
Übungen andere Turnlehrer zu, weil sie die Wahrheit nicht feststellen
können, wenn es um ihre eigene Person geht und sie darum befangen
sind.
Um der Gerechtigkeit willen sucht man also ein Mittleres, und dieses
ist eben das Gesetz.
Außerdem ist das Gewohnheitsrecht noch wichtiger und betrifft
wichtigere Dinge als das geschriebene Gesetz, und wenn ein Mensch
als Herrscher zuverlässiger sein mag als die geschriebenen Gesetze, so

XXXIV
Aristoteles Politik - III. Buch

ist er es doch nicht mehr als die Gewohnheitsgesetze. Auch kann nicht
leicht ein Einzelner vieles überblicken. Er bedarf also mehrerer durch
ihn bestellter Beamter– aber was macht es dann für einen Unterschied,
ob man dies sofort so einrichtet oder einen Einzelnen regieren läßt?
Wenn schließlich, was schon vorhin gesagt wurde, der tüchtige Mann,
weil er besser ist, gerechterweise herrschen soll, so sind zwei Tüchtige
noch besser als einer. Denn dies meint der Vers: »Zwei zusammen
gehend«, und das Gebet des Agamemnon: »Hätte ich doch zehn
solche Ratgeber.«
Auch jetzt können über einige Dinge die Beamten souverän
entscheiden, wie etwa der Richter, dort wo das Gesetz es nicht leisten
kann. Wo das Gesetz aber genügt, da bezweifelt keiner, daß nicht das
Gesetz am besten regiert und entscheidet. Da man aber das eine im
Gesetz fassen kann und das andere nicht, so entsteht eben daraus die
Schwierigkeit und Frage, ob eher das vollkommene Gesetz regieren
solle oder der vollkommene Mensch. Denn unmöglich ist es, über jene
Dinge Gesetze zu erlassen, über die die Regierenden sich zu beraten
pflegen.
Man bestreitet denn auch nicht, daß ein Mensch in diesen Dingen
entscheiden solle, sondern nur, daß es bloß einer se und nicht viele.
Denn jeder Beamte, der durch das Gesetz an geleitet ist, entscheidet
richtig, aber es ist doch wohl unsinnig zu behaupten, daß einer besser
sieht und entscheidet mit zwei Augen und zwei Ohren und handelt mit
zwei Händen und Füßen, als viele mit vielen. Auch jetzt machen die
Alleinherr scher viele zu ihren Augen, Ohren, Händen und Füßen.
Denn sie lassen ihre Freunde und die Freunde ihrer Herrschaft an de
Regierung teilnehmen. Wenn sie freilich nicht Freunde sind so werden
sie nicht nach dem Wunsche des Alleinherrscher handeln; sind sie es
aber für ihn und seine Herrschaft, so ist der Freund ja gleich und
ebenbürtig, und wenn er diese zu Regierung heranzieht, so will er
eben, daß die Gleichen um Ebenbürtigen entsprechend mitregieren.
Dies etwa ist es, was die Gegner des Königtums sagen.

17. In einigen Fällen mag dies richtig sein, in andern wohl weniger.
Denn es gibt Menschen, die von Natur unter despotischer, andere, die

XXXV
Aristoteles Politik - III. Buch

unter königlicher Herrschaft stehen müssen und andere, für die eine
Politie gerecht und zuträglich ist Die Tyrannis ist nicht naturgemäß,
und auch nicht die andern abweichenden Verfassungen; sie sind
vielmehr naturwidrig Aus dem Gesagten ergibt sich sicherlich, daß es
bei Ebenbürtigen und Gleichen nicht zuträglich und gerecht ist, daß
Einer Herr über alle sei, sei es, daß keine Gesetze bestehen, sondern er
selbst Gesetz ist, oder sei es, daß solche bestehen; und mag er als
Tüchtiger über Tüchtige regieren, oder als Untüchtiger über
Untüchtige, und auch nicht, wenn er an Tugend hervorragt, außer in
bestimmten Fällen. Welches diese Fälle sind. ist nun darzulegen; in
gewisser Weise wurde es schon früher gesagt.
Zuvor aber ist zu bestimmen, was die königliche, die aristokratische
und die politische Regierungsform ist. Königlich regiert ist eine solche
Menge, die ihrer Natur nach ein an Tugend hervorragendes Geschlecht
in der politischen Führung akzeptiert, aristokratisch eine Menge, die
als eine freie durch die in der Tugend Hervorragenden in politischen
Beamtenstellen regiert werden kann, und endlich politisch eine solche,
worin abwechselnd Regieren und Regiertwerden stattfindet gemäß
einem Gesetz, das in richtiger Weise die Ämter verteilt.
Wenn nun ein ganzes Geschlecht oder sonst ein Einzelner vorhanden
ist, der an Tugend so sehr hervorragt, daß siediejenige aller übrigen
übertrifft, dann ist es gerecht, daß diese Geschlecht das Königtum
innehabe und Herr über alles sei und daß dieser Eine König sei. Denn
wie zuvor gesagt, verhält es sich so nicht bloß nach der Gerechtigkeit,
die diejenige] anzurufen pflegen, die aristokratische, oligarchische ode
demokratische Verfassungen aufgebaut haben (alle mache] nämlich
einen Vorrang geltend, nur eben nicht denselben; sondern auch nach
unserer früheren Feststellung. Einen derart hervorragenden Menschen
darf man nämlich nicht töten verbannen oder ostrakisieren oder ihn
auch nur abwechslungsweise regieren lassen. Denn der Teil ist seiner
Natur nach nicht mehr als das Ganze, aber dies würde demjenigen
gegenüber eintreten, der einen so großen Vorrang besäße Es bleibt
also nur übrig, daß man einem solchen gehorcht uni daß dieser Herr
sei, und zwar nicht abwechslungsweise, sondern überhaupt.

XXXVI
Aristoteles Politik - III. Buch

Über das Königtum und seine Formen, und ob es den Staaten


zuträglich ist oder nicht, und wem und wie, sei dies gesagt.

18. Da wir aber drei richtige Verfassungen genannt haben und von
ihnen jene die beste ist, die von den Besten verwalte wird, also
diejenige, in der Einer unter allen oder ein ganze Geschlecht oder eine
Menge sich an Tugend auszeichnet, daß die einen sich regieren lassen,
und die andern im Hinblick auf die wünschenswerteste Lebensform
regieren, und da an Anfang gezeigt wurde, daß die Tugend des
vollkommener Menschen und diejenige des Bürgers im
vollkommenen Staate dieselbe ist, so ist es klar, daß auf dieselbe
Weise und aus den selben Gründen ein einzelner Mann tüchtig wird
und einer entsprechenden Staat, eine Aristokratie oder ein Königtum
einrichten könnte. Es wird also so ziemlich dieselbe Erziehung und
dieselbe Gewöhnung sein, die einen tüchtigen Mann und einen guten
Staatsmann und König heranbildet.
Nachdem dies festgelegt ist, haben wir nun vom vollkommenen Staate
zu reden, wie er von Natur entstehen und ein gerichtet sein wird. Wer
dies hinreichend untersuchen will muß .. .

XXXVII
Aristoteles Politik - IV. Buch

Viertes Buch

1. In allen Künsten und Wissenschaften, die nicht bloß eine


Besonderheit behandeln, sondern umfassend eine gesamte Gattung, ist
es die Aufgabe einer einzigen Untersuchung, zu prüfen, was jeder
Gattung angemessen ist, etwa, was für eine Übung was für einem
Körper zuträglich ist, und welches die schlechthin beste Übung ist
(denn wer am besten veranlagt und ausgestattet ist, dem wird auch die
beste passen), weiterhin welche bestimmte Übung für die größte
Mehrzahl passend ist (denn auch dies ist Aufgabe der Gymnastik);
endlich wenn einer nicht nach der hinreichenden Disposition und
Kunst verlangt, die die Wettkämpfe fordern, dann ist es zweifellos die
Aufgabe des Sport- und Turnlehrers, auch hiefür Übungen anzugeben.
Dasselbe konstatieren wir bei der Medizin, Schiffsbaukunst,
Schneiderei und jeder andern Kunst.
So ist es denn auch offensichtlich die Aufgabe derselben
Wissenschaft, zu fragen, welches die beste Verfassung sei und wie sie
wohl am meisten nach Wunsch eingerichtet sein wird, wenn nichts
von außen stört, und ferner, welche Verfassung welchen Menschen
paßt (denn viele werden vermutlich gar nicht bis zur besten
Verfassung gelangen können, so daß also der gute und wahrhaft
staatsmännische Gesetzgeber sowohl von der schlechthin besten wie
auch von der relativ besten Verfassung Kenntnis haben muß),
weiterhin drittens, welches die unter bestimmten Voraussetzungen
beste Verfassung ist (denn man muß auch die gegebene Verfassung
untersuchen können, wie sie entstanden sein wird und wie sie, einmal
entstanden, am längsten zu dauern vermag. So kann etwa ein Staat
nicht die beste Verfassung einführen, wenn es ihm an den
notwendigsten Voraussetzungen dazu mangelt, und auch nicht die in
der gegebenen Lage relativ beste; er wird sich also mit einer
schlechteren begnügen); neben alledem muß man endlich feststellen,
welche Verfassung der größten Mehrzahl der Staaten passen wird.
Die meisten, die sich über Verfassungen geäußert haben, haben zwar
ausgezeichnete Dinge gesagt, aber keine brauchbaren. Denn man darf
nicht nur auf die beste Verfassung hinschauen, sondern auch auf die

I
Aristoteles Politik - IV. Buch

mögliche und diejenige, die verhältnismäßig leicht und überall zu


verwirklichen ist.
Faktisch aber suchen die einen nur nach der höchsten, die
umständlichster Hilfsmittel bedarf; die andern wollen einen
zugänglicheren Staat schildern, beseitigen aber die vorhandenen
Verfassungen und loben die spartanische oder eine ähnliche. Es gilt
aber eine Ordnung aufzustellen, zu der man sich aus den gegebenen
Voraussetzungen leicht überreden und in Bewegung setzen lassen
kann; es ist nämlich keine kleinere Aufgabe, eine Verfassung zu
verbessern, als sie von Anfang an neu aufzubauen, wie es auch nicht
geringer ist, umzulernen als einfach zu lernen. Darum muß der
Politiker, wie schon gesagt, zu den erwähnten Aufgaben hinzu auch
den vorhandenen Verfassungen seinen Beistand leihen können. Dies
kann man aber nicht, wenn man nicht weiß, wie viele
Verfassungsformen es gibt. Einige meinen, es gebe eine Demokratie
und eine Oligarchie, was aber nicht stimmt. Man muß also die
Unterschiede der Verfassungen beachten, wie viele es sind und auf
wie viele Arten sie aufgebaut sind.
Mit dieser selben Einsicht muß man auch nach den besten Gesetzen
forschen und nach denjenigen, die zu jeder der Verfassungen passen.
Denn man muß, wie es auch faktisch geschieht, die Gesetze nach den
Verfassungen richten und nicht umgekehrt. Denn Verfassung ist die
Ordnung des Staates hinsichtlich der Fragen, wie die Regierung
aufgeteilt ist, welche Instanz über die Verfassung entscheidet und was
das Ziel jeder einzelnen Gemeinschaft ist. Die Gesetze sind aber
getrennt von den Vorschriften, die die Verfassung charakterisieren,
und geben die Richtlinien, nach denen die Regierenden zu regieren
und Übertretungen abzuwehren haben.
Man muß also die Unterschiede und die Eigenart der Verfassungen
auch kennen um der Gesetze willen. Denn es können nicht dieselben
Gesetze allen Oligarchien oder Demokratien nützen, da es ja auch da
mehrere Formen gibt und nicht bloß eine einzige Demokratie oder
Oligarchie.

II
Aristoteles Politik - IV. Buch

2. In der ersten Untersuchung über die Verfassungen haben wir drei


richtige Verfassungsformen unterschieden, das Königtum, die
Aristokratie und die Politie, und drei Abweichungen, die Tyrannis
vom Königtum, die Oligarchie von der Aristokratie und die
Demokratie von der Politie. Über Aristokratie und Königtum ist schon
gesprochen worden (denn von der besten Verfassung reden ist
dasselbe wie von diesen beiden Verfassungen sprechen; denn jede von
diesen will auf die Tugend hin bestehen und zu ihr ausgerüstet sein).
Ebenso wurde gesagt, worin sich Aristokratie und Königtum
unterscheiden und wann man von einem Königtum reden kann. Es
bleibt also, von der Politie zu sprechen (die also denselben Namen hat
wie das Allgemeine), sowie über die andern Verfassungen, Oligarchie,
Demokratie und Tyrannis.
Man sieht nun gleich, welche von diesen Abweichungen die
schlimmste und welche die zweitschlimmste ist. Denn die
Abweichung von der ersten und göttlichsten muß am schlimmsten
sein; das Königtum aber ist entweder ein bloßer Name, oder dann
beruht es auf dem großen Vorrang des Regierenden. So ist die
Tyrannis die schlechteste Form und weicht am meisten von der
richtigen Verfassung ab, das zweite ist die Oligarchie (denn die
Aristokratie ist von dieser Staatsform weit getrennt), das erträglichste
die Demokratie.
Es hat auch einer der früheren dasselbe gesagt, wenn auch unter einem
anderen Gesichtspunkt als wir. Er erklärte nämlich, wenn alle
Verfassungen gut wären (also wenn die Oligarchie annehmbar wäre
usw.), so wäre die Demokratie die schlechteste, wären sie aber
schlecht, so wäre sie die beste. Wir nennen aber diese insgesamt
verfehlt und glauben nicht, daß man eine Oligarchie besser als eine
andere wird nennen können, höchstens weniger schlecht. Aber diese
Diskussion sei jetzt beiseite gelassen.
Wir haben zuerst zu bestimmen, wie viele verschiedene Verfassungen
es gibt, wenn es also verschiedene Typen von Oligarchie und
Demokratie gibt; ferner, welches die umfassendste, wünschbarste
Verfassung sei nächst der besten (die man so oder anders
aristokratisch und gut aufgebaut nennen mag); weiterhin, welches

III
Aristoteles Politik - IV. Buch

diejenige ist, die für die größte Zahl von Staaten paßt; sodann welche
von den sonstigen Verfassungen in welcher Situation angemessen ist
(denn da kann unter Umständen die Demokratie notwendiger
erscheinen als die Oligarchie, oder auch umgekehrt); dann wie man,
wenn man will, eine solche Verfassung aufbauen kann, ich meine eine
der Formen der Demokratie oder der Oligarchie; und endlich, wenn
wir alle diese Dinge in der gebotenen Kürze durchgenommen haben,
müssen wir versuchen, darzulegen, wie die Verfassungen im Ganzen
und jede für sich untergehen oder sich erhalten, und aus welchen
Ursachen dies vorzugsweise zu geschehen pflegt.

3. Die Ursache davon, daß es mehrere Verfassungen gibt, ist, daß der
Staat zahlenmäßig mehrere Teile besitzt. Denn zuerstsehen wir, wie
alle Staaten aus Familien zusammengesetzt sind; von dieser Zahl sind
wiederum die einen wohlhabend, die andern arm und die dritten in der
Mitte, und von den Wohlhabenden und Armen sind die einen
bewaffnet, die andern unbewaffnet. Ferner ist vom Volke der eine Teil
Bauer, der andere Kaufmann, der dritte Handwerker. Und auch unter
den Angesehenen gibt es Unterschiede an Reichtum und An-
sehnlichkeit des Besitzes, etwa in der Haltung von Pferden (denn dies
kann man kaum, wenn man nicht reich ist, und darum waren in den
alten Zeiten jene Staaten oligarchisch, in denen die Macht auf der
Reiterei beruhte. Sie verwendeten ihre Pferde im Kampfe gegen die
Nachbarn, so die Eretrier, Chalkidier, die Magneten am Maiandros
und viele andere in Kleinasien). Zu den Unterschieden im Reichtum
kommen jene an Herkunft und Tüchtigkeit und was wir sonst noch
dieser Art als Teile des Staates in dem Abschnitt über die Aristokratie
genannt haben. Denn dort stellten wir fest, aus wie vielen Teilen ein
Staat notwendigerweise bestehen muß. Von diesen Teilen sind
zuweilen alle regierungsfähig, zuweilen weniger, zuweilen mehrere.
So muß es offenbar mehrere der Art nach verschiedene Verfassungen
geben; denn auch die Teile sind der Art nach verschieden. Denn die
Verfassung ist die Ordnung der Ämter, und diese verteilen alle
entweder nach der Macht der Berechtigten oder nach einer
gemeinsamen Gleichheit etwa unter den Besitzlosen oder den

IV
Aristoteles Politik - IV. Buch

Besitzenden, oder schließlich einer Gleichheit, die beiden Gruppen


gemeinsam ist. Es muß also so viele Verfassungen geben, als es
Ordnungen in der Hierarchie und in den Arten der Teile gibt.
Vor allem scheinen zwei voranzustehen (wie es bei den Winden vor
allem Nord- und Südwinde gibt und die andern als Abweichungen
davon), nämlich die Demokratie und die Oligarchie. Die Aristokratie
wird als eine besondere Form der Oligarchie gerechnet und die
sogenannte Politie als eine Demokratie, wie auch bei den Winden der
Zephyr dem Nordwind und der Ostwind dem Südwind zugeordnet
wird. Ähnlich verhält es sich auch, wie einige behaupten, mit den
musikalischen Harmonien; auch da werden zwei Arten angesetzt, die
dorische und die phrygische, und die andern werden gesammelt als
dorischer und phrygischer Typ benannt. Vor allem aber pflegt man bei
den Verfassungen so vorzugehen. Richtiger und besser ist es jedoch,
so einzuteilen, wie wir es tun, indem wir eine oder zwei gut
eingerichtete Verfassungen annehmen und die andern als
Abweichungen von der gut gemischten Harmonie bzw. vom
vollkommenen Staate auffassen, die oligarchischen als allzu straff und
despotisch, die demokratischen als allzu locker und weichlich.

4. Man darf aber die Demokratie nicht, wie jetzt einige tun, einfach
danach bestimmen, daß die Menge entscheidet (denn auch in der
Oligarchie und überall sonst regiert der überwiegende Teil des
Volkes), und auch nicht als Oligarchie den Fall bestimmen, wo wenige
die Verfassung beherrschen. Wenn nämlich alle zusammen
dreizehnhundert wären und davon nun tausend Reiche, die den
dreihundert, die arm, aber frei und sonst ebenbürtig wären, keinen
Anteil an der Regierung gewährten, wird man das gewiß niemals eine
Demokratie nennen. Ebenso wenn die Armen wenige wären, aber
stärker als die Reichen in ihrer Mehrzahl, so kann auch dies nicht als
eine Oligarchie gelten, wenn die andern als Reiche nicht an den
Ämtern teilnehmen dürften.
Man muß also vielmehr sagen, daß Demokratie dort herrscht, wo die
Freigeborenen regieren, Oligarchie dort, wo die Reichen regieren,
wobei offen bleibt, daß die einen oder die andern in der Mehrzahl sein

V
Aristoteles Politik - IV. Buch

können. Faktisch werden die Freien die Mehrzahl, die Reichen eine
Minderheit sein. Auch wenn man die Ämter nach der Größe verteilte,
wie es in Äthiopien sein soll, oder nach der Schönheit, so wäre dies
eine Oligarchie. Denn die Zahl der Schönen wie der Großen ist gering.
Aber es genügt nicht, die genannten Verfassungen allein danach zu
unterscheiden. Da es nämlich mehrere Teile innerhalb der Demokratie
und der Oligarchie gibt, so muß man weiterhin festlegen, daß auch
nicht, wo die Freien eine Minderzahl bilden und über eine Mehrheit
von Unfreien regieren, eine Demokratie besteht, wie dies im ionischen
Apollonia und in Thera der Fall war (denn in diesen beiden Staaten
besetzten die Vornehmen alle Ämter und leiteten die Koloniegründun-
gen, obwohl sie eine Minderheit waren); noch ist dort eine
Demokratie, wo die Reichen in der Mehrzahl sind und regieren, wie es
früher in Kolophon war (denn dort hatte die Mehrzahl große
Reichtümer aufgesammelt, ehe der Krieg gegen die Lyder kam),
sondern eine Demokratie besteht nur dort, wo die Freien und
Unbemittelten in der Mehrheit sind und regieren, eine Oligarchie dort,
wo es die Minderheit der Reichen und Vornehmen tut.
Daß es also mehrere Staatsformen gibt und aus welcherUrsache, haben
wir gesagt. Daß es aber noch mehr gibt als die genannten, welche und
weshalb, das ist jetzt zu zeigen; und zwar gehen wir vom früheren
Ausgangspunkte aus. Wir haben festgestellt, daß jeder Staat nicht bloß
einen, sondern mehrere Teile besitzt. Wenn wir nun vergleichsweise
die Arten der Lebewesen ordnen wollten, so würden wir damit
beginnen, abzugrenzen, was jedes Lebewesen haben muß, etwa einige
Sinnesorgane und die Werkzeuge zur Verarbeitung und Aufnahme der
Nahrung, also Mund und Bauch, ferner Bewegungswerkzeuge – wenn
es nur so viele Teile wären, gäbe es schon bei diesen Unterschiede
(etwa Typen des Mundes, des Bauches, der Wahrnehmungs und
Bewegungsorgane), und die Zahl der Kombinationen macht mit
Notwendigkeit eine Menge von Gattungen aus (es kann ja nicht
dasselbe Lebewesen mehrere Formen des Mundes oder etwa der
Ohren haben); wenn man dies berücksichtigt, so werden alle
denkbaren Kombinationen ebenso viele Arten der Lebewesen
erzeugen, und es wird ebenso viele Arten geben, wie es

VI
Aristoteles Politik - IV. Buch

Kombinationsmöglichkeiten der notwendigen Teile gibt. Dasselbe gilt


auch von den genannten Staatsformen. Denn die Staaten bestehen, wie
oftmals gesagt, nicht aus einem, sondern aus vielen Teilen. Ein Teil ist
die Menge, die sich um die Ernährung kümmert, also die Bauern, ein
zweiter die sogenannten Banausen, die sich mit den
Handwerkskünsten abgeben, ohne die ein Staat nicht existieren kann
(von diesen sind die einen unentbehrlich, die andern dienen dem
Luxus oder dem höheren Leben), der dritte sind die Kaufleute, also
jene, die sich mit Kauf und Verkauf, Import und Detailhandel
befassen, der vierte sind die Tagelöhner, der fünfte die Soldaten, der
genauso unentbehrlich ist wie die andern, wenn man nicht jedem
Angreifer unterliegen will. Denn ein Staat, der seiner Natur nach zur
Sklaverei gemacht ist, ist es unter keinen Umständen wert, ein Staat zu
heißen. Der Staat genügt sich selbst, der Sklave aber nicht.
Dies ist in [Platons] >Staat< zwar elegant, aber nicht hinlänglich
behandelt. Sokrates sagt dort, der Staat bestehe aus vier
unentbehrlichen Teilen, den Webern, Bauern, Schustern und
Baumeistern. Dann fügt er den Schmied bei und den Wächter über die
notwendigen Herden, dann den Import und Detailhändler, als ob
demnach die ersten doch nicht genügten. Und dies alles füllt den
ursprünglichen Staat, wie wenn jeder Staat wesentlich um der Notdurft
und nicht um der Tugend willen entstanden wäre, und als ob er
Schuhmacher ebenso nötig hätte wie Bauern. Den kriegerischen Teil
nennt er erst dort, wo das Land sich vergrößert, dasjenige der
Nachbarn berührt, und so zu Kriegen ein Anlaß entsteht. Aber bei den
vier oder wieviel Gliedern der Gemeinschaft muß es auch solche
geben, die Recht sprechen. Und wenn man die Seele für einen wesent
licheren Teil des Lebewesens hält als den Körper, so muß man auch in
den Staaten mehr diese Dinge berücksichtigen als jenes, was sich auf
die Notwendigkeiten des Lebens bezieht, also die Krieger und die
Richter, die die Gerechtigkeit vertreten, ferner die Beratenden, denen
die politische Einsicht zugewiesen ist.
Ob dies verschiedenen oder denselben Personen zukommt, macht
prinzipiell keinen Unterschied. Denn es werden oft dieselben Leute
Soldaten und Bauern sein. Wenn man also dieses und jenes als Teile

VII
Aristoteles Politik - IV. Buch

des Staates anzusetzen hat, so ist klar, daß auch die Soldaten einen
notwendigen Teil darstellen. Der siebente Teil sind diejenigen, die mit
ihrem Vermögen dem Staate zur Verfügung stehen und die wir die
Wohlhabenden nennen, die achten die öffentlichen Angestellten und
diejenigen, die als Beamte dienen, da ja ein Staat ohne Beamte nicht
sein kann. Es muß also solche geben, die regieren und dem Staate
dauernd oder abwechslungsweise eben diesen Dienst als Beamte
leisten können. Endlich bleibt, was wir soeben erwähnten, das
Beratende und das in Streitfällen Richtende. Wenn aber dies im Staate
geleistet und gut geleistet werden soll und gerecht, so muß es auch
solche geben, die an der politischen Tugend teilhaben. Die andern
Fähigkeiten können oft bei denselben Personen vereinigt sein, so daß
dieselben Krieger, Bauern und Handwerker sind, ebenso Beratende
und Richter; alle aber erheben auch Anspruch auf die Tugend und
glauben in der Lage zu sein, fast alle Ämter zu übernehmen. Daß
jedoch derselbe arm und reich sei, ist ausgeschlossen. Darum scheinen
dies die wichtigsten Teile des Staates zu sein, die Armen und die
Reichen; auch weil die einen zumeist eine Mehrheit, die andern eine
Minderheit darstellen, scheinen sie unter den Teilen des Staates in
besonderem Maße einander entgegengesetzt zu sein. So werden denn
die Verfassungen nach dem Vorrang in diesem Punkte aufgebaut, und
es scheinen sich zwei Verfassungen zu ergeben, die Demokratie und
die Oligarchie.
Daß es also mehrere Verfassungen gibt und weshalb, ist vorhin gesagt
worden. Daß es aber auch mehrere Formen der Demokratie und
Oligarchie gibt, sei jetzt gesagt. Dies ergibt sich aus dem Bisherigen.
Denn es gibt mehrere Arten des Volks und der sogenannten
Angesehenen; beim Volk finden sich etwa die Bauern, dann die
Handwerker, dann die mit Kauf und Verkauf beschäftigten Kaufleute,
dann die Seeleute und bei diesen wiederum die Krieger, Kaufleute,
Matrosen und Fischer (an vielen Orten sind alle diese Gruppen sehr
zahlreich, etwa die Fischer in Tarent und Byzanz, die Marinesoldaten
in Athen, die Kaufleute in Aigina und Chios, die zivilen Matrosen in
Tenedos). Dazu kommen die Tagelöhner, die so wenig besitzen, daß
sie keine Muße haben, dann die Freien, die nicht beidseitig von

VIII
Aristoteles Politik - IV. Buch

Vollbürgern abstammen, und was es sonst noch an besonderen


Gruppen gibt; unter den Angesehenen schaffen Reichtum, Adel,
Tüchtigkeit, Bildung und ähnliche Dinge die Unterschiede.
Von den Demokratien ist die erste diejenige, in der die Gleichheit am
meisten vorhanden ist. Unter Gleichheit versteht das Gesetz einer
solchen Demokratie dies, daß keiner, reich oder arm, einen Vorrang
hat, daß kein Teil über den anderen regiert, sondern beide vollkommen
ebenbürtig sind. Wenn nämlich die Freiheit sich vor allem in der
Demokratie findet, wie einige meinen, und ebenso die Gleichheit, so
wird diese am meisten darin bestehen, daß alle so gleichmäßig als
möglich an der Regierung teilhaben. Da aber das Volk die Mehrheit ist
und das gilt, was die Mehrheit beschließt, so wird eben dies
zwangsläufig eine Demokratie sein. Das ist also eine Form der
Demokratie.
Eine andere ist diejenige, daß Steuereinschätzungen, aber sehr
niedrige, die Grundlage bilden. Dann wird jeder, der irgend etwas
besitzt, das Recht haben, mitzuregieren, und wer diesen Besitz
verliert, hat das Recht nicht mehr.
Eine weitere Form der Demokratie ist es, daß alle Bürger von
einwandfreier Abkunft regieren können, und daß das Gesetz herrscht.
Noch eine andere Form ist es, daß alle regimentsfähig sind, wenn sie
bloß Bürger sind, daß aber das Gesetz herrscht.
In einer weitern Form der Demokratie gilt dasselbe, nur daß da das
Volk entscheidet und nicht das Gesetz, was dort der Fall ist, wo es
nach der Absicht der Volksführer auf die Abstimmungen ankommt
und nicht auf das Gesetz. Denn in den nach dem Gesetz regierten
Demokratien gibt es keine Volksführer, sondern den Vorsitz führen
die Besten unter den
Bürgern. Wo aber die Gesetze nicht entscheiden, da gibt es die
Volksführer. Denn da ist das Volk Alleinherrscher, wenn auch ein aus
vielen Einzelnen zusammengesetzter. Die Menge ist ja Herr, nicht als
jeder Einzelne, sondern als Gesamtheit (unklar bleibt, welche
Vielherrschaft Homer verwirft, ob diese hier oder jene, wo mehrere
Einzelne als Beamte regieren). Ein solches alleinherrschendes Volk
sucht zu herrschen, weil es nicht von den Gesetzen beherrscht wird,

IX
Aristoteles Politik - IV. Buch

und wird despotisch, wo denn die Schmeichler in Ehren stehen, und so


entspricht denn diese Demokratie unter den Alleinherrschaften der
Tyrannis. Der Charakter ist auch derselbe, beide herrschen despotisch
über die Besseren; die Volksbeschlüsse wirken hier, wie dort die
Befehle, und der Volksführer und der Schmeichler entsprechen
einander genau. Und diese beiden haben je die größte Macht, die
Schmeichler bei den Tyrannen und die Volksführer bei einem solchen
Volke.
Daran, daß nicht die Gesetze, sondern die Volksabstimmungen
entscheiden, sind eben diese schuld, die alles dem Volk in die Hand
geben wollen. Denn so werden sie selbst groß, wenn das Volk Herr
über alles ist und sie über die Meinung des Volkes; denn das Volk
gehorcht ihnen. Auch wenn sie den Beamten Vorwürfe machen, so
sagen sie, das Volk solle entscheiden; dieses nimmt die Aufforderung
gerne an, und so lösen sich alle Ämter auf. Demnach ist der Einwand
ganz begreiflich, den man erheben kann, eine solche Demokratie sei
überhaupt keine Verfassung; wo nämlich keine Gesetze regieren, da
ist auch keine Verfassung. Denn das Gesetz soll über das Allgemeine
regieren und über das Einzelne die Beamten, und es ist eben dies, was
als Verfassung gelten soll. Wenn also die Demokratie eine der
Verfassungsformen ist, so ist es klar, daß eine solche Einrichtung, in
welcher alles mit Abstimmungen verwaltet wird, auch nicht eine
eigentliche Demokratie heißen kann. Denn keine Abstimmung kann
Allgemeines feststellen. So seien also die Formen der Demokratie
gegliedert.

5. Von den Formen der Oligarchie ist die eine diejenige, daß die
Ämter an so hohe Steuereinschätzungen gebunden sind, daß die
Unbemittelten trotz ihrer Überzahl nicht daran teilnehmen können;
wer aber ein solches Vermögen erworben hat, ist dagegen berechtigt,
Ämter zu bekleiden.
Eine andere Form ist es, in der die Ämter ebenfalls an hohe
Steuerklassen gebunden sind, die Ämter sich aber durch Kooptation
ergänzen (wenn diese aus den gesamten Berechtigtenauswählt, so ist

X
Aristoteles Politik - IV. Buch

dies wohl eher aristokratisch, wenn nur au: einem ganz engen Kreis,
dann eher oligarchisch).
Eine weitere Form der Oligarchie liegt vor, wo der Sohn für den Vater
nachrückt, eine vierte, wo dasselbe gilt und dazu nicht das Gesetz,
sondern die Beamten entscheiden. Dies ist in der Oligarchie die Form,
die der Tyrannis in den Monarchien und jener äußersten eben
besprochenen Form in den Demokratien entspricht. Eine solche
Oligarchie nennt man Dynastie.
Es gibt also ebenso viele Arten der Oligarchie wie der Demokratie.
Man darf aber nicht übersehen, daß oftmals eine gesetzmäßige
Verfassung nicht demokratisch ist, aber doch durch die Sitte und ihre
Führung das Staatsleben demokratisch wird; ebenso kann umgekehrt
und anderswo dem Gesetze nach eine Verfassung sehr demokratisch
wirken, aber durch die Art der Führung und die Gewohnheiten eher
auf eine Oligarchie hinauslaufen. Das gilt vor allem bei Verfassungs-
änderungen. Denn man geht da nicht sofort zum Neuen über, sondern
zuerst beschränken sie sich darauf, einander in Kleinigkeiten zu
schikanieren, so daß zwar noch die bisher bestehenden Gesetze gelten,
aber doch jene herrschen, die die Verfassung umstürzen wollen.

6. Daß es also so viele Formen der Demokratie und Oligarchie gibt, ist
nun klargeworden. Denn entweder müssen alle genannten Teile des
Volkes an der Regierung teilhaben oder nur einige. Wenn die Bauern
und die Besitzer eines mäßigen Vermögens an der Regierung
teilnehmen, so werden sie gemäß den Gesetzen regieren. Denn sie
leben von ihrer Arbeit, haben keine Muße und können nur die
Volksversammlungen halten, die notwendig sind, und lassen im
übrigen die Gesetze regieren. Die andern können sich beteiligen, wenn
sie den vom Gesetze vorgeschriebenen Besitz erreicht haben. Also
dürfen alle Besitzenden mitregieren. Wenn es nämlich nicht alle
dürfen, so ist das oligarchisch; umgekehrt setzt die nötige Muße dazu
voraus, daß man Einkünfte hat. Auf diese Weise ist also die eine Art
der Demokratie begründet.
Eine andere Art beruht auf der sich anschließenden Einteilung. Es
können auch alle teilhaben, die von einwandfreier Abstammung sind,

XI
Aristoteles Politik - IV. Buch

vorausgesetzt, daß sie sich die dazu nötige Muße zu leisten vermögen.
So regieren in einer solchen Demokratie die Gesetze, da die
notwendigen Einkünfte nicht vorhanden sind.
In einer dritten Form können alle Freigeborenen teilnehmen, aber sie
werden es aus der angegebenen Ursache nicht tun, und so muß auch
da das Gesetz regieren.
Die vierte Form der Demokratie ist diejenige, die sich zeitlich als
letzte in den Staaten durchgesetzt hat. Denn da die Staaten bedeutend
größer geworden waren als am Anfang und eine Menge von
Einkünften zur Verfügung steht, so haben alle an der Regierung teil
wegen der überwiegenden Masse des Volkes und können sich auch
politisch betätigen, da sie die Muße haben und die Armen dafür
entlohnt werden. Und gerade eine solche Menge hat am meisten
Muße. Denn sie sind ja nicht durch die Fürsorge für ihren persönlichen
Besitz gehemmt, sondern dies hindert vielmehr die Reichen, so daß
oftmals diese weder an die Volksversammlung kommen noch Richter
sein können. So wird die Masse der Armen maßgebend im Staat, und
nicht mehr das Gesetz.
Aus diesen Ursachen ergeben sich also Art und Zahl der Formen der
Demokratie. Was aber die Arten der Oligarchie betrifft: wenn eine
größere Zahl von Bürgern ein mäßig großes Vermögen besitzt, so ist
dies die erste Art. Denn die Besitzenden können da an der Regierung
teilnehmen, und da diese eine bedeutende Menge darstellen, so
werden notwendigerweise nicht die Menschen, sondern die Gesetze
entscheiden (und zwar je mehr sie sich von der Alleinherrschaft
unterscheiden und weder so viel Vermögen besitzen, um sorglos Muße
halten zu können, noch so wenig, um am Staate verdienen zu müssen,
desto eher wird das Gesetz über sie regieren müssen und nicht sie
selbst). Wenn aber die Zahl der Besitzenden geringer ist als vorher,
aber ihr Vermögen größer, dann haben wir den zweiten Typus der
Oligarchie. Weil sie mehr Macht haben, wollen sie auch mehr
beanspruchen. Darum wählen sie selbst unter den andern Bürgern
jene, die in die Regierung eintreten sollen; da sie aber noch nicht stark
genug sind, um ohne Gesetz regieren zu können, so erheben sie eben
dies zum Gesetz.

XII
Aristoteles Politik - IV. Buch

Werden sie an Zahl noch geringer und an Vermögen noch stärker, so


kommen wir zur dritten Stufe der Oligarchie, derart, daß sie von selbst
die Ämter innehaben, aber auf Grund eines Gesetzes, wonach auf die
Verstorbenen die Söhne folgen sollen.
Und wenn sie endlich an Reichtum und Einfluß weit überragen, so
steht eine solche Herrschaft der Monarchie ganz nahe; dann
entscheiden die Menschen und nicht mehr das Gesetz.und dies ist die
vierte Art der Oligarchie, die der äußersten Demokratie entspricht.

7. Es gibt nun noch zwei Formen neben der Demokratie und der
Oligarchie; die eine davon ist allbekannt und wird als eine der vier
Staatsformen gezählt (d. h. Monarchie, Oligarchie, Demokratie und
die sogenannte Aristokratie). Die fünfte ist jene, die den allgemeinen
Namen besitzt (man nennt sie Politie), aber da sie nicht oft vorkommt,
so wird sie von denen, die die Staatsformen zu zählen versuchen,
meist übersehen, und so werden in den Staatstheorien nur die vier
gerechnet, wie etwa bei Platon.
Eine Aristokratie kann man mit Recht jenes nennen, was wir am
Anfang besprochen haben (denn die Verfassung, die auf den
schlechthin, und nicht bloß auf Grund irgendeiner Voraussetzung,
besten Männern beruht, darf allein mit Recht Aristokratie heißen. Nur
in ihr ist der vollkommene Mensch und der tüchtige Bürger
schlechthin derselbe, in den andern sind sie tüchtig nur im Verhältnis
zu ihrer eigenen Verfassung). Doch gibt es auch Verfassungen, die
sich von den Oligarchien und von den sogenannten Politien in
bestimmten Richtungen unterscheiden und ebenfalls Aristokratien
genannt werden. Wo man nämlich die Ämter nicht nur nach dem
Reichtum, sondern auch nach der Tüchtigkeit bestellt, da liegt eine
Verfassung vor, die sich von den beiden genannten unterscheidet und
aristokratisch heißt. Denn auch in den Staaten, die sich nicht
gemeinsam um die Tugend bemühen, gibt es Menschen, die sich
auszeichnen und die als anständig gelten können. Wo also eine
Verfassung den Reichtum und die Tugend und das Volk
berücksichtigt, wie in Karthago, da ist sie aristokratisch, und ebenso
wo nur auf zwei Dinge geachtet wird, wie in Sparta, nämlich auf

XIII
Aristoteles Politik - IV. Buch

Tugend und aufs Volk, und wo eine Mischung dieser beiden Dinge,
der Demokratie und der Tugend, vorliegt. Es gibt also neben der
ersten und besten Verfassung diese beiden Formen der Aristokratie
und dazu eine dritte, wo die sogenannte Politie oligarchische
Tendenzen zeigt.

8. So bleibt uns noch von der sogenannten Politie und von der
Tyrannis zu sprechen. Wir haben sie so eingeordnet, obschon weder
die Politie noch die eben angeführten Aristokratien Abweichungen
sind; in Wahrheit verfehlen allerdings alle den vollkommenen Staat
und zählen insofern unter die Abweichungen, und dann gibt es von
ihnen wieder jene Abweichungen, die wir am Anfang aufgeführt
haben. Sinnvoll ist es, erst am Schlusse die Tyrannis zu erwähnen,
weil sie am wenigsten von allen eine wirkliche Verfassung ist und wir
ja eben die Verfassungen verfolgen. Damit sei also die Reihenfolge
begründet. Nun ist die Politie zu untersuchen.
Ihre Bedeutung wird nun klarer, nachdem wir die Oligarchie und die
Demokratie untersucht haben. Denn die Politie ist mit einem Worte
gesagt, eine Mischung von Demokratie und Oligarchie. Man pflegt
denn auch die Formen, die mehr zur Demokratie neigen, eigentlich
Politien zu nennen, und diejenigen, die sich mehr zur Oligarchie hin
bewegen, Aristokratien, weil eher die Wohlhabenden Bildung und
Adligkeit besitzen. Auch scheinen die Wohlhabenden schon zu
besitzen, weswegen die Verbrecher Unrecht tun, und insofern pflegt
man sie edel und angesehen zu nennen.
Da nun die Aristokratie den besten unter den Bürgern den Vorrang
zuteilen will, so sagt man, daß auch die Oligarchien vorzugsweise aus
den Edlen bestehen. Denn unmöglich scheint es, einen Staat gut zu
verwalten, der nicht von den Besten, sondern von den Schlechtesten
regiert wird, noch auch daß ein Staat, der keine guten Gesetze besitzt,
von den Besten regiert werde. Gute gesetzliche Ordnung besteht ja
nicht darin, daß gute Gesetze vorhanden sind, sondern darin, daß man
ihnen gehorcht. Also besteht eine gute gesetzliche Ordnung erstens
darin, daß man den Gesetzen gehorcht, die vorhanden sind, und
zweitens darin, daß die Gesetze, denen man folgt, gut sind (denn man

XIV
Aristoteles Politik - IV. Buch

kann auch schlechten Gesetzen gehorchen). Dies ist in doppelter


Weise möglich: entweder folgt man den relativ besten Gesetzen, oder
den besten schlechthin.
Aristokratie scheint am ehesten dort zu bestehen, wo die Ämter nach
der Tugend verteilt sind. Denn Maßstab der Aristokratie ist die
Tugend, der Oligarchie der Reichtum, der Demokratie die Freiheit.
Daß die Mehrheit entscheidet, findet sich bei allen. Auch in der
Oligarchie, der Aristokratie und der Demokratie gilt, was die Mehrheit
der Regimentsberechtigten beschließt.
In den meisten Staaten wird die Form der Politie beansprucht. Denn
nur die Mischung wird den Reichen und Armen, dem Reichtum und
der Freiheit gerecht. Und bei den meisten scheinen die Wohlhabenden
die Stelle der Edlen einzunehmen. Da nun drei Dinge nach dem
gleichen Rechte im Staate streben, Freiheit, Reichtum und Tugend
(das vierte, was man die Adligkeit zu nennen pflegt, folgt den zwei
letztgenannten:denn die Adligkeit ist alter Reichtum und Tugend), so
ist klar, daß man die Mischung von zweien, der Reichen und der
Armen, Politie zu nennen hat, die der drei aber vorzugsweise
Aristokratie (von der wahren und ersten Aristokratie abzusehen).
Daß es also neben der Monarchie, Demokratie und Oligarchie andere
Verfassungsformen gibt, ist damit gesagt, ebenso, welche sie sind, und
wie sich die Aristokratien untereinander und die Politien von den
Aristokratien unterscheiden, und daß sie einander nicht fern stehen.
9. Nun ist zu zeigen, wie neben der Demokratie und Oligarchie die
sogenannte Politie entsteht, und wie man sie einrichten soll. Dies wird
zugleich klar mit Hilfe der üblichen Bestimmungen der Demokratie
und Oligarchie. Denn man muß ihre Unterscheidung heranziehen und
von beiden gewissermaßen je einen Zuschuß nehmen und so zur
Politie zusammensetzen.
Es gibt nun drei Prinzipien der Zusammensetzung und Mischung. Man
kann erstens beides nehmen, wo sie Gesetze erlassen haben, etwa über
die Richterfunktion. In den Oligarchien werden die Wohlhabenden
bestraft, wenn sie nicht mit zu Gericht sitzen, aber die Armen erhalten
keinen Sold, bei den Demokratien erhalten umgekehrt die Armen
einen Sold, aber die Reichen keine Strafe. Das Gemeinsame und

XV
Aristoteles Politik - IV. Buch

Mittlere ist die Kombination von beiden, und das ist die Eigenart der
Politie.
Eine zweite Art der Kombination ist es, wenn man die Mitte von dem
nimmt, was beide anordnen. So knüpfen die einen die Beteiligung an
der Volksversammlung an gar keine oder nur eine minimale
Steuereinschätzung, die andern dagegen an eine große; das
Gemeinsame ist, keines von beiden zu tun, sondern die Mitte zwischen
den beiden Einschätzungen zu wählen.
Eine dritte Mischungsart besteht in der Zusammensetzung eines
oligarchischen mit einem demokratischen Gesetz. So scheint es etwa
demokratisch zu sein, daß die Amtsstellen ausgelost werden,
oligarchisch, daß dies durch Wahl geschieht; demokratisch, daß dies
ohne Rücksicht auf die Steuereinschätzung geschieht, oligarchisch,
daß dies mit einer solchen Rücksicht geschieht. Im Sinne der
Aristokratie und der Politie ist es also, aus beiden etwas zu nehmen,
aus der Oligarchie, daß die Beamten zu wählen sind, aus der
Demokratie, daß die Steuereinschätzung keine Rolle spielt.
So also kann gemischt werden. Eine gute Mischung von Demokratie
und Oligarchie zeigt sich daran, daß man denselben Staat ebensogut so
wie anders benennen kann; wenn man das tut, wie es geschieht, so
eben darum, weil die Mischung gut erfolgt ist. So geht es ja auch der
Mitte, weil in ihr die beiden Extreme sichtbar werden. Dies trifft etwa
beim Staate der Spartaner zu. Viele suchen zu sagen, daß er eine
Demokratie sei, weil seine Ordnung viel Demokratisches enthält,
etwa, was die Aufzucht der Kinder betrifft: die der Reichen werden
genau gleich aufgezogen wie die der Armen, und die Kinder der
Reichen werden in einer Weise ausgebildet, wie es auch diejenigen
der Armen könnten. Auch in der nächsten Altersstufe und wenn sie
Männer geworden sind, gilt dasselbe: der Reiche unterscheidet sich
nicht vom Armen, und in den Syssitien ist die Nahrung für alle
dieselbe, und an Kleidung haben die Reichen dieselbe, wie sie auch
irgendein Armer haben könnte. Außerdem wird von den zwei
höchsten Staatsämtern das eine durchs Volk gewählt, und an dem
andern nimmt es teil (die Geronten wählen sie und am Ephorat sind sie
beteiligt). Andere nennen diesen Staat eine Oligarchie, weil er viele

XVI
Aristoteles Politik - IV. Buch

oligarchische Elemente enthält, wie etwa das, daß alle Ämter zu


wählen und keines zu erlosen ist, und daß nur wenige über Leben und
Tod entscheiden usw.
So muß denn in einer gut gemischten Politie beides vorhanden zu sein
scheinen und keines von beiden; sie muß sich durch sich selbst und
nicht von außen erhalten, aber durch sich selbst nicht so, daß eine
Mehrzahl der Nachbarn ihre Erhaltung wünscht (denn das könnte auch
bei einer schlechten Verfassung geschehen), sondern so, daß
überhaupt keiner der Teile des Staats selbst eine andere Verfassung
will. Wie man also die Politie einrichten muß und ebenso die
sogenannten Aristokratien, ist damit gesagt.

10. Es bleibt die Tyrannis zu besprechen, nicht, weil viel über sie zu
sagen wäre, sondern damit sie auch ihre Beachtung finde, da wir ja
auch sie als ein Stück der Staatsverfassungen aufgefaßt haben.
Über das Königtum haben wir am Anfang gesprochen, wo wir das
Königtum im eigentlichen Sinne behandelten und fragten, ob es den
Staaten nützt oder nicht und wen man zum König machen solle und
woher und wie. Anläßlich der Untersuchung des Königtums haben wir
zwei Arten der Tyrannis unterschieden, da ihre Eigentümlichkeiten
variieren und dem Königtum nahe kommen, sofern beide
Herrschaftsformen aufdem Gesetze beruhen (bei einigen Barbaren
werden unumschränkte Alleinherrscher gewählt, und es gab auch
früher bei den Griechen einige solche Herrscher, die man Aisymneten
nannte). Sie haben aber auch Unterschiede untereinander: sofern sie
nach Gesetz und über freiwillig Gehorchende regierten, waren sie
königlich, sofern sie es aber despotisch nach eigenem Gutdünken
taten, tyrannisch.
Die dritte Art der Tyrannis scheint am meisten ihrem Wesen zu
entsprechen und ist das Gegenstück zum Universalkönigtum. Die
Tyrannis muß eine solche Monarchie sein, die ohne
Verantwortlichkeit über alle Ebenbürtigen und Besseren regiert, zu
ihrem eigenen Nutzen und nicht zum Nutzen der Regierten. Darum ist
sie unfreiwillig, denn kein Freigeborener wird freiwillig eine solche
Herrschaft akzeptieren.

XVII
Aristoteles Politik - IV. Buch

Dies ist also Wesen und Zahl der Formen der Tyrannis, und aus den
angegebenen Ursachen.

11. Welches ist nun für die Mehrzahl der Staaten und der Menschen
die beste Verfassung und die beste Lebensform, nicht indem man von
einer Tugend ausgeht, die über durchschnittliches Maß ist, oder von
einer Bildung, die guter Anlage und glücklicher äußerer Umstände
bedarf, noch von einer Verfassung, wie man sie sich wünschen mag,
sondern von dem Leben, das die Mehrzahl zu führen vermag, und
einer Verfassung, die sich die Mehrzahl der Staaten aneignen können?
Denn auch die sogenannten Aristokratien, von denen wir soeben
sprachen, sind der Mehrzahl der Staaten fremd oder sind der
sogenannten Politie verwandt, weshalb man auch von beiden in einem
Zuge reden kann.
Die Entscheidung in allen diesen Dingen beruht auf denselben
Elementen. Wenn in der Ethik richtig gesagt wurde, daß das
glückselige Leben das in der Ausübung seiner Tugend ungehinderte
sei und daß die Tugend eine Mitte sei, so muß das mittlere Leben das
beste sein, das heißt die Mitte erreichen, die eben jeder erreichen kann.
Und diese selben Bestimmungen müssen auch für die Güte oder
Schlechtigkeit einer Verfassung oder eines Staates gelten. Denn die
Verfassung ist sozusagen das Leben des Staates.
In allen Staaten gibt es drei Teile, die sehr Reichen, die sehr Armen
und die Mittleren. Wenn nun das Maß und die Mitte
anerkanntermaßen das Beste sind, so ist auch in bezug auf die
Glücksgüter der mittlere Besitz von allen der beste. Denn in solchen
Verhältnissen gehorcht man am leichtesten der Vernunft. Schwierig ist
es dagegen, wenn man übermäßig schön, kräftig, adlig oder reich ist,
oder umgekehrt übermäßig arm, schwach und gedemütigt. Die einen
werden leicht übermütig und schlecht im Großen, die andern bösartig
und schlecht im Kleinen; die einen tun im Übermut unrecht, die
andern in Boshaftigkeit. Ferner drängen solche am meisten nach den
Ämtern und verwalten sie am schlechtesten, was beides dem Staate
schädlich ist. Außerdem werden die übermäßig mit Einfluß, Reichtum,
Freunden und dergleichen Begünstigten weder gehorchen wollen noch

XVIII
Aristoteles Politik - IV. Buch

es können (dies fängt bei ihnen schon in der Kindheit an, denn wegen
ihres Luxus sind sie auch in der Schule undiszipliniert); wer aber
übermäßige Not leidet, ist zu wenig stolz. So können die einen nicht
herrschen, sondern nur in sklavischer Weise gehorchen, die andern
lassen sich überhaupt nicht regieren, und wenn sie selbst regieren, so
tun sie es despotisch. Auf diese Weise gibt es denn einen Staat von
Herren und Knechten, aber nicht von Freien; die einen beneiden und
die andern verachten, und beides widerstrebt im höchsten Maße der
Freundschaft und politischen Gemeinschaft. Denn diese Gemeinschaft
hat Freundschaftscharakter; mit Feinden wird man aber nicht einmal
den gleichen Weg gehen wollen.
Der Staat soll also möglichst aus Gleichen und Ebenbürtigen bestehen,
und dies ist bei den Mittleren am meisten der Fall. So wird jener Staat
die beste Verfassung haben, der so aufgebaut ist, wie ein Staat nach
unserer Feststellung der Natur gemäß aufgebaut sein soll. Diese
Schicht der Bürger hat ja auch im Staate am meisten Sicherheit. Denn
sie begehren nicht nach fremdem Besitz, wie die Armen, noch
begehren andere nach dem ihrigen, wie es die Armen den Reichen
gegenüber tun. Und da ihnen keiner nachstellt und sie keinem
nachstellen, leben sie ohne Gefahr. Mit Recht hat also Phokylides ge-
wünscht: »Das Mittlere ist bei weitem das Beste, ein Mittlerer möchte
ich im Staate sein.«
Offensichtlich ist also die auf diese Mitte aufgebaute staatliche
Gemeinschaft die beste, und solche Staaten haben eine gute
Verfassung, in denen die Mitte stark und den beiden Extremen
überlegen ist, oder doch wenigstens dem einen Extrem. Denn wenn sie
sich dann der einen Seite anschließt, gibt sie den Ausschlag und
verhindert die Übertreibung nach der andern Richtung. So ist es auch
für den Staat das größte Glück, wenn die Bürger einen mittleren und
ausreichenden Besitzhaben; wo dagegen die einen sehr viel haben und
die andern nichts, da entsteht entweder die äußerste Demokratie, oder
eine reine Oligarchie oder aus beiden Extremen eine Tyrannis. Denn
sowohl aus der radikalsten Demokratie wie aus der Oligarchie entsteht
die Tyrannis, aus der Mitte aber und dem ihr Nahestehenden viel

XIX
Aristoteles Politik - IV. Buch

seltener. Die Ursache werden wir später im Abschnitt über den


Wandel der Verfassungen angeben.
Daß also die Mitte am besten ist, ist klar. Denn sie allein führt zu
keinen Revolutionen, und wo die Mittleren zahlreich sind, da gibt es
bei den Bürgern am wenigsten Aufstände und Streitigkeiten. Aus
demselben Grunde sind auch die großen Staaten freier von
Revolutionen, weil auch da die Mitte zahlreich ist. Bei den kleinen
dagegen kann leicht der Zerfall in zwei Parteien eintreten, so daß
keine Mitte bleibt, sondern alle nur arm oder reich sind. Ebenso sind
die Demokratien sicherer als die Oligarchien und dauerhafter eben
wegen der Mittleren (denn in den Demokratien sind diese zahlreicher
und haben einen größeren Anteil an den Ämtern als in den
Oligarchien); wenn sie aber fehlen und die Armen überwiegen, so gibt
es ein Unglück, und der Staat geht schnell zugrunde.
Als Beweis dafür kann man ansehen, daß auch die besten Gesetzgeber
zu den mittleren Bürgern gehört haben: Solon gehörte dazu, wie seine
Gedichte zeigen, ebenso Lykurg, der ja kein König war, und
Charondas und die meisten andern.
Daraus ergibt sich auch, weshalb die meisten Staaten teils
demokratisch, teils oligarchisch sind. Denn da in ihnen vielfach die
Mitte schwach ist, so wird immer dasjenige Extrem, das die Oberhand
hat, entweder die Besitzenden oder das Volk, die Mittleren verdrängen
und die Verfassung in ihrem Sinn ordnen, so daß also eine Demokratie
oder eine Oligarchie daraus wird.
Überdies gibt es Unruhen und Kämpfe zwischen dem Volk und den
Reichen, und diejenige Partei, die über die Gegner die Oberhand
gewinnt, wird nicht eine für beide gemeinsame und ausgeglichene
Verfassung einrichten, sondern als Siegespreis werden sie die
Verfassung ganz in ihrem Sinne, also als Demokratie oder als
Oligarchie ordnen.
Endlich haben jene Staaten, die Griechenland beherrscht haben,
jeweils im Hinblick auf ihre eigene Verfassung entweder Demokratien
oder Oligarchien in den Städten eingerichtet, nicht im Hinblick auf
den Nutzen jener Staaten, sondern nur auf ihren eigenen.

XX
Aristoteles Politik - IV. Buch

Aus diesen Gründen entsteht entweder niemals die mittlere


Verfassung, oder nur selten und bei wenigen. Nur ein einziger Mann
unter denen, die früher an der Herrschaft waren, konnte sich dazu
entschließen, diese Ordnung einzuführen, aber sonst ist es in den
Staaten bereits Sitte geworden, die Gleichheit nicht einmal zu wollen,
sondern entweder die Herrschaft zu erstreben oder dann die
Unterwerfung zu dulden.
So ist also klar, welches die beste Verfassung ist und aus welcher
Ursache. Welche aber von den andern Verfassungen (da wir ja
mehrere Demokratien und Oligarchien annehmen) als die erste, zweite
usw. anzusetzen sei, also welche besser und welche schlechter ist, das
ist nicht mehr schwer zu erkennen, nachdem wir die beste bestimmt
haben. Besser wird immer jene sein, die dieser am nächsten steht,
schlechter jene, die der mittleren ferner ist, falls man nicht von
besonderen Voraussetzungen ausgeht; ich verstehe darunter, daß oft
und in gewissen Fällen, obschon eine bestimmte Verfassung an sich
die wünschbarere ist, doch eine andere zuträglicher sein kann.

12. Anschließend ist zu fragen, welche und was für eine Verfassung
wem und welcher Art Menschen zuträglich ist. Zuerst ist für alle
gemeinsam Eines festzustellen: der Teil, der die Erhaltung des Staats
will, muß immer stärker sein als der, der sie nicht will. Nun besteht
jeder Staat aus Qualität und Quantität. Als Qualitäten verstehe ich
Freiheit, Reichtum, Bildung, Adligkeit, als Quantität die Übermacht
der Menge. Nun kann sich eine Qualität bei einem andern unter den
Teilen des Staats finden als die Quantität: die Unadligen können
zahlreicher sein als die Adligen, ebenso die Armen als die Reichen,
doch ohne sie ebensosehr an Quantität zu übertreffen, wie sie an
Qualität zurückstehen. Darum muß dies miteinander verrechnet
werden.
Wo nun die Zahl der Armen das rechte Verhältnis überschreitet, da
entsteht die Demokratie und jede einzelne Form der Demokratie, je
nach der Art des überwiegenden Volkes: wenn die Zahl der Bauern
überwiegt, die erste Form, wenn die der Banausen und Tagelöhner, die
letzte, und ebenso die andern dazwischen.

XXI
Aristoteles Politik - IV. Buch

Wo aber die Gruppe der Wohlhabenden und Angesehenen an Qualität


mehr überwiegt, als sie an Quantität nachsteht, da entsteht die
Oligarchie und bei dieser ebenso jede einzelne Form je nach der Art
des Überwiegens der oligarchischen Gruppe.
Doch der Gesetzgeber muß in der Verfassung immer die Mittleren
mitberücksichtigen. Mag er oligarchische Gesetze geben, muß er sie
mit hereinnehmen, und macht er demokratische, dann ebenfalls. Wo
aber die Zahl der Mittleren beide Extreme überwiegt oder auch nur
das eine, da wird die Verfassung dauerhaft sein können. Denn es
besteht keine Gefahr, daß sich einmal die Reichen mit den Armen
gegen sie verbinden könnten. Niemals werden die einen den andern
dienen wollen, und sie werden auch niemals eine Verfassung finden
(falls sie eine solche suchen), die den Interessen beider Teile besser
gerecht würde als eben diese. Denn untereinander abwechselnd
herrschen werden sie nicht wollen wegen des gegenseitigen
Mißtrauens. Am zuverlässigsten ist aber immer der Schiedsrichter,
und dieser steht in der Mitte.
Je besser also eine Verfassung gemischt ist, desto dauerhafter ist sie.
Viele verfehlen sich freilich, auch unter denen, die aristokratische
Verfassungen konstruieren wollen, nicht bloß darin, daß sie den
Wohlhabenden zuviel geben, sondern auch darin, daß sie das Volk
verletzen. Und mit der Zeit entsteht immer aus den scheinbaren
Gütern ein wirkliches Unglück. Denn die Eigensucht der Reichen
ruiniert eine Verfassung schneller als diejenige des Volkes.

13. Es sind nun fünf Dinge, die, um scheinbar dem Volke


entgegenzukommen, in die Verfassungen hineinpraktiziert werden. Sie
betreffen Volksversammlung, Regierung, Gerichte, Bewaffnung und
Turnen.
Bei der Volksversammlung wird erklärt, daß alle teilnehmen dürfen,
und daß die Reichen bestraft werden, wenn sie nicht teilnehmen,
entweder nur sie, oder doch in viel höherem Grade; bei den Ämtern
dürfen diejenigen, die der Steuerschätzung nach entsprechen, sie nicht
ablehnen, wohl aber die Armen; bei den Gerichten werden die
Reichen bestraft, wenn sie nicht zu Gericht sitzen, die Armen dagegen

XXII
Aristoteles Politik - IV. Buch

gehen ohne Strafe aus, oder mindestens werden jene stark, diese
dagegen ganz gering bestraft, wie in den Gesetzen des Charondas.
Zuweilen dürfen alle, die sich eintragen lassen, an Volksversammlung
und Gericht teilnehmen; tun sie dies aber nicht, obschon sie sich
eingeschrieben haben, unterliegen sie schweren Strafen, so daß sie
also wegen der Strafen es vermeiden, sich eintragen zu lassen, und,
wenn sie nicht eingetragen sind, auch nicht an Volksversammlung und
Gericht dabei sein dürfen. In derselben Weise werden Gesetze über
das Waffentragen und das Turnen erlassen. Die Armen brauchen sich
keine Waffen anzuschaffen, die Reichen werden bestraft, wenn sie es
nicht tun; und wenn die Armen nicht turnen, so gibt es keine Strafe,
tun es aber die Reichen nicht, so werden sie bestraft, damit also die
einen wegen der Strafe mitmachen, die andern aber nicht, weil sie
keine Strafe zu fürchten haben.
Das sind also die Kunstgriffe oligarchischer Gesetzgebung. In den
Demokratien pflegt man die umgekehrten Kunstgriffe. Man gewährt
den Armen einen Sold, wenn sie an Volksversammlung und Gericht
teilnehmen, die Reichen aber, wenn sie es nicht tun, belegen sie mit
keiner Strafe. Wenn man also gerecht mischen will, so muß man
offensichtlich beides kombinieren und den einen Lohn zubilligen, den
andern Strafe auferlegen. Denn nur so werden sich alle beteiligen;
andernfalls interessiert sich nur die eine Hälfte für den Staat.
Die Regierung darf nur bei den Waffentragenden sein. Die Höhe der
Steuerschatzung darf man nicht einfach auf einen bestimmten Betrag
festlegen, sondern muß prüfen, welches der höchste Ansatz ist, bei
dem die Zahl der Regimentsfähigen diejenige der Ausgeschlossenen
noch übertrifft; diesen Satz soll man nehmen. Denn die Armen und die
von den Ämtern Ausgeschlossenen werden Ruhe geben, wenn sie
keiner beleidigt und keiner ihnen etwas vom Besitze nimmt (das ist
freilich nicht leicht; denn die Regimentsfähigen werden nicht immer
liebenswürdig sein). Sie pflegen auch im Kriege zu zögern und nicht
gern mitzumachen, wenn sie arm sind und nicht die Nahrung geliefert
bekommen. Geschieht aber dies, dann machen sie gerne mit.
Bei einigen bestehen die Regimentsfähigen nicht nur aus den
Waffentragenden, sondern auch aus jenen, die früher Waffen gehabt

XXIII
Aristoteles Politik - IV. Buch

haben. In Malia bestand die Regierung nur aus diesen, die Beamten
dagegen wurden aus denen ausgewählt, die noch zu Felde zogen.
Bei den Griechen stützte sich ja auch die erste Verfassung nach der
Königszeit auf die Bewaffneten, ursprünglich auf die Reiter (denn
damals wurde der Krieg durch die Kraft und die Überlegenheit der
Reiter bestimmt; ohne System ist nämlich die Infanterie unnütz, die
Alten hatten aber darin noch keine Erfahrungen und Prinzipien, so daß
also die ganze Stärke bei den Reitern war), als aber die Staaten
wuchsen und die Waffenträger zu Fuß sich mehr geltend machten,
wuchs auch die Zahl der regimentsfähigen Bürger. So wurde denn,
was wir heute Politie nennen, früher Demokratie genannt. Die alten
Verfassungen allerdings waren begreiflicherweise oligarchisch und
königlich. Denn wegen der geringern Bevölkerungszahl hatten sie
keine bedeutende Mitte, so daß das Volk, gering an Zahl und
niedrigen Standes, sich leicht beherrschen ließ.
Warum also mehrere Verfassungen existieren und warum andere
neben den allgemein bekannten (da es ja nicht nur eine einzige
Demokratie gibt usw.), und welches die Unterschiede und deren
Ursachen sind, und welches im ganzen gesehen die beste Verfassung
ist, und welche der sonstigen Verfassungen zu welchen
Voraussetzungen paßt, das ist nun behandelt.

14. Wiederum wollen wir allgemein wie im einzelnen zum


Nachfolgenden, den angemessenen Ausgangspunkt wählend, jede
Verfassung durchgehen. Es gibt in jeder Verfassung drei Teile, bei
denen der tüchtige Gesetzgeber jeweils das Zuträgliche zu prüfen hat.
Denn wenn es mit ihnen gut steht, so muß es mit der ganzen
Verfassung gut stehen, und die Differenzen der verschiedenen
Verfassungen sind in eben diesen Dingen begründet.
Von diesen dreien ist das eine die über die öffentlichen Dinge
beratende Instanz, das zweite die Beamten (also die Frage, welche
worüber entscheiden sollen und wie man sie zu wählen hat), das dritte
ist die Rechtsprechung.
Das Beratende entscheidet über Krieg und Frieden, Abschluß und
Auflösung von Bündnissen, über Gesetze, über Tod, Verbannung und

XXIV
Aristoteles Politik - IV. Buch

Vermögenskonfiskation, über Wahl und Rechenschaftsablage der


Beamten. Man muß alle diese Kompetenzen entweder insgesamt allen
Bürgern geben, oder alle einigen (etwa einem Beamten oder einem
Kollegium von Beamten oder verschiedenen Beamten), oder endlich
einige allen und andere nur einigen.
Daß alle über alles beraten, ist demokratisch, denn eine solche
Gleichheit erstrebt die Demokratie. Immerhin kann das »alle«
verschieden verstanden werden, etwa so, daß die Bürger der Reihe
nach und nicht alle zugleich diese Rechte ausüben (so ist es in der
Verfassung des Telekles von Milet; in andern Verfassungen beraten
alle gleichzeitigen Beamten gemeinsam, aber die Ämter treten sie
abwechselnd je nach den Phylen und den jeweils kleinsten Volksteilen
an, bis sie durch alle hindurchgegangen sind), und daß sie nur dann
zusammenkommen, wenn über Gesetzgebung und Verfassungsfragen
zu beraten ist oder wenn die Beschlüsse der Beamten
entgegenzunehmen sind.
In einer andern Weise beraten alle gleichzeitig, kommen aber nur für
die Beamtenwahlen, Gesetzgebung, Krieg und Frieden und
Rechenschaftsabnahme zusammen; alles übrige beraten die jeweils
dazu bestellten Beamten, mögen sie nun aus allen ausgelost oder
gewählt sein.
Auf wieder andere Weise kommen die Bürger zusammen für Wahl
und Rechenschaftsabnahme der Beamten und zur Beratung über Krieg
und Bündnisse; alles übrige wird von den Beamten verwaltet, soweit
nämlich diese Beamten als Fachleute gewählt sein müssen.
Eine vierte Art ist, daß alle zusammenkommen und über alles beraten,
und daß die Beamten nichts entscheiden, sondern nur Vorschläge
machen. Dies ist die gegenwärtige Art der vollendeten Demokratie,
die, wie wir behaupten, der dynastischen Oligarchie und der
tyrannischen Alleinherrschaft entspricht.
Diese Typen sind also alle demokratisch, daß aber einige über alles
beraten, ist oligarchisch. Auch da gibt es vielfache Unterschiede.
Wenn nämlich die Beratenden auf Grund einer mäßigen
Steuerschätzung gewählt werden, und es eben deshalb viele sind, und
sie dem Gesetze folgen und nicht zu verändern trachten, was es

XXV
Aristoteles Politik - IV. Buch

verbietet, und wo auch jeder sich beteiligen kann, der den Steuersatz
erreicht hat, so ist dies zwar eine Oligarchie, aber sie nähert sich
wegen ihrer Zurückhaltung der Politie.
Wenn aber nicht alle an den Beratungen teilnehmen dürfen, sondern
nur Gewählte, aber diese nach den Gesetzen regieren wie vorhin, so ist
dies oligarchisch. Wenn hingegen diejenigen, die beraten dürfen, sich
selbst durch Wahl ergänzen, und der Sohn an die Stelle des Vaters
rückt, und sie über den Gesetzen stehen, dann ist diese Ordnung
notwendigerweise extrem oligarchisch.
Wenn anderseits über einiges einige, also über einige Dinge wie
Krieg, Frieden und Rechenschaftsablage alle, über die andern Dinge
aber die Beamten beraten, und diese gewählt und nicht erlost sind, so
ist dies eine Aristokratie. Wenn über einige Dinge Gewählte, über
andere Erloste, und Erloste entweder schlechthin oder aus zuvor
Vorgeschlagenen, oder gemeinsam Gewählte und Erloste beraten,
dann sind dies Kennzeichen teils einer Aristokratie, teils einer Politie.
So unterscheidet sich also der beratende Teil in den verschiedenen
Verfassungen, und jede Verfassung hält es in derangegebenen Weise.
Einer Demokratie freilich, so wie sie jetzt meist verstanden wird (ich
meine eine solche, in der das Volk auch Herr der Gesetze ist), wäre es
zuträglich, beim Beraten am ehesten das zu tun, was in den
Oligarchien für die Gerichte geschieht: sie zwingen durch eine Buße
jene, die Richter sein sollen, dies auch wirklich zu sein, während die
Demokraten den Armen einen Sold dafür ausrichten. Dies sollten sie
auch bei den Volksversammlungen tun; denn die Beratungen werden
besser, wenn alle daran teilnehmen, das Volk mit den Angesehenen
und diese mit dem Volk zusammen. Nützlich wäre es auch, wenn die
Ratsmitglieder entweder gewählt würden oder erlost in gleicher Zahl
aus den Bevölkerungsschichten. Endlich wäre es nützlich, falls unter
den Bürgern die Leute aus dem Volke gar zu sehr überwiegen,
entweder nicht allen den Sold zu geben, sondern nur so vielen, als zur
Zahl der Angesehenen proportional ist, oder aber die Überschüssigen
durchs Los zu entfernen.
In den Oligarchien wäre es nützlich, entweder einige aus der Menge
dazuzuwählen, oder eine Behörde einzurichten, wie sie in einigen

XXVI
Aristoteles Politik - IV. Buch

Staaten besteht, und die man Vorberatende und Nomophylakes nennt,


und dann mit dem Volke nur diejenigen Geschäfte zu verhandeln, die
jene vorbesprochen haben; denn so erhält das Volk einen Anteil an
den Beratungen und kann doch nicht die Verfassung umstürzen.
Ferner müßte dann das Volk eben das beschließen, was beantragt
wird, oder doch nichts dem Widersprechendes, oder man soll alle zur
Mitberatung dazunehmen, aber zur maßgebenden Beratung nur die
Beamten. Weiterhin soll man das Gegenteil von dem tun, was jetzt in
den Staaten geschieht. Das Volk muß die Kompetenz haben, in der
Abstimmung einen Antrag zu verwerfen, nicht aber ihn anzunehmen,
sondern der angenommene soll noch einmal vor die Regierung
kommen. Faktisch geschieht in den Staaten das Gegenteil: die
Oligarchen haben das Recht der Ablehnung, nicht aber der
Zustimmung, sondern diese wird immer der Menge überlassen. Dies
sei also über die beratende und entscheidende Instanz gesagt.

15. Im Anschluß daran sind nun die Regierungsämter zu


unterscheiden. Denn auch diese haben viele Verschiedenheiten, der
Zahl nach, der Kompetenz nach, der Amtsdauer nach (denn
gelegentlich erhalten sie sechs Monate, gelegentlich weniger, oder ein
Jahr oder noch längere Amtsperioden), und ob die Ämter überhaupt
lebenslänglich oder langfristig sein sollen oder keines von beiden, und
ob statt dessen mehrmals die selben an die Reihe kommen dürfen,
oder nie zweimal derselbe, sondern immer nur einmal; endlich, was
die Bestellung der Beamten betrifft, woher man sie nehmen soll und
durch wen und wie. Dies alles ist zu untersuchen nach den
verschiedenen Möglichkeiten, die es gibt, und dann festzustellen,
welche Möglichkeiten welchen Verfassungen angemessen und zuträg-
lich sind.
Schon dies ist nicht leicht zu bestimmen, was man als Re-
gierungsämter bezeichnen soll. Denn die politische Gemeinschaft
bedarf vieler Vorsteher, und doch kann man nicht alle, die gewählt
oder erlost werden, als Beamte bezeichnen, wie etwa zuerst die
Priester (denn dies ist von den politischen Ämtern abgesondert), dann
die Chorleiter und Herolde; auch die Gesandten werden ja gewählt.

XXVII
Aristoteles Politik - IV. Buch

Es gibt nun an politischen Aufgaben entweder die Fürsorge für alle


Bürger im Hinblick auf eine bestimmte Aufgabe, wie etwa die des
Feldherrn für die Soldaten, oder die Fürsorge für bestimmte Bürger,
wie die Aufseher der Frauen und der Kinder; andere Aufgaben sind
ökonomisch (denn oftmals werden Getreidekontrolleure gewählt),
andere endlich sind dienende und werden, wo die Mittel dazu
ausreichen, mit Sklaven besetzt.
Ämter sind vorzugsweise jene zu nennen, denen Beratungen über
irgendwelche Gegenstände anvertraut sind und Entscheidungen und
Befehlsgewalt, und vor allem diese. Denn das Befehlen ist der
Regierung besonders eigentümlich. Aber das bedeutet für die Praxis
nichts (denn es ist noch nie über die Namen gestritten und darüber
entschieden worden), sondern hat eher seinen Ort in der theoretischen
Betrachtung.
Dagegen welche und wie viele Ämter für einen Staat unentbehrlich
sind, und welche nicht notwendig sind, aber in einem guten Staate
nützlich, das wird man eher zu fragen haben gegenüber jeder
Verfassung und besonders gegenüber den Kleinstaaten. Denn in den
großen Staaten kann man je ein Amt für jede Aufgabe schaffen (da
viele Bürger vorhanden sind, können viele in die Ämter eintreten, und
diese werden teils nur in großen Abständen, teils überhaupt nur einmal
von demselben besetzt, und jede Angelegenheit wird auch besser
besorgt, wenn ein Beamter nur eine einzige Sache verwaltet und nicht
viele). In den Kleinstaaten müssen aber auf wenige Personen viele
Ämter gehäuft werden; wegen der Menschenarmut ist esschwierig,
viele Bürger als Beamte zu beanspruchen, und wer soll dann diese
wieder ablösen? Die kleinen Staaten bedürfen nun allerdings zuweilen
derselben Ämter und Gesetze wie die großen. Aber die großen
brauchen dieselben viel öfters, die kleinen in langer Zeit nur selten. So
ist es also möglich, derselben Person mehrere Aufgaben
anzuvertrauen, da diese einander nicht hindern werden. Und wegen
der geringen Menschenzahl müssen die Ämter wie die Geräte
eingerichtet sein, die gleichzeitig Gabeln und Leuchter sind.
Wenn wir nun angeben können, wieviel Ämter jeder Staat
notwendigerweise haben muß, und wie viele er nicht haben muß, aber

XXVIII
Aristoteles Politik - IV. Buch

doch haben sollte, so werden wir auch leichter erkennen, welche


Ämter man zu einem einzigen zusammennehmen kann.
Ferner muß man beachten, in welchen Fällen viele Ämter an
verschiedenen Orten bestimmte Aufgaben haben, und in welchen
überall nur eine einzige Behörde zu entscheiden hat; etwa ob über die
Ordnung des Verkehrs auf dem Markte die Marktpolizei, und
anderswo ein anderer Beamter zu sorgen hat, oder überall derselbe;
ferner ob man diese Aufgaben nach den Sachen einteilen muß oder
nach den Menschen, das heißt also einen überhaupt für die gesamte
öffentliche Ordnung, oder je einen für die Kinder und für die Frauen.
Auch im Hinblick auf die Verfassungen ist zu fragen, ob jeweils die
Art der Beamten sich da ändert oder nicht; also ob in Demokratie,
Oligarchie, Aristokratie und Monarchie dieselben entscheidenden
Ämter vorliegen, nur daß sie nicht aus Gleichen oder Ebenbürtigen
bestellt werden, sondern immer wieder aus andern, in der Aristokratie
aus den Gebildeten, in der Oligarchie aus den Reichen, in der
Demokratie aus den Freien; oder gibt es auch einige spezifische
Unterschiede in den Ämtern selbst, und dieselben Ämter wären da
gleich, dort verschieden (und zuweilen sind ja dieselben Ämter
angemessenerweise hier bedeutend, dort unbedeutend)?
Es kann aber auch besondere Ämter geben, wie die Probulen. Denn
dies ist nicht demokratisch, sondern zur Demokratie gehört der Rat. Es
muß nämlich eine Behörde geben, die sich darum kümmert, die
Angelegenheiten für das Volk vorzuberaten, damit es keine Zeit
verliert; wenn diese aus wenigen Menschen besteht, so ist dies
oligarchisch, und die Probulen müssen notwendigerweise wenige sein;
also ist dieses Amt ein oligarchisches. Wo aber beide Ämter
existieren, da sind die Probulen den Ratsmitgliedern vorgesetzt; denn
der Ratsherr ist demokratisch, der Probule oligarchisch.
Die Kompetenz des Rates löst sich aber auch in solchen Demokratien
auf, in denen die Volksversammlung selbst alles in die Hand nimmt.
Das pflegt dort einzutreten, wo der Sold für die Beteiligung an der
Volksversammlung reichlich ist. Da haben sie Muße, versammeln sich
häufig und entscheiden über alles.

XXIX
Aristoteles Politik - IV. Buch

Die Aufseher über Kinder und Frauen, und was es sonst verwandte
Beamte gibt, sind ein aristokratisches, kein demokratisches Amt (denn
wie will man den Frauen der Armen das Ausgehen verbieten ?), noch
ein oligarchisches (denn die Frauen der Oligarchen leben im Luxus).
Darüber mag jetzt soviel gesagt sein; jetzt wollen wir nach der
Besetzung der Ämter fragen, und dies von Anfang an durchgehen.
Die Unterschiede bestehen in drei Dingen, deren Kombination mit
Notwendigkeit alle Möglichkeiten ergibt. Die eine Frage ist, wer die
Beamten beruft, die zweite, woher sie genommen werden, und die
dritte, auf welche Weise sie bestellt werden. Zu jeder dieser drei
Fragen gibt es drei Unterschiede: entweder berufen alle Bürger oder
nur einige; und entweder aus allen oder aus einem begrenzten Kreise,
der etwa durch Steuerschätzung, Tugend oder dergleichen bestimmt
sein kann (wie in Megara aus denen, die mit aus der Verbannung
zurückgekommen waren und mit gegen das Volk gekämpft hatten),
endlich: entweder bestimmt man durch Wahl oder durchs Los.
Verbindet man nun wieder dies miteinander, also etwa so, daß einige
Ämter durch einige, andere durch alle besetzt werden, einige aus dem
ganzen Volke, andere aus einem begrenzten Kreise und einige durch
Wahl und andere durch Losung, so werden sich vier Typen der
Unterschiede ergeben.
Entweder besetzen alle aus allen durch Wahl, oder alle aus allen
durchs Los (und wenn aus allen, dann entweder abwechselnd, etwa
nach Phylen, Demen und Bruderschaften, bis es durch das ganze Volk
hindurch gegangen ist, oder eben dauernd aus allen zusammen); [oder
alle aus einem bestimmten Kreis durch Wahl, oder alle aus einem
bestimmten Kreis durchs Los]; oder dann teils so und teils anders;
weiterhin, wenn nur ein bestimmter Kreis wählt, dann wiederum
entweder aus allen durch Wahl, oder aus allen durchs Los, oder aus
einembestimmten Kreis durch Wahl und einem bestimmten Kreise
durchs Los, oder eben teils so, teils anders, daß also das eine durchs
Los, das andere durch Wahl geschieht.
So wird es also außer den zwei Kombinationen zwölf Typen geben.
Von diesen sind zwei Typen demokratisch, daß alle aus allen entweder
durch Wahl oder durch Los bestimmt werden, oder kombiniert, die

XXX
Aristoteles Politik - IV. Buch

einen durch Wahl und die andern durchs Los. Daß aber nicht zugleich
alle wählen, und entweder aus allen oder aus einigen durch Los oder
Wahl oder durch beides gewählt werden, oder so, daß einige aus allen,
andere nur aus einigen und wieder auf beide Weisen, also teils durch
Los, teils durch Wahl, das gehört zur Politie.
Und daß einige aus allen entweder durch Wahl oder Los oder beides
(also teils durch Wahl und teils durchs Los) bestellen, ist oligarchisch,
daß aber aus beiden, nämlich teils aus allen, teils aus einigen bestimmt
wird, gehört zu einer Politie mit aristokratischer Neigung.
Daß aber einige aus einigen bestimmt werden, ist oligarchisch, ebenso,
daß einige aus einigen durchs Los wählen (doch nicht in derselben
Weise), und daß einige aus einigen auf beide Weisen, durch Wahl und
Los, es tun. Daß endlich einige aus allen und alle aus einigen durch
Wahl besetzen, ist aristokratisch.
Dies ist also die Zahl der Typen der Ämterbestellung. Sie verteilen
sich in der angegebenen Weise auf die Verfassungen. Was aber
welcher nützt und wie man's einrichten soll, das wird sich zeigen,
wenn die Kompetenzen und die Art der Ämter festgestellt sind. Unter
Kompetenz verstehe ich etwa, ob sie die Steuereingänge oder die
öffentliche Sicherheit verwalten. Denn die Art der Kompetenz ist eine
andere bei einem Feldherrn als bei dem Amte, das den Marktverkehr
kontrolliert.

16. Als letztes muß von den Gerichten die Rede sein. Auch hier sind
die Typen nach demselben Verfahren festzustellen. Der Unterschied
der Gerichte beruht auf drei Dingen, woraus sie bestellt werden sollen,
worüber sie richten sollen und wie sie bestellt werden sollen. Aus
welchen, meine ich, ob aus allen oder einigen; worüber, wie viele
Arten von Gerichtshöfen es gibt; das Wie, ob sie erlost oder gewählt
werden sollen.
Als erstes sei festgelegt, wie viele Arten von Gerichtshöfen es gibt.
Sie sind acht an der Zahl: für Rechenschaftsablage, für Vergehen
gegen die Interessen der Gemeinschaft, für Vergehen gegen die
Verfassung, für Beamte und Private bei Appellationen gegen Strafen,
für private Verträge von größerer Bedeutung, dann noch die Gerichte

XXXI
Aristoteles Politik - IV. Buch

für Mordfälle und für die Ausländer. (Jenes hat, mag es bei denselben
Richtern sein oder bei verschiedenen, mehrere Formen: über
absichtlichen und unabsichtlichen Mord, und über Fälle, wo der
Tatbestand klar ist, aber die Berechtigung diskutiert wird, und eine
vierte Art, wenn die wegen Mord Verbannten bei der Rückkehr aufs
neue angeklagt werden, so wie es in Athen das Gericht in Phreatto
gibt; dies ist aber ein äußerst seltener Fall und kommt nur in großen
Staaten vor. Beim Ausländergericht gibt es das eine für Ausländer
untereinander und ein anderes für Ausländer gegen Bürger.)
Außerdem gibt es neben alledem noch ein Gericht über die kleinen
Geschäfte, die eine oder fünf Drachmen umfassen oder noch ein
wenig mehr. Denn auch darüber muß entschieden werden können,
doch das fällt nicht in die Kompetenz der großen Gerichtshöfe.
Aber darüber sei nichts weiter gesagt, auch nicht über Mordgerichte
und Ausländergerichte, dagegen wohl über die politischen Gerichte,
die, wenn sie nicht richtig eingerichtet sind, zu Streitigkeiten und
Verfassungsunruhen Anlaß werden können. Es müssen also entweder
alle über alles entscheiden, die durch Wahl oder Los dazu bestimmt
sind, oder alle über alles teils mit Los, teils mit Wahl; oder es sind für
einige identische Angelegenheiten die einen durchs Los, die andern
durch Wahl bestellt. Das sind also vier Typen. Ebenso viele andere
ergeben sich, wenn die Bürger nur abwechslungsweise zugelassen
werden. Denn auch wenn die Richter nur aus einigen bestellt sind,
werden sie entweder über alles durch Wahl berufen, oder aus einigen
über alles durchs Los, oder teils durchs Los, teils durch Wahl, oder
einige Gerichtshöfe sind in derselben Sache aus Erlosten und aus
Gewählten bestimmt. Das sind also, wie gesagt, die weiteren Typen.
Man kann auch die Dinge kombinieren, etwa daß ein Teil der Gerichte
aus allen, ein Teil aus einigen bestimmt sei, oder daß die Gerichte
nach beiden Arten gleichzeitig bestellt werden, so daß etwa in
demselben Gerichtshof die einen aus allen bestimmt sind, die andern
aus einem bestimmten Kreise, und dies durch Los oder durch Wahl
oder durch beides.
So ist also gesagt, wie viele Arten der Gerichtshöfe es geben kann.
Demokratisch sind da die ersten, worin aus allen Bürgern Richter für

XXXII
Aristoteles Politik - IV. Buch

alles bestimmt werden, die zweiten oligarchisch, wo sie aus einigen


für alles bestimmt werden, die dritten gehören zur Aristokratie und zur
Politie, wo für das eine aus allen, für das andere aus einigen die
Richter genommen werden.

XXXIII
Aristoteles Politik - V. Buch

Fünftes Buch

1. Die andern Gegenstände, die wir uns vorgenommen hatten, sind


nun so ziemlich alle durchbesprochen. Im Anschluß daran muß nun
untersucht werden, aus welchen, wie vielen und was für Ursachen die
Verfassungen sich verändern, und welches die besondere Gefahr für
jede Verfassung ist, und welche Verfassungen in welche vorzugsweise
umschlagen, und was bei allen und jeder einzelnen den Bestand
sichert, und wodurch jede einzelne Verfassung am ehesten erhalten
werden kann.
Man muß fürs erste als Ausgangspunkt voraussetzen, daß es viele
Verfassungsformen gibt, weil zwar alle im Begriff der Gerechtigkeit
und der proportionalen Gleichheit übereinstimmen, aber dies dann
doch verfehlen, wie wir es schon vorhin gesagt haben. Die Demokratie
entstand dadurch, daß man meinte, wer in einem bestimmten Punkte
gleich sei, der sei es auch in allem (weil nämlich alle gleichmäßig frei
sind, glauben sie schlechthin gleich zu sein), die Oligarchie umgekehrt
dadurch, daß man glaubte, weil die Menschen in einem bestimmten
Punkte ungleich sind, so seien sie es überhaupt (da sie nämlich im
Vermögen ungleich sind, so meint man, sie seien überhaupt ungleich).
Die einen wollen, da sie gleich sind, an allem gleichmäßigen Anteil
haben. Die andern suchen als Ungleiche ein Übermaß zu erlangen;
denn das Mehr ist ein Ungleiches. So besitzen sie denn alle ein Stück
der Gerechtigkeit, im Ganzen aber gehen sie fehl. Aus dieser Ursache
kommt es auch zu Unruhen, wenn sie nicht an den politischen Rechten
teilhaben gemäß der Meinung, die sie jeweils davon haben.
Von allen das größte Recht zu Aufruhr hätten wohl jene, die dies am
wenigsten tun, nämlich die an Tugend hervorragenden Bürger. Denn
es ist am ehesten anzunehmen, daß diese allein schlechthin ungleich
sind. Es gibt aber auch solche, die von hervorragender Abkunft sind
und sich wegen dieser Ungleichheit nicht mit dem Gleichen begnügen
wollen. Denn sie gelten als adlig, weil ihre Vorfahren tüchtig und
reich gewesen sind.
Dies also sind sozusagen die Ursprünge und Quellen der Revolutionen
und ihre Motive. Darum gibt es auch zwei Arten von Umwälzungen.

I
Aristoteles Politik - V. Buch

Die eine betrifft die Verfassung selbst. Man vertauscht die bestehende
mit einer anderen, wie die Demokratie mit der Oligarchie oder
umgekehrt, oder es wirdaus diesen beiden die Politie und die
Aristokratie, oder umgekehrt aus diesen jene zwei. Zuweilen jedoch
stellt man nicht die bestehende Verfassung in Frage, sondern will
ihren Weiterbestand, aber so, daß man sie in seiner Hand hat, etwa die
Oligarchie oder die Monarchie.
Außerdem streitet man über das Mehr oder Weniger, etwa daß eine
Oligarchie noch mehr oder weniger oligarchisch gestaltet werden soll,
und ebenso eine Demokratie und die übrigen Verfassungen, die man
entweder straffen oder lockern möchte. Endlich kann man auch nur
einen Teil der Verfassung verändern wollen, etwa eine Behörde neu
einsetzen oder abschaffen, wie nach einigen in Sparta Lysandros
versucht haben soll, das Königtum abzuschaffen, und der König
Pausanias den Ephorat. Auch in Epidamnos wurde die Verfassung nur
teilweise geändert: an die Stelle der Phylarchen setzte man einen Rat.
In der Volksversammlung müssen dagegen auch jetzt noch die aus der
regierungsfähigen Bürgerschaft kommenden Beamten anwesend sein,
wenn über die Besetzung eines Amtes abgestimmt wird. Oligarchisch
war in dieser Verfassung auch, daß es nur einen Archon gab.
Überall entsteht die Revolution durch die Ungleichheit, jedenfalls
dort, wo sich die Ungleichheit nicht auf eine sinnvolle Relation
stützen kann (so ist ein lebenslängliches Königtum nur dann ungleich,
wenn es unter Gleichen besteht). Ganz allgemein gesagt, empört man
sich, weil man nach dem Gleichen strebt. Dieses Gleiche ist aber
doppelter Natur, der Zahl nach oder der Würdigkeit nach: der Zahl
nach meine ich das, was an Menge oder Größe eines und dasselbe ist,
der Würdigkeit nach das, was dem Verhältnis nach dasselbe ist. So
übertrifft die Zahl drei die zwei und diese die eins um dieselbe Zahl
eins. Dagegen ist im gleichen Verhältnis größer die vier als die zwei
und die zwei als die eins; denn die zwei ist derselbe Teil der vier wie
die eins der zwei: beide Male ist es die Hälfte. Nun ist man zwar darin
einig, daß das schlechthin Gerechte dasjenige gemäß der Würdigkeit
ist; dennoch bestehen darin Differenzen, wie ich vorhin sagte, daß die
einen meinen, wenn irgendeine Gleichheit bestehe, so seien sie

II
Aristoteles Politik - V. Buch

überhaupt gleich, und die andern, wenn irgendeine Ungleichheit


bestehe, so seien sie überhaupt ungleich.
Daher entstehen denn auch vor allem zwei Verfassungen, die
Demokratie und die Oligarchie. Denn Adel und Tugend gibt es nur bei
wenigen; was aber hier entscheidet, findet sich bei mehreren: Adlige
und Tüchtige gibt es nirgendwo mehr als hundert, Reiche [und Arme]
dagegen überall viele. Daß ein Staat aber schlechthin und vollständig
nach einer der beiden Gleichheiten geordnet werde, ist schlecht. Das
zeigt sich aus den Tatsachen. Denn keine derartige Verfassung hat
Bestand. Es muß ja zwangsläufig ein schlimmes Ende herauskommen,
wenn das Erste und der Anfang verfehlt sind. Man muß also teils die
arithmetische Gleichheit verwenden, teils diejenige der Würdigkeit
nach. Immerhin ist die Demokratie stabiler und freier von Unruhen als
die Oligarchie. Denn in den Oligarchien gibt es zweierlei, den Zwist
untereinander und denjenigen mit dem Volke, bei den Demokratien
dagegen nur denjenigen mit den Oligarchien; ein Aufruhr des Volkes
in sich selbst, der der Rede wert wäre, kommt nicht vor. Ferner ist die
mittlere Staatsform der Demokratie näher als der Oligarchie, und sie
ist die verläßlichste aller derartigen Staatsformen.

2. Wenn wir nun prüfen, woraus die Aufstände geschehen und die
Veränderungen in den Verfassungen, müssen wir zuerst allgemein von
ihren Ursprüngen und Ursachen reden. Es sind ihrer ungefähr drei an
der Zahl, und diese muß man zuerst einmal im Umriß sondern. Denn
man muß erkennen, in welcher Verfassung man Revolutionen beginnt
und zu welchem Zwecke, und drittens, welches die Ursprünge der
politischen Wirren und der Revolutionen sind.
Als Ursache dafür nun, daß sich die Bürger selbst schon in der
Richtung auf den Umsturz verhalten, ist vor allem das zu nennen, was
wir vorhin schon besprochen haben. Die einen verlangen nach
Gleichheit und empören sich, wenn sie meinen, zu wenig erhalten zu
haben, obschon sie denen, die mehr haben, doch gleich sind; die
andern verlangen nach Ungleichheit und Bevorzugung, wenn sie
glauben, ungleich zu sein und doch nicht mehr zu haben, sondern nur
gleich viel oder gar weniger (dieses Streben kann gerecht, aber auch

III
Aristoteles Politik - V. Buch

ungerecht sein). Wenn sie zurückgesetzt sind, empören sie sich, um


gleich viel zu erhalten, und wenn sie gleich viel haben, um mehr zu
bekommen. Damit ist also gesagt, was der Ausgangspunkt der
Revolutionen ist.
Der Gegenstand der Revolutionen ist Gewinn und Ehre und das
Gegenteil davon. Denn auch dies führt in den Staaten zu
Revolutionen, wenn man die Ehrlosigkeit meiden will oder einen
Schaden für sich selbst oder seine Freunde.
An Ursachen und Ursprüngen der Bewegungen, durch die die Bürger
sich in der geschilderten Weise im Hinblick auf das Genannte
verhalten, kann man etwa sieben nennen oder auch mehr. Zwei von
ihnen sind identisch mit dem eben Genannten, aber nicht in dem
bisherigen Sinne. Denn um des Gewinnes und der Ehre willen erhitzen
sie sich gegeneinander, aber nun nicht, um dies für sich selbst zu
erwerben, wie vorhin gesagt, sondern weil man sieht, daß andere, teils
gerecht, teils ungerecht, an diesen beiden Dingen ein Übermaß
besitzen. Weitere Ursachen sind die Gewalttätigkeit, die Angst, das
Übergewicht und die Verachtung und ein das rechte Verhältnis
überschreitendes Anwachsen. Endlich in einem andern Sinne die
Amtserschleichung, die Nachlässigkeit, die Kleinheit und die
Ungleichheit.

3. Welche Wirkung die Gewalttätigkeit und die Gewinnsucht haben,


und in welchem Sinne sie Ursachen sind, ist wohl so ziemlich klar.
Denn sind die Regierenden gewalttätig und anmaßend, so erheben sich
die Bürger gegeneinander und gegen die Verfassung, die dies möglich
macht. Die Anmaßung gründet sich zuweilen auf den Privatbesitz,
zuweilen auf die öffentlichen Mittel.
Klar ist es auch, was die Ehre vermag, und wie sie die Ursache von
Aufständen ist. Denn man empört sich, wenn man selbst ohne Ehre
bleibt und andere geehrt sieht. Ungerecht geschieht dies, wenn
einzelne gegen ihre Würdigkeit Ehre oder Unehre erfahren, gerecht,
wo dies der Würdigkeit entsprechend geschieht.
Das Übergewicht ist die Ursache, wo einer oder mehrere mächtiger
sind, als es der Staat und seine Organisation ertragen können. In

IV
Aristoteles Politik - V. Buch

solchen Verhältnissen pflegt eine Monarchie oder eine


Dynastenherrschaft zu entstehen. Darum ist auch an einzelnen Orten
der Ostrakismos üblich, etwa in Argos oder in Athen. Besser ist es
freilich, von Anfang an darauf zu achten, daß nicht derart
Übermächtige entstehen, als dies geschehen zu lassen und nachher die
Lage zu heilen.
Aus Angst machen Aufstände jene, die Unrecht getan haben und nun
eine Strafe fürchten müssen, ebenso jene, die Angst davor haben,
Unrecht leiden zu müssen, und nun dem zuvorkommen wollen, so wie
sich in Rhodos die Angesehenen gegen das Volk zusammentaten
wegen der Prozesse, die gegen sie geführt wurden.
Die Verachtung ist die Ursache von Aufständen und Anschlagen etwa
in den Oligarchien, wenn diejenigen, die an der Staatsverwaltung
keinen Anteil haben, in der Überzahl sind (und überdies meinen,
überlegen zu sein), und in den Demokratien, wo die Vermögenden die
Unordnung und Gesetzlosigkeit verachten, so wie in Theben die
Demokratie zugrunde ging, als sie nach der Schlacht bei Oinophyta
schlecht geführt wurde; ebenso bei den Megarern, als sie wegen ihrer
Unordnung und Gesetzlosigkeit besiegt wurden, und in Syrakus vor
der Tyrannis Gelons und in Rhodos die Demokratie vor dem großen
Aufstand.
Ebenso gibt es Verfassungsänderungen durch Vermehrungen, die das
angemessene Verhältnis überschreiten. Wie nämlich ein Körper aus
verschiedenen Teilen besteht und diese im richtigen Verhältnis
wachsen müssen, damit die Symmetrie bestehen bleibt (denn
andernfalls geht das Wesen zugrunde: wenn etwa der Fuß vier Ellen
lang wäre und der übrige Körper nur zwei Spannen. Zuweilen kann
sogar der Umschlag in die Gestalt eines andern Lebewesens erfolgen,
wenn die unproportionierte Vermehrung sich nicht bloß der Quantität,
sondern auch der Qualität nach vollzieht), so ist auch ein Staat aus
Teilen zusammengesetzt, von denen oftmals einer unvermerkt
anwächst, wie etwa die Masse der Besitzlosen in den Demokratien
und Politien. Zuweilen ergibt sich dies auch durch Schicksalsschläge:
in Tarent wurde kurz nach den Perserkriegen ein großer Teil der
Angesehenen durch die Japyger besiegt und getötet, so daß dann aus

V
Aristoteles Politik - V. Buch

der Politie eine Demokratie entstand. Und als in Argos in der Schlacht
vom Siebenten viele durch den Spartaner Kleomenes getötet worden
waren, da sahen sie sich gezwungen, Periöken in die Bürgerschaft
aufzunehmen. In Athen nahm durch die unglücklichen Landkriege die
Zahl der Angesehenen ab, weil sie zur Zeit des Peloponnesischen
Krieges der Reihe nach immer wieder eingezogen wurden. Dies
geschieht auch in den Demokratien, aber seltener; immerhin, wenn die
Zahl der Wohlhabenden wächst oder die Vermögen größer werden,
schlagen sie um in Oligarchien und Dynastenherrschaften.
Die Verfassungen verändern sich auch ohne Revolution durch die
Amtserschleichungen, wie in Heraia (man ersetzte dort die offene
Wahl durch die Loswahl, weil jene gewählt worden waren, die
geschmiert hatten), oder durch Unachtsamkeit, wenn man in die
wichtigsten Ämter Männer gelangen läßt, die der bestehenden
Verfassung feindlich gesinnt sind. So wurdein Oreos die Oligarchie
beseitigt, als Herakleodoros in die Zahl der Archonten aufgenommen
worden war, der aus der Oligarchie eine Politie und Demokratie
machte.
Eine weitere Ursache sind die kleinen Verschiebungen, wenn nämlich
oftmals unvermerkt eine große Veränderung in den
Gesetzesvorschriften stattfindet, deren einzelne kleine Etappen man
nicht beachtet. So war in Ambrakia die Steuerschatzung gering, und
schließlich ließ man auch die Mittellosen zu, da ja zwischen dem
geringen Census und dem Fehlen des Census überhaupt kein
Unterschied sei.
Zu Aufständen führt auch die Anwesenheit verschiedener Stämme,
jedenfalls so lange, bis eine organische Einheit hergestellt ist. Wie
nämlich ein Staat nicht aus einer beliebigen Volksmasse entsteht, so
auch nicht in einer beliebigen Zeitdauer. Darum hat es fast immer
Konflikte gegeben, wo Mitbewohner oder Kolonisten aufgenommen
worden sind. So haben Achaier zusammen mit Troizeniern Sybaris
besiedelt, dann vermehrten sich die Achaier übermäßig und vertrieben
die Troizenier (daher kam es zum Fluche über die Sybariten). In
Thurioi bekamen die Sybariten wieder Streit mit den Miteinwohnern:
sie meinten, das Land gehöre ihnen, stellten zu große Ansprüche und

VI
Aristoteles Politik - V. Buch

wurden vertrieben. In Byzanz intrigierten die Zugewanderten gegen


die Einwohner, wurden entdeckt und durch eine Schlacht vertrieben.
Umgekehrt vertrieben in einer Schlacht die Emigranten aus Chios die
Antissaier, die sie aufgenommen hatten. Dasselbe widerfuhr den
Zanklaiern durch die Samier. Die Einwohner von Apollonia am
Pontos ließen Neusiedler kommen und gerieten in Revolutionen. Die
Syrakusaner nahmen nach der Tyrannis die Ausländer und Söldner in
das Bürgerrecht auf, was zu Aufständen und zu einer Schlacht führte.
Nachdem die Einwohner von Amphipolis Neusiedler aus der
Chalkidike aufgenommen hatten, gerieten sie in Streit und wurden
zum größten Teile von diesen vertrieben.
In den Oligarchien macht das Volk Aufstände, das Unrecht zu leiden
behauptet, weil es (wie wir früher sagten) nicht an den gleichen
Rechten teilhat, obschon es gleich ist; in den Demokratien tun es die
Angesehenen, weil sie sich ungleich fühlen und doch mit den andern
gleichgestellt sind.
Zuweilen gibt es auch Aufruhr wegen der Ortslage, wenn das Land
nicht geeignet ist, zu einem einzigen Staate zusammengefaßt zu
werden. So erhoben sich in Klazomenai die Leute des Chyton gegen
die Bewohner der Insel, und ebenso die Kolophonier und die Notier.
Auch in Athen finden sich solche Gegensätze, da die Bewohner des
Peiraieus demokratischer gesinnt sind als die der Oberstadt. Wie
nämlich im Kampfe trennende Gräben, auch wenn sie ganz schmal
sind, dennoch den Zusammenhang der Truppe zerreißen, so scheint da
jeder Unterschied zu einem Gegensatz zu führen.
Der größte Gegensatz ist wohl derjenige zwischen Tugend und
Schlechtigkeit, dann zwischen Reichtum und Armut und so andere,
bald mehr, bald weniger; und dazu gehört auch der genannte.

4. Die Revolutionen entstehen nun nicht um geringe Dinge, aber aus


geringen Dingen; das, worum sie entstehen, ist dagegen groß. Auch
kleine Ursachen haben dort eine große Bedeutung, wenn sie sich an
wichtigen Punkten zeigen, so wie es in alten Zeiten in Syrakus war.
Da veränderte sich die Verfassung, weil zwei junge Leute einen
Aufruhr unternahmen, und zwar wegen einer Liebesgeschichte, beide

VII
Aristoteles Politik - V. Buch

aus den regierenden Familien. Denn während der eine verreist war,
bemächtigte sich sein Kamerad des Geliebten des ersten; dieser
wiederum zürnte ihm und veranlaßte dessen Frau, zu ihm zu kommen.
Darauf nahmen alle regierenden Familien für den einen oder den
andern Partei, und es kam zum Aufruhr.
Darum muß man wohl darauf achten, wenn solche Dinge im Entstehen
sind, und muß die Streitigkeiten unter den Führern und Mächtigen
beilegen. Denn der Fehler liegt im Anfang, und der Anfang ist, wie es
heißt, die Hälfte des Ganzen. Darum ist der kleine Fehler am Anfang
gleich bedeutend wie die großen Fehler in späteren Stadien.
Im allgemeinen machen die Streitigkeiten unter den Angesehenen den
ganzen Staat mitleiden, so wie es in Hestiaia geschah nach den
Perserkriegen, wo zwei Brüder sich um den väterlichen Grundbesitz
stritten. Der ärmere rief die Demokraten zu Hilfe, weil der andere ihm
nicht das Vermögen deklarierte und auch nicht den Schatz, den der
Vater gefunden hatte; der andere, der viel Vermögen hatte, gewann die
Reichen für sich. In Delphi wurde ein Streit im Zusammenhang mit
einer Heirat die Ursache aller späteren Unruhen. Als der Bräutigam
zur Braut gehen wollte, begegnete ihm etwas, was er als schlimmes
Zeichen deutete, und so ging er weg und nahm die Braut nicht. Die
Verwandten aber fühlten sich beschimpft und steckten ihm, als er
opferte, Tempelgeld zuund töteten ihn dann als einen Tempelschänder.
In Mytilene entstand ein Streit wegen Erbtöchtern, und dieser wurde
die Ursache vielen Unheils und auch des Krieges gegen die Athener,
in dessen Verlauf Paches ihre Stadt eroberte. Timochares nämlich,
einer der Wohlhabenden, hinterließ zwei Töchter; Dexandros wollte
sie für seine Söhne haben, wurde aber abgewiesen und erhielt sie
nicht, begann einen Aufstand und hetzte die Athener auf, deren
offizieller Proxenos er war. Bei den Phokaiern entstand ein Streit
zwischen Mnaseas, dem Vater des Mnason, und Euthykrates, dem
Vater des Onomarchos, wegen einer Erbtochter, und dieser Streit
wurde bei den Phokern die Ursache des Heiligen Krieges. Auch in
Epidamnos veränderte sich die Staatsform durch eine Ehegeschichte.
Jemand hatte seine Tochter heimlich einem Manne verlobt, und als ihn
der Vater des Mannes, der inzwischen Archon geworden war,

VIII
Aristoteles Politik - V. Buch

deswegen strafte, nahm sich der andere, der sich beleidigt vorkam, die
von der Regierung ausgeschlossenen Bürger zu Helfern.
Es gibt auch Übergänge in Oligarchie, Demokratie und Politie, wenn
die Regierung oder sonst ein Teil des Staates sich besonders
auszeichnen und an Ansehen gewinnen, so wie sich der Rat des
Areopag auszeichnete in den Mederkriegen und die Energie des
Staates gefördert zu haben schien. Ebenso war die Masse der Seeleute
die Ursache für den Sieg bei Salamis und darum auch der Hegemonie
auf Grund der Herrschaft über das Meer, und so stärkte sie wieder die
Demokratie. In Argos bewährten sich die Angesehenen in der Schlacht
von Mantineia gegen die Spartaner und versuchten daraufhin die
Demokratie zu stürzen. In Syrakus erfocht das Volk den Sieg im
Kampfe gegen die Athener und verwandelte darum die Verfassung aus
einer Politie in eine Demokratie. In Chalkis vertrieb das Volk
zusammen mit den Angesehenen den Tyrannen Phoxos und
beherrschte sofort den Staat. Ebenso geschah es in Ambrakia: das
Volk half da den Feinden des Periandros, den Tyrannen zu vertreiben,
und brachte sofort die Verfassung an sich.
Im allgemeinen darf man nicht übersehen, daß die Schöpfer einer
Macht, Privatleute, Beamte, Phylen oder sonst irgendein Teil und eine
Masse des Volkes, immer Unruhen veranlassen: entweder fangen die
anderen an, die diesen die Ehre mißgönnen, oder diese selbst wollen
im Hinblick auf ihr überragendes Verdienst nicht mehr in der
Gleichheit bleiben.
Die Verfassungen ändern sich auch dann, wenn die als Gegensätze
geltenden Teile des Volkes im Gleichgewicht stehen, etwa die
Reichen und das unbemittelte Volk, während die Kraft in der Mitte
nur ganz gering ist oder überhaupt nicht existiert. Wenn freilich der
eine Teil stark überwiegt, so mag der andere gegen den offenkundig
Stärkeren nichts riskieren (darum machen auch die an Tugend
Hervorragenden sozusagen niemals einen Aufstand. Denn sie sind
immer wenige gegen eine Überzahl).
Im allgemeinen also verhalten sich die Ursprünge und Ursachen der
Revolutionen und Verfassungsänderungen in allen Fällen auf die
genannte Weise.

IX
Aristoteles Politik - V. Buch

Umgestürzt wird die Verfassung teils durch Gewalt, teils durch List,
und zwar durch Gewalt entweder gleich von Anfang an oder dann
später, wenn man dazu übergeht, Zwang anzuwenden. Auch die List
ist eine doppelte. Zuweilen täuscht man die Bürger am Anfange und
ändert die Verfassung mit ihrer Zustimmung, und hält dies nachher
mit Gewalt gegen ihren Willen fest (so täuschte man zur Zeit der
Vierhundert das Volk mit der Behauptung, der Großkönig würde Geld
für den Krieg gegen Sparta zur Verfügung stellen, und als dann der
Betrug klar wurde, versuchten sie die Staatsform mit Gewalt
festzuhalten). Zuweilen überzeugt man die Bürger von Anfang an, und
auch später vermag man sie zu überzeugen und sie freiwillig zu
beherrschen.
Dies sind also im allgemeinen die Ursachen, aus denen die
Verfassungsänderungen in allen Staatsformen zu geschehen pflegen.

5. Dies müssen wir nun für jede einzelne Verfassungsart


differenzieren und untersuchen, wie es zugeht.
Die Demokratien verändern sich hauptsächlich durch die
Zügellosigkeit der Volksführer. Diese führen einzeln Prozesse gegen
die Wohlhabenden und treiben sie zum Zusammenschluß (denn
gemeinsame Angst verbindet auch die größten Feinde), oder sie hetzen
allgemein das Volk gegen sie auf. Das kann man in vielen Fällen
beobachten.
In Kos wurde die Demokratie gestürzt, weil sie durch schlechte Führer
geleitet wurde (denn da taten sich die Angesehenen zusammen), und
ebenso in Rhodos. Dort führten die Volksführer eine Besoldung der
Bürger ein, verhinderten aber gleichzeitig, daß den Trierarchen das
Schuldige ausbezahlt würde. Als diesen nun noch Prozesse angehängt
wurden, dasahen sie sich genötigt, sich zusammenzuschließen und die
Demokratie zu stürzen. Auch in Herakleia ging die Demokratie
zugrunde gleich nach der Gründung der Kolonie, und zwar durch die
Volksführer. Die Angesehenen wurden durch diese schlecht behandelt
und mußten die Stadt verlassen; dann sammelten sich die
Vertriebenen, kehrten zurück und beseitigten die Demokratie. Ebenso
erging es der Demokratie in Megara. Um die Vermögen konfiszieren

X
Aristoteles Politik - V. Buch

zu können, schickten die Volksführer viele der Angesehenen in die


Verbannung, bis es eine ganze Menge von Verbannten gab. Da
kehrten diese zurück und besiegten in einer Schlacht die Demokraten
und richteten eine Oligarchie ein. Dasselbe geschah mit der
Demokratie in Kyme, die durch Thrasymachos aufgelöst wurde.
Auch in den andern Fällen würde sich zeigen, daß sich der Umschlag
auf diese Weise vollzieht. Zuweilen bedrängen sie, um sich beim
Volke beliebt zu machen, die Angesehenen und nötigen sie zum
Zusammenschluß (sie konfiszieren ihre Vermögen oder zerstören ihre
Einkünfte durch öffentliche Pflichtleistungen), zuweilen klagen sie die
Reichen falsch an, um Gelegenheit zu bekommen, deren Besitz zu
beschlagnahmen.
In früheren Zeiten, als der Volksführer und der Heerführer derselbe
war, geschah dann der Umschlag in die Tyrannis. Die meisten der
alten Tyrannen nämlich haben als Volksführer begonnen. Daß dies
damals geschah, heute aber nicht mehr, hat seine Ursache darin, daß
sich damals die Volksführer aus den Feldherren rekrutierten (denn die
Redekunst war damals noch nicht ausgebildet); jetzt dagegen hat die
Redekunst sich entwickelt, und wer sie beherrscht, führt das Volk;
diese unternehmen aber keine Handstreiche mehr, da sie, von wenigen
Ausnahmen abgesehen, in militärischen Dingen unerfahren sind.
Es gab früher überhaupt mehr Tyrannenherrschaften als jetzt, weil
damals einzelnen Männern große Kompetenzen anvertraut wurden,
wie etwa den Prytanen in Milet (denn der Prytane hatte viele und
große Befugnisse); außerdem, weil damals die Staaten noch nicht groß
waren, sondern das Volk sich auf dem Lande aufhielt und mit der
Landarbeit voll beschäftigt war. Da konnten sich denn die Vorsteher
des Volkes, falls sie kriegerisch waren, der Tyrannis bemächtigen.
Alle taten dies als Vertrauensleute des Volkes; gegründet war dies
Vertrauen auf den Haß gegen die Reichen, so wie in Athen Peisistratos
im Aufstand gegen die Großgrundbesitzer unter
stützt wurde, und Theagenes von Megara, der sich der Herden der
Wohlhabenden, die am Flusse weideten, bemächtigte und sie
hinschlachtete; und Dionysios wurde mit der Tyrannis belohnt, als er

XI
Aristoteles Politik - V. Buch

Daphnaios und die Reichen anklagte, da man ihn wegen eben jenes
Hasses für volksfreundlich hielt.
Es gibt auch einen Umschlag aus der ererbten Demokratie in eine
moderne. Wo nämlich die Behörden gewählt werden, nicht aber durch
Vermögensschatzung, und das Volk wählt, da bringen es die
Ehrgeizigen, die das Volk führen, dahin, daß das Volk zum Herrn
auch über die Gesetze wird. Ein Hilfsmittel dagegen, so daß dies nicht
eintrifft, oder doch weniger radikal, ist, daß die einzelnen Phylen die
Beamten bestimmen, und nicht das Volk im gesamten.
Die Veränderungen der Demokratien geschehen nun alle so ziemlich
durch die genannten Ursachen.

6. Von den Arten, in denen die Oligarchien sich verändern, sind zwei
die sichtbarsten. Die eine ist die, daß das Volk bedrängt wird. Da wird
denn jeder sich als Anführer durchsetzen, vor allem wo er selbst zu
den Oligarchen gehört, wie Lygdamis von Naxos, der später Tyrann
der Naxier wurde.
Der andere Ausgangspunkt der Revolution hat mehrere Varianten.
Zuweilen geht die Auflösung von den Reichen selbst aus, die nicht an
der Regierung teilnehmen, wenn nämlich die Zahl der
Regimentsfähigen außergewöhnlich gering ist, wie es in Massalia, in
Istros, in Herakleia und anderswo geschah. Die von den Ämtern
Ausgeschlossenen riefen Unruhen hervor, bis zuerst einmal die älteren
Söhne zu den Ämtern zugelassen wurden und dann auch die jüngeren.
An einigen Orten dürfen nämlich nicht Vater und Sohn gleichzeitig
ein Amt haben, anderswo nicht gleichzeitig der ältere und der jüngere
Bruder. In Massalia wurde die Oligarchie eher zu einer Politie, in
Istros dagegen endete sie in der Demokratie, und in Herakleia wurde
die Regierung von einer geringen Zahl auf sechshundert übertragen.
Auch in Knidos änderte sich die Oligarchie, da die Angesehenen unter
sich in Streit gerieten; denn es waren nur wenige regimentsfähig, und
zwar so, wie wir schon sagten: war es der Vater, so durfte es der Sohn
nicht sein, und von mehreren Brüdern auch nur der älteste. In die
Revolution griff nun das Volk ein, wählte einen Anführer unter den

XII
Aristoteles Politik - V. Buch

Angesehenen und griff die übrigen an und siegte. Denn was unter sich
uneins ist, ist immer schwach.
In Erythrai regierte in alter Zeit die Oligarchie der Basiliden. Obwohl
sie den Staat gut verwalteten, wurde es doch das Volk überdrüssig,
von wenigen regiert zu werden, und stürzte die Verfassung.
Die Oligarchien fallen auch durch sich selbst und durch den Ehrgeiz
der Anführer. Solcher Anführer gibt es zweierlei: entweder unter den
Oligarchen selbst, und das kann geschehen, auch wo es nur ganz
wenige sind, wie in Athen unter den Dreißig die Gruppe um Charikles
die übrigen beherrschte, und bei den Vierhundert auf dieselbe Weise
die Gruppe des Phrynichos; oder es können die Oligarchen das Volk
führen, so wie in Larisa die Politophylakes das Volk führten, da sie
selbst vom Volke gewählt wurden, und ebenso in den andern
Oligarchien, wo nicht jene die Beamten wählen, die selbst
regimentsfähig sind, sondern wo zwar die Beamten aus den hohen
Steuerklassen oder aus Klubs ausgewählt werden, aber die Krieger
oder das Volk sie wählen, wie es in Abydos war, und dort, wo die
Gerichtshöfe nicht durch die Regimentsfähigen besetzt werden. Denn
da versuchen sie Einfluß auf die Urteile zu gewinnen und stürzen so
die Verfassung um, wie es in Herakleia am Pontos geschah. Oder es
kann auch so sein, wenn einige Oligarchen die Herrschaft auf eine
noch geringere Zahl beschränken wollen; denn dann sind jene, die die
Gleichberechtigung beanspruchen, gezwungen, das Volk zu Hilfe zu
rufen.
Ein Umsturz der Oligarchie erfolgt auch, wenn sie in Verschwendung
ihr eigenes Gut aufzehren. Solche Leute drängen dann nach Umsturz
und erstreben die Tyrannis entweder für sich selbst oder machen einen
anderen zum Tyrannen, wie Hipparinos den Dionysios in Syrakus. In
Amphipolis brachte ein gewisser Kleotimos die chalkidischen
Ansiedler herbei, und als sie gekommen waren, hetzte er sie gegen die
Reichen auf; auch in Aigina versuchte der, der mit Chares verhandelt
hatte, aus einem ähnlichen Grunde einen Umsturz herbeizuführen.
Zuweilen versuchen sie sich sofort an einer Veränderung, und
zuweilen nehmen sie den Staatsbesitz in Beschlag, und dann streiten

XIII
Aristoteles Politik - V. Buch

sie untereinander, oder die andern bekämpfen die Räuber, wie es in


Apollonia am Pontos geschah.
Eine in sich einige Oligarchie geht nicht leicht aus sich selbst
zugrunde. Das zeigt die Staatsverfassung von Pharsalos. Dort sind
Wenige die Herren über Viele, weil sie unter sich Disziplin halten.
Dagegen löst sich die Oligarchie auf, wenn innerhalb der Oligarchie
eine zweite errichtet wird, das heißt, wenn die gesamte regierende
Schicht gering ist und nicht einmal alle von den Wenigen an den
obersten Ämtern teilhaben, wie es einmal in Elis der Fall war. Denn
der Staat wurde durch Wenige regiert, aber nur äußerst wenige wurden
Geronten; es gab ihrer nur neunzig und diese lebenslänglich, und die
Wahl ging nach dynastischem Prinzip vor sich, ähnlich wie bei den
spartanischen Geronten.
Die Oligarchie kann sich im Krieg und im Frieden auflösen; im Krieg,
weil sie dem Volk mißtrauen und darum Söldner anwerben müssen;
wer diese Söldner zur Verfügung hat, der wird häufig Tyrann, wie
Timophanes in Korinth. Haben mehrere die Söldner zur Verfügung, so
verschaffen sich diese die Herrschaft. Zuweilen freilich fürchten sie
dies und gewähren dann dem Volk Teilnahme an der Regierung, weil
sie es brauchen. Im Frieden wiederum mißtrauen sie einander
gegenseitig und übergeben die Wache Söldnern und einem neutralen
Befehlshaber, der dann oftmals Herr beider Parteien wird, wie es in
Larisa bei der Gruppe der Aleuaden um Simos geschah und in Abydos
mit den Klubs, deren einer derjenige des Iphiadas war.
Es gibt auch Revolutionen, wenn unter den Oligarchen selbst die einen
von den andern zurückgesetzt oder parteiisch behandelt werden in
Eheangelegenheiten oder bei Prozessen. So war in den genannten
Fällen eine Ehesache der Grund, und in Eretria stürzte Diagoras die
Oligarchie der Ritter, weil er in einer Heiratsangelegenheit beleidigt
worden war. Aus einem willkürlichen Prozeßurteil entstand die
Revolution in Herakleia und ebenso in Theben, da einer mit Recht
zwar, aber in schikanöser Weise wegen Ehebruchs verurteilt wurde, in
Herakleia Euetion und in Theben Archias (seine Feinde waren so
rachsüchtig gewesen, daß sie ihn auf dem Markt an den Schandpfahl
hatten binden lassen).

XIV
Aristoteles Politik - V. Buch

Viele Oligarchien gingen auch daran zugrunde, daß sie allzu


despotisch vorgingen und einige unter den Regimentsfähigen selbst
daran Anstoß nahmen, so in Knidos und in Chios.
Es können auch durch Zufälle Veränderungen eintreten in der
sogenannten Politie und in jenen Oligarchien, wo es von der
Steuerklasse abhängt, daß man am Rat, an den Gerichten und den
andern Magistraturen teilnehmen kann. Denn oftmals ist der oberste
Steuersatz der augenblicklichen Situation angepaßt, so daß in der
Oligarchie nur wenige, in der Politie der Mittelstand zu den Ämtern
kommt. Es kann aber dann ein Friede oder sonstiger Glücksfall einen
derartigen Wohlstand erzeugen, daß dieselben Besitzer in eine viel
höhere Steuerklasse aufrücken müßten, und daß alle an allen Rechten
teilnehmen; ein solcher Umschwung kann allmählich und schrittweise
erfolgen und unvermerkt, oder auch schneller.
Die Oligarchien verändern sich und zerfallen also aus solchen
Ursachen (im allgemeinen gehen die Demokratien und Oligarchien
vielfach nicht in die entgegengesetzte Staatsform über, sondern sie
bleiben in derselben Gattung, etwa so, daß gesetzliche Demokratien
und Oligarchien in willkürliche übergehen und umgekehrt).

7. In den Aristokratien entstehen die Revolutionen etwa daher, daß nur


wenige an den Ämtern teilnehmen (dies stürzt auch, wie wir sagten,
die Oligarchien, da ja auch die Aristokratie in gewisser Weise eine
Oligarchie ist; in beiden Fällen regieren nur wenige, bloß nicht nach
demselben Prinzip, auch wenn insofern die Aristokratie eine
Oligarchie zu sein scheint). Dies muß dort am ehesten eintreten, wo
eine Menge vorhanden ist, die jenen an Tugend gleich zu sein
beansprucht, wie in Sparta die sogenannten Parthenier (die dem
Stande nach ebenbürtig waren); sie wurden bei einer Verschwörung
entdeckt und als Kolonisten nach Tarent entsandt. Oder es werden
einige Mächtige und an Tugend keineswegs Nachstehende von
Amtshöheren mißachtet, wie etwa Lysander von den Königen. Oder es
darf ein Tapferer nicht an den Beamtungen teilhaben, wie Kinadon,
der unter Agesilaos den Aufstand gegen die Spartiaten unternahm.
Oder es sind die einen allzu arm, die andern allzu reich, was vor allem

XV
Aristoteles Politik - V. Buch

im Kriege leicht geschehen kann. So geschah es in Sparta in den


Messenischen Kriegen, wie sich dies aus der Dichtung des Tyrtaios
)Eunomia( entnehmen läßt; denn da waren einige durch den Krieg in
größte Bedrängnis geraten und forderten eine Landaufteilung. Oder es
ist ein einzelner sehr mächtig und kann noch mächtiger werden und
schließlich zur Alleinherrschaft streben, wie es in Sparta mit
Pausanias, dem Feldherrn in den Perserkriegen der Fall gewesen zu
sein scheint, und in Karthago mit Hannon.
Am meisten stürzen die Politien und Aristokratien aber dadurch, daß
der Staat selbst von der Gerechtigkeit abweicht. Dies kann daher
kommen, daß in der Politie das demokratische und das oligarchische
Element und in der Aristokratie jene beiden und die Tugend, vor allem
aber jene beiden untereinander nicht gut gemischt sind. Ich meine
damit Demokratie und Oligarchie. Denn jene Elemente versuchen die
Politien zu mischen und auch die meisten der sogenannten
Aristokratien. In der Reihe der angeführten Staatsverfassungen ist ja
dies die Eigentümlichkeit der Aristokratien, und darum sind die einen
mehr, die andern weniger beständig. Jene, die mehr zur Oligarchie
neigen, nennt man vorzugsweise Aristokratien, jene, die zum Volk
neigen, Politien. So sind diese auch beständiger als jene. Denn die
Mehrzahl ist mächtiger, und wenn sie gleichberechtigt ist, ist sie auch
zufriedener. Wenn aber die Reichen durch die Verfassung das
Übergewicht erhalten, werden sie leicht übermütig und anmaßend.
Überhaupt, wohin in diesen beiden Fällen die Verfassung sich neigt,
die Politie zur Demokratie und die Aristokratie zur Oligarchie, dorthin
streben auch jene, die ihre eigene Macht mehren möchten. Oder die
Entwicklung geht zum Gegenteil, wenn die Aristokratie in die
Demokratie umschlägt (denn die Armen, die sich unterdrückt fühlen,
ziehen den Staat in jene Richtung) und die Politie in die Oligarchie
(denn beständig ist nur die Gleichheit der Würde nach und daß jeder
besitzt, was ihm zukommt). So geschah es in Thurioi. Da die Ämter an
eine zu hohe Steuerklasse geknüpft waren, wurde diese gesenkt und
die Zahl der Ämter vermehrt, da aber anderseits die Angesehenen
gegen das Gesetz das ganze Land aufgekauft hatten (denn die
Verfassung war so oligarchisch, daß sie in der Lage waren, sich

XVI
Aristoteles Politik - V. Buch

durchzusetzen)... das Volk aber, das sich im Kriege geübt hatte,


bemächtigte sich der Wachtposten, bis jene freiwillig das Land
zurückgaben, das sie sich zuviel angeeignet hatten.
Da ferner alle aristokratischen Verfassungen gleichzeitig oligarchisch
sind, so können die Angesehenen sich leicht durchsetzen, wie etwa in
Sparta die Vermögen auf ganz Wenige konzentriert sind. Die
Angesehenen können so ziemlich machen, was sie wollen, und sich
verschwägern, mit wem sie wollen. So ging der Staat Lokroi zugrunde
durch die Verschwägerung mit Dionysios, was in einer Demokratie
nicht möglich gewesen wäre, auch nicht in einer gut gemischten
Aristokratie.
Meistens lösen sich die Aristokratien unvermerkt und langsam auf,
wie wir denn schon vorhin in den allgemeinen Darlegungen über alle
Verfassungen gesagt haben, daß auch Kleinigkeiten Umwälzungen
nach sich ziehen können. Wenn man nämlich ein Stück der
Verfassung preisgibt, so wird manspäter mit größerer Leichtigkeit
auch ein bedeutenderes Stück fallen lassen, bis schließlich die ganze
Ordnung zusammenbricht. Das geschah mit der Verfassung von
Thurioi. Es bestand das Gesetz, daß einer nur alle fünf Jahre Strategos
sein dürfte; einige der Jüngeren waren kriegerisch und hatten Ansehen
bei der Menge der Wachmannschaften, verachteten die Regierenden
und meinten, sie leicht bewältigen zu können. So versuchten sie
zuerst, dieses Gesetz zu durchbrechen, so daß derselbe ununterbrochen
Stratege sein dürfte, weil sie bemerkten, daß das Volk sie gerne dazu
wählen würde. Die zuständigen Beamten aber, die sogenannten
Symbuloi, wollten zuerst Widerstand leisten, ließen sich aber dann
umstimmen, da sie meinten, es solle nur dies Gesetz geändert werden
und der Rest der Verfassung unberührt bleiben. Als dann auch andere
Gesetze aufgehoben wurden, versuchten sie vergeblich, es zu hindern,
und schließlich verwandelte sich die ganze Staatsordnung in eine
Alleinherrschaft derer, die den Umsturz begonnen hatten.
Alle Verfassungen werden entweder von innen oder von außen
zerstört, wenn etwa ein Staat mit entgegengesetzter Verfassung nahe
ist, oder auch fern, aber dann einen großen Einfluß besitzt, wie es

XVII
Aristoteles Politik - V. Buch

zwischen Sparta und Athen geschah. Denn die Athener lösten überall
die Oligarchien auf und die Spartaner überall die Demokratien.
Woher also die Umschwünge der Verfassungen kommen und die
Revolutionen, ist damit ungefähr gesagt.

8. Nun haben wir anschließend von der Erhaltung der Verfassungen zu


sprechen, im allgemeinen wie im besondern.
Als erstes ist klar, daß wir zu erkennen vermögen, wie die
Verfassungen erhalten bleiben, wenn wir erkennen, wie sie
untergehen. Denn Entgegengesetztes bewirkt Entgegengesetztes, und
dem Untergang ist die Erhaltung entgegengesetzt.
In den gut gemischten Verfassungen muß man in erster Linie darum
besorgt sein, daß keine Gesetzwidrigkeiten vorkommen, vor allem im
Kleinen. Denn die Gesetzwidrigkeit schleicht sich unbemerkt ein, so
wie ein Vermögen durch fortgesetzte kleine Ausgaben aufgezehrt
wird. Man bemerkt die einzelne Ausgabe nicht, weil sie nicht groß ist,
und die Vernunft wird durch sie getäuscht wie durch einen
sophistischen Beweis: wenn das Einzelne klein ist, so wird es auch das
Ganze sein. Zuweilen ist dies richtig, zuweilen aber nicht. Denn die
Gesamtheit und das Ganze besteht zwar aus Kleinem, ist aber
selbst nicht klein. So muß man also vor einem solchen Anfang auf der
Hut sein.
Ferner soll man nicht den Kunstgriffen vertrauen, die nur dazu da
sind, die Menge zu täuschen (was wir bei den Verfassungen unter
Kunstgriffen meinen, ist früher gesagt worden); denn sie werden von
den Tatsachen widerlegt.
Weiterhin ist zu beachten, daß zuweilen nicht nur Aristokratien,
sondern auch Oligarchien Bestand haben, nicht weil diese
Verfassungen an sich stabil wären, sondern weil die Regierenden
sowohl mit denjenigen, die nicht regimentsfähig sind, wie auch mit
den Regimentsfähigen richtig umgehen: die nicht Regimentsfähigen
respektieren sie und lassen die zur Staatsführung Begabten unter ihnen
zur Regierung zu; sie vermeiden es, die Ehrgeizigen an der Ehre und
die Menge an ihrem Gewinn zu kränken, und unter sich und den
Regimentsfähigen verkehren sie freundschaftlich. Denn die

XVIII
Aristoteles Politik - V. Buch

Gleichheit, die die Demokraten für die Menge beanspruchen, ist bei
wirklich Gleichartigen nicht nur gerecht, sondern auch zuträglich.
Wenn darum viele an der Regierung beteiligt sind, so sind manche der
demokratischen Einrichtungen nützlich, wie etwa, daß die Amtsdauer
nur sechs Monate beträgt, damit alle Gleichberechtigten daran
teilnehmen können. Denn die Gleichberechtigten stellen unter sich
schon ein Volk dar (darum gibt es oft auch unter ihnen Anführer, wie
wir oben bemerkt haben), und so geraten die Oligarchien und
Aristokratien weniger in Alleinherrschaften. Wenn man nur kurze Zeit
im Amt ist, kann man weniger leicht Unheil anrichten als in langer
Zeit, und gerade so entstehen ja die Tyrannenherrschaften in den
Oligarchien und Demokratien; in beiden streben entweder die
Mächtigsten nach der Tyrannis, hier die Volksführer, dort die
Dynasten, oder dann jene, die die bedeutendsten Ämter innehaben,
wenn sie diese für lange Zeit festhalten können.
Die Verfassungen erhalten sich aber nicht nur dadurch, daß nichts
Gefährdendes in der Nähe ist, sondern zuweilen auch gerade dadurch,
daß es in der Nähe ist. Denn wenn man dann in der Angst lebt, hält
man die Verfassung fester in der Hand. So müssen denn diejenigen,
die für die Verfassung sorgen wollen, Furcht erzeugen, damit man auf
der Hut sei und die Wachsamkeit über die Verfassung, wie eine
Nachtwache, niemals ruhen lasse; man muß also das ferne
Gefährdende als nahe erscheinen lassen. Man muß sich vor den
Rivalitäten der Angesehenen und vor Revolutionen auch auf dem
gesetzlichen
Wege zu sichern trachten, ebenso jene schützen, die noch nicht in
diese Rivalitäten hineingezogen sind. Denn das Übel in seinen
Ursprüngen zu erkennen, ist nicht die Sache jedes beliebigen Mannes,
sondern eben des Staatsmannes.
Wenn Veränderungen durch die Steuerschätzungen in den Oligarchien
und Politien drohen, wenn nämlich die Steuerklassen bleiben, der
Geldreichtum dagegen wächst, so ist es nützlich, die Menge der
gegenwärtigen Steuereingänge mit den vergangenen zu vergleichen;
soweit in den Staaten die Steuern alljährlich neu festgesetzt werden,
soll dies dann geschehen, in den größeren Staaten alle drei oder fünf

XIX
Aristoteles Politik - V. Buch

Jahre. Und wenn der Betrag um ein Vielfaches größer oder kleiner ist
als früher, als man die verfassungsmäßigen Steuerklassen schuf, so
sollen durch Gesetz diese nach oben oder unten verschoben werden:
bei Überschüssen soll es nach oben geschehen und bei Defiziten nach
unten, so daß die Steuerklassen sich senken.
Wenn man nämlich in den Oligarchien und Politien das eine unterläßt,
so kann hier eine Oligarchie, dort eine Alleinherrschaft daraus werden;
unterläßt man aber das andere, so entsteht aus einer Politie eine
Demokratie und aus einer Oligarchie eine Politie oder eine
Demokratie.
Die gemeinsame Aufgabe der Demokratie, Oligarchie, Monarchie und
jeder Verfassung ist es, keinen Einzelnen über das Maß hinaus
emporkommen zu lassen, sondern zu versuchen, eher beschränkte,
aber lange dauernde Kompetenzen zu geben, anstatt für kurze Zeit die
höchsten Ämter (denn das verdirbt die Menschen, da nicht jedermann
Glück zu ertragen imstande ist). Ist dies aber nicht zu umgehen, dann
soll man doch nicht alle bedeutenden Ämter gleichzeitig geben und
gleichzeitig nehmen, sondern schrittweise. Vor allem aber soll man
die Gesetze so einrichten, daß keiner allzu mächtig werde an Einfluß,
Freunden oder Geld; ist das nicht möglich, so soll man doch ihre
Hilfsquellen des Landes verweisen.
Da man auch durch die private Lebensweise Neuerungen einführen
kann, so muß eine Behörde existieren, um jene zu beaufsichtigen, die
in einer der Staatsform unzuträglichen Weise leben, also in der
Demokratie jene, die gegen die Demokratie, in der Oligarchie jene, die
gegen die Oligarchie leben, und so in jeder andern Verfassung. Aus
denselben Ursachen muß man auch den wohlhabenden Teil des
Staates in dem jeweils entsprechenden Sinne überwachen. Ein
Hilfsmittel in diesem Falle ist, daß man immer den entgegengesetzten
Schichten die Aufgaben und Ämter überträgt (unter entgegengesetzten
verstehe ich: die Vornehmen und die Menge, die Armen und die
Reichen), und daß man versucht, die Gruppe der Armen mit
derjenigen der Reichen zu vermischen oder die Mitte zu stärken; denn
dies verhindert die aus der Ungleichheit entstehenden Revolutionen.

XX
Aristoteles Politik - V. Buch

Am wichtigsten in jeder Verfassung ist es, durch Gesetze und sonstige


Einrichtungen dafür zu sorgen, daß man sich an den Ämtern nicht
bereichern kann. Vor allem in den Oligarchien ist darauf zu achten.
Denn dann wird sich die Menge nicht darüber ärgern, daß sie von den
Ämtern ausgeschlossen ist, sondern ist sogar zufrieden, wenn man sie
bei ihren privaten Geschäften in Ruhe läßt. Wenn sie dagegen meinen,
öffentliches Gut werde von den Regierenden unterschlagen, dann sind
sie über beides erbittert, sowohl darüber, daß sie an den Ämtern nicht
teilhaben, wie auch über den Gewinn.
Nur wenn man dies entsprechend einrichtet, kann ein Staat sogar
zugleich eine Demokratie und eine Aristokratie sein. Denn dann
können die Angesehenen wie die Menge, jeder auf seiner Seite,
bekommen, was sie wollen: daß alle regieren dürfen, ist demokratisch,
daß faktisch die Angesehenen die Magistraturen besetzen, ist
aristokratisch, und dies ist möglich, wenn man aus den
Regierungsämtern keinen Gewinn ziehen kann. Denn dann werden die
Armen gar nicht regieren wollen, weil sie daran nicht profitieren,
sondern sie bleiben lieber bei ihren Sachen; die Wohlhabenden
dagegen können es, weil sie auf das öffentliche Gut nicht angewiesen
sind. Es ergibt sich, daß die Armen reich werden, weil sie ihrer Arbeit
nachgehen, und daß die Angesehenen nicht von beliebigen Leuten
regiert werden.
Um Unterschlagungen des öffentlichen Besitzes zu vermeiden, muß
die Kassenübergabe in Anwesenheit aller Bürger erfolgen und müssen
Rechnungsabschriften beiden Verbänden der Piraterien, Lochen und
Phylen hinterlegt werden. Damit man andererseits gerne ohne
materiellen Gewinn regiert, sollen für bewährte Beamte durchs Gesetz
Ehrungen vorgesehen werden.
In den Demokratien soll man die Wohlhabenden schonen: nicht nur
der Besitz, auch der Ertrag soll nicht aufgeteilt werden, was doch in
einigen Staaten unter der Hand geschieht; es ist sogar besser, sie, auch
gegen ihren Willen, von kostspieligen, aber nutzlosen Leistungen für
den Staat abzuhalten, wie
Theateraufführungen, Prozessionen und dergleichen. In der Oligarchie
wiederum soll man für die Armen sorgen, ihnen die mit Einkünften

XXI
Aristoteles Politik - V. Buch

verbundenen Ämter zur Verfügung halten und einen Übergriff der


Reichen gegen sie schwerer ahnden als Übergriff unter ihresgleichen.
Die Erbschaften dürfen nicht verschenkt werden, sondern müssen in
der Familie bleiben, und keiner darf mehr als eine Erbschaft
annehmen. Denn so werden die Vermögen gleichmäßiger, und es
gelangen mehr Arme zu Reichtum.
Für Demokratie und Oligarchie zweckmäßig ist es auch, jenen, die
nicht regimentsfähig sind, in den übrigen Dingen Gleichheit oder den
Vorrang einzuräumen, in der Demokratie den Reichen, in der
Oligarchie den Armen; abgesehen natürlich von den entscheidenden
Staatsämtern. Diese dürfen ausschließlich oder in der Mehrheit nur
von Regimentsfähigen besetzt werden.

9. Wer die entscheidenden Regierungsämter ausüben will, muß drei


Eigenschaften besitzen: erstens Treue zur bestehenden Verfassung,
dann die größte Fähigkeit in der Ausübung der Amtspflichten und
drittens die der jeweiligen Verfassung entsprechende Tugend und
Gerechtigkeit (wenn nämlich das Gerechte nicht in allen Verfassungen
dasselbe ist, dann auch nicht die Gerechtigkeit).
Wenn aber nicht alle diese Eigenschaften an einer Person zu finden
sind, so erhebt sich die Schwierigkeit, wie man dann wählen soll. So
kann einer ein guter Feldherr sein, aber ungerecht und Gegner der
Verfassung, ein anderer ist gerecht und loyal [aber unfähig im Amt].
Wie soll man sich da entscheiden? Man muß da wohl auf zwei Dinge
achten, nämlich darauf, welche Eigenschaften häufiger sind und
welche seltener. So muß beim Feldherrenamt mehr auf die Erfahrung
als auf die Tugend geachtet werden (denn es gibt mehr Menschen, die
anständig sind, als solche, die Kriegserfahrung haben), bei Polizei und
Finanzämtern umgekehrt (denn da braucht es mehr Tugend, als sie die
Menschen in der Regel besitzen; das nötige Wissen dagegen hat
jedermann).
Man kann sich auch fragen, wozu es der Tugend bedarf, wenn einer
gleichzeitig Fähigkeiten und Verfassungstreue besitzt; diese zwei
Eigenschaften sollten allein alles Erforderliche leisten können. Oder
können solche, die diese beiden Eigenschaften haben, unbeherrscht

XXII
Aristoteles Politik - V. Buch

sein? Und so wie einige zwar sich selbst kennen und lieben, aber doch
ihrem Interesse nicht zu dienen vermögen, so kann es zuweilen auch
im Staate sein.
Allgemein erhält all das die Verfassungen, was wir bei den Gesetzen
als zweckmäßig für eine Verfassung bezeichnen. Das Grundlegende
ist das, was wir schon oft wiederholten: dafür zu sorgen, daß immer
eine verfassungstreue Mehrheit vorhanden sei. Außerdem darf man
nicht übersehen, was faktisch alle verfehlten Verfassungen übersehen:
die Mitte. Denn vieles, was demokratisch zu sein scheint, zerstört die
Demokratie, und vieles Oligarchische die Oligarchie. Solche Leute
meinen, das einzig Richtige sei das Fortschreiten zum Extrem, und
sehen nicht, daß etwa eine Nase von der vollkommenen Geradheit
etwas zur Habichtnase oder Stumpfnase abweichen kann, aber
dennoch schön und anziehend bleibt, dagegen nicht mehr, wenn sie bis
zum Extrem weitergeht: dann wird sie zuerst die rechten Proportionen
verlieren und schließlich so aussehen, daß man sie vor lauter Übermaß
an der einen und Mangel an der entgegengesetzten Eigenschaft gar
nicht mehr für eine Nase wird halten können. Dasselbe kann man von
den andern Körperteilen und so auch von den Verfassungen sagen.
Denn eine Oligarchie oder Demokratie kann lebensfähig sein, auch
wenn sie von der vollkommenen Verfassung abweicht. Wenn man
aber die eine oder die andere extrem durchführt, dann wird man die
Verfassung zuerst verschlechtern und schließlich überhaupt zugrunde
richten. Darum müssen der Gesetzgeber und der Politiker wohl
bedenken, welche der demokratischen Einrichtungen eine Demokratie
erhalten und welche sie ruinieren, und ebenso bei der Oligarchie.
Denn keine von beiden kann Bestand und Dauer haben ohne die
Wohlhabenden und ohne die Menge; vielmehr wenn etwa die
Vermögen gänzlich ausgeglichen sind, so entsteht eine neue
Staatsform. Mit übertriebenen Gesetzen also zerstört man die
Verfassungen.
Man macht in Demokratien und Oligarchien auch den folgenden
Fehler: in den Demokratien, wo die Menge die Gesetze beherrscht,
begehen die Volksführer regelmäßig den Fehler, daß sie die Reichen
bekämpfen und so den Staat spalten. Sie sollten vielmehr zum Schein

XXIII
Aristoteles Politik - V. Buch

immer wieder für die Reichen reden. In den Oligarchien sollten


umgekehrt die Oligarchen für das Volk reden und genau den
entgegengesetzten Eid schwören, als es jetzt geschieht. Denn jetzt
wird in einigen Fällen geschworen, »das Volk zu hassen und zu
seinem Schaden raten, was ich kann«. Man müßte aber vielmehr das
Umgekehrte denken und erklären und durch den Schwur zu verstehen
geben, daß man dem Volke keinen Schaden antun wolle.
Wichtiger als alles Gesagte für die Erhaltung der Staaten, und was von
allen vernachlässigt wird, ist die Erziehung zur Verfassung. Denn
auch die nützlichsten und von allen Bürgern einstimmig
angenommenen Gesetze sind zwecklos, wenn die Bürger nicht an die
Verfassung gewöhnt und in ihr erzogen sind: wenn die Gesetze
demokratisch sind, in demokratischer Gesinnung, und in den
Oligarchien entsprechend oligarchisch. Wenn es nämlich
Unbeherrschtheit bei Einzelnen gibt, so gibt es sie auch bei einem
Staate. Die Erziehung zur Verfassung besteht aber nicht darin, daß
man das tut, woran die Oligarchen oder Demokraten eine Freude
haben, sondern so zu handeln, daß man als Oligarch oder Demokrat
regieren kann. Faktisch aber leben in den Oligarchien die Söhne der
Regierenden in Ausschweifungen, und die der Armen arbeiten und
werden abgehärtet, und so wollen und können diese einen Aufstand
wagen. Auch in den Demokratien, wo sie am allerdemokratischsten zu
sein scheinen, tun die Leute das, was dem Interesse der Verfassung
gerade zuwiderläuft. Dies kommt daher, daß sie den Begriff der
Freiheit falsch auffassen. Denn die Demokratie scheint durch zwei
Dinge charakterisiert zu sein: durch die Herrschaft der Mehrheit und
durch die Freiheit. Die Gerechtigkeit scheint in der Gleichheit zu
bestehen, und die Gleichheit wäre die, daß gilt, was der Mehrheit
gefällt. Die Freiheit aber wäre, daß jeder tun kann, was er will. Und so
lebt denn in solchen Demokratien jeder, wie er will, und danach sehnt
er sich, wie Euripides sagt. Dies ist aber falsch. Denn im Gehorsam
gegen die Verfassung zu leben, darf man nicht als Knechtschaft
auffassen, sondern als Rettung der Verfassung.
Damit ist im allgemeinen gesagt, wie sich die Verfassungen verändern
und untergehen, und wie sie sich erhalten und Dauer haben.

XXIV
Aristoteles Politik - V. Buch

10. Wir haben nun noch von der Monarchie zu reden, wie sie
untergeht und sich erhalten kann.
Was von dem Königtum und der Tyrannis gesagt werden kann, ist so
ziemlich dasselbe, wie was von den Politien gesagt wurde. Das
Königtum steht der Aristokratie nahe, und die Tyrannis ist aus den
äußersten Formen der Oligarchie und der Demokratie
zusammengesetzt. Darum ist sie auch für die Beherrschten am
schädlichsten, weil sie aus zwei Übeln zusammengesetzt ist und die
Verfehlungen und Irrtümer beider Staatsformen in sich enthält.
Schon die Entstehung dieser beiden Alleinherrschaften ist
entgegengesetzt. Das Königtum entstand, um die Anständigen gegen
das Volk zu schützen, und es sind die Anständigen, die den König
stellen auf Grund überragender Tugenden oder tugendgemäßer
Handlungen oder eines in diesem Sinne ausgezeichneten
Geschlechtes. Der Tyrann entsteht dagegen aus dem Kampf des
Volkes und der Menge gegen die Angesehenen, damit das Volk durch
diese nicht weiter unterdrückt werde.
Dies zeigt die Geschichte. Denn fast alle Tyrannen sind ursprünglich
Volksführer gewesen, denen man sich anvertraute, weil sie die
Angesehenen bekämpften. Die einen Tyrannenherrschaften sind auf
diese Weise entstanden, als die Staaten schon eine gewisse Größe
hatten, die früheren dagegen dadurch, daß die Könige die Tradition
verletzten und nach einer Despotenherrschaft strebten, andere
wiederum durch Männer, die zu den höchsten Ämtern gewählt worden
waren (denn in alten Zeiten bestellt das Volk die politischen und
sakralen Ämter auf lange Dauer), andere schließlich aus Oligarchien,
die die höchsten Ämter auf einen Einzelnen vereinigten. In allen
diesen Fällen war das Ziel leicht zu erreichen, wenn nur der Wille da
war; denn die Macht war schon vorhanden, teils durch die
Königswürde, teils durch ein Amt. So wurden Pheidon in Argos und
andere zu Tyrannen von einer Königsherrschaft her, die ionischen
Tyrannen und Phalaris durch eine Amtsstellung, Panaitios in
Leontinoi, Kypselos in Korinth, Peisistratos in Athen, Dionysios in
Syrakus und andere als Volksführer.

XXV
Aristoteles Politik - V. Buch

Wie wir schon sagten, ist das Königtum der Aristokratie zugeordnet.
Denn es beruht auf der Würde, sei es der Tugend des Einzelnen oder
des Geschlechts, oder auf besonderen Verdiensten oder auf alledem
zusammen und auf der Macht. Denn alle, die einem Staate Wohltaten
erwiesen haben, oder die die Macht hatten, dem Staate oder dem
Volke solche zu erweisen, haben diese Ehre erhalten, die einen
dadurch, daß sie es im Verlaufe eines Krieges verhinderten, daß das
Volk der Knechtschaft verfiel, wie Kodros, die andern, indem sie es
befreiten, wie Kyros, andere durch Gründung von Staaten und Land-
erwerb, wie die Könige der Spartaner, Makedonen und Molotter. Denn
der König soll ein Wächter sein darüber, daß die Besitzenden kein
Unrecht erleiden und das Volk nicht mißhandelt werde. Die Tyrannis
dagegen denkt, wie schon oft bemerkt, überhaupt nicht an die
Gemeinschaft, außer um ihres eigenen Nutzens willen. Denn das Ziel
der Tyrannis ist das Angenehme, das des Königtums die Ehre. Darum
sind auch die finanziellen Vorrechte tyrannischer Art, die
Ehrenvorrechte dagegen eher königlich. Und bei den Königen
rekrutieren sich die Wachmannschaften aus Bürgern, bei den
Tyrannen aus Ausländern.
Daß also die Tyrannis die Übel der Demokratie und der Oligarchie in
sich vereinigt, ist klar. Von der Oligarchie hat sie, daß das Ziel der
Reichtum ist (denn nur so kann die Sicherheit durch
Wachmannschaften und die Schwelgerei aufrechterhalten werden),
und daß sie der Menge mißtraut; darum nehmen sie auch die Waffen
weg; weiterhin schikanieren sie das Volk, vertreiben es aus der Stadt
und siedeln es zerstreut an; dies gilt für die Oligarchie wie für die
Tyrannis. Von der Demokratie haben sie den Kampf gegen die
Angesehenen: sie bringen sie heimlich um und auch offen und
verbannen sie als Rivalen und der Herrschaft lästig. Von den
Angesehenen gehen denn auch die Verschwörungen aus, da die einen
regieren, die andern nicht zu Sklaven werden möchten. Dem
entspricht der Rat des Periander an Thrasybulos, das Abhauen der
überragenden Ähren: man müsse nämlich immer die hervorragendsten
Bürger beseitigen.

XXVI
Aristoteles Politik - V. Buch

Wie schon gesagt, sind die Ausgangspunkte der Umwälzungen bei den
Alleinherrschaften so ziemlich dieselben wie bei den Politien. Wegen
Beleidigungen, aus Angst und aus Verachtung erheben sich die
Untertanen vielfach gegen die Monarchien; wegen Beleidigungen
meist, weil sie schlecht behandelt wurden, oder auch, weil ihnen ihr
Besitz weggenommen wurde. Auch die Ziele sind, wie dort, dieselben
beim Königtum und bei der Tyrannis. Die Alleinherrscher haben ein
Übermaß an Reichtum und Ehre, und danach verlangen alle.
Die Angriffe richten sich zuweilen gegen das Leben der Herrscher,
zuweilen nur gegen ihre Herrschaft.
Was durch Kränkung hervorgerufen wird, geht gegen das Leben. Die
Kränkung hat viele Formen, und jede von ihnen entfesselt Zorn, und
von den Zornigen kämpfen die meisten um der Rache willen, und
nicht wegen des Vorrangs der Herrscher. So geschah es mit den
Peisistratiden: die Schwester des Harmodios wurde beleidigt und so
auch Harmodios (Harmodios wegen der Schwester und Aristogeiton
wegen Harmodios).
Ebenso verschwor man sich gegen Periandros, den Tyrannen von
Ambrakia, weil er beim Symposion seinen Geliebten fragte, ob er
schon von ihm schwanger sei. Der Anschlag des Pausanias gegen
Philippos geschah, weil dieser ihn durch die Freunde des Attalos hatte
beschimpfen lassen, und der des Derdas gegen Amyntas den Kleinen,
weil dieser sich rühmte, ihn geschändet zu haben, endlich der des
Eunuchen gegen Euagoras von Kypros: weil dessen Sohn jenem die
Frau verführt hatte, tötete ihn der Beleidigte.
Viele Mordanschläge geschehen auch wegen körperlicher Demütigung
durch die Monarchen. So der des Krataios gegen Archelaos: dieser
war immer verletzend im Verkehr gewesen, so daß auch ein kleiner
Anlaß ausreichte – oder vielleicht, weil er ihm gegen sein Versprechen
keine der Töchter zur Ehe gab, sondern die ältere gab er, im Kriege
gegen Irras und Arrhabaios, dem König von Elimeia, und die jüngere
dem Sohne des Amyntas, um auf diese Weise den Streit zwischen
jenem und seinem Sohne von Kleopatra beizulegen. Aber die
eigentliche Ursache der Feindschaft war die Kränkung in seinem
Liebesverhältnis. Aus derselben Ursache schloß sich ihm

XXVII
Aristoteles Politik - V. Buch

Hellanokrates von Larisa an. Archelaos hatte seine Liebe genossen,


führte ihn aber gegen das Versprechen nicht in seine Heimat zurück,
so daß er glaubte, jener habe nicht aus Liebesleidenschaft, sondern nur
aus Übermut mit ihm Umgang gehabt. Python und Herakleides von
Ainos beseitigten den Kotys, um ihren Vater zu rächen, und Adamas
fiel von Kotys ab, weil er es nicht verzeihen konnte, daß dieser ihn als
Knaben hatte verstümmeln lassen.
Bei vielen ist der Haß aus einer körperlichen Züchtigung entstanden,
und so töteten sie in ihrer Beleidigung den Herrscher oder stellten ihm
nach, darunter auch Träger von Ämtern und königlicher Würde. So
verübte in Mytilene Megakles mit seinen Freunden einen Anschlag
auf die Penthiliden, die umhergingen und die Bürger mit Stäben
schlugen, und beseitigte sie; später tötete Smerdes den Penthilos, weil
er geschlagen und vor den Augen der Gattin aus dem Zimmer
geschleift worden war. Den Mordanschlag gegen Archelaos führte De-
kamnichos, der als erster die Mitverschworenen aufhetzte. Ursache
des Zorns war, daß ihn der König dem Dichter Euripides zum
Auspeitschen übergeben hatte, und Euripides wiederum war
aufgebracht gewesen, weil jener eine Bemerkung über seinen üblen
Mundgeruch gemacht hatte.
Viele andere wurden aus derartigen Ursachen getötet oder gestürzt.
Ebenso aus Furcht. Denn diese war eine der Triebfedern bei den
Politien wie bei den Monarchien. So beseitigte den Xerxes Artapanes
aus Furcht vor dem Gerede wegen Dareios, den er ohne Befehl des
Xerxes hatte aufhängen lassen, wobei er gehofft hatte, der König
würde es beim Mahle vergessen und Nachsicht üben.
Anderswo war die Verachtung die Ursache, so bei Sardanapal, den
jemand unter den Frauen spinnen gesehen hatte (wenn die
Erzählungen darüber wahr sind; aber wenn es bei ihm nicht stimmt, so
mag es bei einem andern so geschehen sein). Und den jüngeren
Dionysios stürzte Dion, weil er ihn verachtete und bemerkte, daß auch
die andern Bürger ihn verachteten, er aber beständig betrunken war.
Es gibt sogar Freunde, die aus Verachtung Anschläge verüben. Weil
die Herrscher ihnen vertrauen, verachten sie sie und rechnen damit,
daß sie es nicht entdecken. Und auch solche, die meinen, die

XXVIII
Aristoteles Politik - V. Buch

Herrschaft leicht ergreifen zu können, handeln eigentlich aus


Verachtung; sie vertrauen auf ihre Macht, und gestützt auf sie
verachten sie die Gefahr und schreiten rasch zur Tat, wie etwa
Feldherren den Alleinherrschern gegenüber. So Kyros dem Astyages
gegenüber, dessen Lebensweise und Macht er verachtete, weil die
Macht vernachlässigt war und jener selbst in Ausschweifung lebte;
ebenso der Thraker Seuthes als Feldherr dem Amadokos gegenüber.
Andere haben mehrere Motive des Aufstandes, etwa Verachtung und
Gewinnsucht wie Mithridates gegenüber Ariobarzanes.
Am meisten handeln aus solchem Grunde die von Natur Kühnen, die
gleichzeitig bei den Alleinherrschern kriegerisches Ansehen genießen.
Denn Tapferkeit mit Macht vereint ergibt Kühnheit, und beides treibt
sie zum Umsturz in der Hoffnung, leicht siegen zu können.
Wer aber aus Ehrgeiz einen Anschlag unternimmt, hat andere Gründe
als die bisher genannten. Denn wen der Ehrgeiz zum Handeln treibt,
der wagt sich nicht, wie es zuweilen den Tyrannen gegenüber
vorkommt, des großen Reichtums und der hohen Ehre wegen in
Gefahr. Aus solchen Gründen tun es vielmehr jene anderen, diese aber
greifen die Alleinherrscher an, wie wenn dies eine der besonders
hervorragenden Taten wäre, durch die man berühmt und unter den
Menschen angesehen wird; sie wollen mit ihrem Angriff auf die
Alleinherrscher nicht die Alleinherrschaft gewinnen, sondern den
Ruhm. Freilich sind es nur sehr wenige, die aus diesem Grunde
handeln; denn die Voraussetzung ist, daß man in keiner Weise an die
eigene Rettung denken darf, falls das Vorhaben nicht gelingen sollte.
Sie müssen sich, wozu freilich wohl nicht viele imstande sein werden,
den Entschluß des Dion zum Vorbild nehmen, der mit ganz wenigen
gegen Dionysios zog und sagte, wie immer die Sache fortginge, ihm
genüge es, so weit zu gelangen, daß es, wenn er auch beim ersten
kleinen Schritt ins Land sterben sollte, für ihn ein schöner Tod sein
würde.
Die Tyrannis geht auf die eine Weise zugrunde, wie jede andere
Verfassung, von außen, wenn ein feindlicher Staat mit
entgegengesetzter Verfassung übermächtig ist; daß dieser dann die
Tyrannis stürzen will, ergibt sich aus dem bewußten Gegensatz. Und

XXIX
Aristoteles Politik - V. Buch

wer dazu die Macht hat, tut auch, was er will. Feindliche Gegensätze
sind für die Tyrannis die Demokratie, so wie bei Hesiod der Töpfer
dem Töpfer (denn die äußerste Demokratie ist mit der Tyrannis
identisch), und dann das Königtum und die Aristokratie wegen des
Gegensatzes der Verfassung (darum haben die Spartaner eine Menge
von Tyrannenherrschaften beseitigt, und ebenso Syrakus, solange es
eine gute Verfassung hatte). In anderer Weise geht sie durch sich
selbst zugrunde, wenn jene, die sie stützen, uneins werden, wie etwa
die Gruppe um Gelon und neulich diejenige um Dionysios: bei Gelon
war es so, daß Thrasybulos, der Bruder Hierons, den Sohn Gelons zu
einem ausschweifenden Leben verführte, um selbst zu regieren; die
Verwandten dagegen sammelten sich, damit nur Thrasybulos und
nicht die ganze Tyrannis unterginge; doch die Bürger nahmen die
Gelegenheit wahr und vertrieben sie alle zusammen. Den Dionysios
wiederum vertrieb Dion im Kriege, obschon er sein Verwandter war,
aber mit Hilfe des Volkes, und kaum war dies geschehen, ging er
selbst zugrunde.
Von den zwei Ursachen, die es gibt, einer Tyrannis nachzustellen, Haß
und Verachtung, begleitet der Haß den Tyrannen ständig; aber oftmals
erfolgt ihr Sturz auch aus Verachtung. Ein Beweis ist: jene, die eine
Tyrannis selbst erwarben, haben sie auch meist behaupten können,
doch ihre Nachfolger sind fast alle sofort gestürzt worden. Denn diese
leben im Genuß, werden verächtlich und geben ihren Feinden viele
Blößen.
Als einen Teil des Hasses muß man auch den Zorn auffassen. Denn er
verursacht so ziemlich dieselben Handlungen. Zuweilen ist er noch
tatkräftiger als der Haß, denn die Menschenhandeln energischer, weil
die Leidenschaft nicht auf die Überlegung hört. Am meisten folgt der
Zorn Beleidigungen; so ging die Herrschaft der Peisistratiden
zugrunde und viele andere. Aber besser handelt der Haß. Denn der
Zorn ist mit Kummer gemischt, so daß man nicht leicht planen kann;
die Feindschaft dagegen ist ohne Kummer.
Allgemein gesagt: alle die Ursachen, die wir für die Auflösung der
vollendeten und ungemischten Oligarchie und der äußersten

XXX
Aristoteles Politik - V. Buch

Demokratie genannt haben, gelten auch für die Tyrannis. Denn jene
sind auch nur mehrteilige Tyrannenherrschaften.
Das Königtum wird am wenigsten von außen zerstört, und darum hat
es auch Dauer. Zumeist geht es durch sich selbst zugrunde, und zwar
auf zwei Arten: entweder indem die Gefolgsleute des Königtums sich
entzweien, oder dann, wenn die Könige tyrannisch zu werden suchen
und sich zu große und gesetzwidrige Gewalt anmaßen. Gegenwärtig
entstehen keine Königtümer mehr, sondern was entsteht, sind eher
Alleinherrschaften und Tyrannenherrschaften. Denn das Königtum ist
eine Herrschaft, die auf freiem Willen beruht und die wichtigsten
Angelegenheiten beherrscht. Heute dagegen ist es so, daß es zwar
viele Ebenbürtige gibt, aber keiner so ausgezeichnet ist, daß er der
Größe und Würde der Königsherrschaft angemessen wäre. Darum
erträgt man die Herrschaft von solchen ungern. Wenn aber dann einer
durch Betrug oder Gewalt herrscht, dann scheint dies schon eine
Tyrannis zu sein.
Beim erblichen Königtum ist als Ursache des Untergangs zusätzlich
zu nennen, daß dabei viele verächtliche Leute Könige werden und daß
diese, obwohl ihre Macht nicht tyrannisch, sondern königlich sein
sollte, ihre Stellung mißbrauchen. Dann ist ihr Sturz leicht. Wenn die
Untertanen nicht mehr wollen, ist er kein König mehr; wer gegen
ihren Willen herrscht, ist dann der Tyrann.
Die Alleinherrschaften gehen also durch diese und andere Ursachen
zugrunde.

11. Erhalten werden sie natürlich im allgemeinen durch das Gegenteil;


im speziellen das Königtum dadurch, daß es Maß hält. Über je
weniger sie nämlich herrschen, um so länger wird notwendigerweise
ihre Herrschaft dauern. Sie selbst werden weniger despotisch und in
ihrer Art zugänglicher und werden von den Untertanen weniger
beneidet.
Darum hatte das Königtum bei den Molottern einen so langen
Bestand, und ebenso das der Spartaner, weil es von Anfang an in zwei
Teile geteilt war, und weil dann erst noch Theopompos es unter
anderm durch die Einsetzung des Ephorats weiter einschränkte. Indem

XXXI
Aristoteles Politik - V. Buch

er die Macht reduzierte, mehrte er die Dauer, so daß er das Königtum


in gewissem Sinne nicht minderte, sondern mehrte. So soll er denn
auch zu seiner Frau gesagt haben, als sie ihn fragte, ob er sich nicht
schäme, das Reich seinen Söhnen geringer zu hinterlassen, als er es
von seinem Vater ererbt habe: »Gewiß nicht, denn was ich ihnen
hinterlasse, ist dauerhafter.«
Die Tyrannenherrschaften werden auf zwei völlig entgegengesetzte
Arten erhalten. Die eine ist die überlieferte, nach der die meisten
Tyrannen ihre Herrschaft verwalten. Das meiste davon soll auf
Periander von Korinth zurückgehen. Vieles kann man auch an dem
persischen Reiche ablesen. Zum Teil ist es das bereits längst
Angeführte, was so weit als möglich der Erhaltung der Tyrannis dient:
die Überragenden beseitigen, die Stolzen wegschaffen und keine
Syssitien gestatten, keine Klubs und keinerlei Erziehung und nichts
dergleichen, sondern alles verhindern, woraus Stolz und gegenseitiges
Vertrauen zu entstehen pflegen, ebenso auch keine Muße und
feiertäglichen Zusammenkünfte gestatten, sondern alles tun, damit alle
Bürger einander gegenseitig so fremd als möglich bleiben (denn wenn
man sich kennt, gewinnt man leichter Vertrauen zueinander).
Außerdem sollen die ansässigen Bürger immer kontrollierbar sein und
sich stets außer dem Hause aufhalten; denn so können sie am
wenigsten heimlich etwas unternehmen und werden sich an demütige
Gesinnung gewöhnen, da sie immer in Knechtschaft gehalten werden.
Dazu kommt, was sonst noch dergleichen persische und barbarische
Tyrannensitten sind (denn all das bezweckt dasselbe). Weiterhin wird
sich der Tyrann bemühen, stets zu wissen, was die Untertanen sagen
oder tun; er unterhält Beobachter, wie in Syrakus die sogenannten
Potagogiden, und wie Hieron die Otakusten aussandte, wo immer eine
Zusammenkunft und eine Versammlung stattfand; denn dann reden
die Menschen weniger offen, da sie diese Horcher fürchten, und wenn
sie offen reden, wird es leichter bekannt. Außerdem wird der Tyrann
die Menschen gegeneinander aufhetzen, Freunde untereinander und
das Volk gegen die Angesehenen und die Reichen untereinander. Er
wird auch die Untertanen arm machen, um seine eigene
Wachmannschaft besolden zu können, und damit sie dauernd ihrem

XXXII
Aristoteles Politik - V. Buch

Lebensunterhalt nachgehen müssen und keine Zeit zu Konspirationen


haben. Ein Beispiel dafür sind die ägyptischen Pyramiden, die
Weihgeschenke der Kypseliden und der Bau des Olympions durch die
Peisistratiden, dann die Bauten des Polykrates in Samos; denn all dies
verfolgt dasselbe Ziel, Beschäftigung und Verarmung der Untertanen.
Dazu kommen die Steuern wie in Syrakus, wo unter Dionysios im
Verlauf von fünf Jahren sämtliche Vermögen als Steuern eingezogen
wurden. Der Tyrann ist auch kriegerisch, damit die Leute beschäftigt
sind und dauernd auf einen Anführer angewiesen.
Das Königtum wird durch die Freunde erhalten, die Tyrannis dagegen
durch das Mißtrauen gegenüber den Freunden, da alle dem Tyrannen
ans Leben wollen, diese es aber am meisten können.
Was ferner in der vollendeten Demokratie geschieht, ist alles auch
tyrannisch, die Frauenherrschaft im Haus, damit sie über die Männer
berichten, und zu demselben Zweck die Großzügigkeit den Sklaven
gegenüber. Denn Sklaven und Frauen geben dem Tyrannen nichts zu
fürchten, und wenn es ihnen gut geht, werden sie zwangsläufig sowohl
der Tyrannis wie auch der Demokratie gegenüber loyal sein. Denn
auch das Volk will Alleinherrscher sein. Darum wird auch der
Schmeichler bei beiden geschätzt, in der Demokratie der Volksführer
(der Volksführer ist ja der Schmeichler des Volks) und bei den
Tyrannen diejenigen, die sich demütig und eben als Schmeichler
benehmen. Darum liebt die Tyrannis auch die schlechten Menschen.
Denn sie liebt, daß man ihr schmeichelt, und das wird keiner von
freier Gesinnung tun, sondern die Anständigen lieben, aber sind keine
Schmeichler. Zudem sind die Schlechten zu schlechten Taten zu
gebrauchen; ein Nagel schlägt den andern, wie das Sprichwort sagt.
Der Tyrann hat auch keine Freude an Würde und freier Art. Denn
dergleichen erlaubt er nur sich allein, wer aber ihm gegenüber Würde
und Freiheit bewahrt, raubt dem Tyrannen seine Überlegenheit und
sein Herrentum. Solche Menschen werden dann wie Verschwörer
gehaßt. So geht der Tyrann auch lieber mit ausländischen Freunden
und Gästen um als mit einheimischen; denn diese sind seine Feinde,
die andern sind gleichgültig.

XXXIII
Aristoteles Politik - V. Buch

Solche Dinge also gehören zur Tyrannis und erhalten sie, und es fehlt
dabei keine Schlechtigkeit. Man kann sie in drei Gruppen
zusammenfassen. Denn die Tyrannis strebt nach drei Dingen, einmal
nach Unterwürfigkeit der Untertanen (der Demütige stellt niemandem
nach dem Leben), dann nach dem gegenseitigen Mißtrauen der
Untertanen (denn die Tyrannis geht erst dann unter, wenn einige sich
gegenseitig aufeinander verlassen können; darum bekämpfen sie auch
die Anständigen, weil sie der Herrschaft gefährlich sind, und zwar
nicht bloß darum, weil diese nicht despotisch regiert werden wollen,
sondern auch darum, weil sie sich selbst und andern Vertrauen
schenken und weder sich noch andere anklagen), und drittens nach
deren Unfähigkeit zu handeln; denn keiner versucht Unmögliches, und
keiner, der nicht die nötige Macht dazu hat, greift eine Tyrannis an.
Das sind also die drei Gesichtspunkte, auf die sich die Politik der
Tyrannen zurückführen läßt. Alle Maßnahmen der Tyrannen kann
man von einem davon ableiten: daß sie einander mißtrauen, daß sie
machtlos seien und daß sie unterwürfig seien.
Dies ist also die eine Art, in der die Tyrannis erhalten wird. Die andere
geht so ziemlich den entgegengesetzten Weg. Man kann ihn am Sturz
der Königsherrschaften erkennen. Wie es nämlich eine Art des
Untergangs des Königtums gibt, wenn die Herrschaft zu tyrannisch
wird, so gibt es auch eine Art der Erhaltung der Tyrannis, indem sie
königlicher wird; nur eins, die Macht, muß festgehalten werden, die
Macht, nicht nur mit der Zustimmung, sondern auch gegen die
Zustimmung der Untertanen regieren zu können. Wenn sie
verlorengeht, ist auch die Tyrannis verloren. Aber dies gilt nur als
allgemeine Voraussetzung; im übrigen soll er so handeln wie ein
König, oder doch die Rolle eines Königs mit Geschick spielen. Zuerst
soll er das Gemeinwohl zu bedenken scheinen und den Staatsbesitz
nicht auf solche Geschenke verschleudern, die das Volk ärgern, wenn
er nämlich von ihnen nimmt, was sie mit Mühe und Not sich
erarbeiten, und es rücksichtslos Hetären, Ausländern und Künstlern
verschenkt; er soll vielmehr über Einnahmen und Ausgaben Rechnung
ablegen, wie das auch schon einige Tyrannen gemacht haben. Wer so
regiert, wird als ein Hausverwalter und nicht als ein Tyrann angesehen

XXXIV
Aristoteles Politik - V. Buch

werden; er braucht ja auch nicht Angst zu haben, daß er einmal ohne


Geld sein werde. Denn er ist Herr des Staates. Das Ausgeben ist
insbesondere für die Tyrannen, die außer Landes weilen, nützlicher,
als wenn sie aufgehäufte Schätze zurückließen. Denn dann braucht es
für das Vermögen keine Wächter, diesich selbst die Reichtümer
anzueignen versuchten. Dergleichen Wächter sind für Tyrannen, die
außer Landes verreisen, gefährlicher als die Bürger. Denn die Bürger
ziehen mit in den Krieg, die Wächter aber bleiben zu Hause.
Weiterhin muß der Tyrann den Anschein erwecken, daß er die Steuern
und öffentlichen Leistungen um der Staatsverwaltung willen einzieht
und je nachdem für Kriegsfälle; und überhaupt muß er sich als
Wächter und Verwalter des öffentlichen Besitzes geben, nicht seines
eigenen.
Er muß ferner nicht bösartig, sondern ernst wirken und so, daß ihn
diejenigen, die er empfängt, nicht fürchten, sondern eher verehren.
Dies ist freilich nicht leicht, da man sich da rasch der Verachtung
aussetzt. Darum muß er, wenn nicht nach den sonstigen Tugenden, so
doch nach der Kriegstüchtigkeit streben und entsprechenden Ruhm um
sich verbreiten. Außerdem darf nicht bloß er selbst keinem der
Untertanen eine sichtbare Schande antun, weder einem Knaben noch
einem Mädchen, sondern auch keiner von seiner Umgebung. Ebenso
sollen sich die Frauen seiner Umgebung zu den andern Frauen
verhalten, denn durch den Übermut der Frauen sind schon viele
Tyrannenherrschaften untergegangen.
Was die physischen Genüsse angeht, so soll er es umgekehrt halten,
als es einige gegenwärtige Tyrannen tun: diese treiben das nicht bloß
vom frühen Morgen an und viele Tage hintereinander, sondern sie
wollen sich auch den andern in diesem Zustand zeigen, damit man sie
als glücklich und selig bewundere. Er soll also vor allem in diesen
Dingen Maß halten oder es doch wenigstens vermeiden, sich dabei
von den andern beobachten zu lassen; denn man verachtet und bedroht
ja nicht den Nüchternen, sondern den Betrunkenen, und nicht den
Wachenden, sondern den Schlafenden.
Im übrigen soll er von allem vorhin Aufgeführten so ziemlich das
Gegenteil tun. Er soll den Staat einrichten und schmücken nicht als

XXXV
Aristoteles Politik - V. Buch

Tyrann, sondern als Fürsorger. Er soll die Pflichten gegen die Götter
immer sorgfältig zu beobachten scheinen; denn dann befürchten die
Menschen von ihm weniger gesetzwidrige Handlungen, wenn sie den
Regenten für fromm und gottesfürchtig halten, und dann stellen sie
ihm auch weniger nach dem Leben, da sie annehmen, daß auch die
Götter ihm beistehen. Doch soll dies ohne Schwächlichkeit geschehen.
Wer in irgendeiner Sache tüchtig gewesen ist, den soll er so ehren, daß
der Eindruck entsteht, auch in einem freien Staate könne die Ehre
nicht größer sein; solche Ehren soll er persönlich verleihen, die
Strafen dagegen soll er durch andere Beamte und durch die Gerichte
vollziehen lassen.
Ein gemeinsamer Schutz für alle Alleinherrschaften besteht darin, daß
man nie einen Einzelnen groß werden läßt, sondern immer nur
mehrere, die miteinander rivalisieren. Und wenn man doch einen
Einzelnen erheben muß, so keinen Menschen von kühnem Charakter,
denn dieser ist in allen Dingen zu rücksichtslosem Handeln fähig; und
wenn man jemandem seine Kompetenzen wieder nehmen muß, so soll
es allmählich geschehen und nicht alles auf einmal.
Man soll sich vor jedem Übergriff hüten, vor allem in zwei
Richtungen, in körperlichen Mißhandlungen und in Liebesdingen.
Besonders hat man sich da vor den Ehrgeizigen zu hüten. Denn so wie
die Geldgierigen eine Verletzung ihres Eigentums schwer nehmen, so
nehmen die Ehrgeizigen und Anständigen eine Verletzung ihrer Ehre
schwer. Er soll sich also entweder gar nicht auf solche Menschen
einlassen, oder die Bestrafungen in väterlicher Art und ohne
Verachtung vornehmen, Liebesumgang aus Leidenschaft und nicht aus
Willkür suchen, und überhaupt alles, was als Herabsetzung aussieht,
durch größere Ehren wieder wettmachen.
Von jenen, die ihm nach dem Leben trachten, sind diejenigen die
gefährlichsten und bedürfen am meisten der Überwachung, denen an
ihrem eigenen Leben nichts liegt, wenn sie ihm nur das seine
genommen haben. So muß man sich vor allem vor jenen hüten, die
sich selbst oder ihnen nahestehende Menschen für beleidigt halten.
Wer nämlich im Zorn handelt, kennt keine Rücksicht auf sich selbst,

XXXVI
Aristoteles Politik - V. Buch

wie auch Heraklit meint, wenn er sagt, es sei schwer, mit dem Zorne
zu kämpfen; denn er erkaufe das Seinige um das Leben.
Da nun die Staaten aus zwei Teilen zusammengesetzt sind, Armen und
Reichen, so wäre es das beste, wenn beide Teile an der Erhaltung der
Herrschaft interessiert wären, und insofern keiner durch den anderen
Unrecht erlitte. Wo aber die eine Gruppe stärker ist, muß man
vorzugsweise sie an die Herrschaft binden, damit, wenn ein Notstand
eintritt, der Tyrann nicht gezwungen wird, die Sklaven freizugeben
oder die Waffen einzuziehen. Denn dann genügt es, daß jener eine
Teil sich mit ihm solidarisch erklärt, damit er dann die Aufständischen
überwältigen kann.
Es ist nicht notwendig, dies im einzelnen darzulegen. Das allgemeine
Ziel ist klar: der Tyrann soll vor seinen Untertanen als Verwalter und
König auftreten, nicht als Usurpator, sondern als Fürsorger; er soll
sich im Leben an das Maß halten und das Übermaß vermeiden, mit
den Angesehenen Umgang haben und die Menge zu führen suchen.
Dann wird die Herrschaft nicht nur edler und begehrenswerter, weil
sie über bessere Menschen geführt wird und nicht über gedemütigte,
und wird nicht gehaßt oder gefürchtet, sondern auch ihre Dauer wird
länger sein; und der Tyrann selbst wird seinem Charakter nach zur
Tugend geneigt oder doch halbwegs tugendhaft sein, nicht schlecht,
sondern nur halbwegs schlecht.

12. Allerdings sind die Oligarchie und die Tyrannis die kurzlebigsten
aller Staatsformen. Am längsten dauerte die Tyrannis des Orthagoras
und seiner Nachkommen in Sikyon; sie bestand hundert Jahre lang.
Ursache war, daß sie mit den Untertanen maßvoll umgingen, sich
zumeist an die Gesetze hielten, und da Kleisthenes kriegerisch war, so
wurde er nicht verachtet, und außerdem gewannen sie die Menge
durch Fürsorge für sich. Es heißt, Kleisthenes soll den Kampfrichter,
der ihm den Sieg absprach, selbst bekränzt haben. Einige behaupten,
das Sitzbild auf dem Markte sei eben das Bild jenes Richters (auch
Peisistratos soll einmal einer Vorladung vor den Gerichtshof des
Areopag Folge geleistet haben). Am zweitlängsten dauerte die
Tyrannis der Kypseliden in Korinth. Denn sie dauerte 73 Jahre und

XXXVII
Aristoteles Politik - V. Buch

sechs Monate: Kypselos regierte 30 Jahre, Periander 40 Jahre und ein


halbes, Psammetichos, der Sohn des Gorgos, 3 Jahre. Auch da gelten
dieselben Ursachen. Kypselos war ein Volksführer und regierte stets
ohne Leibwache, Periander wurde zwar ein Tyrann, war aber
kriegstüchtig. Die drittlängste ist die Herrschaft der Peisistratiden in
Athen; sie war aber nicht kontinuierlich. Denn zweimal wurde
Peisistratos aus der Tyrannis vertrieben, und so regierte er in einem
Zeitraum von 33 Jahren während 17 Jahren, seine Söhne aber 18
Jahre, so daß es im ganzen 3 5 Jahre werden. Unter den übrigen ist
diejenige des Hieron und Gelon von Syrakus hervorzuheben. Sie
bestand freilich nicht lange, im ganzen nur i8 Jahre: Gelon regierte 7
Jahre lang und starb im achten Jahre, Hieron Io, und Thrasybulos
wurde im elften Monat vertrieben. Die Mehrzahl der
Tyrannenherrschaften hat nur ganz knappe Zeit gedauert.
So ist denn allgemein über die Politien und die Monarchien insgesamt
gesagt, wie sie untergehen und wie sie sich erhalten.
Auch Sokrates spricht im >Staate< über diese Veränderungen, aber
nicht in richtiger Weise. Denn er nennt nicht die besondere Form der
Veränderung der vollkommensten und ersten Staatsform. Er gibt als
Ursache an, daß nichts beharrt, sondern alles in bestimmter Periodik
sich wandelt, und das Prinzip davon sei die Zahl, »deren eine
drittelfache Wurzel mit fünf multipliziert zwei Proportionszahlen
ergibt, wenn nämlich die Zahl der betreffenden Figur zu einer
körperlichen gemacht werde«, wobei er meint, daß die Natur zuweilen
schlechte und jeder Erziehung widerstrebende Menschen
hervorbringe; dies ist an sich nicht falsch (denn es kann Menschen
geben, die unfähig sind, erzogen und tugendhafte Menschen zu
werden), aber inwiefern soll dies den Übergang aus der von ihm als
vollkommen bezeichneten Staatsform eigentümlicher begründen als
den aus irgendeiner andern vorhandenen oder noch möglichen
Staatsform? Wenn außerdem nach ihm durch die Zeit sich alles
verändert, dann wird sich auch, was nicht gleichzeitig begonnen hat,
doch gleichzeitig verändern, und wenn es am letzten Tag vor der
Wende entstanden ist, so soll es sich gleichwohl mit dem andern
zusammen verändern? Und weiterhin: aus welcher Ursache soll sich

XXXVIII
Aristoteles Politik - V. Buch

die beste Verfassung gerade in die spartanische verändern? Denn alle


Verfassungen verwandeln sich häufiger in eine entgegengesetzte als in
die nächstverwandte.
Dasselbe gilt auch von den weiteren Veränderungen. Er sagt nämlich,
daß von der spartanischen Verfassung der Umschlag in die Oligarchie
erfolgt, von dieser in die Demokratie und aus dieser schließlich in die
Tyrannis. Es gibt aber auch die umgekehrten Übergänge, aus der
Demokratie in die Oligarchie, und dies sogar noch häufiger als in eine
Alleinherrschaft. Ferner sagt er überhaupt nicht, ob es nach der
Tyrannis eine weitere Veränderung gibt oder nicht, und wenn es sie
gibt, aus welcher Ursache und in was für eine Staatsform. Die Ursache
davon ist, daß er das wohl nicht leicht hätte sagen können. Es ist unbe-
stimmbar, da sie ja nach ihm wieder in die erste und beste Staatsform
zurückgehen müßte; denn nur so gibt es eine Kontinuität und einen
Kreis. Aber zuweilen schlägt eine Tyrannis auch in eine andere
Tyrannis um, wie in Sikyon diejenige des Myron in diejenige des
Kleisthenes, oder in eine Oligarchie, wie in Chalkis diejenige des
Antileon, oder in eine Demokratie, wie diejenige des Gelon in
Syrakus, oder endlich in eine Aristokratie, wie die des Charilaos in
Sparta oder diejenige in Karthago. Umgekehrt gibt es Übergänge in
die Tyrannis von der Oligarchie, wie in Sizilien bei fast allen früheren
Tyrannenherrschaften: in Leontinoi in die Tyrannis des Panaitios, in
Gela in diejenige des Kleandros, in Rhegion in diejenige des
Anaxilaos usw.
Unsinnig ist es auch, zu meinen, daß der Übergang zur Oligarchie
darum stattfinde, weil die Regierenden geld und erwerbsgierig seien,
und nicht eher darum, weil die an Reichtum weit überlegenen es für
ungerecht halten, daß die Besitzenden und die Besitzlosen im Staate
die gleichen Rechte hätten. Denn in vielen Oligarchien ist der
Gelderwerb verboten von Gesetzes wegen, in Karthago dagegen, das
demokratisch regiert wird, ist er gestattet, und dennoch hat man noch
keine Verfassungsänderung vorgenommen.
Unsinnig ist es weiterhin, zu behaupten, in der Oligarchie bestünden
zwei Staaten, einer der Reichen und einer der Armen. Denn dann wäre
dies auch der Fall in Sparta und in jedem beliebigen andern Staate, wo

XXXIX
Aristoteles Politik - V. Buch

nicht alle gleich viel besitzen und nicht alle gleich tüchtig sind. Und
auch wenn kein einziger ärmer geworden ist, als er vorher war, geht
man dennoch von der Oligarchie zur Demokratie über, wenn die
Armen die Mehrzahl werden, und aus der Demokratie zur Oligarchie,
wenn die Besitzenden mächtiger sind als die Menge, und die einen auf
der Hut sind und die andern nicht.
Es gibt also viele Ursachen, aus denen Veränderungen eintreten
können; doch er nennt nur eine einzige, daß die Menschen durch
verschwenderisches Leben in Schulden geraten und arm werden, als
ob am Anfang alle oder doch die meisten reich gewesen wären. Dies
ist also falsch. Wenn aber von den Führern des Staates einige ihr
Vermögen verlieren, dann schreiten sie zu Umsturz, tun es aber
andere, dann geschieht nichts Schlimmes; und auch in jenem Falle
geschieht der Umschlag ebensosehr in irgendeine sonstige Staatsform
wie in die Demokratie. Revolutionen gibt es auch, wenn man von den
Ämtern ausgeschlossen ist oder ungerecht behandelt oder beleidigt
wird, auch wenn man durchaus nicht sein Vermögen aufgebraucht
hat... weil man tun darf, was man will. Dafür nennt Sokrates als
Ursache die allzu große Freiheit. Es gibt also viele Arten von
Oligarchien und Demokratien; Sokrates spricht aber bei der
Behandlung der Übergänge so, als ob es in jedem Falle nur eine
einzige Art gebe.

XL
Aristoteles Politik - VI. Buch

Sechstes Buch

1. Wie viele und welcher Art die Unterschiede in der beratenden und
regierenden Staatsgewalt und in der Ordnung der Behörden und
Gerichte sind, und welche Art welcher Staatsform zugeordnet ist,
ferner über Untergang und Bewahrung der Staatsformen, wie dies
zustande kommt und aus was für Ursachen, darüber haben wir nun
gesprochen. Da es nun aber mehrere Formen der Demokratie gibt und
ebenso der andern Staatsformen, und da vielleicht über sie alle noch
einiges zu sagen übrig bleiben mag, so wird es nicht unzweckmäßig
sein, darüber zu sprechen und bei jeder die dazugehörige und
angemessene Art zu nennen.
Ferner haben wir auch die Kombinationen aller der genannten Formen
zu untersuchen. Denn diese Verbindungen machen, daß die Staaten
sich verändern, so daß es Aristokratien von oligarchischem und
Politien von demokratischem Charakter gibt. Unter den
Verbindungen, die wir nun zu prüfen haben, und die bisher noch nicht
betrachtet waren, verstehe ich etwa solche, daß der Rat und die
Beamtenwahlen oligarchisch geordnet sind, die Gerichtshöfe aber
aristokratisch, oder umgekehrt, diese und der Rat oligarchisch und die
Beamtenwahlen aristokratisch, oder daß auf irgendeine andere Weise
nicht alles vereinigt ist, was einer einzelnen Staatsform eigentümlich
ist.
Was für eine Demokratie nun was für einem Staate angemessen ist
und welche Art von Oligarchie welcher Bevölkerung, und ebenso von
den übrigen Staatsformen, welche welcher zuträglich ist, ist früher
ausgeführt worden. Aber wir müssen nicht nur wissen, welche von
diesen Verfassungen für die Staaten die beste ist; sondern auch, wie
man diese und die übrigen organisieren muß, sei in Kürze dargestellt.
Zuerst wollen wir von der Demokratie sprechen. Dann wer-den wir
auch über die ihr entgegengesetzte Staatsverfassung klar werden,
nämlich jene, die von einigen Oligarchie genannt wird.
Für diese Untersuchung muß man alle demokratischen Einrichtungen
zusammennehmen und ebenso, was sonst zur Demokratie zu gehören
scheint. Denn aus der Zusammensetzung dieser Dinge scheinen sich

I
Aristoteles Politik - VI. Buch

die Formen der Demokratie zu ergeben, und zwar nicht nur eine,
sondern mehrere undverschiedene Demokratien. Und zwar gibt es
mehrere Demokratien aus zwei Ursachen. Die eine ist die früher
genannte, daß das Volk ein verschiedenes ist (denn bald besteht die
Menge aus Bauern, bald aus Handwerkern und Tagelöhnern. Wenn
hiervon das erste mit dem zweiten zusammengenommen wird und zu
diesen beiden Gruppen wieder die dritte, so verändert sich die
Demokratie nicht bloß zum Bessern oder Schlechtern, sondern ist
überhaupt nicht mehr dieselbe). Die zweite Ursache ist die, von der
wir jetzt reden wollen: was zur Demokratie gehört und dieser
Staatsform eigentümlich zu sein scheint, macht je nach seiner
Zusammensetzung die Demokratie zu einer andern. Denn bald sind
weniger von diesen Elementen vorhanden, bald mehrere, bald alle.
Nützlich ist es, jedes einzelne davon zu kennen, um diejenige Art von
Demokratie einrichten zu können, die man gerade bevorzugt, und um
Korrekturen anzubringen. Denn jene, die Verfassungen ausarbeiten,
suchen alles ihrem Plane Entsprechende zusammenzubringen und
verfehlen sich eben darin, wie vorhin in den Untersuchungen über
Untergang und Erhaltung der Verfassungen gesagt worden war.
Jetzt wollen wir von den Voraussetzungen, Charakteren und Zielen
der verschiedenen Verfassungen sprechen.

2. Grundlage der demokratischen Staatsform ist die Freiheit; man


pflegt nämlich zu behaupten, daß die Menschen nur in dieser
Staatsform an der Freiheit teilhaben, und erklärt, daß danach jede
Demokratie strebe. Zur Freiheit gehört aber erstens, daß man
abwechselnd regiert und regiert wird. Denn die demokratische
Gerechtigkeit besteht darin, daß man nicht der Würde, sondern der
Zahl nach die Gleichheit walten läßt; wo diese Gerechtigkeit herrscht,
da muß die Menge Herr sein, und was die Mehrzahl billigt, das muß
das Gültige und das Gerechte sein. Man sagt nämlich, es sei gerecht,
daß jeder Bürger das Gleiche habe. So sind denn in den Demokratien
die Armen mächtiger als die Reichen. Denn sie sind zahlreicher, und
maßgebend ist die Meinung der Mehrzahl. Dies ist also das eine
Zeichen der Demokratie, das alle Demokraten als Wesenszug dieser

II
Aristoteles Politik - VI. Buch

Verfassungsform angeben. Ein anderes ist, daß man leben kann, wie
man will. Sie sagen, dies eben sei die Leistung der Demokratie; denn
nicht zu leben, wie man wolle, sei charakteristisch für Sklaven. Dies
ist also die zweite Eigenschaft der Demokratie. Von da her kommt
denn, daß man sich nicht regieren läßt, am besten von überhaupt
niemandem, oder dann doch nur abwechslungsweise. Auch dies trägt
also zur Freiheit im Sinne der Gleichheit bei.
Da nun dies vorausgesetzt wird und dies die Regierungsform ist, so
ergibt sich das Folgende als demokratisch: alle Ämter werden aus
allen besetzt, alle herrschen über jeden und jeder abwechslungsweise
über alle. Ferner werden die Ämter durchs Los besetzt, entweder alle
oder doch jene, die nicht der Erfahrung und Kenntnisse bedürfen. Von
der Vermögenseinschätzung hängen die Ämter entweder überhaupt
nicht oder nur zu einem minimalen Grade ab. Keiner darf ein Amt
zweimal bekleiden, oder nur wenige Male oder in wenigen Fällen,
abgesehen von den Kriegsämtern. Die Ämter sind alle kurzfristig, oder
doch alle, bei denen es möglich ist. Richter sind alle und können aus
allen entnommen werden und richten über alles oder doch über das
Meiste, Größte und Bedeutendste, wie über Rechenschaftsablagen,
Verfassungsfragen und Privatverträge. Die Volksversammlung
entscheidet über alles oder doch das Wichtigste, die Behörden
dagegen über nichts oder nur ganz weniges. Von den Behörden ist der
Rat das demokratischste, dort jedenfalls, wo nicht reichliches Taggeld
für jeden zur Verfügung steht. Wo aber dies der Fall ist, da werden
auch dieser Behörde die Kompetenzen entzogen. Denn wo eine
Volksversammlung in der Lage ist, reichliche Taggelder zu geben, da
zieht sie alle Entscheidungen an sich, wie wir schon in der
vorangehenden Untersuchung gesagt haben. Ferner werden Taggelder
gewährt für alles, wenn möglich (für Volksversammlung, Gerichte,
Behörden), oder doch wenigstens für Behörden, Gerichte, Rat und die
wichtigsten Volksversammlungen oder doch diejenigen Behörden, die
zusammen zu speisen haben.
Wenn ferner die Oligarchie durch Adel, Reichtum und Bildung
charakterisiert wird, so scheint die Demokratie von alledem das
Gegenteil zu sein, Unadligkeit, Armut, Unbildung. Bei den Ämtern

III
Aristoteles Politik - VI. Buch

gilt, daß keines lebenslänglich sein darf. Bleibt aber ein solches aus
einem früheren Zustand übrig, so wird seine Kompetenz beschränkt
und aus der Wahl eine Auslosung gemacht.
Dies sind also die gemeinsamen Eigenschaften aller Demokratien. Aus
der Gerechtigkeit, die anerkanntermaßen als demokratisch gilt
(nämlich daß alle der Zahl nach dasselbe haben), entspricht eben jene
Verfassung, die am meisten demokratisch und volkstümlich zu sein
scheint. Denn die Gleichheit besteht darin, daß Arme und Reiche in
gleicher Weise regieren, daß nicht Einzelne allein entscheiden,
sondern alle gleichmäßig ihrer Zahl nach. So, meint man wohl, sei für
die Verfassung die Gleichheit und die Freiheit garantiert.

3. Danach stellt sich die Frage, wie man faktisch zu dieser Gleichheit
kommt. Soll man die Steuerleistung der fünfhundert Vermögendsten
auf tausend aufteilen und so, daß die tausend gleiche Befugnisse
haben wie die fünfhundert? Oder soll man die Gleichheit in diesem
Sinne nicht so auffassen, sondern zwar so berechnen, aber dann aus
den fünfhundert ebenso viele auswählen wie aus den tausend und dann
diese zu entscheidenden Instanzen bei Wahlen und bei den Gerichten
machen? Wäre nun dies die gerechteste Verfassung im Sinne der
demokratischen Gerechtigkeit oder eher jene, die sich nach der Zahl
richtet? Denn die Demokraten erklären, gerecht sei, was die Mehrzahl
billige, die Oligarchen dagegen, was das größere Vermögen billige.
Denn sie sagen, man müsse sich nach dem Umfang des Vermögens
richten.
In beiden Fällen entsteht eine Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Denn
wenn geschieht, was die Wenigen wollen, so haben wir eine Tyrannis
(wenn nämlich ein Einzelner noch mehr besäße als die anderen
Vermögenden, so wäre er nach der oligarchischen Gerechtigkeit allein
zu regieren befugt). Regiert aber die zahlenmäßige Mehrzahl, so
werden sie Unrecht tun, indem sie den Besitz der wenigen Reichen
konfiszieren, wie wir schon früher gesagt haben.
Welches nun die Gleichheit ist, in der beide Teile übereinstimmen
könnten, wird sich aus dem jeweiligen Begriff der Gerechtigkeit bei
beiden zeigen. Sie sagen einmal, daß das, was die Mehrzahl der

IV
Aristoteles Politik - VI. Buch

Bürger billige, maßgebend sein solle. Das mag gelten, aber nicht in
jedem Falle, sondern, wenn es zwei Teile sind, aus denen der Staat
besteht, die Reichen und die Armen, so muß eben das, was beide Teile
oder die Mehrheit in beiden billigt, maßgebend sein. Wollen sie aber
das Gegenteil, dann soll gelten, was die Mehrzahl und die höher
Besteuerten wollen. Es seien also etwa die einen zehn, die andern
zwanzig, und von den Reichen stimmen sechs zu und von den Armen
fünfzehn. Zu den Armen kommen nun vier von den Reichen hinzu und
von den Armen fünf zu den Reichen. Bei welchen nun die
Steuereinschätzung größer ist, wenn man beide auf beiden Seiten
zusammenzählt, deren Stimme soll maßgebend sein. Wenn auf beide
Seiten gleich viel entfällt, so muß dies dieselbe Schwierigkeit ergeben
wie jetzt, wenn die Volksversammlung oder der Gerichtshof zu
Stimmengleichheit kommt. Da muß man das Los entscheiden lassen
oder etwas anderes dieser Art tun.
Aber mag es auch noch so schwierig sein, das Richtige in bezug auf
die Gleichheit und Gerechtigkeit zu finden, es ist immer noch leichter,
als jene zu überreden, die in der Lage sind, Gewalt anzuwenden. Denn
es sind immer die Schwächeren, die die Gleichheit und die
Gerechtigkeit anstreben, die Stärkeren aber kümmern sich nicht
darum.

4. Es gibt vier Arten von Demokratie, und die beste ist die in der
Rangordnung erste, wie es in den vorangehenden Untersuchungen
gesagt wurde. Sie ist auch die älteste von allen. Ich nenne sie die erste
in dem Sinne, wie man etwa die verschiedenen Volksgruppen
unterscheidet. Die beste Gruppe ist die der Bauern, so daß man auch
die entsprechende Demokratie dort einrichten kann, wo das Volk von
Landwirtschaft oder Viehzucht lebt. Weil diese kein großes Vermögen
haben, sind sie beschäftigt und können also nicht viele
Volksversammlungen abhalten. Weil sie aber gerade das Notwendige
besitzen, so halten sie sich bei ihrer Arbeit auf und begehren nicht
nach fremden Dingen, und es ist ihnen lieber, zu arbeiten, als Politik
zu treiben und zu regieren, außer, wo die Ämter große Gewinne
abwerfen. Denn die Mehrzahl der Leute strebt mehr nach Gewinn als

V
Aristoteles Politik - VI. Buch

nach Ehre. Ein Beweis ist, daß sie die alten Tyrannenherrschaften
ausgehalten haben und auch die Oligarchien aushalten, wenn einer sie
nicht am Arbeiten hindert und ihnen nichts wegnimmt; denn da
werden die einen rasch reich, und die andern werden jedenfalls nicht
arm.
Auch das Recht, Behörden zu wählen und zur Rechenschaft zu ziehen,
befriedigt ihr Bedürfnis nach Ehrgeiz, soweit sie ein solches haben. In
einigen Demokratien sind die Leute sogar zufrieden, auch wenn sie
nicht an der Beamtenwahl mitmachen dürfen, sondern dies nur
bestimmte Einzelne tun, die abwechslungsweise aus der Gesamtheit
ausgewählt werden, wie in Mantinea, und das Volk nur ein Recht auf
Beratung besitzt. (Und man muß wohl annehmen, daß auch dies, wie
es einmal in Mantinea gewesen ist, eine Form der Demokratie
darstellt.)
So ist es auch für die vorhin genannte Demokratie zuträglich und
kommt auch öfters vor, daß zwar die Behörden gewählt werden, und
daß alle Recht sprechen und zur Rechenschaft ziehen, daß aber die
höchsten Behörden auf Grund der Steuereinschätzung gewählt
werden, und zwar die höheren auf Grund der höheren, oder auch, daß
gar kein Amt nach der Steuereinschätzung vergeben wird, sondern
gemäß der Fähigkeit.
Eine solche Staatsverfassung muß gut sein (denn die Ämter werden
immer durch die Besten verwaltet, und das Volk will es so und
beneidet die Anständigen nicht), und für die Anständigen und
Angesehenen genügt diese Ordnung. Denn sie werden dann nicht von
andern regiert, die schlechter sind als sie, und sie werden gerecht
regieren, da andere das Recht haben, sie zur Rechenschaft zu ziehen.
An andere gebunden zu sein und nicht alles tun zu dürfen, was man
will, ist nämlich zuträglich; denn die Freiheit, zu tun, was man will,
vermag nicht das Schlechte, das sich in jedem Menschen findet, zu
zügeln. So muß also eintreten, was für die Verfassungen das
Nützlichste ist, daß die Anständigen ohne Fehler regieren und das
Volk nicht zu kurz kommt.
Es ist also klar, daß dieses die beste Form der Demokratie ist, und aus
welcher Ursache: weil nämlich das Volk eine bestimmte Art hat. Um

VI
Aristoteles Politik - VI. Buch

das Volk aber zu einem ackerbauenden zu machen, gibt es einige unter


den in alter Zeit bei den Meisten vorhandenen Gesetzen, die äußerst
nützlich sind, etwa, daß man überhaupt nicht mehr als ein bestimmtes
Maß an Land besitzen darf, oder nur in einer bestimmten Distanz vom
städtischen Markt und den Amtssitzen; in vielen Staaten war es in
alter Zeit auch Gesetz, daß man die ersten Landlose nicht verkaufen
dürfe. Etwas Ähnliches bewirkt auch das sogenannte Gesetz des
Oxylos, wonach man auf einen bestimmten Teil des jedem
zugehörigen Landes keine Hypotheken aufnehmen dürfe. Bei den
gegenwärtigen Verhältnissen muß man sich auch nach dem Gesetz der
Aphytaier richten. Dieses ist gerade in unserem Sinne nützlich. Denn
obschon jene zahlreich sind und nur wenig Land besitzen, sind doch
alle insgesamt Landwirte. Sie werden für die Steuer nicht nach ihrem
gesamten Besitze eingeschätzt, sondern dieser wird in so kleine Teile
aufgespalten, daß auch die Armen steuerlich eingeschätzt werden und
das Übergewicht erhalten können.
Nächst dem Landwirtschaft treibenden Volke ist das beste dasjenige,
das aus Hirten besteht und sich von der Viehzucht ernährt. Denn
dieses ist einem Bauernvolke sehr ähnlich, und für kriegerische
Unternehmungen sind diese nach ihrer Verfassung am meisten geübt,
körperlich tüchtig und leicht fähig, unter freiem Himmel zu leben.
Fast alle andern Volkstypen, aus denen sich die übrigen Demokratien
zusammensetzen, sind bedeutend schlechter als diese. Denn ihre
Lebensweise ist schlecht, und von den Arbeiten, die die Masse der
Kleinhandwerker, der Marktleute und der Taglöhner in Angriff nimmt,
ist keine einzige, die Tugend erfordert. Und weil sich solche Leute
dauernd um den Markt und die Stadtmitte herumtreiben, sind sie so
ziemlich alle auch leicht zu Volksversammlungen bereit. Die Bauern
dagegen leben auf dem Lande verstreut, begegnen einander selten und
haben auch nicht das Bedürfnis nach solchen Zusammenkünften. Wo
außerdem das Kulturland so gelegen ist, daß es sich weitab von der
Stadt befindet, da ist es leicht, eine tüchtige Demokratie und
Staatsverfassung einzurichten. Denn da ist das Volk gezwungen, sich
auf dem Lande anzusiedeln, und auch wenn es da eine städtische
Bevölkerung gibt, so wird es eine Demokratie eben so einrichten

VII
Aristoteles Politik - VI. Buch

müssen, daß keine Volksversammlungen ohne die Landbevölkerung


abgehalten werden dürfen.
Wie man nun also die erste und beste Demokratie einrichten soll, ist
gesagt. Klar ist es aber auch, wie es mit den andern steht. Man muß
nämlich Schritt für Schritt abweichen und immer wieder den
schlechteren Teil der Bevölkerung beiseite schieben.
Die extremste Form der Demokratie, an der alle Gruppen teilhaben,
kann nicht jeder Staat aushalten; sie kann auch nicht leicht bestehen
bleiben, wenn sie nicht durch Gesetze und Gewohnheiten gut
beisammengehalten wird (von dem, was diese und die andern
Verfassungen zu ruinieren vermag, haben wir vorhin schon das meiste
gesagt). Um nun eine solche Demokratie zustande zu bringen und das
Volk stark zu machen, pflegen die Anführer so viele Menschen als
möglich zu sammeln und zu Bürgern zu machen, nicht nur die
echtbürtigen, sondern auch die unebenbürtigen und jene, von denen
nur der eine Elternteil, Vater oder Mutter, Bürger ist. Denn dies alles
ist vorzugsweise einer solchen Demokratie eigentümlich.
Die Volksführer pflegen denn auch so vorzugehen. Man soll aber nur
so lange neue Bürger zulassen, bis die Menge des gewöhnlichen
Volkes die Zahl der Angesehenen und Mittleren überwiegt, und
darüber nicht hinausgehen. Denn tut man dies, so macht man die
Verfassung allzu ungeordnet und reizt die Angesehenen auf, die
Demokratie nur noch mit Widerwillen zu ertragen, wie dies die
Ursache des Aufstandes in Kyrenewar. Wenig Schlechtes übersieht
man nämlich; wird es dagegen viel, so fällt es eher in die Augen.
Außerdem sind für eine derartige Demokratie auch Einrichtungen von
solcher Art nützlich, wie sie Kleisthenes in Athen eingeführt hat, um
die Demokratie zu stärken, und wie es die Schöpfer der Demokratie in
Kyrene gemacht haben. Man muß nämlich neue und zahlreiche
Stammesverbände und Geschlechterverbände einrichten und die
Einrichtungen der privaten Kulte auf wenige öffentliche Kulte
konzentrieren und alles so berechnen, daß so weit als möglich alle mit
allen vermischt und die früheren Verbindungen zerrissen werden.
Auch die Einrichtungen der Tyrannen scheinen alle demokratisch zu
sein, ich meine etwa die Unkontrolliertheit der Sklaven (was bis zu

VIII
Aristoteles Politik - VI. Buch

einem gewissen Grade förderlich sein kann) und der Frauen und
Kinder, und die Läßlichkeit, jeden leben zu lassen, wie er will. Denn
dann wird es vieles geben, was einen solchen Staat stützt: die
Mehrzahl will lieber ungebunden leben als in Zucht.

5. Für den Gesetzgeber und für jene, die eine solche Verfassung
einrichten wollen, ist die größte und einzige Aufgabe nicht die, sie zu
begründen, sondern vielmehr, sie zu erhalten. Denn daß irgendeine
Verfassung einen, zwei oder drei Tage bestehen bleibt, hat keine
Schwierigkeit. Darum muß man auf unsere frühere Frage, wodurch
eine Verfassung erhalten bleibt und zugrunde geht, zurückgreifen und
versuchen, auf Grund davon die Sicherheit herzustellen, das
Verderbliche zu meiden und solche Gesetze zu geben, geschriebene
wie ungeschriebene, die vor allem umfassen, was die Verfassungen
erhält. Man darf nicht meinen, dies sei demokratisch oder
oligarchisch, was den Staat im höchsten Grade demokratisch oder
oligarchisch macht, sondern das, was ihn die längste Zeit in dieser
Verfassung hält.
Die gegenwärtigen Volksführer allerdings wollen sich beim Volke in
Gunst setzen und lassen durch die Gerichte viele Vermögen
konfiszieren. Darum müssen jene, denen diese Verfassung am Herzen
liegt, sich gerade dagegen wehren und gesetzlich festlegen, daß das
Vermögen der Verurteilten nicht öffentliches Gut werde und der
Allgemeinheit zugute komme, sondern dem Kulte. Auf diese Weise
werden die Übeltäter nicht weniger vorsichtig sein (denn sie werden in
derselben Weise wie bisher gestraft), das Volk aber wird weniger Ver-
urteilungen aussprechen, da es nichts davon erhalten wird. Ferner muß
man die auf Konfiskation zielenden Prozesse möglichst beschränken
und durch hohe Bußen leichtfertige Anklagen verhindern. Denn man
pflegt ja nicht Leute aus dem Volke, sondern die Angesehenen vor
Gericht zu bringen; aber es gilt, daß auch dieser Verfassung möglichst
alle Bürger loyal gegenüberstehen oder doch wenigstens die
Regierenden nicht für Feinde halten.
Da weiterhin die extremen Demokratien menschenreich sind und man
da nicht leicht ohne Taggeld an den Volksversammlungen teilnehmen

IX
Aristoteles Politik - VI. Buch

kann, diese Einrichtung aber dort, wo es nicht regelmäßige


Staatseinkünfte gibt, den Angesehenen gefährlich ist (denn dann muß
das Geld durch Vermögensabgaben und Konfiskationen und unkorrekt
geführte Prozesse eingebracht werden, was schon manchen
Demokratien zum Verderben geworden ist); wo es also keine solchen
Einkünfte gibt, da darf man nur wenige Volksversammlungen
veranstalten, und Gerichtshöfe mit vielen Richtern, aber wenigen
Sitzungstagen (denn das führt dazu, daß die Reichen die Ausgaben
nicht scheuen, wenn die Wohlhabenden keinen Richterlohn erhalten,
sondern nur die Armen; es trägt auch dazu bei, daß die Prozesse viel
gerechter entschieden werden. Denn die Wohlhabenden wollen nicht
viele Tage von ihren privaten Angelegenheiten fern sein, sondern nur
für kurze Zeit).
Wo es indessen Einkünfte gibt, da darf man nicht tun, was jetzt die
Volksführer tun: sie verteilen nämlich den Überschuß, und die Leute
empfangen und verlangen sofort wieder nach demselben; eine solche
Hilfe an die Armen ist nämlich wie ein durchlöchertes Faß. Der
wahrhafte Demokrat muß also vielmehr darauf schauen, daß das Volk
nicht gar zu arm werde. Denn dies ist die Ursache, wenn eine
Demokratie schlecht wird. Man muß es also so einrichten, daß eine
dauernde Wohlhabenheit entstehe; denn dies nützt auch den
Wohlhabenden. Man soll den Ertrag der Staatseinkünfte sammeln und
aufhäufen und dann ganz den Armen verteilen, und zwar womöglich
auf jeden so viel, daß es zum Ankauf eines Landstückes reicht, oder
doch wenigstens als Anfangskapital für ein Geschäft oder einen
Bauernbetrieb. Wenn dies nicht für alle möglich ist, so soll man doch
nach Stammesgenossenschaften oder nach sonstigen festen Gruppen
verteilen. Dabei sollen die Wohlhabenden das Taggeld für die
notwendigen Zusammenkünfte aufbringen, dafür aber von unnützen
Lasten befreit werden.
Auf eine solche Weise etwa sind die Karthager organisiertund haben
sich das Volk zum Freunde gemacht. Denn sie schicken immer wieder
Leute aus dem Volk in die umliegenden Gebiete und machen sie damit
wohlhabend. Es ist auch ein Zeichen von Liebenswürdigkeit und

X
Aristoteles Politik - VI. Buch

Klugheit der Angesehenen, wenn sie immer wieder die Armen


unterstützen, ihnen Kapital geben und sie einer Arbeit zuleiten.
Ausgezeichnet wäre es auch, die Einrichtung der Tarentiner
nachzuahmen. Jene stellen den Besitz den Armen zu gemeinsamem
Gebrauche zur Verfügung und machen sich so das Volk wohlgesinnt.
Außerdem haben sie überall zwei Arten von Ämtern unterschieden,
erwählte und ausgeloste: die erlosten, damit auch das Volk an ihnen
Anteil hat, die erwählten, damit sie besser regiert werden. Man kann
es auch so machen, daß man bei derselben Behörde aufteilt und die
einen Mitglieder wählen, die andern auslosen läßt.
Damit ist gesagt, wie man die Demokratien einrichten soll.

6. Daraus ergibt sich auch ungefähr, wie man es mit den Oligarchien
zu halten hat. Man muß nämlich jede einzelne Oligarchie vom
Gegenteil her konstruieren und sie mit der ihr entgegenstehenden
Demokratie vergleichen, zunächst die erste und am besten gemischte:
sie ist der sogenannten Politie nahe. Man muß da eine doppelte
Steuereinschätzung einführen, eine niedere und eine höhere, die
niedere, auf Grund deren man an den subalternen Ämtern teilnehmen
kann, die höhere, die zu den entscheidenderen Zutritt gibt. Wer unter
die Steuereinschätzung fällt, hat das Recht, an der Staatsleitung
teilzunehmen, und man wird auf Grund der Steuereinschätzung so
viele Leute aus dem Volke zuziehen, daß man mit ihnen zusammen
über jene, die an den Bürgerrechten nicht teilnehmen, überlegen ist.
Immer muß man aber diese Teilnehmer aus den besseren Gruppen des
Volkes heranziehen.
Ebenso muß man die nächstfolgende Oligarchie einrichten, indem
man ein wenig schärfer oligarchisch regiert.
Die der extremen Demokratie entgegengesetzte Oligarchie, die dem
Absolutismus und der Tyrannis am nächsten kommt, bedarf um so
größerer Fürsorge, da sie die schlechteste ist. Denn so wie gesunde
und wohl disponierte Körper und Schiffe, die den Seeleuten für die
Fahrt gut zur Hand sind, manche Fehlgriffe zu überstehen vermögen,
ohne durch sie zugrunde zu gehen, wogegen kränkliche Körper und
baufällige, mit schlechten Seeleuten besetzte Schiffe nicht den

XI
Aristoteles Politik - VI. Buch

kleinsten Fehler aushalten können, genauso verlangen auch die


schlechtesten Verfassungen die größte Fürsorge. Die Demokratien
überhaupt werden durch ihren Volksreichtum erhalten (denn dies steht
der nach der Würdigkeit bestimmten Gerechtigkeit gegenüber). Die
Oligarchie umgekehrt muß offenbar ihre Rettung in der guten
Ordnung suchen.

7. Da es nun aber vorzugsweise vier Teile eines Volkes gibt, Bauern,


Handwerker, Kaufleute und Tagelöhner, und ebenso vier
Waffengattungen: Reiter, Schwerbewaffnete, Leichtbewaffnete und
Schiffssoldaten, so ist ein Land, das für das Reiten günstig ist, auch
geeignet, eine starke Oligarchie aufzubauen; denn ihre Erhaltung
verdanken die Bewohner eben dieser Waffengattung, aber die
Pferdezucht ist nur für Besitzer großer Vermögen möglich. Wo das
Land umgekehrt für Schwerbewaffnete gut ist, da ist die
nächstfolgende Form der Oligarchie angemessen (denn die
Ausrüstung von Hopliten ist eher Sache der Wohlhabenden als der
Unbemittelten); eine Macht aus Leichtbewaffneten und
Schiffssoldaten dagegen ist demokratisch.
Oftmals unterliegen in der Tat die Oligarchien, wo es zum Konflikt
kommt und eine große Menge von Leuten dieser letzten Arten
vorhanden ist. Das Heilmittel dagegen muß man von den
kriegserfahrenen Feldherren übernehmen, die mit der Macht der Reiter
und der Schwerbewaffneten eine angemessene Zahl von
Leichtbewaffneten kombinieren. Die Leichtbewaffneten sind es aber,
die in den Auseinandersetzungen dem Volk den Sieg über die
Wohlhabenden geben. Denn da sie beweglich sind, können sie leicht
gegen Reiterei und Hoplitenmacht kämpfen. Wenn man nun in der
Oligarchie die entsprechende Truppe aus dem Volk aushebt, so hebt
man sie gegen sich selbst aus. Man muß also die Altersunterschiede
zwischen den Alten und den Jungen zugrunde legen und die eigenen
Söhne, solange sie zu den Jungen gehören, in den leichten und
beweglichen Kampfweisen unterrichten, so daß sie sich dann, wenn
sie über das Knabenalter hinaus sind, in eben dieser Kampfart
bewähren.

XII
Aristoteles Politik - VI. Buch

Dem Volk soll die Teilnahme an den Staatsgeschäften gegeben


werden entweder so, wie wir es vorher gesagt haben, daß man sie an
eine bestimmte Steuereinschätzung knüpft, oder so wie in Theben, daß
sie zuerst eine bestimmte Zeit hindurch keine handwerkliche Arbeit
getan haben, oder so wie in Massalia, daß man eine Auswahl aus den
Würdigsten trifft, undzwar sowohl bei den regierungsberechtigten
Bürgern wie auch bei den anderen.
Ferner müssen bei den wichtigsten Ämtern, die von den
regierungsberechtigten Bürgern besetzt werden sollen, auch
Leistungen für die Öffentlichkeit dabei sein, damit das Volk zufrieden
ist, nicht daran beteiligt zu sein, und mit den Magistraten Nachsicht
übt, weil sie für ihr Amt einen hohen Preis zahlen müssen. So sollen
sie denn beim Amtsantritt großartige Opfer veranstalten und irgendein
öffentliches Werk herstellen, damit das Volk, das an den
Opfermahlzeiten teilnimmt und die Stadt mit Weihgeschenken und
Gebäuden geschmückt sieht, die Verfassung gerne dauern läßt.
Außerdem wird dies auch für die Angesehenen selbst ein Denkmal
ihrer Großzügigkeit sein. Aber die gegenwärtigen Oligarchien tun
nichts dergleichen, sondern das Gegenteil. Sie suchen den Profit nicht
weniger als die Ehre, und so kann man mit Recht sagen, sie seien
kleine Demokratien.
Wie man also die Demokratien und die Oligarchien einrichten soll, sei
damit gesagt.

8. Im Anschluß an das Gesagte müssen wir nun die Ämter richtig


unterscheiden, und, wie schon früher, feststellen, wie viele und welche
es sind und was sie zu verwalten haben. Ohne die notwendigen Ämter
kann ein Staat überhaupt nicht bestehen, und ohne jene, die der
Ordnung und der Würde dienen, kann er nicht gut eingerichtet sein.
Außerdem werden in den kleinen Staaten weniger Ämter vorhanden
sein müssen, in den großen mehr, wie wir auch schon vorher gesagt
haben. Man darf also nicht übersehen, welche man zusammenlegen
darf und welche man getrennt halten soll.
Unter den notwendigen Ämtern ist die Fürsorge für den Markt das
erste. Da muß ein Amt bestehen, das die Aufsicht über die Geschäfte

XIII
Aristoteles Politik - VI. Buch

und die Ordnung führt. Denn so ziemlich alle Staaten sind gezwungen,
untereinander zu kaufen und zu verkaufen, damit jeder die
notwendigen Güter erhält. Dies ist die unentbehrliche Voraussetzung
der Autarkie, die ja das Ziel sein dürfte, wenn man einheitliche
Gemeinschaften bildet.
Damit zusammenhängend und verwandt ist weiterhin die Fürsorge für
die öffentlichen und privaten Gebäude in der Stadt, damit da Ordnung
sei und verfallene Häuser und Straßen instandgestellt und unterhalten
werden, ferner, daß die gegenseitigen Grenzzeichen unverletzt
bleiben, und was sonst zu dieser Art von Fürsorge gehört. Diese
Behörde wird zumeist Stadtverwaltung genannt; sie hat mehrere
Abteilungen, die in den volkreicheren Städten von verschiedenen
Beamten versehen werden, wie die Überwachung der Mauern, der
Quellen und der Häfen.
Verwandt mit dieser ist eine andere, ebenfalls unentbehrliche Behörde.
Sie führt dieselbe Aufsicht, aber auf dem Land und für die Bezirke
außerhalb der Stadt. Man nennt diese Beamten Landaufseher oder
Forstaufseher.
Dies wären also drei Behörden. Ein weiteres Amt ist dasjenige, bei
dem die öffentlichen Einkünfte einlaufen, verwahrt und auf die
einzelnen Verwaltungszweige aufgeteilt werden. Diese heißen
Steuereinnehmer und Schatzmeister.
Eine weitere Behörde ist jene, bei der die Privatverträge und die
Gerichtsurteile schriftlich deponiert werden müssen. Bei derselben
sollen auch die Klageschriften eingereicht und die Prozesse eingeleitet
werden. Zuweilen wird auch diese Behörde in mehrere aufgelöst,
zuweilen ist eine einzige für alle diese Dinge zuständig. Man nennt sie
dann Hieromnemones, Vorsteher, Mnemones (Archivare) und
dergleichen.
Mit diesem verbunden, aber das beinahe notwendigste und
mühseligste aller Ämter ist das der Vollziehung der Gerichtsurteile,
Eintreibung der veröffentlichten Buße, Bewachung der Verhafteten.
Mühsam ist dieses Amt, weil es seinen Träger verhaßt macht, so daß
man es dort, wo kein großer Lohn zu erwarten ist, gar nicht
übernehmen will, und wenn man es schon übernimmt, es auch nicht

XIV
Aristoteles Politik - VI. Buch

den Gesetzen entsprechend ausübt. Notwendig ist es, weil eine


Rechtsprechung gar keinen Sinn hat, wenn sie nicht vollstreckt wird;
wenn eine Gemeinschaft nicht bestehen kann, wenn nicht Recht
gesprochen wird, so auch nicht, wenn es nicht vollzogen wird. Darum
ist es besser, wenn dieses Amt nicht ein einziges sei, sondern für jeden
Gerichtshof ein anderes. Ebenso soll man eine Scheidung bei den
veröffentlichten Bußen versuchen. Manche Strafen sollen von andern
Behörden vollzogen werden, die von den neu Angetretenen
verhängten durch neue Behörden, und wo es sich um Beamte handelt,
die schon länger tätig sind, da soll der Verurteilende einer andern
Behörde angehören als der Vollziehende; so sollen die Stadtaufseher
etwa die von den Marktaufsehern verhängten Bußen eintreiben, und
die von jenen verhängten wieder andere. Denn je weniger die eintrei-
bende Behörde verhaßt ist, desto leichter werden die Eintreibungen
zum Ziele kommen. Wenn aber die Verurteilenden und die
Eintreibenden dieselben sind, so erzeugt dies einen doppelten Haß;
und wenn für alles dieselben zuständig sind, so werden sie allen
verhaßt sein.
Oftmals ist auch die Behörde, die die Gefangenen bewacht, getrennt
von derjenigen, die die Strafen vollstreckt, wie etwa in Athen das
Kollegium der Elfmänner. Darum ist es besser, auch hier zu trennen
und auch hier den entsprechenden Ausweg zu finden. Denn jene
Behörde ist nicht weniger notwendig als die andere, aber die
Anständigen meiden gerade vor allem dieses Amt; schlechte Leute
dazu zu bestellen, ist dagegen nicht sicher. Denn diese bedürfen eher
selbst der Bewachung, als daß sie andere zu bewachen fähig wären.
Darum soll zur Bewachung der Gefangenen nicht eine einzige feste
Behörde bestimmt werden und nicht dauernd dieselbe, sondern wo
unter den jungen Leuten eine Abteilung von Rekruten oder
Wachtmannschaften besteht, soll man sie heranziehen, und unter den
Behörden abwechslungsweise immer eine andere.
Diese Behörden nun sind die ersten und mögen als die notwendigsten
gelten. Nach ihnen kommen solche, die nicht weniger notwendig sind,
aber einen höheren Rang einnehmen. Denn sie fordern viel Erfahrung
und Zuverlässigkeit. Das sind jene, deren Aufgabe die Bewachung des

XV
Aristoteles Politik - VI. Buch

Staates ist, sowie alle jene, die mit militärischen Aufgaben betraut
sind. Es muß im Frieden wie im Kriege Beamte geben, die die
Bewachung der Tore und Mauern kontrollieren und die Bürger
militärisch ausheben und einteilen. Zuweilen gibt es für alle diese
Aufgaben viele Behörden, zuweilen wenige, und in kleinen Staaten ist
alles bei einer einzigen vereinigt. Diese nennt man Strategen und
Polemarchen. Ferner, wo es Reiter, Leichtbewaffnete, Bogenschützen
oder Schiffssoldaten gibt, da wird zuweilen für jede dieser Gattungen
eine eigene Behörde bestellt, die nun Nauarchen, Hipparchen und
Taxiarchen heißen, und unter diesen wieder im einzelnen Trierarchen,
Lochagen, Phylarchen und was es bei diesen weiterhin für
Unterabteilungen gibt. All dies ist aber eine einzige Gattung, die der
Militärbehörden.
Was diese Behörden anlangt, so verhält es sich also so. Da aber nun
einige Behörden, wenn auch nicht alle, viele öffentliche Mittel zu
verwalten haben, so muß es noch eine andere geben, die die
Abrechnungen erhält und überprüft, selbst aber
weiter nichts verwaltet. Diese nennt man Euthynen oder Logistai oder
Exetastai oder Synegoroi.
Neben allen diesen Behörden steht jene, die am meisten über alles zu
entscheiden hat. Oftmals liegt bei ihr gleichzeitig das Entscheiden wie
das Antragstellen, oder sie hat den Vorsitz über die Menge, wo das
Volk selbst entscheidet. Denn es muß eine Instanz geben, die die
entscheidende Behörde im Staate zusammenruft. Zuweilen heißen
diese Probuloi, weil sie die Traktanden vorberaten, wo aber die Menge
regiert, heißen sie zumeist Bule (Rat).
Dies sind so ziemlich die politischen Behörden. Eine andere Art der
Fürsorge ist diejenige hinsichtlich der Götter, wo es denn Priester gibt
und Beamte, die für den Kult zu sorgen haben, damit die bestehenden
Gebäude unterhalten und die verfallenden wiederhergestellt werden,
und was eben sonst noch hinsichtlich der Götter Vorschrift ist. Diese
Behörde ist zuweilen eine einzige, wie in den Kleinstaaten, zuweilen
sind es viele und vom Kulte selbst abgesondert, wie etwa die
Hieropoioi, die Naophylakes und die Verwalter des Tempel-
vermögens.

XVI
Aristoteles Politik - VI. Buch

Anschließend an diese ist die Behörde ausgesondert, die sämtliche


allgemeinen Opfer zu besorgen hat, soweit diese nicht durch Gesetz
den Priestern überlassen bleiben, sondern ihren Rang vom
gemeinsamen Staatsaltare her haben. Man nennt diese teils Archonten,
teils Könige, teils Prytanen.
Dies sind die notwendigen Behörden. Sie betreffen, zusammengefaßt
gesagt, die Götter, den Krieg, die Einkünfte und Ausgaben, den Markt,
die Stadt, die Häfen und das Land, ferner die Gerichtshöfe, die
Deposition der Verträge, den Vollzug der Gerichtsurteile, die
Bewachung der Gefangenen, Abrechnung, Prüfung und
Rechenschaftsablage der Beamten, und endlich, was sich auf die
Beratung der öffentlichen Angelegenheiten bezieht. Besondere
Behörden gibt es in Staaten, die durch größere Muße und Wohlstand
ausgezeichnet sind und auf gute Ordnung Wert legen: Kontrolle der
Frauen, der Beobachtung der Gesetze, der Knaben, der Gymnasien,
außerdem für die Organisation der gymnastischen und künstlerischen
Festspiele und was es sonst noch für derartige Anlässe gibt.
Einige dieser Behörden sind offenkundig nicht demokratisch, wie
etwa die Kontrolle der Frauen und Knaben. Denn die Armen müssen
ihre Frauen und Kinder als Diener- verwenden, da sie sich keine
Sklaven halten können.
Von den drei Behörden, die gelegentlich als die entscheidenden
gewählt werden, den Nomophylakes, den Probuloi und dem Rat, sind
die Nomophylakes aristokratisch, die Probuloi oligarchisch und der
Rat demokratisch. Auf diese Weise sei also im Umriß von den
verschiedenen Behörden gesprochen.

XVII
Aristoteles Politik - VII. Buch

Siebentes Buch

1. Wer die beste Verfassung angemessen erforschen will, muß zuvor


bestimmen, welches das wünschbarste Leben sei. Solange dies
unbekannt ist, wird es zwangsläufig auch unbekannt bleiben, welches
die beste Verfassung ist. Denn jene, die mit den ihnen gegebenen
Mitteln nach der besten Verfassung leben, werden sich auch selbst im
besten Zustande befinden, falls nicht eine widersinnige Lage vorliegt.
Also muß man sich zuerst darüber einig werden, welches die
sozusagen für alle wünschbarste Lebensform ist, und dann darüber, ob
sie dieselbe ist für die Gemeinschaft und den Einzelnen oder eine
andere.
Ich denke nun, daß wir über die beste Lebensform in den publizierten
Schriften schon Hinlängliches gesagt haben, und so werden wir auch
jetzt dies benutzen.
Sicherlich wird keiner gegen jene Aufgliederung in drei Teile etwas
einzuwenden haben, die äußeren Güter, die körperlichen und die
seelischen, und bestreiten, daß der Glückselige alle diese besitzen
müsse. Denn keiner wird einen Menschen glückselig nennen, der
keinen Teil an der Tapferkeit, Selbstzucht, Gerechtigkeit oder
Klugheit besitzt, sondern der vor einer vorbeifliegenden Mücke
erschrickt, und der sich beim Begehren nach Essen und Trinken
überhaupt keine Schranken auferlegt, der wegen einer Vierteldrachme
seine besten Freunde ruiniert, und der in seinem Denken derart
unvernünftig und verschroben ist wie ein Säugling oder ein
Wahnsinniger.
In diesem Punkte werden jedenfalls alle einig sein; die Mei-
nungsverschiedenheiten treten auf beim Wieviel und beim Übermaß.
Denn sie meinen, es genüge, von der Tugend irgendein Maß zu
besitzen; von Reichtum, Geld, Macht, Ehre und dergleichen suchen sie
dagegen das Übermaß bis ins Unbegrenzte. Wir werden ihnen
erwidern, daß es leicht ist, in diesem Punkte sich schon an den
Tatsachen Gewißheit zu verschaffen. Denn man sieht, daß man nicht
etwa die Tugend mit Hilfe der äußeren Güter erwirbt und bewahrt,
sondern umgekehrt, und daß das glückliche Leben, mag es nun für die

I
Aristoteles Politik - VII. Buch

Menschen in der Freude bestehen oder in der Tugend oder in beidem,


weit mehr bei denen ist, die im Übermaß mit Charakter und
Überlegung ausgerüstet sind und an äußeren Gütern nur Mäßiges
besitzen,als bei jenen, die solche mehr als notwendig besitzen,
dagegen an jenem zuwenig haben.
Dasselbe ist auch auf theoretischem Wege leicht zu erkennen. Denn
das Äußere hat eine Grenze wie ein Werkzeug (denn alles Nützliche
ist nützlich zu etwas); ein Übermaß davon muß entweder schaden,
oder mindestens nützt es denen nichts, die es besitzen. Je mehr
dagegen jedes von den Gütern der Seele im Übermaß vorhanden ist,
desto nützlicher ist es, wenn man überhaupt in diesem Falle nicht nur
vom Schönen, sondern auch vom Nützlichen sprechen darf.
Allgemein ist klar, daß die beste Verfassung einer jeden Sache dem
Übermaß anderen gegenüber nach denselben Abstand behaupten wird,
den die Sache selbst hat, von der sie die Verfassung ist. Da nun die
Seele ehrwürdiger ist als der Besitz und der Körper, sowohl
schlechthin als auch für uns, so muß auch die beste Verfassung von
jedem sich analog verhalten.
Endlich sind diese Dinge wünschbar um der Seele willen, und alle
Einsichtigen werden sie darum wünschen, und nicht umgekehrt um
ihretwillen die Seele.
Daß nun einem jeden so viel an Glückseligkeit zufällt, als er Tugend
und Einsicht und das Handeln danach besitzt, das stehe für uns fest,
und dazu nehmen wir auch die Gottheit zum Zeugen, die selig und
glücklich ist, aber nicht durch irgendeines der äußeren Güter, sondern
durch sich selbst, und dadurch, daß ihre eigene Natur so bestimmt ist;
darum ist auch das Glückhaben notwendigerweise von der
Glückseligkeit verschieden. Denn die äußeren Güter werden von
selbst und durch den Zufall zustande gebracht, aber gerecht und
besonnen ist keiner vom Zufall her oder durch ein Werk des Zufalls.
Dazu gehört auf Grund derselben Gedankengänge, daß auch das
Staatswesen dann glückselig ist, wenn es das beste ist und sich gut
verhält. Es ist aber unmöglich, daß sich gut verhalte, was nicht gut
handelt. Und beim Einzelnen wie beim Staat gibt es ohne Tugend und
Einsicht keine gute Leistung. Tapferkeit, Gerechtigkeit und Einsicht

II
Aristoteles Politik - VII. Buch

haben dieselbe Wirkung und Gestalt im Staate, wie wenn man sagt,
daß ein einzelner an ihnen teilhat und darum gerecht, klug und
besonnen ist.
Dies mag nun so weit der Untersuchung vorangeschickt sein. Weder
war es möglich, dies nicht zu berühren, noch auch alle dazugehörigen
Überlegungen hier heranzuziehen; denn die sind die Aufgabe einer
anderen Betrachtung. Jetzt sei nur vorausgesetzt, daß das beste Leben
für den Einzelnen wie gemeinsam für das Staatswesen dasjenige ist,
das die Tugend und einen hinreichenden äußeren Spielraum besitzt,
um an den tugendgemäßen Handlungen teilhaben zu können. Die
Zweifel, die sich hier einstellen, lassen wir für jetzt und betrachten sie
später, falls jemand durch das Gesagte noch nicht überzeugt sein
sollte.

2. Es bleibt noch übrig festzustellen, ob die Glückseligkeit jedes


einzelnen Menschen und die des Staates dieselbe ist oder nicht. Auch
dies ist offenkundig. Alle werden darin einig sein, daß es dieselbe ist.
Denn alle, die beim Einzelnen das vollkommene Leben im Reichtum
erblicken, werden auch einen ganzen Staat seligpreisen, wenn er reich
ist. Wer das Leben des Tyrannen am meisten schätzt, wird auch jenen
Staat für den glückseligsten halten, der über die meisten andern
herrscht. Und wenn man den Einzelnen wegen seiner Tugend schätzt,
so wird man auch einen Staat um so glücklicher nennen, je tüchtiger er
ist.
Doch da bedürfen gleich zwei Fragen der Prüfung: die erste, ob das
Leben in der staatlichen und politischen Gemeinschaft das
wünschbarere ist, oder eher das Leben des Fremden, der von der
staatlichen Gemeinschaft abgelöst ist, und die zweite, welche
Staatsform nun und welcher Zustand des Staates der beste sei, mag
nun die Beteiligung am Staate für alle wünschbar sein oder doch für
die Mehrzahl.
Da aber nur die zweite Frage eine Aufgabe des politischen Denkens
und Forschens ist und nicht die Frage nach der Wünschbarkeit für den
Einzelnen, und wir jetzt eben jenen Gegenstand gewählt haben, so

III
Aristoteles Politik - VII. Buch

wird die erste Frage nur nebenher zu behandeln sein, die zweite aber
den eigentlichen Gegenstand unserer Untersuchung ausmachen.
Daß nun die beste Verfassung notwendig in jener Ordnung besteht, in
welcher jeder Beliebige sich am besten verhält und glückselig lebt, ist
klar. Aber darüber streitet man auch bei denen, die darin
übereinstimmen, daß das beste Leben ein Leben in der Tugend sei, ob
nämlich das politische und praktische Leben zu wünschen sei, oder
eher ein von allem Äußeren abgelöstes, etwa ein betrachtendes, das
von einigen als das allein philosophische angesehen wird. Denn diese
zwei Lebensformen sind es ungefähr, die jene vorziehen, die sich am
eifrigsten um die Tugend bemühen, sowohl unter den Früheren als
auch in der Gegenwart, ich meine das politische und das
philosophische. Es macht aber keinen geringen Unterschiedaus, auf
welcher Seite sich da die Wahrheit befindet. Denn der gut
Überlegende muß sich nach dem besseren Ziele richten, der Einzelne
sowohl wie auch insgesamt die Staatsverfassung.
So meinen die einen, seine Nächsten zu beherrschen sei, wenn es
despotisch geschieht, eine der größten Ungerechtigkeiten, wenn es
aber verfassungsmäßig geschieht, so sei es zwar nicht ungerecht,
hindere aber das eigene Wohlergehen. Ihnen stehen andere mit ihrer
Meinung geradezu gegenüber: das praktische und politische Leben sei
das einzige für einen Mann. Denn bei jeder einzelnen Tugend gebe es
für den Privatmann nicht mehr Betätigungen als für den, der in der
Gemeinschaft tätig sei und Politik treibe.
Die einen haben also diese Ansicht, andere halten die despotische und
tyrannische Form der Verfassung für die einzig glückliche. Bei
einigen ist die Norm der Gesetze und der Erziehung eben diese, wie
sie die Nachbarn beherrschen können.
Und wenn man auch sagen muß, daß bei den meisten die Mehrzahl der
Gesetze sozusagen regellos durcheinandergeworfen ist, so zeigt sich
doch, daß die Gesetze, wo sie auf ein einziges Ziel hin ausgerichtet
sind, alle nach dem Herrschen streben; wie etwa in Sparta und in
Kreta so ziemlich die ganze Erziehung und die Mehrzahl der Gesetze
auf die Kriege hin geordnet sind. Auch bei jenen Barbarenvölkern, die
sich politischen Ehrgeiz leisten können, wird diese Fähigkeit geehrt,

IV
Aristoteles Politik - VII. Buch

so bei den Skythen, Persern, Thrakern und Kelten. In einzelnen


Staaten gibt es sogar bestimmte Gesetze, die zu dieser Tugend
anfeuern sollen; so sollen in Karthago die Männer mit so vielen
Ringen ausgezeichnet werden, als sie Feldzüge mitgemacht haben. Es
gab auch einmal in Makedonien ein Gesetz, daß der Mann, der keinen
Feind getötet hatte, einen Pferdehalfter tragen müsse. Bei den Skythen
wiederum durfte bei einem bestimmten Feste keiner aus einem
herumgehenden Becher trinken, der noch keinen Feind getötet hatte.
Und bei dem kriegerischen Volke der Iberer befestigen sie so viele
Stäbe um das Grab, als einer Feinde erschlagen hat. Dergleichen gibt
es bei andern Völkern noch viel, teils in Gesetzen, teils in Bräuchen
festgehalten.
Bei näherer Überlegung wird man es aber wohl als gar zu unsinnig
empfinden, daß dies die Aufgabe des Staatsmannes sein soll, zu
überlegen, wie er die Nachbarn beherrsche und regiere, mögen diese
es wollen oder nicht. Denn wie könnte dies staatsmännisch oder
gesetzgeberisch sein, was nicht einmal gesetzlich ist? Ungesetzlich ist
es, nicht nur gerecht, sondern auch ungerecht herrschen zu wollen;
und siegen kann man auch ungerecht. Auch gibt es in den andern
Wissenschaften nichts Ähnliches: denn es ist nicht die Aufgabe des
Arztes, die Patienten, oder des Steuermanns, die Passagiere nach
Belieben zu überreden oder mit Gewalt zu zwingen. Die meisten
Menschen freilich scheinen die Staatskunst mit der Despotie zu
verwechseln, und was sie sich selbst gegenüber weder für gerecht
noch für zuträglich halten, das schämen sie sich nicht, gegen andere zu
üben. Selbst verlangen sie für sich eine gerechte Regierung, aber den
andern gegenüber ist ihnen die Gerechtigkeit gleichgültig.
Wenn ferner der Natur nach die einen offenbar zum Beherrschtwerden
bestimmt sind und die andern nicht, und es sich faktisch so verhält, so
darf man nicht versuchen, über alle zu herrschen, sondern nur über die
zum Beherrschtwerden Bestimmten, so wie man auch nicht zum
Mahle oder zum Opfer auf Menschen Jagd machen darf, sondern nur
auf die dazu bestimmten Tiere, also auf die wilden und eßbaren Tiere.
Gewiß könnte ein einzelner Staat auch für sich allein glücklich sein,
wenn er eine gute Verfassung hat; falls nämlich dies möglich ist, daß

V
Aristoteles Politik - VII. Buch

irgendwo ein Staat existiert, der für sich lebt und ordentliche Gesetze
hat, und wo denn der Aufbau der Verfassung nicht auf den Krieg oder
auf den Sieg über die Feinde berechnet ist; denn nichts dergleichen
braucht da vorzukommen.
Es ergibt sich also, daß alle Zurüstungen zum Kriege zwar schön sind,
aber nicht als das höchste Ziel von allem, sondern nur als ein Mittel
dazu. Die Aufgabe des tüchtigen Gesetzgebers ist dann, zu prüfen, wie
der Staat und ein Verband von Menschen und jede andere Art von
Gemeinschaft am guten Leben und an der für sie möglichen
Glückseligkeit Anteil haben können. Freilich wird es in den zu
erlassenden Vorschriften einige Unterschiede geben. Falls
Nachbarstaaten vorhanden sind, hat der Gesetzgeber auch darauf zu
achten, wie man sich gegen welche zu verhalten hat, und wie man
jedem einzelnen gegenüber die angemessenen Maßnahmen trifft.
Doch davon werden wir später noch hinlänglich sprechen können, auf
welches Ziel hin man die beste Staatsverfassung einrichten soll.

3. Hier müssen wir uns mit denen beschäftigen, die zwar darüber einig
sind, daß das tugendgemäße Leben das wünschbarste sei, die aber über
seine Realisierung verschieden urteilen, und zwar mit beiden: die
einen nämlich verwerfen das politische Regieren und meinen, das
Leben des Freien sei ein anderes als dasjenige des Staatsmannes und
das wünschbarste von allen, die andern aber ziehen jenes vor. Denn es
sei unmöglich, daß derjenige, der nichts tue, sich wohl befinde, und
das Wohlbefinden und die Glückseligkeit seien dasselbe.
Beide haben teilweise recht und teilweise nicht: Der eine darin, daß
das Leben des Freien besser ist als das despotische. Dies ist richtig. Es
liegt nichts Großartiges darin, einen Sklaven als Sklaven zu
verwenden. Denn das Befehlen in den lebensnotwendigen Dingen hat
nichts Schönes an sich. Dagegen zu glauben, daß jede Art von
Herrschaft eine Despotie sei, ist nicht richtig. Denn die Herrschaft
über Freie ist von derjenigen über Sklaven ebenso verschieden, wie
das von Natur Freie selbst von dem von Natur Sklavischen. Darüber
ist in den einleitenden Untersuchungen schon gehandelt worden.
Unrichtig ist es auch, die Untätigkeit höher zu loben als die Tätigkeit.

VI
Aristoteles Politik - VII. Buch

Denn die Glückseligkeit ist eine Tätigkeit, und die Tätigkeiten der
Gerechten und Besonnenen haben in sich vieles Schöne als Ziel.
Freilich könnte man auf Grund dieser Bestimmung annehmen, es sei
das beste, Herr über alles zu sein. Denn so wäre man der Herr der
meisten und schönsten Handlungen. Und so solle der, der zu regieren
fähig sei, dies nicht dem Nächsten überlassen, sondern es ihm
wegnehmen, und es dürfe weder ein Vater auf die Kinder, noch die
Kinder auf den Vater, noch überhaupt ein Freund auf einen Freund
Rücksicht nehmen und daran denken. Denn das beste sei das
Wünschbarste, und sich wohl zu verhalten sei das beste.
Dies wird nun vielleicht mit Recht gesagt, falls man tatsächlich durch
Rauben und Gewalttun das höchste Ziel erreichen kann. Aber
vielleicht ist dies nicht möglich, und diese Annahme beruht auf einem
Fehler. Denn die Handlungen können nicht mehr schön sein bei
einem, der sich nicht so weit auszeichnet wie ein Mann vor einer Frau,
oder ein Vater vor den Kindern, oder ein Herr vor den Sklaven. Darum
wird der Übertretende nicht mehr hinterher so viel gut machen
können, wie er zuvor bereits über die Tugend hinausgetreten ist. Denn
für jene, die einander gleichstehen, liegt das Schöne und Gerechte im
Abwechseln; nur dies ist gleich und gleichmäßig. Ungleichheit bei
Gleichen und Ungleichartigkeit bei Gleichartigen ist gegen die Natur,
und nichts, was gegen die Natur ist, ist schön. Also nur wenn ein
anderer überlegen ist in der Tugend und in der Fähigkeit, das Beste zu
vollbringen, so ist es schön, diesem zu folgen, und gerecht, ihm zu
gehorchen. Es muß freilich nicht nur die Tugend vorhanden sein,
sondern auch die Fähigkeit, zu handeln.
Wenn nun dies richtig ist und man die Glückseligkeit als ein gutes
Verhalten bestimmen muß, so dürfte wohl das praktische Leben
gemeinsam für den ganzen Staat wie auch für den Einzelnen das beste
sein. Indessen braucht sich das praktische Leben durchaus nicht nur
auf andere zu richten, wie einige meinen, und es sind durchaus nicht
nur jene Gedanken praktisch, die um der aus dem Handeln sich
ergebenden Zwecke willen geschehen, sondern vielmehr die
selbstzwecklichen und die Betrachtungen und Überlegungen, die um

VII
Aristoteles Politik - VII. Buch

ihrer selbst willen erfolgen. Denn das Wohlergehen ist ein Ziel, und
darum ist es auch ein Handeln.
Wir nennen denn auch vorzugsweise handelnd selbst in bezug auf die
äußeren Handlungen jene, die in ihrem Denken Baumeister sind. Es
müssen auch nicht jene Staaten untätig sein, die für sich gegründet und
so zu leben entschlossen sind. Die Tätigkeit kann sich auch von einem
Teil zum anderen vollziehen. Denn durch viele Arten von
Gemeinschaft sind die Teile des Staates untereinander verknüpft.
Dasselbe gilt auch für jeden einzelnen Menschen. Denn sonst würden
sich Gott und der ganze Kosmos schwerlich gut verhalten, da sie ja
keine äußeren Tätigkeiten besitzen außer den in ihnen eigentümlich
beschlossenen.
Daß also dieselbe Lebensform sowohl für jeden einzelnen Menschen
wie auch gemeinsam für die Staaten und die Menschen die beste sein
muß, dies ist klar.

4. Nachdem wir nun dies als Einleitung über diese Dinge


vorausgeschickt und die andern Verfassungen bereits untersucht
haben, so beginnen wir die übrigen Probleme mit der Frage, welches
die Voraussetzungen sein müssen bei einem Staate, der nach Wunsch
eingerichtet sein soll. Denn die beste Verfassung kann ohne eine
angemessene materielle Grundlage nicht entstehen. Wir müssen darum
gewissermaßen als Wünsche vieles voraussetzen, ohne daß freilich
darunter etwas Unmögliches sein darf. Ich meine Dinge wie die Zahl
der Bürger und den Umfang des Gebietes. Wie nämlich auch die
Handwerker, etwader Weber oder der Schiffbaumeister, das passende
Material für ihre Arbeit zur Verfügung haben müssen (und je besser
jenes zubereitet ist, desto schöner wird auch das Werk ihrer Kunst
werden), ebenso muß auch der Staatsmann und Gesetzgeber sein
Material in geeignetem Zustande vorfinden.
Die wichtigste Grundlage für den Staat ist die Zahl der Menschen, wie
viele und welcher Art sie naturgemäß sein sollen, und ebenso, wie
groß und von was für einer Beschaffenheit das Gebiet sein soll.
Die meisten meinen nun, daß ein glücklicher Staat groß sein müsse.
Auch wenn dies wahr ist, so wissen sie doch nicht, was man unter

VIII
Aristoteles Politik - VII. Buch

einem großen und kleinen Staate zu verstehen hat. Sie beurteilen


nämlich die Größe nach der zahlenmäßigen Menge der Bewohner;
man muß aber nicht so sehr auf die Menge als auf ihre Funktion
achten. Es gibt nämlich eine bestimmte Aufgabe des Staates, und
derjenige Staat, der sie am ehesten zu erfüllen vermag, wird auch als
der größte bezeichnet werden können, so wie man etwa den
Hippokrates nicht als Mensch, sondern als Arzt größer nennen wird
als jemanden, der sich an körperlicher Größe auszeichnet.
Selbst wenn man die Zahl der Einwohner als Maßstab nehmen müßte,
dürfte man nicht jede beliebige Menge nehmen (denn es muß wohl in
den Staaten auch eine große Anzahl von Sklaven, Zugewanderten und
Fremden geben), sondern nur so viele ein Teil des Staates sind und
seine ihm zugehörigen Glieder bilden. Wenn ein Staat viele Bürger
dieser Art besitzt, ist es ein Zeichen seiner Größe; ein anderer
dagegen, der eine große Anzahl von Banausen, aber nur wenige
Hopliten besitzt, kann unmöglich groß sein. Denn eine große und eine
volkreiche Stadt ist nicht dasselbe.
Die Tatsachen zeigen sogar, daß es schwierig, wenn nicht unmöglich
ist, einen allzu volkreichen Staat mit guten Gesetzen zu verwalten.
Jedenfalls sehen wir keinen einzigen von den Staaten, die als gut
regiert gelten, nach einer übermäßigen Bevölkerungszahl streben.
Dasselbe läßt sich auch theoretisch erweisen. Das Gesetz ist eine Art
von Ordnung, und gute Gesetze müssen eine gute Ordnung darstellen.
Eine allzu große Zahl kann aber an der Ordnung nicht teilhaben. Denn
dies wäre die Aufgabe einer göttlichen Macht, derselben, die auch
dieses All zusammenhält; im allgemeinen beruht ja die Schönheit auf
der Fülle und Größe. Darum wird auch ein Staat, für den neben der
Größe die genannte Bestimmung gilt, notwendig der vollkommenste
sein.
Außerdem gibt es ein bestimmtes Maß für die Größe eines Staates,
wie auch für alles andere, die Tiere, Pflanzen und Werkzeuge. Auch
da besitzt jedes seine Fähigkeit nur soweit es an Kleinheit oder an
Größe das Maß nicht zu sehr überschreitet; sonst wird es bald seine
eigentümliche Natur überhaupt verlieren oder in schlechtem Zustande
sein. Ein Schiff von der Länge einer Spanne ist gar kein Schiff mehr

IX
Aristoteles Politik - VII. Buch

und eines von zwei Stadien auch nicht, und wenn es sonst irgendeine
Größe hat, so wird es leicht wegen seiner Kleinheit oder aber wegen
seines Übermaßes fahrtuntauglich werden. So ist auch ein Staat mit
zuwenig Bürgern nicht autark (der Staat muß aber ein autarkes
Gebilde sein), und ein allzu großer Staat ist zwar in den notwendigen
Dingen autark, aber so wie ein Volksstamm, nicht wie ein Staat; in
diesem Falle nämlich kann nicht leicht eine Verfassung Bestand
haben. Denn wer wird der Feldherr eines übergroßen Heeres sein, oder
wer ein Herold, wenn er nicht eine Stentorstimme besitzt?
Darum wird es einen Staat von derjenigen Bevölkerungszahl an geben,
die in der politischen Gemeinschaft autark im Hinblick auf das
vollkommene Leben sein kann. Es kann auch ein größerer Staat
existieren, der ihn an Menge übertrifft, aber dies geht, wie wir sagten,
nicht ins Unbegrenzte.
Welches die Grenze des Zuwachses ist, ist aus den Tatsachen leicht zu
entnehmen. Die politischen Aufgaben verteilen sich auf Regierende
und Regierte. Die Aufgabe des Regierenden ist, anzuordnen und zu
entscheiden. Um aber gerecht zu urteilen und die Ämter dem
Würdigsten geben zu können, müssen die Bürger einander nach ihren
Qualitäten kennen. Wo dies nicht der Fall ist, da muß es um Regierung
und Rechtsprechung schlecht bestellt sein. Denn in beiden Punkten ist
es ungerecht zu improvisieren, was doch bei einer Übervölkerung
offenkundig geschieht. Auch wird es dann für Ausländer und
Zugewanderte leicht, am Bürgerrecht teilzunehmen. Denn in der
Masse der Bevölkerung ist es nicht schwierig, unbemerkt zu bleiben.
Es ist also klar, daß dies der beste Maßstab für einen Staat ist: die
höchste Zahl der Einwohner, die noch überschaubar bleibt und ein
Leben in Autarkie ermöglicht. Dies sei also hinsichtlich der Größe des
Staates festgelegt.

5. Ähnliches gilt vom Gebiete. Was seine Qualität angeht, so wird


jeder dasjenige loben, das sich am meisten selbst genügt
(dies wird eines sein, das alle Produkte liefert; denn alles zu besitzen
und nichts zu entbehren bedeutet eben Autarkie). Umfang und Größe
sollen so sein, daß die Einwohner großzügig und maßvoll in Muße

X
Aristoteles Politik - VII. Buch

leben können. Ob wir diesen Maßstab mit Recht anwenden oder nicht,
wird später genauer zu untersuchen sein, wenn wir allgemein über den
Besitz und die wünschbare Größe des Vermögens sprechen werden
und darüber, wie dieses sich zum Gebrauche verhalten soll. Denn in
diesem Punkte gibt es viele Schwierigkeiten, weil die Menschen zu
einem von beiden Extremen neigen, die einen zur Ärmlichkeit, die
andern zum Luxus.
Die Beschaffenheit des Landes ist nicht schwer anzugeben (hier muß
man zum Teil auch den in der Kriegskunst Erfahrenen folgen): Es
muß den Feinden schwer sein, in es einzudringen, den Bewohnern
hingegen leicht, aus ihm herauszukommen. Und wie wir von der
Bevölkerungszahl sagten, daß sie leicht überschaubar sein müsse, so
gilt dies auch vom Lande. Beim Lande bedeutet die Überschaubarkeit,
daß man ihm leicht zu Hilfe kommen kann.
Wenn man der Stadt die wünschbarste Lage geben will, so soll sie
zum Meere und zum Lande hin gleich günstig gelegen sein. Ein
Maßstab ist der eben genannte: Sie muß für Hilfeleistungen von allen
Orten aus gleich leicht erreichbar sein. Ein anderer Gesichtspunkt ist,
daß die geernteten Früchte ihr leicht zugeführt werden können, ein
anderer, daß das Holzmaterial, und was das Land etwa sonst an
derartigen Betrieben besitzt, leicht hergeschafft werden kann.

6. Ob ferner die Verbindung zum Meer für ein gut geordnetes


Staatswesen nützlich oder schädlich sei, darüber wird viel diskutiert.
Man sagt, daß der Zustrom von Fremden, die in andern Gesetzen
aufgewachsen sind, und außerdem die Bevölkerungsvermehrung für
die gesetzliche Ordnung unzuträglich seien. Denn durch den Verkehr
auf dem Meere hin und her kommt eine Menge von Kaufleuten
zusammen, und dies sei einer guten Verwaltung des Staates
hinderlich.
Daß es nun, wenn dies nicht eintritt, für die Sicherheit und die leichte
Beschaffung der lebensnotwendigen Güter besser ist, wenn die Stadt
und das Land am Meere Anteil haben, ist unverkennbar. Denn die
Einwohner müssen, um den Feinden standhalten und sich behaupten
zu können, von beiden Seiten her Hilfe erhalten können, vom Lande

XI
Aristoteles Politik - VII. Buch

und vom Meere her. Und wenn sie die Angreifer nicht auf beiden
Seiten schädigen können, so werden sie es doch auf dem einen Wege
eher tun können, wenn sie über beide verfügen. Ferner ist es notwen-
dig, daß sie einführen können, was bei ihnen nicht vorhanden ist, und
ausführen können, wovon sie Überfluß haben. Den Überseehandel
nämlich soll der Staat für sich und nicht für andere treiben. Jene aber,
die bei sich einen Markt für alle einrichten, tun es um der Einkünfte
willen. Einen derartigen Ehrgeiz soll der Staat nicht haben und darum
auch nicht einen solchen Handelsplatz besitzen.
Da wir nun sehen, daß faktisch viele Länder und Städte Ankerplätze
besitzen und Häfen, die im Verhältnis zur Stadt günstig gelegen sind,
so daß weder das Stadtgebiet selbst sie verwalten muß, noch sie allzu
ferne liegen, sondern durch Mauern und andere Befestigungen
gesichert sind, so ist klar, wenn durch eine solche Verbindung ein
Vorteil entsteht, so soll unser Staat diesen Vorteil besitzen; entsteht
aber ein Schaden, so kann man sich leicht durch Gesetze vor ihm
hüten, indem man ausdrücklich jene nennt und bestimmt, welche
Leute zum Handelsverkehr zugelassen werden und welche nicht.
Was die Seemacht betrifft, so ist es offensichtlich am besten, wenn sie
bis zu einem gewissen Umfange vorhanden ist. Denn man muß nicht
bloß für sich selbst, sondern auch für manche Nachbarn
furchterregend sein und Beistand leisten können, zur See so gut wie
auf dem Lande. Was Zahl und Größe dieser Macht anlangt, so muß
man auf die Lebensweise des Staates Rücksicht nehmen. Wenn er
nämlich ein politisch führendes Leben haben will, so muß auch die
Macht solchen Plänen angemessen sein. Die Menschenmenge freilich,
die zu einer Flotte gehört, braucht nicht notwendig dem Staate
anzugehören; denn es ist nicht wünschbar, daß sie zu den Bürgern
zählen. Die Seesoldaten freilich sind Freie und gehören zu den Fuß-
truppen und befehlen und regieren über die Matrosen. Wo aber eine
Menge von ausländischen Landarbeitern vorhanden ist, wird es auch
eine Menge von Seeleuten geben müssen. So ist es gelegentlich in der
Tat, wie etwa im Staate von Herakleia. Sie vermögen viele Trieren zu
bemannen, obschon ihr Staat an Größe viel bescheidener ist als
mancher andere.

XII
Aristoteles Politik - VII. Buch

Über das Land, die Häfen, die Stadtanlage, das Verhältnis zum Meere
und über die Seemacht sei also in der angegebenen Weise gehandelt.
Was die Bürger betrifft, so haben wir über ihren Begriff und ihre Zahl
schon früher geredet; von welcher Beschaffenheit sie ihrer Natur nach
sein sollen, davon sei jetzt die Rede.

7. Eine Vorstellung davon wird man wohl erhalten, wenn man auf die
unter den Griechen berühmten Staaten blickt und auf die sonstige
Oikumene, so wie sie unter die Völker verteilt ist. Die Völker der
kalten Regionen nämlich und jene in Europa sind von tapferem
Charakter, stehen aber an Intelligenz und Kunstfertigkeit zurück; also
sind sie vorzugsweise frei, aber ohne staatliche Organisation, und
ohne über die Nachbarn herrschen zu können. Die Völker Asiens
dagegen sind intelligent und künstlerisch begabt, aber kraftlos, und
leben darum als Untertanen und Knechte. Das griechische Volk wohnt
gewissermaßen in der Mitte zwischen beiden und hat darum an beiden
Charakteren Anteil. Denn es ist energisch und intelligent. So ist es
frei, hat die beste Staatsverfassung und die Fähigkeit, über alle zu
herrschen, wenn es einen einzigen Staat bilden würde. Denselben
Unterschied sehen wir auch bei den griechischen Stämmen
untereinander. Die einen haben eine einseitige Natur, die andern haben
die verschiedenen Fähigkeiten aufs beste vereint.
Offensichtlich also müssen jene, die der Gesetzgeber leicht zur
Tugend soll führen können, ihrer Natur nach sowohl intelligent wie
auch tapfer sein. Wenn einige nämlich sagen, die Wächter müßten zu
den Bekannten freundlich, zu Unbekannten aber böse sein, so ist es
eben der Mut, der diese Freundlichkeit erzeugt. Denn dieses
Seelenvermögen ist es, auf dem die Freundschaft beruht. Ein Beweis:
Wer sich verachtet glaubt, erhebt sich im Zorne heftiger gegen
Bekannte und Freunde als gegen Unbekannte. Darum beklagt sich
auch Archilochos mit Recht über seine Freunde, wenn er zu seiner
Seele spricht: »Die Freunde sind es, die dich erbittert haben.« Aber
auch die Fähigkeit, zu herrschen und frei zu sein, haben alle auf Grund
dieser Eigenschaft. Denn der Mut ist herrschend und unbeugsam.
Doch ist es nicht richtig zu sagen, solche seien den Unbekannten

XIII
Aristoteles Politik - VII. Buch

gegenüber böse. Denn gegen niemanden soll man so sein, und auch
die von Natur großgesinnten sind nicht bösartig, außer gegen solche,
die Unrecht tun. Doch dann sind sie es den Bekannten gegenüber erst
recht, wie wir sagten, dann nämlich, wenn sie sich für ungerecht
behandelt halten. Dies ist auch sinngemäß. Denn dort, wo sie meinen,
daß man ihnen Wohltaten schulde, glauben sie, daß sie nicht nur den
Schaden haben, sondern auch um jene betrogen werden. Darum heißt
es: »Kämpfe unter Brüdern sind schlimm«, und: »Wer über das Maß
geliebt hat, haßt auch über das Maß.«
So ist denn ungefähr gezeigt, wie groß die Zahl der Bürger sein soll,
welches ihre Natur, und wie groß und welcher Art das Land zu sein
hat (denn man darf bei Dingen, die sich in der Wirklichkeit abspielen,
nicht dieselbe Genauigkeit verlangen wie bei solchen, die der Theorie
angehören).

8. Wie aber anderswo bei den Naturgebilden die Teile des Ganzen
nicht identisch sind mit den Bedingungen, ohne die das Ganze nicht
bestehen kann, so ist es klar, daß auch die notwendigen
Voraussetzungen des Staates nicht als Teile des Staates gelten können,
ebensowenig wie bei irgendeiner andern Gemeinschaft, die einen
spezifischen Charakter hat (die Glieder der Gemeinschaft müssen
nämlich ein Gemeinsames haben, mögen sie gleichmäßig oder
ungleichmäßig daran teilhaben): also etwa die Nahrung oder ein
Landgebiet oder anderes dergleichen. Wenn das eine das Mittel ist und
das andere der Zweck, so gibt es zwischen diesen beiden nichts
Gemeinsames, höchstens darin, daß das eine schafft und das andere
entgegennimmt. Etwa wie sich jedes Werkzeug und der Handwerker
zu dem Werk, das entstehen soll, verhalten: das Haus hat mit dem
Baumeister nichts Gemeinsames, sondern die Baukunst ist um des
Hauses willen da. So bedarf denn auch der Staat des Erwerbes, aber
der Besitz ist nicht ein Teil des Staates; und es gibt viele lebende
Wesen, die ein Teil des Besitzes sind.
Der Staat ist nun eine Gemeinschaft von Ebenbürtigen zum Zwecke
eines möglichst guten Lebens. Da weiterhin die Glückseligkeit das
Beste ist, und sie in der Betätigung der Tugend und in dem

XIV
Aristoteles Politik - VII. Buch

vollkommenen Umgang mit der Tugend besteht, und da außerdem die


einen daran teilhaben können, die andern nur wenig und andere gar
nicht, so ist es klar, daß aus dieser Ursache eben die verschiedenen
Formen des Staates und die verschiedenen Verfassungen entstehen.
Denn jeder sucht dies auf eine andere Weise und mit andern Mitteln,
und so werden auch ihre Lebensformen und Staatsformen verschieden.
Man wird aber immerhin fragen, wie viele Dinge es sind, ohne die ein
Staat nicht bestehen kann. Denn auch, was wir als Teile des Staates
auffassen, gehört wohl zu diesen, da sie mit Notwendigkeit vorhanden
sein müssen.
Man muß also die Zahl der Aufgaben feststellen, dann wird er klar
werden. Als erstes muß die Nahrung vorhanden sein,dann die
Handwerkskünste (denn um zu leben, bedarf es vieler Hilfsmittel),
drittens die Waffen (denn die Glieder der Gemeinschaft brauchen
Waffen unter sich zum Schutze der Regierung gegen die
Ungehorsamen sowie gegen jene, die sie von außen angreifen wollen),
ferner ein gewisser materieller Wohlstand, damit sie für den täglichen
Bedarf wie für den Krieg etwas haben, fünftens und vor allem die
Verehrung der Götter, die man Kult nennt, und als sechstes und
notwendigstes von allem eine Instanz, die über das Zuträgliche urteilt
und über das, was in der Gemeinschaft gerecht ist.
Dies sind die Aufgaben, die sich so ziemlich für jeden Staat stellen
(denn der Staat ist keine beliebige Menschenmasse, sondern eine
solche, die, wie wir sagen, sich zum Leben selbst genügt; wenn irgend
etwas davon fehlt, so ist es unmöglich, daß die Gemeinschaft sich
schlechthin selbst genüge). Es ist also notwendig, daß der Staat auf
diese Aufgaben auch eingerichtet sei; es muß also ausreichend viele
Bauern geben, die die Nahrung bereitstellen, ebenso Handwerker und
Krieger, ferner Wohlhabende, Priester und Richter über das Gerechte
und Zuträgliche.

9. Nachdem dies festgestellt ist, ist schließlich zu prüfen, ob alle an


allen diesen Verrichtungen teilhaben sollen (es könnten ja alle
gleichzeitig Bauern, Handwerker, Ratsherren und Richter sein), oder
ob man für jede einzelne Aufgabe Spezialisten nehmen soll; oder ist

XV
Aristoteles Politik - VII. Buch

zwangsläufig einiges Sache der Spezialisten, anderes Sache von allen?


Dies ist nicht in jeder Verfassung gleich. Wie wir oben sagten, können
alle an allem beteiligt sein oder auch nicht, sondern die einen an
diesem, die andern an jenem. Dies macht ja den Unterschied der
Verfassungen aus. Denn in den Demokratien haben alle an allem teil
und in den Oligarchien umgekehrt.
Da wir nun nach der besten Verfassung fragen, also derjenigen, bei
der der Staat am glücklichsten ist, und da wir vorhin feststellten, daß
die Glückseligkeit ohne Tugend nicht bestehen kann, so ist es klar,
daß im vollkommenen Staate, dessen Bürger also schlechthin und
nicht nur unter bestimmten Voraussetzungen gerecht sind, diese weder
als Banausen noch als Krämer leben dürfen (denn ein solches Leben
ist unedel und der Tugend widersprechend); ebenso wenig dürfen
diejenigen, die vollkommene Bürger werden wollen, Bauern sein
(denn es bedarf der Muße, damit die Tugend entstehen und politisch
gehandelt werden kann).
Da nun aber auch das kriegerische Element sowie das über das
Zuträgliche Beratende und über das Gerechte Urteilende vorhanden
und vorzugsweise ein Teil des Staates ist, soll man auch dies aufteilen
oder beides denselben übertragen? Auch da ist deutlich, daß man es in
gewisser Weise denselben, in anderer Weise verschiedenen übergeben
muß. Denn jede dieser Aufgaben ist einem andern Lebensalter
angemessen: die eine verlangt Einsicht und die andere Kraft, und so
wird man sie verschiedenen geben. Denselben aber insofern, als
diejenigen, die Gewalt anzuwenden und sich zu wehren vermögen,
unmöglich immer die Gehorchenden bleiben können. Denn wer über
die Waffen Herr ist, ist auch Herr darüber, daß die Verfassung
bestehen bleibt oder nicht. Also wird die Verfassung diese politischen
Aufgaben denselben übergeben, aber nicht gleichzeitig; sondern, da ja
von Natur die Kraft bei den Jüngeren und die Einsicht bei den Älteren
zuhause ist, so scheint es nützlich und gerecht, in diesem Sinne zu
verteilen. Diese Verteilung entspricht auch der Würde.
Auch der Besitz muß bei diesen sein. Denn die Bürger sollen
wohlhabend sein, und die genannten sind eben die Bürger. Die
Banausen gehören nämlich nicht zum Staate, noch auch irgendeine

XVI
Aristoteles Politik - VII. Buch

andere Klasse, die nicht die Tugend zur Aufgabe hat. Dies ergibt sich
aus der Voraussetzung: Was glückselig sein soll, muß die Tugend
dazu besitzen können, und bei der Glückseligkeit eines Staates darf
man nicht nur an einen Teil, sondern muß an die Gesamtheit der
Bürgerschaft denken. So muß denn auch der Besitz diesen gehören,
weil ja die Bauern Sklaven sein sollen oder umwohnende Barbaren.
Es bleibt von der Aufzählung noch der Stand der Priester. Auch deren
Einordnung ist klar. Weder einen Bauern noch einen Banausen darf
man zum Priester machen (denn es ziemt sich, daß es die Bürger sind,
die die Götter ehren), und da die politische Gemeinschaft in zwei Teile
zerfällt, die Waffentragenden und die Beratenden, so wird man den
Gottesdienst und die damit verbundene Ruhe den Alten geben, also
ihnen die Priestertümer anvertrauen.
Damit ist gesagt, welches die Bedingungen sind, ohne die der Staat
nicht sein kann, und welches seine Teile sind (Bedingungen sind für
den Staat notwendigerweise die Bauern, Handwerker und alle
Tagelöhner; Teile des Staates sind die Waffentragenden und
Beratenden. Jedes dieser Elemente steht für sich, teils dauernd, teils
partiell).

10. Daß man den Staat nach Klassen einteilen müsse und daß die
Waffentragenden und die Bauern voneinander geschieden werden
sollen, ist nicht erst seit kurzem den Staatswissenschaftlern klar
geworden. Denn in Ägypten hält man es heute noch so, ebenso in
Kreta; in Ägypten soll es Sesostris so angeordnet haben, in Kreta
Minos. Alt scheint auch die Einrichtung der Syssitien zu sein, in Kreta
seit dem Königtum des Minos und in Italien seit noch viel älterer Zeit.
Die Gelehrten sagen, es habe unter den dortigen Einwohnern einen
König Italos von Oinotria gegeben, nach dem die Einwohner den
Namen Oinotrer mit demjenigen der Italer vertauscht hätten, und von
da hätte jene europäische Küste zwischen dem Skylletischen und dem
Lametischen Golfe den Namen Italien erhalten. Diese beiden Punkte
liegen eine halbe Tagereise voneinander entfernt. Dieser Italos soll die
Oinotrer, die vorher Nomaden gewesen waren, zu Bauern gemacht
und bei ihnen unter andern Gebräuchen auch als erster denjenigen der

XVII
Aristoteles Politik - VII. Buch

Syssitien eingeführt haben. Darum gelten bei einigen seiner


Nachfahren auch jetzt noch Teile seiner Gesetze und die Syssitien.
Gegen Tyrrhenien hin wohnten die Opiker, die früher, wie jetzt, den
Namen Ausoner trugen, gegen Iapygien und den Ionischen Golf die
Choner, in dem Lande nämlich, das Siritis heißt. Auch die Choner
gehörten zum Stamme der Oinotrer.
Da entstand also zuerst die Ordnung der Syssitien; die Einteilung der
Bürgerschaft in Klassen aber kommt aus Ägypten. Denn die Zeit des
Sesostris ist viel früher als das Königtum des Minos. Man muß
allerdings annehmen, daß auch sonst die meisten Dinge in der langen
Zeit mehrfach entdeckt worden sind, oder vielmehr unendlich oft.
Denn auf die notwendigen Dinge brachte die Menschen offenbar das
Bedürfnis selbst, was aber zur Vornehmheit und zum Reichtum des
Lebens gehört, das entwickelte sich vermutlich erst, als jenes schon
bestand. Dasselbe wird auch wohl für die Verfassungsdinge gelten.
Daß dies aber alles sehr alt ist, zeigt eben Ägypten. Denn diese
scheinen das älteste Volk zu sein, und doch haben sie seit jeher
Gesetze und eine politische Ordnung. So muß man sich denn klug an
das schon Entdeckte halten, und was noch fehlt, festzustellen suchen.
Daß also das Land denen gehören muß, die die Waffen tragen und die
an der Regierung Anteil haben, wurde vorhin gesagt; ebenso, daß die
Bauern von diesen verschieden sein sollen, und wie groß und welcher
Art das Land sein muß.
Nun haben wir zuerst über die Verteilung des Landes zu reden und
darüber, wer und welcher Art die Leute sein sollen, die es bearbeiten;
denn der Besitz soll nach unserer Ansicht ja nicht gemeinsam sein,
wie einige meinten, sondern nur durch großzügigen Gebrauch
gemeinsam werden, noch soll irgendeiner der Bürger der Nahrung
ermangeln. Was die Syssitien angeht, so sind alle der Meinung, daß
sie für gut eingerichtete Staaten eine nützliche Einrichtung darstellen.
Warum auch wir dieser Meinung sind, werden wir später sagen. Daran
müssen alle Bürger teilnehmen; freilich wird es für die Armen nicht
leicht sein, vom Eigenen den vorgesehenen Beitrag zu liefern und für
den übrigen Haushalt genug zu haben. Ebenso sind die Aufwendungen
für die Götter vom ganzen Staate gemeinsam zu tragen. Also muß das

XVIII
Aristoteles Politik - VII. Buch

Land zweigeteilt werden in einen gemeinsamen und einen privaten


Teil, und davon jeder wiederum in zwei Teile: vom gemeinsamen sei
der eine Teil für die Leistungen des Kultes bestimmt, der andere für
den Unterhalt der Syssitien; vom privaten soll der eine Teil an den
Staatsgrenzen gelegen sein, der andere mehr gegen die Stadt zu, damit
jeder zwei Lose erhält und jeder an beiden Orten etwas habe. Denn so
will es die Gleichheit und Gerechtigkeit, und so werden die Bürger
auch im Kriege gegen Nachbarn besser zusammenhalten. Wo das
nämlich nicht der Fall ist, da vernachlässigen die einen den Kampf
gegen die Angrenzer, die andern dagegen denken allzusehr daran und
mehr, als es schicklich ist.
Darum gibt es gelegentlich das Gesetz, daß bei einem Kriege gegen
die Nachbarn die unmittelbar an diese angrenzenden Bürger nicht
mitberaten dürfen, weil sie wegen des privaten Interesses nicht richtig
werden raten können.
Aus diesen Gründen muß also das Land in der angegebenen Weise
verteilt werden. Die Bauern sollen, wenn es nach Wunsch geht, am
ehesten Sklaven sein, weder alle von gleicher Abkunft noch von
mutigem Charakter (denn so werden sie, wie man annehmen darf, zur
Arbeit tauglich sein, und man hat von ihnen keine Aufstände zu
befürchten), in zweiter Linie umwohnende Barbaren von ähnlicher Art
wie die Sklaven. Von diesen sollen die Privatsklaven auf den privaten
Landstücken wohnen, und jene, die das gemeinsame Land bebauen,
sollen Staatssklaven sein. Wie man aber mit den Sklaven umgehen
soll und daß es gut ist, allen Sklaven als Lohn für ihre Leistung die
Freiheit zu versprechen, davon wollen wir später reden.

11. Daß der Staat so gleichmäßig als möglich auf Festland und Meer
und auf die Gesamtheit des Festlandes verteilt sein soll, das wurde
schon ausgeführt. Was aber die Lage der Stadt selbst angeht, so wäre
es wünschbar, daß sie auf vier wesentliche Punkte Rücksicht nähme:
erstens, wie es notwendig ist, auf die Gesundheit (jene, die sich nach
Osten neigen und gegen die Ostwinde zu offen sind, sind am
gesündesten, in zweiter Linie dann die nach Norden gewandten, da sie
den Winterstürmen offenstehen). Weiterhin muß sie für die Aufgaben

XIX
Aristoteles Politik - VII. Buch

von Krieg und Frieden günstig daliegen. Was die kriegerischen


angeht, so muß sie gute Ausgänge haben, den Gegnern aber schwer
zugänglich und schwer zu umzingeln sein; sie muß so weit als
möglich am Orte selbst eine Menge von Quellen und Bächen besitzen;
ist dies nicht der Fall, so muß man den Mangel durch die Anlage
zahlreicher und großer Zisternen für das Regenwasser ersetzen, so daß
es nie an Wasser fehlt, wenn man durch Feinde vom offenen Lande
abgeschnitten sein sollte. Auch die Gesundheit der Einwohner hängt
zwar erstens an einer guten Lage und Orientierung des Ortes, zweitens
aber am Vorhandensein von gesundem Wasser; so darf man diesen
Punkt keineswegs vernachlässigen. Denn was wir für den Körper am
meisten und am häufigsten benötigen, das ist auch für die Gesundheit
am wichtigsten. Und dazu gehört eben die Beschaffenheit des Wassers
und der Luft. Darum muß in wohlberatenen Staaten, wo das Wasser
nicht überall gleich gut und in gleicher Fülle vorhanden ist, dafür
gesorgt werden, daß das Trinkwasser von demjenigen zum sonstigen
Gebrauche abgetrennt gehalten werde.
Was die befestigten Stellen betrifft, so ist nicht für alle Staaten
dasselbe empfehlenswert. Eine Burg gehört zu einer Oligarchie oder
Monarchie, eine ebene Fläche zur Demokratie, und zur Aristokratie
weder das eine noch das andere, sondern eher eine Mehrzahl fester
Plätze.
Die Einrichtung der Privathäuser gilt als hübscher und in vielfacher
Hinsicht praktischer, wenn sie geradlinig ist und dem neueren und
hippodamischen Prinzip folgt. Für die Sicherheit im Kriege ist jedoch
das Gegenteil, so wie es früher war, besser. Denn da finden sich
Fremde schlecht heraus, und Eindringlinge kommen nur mühsam
hindurch. Also muß man beides berücksichtigen (man kann dies, wenn
man es macht, wie es auf dem Land üblich ist und was einige das
Prinzip der Rebpfähle nennen): man soll im ganzen die Stadt nicht
geradlinig einrichten, wohl aber in ihren einzelnen Teilen. Dann ist
sowohl für die Sicherheit wie auch für die Schönheit gesorgt.
Was die Mauern betrifft, so haben jene, die erklären, ein Staat, der
nach Tugend strebe, habe keine solchen nötig, etwas gar zu

XX
Aristoteles Politik - VII. Buch

altertümliche Ansichten, vor allem da sie sehen, wie es den Staaten


geht, die sich mit dergleichen Erklärungen gebrüstet haben.
Einem ebenbürtigen und an Zahl nicht sehr überlegenen Feinde
gegenüber ist es nicht ehrenvoll, hinter festen Mauern Schutz zu
suchen. Da es aber durchaus vorkommen kann, daß die Masse der
Angreifer für die menschliche Tapferkeit einer Minderzahl zu groß
wird, so muß man, wenn man sich retten und nicht Unglück und
Mißhandlung erleiden will, annehmen, daß die zuverlässigste
Festigkeit der Mauern auch am kriegsgemäßesten ist; dies vor allem
heute, wo so präzise Geschütze und Belagerungsmaschinen erfunden
worden sind. Denn die Städte nicht zu ummauern bedeutet dasselbe,
wie wenn man einen jedem Einfall offenen Ort suchen und die
Höhenzüge ringsum abtragen oder um die Privatwohnungen keine
Umfassungsmauern errichten wollte, da sonst die Bewohner feige
würden. Man muß auch beachten, daß Bürger, die ihre Stadt
ummauert haben, durchaus frei sind, sich ihrer zu bedienen oder nicht;
wer aber keine Mauern hat, hat keine Wahl. Wenn es sich aber so
verhält, dann soll man nicht nur Mauern darum ziehen, sondern sie
auch unterhalten, damit sie in einem würdigen und für den Kriegsfall
bereiten Zustand bleiben, vor allem im Hinblick auf die neuen
Erfindungen. Denn wie die Angreifer alles vorsehen, um sich die
Oberhand zu sichern, so müssen auch die Verteidiger sich alles
zunutze machen und Neues dazu suchen und erfinden. Denn man wird
Leute überhaupt nicht angreifen, die wohl vorbereitet sind.

12. Da nun die Gesamtheit der Bürger auf die Syssitien verteilt sein
soll und die Mauern durch Wachlokale und Türme unterbrochen sind,
die sich an geeigneten Stellen befinden, so liegt es nahe, einige der
Syssitien auch in den Wachlokalen selbst einzurichten. Auf solche
Weise ließe sich also dieser Punkt verwirklichen. Die Häuser für den
Kult und die wichtigsten Syssitien für die Beamten sollen jedoch an
einem passenden Orte beisammen sein, soweit nicht das Gesetz oder
ein pythischer Orakelspruch für die Heiligtümer einen bestimmten
Platz zuweist. Dieser Ort muß seinem Range gemäß sichtbar sein und
fester gebaut als die angrenzenden Teile der Stadt. Unterhalb dieses

XXI
Aristoteles Politik - VII. Buch

Ortes soll sich ein Markt befinden von der Art, die man in Thessalien
»freien Markt« nennt; er hat unberührt zu sein von allen
Verkaufsgeschäften, und kein Banause oder Bauer oder dergleichen
darf ihn betreten, es sei denn, er werde von der Regierung zitiert.
Dieser Ort wäre hübsch angelegt, wenn sich auch die Turnplätze der
Männer dort befänden. Denn auch diese Einrichtungen sollen dem
Alter nach getrennt werden, und bei den Jüngeren sollen sich
bestimmte Beamte aufhalten, die Älteren dagegen umgekehrt bei den
Beamten. Denn die sichtbare Gegenwart der Beamten erzeugt am
ehesten die wahre Ehrfurcht und den Respekt vor den Freien. Der
Geschäftsmarkt dagegen soll von diesem abgetrennt und anderswo
sein, an einem Ort, wohin die Importe vom Meere wie diejenigen vom
Lande her leicht geschafft werden können.
Da ferner die Vorsteher der Stadt sich in Priester und Beamte
aufteilen, so sollen auch die Syssitien der Priester ihren Ort nahe bei
den Kultgebäuden haben. Die Beamten dagegen, die für die Verträge
zuständig sind, für Anklageschriften und für Vorladungen und
dergleichen Verwaltungsakte, ferner für die Marktpolizei und die
sogenannte Stadtpolizei, müssen sich beim Markte und an einem
allgemein zugänglichen Orte aufhalten, also beim Verkaufsmarkt.
Denn jener erste war der Muße vorbehalten, dieser dagegen den
notwendigen Geschäften. Dieselbe Ordnung muß auch auf dem Lande
nachgebildet werden. Auch dort muß es für die Beamten, die man
Waldaufseher oder etwa Feldpolizei nennt, bestimmte Wachlokale
geben und in deren Nähe die Syssitien; außerdem müssen über das
Land hin Heiligtümer für die Götter und für die Heroen verteilt sein.
Indessen ist es zwecklos, diese Dinge in alle Einzelheiten auszuführen
und sich darüber zu verbreiten. Denn es ist leichter, dergleichen
auszudenken, als auszuführen. Zu reden ist Angelegenheit des
Wünschens; daß es geschieht, Angelegenheit des Glücks. So wollen
wir denn diese Dinge hier nicht weiter verfolgen.

13. Nun ist von der Verfassung selbst zu reden und festzustellen, aus
welchen und was für Elementen ein Staat bestehen soll, der glücklich
sein und gut regiert sein soll.

XXII
Aristoteles Politik - VII. Buch

Es gibt zwei Dinge, auf denen überall das Gelingen beruht: das eine
ist, daß die Absicht und das Ziel des Handelns richtig bestimmt werde,
das andere, die zu diesem Ziele führenden
Mittel zu finden. (Denn diese zwei Punkte können miteinander in
Einklang stehen oder nicht; zuweilen ist die Absicht richtig, aber im
Handeln verfehlt man das Treffen; zuweilen sind alle Mittel zum
Zwecke richtig gewählt, aber das Ziel selbst ist falsch, und zuweilen
endlich verfehlt man beides, wie es in der Medizin geschehen kann:
zuweilen bestimmt der Arzt weder richtig, wie der gesunde Körper
aussehen muß, noch vermag er die Mittel zur Erreichung des ihm
vorschwebenden Zieles zu finden. Also muß man in den Künsten und
Wissenschaften beides beherrschen, das Ziel und die Wege zum Ziel.)
Daß nun alle Menschen nach dem vollkommenen Leben und der
Glückseligkeit streben, ist klar. Aber die einen haben die Möglichkeit,
dahin zu gelangen, die andern nicht, durch den Zufall der Umstände
oder durch ihre Natur (denn das edle Leben bedarf gewisser
Hilfsmittel, und zwar die gut Gebildeten in geringerem, die schlecht
Gebildeten in höherem Maße). Andere wiederum suchen die
Glückseligkeit überhaupt nicht auf dem richtigen Wege, obschon sie
dazu die Möglichkeit hätten.
Da nun unsere Aufgabe ist, nach der vollkommenen Verfassung zu
fragen, also derjenigen, nach der ein Staat am besten zu leben vermag,
und ein Staat wohl nach derjenigen Verfassung am besten lebt, in der
die Glückseligkeit am ehesten verwirklicht werden kann, so müssen
wir natürlich wissen, was die Glückseligkeit ist. Wir behaupten nun
(wir haben dies in der Ethik untersucht und machen uns das Dortige
zunutze), daß sie eine Tätigkeit und ein vollkommener Gebrauch der
Tugend sei, und dies nicht bedingungsweise, sondern unbedingt.
Bedingungsweise nenne ich das Unentbehrliche, unbedingt nenne ich
das Schöne. So etwa bei den gerechten Handlungen: gerechte Strafen
und Züchtigungen sind tugendgemäß, aber bedingungsweise und
haben das Edle nur bedingungsweise an sich (denn es wäre besser, daß
der Einzelne wie der Staat dergleichen überhaupt nicht nötig hätten),
dagegen sind die Handlungen, die sich auf Ehre und Besitz beziehen,

XXIII
Aristoteles Politik - VII. Buch

unbedingt edel. Denn das eine ist die Beseitigung eines Übels, das
andere das Gegenteil. Es ist Einrichtung und Erzeugung von Gutem.
Gewiß wird ein tugendhafter Mann sich auch in Armut, Krankheit und
ähnlichen Unglücksfällen edel verhalten. Aber die Glückseligkeit
besteht im Gegenteil (auch dies war in der Ethik festgelegt, daß der
Tugendhafte so ist, daß wegen seiner Tugend für ihn das schlechthin
Gute gut ist; dann werden auchseine Verhaltensweisen schlechthin gut
und edel sein müssen). Darum meinen auch die Leute, daß die äußeren
Güter die Ursache der Glückseligkeit seien, also wie wenn man die
Ursache eines glänzenden und schönen Kitharaspieles eher im
Instrument als in der Kunst sehen wollte.
So muß denn dem Gesagten gemäß das eine schon vorhanden sein, das
andere durch den Gesetzgeber geschaffen werden. Wir hoffen also,
daß der Staat in seinem Aufbau die Dinge zur Verfügung hat, über die
das Glück regiert (denn daß es über gewisse Dinge regiert, nehmen
wir an). Daß aber der Staat tugendhaft sei, das ist nicht mehr ein Werk
des Glücks, sondern der Einsicht und des Willens.
Ein tugendhafter Staat besteht darin, daß die an der Regierung
teilhabenden Bürger tugendhaft sind. Und nach unserer Voraussetzung
werden alle Bürger an der Regierung teilhaben. Man muß also prüfen,
wie einer ein tugendhafter Mann wird. Denn selbst wenn es möglich
wäre, daß die Gesamtheit der Bürger tugendhaft wäre, nicht aber jeder
einzelne, so wäre doch dieses wünschbarer. Denn wenn es jeder
einzelne ist, so sind es auch alle.
Gut und tugendhaft wird man durch drei Dinge, nämlich Anlage,
Gewöhnung und Einsicht. Zuerst muß man geboren sein, als Mensch
nämlich und nicht als irgendein anderes Lebewesen, und dann auch
mit bestimmten Eigenschaften des Körpers und der Seele. In einigen
Dingen nützt die Anlage nichts, denn die Gewöhnung verändert sie.
Denn es gibt einige, von Natur ambivalente Eigenschaften, die sich
durch die Gewöhnung zum schlechtern oder zum bessern wenden
können. Die andern Lebewesen leben zur Hauptsache von der
Naturanlage, einige auch teilweise durch Gewohnheit, der Mensch
aber auch mit der Vernunft. Nur er besitzt sie. So muß dieses alles
miteinander übereinstimmen. Denn die Menschen machen vieles

XXIV
Aristoteles Politik - VII. Buch

gegen die Gewohnheit und gegen die Anlage durch die Vernunft,
wenn sie sich davon überzeugen, daß es anders besser sei. Wie nun
jene, die das geeignete Material für den Gesetzgeber darstellen sollen,
ihrer Natur nach beschaffen zu sein haben, wurde früher gesagt. Das
übrige ist die Aufgabe der Erziehung. Denn das eine lernen die
Menschen durch Gewöhnung, das andere durch Hören.

14. Da nun jede politische Gemeinschaft aus Regierenden und


Regierten zusammengesetzt ist, so müssen wir untersuchen, ob die
Regierenden und die Regierten ihr Leben hindurch dieselben oder
verschiedene sein sollen. Denn nach der Entscheidung in diesem
Punkte wird sich auch die Erziehung richten müssen. Wenn sich nun
die einen von den andern so unterscheiden, wie wir meinen, daß die
Götter und Heroen sich von den Menschen unterscheiden, nämlich mit
einer großen Überlegenheit erst im Körperlichen, dann auch seelisch,
so daß also der Vorrang der Regierenden über die Regierten
unbestreitbar und sichtbar wäre, so wäre es offensichtlich besser,
wenn stets und ein für allemal dieselben regierten und regiert würden.
Da dies aber nicht leicht anzunehmen ist, und es auch nicht vorkommt,
wie es Skylax von den Indern berichtet, daß die Könige dort in der Tat
die Untertanen in solchem Maß überragen, so ist es also offenbar aus
vielerlei Ursachen notwendig, daß alle in gleicher Weise abwechselnd
regieren und regiert werden. Denn für Gleiche gilt das Gleiche, und
eine Verfassung, die nicht auf der Gerechtigkeit aufgebaut ist, hat es
schwer, sich zu behaupten. Denn nicht nur die Regierten, sondern
auch alle auf dem Lande werden sich zum Umsturz bereit finden, und
daß die Teilhabenden an der verfassungsmäßigen Regierung so
zahlreich wären, daß sie alle diese überwältigen könnten, ist
undenkbar.
Anderseits ist es unbestritten, daß die Regierenden sich vor den
Regierten auszeichnen müssen. Worauf dies beruhen wird, und wie sie
dementsprechend an der Regierung Anteil erhalten, das hat der
Gesetzgeber festzustellen. Darüber ist vorher gesprochen worden.
Denn die Natur selbst hat eine Einteilung an die Hand gegeben, indem
sie die Menschen von derselben Art teils älter, teils jünger machte, so

XXV
Aristoteles Politik - VII. Buch

daß also das eine regieren, das andere regiert werden soll. Darüber
wird sich keiner ärgern, daß er seinem Alter entsprechend regiert wird,
und hält sich nicht für zu gut dazu, zumal da er ja auch später selbst
den Lohn dafür empfangen wird, wenn er in das angemessene Alter
kommt. So sind es in einem Sinne dieselben, die regieren und regiert
werden, in einem andern Sinne andere. Demgemäß muß auch die
Erziehung teils dieselbe, teils eine andere sein. Man sagt ja, daß der,
der gut regieren soll, zuvor regiert werden muß. (Regiert wird, wie wir
am Anfang gesagt haben, bald zu Gunsten des Regierenden, bald zu
Gunsten des Regierten. Das eine ist die Herrschaft über Sklaven, das
andere diejenige über Freie. Die Aufgaben unterscheiden sich vielfach
nicht dem Inhalt, sondern dem Zwecke nach. So gibt es viele Pflich-
ten, die als dienende gelten, denen sich aber auch freigeborenejunge
Leute unterziehen sollen. Denn das Edle und Unedle im Handeln
unterscheidet sich nicht an der Sache selbst, als vielmehr am Zwecke
und an der Absicht.)
Da wir nun behaupten, daß die Tugend des Bürgers, des Regierenden
und die des vollkommenen Mannes dieselbe sei, und da derselbe
Mensch zuerst Regierter sein wird und dann erst Regierender, so wird
also der Gesetzgeber darauf achten müssen, wie und durch welche
Tätigkeiten die Menschen tugendhaft werden, und welches das Ziel
des vollkommenen Lebens ist.
Es werden zwei Seelenteile unterschieden, deren einer an sich
vernunftbegabt ist, der andere zwar nicht an sich, aber doch fähig, auf
die Vernunft zu hören. Diesen beiden gehören die Tugenden zu, denen
gemäß einer irgendwie ein tugendhafter Mensch heißt. Die Antwort
auf die Frage, bei welchem der Teile eher das Ziel sei, ist nicht schwer
zu geben, wenn man in derselben Weise einteilt wie wir. Denn stets ist
das Geringere um des Besseren willen da, und dies gilt in den Dingen
der Kunst wie in den Dingen der Natur. Besser ist aber das
Vernunftbegabte. Dieses ist aber in der Art, wie wir es zu tun pflegen,
wiederum zweigeteilt: die eine Vernunft ist handelnd, die andere
betrachtend, und demgemäß ist notwendigerweise auch der Seelenteil
unterschieden. Auch bei den Tätigkeiten besteht nach unserer
Meinung das entsprechende Verhältnis, und die Handlungen des

XXVI
Aristoteles Politik - VII. Buch

bessern Seelenteils müssen wünschbarer sein für jene, die entweder


alle oder doch diese beiden zu erreichen vermögen. Denn für jedes ist
das das Wünschbarste, was für es das höchste Erreichbare darstellt.
So ist denn auch das ganze Leben zweigeteilt in Arbeit und Muße, in
Krieg und Frieden, und von den Zielen des Tuns sind die einen
notwendig und nützlich, die andern edel. Da muß es denn dieselbe
Entscheidung geben wie bei den Seelenteilen und ihren Tätigkeiten,
daß nämlich der Krieg um des Friedens willen, die Arbeit um der
Muße willen und das Notwendige und Nützliche um des Edlen willen
zu betreiben ist.
Der Staatsmann hat demnach als Gesetzgeber auf alles zu achten im
Hinblick auf die Seelenteile und ihre Tätigkeiten, und vor allem in der
Richtung auf das Bessere und auf das Ziel. Dasselbe gilt bei der
Entscheidung über die Lebensformen und die Gegenstände. Denn man
muß arbeiten und Krieg führen können, aber noch eher Frieden halten
und Muße üben, und das Notwendige und Nützliche tun, aber noch
eher das Edle. Auf diese Ziele hin muß man schon die Kinder
unterrichten, und so auch die andern Lebensalter, solange sie der
Erziehung bedürfen.
In Wirklichkeit aber zeigt sich nun, daß jene griechischen Staaten, die
als die besteingerichteten gelten, und die Gesetzgeber, die sie
eingerichtet haben, die Verfassungen durchaus nicht auf dieses oberste
Ziel hin aufgebaut noch auch in den Gesetzen und der Erziehung alle
Tugenden berücksichtigt haben, sondern vielmehr in vulgärer Weise
abgebogen sind auf jene, die als besonders nützlich und
erfolgversprechend gelten. Auch von den spätern haben einige, die
Theorien darüber verfaßt haben, sich ähnlich geäußert. Denn sie loben
die spartanische Verfassung und bewundern die Zielsetzung des
Gesetzgebers, daß er alles auf den Sieg und auf den Kampf
eingerichtet hat. Dies ist theoretisch leicht zu widerlegen und ist nun
auch in der Praxis widerlegt. Denn wie die meisten Menschen danach
verlangen, über recht viele Leute zu regieren, weil sie dann eine
Masse von äußeren Vorteilen haben, so scheint auch Thibron den
spartanischen Gesetzgeber darum bewundert zu haben und auch alle
andern, die über ihre Verfassung geschrieben haben, weil die

XXVII
Aristoteles Politik - VII. Buch

Spartaner infolge ihrer Abhärtung in Gefahren über viele Menschen


regierten. Aber jetzt bleibt den Spartanern von ihrer Herrschaft nichts
mehr übrig, und sie sind offenbar auch nicht mehr glücklich, und so ist
auch ihr Gesetzgeber nicht gut gewesen. Denn dies ist doch lächerlich,
daß sie zwar bei seinen Gesetzen blieben, ohne daß sie einer hinderte,
sie anzuwenden, und nun trotzdem das vollkommene Leben verloren
haben.
Man hat auch keine richtige Auffassung von der Regierungsform, die
der Gesetzgeber offenbar besonders hoch schätzen soll. Die Regierung
über Freie ist nämlich edler und reicher an Tugend als diejenige über
Sklaven.
Man darf fernerhin den Staat nicht dann für glücklich halten und den
Gesetzgeber loben, weil er sie zu siegen lehrte, um die Nachbarn zu
beherrschen. Das bringt nur großen Schaden. Denn dann wird auch
jeder Bürger, der dazu in der Lage ist, versuchen, ob er nicht seinen
eigenen Staat beherrschen könne. Dies werfen die Spartaner aber
gerade ihrem König Pausanias vor, der doch ein so hohes Ansehen
genoß. Dergleichen Theorien und Gesetze sind also weder
staatsmännisch noch nützlich noch richtig. Denn das Vollkommene ist
für die Gemeinschaft wie für den einzelnen dasselbe, und der Gesetz-
geber muß eben dies in die Seelen der Menschen einprägen. Die
Übung zum Kriege soll man nicht darum pflegen, um Unschuldige
versklaven zu können, sondern erstens, um selbst nicht von andern
unterworfen zu werden, und sodann, um eine Führerstellung zum
besten der Regierten einzunehmen, aber nicht, um 'als Herr über alle
zu gebieten, und drittens, um als Herr zu regieren über jene, die mit
Recht in der Sklaverei sind.
Daß nun der Gesetzgeber mehr darauf achten soll, daß die
Gesetzgebung über den Krieg und das Sonstige um des Friedens und
der Muße willen eingerichtet werde, das bestätigen auch die
Tatsachen. Denn die meisten kriegerischen Staaten bleiben erhalten,
solange sie Krieg führen, aber wenn sie einmal die Herrschaft
gewonnen haben, gehen sie zugrunde. Denn im Frieden verlieren sie,
wie das Eisen, ihre Härte. Schuld daran ist der Gesetzgeber, der sie
nicht zur Muße erzogen hatte.

XXVIII
Aristoteles Politik - VII. Buch

1 5. Da nun das Ziel für die Gemeinschaft und den einzelnen dasselbe
ist, und demnach dieselbe Bestimmung gelten muß für den
vollkommenen Menschen und die vollkommene Verfassung, so
müssen augenscheinlich in den Verfassungen die auf die Muße
hinzielenden Tugenden vorhanden sein. Denn das Ziel ist, wie schon
oft gesagt, im Kriege der Frieden und in der Arbeit die Muße. Für die
Muße und das freie Leben sind unter den Tugenden jene nützlich, die
in der Muße ihr Werk tun, aber auch jene der Arbeit. Denn es muß viel
Notwendiges schon vorhanden sein, damit man in Muße leben kann.
So muß der Staat zuchtvoll sein und tapfer und ausdauernd, denn nach
dem Sprichwort haben Sklaven keine Muße; wer aber nicht tapfer
Gefahren überstehen kann, der ist Sklave dessen, der ihn angreift. Man
bedarf also der Tapferkeit und Ausdauer zur Arbeit, der Philosophie
zur Muße, und der Zucht und Gerechtigkeit in beiden Fällen, vor
allem aber, wenn man Frieden hält und Muße übt. Denn der Krieg
zwingt zu Gerechtigkeit und Selbstzucht, aber der Genuß des Glücks
und die Muße im Frieden macht die Menschen eher übermütig. Also
brauchen besonders viel Gerechtigkeit und Selbstzucht jene, denen es
vollkommen gut zu gehen scheint und die alle die selig gepriesenen
Güter genießen – jene Güter, so wie sie sich nach den Dichtern auf
den Inseln der Seligen finden. Solche brauchen am allermeisten die
Philosophie und die Zucht und Gerechtigkeit, je mehr sie in der Fülle
solcher Güter in Muße leben.
Daß also ein Staat, der glückselig und tugendhaft sein soll, eben an
diesen Tugenden teilhaben muß, ist klar. Denn wenn es beschämend
ist, nicht mit den Gütern richtig umgehen zu können, so ist es noch
beschämender, dies nicht mit der Muße zu können, sondern in der
Arbeit und im Kriege tüchtig zu erscheinen, dagegen im Frieden und
in der Muße sklavisch.
Also soll man nicht die Tugend üben wie der Staat der Spartaner.
Denn diese unterscheiden sich nicht darin von den andern, daß sie
andere Dinge für die höchsten Güter hielten als alle andern, sondern
darin, daß sie meinen, diese ließen sich vorzugsweise durch eine
bestimmte Tugend erreichen. Und da sie diese Güter und deren Genuß

XXIX
Aristoteles Politik - VII. Buch

höher als die Tugend schätzten... daß man aber die Tugend um der
Tugend selbst willen üben muß, ist klar. Wie aber und auf welchem
Wege, das ist jetzt zu fragen.
Wir haben oben unterscheidend festgestellt, daß es der Anlage, der
Gewöhnung und der Vernunft bedarf. Wie die Menschen ihrer
Naturanlage nach sein sollen, war früher festgestellt; es bleibt übrig,
zu fragen, ob man sie eher mit der Vernunft erziehen soll als mit der
Angewöhnung. Denn dieses muß gegenseitig im schönsten Einklang
stehen. Man kann nämlich mit seiner Vernunft die beste Absicht
verfehlen, und man kann auch durch die Gewohnheit ebenso
fehlgehen.
Zuerst ist klar, daß hier wie überall die Entstehung einen Anfang hat
und das Ziel sich daher bestimmt, woraufhin jeweils der Anfang
ausgerichtet ist. Für uns sind Vernunft und der Geist das Ziel der
Natur, so daß man daraufhin das Werden und die Sorge um die
Gewohnheiten einrichten muß.
Ferner, da Seele und Leib zwei Dinge sind und in der Seele zwei
Teile, der vernunftlose und der vernunftbegabte, und diese nun wieder
zwei Verhaltensweisen zeigen, das Streben und das Erkennen, so ist
ebenso der Körper seinem Werden nach früher als die Seele, und das
Vernunftlose früher als das Vernunftbegabte. Das zeigt sich so: Zorn
und Wollen und ebenso das Begehren hat das Kind von Geburt an, die
Überlegung und der Geist kommen aber erst mit fortschreitendem
Alter. So muß man denn zuerst für den Körper sorgen und dann für die
Seele und dann für das Begehren, und zwar für dieses um des Geistes
willen, für den Körper aber um der Seele willen.
i6. Da nun der Gesetzgeber von Anfang an darauf achten muß, daß die
Körper der Säuglinge so tüchtig wie möglich werden, so muß er sich
zuerst um die Ehe kümmern, was fürMenschen sich miteinander
ehelich verbinden sollen und wann sie das tun sollen. Die Gesetze
darüber sollen diese Gemeinschaft an sich und für die Zeit des Lebens
berücksichtigen, damit sie im gleichen Rhythmus älter werden und die
Fähigkeiten nicht in der Weise sich unterscheiden, daß der Mann wohl
noch zeugen kann, die Frau aber nicht mehr gebären, oder umgekehrt
(denn dies schafft Zwistigkeiten und Auseinandersetzungen). Ebenso

XXX
Aristoteles Politik - VII. Buch

soll auch die Abfolge der Kinder bedacht werden. Die Kinder sollen
an Jahren ihrem Vater nicht gar zu sehr nachstehen, denn dann nützt
den Älteren der Dank von den Kindern nichts mehr, noch auch den
Kindern die Hilfe, die der Vater soll leisten können; noch sollen sie
ihm zu nahe kommen, denn dies schafft viele Schwierigkeiten; es fehlt
dann wie unter Altersgenossen allzusehr der Respekt, und die
Vertrautheit führt zu Diskussionen hinsichtlich der Hausverwaltung.
Ferner, um zum Ausgangspunkt zurückzukehren, müssen die Kinder
auch körperlich in der vom Gesetzgeber gewünschten Verfassung
sein.
Dies alles läßt sich durch eine einzige Vorkehrung erreichen. Da die
Zeugungsfähigkeit für den Mann im Ganzen gesehen im äußersten
Falle siebzig Jahre ist, für die Frau fünfzig, so muß die Vereinigung
dem Alter nach diese Zahlen berücksichtigen. Die Verbindung von
ganz Jungen ist für die Kinderzeugung schädlich. Denn bei allen
Lebewesen sind die Kinder von zu jungen Eltern schwächlich,
überwiegend weiblich und von unansehnlicher Gestalt, so daß dies
zwangsläufig auch für die Menschen gelten wird. Ein Beweis: in den
Staaten, in denen es Sitte ist, daß junge Leute sich miteinander
verbinden, da sind sie körperlich schwach und klein. Auch leiden die
jungen Frauen bei der Geburt mehr und sterben häufiger. So soll denn
auch aus solchen Ursachen ein Orakel an die Troizenier ergangen sein,
daß viele sterben wegen des zu frühen Heiratens der Mädchen, und
nicht wegen der Einholung der Feldfrucht. Es ist auch im Hinblick auf
die Zucht besser, wenn die Mädchen in etwas höherem Alter
verheiratet werden. Denn die jungen Frauen sind, wie man meint, im
Beischlaf gar zu zügellos. Außerdem glaubt man, daß das Wachstum
der Männer leide, wenn sie den Beischlaf pflegen, während der Same
noch im Wachsen ist. Denn auch da gibt es eine feste Zeit, über die
hinaus keine Ansammlung mehr stattfindet.
So ist es richtig, die Mädchen etwa mit achtzehn und die Männer etwa
um siebenunddreißig Jahre herum zu verheiraten.
Denn dann sind sie körperlich auf der Höhe bei der Vereinigung, und
die Fruchtbarkeit hört später für beide Teile zur selben Zeit auf. Auch
geschieht die Abfolge der Kinder für die ersten in der Blütezeit, wenn

XXXI
Aristoteles Politik - VII. Buch

sie, wie zu erwarten, gleich zur Welt kommen, und für die spätesten
dann, wenn mit dem siebzigsten Lebensjahr die Altersschwäche
beginnt. So ist also gesagt, wann die Vereinigung stattfinden soll. Was
aber die Jahreszeit angeht, so kann man sich mit Recht an den
üblichen Brauch halten und die Vereinigung sich im Winter vollziehen
lassen. Die Gatten müssen sich dazu selbst erkundigen, was die Ärzte
und die Naturforscher sagen. Denn die Ärzte bezeichnen genau die
verschiedenen Zeiten für den Körper, die Naturforscher untersuchen
die Windverhältnisse und erklären die Nordwinde für besser als die
Südwinde.
Welche körperlichen Dispositionen für die Nachkommenschaft am
förderlichsten sind, darüber ist eher in den Untersuchungen über die
Aufzucht der Kinder zu sprechen. Hier sei dies nur im Umriß berührt.
Die Konstitution der Athleten ist nützlich weder für die politische
Tätigkeit, noch für die Gesundheit oder die Kinderzeugung, ebenso
auch nicht die zarte und allzu schwächliche, sondern eben die mittlere.
Man muß also trainiert sein, aber nicht mit allzu gewaltsamen Mitteln
und nicht einseitig wie bei den Athleten, sondern in großzügiger
Weise. Dasselbe gilt hier für Männer und Frauen.
Auch die Schwangeren müssen für ihren Körper sorgen und weder
sich gehen lassen, noch bloß trockene Nahrung genießen. Dies kann
der Gesetzgeber leicht damit bewerkstelligen, daß er täglich einen
Gang zur Verehrung derjenigen Götter vorschreibt, die als Schützer
der Geburten gelten. Den Geist dagegen müssen sie im Gegensatz zum
Körper mehr in Ruhe lassen. Denn das Kind scheint Dinge von der
Mutter aufzunehmen, wie die Pflanzen von der Erde. Was Aussetzung
oder Aufnahme der Kinder anlangt, so soll es Gesetz sein, daß nichts
Verstümmeltes aufgezogen wird; wenn dagegen die Zahl der Kinder
zu groß wird, so verbietet zwar die Ordnung der Sitten, irgendein
Geborenes auszusetzen; dennoch soll die Zahl der Kinder eine Grenze
haben, und wenn ein Kind durch die Vereinigung über diese Grenze
hinaus entsteht, so soll man es entfernen, bevor es Wahrnehmung und
Leben erhalten hat. Denn was erlaubt ist oder nicht, soll sich nach dem
Vorhandensein von Wahrnehmung und Leben richten.

XXXII
Aristoteles Politik - VII. Buch

Da also für Mann und Frau das früheste Alter festgelegt ist,in
welchem sie zur Vereinigung schreiten können, so sei auch festgelegt,
bis zu welchem Alter sie Kinder erzeugen sollen. Denn die
Nachkommen von zu alten Eltern werden wie diejenigen der zu
jungen verkürzt an Körper und Seele, und die der Greise einfach
schwach. Also muß man sie zeugen, wenn der Geist auf seiner Höhe
ist; das ist zumeist (entsprechend dem, wie die Dichter das Leben in
Heptaden eingeteilt haben) um das fünfzigste Altersjahr herum. Vier
oder fünf Jahre nach diesem Zeitpunkt soll man keine Kinder, die
öffentlich anerkannt werden sollen, mehr zeugen. Im weiteren wird
man wohl der Gesundheit wegen und aus andern derartigen Ursachen
den Beischlaf weiter pflegen dürfen. Was aber den Verkehr mit andern
Frauen oder Männern angeht, so scheint dies durchaus unstatthaft,
solange ein Gatte faktisch vorhanden ist. Tut einer dies aber in der
Zeit der Kinderzeugung, so soll er mit einer dem Vergehen
entsprechenden Strafe belegt werden.
17. Sind die Kinder geboren, so hat, wie man annehmen muß, die
Nahrung auf die Entwicklung des Körpers einen sehr großen Einfluß.
Es zeigt sich an der Beobachtung der andern Lebewesen und an den
Völkern, die ihre Leute zu einer kriegerischen Haltung erziehen
wollen, daß eine reichliche Milchnahrung den Körpern am
angemessensten ist, dagegen wenig Wein wegen der Krankheiten.
Ferner soll auch soviel Bewegung vorgenommen werden, als das Alter
es zuläßt. Um aber die noch weichen Glieder nicht zu verbiegen,
verwenden noch heute einige Völker mechanische Hilfsmittel, die den
Körper der Kinder fest machen. Auch an Kälte müssen sich die Kinder
möglichst bald gewöhnen. Denn dies ist für die Gesundheit wie für die
Kriegstüchtigkeit äußerst zweckmäßig. So gibt es bei vielen Barbaren
die Sitte, die Neugeborenen in einem kalten Flusse einzutauchen, bei
andern, wie bei den Kelten, ihnen nur ganz geringe Kleidung zu
geben. Man muß sie also an alles gewöhnen, was man kann, und am
besten gleich damit beginnen, aber ganz planmäßig. Denn wegen
seiner angeborenen Wärme ist der Körper der Kinder besonders leicht
an die Kälte zu gewöhnen.

XXXIII
Aristoteles Politik - VII. Buch

Im ersten Lebensalter ist es also zweckmäßig, diese und ähnliche


Vorkehrungen zu treffen. Im folgenden Alter bis zum fünften Jahre
soll man sie noch nicht zum Lernen anhalten und auch nicht zu
schwerer Arbeit, damit das Wachstum nicht gehindert werde, sondern
sie sollen eben jene Bewegung erhalten, die für die Munterkeit des
Körpers zuträglich ist, und die
man durch allerlei Verrichtungen und durch das Spiel veranlassen
kann. Die Spiele aber wiederum sollen nicht unedel sein und nicht
anstrengend oder zu ausgelassen. Ebenso sollen die Aufseher über die
Erziehung sich darum kümmern, was für Reden und Erzählungen
Kinder dieses Alters anhören dürfen. Denn all das soll eine
Vorbereitung auf den spätern Unterricht darstellen. Darum sollen denn
auch die Spiele zur Hauptsache Nachbildungen dessen sein, was sie
später im Ernst treiben werden.
Was das Schreien und Weinen der Kinder betrifft, so ist es unrichtig,
dies verbieten zu wollen, wie es die Staatstheoretiker vorschlagen.
Denn dies trägt zum Wachstum bei und ist in gewisser Weise ein
Turnen. Und wie ein tiefes Atemholen die Arbeitenden stärkt, so wirkt
auch das Schreien der Kinder.
Die Aufseher über die Erziehung haben diese und andere Dinge zu
beachten, und auch, daß sie so wenig wie möglich mit Sklaven
zusammen sein sollen. Denn in diesem Alter und bis zu sieben Jahren
sollen die Kinder zu Hause aufgezogen werden. Es ist klar, daß sie
sonst das unedle Wesen mit Augen und Ohren aufnehmen, da sie ja
noch so klein sind. Überhaupt soll der Gesetzgeber vor allem andern
das gemeine Reden aus dem Staate verbannen; denn wenn man leicht
über Gemeines reden kann, so wird man auch bald zu entsprechenden
Taten kommen. Vor allem gilt dies für die Jungen, die nichts
dergleichen sagen oder hören dürfen. Und wenn einer etwas derartig
Verbotenes sagt oder tut, so soll der Freigeborene, der aber noch nicht
den Zutritt zu den Syssitien erhalten hat, mit Schande und Schlägen
gezüchtigt, der Ältere dagegen wegen seiner sklavischen Gesinnung
wie ein Unfreier an seiner Ehre gestraft werden.
Da wir das Reden solcher Dinge verboten haben, so gilt dies natürlich
auch für das Betrachten unpassender Bilder oder das Anhören

XXXIV
Aristoteles Politik - VII. Buch

entsprechender Vorträge. Die Regierenden haben also dafür zu sorgen,


daß keine Standbilder oder Gemälde als Nachahmung solcher
Handlungen vorhanden seien, außer etwa bei gewissen Göttern, bei
denen das Gesetz auch Ausgelassenheiten zuläßt. Hier erlaubt das
Gesetz den Männern, die schon ein gewisses Alter haben, für sich und
ihre Kinder und Frauen die Götter zu ehren. Die Jüngeren aber dürfen
nicht als Zuhörer von Iamben und Komödien zugelassen werden, bis
sie in das Alter gekommen sind, in dem sie schon bei den Syssitien
mitmachen dürfen, und in dem die Erziehung sie schon allegegen
Trunkenheit und den aus solchen Dingen erwachsenden Schaden
unempfindlich gemacht hat.
Wir haben dies jetzt nur beiläufig erwähnt. Später werden wir
Genaueres zu sagen haben und uns fragen, ob die Jungen hier
zugelassen sein sollen oder nicht, und wie sie es sollen.
Augenblicklich reden wir eben nur vom Notwendigsten. Nicht mit
Unrecht hat in diesem Zusammenhang der tragische Schauspieler
Theodoros erklärt, er lasse keinen vor sich auf die Bühne kommen,
auch nicht von den zweitrangigen Schauspielern, da die Zuschauer
durch den ersten Eindruck am meisten beeinflußt würden. Dasselbe
gilt auch für den Umgang mit den Menschen wie mit den Dingen.
Denn wir lieben alle das erste am meisten. Darum muß man von den
Jungen alles Schlechte fernhalten und vor allem, was lasterhaft und
abstoßend ist.
Nach den fünf Jahren sollen sie in den zwei weiteren bis zum
siebenten schon lernen, was es für sie zu lernen gibt. Sodann gibt es
zwei Lebensalter, nach denen die Erziehung abgeteilt werden muß,
einmal vom siebenten Jahre bis zur Pubertät und dann von der
Pubertät bis zum einandzwanzigsten Jahre. Denn jene, die das Leben
in Hebdomaden einteilen, machen es im allgemeinen nicht unrichtig,
doch muß man der natürlichen Gliederung folgen. Denn jede Kunst
und Erziehung will ja nur die Natur ergänzen.
Man muß also zuerst prüfen, ob es überhaupt eine bestimmte Ordnung
für die Erziehung geben soll, ferner, ob man lieber gemeinsam oder
jeden einzelnen für sich (wie es jetzt in den meisten Staaten der Fall

XXXV
Aristoteles Politik - VII. Buch

ist) erziehen soll, und drittens, wie die Erziehung selbst beschaffen
sein muß.

XXXVI
Aristoteles Politik - VIII. Buch

Achtes Buch

1. Daß sich der Gesetzgeber in erster Linie um die Erziehung der


Jungen kümmern muß, wird wohl niemand bestreiten. Wo es in einem
Staat nicht geschieht, da erwächst auch ein Schaden für die
Verfassung. Die Menschen müssen ja im Hinblick auf die jeweilige
Verfassung erzogen werden. Denn der eigentümliche Charakter jeder
Verfassung erhält diese und begründet sie auch von Anfang an, so der
demokratische die Demokratie und der oligarchische die Oligarchie.
Und immer ist der beste Charakter auch Grund der besseren
Verfassung.
Ferner muß man in jeder Fähigkeit und Kunst zur Ausübung
vorgebildet und vorher geübt worden sein, und so offenbar auch auf
das tugendhafte Verhalten. Und da das Ziel jedes Staates eines ist, so
muß auch die Erziehung für alle eine und dieselbe sein; die Fürsorge
dafür muß staatlich und nicht privat geregelt werden und nicht so wie
jetzt, wo ein jeder privat sich um seine Kinder kümmert und ihnen
privat eben das beibringt, was ihm gerade gut scheint. Denn
gemeinsame Tätigkeiten sollen auch gemeinsam eingeübt werden.
Man darf nicht meinen, daß irgendeiner der Bürger sich selbst
angehöre, sondern alle gehören dem Staate; jeder ist ja ein Teil des
Staates, und die Fürsorge für den einzelnen Teil geschieht naturgemäß
im Hinblick auf die Fürsorge für das Ganze.
In diesem Punkte wird man die Spartaner loben. Denn sie bemühen
sich am meisten um die Kinder, und dies von Staats wegen.

2. Daß man also Gesetze über die Erziehung erlassen und diese
öffentlich regeln soll, ist klar. Was aber die Erziehung ist, und wie
man erzogen werden soll, das muß man auch wissen. Faktisch ist man
über die Gegenstände uneinig. Denn nicht alle wollen den jungen
Menschen dasselbe beibringen im Hinblick auf die Tugend und auf
das vollkommene Leben, und es ist auch nicht klar, ob die Erziehung
mehr den Intellekt als den Charakter betreffen soll. Die gegenwärtige
Erziehungsweise verwirrt noch das Problem, und es ist nicht klar, ob
man eher üben soll, was zum Leben nützlich ist, oder was vielmehr

I
Aristoteles Politik - VIII. Buch

auf die Tugend zielt, oder eher das Erlesene; denn jede dieser
Möglichkeiten hat ihren Vertreter gefunden. Was nun die Erziehung
zur Tugend betrifft, so ist nichts allgemein anerkannt:denn schon
darüber sind die Meinungen durchwegs verschieden, welche Tugend
man am höchsten schätzen soll, und so ist man dann natürlich auch
uneins in der Frage nach ihrer Einübung.
Daß man vom Nützlichen das Unentbehrliche lernen soll, ist evident.
Daß man aber nicht alles lernen soll, zeigt die Zweiteilung in edle und
unedle Tätigkeiten, so daß man an solchen Dingen nur so weit sich
beteiligen soll, daß man durch sie nicht zum Banausen wird. Als eine
banausische Arbeit, Kunst und Unterweisung hat man jene
aufzufassen, die den Körper oder die Seele oder den Intellekt der
Freigeborenen zum Umgang mit der Tugend und deren Ausübung
untauglich macht. Darum nennen wir alle Handwerke banausisch, die
den Körper in eine schlechte Verfassung bringen, und ebenso die
Lohnarbeit. Denn sie machen das Denken unruhig und niedrig.
Unedel ist es nicht, die vornehmen Wissenschaften teilweise und bis
zu einem gewissen Grade kennenzulernen, aber sich allzu intensiv mit
ihnen beschäftigen, führt zu den eben genannten Schädigungen. Es
macht auch einen großen Unterschied, wozu einer etwas tut oder lernt.
Denn um der Sache selbst oder um der Freunde oder der Tugend
willen es zu tun, ist nicht unedel, aber einer, der dieselben Sachen auf
Anweisung anderer tut, wirkt oftmals knechtisch und sklavisch.

3. Die gegenwärtig üblichen Lehrgegenstände schwanken nun, wie


gesagt, hin und her. Es sind im wesentlichen vier Dinge, in denen man
zu unterrichten pflegt: Grammatik, Turnen, Musik und gelegentlich
das Zeichnen; die Grammatik und das Zeichnen als nützlich fürs
Leben und vielfältig anwendbar, die Gymnastik als Übung zur
Tapferkeit. Bei der Musik erheben sich Fragen: die meisten
interessieren sich für sie um des Vergnügens willen, ursprünglich aber
galt sie als ein Stück Erziehung, weil die Natur selbst danach strebt,
wie oftmals gesagt, nicht nur richtig tätig zu sein, sondern auch in
edler Weise Muße üben zu können.

II
Aristoteles Politik - VIII. Buch

Denn dies ist der Ursprung von allem, um einmal mehr davon zu
reden. Wenn man nämlich beides braucht, so ist doch die Muße
wünschenswerter als die Arbeit; sie ist das Ziel, und man muß sich
fragen, was man in der Muße tun soll. Spielen soll man nicht, denn
dann müßte das Spiel das Ziel unseres Lebens sein. Wenn dies
ausgeschlossen ist und man eher bei der Arbeit zuweilen spielen soll
(denn der Arbeitende bedarf der Erholung, das Spiel dient eben dazu,
und bekanntlich ist die Arbeit mit Mühe und Anspannung verknüpft),
so muß man die Spiele gestatten, aber den Gebrauch genau kontrol-
lieren, um sie als eine Art von Arznei anzuwenden. Denn eine solche
Bewegung der Seele ist eine Lockerung und eine lustvolle Erholung.
Die Muße scheint aber ihre Lust und die Glückseligkeit und das selige
Leben in sich selbst zu haben. Dies kommt nicht den Arbeitenden zu,
sondern jenen, die Muße haben. Denn der Arbeitende arbeitet auf ein
Ziel hin, das noch nicht erreicht ist, die Glückseligkeit ist aber ein Ziel
und ist nach allgemeiner Ansicht nicht mit Schmerz, sondern mit Lust
verbunden.
Freilich fassen nicht alle diese Lust in derselben Weise auf, sondern
jeder für sich nach seiner Art, der Beste aber wählt die beste und die
vom Schönsten her entspringende. So ist klar, daß man auch für das
Leben in der Muße bestimmte Dinge lernen und sich aneignen muß,
und daß diese Lehr- und Bildungsgegenstände selbstzwecklich sind;
jene dagegen, die mit der Arbeit zu tun haben, dienen der Notdurft und
einem fremden Zweck.
So haben denn auch die Früheren die Musik zur Bildung gerechnet,
aber nicht als notwendig (denn das ist sie nicht), noch als nützlich, wie
die Grammatik für den Geschäftsverkehr, für die Hausverwaltung, zur
weitern Ausbildung und zu vielen politischen Aufgaben; auch das
Zeichnen scheint ja nützlich zu sein, um die Arbeiten der Handwerker
besser beurteilen zu können; ebenso ist die Gymnastik nützlich für
Gesundheit und Kraft. Aber keins von beiden entsteht doch aus der
Musik. Es bleibt also, daß sie für das Leben in der Muße bestimmt ist,
und darauf pflegt sie auch bezogen zu werden. Denn man ordnet sie
dort ein, wo man das Leben der Edlen vermutet. So hat Homer
gedichtet: »sondern wen man zum festlichen Mahle laden soll«, und

III
Aristoteles Politik - VIII. Buch

dann nennt er andere, »die den Sänger rufen«, der »alle ergötzt«. Und
anderswo nennt Odysseus jenes das beste Leben, wenn die Menschen
sich erfreuen und »die speisenden Gäste im Haus den Sänger hören,
der Reihe nach hingelagert«.
Daß dies also eine Ausbildung ist, die man seinen Söhnen nicht als
nützlich verschafft und nicht als notwendig, sondern als edel und
schön, ist offensichtlich. Ob es aber von ihr eine oder mehrere Arten
gibt, und welches diese sind und inwiefern, das ist nachher zu
behandeln. Jetzt ist uns soviel klar geworden, daß wir bei den
Früheren ein Zeugnis von den feststehenden Bildungsgegenständen
her haben. Denn offenbar ist dies bei der Musik so.
Auch beim Nützlichen soll man die Kinder nicht nur eben um des
Nutzens willen unterrichten, etwa in der Grammatik, sondern weil sich
daraus noch viele andere Lehrgegenstände entwickeln können; ebenso
ist das Zeichnen nicht nur dazu da, damit man beim Verkauf eigener
Waren nicht betrogen werde, oder überhaupt im Kauf und Verkauf
von Gegenständen sich nicht täuschen lasse, sondern eher, damit man
einen Blick für die Schönheit der Körper erhalte. Denn überall bloß
den Nutzen zu suchen, gehört sich für die Großgesinnten und die
Edlen am allerwenigsten.
Da es weiterhin klar ist, daß man zuerst durch Angewöhnung und erst
nachher durch Belehrung erzogen werden soll und eher körperlich als
intellektuell, so muß man offenbar zuerst die Knaben dem Turnlehrer
anvertrauen und dem Ringlehrer. Der eine verschafft eine gute
Körperverfassung, der andere führt zu Leistungen.

4. Freilich zielen heute diejenigen Staaten, die sich am meisten um


Erziehung zu kümmern scheinen, auf eine athletische Verfassung und
gefährden das Aussehen und das Wachstum des Körpers. Die
Spartaner haben diesen Fehler nicht gemacht, aber sie machten sie
durch Anstrengungen wie zu Tieren, da dies der Tapferkeit am
meisten dienlich sei. Und doch, wie schon oft gesagt, darf man als
Erzieher nicht auf eine einzige Tugend und nicht zuerst gerade auf
diese schauen. Selbst wenn man das dürfte, so erreichen sie ihr Ziel
doch nicht. Denn auch bei andern Lebewesen und andern Völkern

IV
Aristoteles Politik - VIII. Buch

folgt, wie wir sehen, die Tapferkeit keineswegs der Wildheit, sondern
vielmehr einem ruhigen und löwenhaften Charakter.
Es gibt viele Völker, die zum Töten und Menschenfressen leicht bereit
sind, wie am Pontos die Achaier und Heniochen und einige
Binnenlandvölker, teils mehr, teils weniger und soweit sie Räuber
sind, aber Tapferkeit haben sie keine. Wir wissen auch von den
Spartanern, daß sie allen andern überlegen waren, als sie sich auf die
Ausdauer in Anstrengungen konzentrierten, daß sie aber jetzt in den
gymnischen Wettkämpfen so gut wie im Kriege hinter anderen
zurückstehen. Denn ihre Überlegenheit kam nicht daher, daß sie die
Jungen auf diese Weise trainierten, sondern nur daher, daß sie als
Geübte gegen Ungeübte kämpften. So muß man denn nach dem Edlen
und nicht nach dem Tierartigen streben. Denn auch ein Wolf oder
sonst ein wildes Tier würde nicht einen edlen Kampf wagen, sondern
nur der tüchtige Mann. Wer aber die Kinder zu sehr mit dergleichen
beschäftigt und sie im Notwendigen unerzogen läßt, macht sie in
Wahrheit zu Banausen, einzig und allein zum Kriegführen brauchbar
und auch da noch, wie wir zeigten, schlechter als andere. Man muß
also [die Spartaner] nicht nach den früheren Leistungen beurteilen,
sondern nach den gegenwärtigen: jetzt haben sie Konkurrenten in ihrer
Art der Erziehung, früher hatten sie keine.
Daß man also die Gymnastik braucht, und wie man sie brauchen soll,
ist anerkannt. Bis zur Pubertät soll man leichtere Übungen wählen und
allzu harte Diät und schwere Anstrengungen meiden, damit das
Wachstum nicht gehindert werde. Daß eine vorzeitige
Überanstrengung dazu führt, beweist deutlich das Folgende: unter den
Olympioniken gibt es kaum zwei oder drei, die als Knaben und auch
als Männer gesiegt haben, da sie durch ihr hartes Training in der
Jugend ihre Kraft aufgebraucht haben. Wenn sie sich aber nach dem
Eintritt der Pubertät noch drei Jahre lang mit andern Gegenständen
beschäftigt haben, dann kann man das nachfolgende Alter auch zu
Anstrengungen und Zwangsdiäten heranziehen. Aber man soll sich
nicht gleichzeitig mit dem Körper und dem Geiste anstrengen. Denn
jede der Anstrengungen wirkt in gegensätzlicher Richtung: die
Anstrengung des Körpers hindert den Intellekt und umgekehrt.

V
Aristoteles Politik - VIII. Buch

5. Hinsichtlich der Musik haben wir schon vorher einige Fragen


aufgeworfen, die wir nun zu Ende führen wollen, um zu den
Erwägungen, die man etwa hier anstellen möchte, einige
Voraussetzungen zu liefern. Denn es ist nicht leicht zu sagen, welches
ihre Wirkung ist, noch wozu man sie üben soll, ob des Spiels und der
Erholung wegen wie den Schlaf oder das Trinken (dies ist an sich
nichts Ernsthaftes, aber angenehm und vertreibt die Sorgen, wie
Euripides sagt. Darum nimmt man diese Dinge gerne zusammen und
betreibt sie zusammen: den Schlaf, das Trinken und die Musik, und
auch den Tanz rechnet man hierher). Oder soll man meinen, daß die
Musik es eher mit der Tugend zu tun habe, sofern sie, wie die
Gymnastik eine bestimmte Körperverfassung erzeugt, ihrerseits eine
bestimmte Verfassung des Charakters hervorbringt und den Menschen
gewöhnt, sich an rechten Dingen zu erfreuen, oder daß sie zur
Lebensart beiträgt und zur Erkenntnis (dies wäre als drittes noch
einmal zu nennen).
Daß man nun die Jungen nicht auf das Spiel hin unterrichten soll, ist
klar. Denn beim Lernen spielt man nicht, sondern es ist vielmehr eine
beschwerliche Angelegenheit. Aber auch zur Lebensart gehört es bei
dem Alter der Kinder noch nicht - denn was noch nicht entwickelt ist,
hat mit dem Ziel des Lebens nichts zu tun.
Aber vielleicht könnte das, was die Kinder im Ernst treiben, den
erwachsenen Männern dann zum Spiele dienen. Aber wenn dies
zuträfe, wozu sollten sie dann lernen und nicht vielmehr wie die
Könige der Perser und Meder andere dies ausüben lassen und deren
Ausbildung sich zum Genusse werden lassen? Denn offenbar leisten
jene Besseres, die darin berufsmäßig ausgebildet sind, als jene, die
sich nur eine Weile im Rahmen der allgemeinen Bildung damit
beschäftigt haben. Allerdings, wenn man sich selbst beruflich damit
beschäftigen müßte, so wäre das gleich, wie wenn man sich persönlich
mit der Zubereitung der Speisen zu befassen hätte, was unsinnig ist.
Dieselbe Schwierigkeit macht es, wenn die Musik den Charakter
besser machen soll. Denn wozu soll man auch dann lernen und nicht
vielmehr beim Zuhören anderer sich in richtiger Weise freuen und

VI
Aristoteles Politik - VIII. Buch

recht urteilen lernen wie die Spartaner? Denn sie lernen das nicht,
haben aber doch ein richtiges Urteil über, wie sie sagen, die
brauchbaren und die unbrauchbaren Lieder.
Dasselbe gilt endlich, wenn sie zum Lebensgenuß und zu edler
Lebensweise gebraucht werden soll. Wozu soll man da lernen oder
nicht eher genießen, wenn andere sich betätigen? Man kann an die
Vorstellung denken, die wir von den Göttern haben: auch Zeus selbst
singt und spielt nicht bei den Dichtern, sondern wir halten solche
vielmehr für Banausen und finden, ein Mann tue das nicht, außer im
Rausche oder im Spiel.
Aber darüber vielleicht später. Die erste Frage ist hier, ob die Musik
zu den Lehrgegenständen gehört oder nicht, und was sie von den drei
genannten Dingen leistet, Erziehung, Spiel oder Lebensart. Mit guten
Gründen kann man sie auf all das beziehen und von allem etwas bei
ihr finden.
Denn das Spiel ist zur Erholung da, und die Erholung muß angenehm
sein (sie ist ja ein Heilmittel gegen die Schmerzen der Anstrengung,
und das geistige Leben muß nicht nur edel, sondern auch angenehm
sein; denn die Glückseligkeit besteht aus diesen beiden Dingen), und
von der Musik sagen wir alle, daß sie zum Angenehmsten gehört,
sowohl für sich allein wie auch mit Gesang; Musaios sagt ja: »den
Sterblichen ist es das Süßeste, zu singen«, und so nimmt man sie gerne
zu Zusammenkünften und Unterhaltungen hinzu, weil sie zu erfreuen
vermag. So wird man annehmen dürfen, daß die jungen Leute in ihr
erzogen werden sollen. Denn die unschädlichen Vergnügungen sind
nicht nur dem obersten Ziel, sondern auch der Erholung dienlich. Da
sich aber die Menschen selten beim obersten Ziele aufhalten, aber sich
viel erholen und spielen, bloß zum Vergnügen, so wäre es wohl
nützlich, sich dann in den Freuden der Musik zu erholen.
Indessen machen die Menschen gerne das Spiel zum Ziele. Denn auch
das Ziel hat wohl seine Lust, aber nicht eine beliebige; und indem wir
diese suchen, verwechseln wir jene mit ihr, weil sie mit dem obersten
Ziele des Handelns eine gewisse Ähnlichkeit hat. Das Ziel ist aber um
keines Ergebnisses willen wünschbar, und seine Lust besteht um
keines Ergebnisses willen, sondern kommt aus dem

VII
Aristoteles Politik - VIII. Buch

Vorangegangenen, den Mühen und Beschwerden. Man kann aber die


Ursache dafür, daß sie die Glückseligkeit von eben solcher Lust
erwarten, hieraus entnehmen.
Wenn sie sich aber mit Musik beschäftigen, so nicht nur darum,
sondern auch, weil sie für die Erholung brauchbar zu sein scheint.
Man muß aber fragen, ob dies nicht eher zufällig ist und sie selbst
ihrer Natur nach über einer solchen Verwendung steht, und ob man
von ihr nicht bloß das allgemeine Vergnügen haben kann, das alle
wahrnehmen (denn die Musik verschafft einen natürlichen Genuß,
darum ist sie jedem Alter und jedem Charakter willkommen); man
muß vielmehr prüfen, ob sie nicht auch den Charakter und die Seele
berührt. Dies müßte sich zeigen, wenn sie in bestimmter Weise unsern
Charakter bildete. Daß das zutrifft, ergibt sich aus vielen und vor
allem aus den Liedern des Olympos.
Sie machen anerkanntermaßen die Seele enthusiastisch, und der
Enthusiasmus ist eine Modifikation des seelischen Charakters.
Außerdem sympathisieren wir alle, wenn wir musikalische
Darstellungen hören, auch ohne Tanz und Gesang. Fernerhin gehört
die Musik zum Angenehmen, und es ist Sache der Tugend, sich richtig
zu freuen, zu lieben und zu hassen. Also muß man nichts so sehr
lernen und sich angewöhnen wie das richtige Urteilen und die Freude
an anständigen Charakteren und an schönen Handlungen. Und nun
sind die Rhythmen und Töne den wirklichen Naturen des Zorns, der
Milde, der Tapferkeit und Zucht und ihrer Gegensätze und den andern
ethischen Dingen außerordentlich verwandt, wie die Erfahrung zeigt:
denn wir verwandeln uns seelisch, wenn wir solches hören. Und die
rechte Gewöhnung der Ablehnung und der Freude in diesem ähnlichen
Bereiche ist mit dem entsprechenden Verhalten in der Wirklichkeit
nahe verwandt (so wie wenn einer sich über eine Abbildung freut aus
keiner andern Ursache als wegen der Gestalt selbst; dann wird ihm
auch der Anblick des Gegenstandes selbst, von dem jenes ein Abbild
war, erfreulich sein).
In den Sinnesdingen gibt es sonst nirgends eine solche Beziehung zu
den Charakteren, weder im Tastbaren noch im Schmeckbaren,
höchstens ein wenig bei den Gesichtseindrükken (da liegen Gestalten

VIII
Aristoteles Politik - VIII. Buch

vor, aber nur partiell, und nicht jeder kann sie wahrnehmen.
Außerdem bestehen keine direkten Beziehungen zum Charakter,
sondern Gestalt und Farbe sind bloße Zeichen des Charakters,
körperliche Merkmale der Affekte; immerhin gibt es da so große
Differenzen, daß die jungen Menschen nicht die Gemälde Pausons
anschauen sollen, sondern die des Polygnot und wer sonst von den
Malern und Bildhauern einen ethischen Charakter besitzt). In den
Tönen haben wir aber eine unmittelbare Nachahmung der Charaktere,
wie sich das faktisch zeigt: denn schon die Art der Harmonien zeigt
Unterschiede, so daß wir uns als Hörer bei jeder von ihnen verwandeln
und uns anders einstellen, bei der einen traurig und melancholisch, wie
bei der sogenannten mixolydischen, bei der andern eher weich, wie bei
den ausgelassenen, und in einer gefaßten Mittellage wieder bei einer
andern, wie es allein die dorische Harmonie zustande zu bringen
scheint, und enthusiastisch werden wir bei der phrygischen. Dies wird
von den Spezialisten auf diesem Gebiete richtig festgestellt, denn sie
können es aus den Tatsachen selbst beweisen. Dasselbe gilt auch für
die Rhythmen. Die einen haben einen ruhigen, die andern einen
bewegten Charakter, und hier. haben wieder die einen ordinäre, die
andern edlere Bewegungen.
Es ergibt sich daraus, daß in der Tat die Musik den Charakter der
Seele zu beeinflussen vermag. Kann sie dies, so muß man auch die
jungen Leute zu ihr hinführen und in ihr erziehen. Auch paßt die
Unterweisung in der Musik sehr in die Natur dieser Altersstufe. Denn
die jungen Leute können bei ihrem Alter nichts freiwillig aushalten,
wenn es nicht versüßt wird, und die Musik gehört ihrem Wesen nach
zum Angenehmen.
Es scheint auch eine Verwandtschaft der Harmonien und Rhythmen zu
der Seele zu bestehen. So meinen denn auch manche der Weisen, die
Seele sei eine Harmonie, andere, sie besäße eine Harmonie.

6. Ob man nun so lernen muß, daß man selbst singt und spielt oder
nicht, wie wir früher fragten, das sei jetzt untersucht.
Offensichtlich macht es einen großen Unterschied, wenn man etwas
werden will, ob man selbst arbeitet. Denn es gehört zu den

IX
Aristoteles Politik - VIII. Buch

unmöglichen oder doch schwierigsten Dingen, eine Sache gut zu


beurteilen, in der man nicht selbst gearbeitet hat. Außerdem brauchen
Kinder eine Beschäftigung, und die Klapper des Archytas ist eine
ausgezeichnete Sache, wenn er sie den Kindern zum Spielen gibt,
damit sie nichts im Hause zerschlagen. Denn junge Geschöpfe können
nicht stillsitzen. Dieses Spielzeug paßt nun für die Säuglinge, für
ältere aber vertritt die Erziehung die Stelle der Klapper. Man soll also
die Musik so unterrichten, daß sie auch ausgeübt wird. Was zum Alter
paßt oder nicht paßt, ist leicht festzustellen, und damit auch zu
widerlegen, wer behauptet, eine solche Beschäftigung sei banausisch.
Denn erstens übt man, um urteilen zu können, und darum soll man
noch in der Jugend üben, als Altere aber nicht mehr ausüben, doch
richtig urteilen und sich am Rechten freuen, dank dem in der Jugend
genossenen Unterricht. Was aber den Vorwurf anlangt, den einige
erheben, die Musik mache zu Banausen, so ist er leicht zu widerlegen.
Man soll prüfen, wie weit die auf die staatsbürgerliche Tugend hin
Erzogenen sich mit solcher Arbeit befassen, welche Lieder und
Rhythmen sie beherrschen, und was für Instrumente sie benutzen
sollen; denn auch das macht offenbar einen Unterschied. In diesen
Dingen liegt die Widerlegung des Vorwurfs. Denn gewiß können
bestimmte Arten der Musik die erwähnte Wirkung ausüben. Klar ist
also, daß das Lernen der Musik weder die spätere Tätigkeit hemmen
noch den Körper banausisch und untauglich zu den kriegerischen und
politischen Aufgaben machen darf, und zwar zunächst für das Leben,
später für das Lernen jener Dinge.
Dies kann beim musikalischen Unterricht so geschehen, daß man sich
nicht auf die Wettkämpfe der Berufsmusiker hin anstrengt und sich
nicht auf ungewöhnliche und ausgefallene Leistungen verlegt, wie sie
jetzt bei den Wettkämpfen gefordert werden und von den
Wettkämpfen schon in den Unterricht eingedrungen sind; aber auch
das andere soll nur so weit getrieben werden, als man sich an den
schönen Rhythmen und Tönen freut und nicht bloß an der
gewöhnlichen Musik, an der sich sogar die Tiere und die Masse der
Sklaven und Kinder vergnügen.

X
Aristoteles Politik - VIII. Buch

Daraus ergibt sich auch, welche Instrumente man verwenden soll. Zu


diesem Unterricht sind weder Flöten heranzuziehen noch sonst ein
Spezialinstrument wie die Kithara und dergleichen, sondern nur jene,
die gute Zuhörer der Musik in der bildungsmäßigen Form wie in der
andern heranbilden. Auch ist die Flöte nicht ethisch, sondern eher
orgiastisch, so daß man sie bei solchen Gelegenheiten verwenden soll,
wo das Hören mehr eine Reinigung als eine Belehrung anstrebt. Als
ein Hindernis im Sinne der Bildung ist noch beizufügen, daß die Flöte
es unmöglich macht, dazu zu reden.
So haben die Früheren mit Recht ihren Gebrauch bei Jungen und
Freigeborenen abgelehnt, obschon sie sie zuvor selbst verwendet
hatten. Als sie nämlich durch den Wohlstand auch mehr Muße
bekamen und in ihrer Tüchtigkeit großgesinnter wurden, schon vorher
und vor allem nach den Perserkriegen von Stolz erfüllt wegen ihrer
Taten, interessierten sie sich für alle Bildungsgegenstände mit
Begierde und ohne Auswahl. Da kam denn die Flötenkunst zu den
Bildungsstücken dazu. Denn in Sparta spielte ein Chorführer dem
Chor vor, und in Athen wurde es so sehr Mode, daß die meisten der
Freigeborenen sie erlernten; das zeigt die Tafel, die Thrasippos als
Chorege dem Ekphantides aufstellen ließ. Später kam diese Kunst
durch die Erfahrung selbst wieder außer Mode, da die Menschen
besser zu beurteilen lernten, was der Tugend dient und was nicht.
Dasselbe geschah auch mit der Mehrzahl der alten Instrumente, wie
Pektis, Barbitos, und was den Hörern des Spieles besonders
Vergnügen machen sollte, den Septangeln, Triangeln und Sambykai
und allen denjenigen, die Fingerfertigkeit erfordern.
Einleuchtend ist auch die von den Alten über die Flöte erzählte Sage;
sie erzählen, Athena habe sie erfunden und dann weggeworfen. Und
mit Recht heißt es, die Göttin habe es getan, weil sie sich darüber
geärgert habe, wie sehr das Instrument das Gesicht entstellt. Noch
wahrscheinlicher ist es allerdings, daß eben der Flötenunterricht für
den Intellekt nichts bedeutet; Athene aber ist für uns die Göttin des
Wissens und der Kunst.
Wir lehnen also die spezialistische Ausbildung in den Instrumenten
und der Ausübung ab. Dabei nenne ich spezialistisch jene, die für die

XI
Aristoteles Politik - VIII. Buch

Wettkämpfe geschieht. Da arbeitet man nicht zu seiner eigenen


Vervollkommnung, sondern zum Vergnügen der Zuhörer, und zwar zu
einem ordinären Vergnügen, da wir eine solche Ausbildung nicht als
edel, sondern als knechtisch ansehen; und bei ihr wird man Banause.
Denn das Ziel, worauf sie hinstreben, ist schlecht. Der Hörer ist
ordinär und beeinflußt die Musik, so daß er auch die Künstler so
werden läßt, wie er es wünscht, und ebenso werden die Körper durch
die Bewegungen.

7. Nun haben wir auch von den Harmonien und Rhythmen im


Hinblick auf die Erziehung zu reden: soll man alle Harmonien und
Rhythmen anwenden oder unterscheiden, und gilt dieselbe
Unterscheidung auch für den Unterricht, oder gibt es drittens noch
eine andere? Wir sehen ja, daß die Musik in Lied und Rhythmus
besteht, und bei beiden muß man sich über den Einfluß auf die
Bildung klar sein. Und muß man eher die melodische oder die gut
rhythmische Musik vorziehen?
Wir glauben nun, daß hierüber manche gegenwärtige Musiker Gutes
gesagt haben und ebenso unter den Gelehrten diejenigen, die in der
musikalischen Erziehung Erfahrung besitzen; so können wir die an
solchen Fragen Interessierten für die Einzelheiten auf jene verweisen.
Hier sei nur schematisch und in großen Zügen geredet. Wir nehmen
die Unterscheidung an, die einige Gelehrte vorgenommen haben, die
die Lieder in ethische, praktische und enthusiastische teilten, und die
die Natur der Harmonien jeweils in bezug auf jene Typen bestimmten.
Wir behaupten weiterhin, daß die Musik nicht bloß einem einzigen
Zwecke dient, sondern mehreren: der Bildung und der Reinigung (das
Wort Reinigung sei hier einfach angewandt, Genaueres wird später in
den Untersuchungen über die Dichtung zu sagen sein) und drittens
dem geistigen Leben, der Lockerung und der Erholung von der
Anspannung. So ist es klar, daß man alle Harmonien anwenden soll,
aber nicht alle auf dieselbe Weise, sondern zur Erziehung die am
meisten ethischen, beim Anhören anderer, die spielen, die praktischen
und die enthusiastischen; denn jener starke Eindruck, der in einigen
Fällen die Seele ergreift, ist überall vorhanden, aber es kommt auf das

XII
Aristoteles Politik - VIII. Buch

Mehr oder Weniger an, wie bei Mitleid oder Furcht oder beim
Enthusiasmus. Durch solche Bewegungen werden einige Menschen
stark gepackt, bei den heiligen Gesängen aber sehen wir diese, wenn
sie die Seele beruhigende Töne vernehmen, sich sammeln, wie wenn
sie eine Heilung und Reinigung erführen. Dasselbe müssen auch die
zu Mitleid, Furcht oder sonstigen Affekten Geneigten erfahren, soweit
einen jeden dergleichen trifft, und alle erleben eine Reinigung und
eine angenehme Erleichterung. Und so verschaffen auch die
reinigenden Gesänge den Menschen eine unschädliche Freude.
So sollen denn in solchen Harmonien und Liedern jene wetteifern, die
sich mit Theatermusik beschäftigen. Der Theaterbesucher ist freilich
von doppelter Art, der eine frei und gebildet, der andere ordinär, ein
Banause und Taglöhner usw., und man muß auch diesen Leuten
Wettkämpfe und Schaustellungen zur Erholung darbieten. Aber bei
ihnen ist die natürliche Verfassung der Seele gewissermaßen
verbogen, und so gibt es denn auch bei den Harmonien die
Abweichungen und bei den Liedern das Angespannte und Kolorierte.
Denn jedem macht Vergnügen, was zu seiner Natur paßt, und so muß
man die Wettkämpfer entschuldigen, wenn sie diese Art von Zuschau-
ern eben mit solcher Musik unterhalten.
Was aber die Erziehung betrifft, wie gesagt, so muß man die ethischen
Liedformen und Harmonien anwenden. Solcher Art ist die dorische,
wie schon bemerkt. Man kann aber auch eine andere annehmen, wenn
jene sie uns empfehlen, die gleichzeitig in den philosophischen Fragen
und in der musikalischen Bildung Bescheid wissen. Sokrates im
»Staat« läßt mit Unrecht neben der dorischen nur die phrygische
Harmonie gelten, und dies, obschon er unter den Instrumenten die
Flöte verwirft. Dabei hat unter den Harmonien die phrygische dieselbe
Bedeutung wie unter den Instrumenten die Flöte. Beide sind
orgiastisch und leidenschaftlich. Das zeigen die Dichtungen. Denn
jede dionysische und verwandte Bewegung stellt sich unter den
Instrumenten am meisten in der Flöte dar, und von den Harmonien
sind es die phrygischen, in denen diese sich angemessen ausdrücken.
Und so scheint ja auch der Dithyrambos anerkanntermaßen phrygisch
zu sein. Dafür nennen die Fachleute viele Beispiele, vor allem, daß es

XIII
Aristoteles Politik - VIII. Buch

Philoxenos nicht gelang, seine Mythen in dorischer Harmonie zu


komponieren, sondern unter dem Zwang der Natur selbst geriet er zur
phrygischen Harmonie als zur angemessenen. Über die dorische sind
alle einig, daß sie am ruhigsten ist und am meisten männlichen
Charakter zeigt. Da wir ferner die Mitte zwischen den Extremen loben
und behaupten, daß man sie zu suchen habe, so hat eben die dorische
Harmonie diese Natur im Verhältnis zu den anderen, und so sollen
denn auch die jungen Leute vorzugsweise mit dorischen Liedern
unterrichtet werden.
Es gibt aber da zwei Ziele, das mögliche und das passende. Denn jeder
muß vor allem nach dem Möglichen streben und nach dem Passenden.
Auch dies richtet sich nach den Lebensaltern: denn die im Alter
Ermatteten werden nicht leicht die erregten Harmonien singen können,
sondern solchen legt die Natur die sanfteren vor. Darum machen
einige Musiker auch darin dem Sokrates mit Recht einen Vorwurf, daß
er die sanfteren Weisen von dem Unterricht ausschloß, da er sie für
berauschend hielt, nicht im Sinne des Weins (denn dieser peitscht
vielmehr auf), sondern einschläfernd. Darum muß man auch für das
spätere Alter sich auch an solche Harmonien und entsprechende
Lieder halten. Und wenn es endlich eine Harmonie gibt, die dem
Knabenalter entspricht, weil sie bildend und zugleich disziplinierend
wirkt, so mag dies von allen Harmonien am meisten die lydische sein.
Demnach soll man diese drei Grundsätze für die Erziehung festhalten:
das Maß, das Mögliche und das Passende.

XIV

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