Vous êtes sur la page 1sur 26

Universität Postdam

Institut für Künste und Medien – AVL


WS 09/10
Hausarbeit: Philip Ketzel
Note: 1,3
überarbeitet am 24.5.2011

Literarische Heterotopien
in Paul Austers
Stadt aus Glas
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung .............................................................................................................. 3

2. Heterotopien als Raumkonzept ............................................................................... 6

2.1. Foucaults Heterotopiebegriff ......................................................................... 6

2.2. Literarische Heterotopien nach Warning ....................................................... 9

3. Literarische Heterotopien in Austers Stadt aus Glas ............................................. 10

3.1. New York, die heterotope Stadt ................................................................ 10

3.2. Die heterotope Wohnung der Stillmans ..................................................... 16

3.3. Der heterotope Text .................................................................................. 17

3.3.1. Wandern, Navigieren und Kartieren ................................................... 17

3.3.2. Detektive sind Schriftsteller ............................................................... 20

3.3.3. Paul Austers Spiegel .......................................................................... 21

4. Fazit ..................................................................................................................... 25

5. Literaturverzeichnis ............................................................................................. 26

Ketzel 2
1. Einleitung
Zu allererst muss man aufräumen, um die Ordnung der Dinge zu verstehen. Was
sich hinter dieser Aussage versteckt, ist der Versuch in einen Diskurs einzusteigen, der
momentan aktueller denn je zu sein scheint. Die Rede ist vom Diskurs der Raumtheorie,
der, mit dem Ausruf einer paradigmatischen Wende, „de[n] Raum zu einer neuen, viel
diskutierten Leitkategorie der Kultur- und Sozialwissenschaften“1 avancieren ließ. Inte-
ressanter Weise gibt es drei unterschiedliche Bezeichnungen für diese Wende. So wird
sie entweder als „Spatial Turn“, als „Topological Turn“ oder als „Topographical Turn“
bezeichnet. Diese unterschiedlichen Bezeichnungen, als auch die dazu zahlreich er-
schienenen Monographien und Sammelbände lassen erkennen, dass man es mit einem
stark und zum Teil auch kontrovers diskutierten Thema zu tun hat. All den Positionen
liegt jedoch ein Raumverständnis zugrunde, das „Raum in seiner Vielfalt als reales und
imaginäres Wirkungsfeld, in der spekulativen Entfaltung des Begriffs, als theologische
Vorstellung, als Topik und Semantik des Ortes, als Metapher, als geographische, recht-
liche und historische Kategorie, als Heils- und Kulturraum, als musikalische Größe oder
als Bildraum“2 versteht. Es hat sich „die Erkenntnis von einem ‚vielgestaltigen Relati-
onsraum‘ durchgesetzt, der unabhängig von fest gefügten räumlichen Grenzen sozial
und temporär definiert ist.“3 Die Vorstellung eines Containerraums wie sie bei Euklid,
Descartes und Newton anzutreffen war, hat ausgedient. Der relative topologische Raum
von Leibnitz ist nun die wiederendeckte Grundlage. 4

Es ist wohl auch der Aktualität dieser paradigmatischen Wende zuzuschreiben, dass
im Wintersemester 09/10 an der Universität Potsdam ein Hauptseminar angeboten wur-
de, dessen Ziel darin bestand, den Studenten ein Verständnis vom Diskurs der
Raumtheorie aus der Perspektive der allgemeinen und vergleichenden Literaturwissen-
schaft zu vermitteln. So schreibt dann auch die Dozentin der Seminars Frau Dr. Krüger:

Was Kartographie und Literatur vor allem verbindet, ist, dass sie die Welt nicht ein-
fach abbilden, sondern über Räume Weltbilder und Lebensstile konstruieren. Es ist die
Lust am Symbolischen, Bewegungen abzubilden und Navigation zu ermöglichen. 5

1
Klumbies, Paul-Gerhard, Ingrid Baumgärtner, und Franziska Sick. Raumkonzepte: Disziplinäre Zugän-
ge. Göttingen: V&R unipress, 2009, S. 9.
2
Ebd., S. 12 -13
3
Ebd., S. 13
4
Für einen genaueren Überblick zum Diskurs der Raumtheorie sei hier auf die im Literaturverzeichnis
aufgelisteten Texte von Günzel, Dünne, Klumbies et al. und Engelke verwiesen.
5
Von Dr. Brigitte Krügers Einführung des Seminarplans entnommen.

Ketzel 3
Das Hauptaugenmerk lag dabei auf postmoderner Literatur, deren Rezeption gerade
durch die Betrachtung der verwendeten Raumkonzepte einen produktiven Sinnhorizont
eröffnen kann.
Die vorliegende Arbeit ist ein Produkt solch einer Rezeption. Der rezipierte postmo-
derne Roman ist Paul Austers Stadt aus Glas. Es ist die Geschichte von Daniel Quinn,
einem Autor von Detektivromanen, der von Peter Stillman durch einen falschen Anruf
für den Privatdetektiv Paul Auster gehalten wird. Aus Neugier und dem Willen zu hel-
fen nimmt Quinn als Auster den Fall Stillman an. Peter Stillman hat nämlich den
Verdacht, dass sein gleichnamiger Vater, der ihn im Kindesalter missbrauchte und nun
aus dem Gefängnis frei kommt, ihn ermorden möchte. Quinn/Auster soll das verhin-
dern, indem er Stillman Sr. beschattet.
Das Genre der Detektivgeschichte ist zwar die Blaupause von Stadt aus Glas, am
Ende scheint es aber gar keinen Fall gegeben zu haben, dessen Aufklärung die Grundla-
ge bzw. den Plot einer solchen Geschichte ausmacht. Alison Russel spricht darum auch
von „Anti-Detective Fiction“, einer postmodernen Mutation der Detektivgeschichte, die
man an einer parodistischen Subversion der eigentlich typischen Zielgerichtetheit er-
kennt.6
Diese parodistische Subversion äußert sich auf verschiedene Weise. Wie eben er-
wähnt, kann der Protagonist Quinn den Fall nicht lösen, weil sich weder Auftraggeber
noch beobachtetes Subjekt erwartungsgemäß verhalten. Desweiteren ist der Text aber
auch eine Subversion von Literaturtheorie, weil Paul Auster z.B. mit der Autorität und
Anwesenheit des Autors im Text spielt. Wie William Lavender feststellt, wirft Auster
mit Stadt aus Glas die Frage auf, wie viele der normalen Qualitäten des Roman – die
ihm besonders durch die Theorien und Analysen durch die Literaturwissenschaft zuge-
wiesenen wurden – man in einer und durch eine Erzählung verwerfen, verstümmeln und
zerstören kann, ohne ihre Identifizierbarkeit als Roman zu negieren. 7 Dabei nähert sich
Lavender in seiner Analyse dieser Frage, indem er sich hauptsächlich auf eine Analyse
der Narration konzentriert.

6
Siehe Russel, Alison. „Dekonstructing The New York Trilogy: Paul Auster's Anti-Detective Fiction.“ In
Paul Auster (Bloom's Modern Critical Views), Herausgeber: Harold Bloom. Philadelphia: Chelsea
House, 2004. S. 97
7
Lavender, William. „The Novel of Critical Engagement: Paul Auster’s City of Glass.“ Comtemporary
Literatur, 1993, 34, No.2 Ausg. S. 219

Ketzel 4
Äußerst aufschlussreich ist Stad aus Glas aber auch, wenn man den Text auf die
Räumlichkeit hin untersucht, die in ihm und durch ihn erzeugt wird. Eine Analyse im
Hinblick auf die Art und Weise wie hier Raum produziert (Lefebrve) 8 oder wie Raum
praktiziert (Certeau)9 wird, böte sich z.B. für diesen Roman an, der durch seine An-
siedlung in New York auch ein Großstadtroman ist. Hier soll jedoch mit Hilfe von
Foucaults Heterotopiekonzept untersucht werden, wie die in Stadt aus Glas vorkom-
menden Räume als ‚andere‘ Orte funktionieren und wahrgenommen werden. Zunächst
muss dafür natürlich verdeutlicht werden, was für ein Raumkonzept Foucault mit dem
Begriff der Heterotopie entwirft. Soviel kann schon gesagt sein, es lässt sich aufgrund
seiner Ansiedlung im realen Raum nicht so einfach auf Literatur anwenden. Darum soll
zudem Rainer Warnings Interpretation der Heterotopien als Räume ästhetischer Erfah-
rung herangezogen werden. Denn mit Hilfe dieser Erweiterung des Foucault‘schen
Raumkonzepts kann gezeigt werden, dass New York, das Haus der Stillmans und der
Text selbst als Heterotopien verstanden werden können. Es sind andere Räume, durch
die die gewohnte Ordnung der Großstadt, Quinns Identität und die Ordnung des Detek-
tivromans hinterfragt, suspendiert, neutralisiert und zum Teil ins Gegenteil verkehrt
wird.
Aufgrund der Kürze der vorliegenden Arbeit verbleibt dabei die Argumentation je-
doch nur beispielhaft und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

8
Vgl. Lefebvre, Henri. „Die Produktion des Raums.“ In Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie
und Kulturwissenschaften, Herausgeber: Jörg Dünne und Stephan Günzel, 330 – 342. Frankfurt am
Main: Suhrkamp, 2006.
9
Vgl. Certeau, Michel de. „Praktiken im Raum.“ In Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und
Kulturwissenschaften, Herausgeber: Jörg Dünne und Stephan Günzel, 343 – 353. Frankfurt am
Main: Suhrkamp, 2006.

Ketzel 5
2. Heterotopien als Raumkonzept

2.1. Foucaults Heterotopiebegriff

Michel Foucaults Text „Von anderen Räumen“ von 1967, der auf zwei Radiovorträ-
gen von 1966 aufbaut und erst 1984 in Dits et écrits veröffentlicht wurde,10 ist einer der
prominentesten Bezugspunkte im Diskurs der Raumtheorie seit dem Spatial Turn.11 Wie
in diesem Text, als auch in seinem Werk Die Ordnung der Dinge erkennbar, vertritt
Foucault eine Position, die der dominierenden historischen Betrachtungsweise der Geis-
teswissenschaften eine räumliche entgegensetzt,12 da wir „im Zeitalter der
Gleichzeitigkeit, des Aneinanderreihens, des Nahen und Fernen, des Nebeneinanders
und des Zerstreuten“13 leben. Nachdem er sehr knapp die Geschichte des Raums nach-
zeichnet und zu der eben angedeuteten Vorstellung des Raums als „Form von
Relationen der Lage“ (VR 318) kommt, wendet er sich seinem Hauptanliegen, der Be-
schreibung von den ‚anderen Räumen‘, zu. Zu aller erst weist er darauf hin, dass er
nicht auf den heterogenen inneren Raum eingehen möchte, wie er von der Phänomeno-
logie beschrieben wird, sondern auf den äußeren. Dieser Raum, „in dem die eigentliche
Erosion unseres Lebens, unserer Zeit und unsrer Geschichte stattfindet, dieser Raum,
der uns zerfrisst und auswäscht, ist seinerseits heterogen“ (VR 319). Er wird durch eine
„Menge von Relationen, die Orte definieren, welche sich nicht aufeinander reduzieren
und einander absolut überlagern lassen“ (VR 320) aufgespannt.
Vom äußeren Raum möchte Foucault jedoch nur eine bestimmte Teilmenge an Or-
ten betrachten, nämlich solche,

denen die merkwürdige Eigenschaft zukommt, in Beziehung mit allen anderen Orten
zu stehen, aber so, dass sie alle Beziehungen, die durch sie bezeichnet, in ihnen ge-
spiegelt und über sie der Reflexion zugänglich gemacht werden, suspendieren,
neutralisieren oder in ihr Gegenteil verkehren. (VR 320)

Diese Orte sind für ihn die Utopien und die Heterotopien. Mit Utopie meint Foucault all
die Orte, die keinen realen Raum einnehmen, sondern stets in einem irrealen bzw. ima-
10
Warning, Rainer. Heterotopien als Räume ästhetischer Erfahrung. München: Wilhelm Frink, 2009. S.
39
11
Vgl. Günzel, Stephan. „Spatial Turn – Topographical Turn – Topological Turn. Über die Unterschiede
zwischen Raumparadigmen.“ In Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwis-
senschaften, von J. Döring und T. Thielmann, 219-237. Bielefeld: transcript, 2009. S. 219
12
Ebd.
13
Foucault, Michel. „Von anderen Räumen.“ In Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und
Kulturwissenschaften, Herausgeber: Jörg Dünne und Stephan Günzel, 317-330. Frankfurt a.M.:
Suhrkamp, 2006. S. 317 – Im Folgenden wird auf diesen Text direkt mit der Abkürzung VR und der
Seitenzahl verwiesen.

Ketzel 6
ginären Raum verbleiben. 14 Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie „in einem allgemei-
nen, direkten oder entgegengesetzten Analogieverhältnis zum Realen Raum der
Gesellschaft stehen“ (VR 320) und somit ein vervollkommnetes Bild oder ein Gegen-
bild der Gesellschaft sind. Die Heterotopien können dagegen als Manifestation der
Utopien verstanden werden, da sie institutionelle Orte im realen Raum der Gesellschaft
sind. Ähnlich der Utopien, zeichnen sich die Heterotopien dadurch aus, dass in ihnen
„all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert,
in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden“ (VR 320).
Die enge Verbindung, die zwischen der Utopie und der Heterotopie besteht, kann
laut Foucault mit Hilfe des Spiegels erfahren werden. Denn das Spiegelbild befindet
sich, gleich der Utopie, in einem irrealen bzw. virtuellen Raum, an einem Nicht-Ort.
Gleichzeitig ist der Spiegel aber ein realer Ort in dem man sich durch die Reflexion von
einer Außenperspektive wahrnimmt. Was den Spiegel nun zu einer Heterotopie macht,
ist eben dieses gleichzeitige Außerhalb- und Innerhalb-Sein, also einerseits an einem
gänzlich anderen (virtuellen) Ort zu sein und dennoch mit der realen Umgebung ver-
bunden zu bleiben. Rainer Warning bezeichnet diesen Aspekt der Heterotopie auch als
„heterotope Inversion: eine Reflexionsfigur, die eine Außenperspektive konstituiert,
deren ‚Ursprung‘ in der Tiefe des virtuellen Raums hinter dem Glas zu verorten wä-
re.“15
Nachdem Foucault mit dem Spiegelbeispiel die wohl grundlegende Funktionsweise
der Heterotopien gegeben hat, beendet er seinen Text mit der Einführung einer Methode
für eine systematische Beschreibung von Heterotopien. Er nennt diese Methode Hetero-
topologie und gibt für sie sechs Grundsätze an:
1. Heterotopien kommen in jeder Kultur vor und sind dem zeitlichen Wandel
unterworfen. Sie können ganz unterschiedliche Formen annehmen. Es gibt keine
absolut universelle Heterotopie. 16 Als Beispiel nennt Foucault die
‚Kriesenheterotopien‘ ‚primitiver‘ Gesellschaften („privilegierte, heilige oder ver-

14
Es ist meines Erachtens hier wichtig darauf hinzuweisen, dass Foucault keine Unterscheidung zwischen
dem Ort und dem Raum zu machen scheint, da er z.B. die Heterotopien sowohl als die „andersarti-
gen Räume“, als auch die „anderen Orte“ (S. 321) beschreibt. Deshalb wird auch in der
vorliegenden Arbeit, wenn von Heterotopien die Rede ist, Ort und Raum z.T. synonym verwendet,
weil es sich dabei um geographische Orte handelt, die aufgrund ihrer Ausdehnung ja auch immer
einen Raum darstellen (Bsp. New York).
15
Warning 2009, S. 14
16
An dieser Stelle könnte man aber fragen, warum der Spiegel nicht eine universelle Heterotopie ist; kann
man doch davon ausgehen, dass selbst Kulturen ohne einen Spiegel als Artefakt sich als Spiegelbild
im Wasser erkennen.

Ketzel 7
botene Orte“ (VR 322) für Menschen in Krisensituation wie Geburt, Tod etc.), wel-
che in unserer Gesellschaft durch heutige ‚Abweichungsheterotopien‘ (wie Sa-
Sanatorien oder Gefängnissen) substituiert wurden.
2. Die Funktionsweise einer Heterotopie kann sich im Laufe der Zeit verändern.
So wie Beispielsweise „die im 19. Jahrhundert einsetzende Auslagerung […] der
‚Friedhofsheterotopien‘ vom Ortszentrum an die Peripherie mit einer neuen Einstel-
lung zum Tode, der als Krankheit stigmatisiert wird.“17
3. „Heterotopien besitzen die Fähigkeit, mehrere reale Räume, mehrere Orte, die
eigentlich nicht miteinander verträglich sind, an einem einzigen Ort nebeneinander
zu stellen.“ (VR 324) Beispiele dafür sind das Kino, das Theater und der Garten.
4. „Heterotopien stehen meist in Verbindung mit zeitlichen Brüchen“ und be-
ginnen „erst dann voll zu funktionieren, wenn die Menschen einen absoluten Bruch
mit der traditionellen Zeit vollzogen haben.“ (VR 324) Beispiele hierfür sind: der
Friedhof, Zeit akkumulierende Orte wie Bibliotheken und Museen, aber auch kurz-
fristige Feste, wie der Jahrmarkt.
5. „Heterotopien setzen stets ein System von Öffnung und Abschließung vo-
raus, das sie isoliert und zugleich den Zugang zu ihnen ermöglicht.“ (VR 325) So
gibt es z.B. Rituale bevor man eine Heterotopie betritt (Gefängnis, Hammam). Ein
anderes Beispiel ist die Heterotopie der südamerikanischen Kammer, die man als
Zufluchtsort benutzen kann, ohne wirklich im dazugehörigen Anwesen zu sein.
6. Heterotopien üben gegenüber dem Raum eine Funktion aus, die entweder il-
lusorisch oder kompensierend ist. Sie sind illusorisch, wenn sie die reale Welt als
noch größer Illusion entlarven (Bsp. Freudenhäuser) und kompensierend, wenn sie
einen anderen Raum schaffen, „der im Gegensatz zur wirren Unordnung unseres
Raumes eine vollkommende Ordnung aufweist“ (VR 326), wie z.B. Kolonien.

Mit Heterotopie meint Foucault also einen realen, institutionellen Ort (bzw. Raum),
der mit allen anderen Orten in antagonistischer Beziehung steht und sie dadurch reprä-
sentiert, hinterfragt und ins Gegenteil verkehrt. Darum ist das Beispiel mit der
Erfahrung des eigenen Spiegelbildes auch so bezeichnend für die Heterotopie.

17
Warning 2009, S. 13

Ketzel 8
2.2. Literarische Heterotopien nach Warning

Nun stellt sich jedoch die Frage, wie man das Raumkonzept der Heterotopie auf Li-
teratur anwenden kann, da die von Foucault gegebenen Beispiele in erster Linie der
realen Welt und nicht der fiktiven angehören. Rainer Warning hat sich in seinem Buch
Heterotopien als Räume ästhetischer Erfahrung dieser Aufgabe gewidmet und Fou-
caults Raumkonzept für die Literaturwissenschaft anwendbar gemacht.
18
So schreibt Warning, dass literarische Heterotopien dann entstehen, wenn ein
„schreibende[s] Subjekt“ den realen Raum imaginativ „als einen ‚anderen Raum‘“ er-
fährt und festhält. Dabei können durch die allgemeine Vorstellung, die Warning „das
soziale Imaginäre“ nennt, die „bereits gegebene[n] Besetzungen“ des realen Raumes mit
den imaginären Erfahrung und Festschreibung des schreibenden Subjekts korrespondie-
ren, „wie das für die meisten Beispiele des Foucaultschen Katalogs gilt“. Dies muss
aber nicht der Fall sein. Wichtig ist nur, dass der reale Raum Merkmale aufweist, „die
ihn so auszeichnen, dass sie das Subjekt zu einer heterotopen Interpretation einladen.“
Somit werden literarische Heterotopien, und das ist die Kernthese Warnings, zu Räu-
men ästhetischer Erfahrung.
Vittoria Borsò sagt, dass der Spiegel zur Heterotopie wird, „wenn das Medium für
die Projektion des Selbstbilds durch das Auge nicht mehr transparent ist, sondern wenn
es sich wiedersetzt, opak wird, so dass der Blick aus dem Spiegel wie der eines Frem-
den zurückschaut.“19 Literatur kann zu einem solchen opaken, wiedersetzenden Medium
werden. Denn die konterdiskursive Eigenschaft eines literarischen Texts ermöglicht eine
Außenperspektive zu den Diskursen, in denen er eingebettet ist, aber aus denen er sich
durch seine Literarizität auch gleichzeitig ausbettet. Literatur deswegen generell als
heterotopisch zu verstehen, lehnt Warning jedoch als zu breit gefasste These ab. 20
Für ihn muss ein besonderes Kriterium erfüllt sein, damit ein Text als literarische
Heterotopie verstanden werden kann. Es ist die Art und Weise, wie das Mittel der Wie-
derholung im Text eingesetzt wird, um das Medium Text als eben diesen opaken und
wiedersetzenden Spiegel zu erzeugen. Die ‚heterotope Inversion‘ muss „die potentielle

18
Warning 2009, S. 21-22
19
Borsò, Vittoria. „Grenzen, Schwellen und andere Orte.“ In Kulturelle Topografie, Herausgeber: Rein-
hold Görling, 13-41. Stuttgart/Weimar, 2004. S. 29
20
Vgl. Warning 2009, S. 24ff

Ketzel 9
Unendlichkeit der Wiederholung“21 zu einem besonderen Abschluss bringen. Dieser
Abschluss ist dadurch gekennzeichnet, dass

Endmarkiertheit entweder durch ostentative Offenheit substituiert wird oder durch


hybride Formen wie ein Spiel mit mehreren möglichen Enden oder einem Ende, das
sich anzukündigen scheint und dann doch ausbleibt.22

Mit seiner Interpretation des Heterotopiebegriff von Foucault, erweitert Warning


diesen dahingehend, dass der Aspekt des Institutionellen wegfällt, weil die Heterotopie
als Raum ästhetischer Erfahrung nur an ein imaginär erfahrendes Subjekt gebunden
wird. So sagt er dann auch:

Wenn Foucaults Katalog sich aufs Imaginäre öffnet, so zeigt sich darin schon, dass
jede Homotopie zu einer Heterotopie mutieren kann. […] Literarische Heterotopien
konstituieren sich in solchen Begegnungen von Stimuli des Imaginären mit einem
Subjekt, das sich von ihnen affizieren lässt.23

Somit lassen sich fiktive Räume als Heterotopien im Sinne Foucaults verstehen, sofern
diese Räume von einem Subjekt als ‚andere Räume‘ imaginär erfahren werden. Wenn
nun im folgenden von Heterotopien gesprochen wird, sodann von literarischen
Heterotopien, die nach Warning Räume ästhetischer Erfahrung sind. Wie und warum
Paul Austers Stadt aus Glass solche Heterotopien erzeugt, soll nun anhand der folgen-
den Analyse beispielhaft gezeigt werden.

3. Literarische Heterotopien in Austers Stadt aus Glas

3.1. New York, die heterotope Stadt

Rufen wir uns nochmal in Erinnerung, was Literatur und Kartographie laut Krüger
gemein haben. Sie bilden Räume ab, die Weltbilder und Lebensstile konstituieren. Man
navigiert durch diese Räume, bewegt sich auf ein Ziel zu, auch wenn der Weg das Ziel
sein kann. In Stadt aus Glass ist es primär der Raum der Stadt New York durch den
Quinn navigiert, um den Fall Stillman zu lösen. Nun wird aber gleich zu Beginn der
Geschichte Quinns New York als ein Raum beschrieben, der im Widerspruch zum nor-
malen Stadtbild steht. So ist die Großstadt normalerweise doch ein geordneter Raum,
weil sie z.B. durch Straßen, Viertel, Bus- und U-Bahnlinien den Handlungsfreiraum

21
Ebd., S. 28
22
Ebd.
23
Ebd., S. 29

Ketzel 10
kartographiert. Diese Karten sind für die Einwohner der Großstadt identitätsstiftend,
weil sie die Wahrnehmungs- und Handlungsgrundlage ausmachen, die es ihnen erst
ermöglicht sich in der Großstadt zurecht zu finden. Um sein Ziel zu erreichen, geht man
so und so viele Blocks, nimmt einen bestimmten Bus zu einer bestimmten Zeit, wohnt
in einem bestimmten Viertel aber kauft in einem anderen ein etc. Die Großstadt ist
zweck- und zielorientierend organisiert und ermöglich so, dass man durch sie hindurch
navigieren kann. Bei Quinn sieht das jedoch anders aus. Wenn er durch die Straßen
New Yorks geht, wird die Stadt zu einem „unerschöpflichen Raum, ein[em] Labyrinth
von endlosen Schritten, und so weit er auch ging, so gut er auch seine Viertel und Stra-
ßen kennenlernte, es hinterließ in ihm immer das Gefühl, verloren zu sein.“ 24 Die Rede
ist hier von dem Quinn, der noch nicht zum Privatdetektiv Auster geworden ist. Es ist
der Quinn, der sich bewusst von der Welt entfremdet, sie „außerhalb seiner selbst“ (SG
10) bringt, indem er „[d]urch das ziellose Wandern […] alle Ort gleich“ (SG 10) werden
lässt. Damit hebt er die Topologie der Stadt auf, weil es auf seinen Wanderungen egal
ist, ob er sich etwa in der Nähe des Central Parks oder in irgendeiner kleinen Gasse
befindet. Das Wandern ist wie ein Ritual, das es Quinn erlaubt dieses andere New York
zu betreten. Die Stadt wird zum Ausgleichsraum, ein für Quinn utopischer anderer
Raum, in dem er seinem Leben aus dem Weg gehen kann. New York wird durch das
Wandern zu einer Utopie, es ist das „Nirgendwo, das er um sich her aufgebaut hatte“
(SG 10). Weil die Straßen, in denen er wandert, aber einen realen Raum bilden, wird
New York durch Quinns Wandern zu einer gewollten, illusorischen Abweichungs-
heterotopie. Sie ist illusorisch, weil sie für Quinn das Gefühl, an einem normalen realen
Ort glücklich zu sein, als Illusion entlarvt.
Warum genau er aus der normalen Welt in diesen Raum flieht, wird uns von der Ge-
schichte nicht verraten. Der zum größten Teil heterodiegetische und in der dritten
Person, aus Quinns Perspektive berichtende Erzähler – auf den wir später noch zurück-
kommen werden – lässt uns gleich zu Beginn der Geschichte wissen, das „wir uns [mit
Quinn] kaum aufzuhalten“ brauchen, denn „[w]er er war, woher er kam und was er tat,
ist nicht so wichtig.“ (SG 9) Sein Wandern in New York und die damit verbundene
Reduktion seines Selbst auf die „Bewegung der Straßen“ (SG 10) ist neben den Tatsa-
che, vielmehr nur durch die imaginierten Aliase des Detektivromanautors William

24
Auster, Paul. Die New York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen. Hamburg:
Rowohlt, 2007. S. 10 – Im Folgenden wird der Text mit der Abkürzung SG und der Seitenzahl zi-
tiert.

Ketzel 11
Wilson und dessen Serienheld Max Work mit der Außenwelt verbunden zu sein, so
ziemlich das ein Einzige, was man über ihn erfährt. Es wird zwar hin und wieder kurz
angedeutet, dass er seine Frau und seinen Sohn durch den Tod verloren hatte, aber ob er
sich deshalb beim Wandern verlieren wollte, bleibt ungewiss.

In dem Moment, wo Quinn als Paul Auster den Auftrag Stillman Sr. zu beschatten
annimmt, ändert sich zwar nichts an der Tatsache, dass New York als illusorische
Heterotopie ästhetisch erfahren werden kann, aber dieser Raum wird nun heterogener,
weil er sich perspektivisch aufteilt.
Zum einen ist es eine Heterotopie aus der Perspektive von Peter Stillman Sr., der sie
betritt durch ein Ritual des Suchens und Einsammelns von verschiedenen Gegenstän-
den. Dieses Ritual zeichnet sich dadurch aus, dass es einerseits, wie bei Quinn, ein ziel-
und orientierungsloses Wandern ist, andererseits, „[s]o zufällig seine Wanderungen
auch zu sein schienen – er schlug jeden Tag eine andere Route ein“ und überschritt nie
die Grenzen des Gebietes „zwischen der 110th Street im Norden, der 72nd Street im
Süden, dem Riverside Park im Westen und der Amsterdam Avenue im Osten.“ (SG 75)
Stillman läuft dabei auf eine bestimmte Art und Weise, „so als müßte jeder Schritt ge-
wogen und gemessen werden, bevor er seinen Platz in der Gesamtheit der Schritte
einnehmen konnte.“ (SG 74) Mit diesem Handeln wird New York für Stillman zu einem
anderen Ort. Für ihn ist „[d]ie ganze Stadt ein Schrotthaufen“ (SG 97). Es ist ein Ort,
der einer „prähistorischen Ruinenstätte“ (SG 75) ähnelt, einem Sammelsurium von Zer-
brochenem, das Stillman durch Neubenennung wieder zusammenfügen möchte, um
dadurch den ersten Schritt hin zum Paradies auf Erden zu machen.
Die Funktion dieses anderen Raumes ist also illusorisch. Stillman hat ein utopisches
Bild von der Stadt. Sie verkörpert sein Weltbild, eine Welt nach dem Fall aus dem Pa-
radies, eine Welt, die durch die Sprachverwirrung seit dem Turm zu Babel zerbrochen
ist und den Menschen somit die Glückseligkeit versagt. Stillmans New York spiegelt
die Welt auf solch eine Art und Weise, dass sie als Chaos erscheint, weshalb hier auch
nicht nur die Ordnung der Stadt negiert wird. Vielmehr wird durch die Utopie Stillmans,
mit Hilfe der Neubezeichnung von New Yorks Bruchstücken zu der vorbabylonischen
Ursprache zurückzukehren, die Möglichkeit, in der normalen Welt eindeutige
Signifikationen zu erzeugen, als die noch viel größere Illusion betont. In Stillmans Han-
deln hat man es mit einer heterotopen Inversion zu tun, die aufzeigt, dass Sprache nicht
wirklich im Stande ist die Dinge in der Welt präzise zu bezeichnen. Sein New York ist

Ketzel 12
ein Spiegel, der einem die Derrida‘sche différance vor Augen hält, und deshalb die
Ordnung der Welt, mit all ihren Karten, der Reflexion zugänglich macht und sie hinter-
fragt.25 So ist z.B. der Schirm nicht mehr der Schirm, wenn der tatsächliche Gegenstand
nicht mehr vor dem Regen schützt.

Es ist ungenau, es ist falsch, es verbirgt das Ding, das es enthüllen soll. Und wenn wir
nicht einmal einen gewöhnlichen Gegenstand benennen können, den wir in der Hand
halten, wie wollen wir dann von den Dingen sprechen, die uns wirklich etwas ange-
hen? (SG 97)

Auch Urs Urban weist auf diese Eigenschaft der Heterotopie hin, wenn er sagt:

Während das Modell der Isotopie die Topologie der immer gleichen Verortung des
Signifikats in einer Struktur veranschaulicht, beschreibt im Gegenteil die Heterotopie
die Verstreutheit des von der différance aufgeschobenen Signifikats in einem von der
Kette der Signifikanten gebildeten rizomatischen Raum.26

Stillmans New York wird zu einem anderen, von der Norm abweichenden Ort, weil
durch die heterotope Inversion die Ordnung und Rechtmäßigkeit der Stadt in Frage ge-
stellt und sogar abgelehnt wird. Die Stadt aus Glas zerbricht und wird so als nicht mehr
durchsichtig, deutlich und erkennbar erfahren. Man könnte soweit gehen und sagen,
dass es sich um eine Krisenheterotopie handelt, weil sich Stillman Sr. in einer Krise
befindet. Er allein muss die Aufgabe bestreiten, die Bruchstücke wieder zusammenzu-
setzen: „‘Sehen Sie, die Welt liegt in Trümmern, Sir. Und es ist meine Aufgabe, sie
wieder zusammenzusetzen.‘“ (SG 95) Und New York ist der Raum, in dem die Krise
überwunden werden soll.
Stillmans New York ähneln irgendwie auch einem Museum, und zwar insofern, als
dass es durch die Dinge, die Stillman aufsammelt, eine Vergegenwärtigung von vergan-
genem Wissen ermöglicht. Die Dinge hatten einmal eine konkrete Bedeutung, doch sie
ging verloren, und die Dinge wurden zu Müll. Für Stillman wurde das Alte jedoch nicht
zu Müll, sondern zu etwas Neuem. Durch das Sammeln und Klassifizieren bzw. Benen-
nen dieser Dinge holt sie Stillman zurück in den Lebensraum, aus dem sie wegen ihrer
Unbrauchbarkeit ausgeschlossen wurden. Er versucht dadurch, das vergangene Wissen
um die universale Sprache zu vergegenwärtigen. New York wird infolgedessen zu ei-
nem Museum der neuen Dinge. Man hat also auch die zeitlichen Brüche, die
Heterochronien, die nach Foucault mit den Heterotopien einhergehen.

25
Vgl. Springer, Carsten. Crises: The Works of Paul Auster. Frankfurt am Main: Peter Lang GmbH,
2001. S.100
26
Urban, Urs. Der Raum des Anderen und Andere Räume: Zur Topologie des Werkes von Jean Genet.
Würzburg: Königshausen & Neuman, 2007. S. 98-99

Ketzel 13
Neben dem anderen New York von Stillman gibt es nun aber auch das von Quinn.
Für ihn verändert sich die Funktion der Heterotopie durch die veränderten Zugangsbe-
dingungen zu ihr. Die Handlung, die Quinn nun vollführt, um in diesen Raum zu
gelangen, ist nicht mehr das gewollte ziellose Wandern, durch das er aufhören konnte
zu denken, sondern konstituiert sich aus den Handlungen seines Beschattens.

Er beobachtete nicht nur jede Geste Stillmans, beschrieb jeden Gegenstand, den er für
seine Tasche auswählte oder verwarf, und notierte den genauen Zeitpunkt jedes Ereig-
nisses, sondern zeichnete auch mit peinlicher Sorgfalt einen genauen Plan der Exkurse
Stillmans auf und vermerkte jede Straße, der er folgte, jede Wendung, die er machte,
und jede Pause, die eintrat. (SG 79)

Für Quinn wird New York zu dem Ort bzw. Raum, in dem Stillmans Bewegungen
einen Sinn ergeben sollen. Es ist der Handlungsraum des Detektivs, eine Heterotopie,
die durch das Zugangsritual der Beobachtung bzw. Beschattung die Orientierung verän-
dert. Man bewegt sich nicht mehr im Raum, um die eigenen Ziele zu verfolgen, sondern
man bewegt sich wie der Beschattete, um so verstehen zu können, was dessen Ziele
sind, um ihn zu überführen, oder wie im Falle von Quinn, um dadurch Stillman davon
abzuhalten seinen Sohn zu töten. Dieser Handlungsraum ist aber immer auch an einen
geographischen Raum gekoppelt, und auch die Zeit wird auf die neue Funktion des Be-
schattens hin ausgerichtet. Man richtet sich nicht nach seiner eigenen Uhr, sondern nach
der des Beschatteten.
Im Normalfall wäre der Raum des Detektivs eine kompensierende Heterotopie, weil
er die Unwissenheit aus dem Weg zu räumen sucht, die der Grund für den Auftrag ist.
Das trifft im Fall von Quinn aber nicht zu, denn er kann keine sinnvolle Motive in den
Handlungen und Bewegungen Stillmans erkennen.

Nicht ein einziges Mal versuchte er [Stillman], Verbindung mit seinem Sohn aufzu-
nehmen. […] Nach und nach fühlte sich Quinn seinen ursprünglichen Absichten
entfremdet, und er fragte sich nun, ob er sich nicht auf ein sinnloses Unterfangen ein-
gelassen hat. (SG 77)

Aus Verzweiflung darüber versucht er, seine Aufzeichnungen in Karten zu übertra-


gen und kommt dadurch zu den Mustern, die er als Buchstaben und letzten Endes als
die Phrase ‚The Tower of Babel‘ interpretiert. Diese Reflexion von Stillmans Bewegun-
gen bringen ihn aber auch nicht weiter. Selbst die drei Versuche, mit Stillman zu reden
und so mehr zu erfahren, scheitern. Einerseits erkennt Stillman ihn jedes Mal nicht wie-
der und andererseits scheinen Stillmans Erzählungen gar nichts mit dem Fall zu tun zu
haben, weil Stillman voll und ganz in seiner eigenen Welt lebt. Als dann Stillman auch

Ketzel 14
noch gänzlich von der Bildfläche verschwindet, gibt es erst recht keine Möglichkeit
mehr für Quinn, aus seinen Handlungen schlau zu werden. Er „war nun nirgendwo. Er
hatte nichts, er wußte nichts, er wußte, daß er nichts wußte.“ (SG 126) New York ist
somit für Quinn eine illusorische Detektivheterotopie.

Schließlich gibt es aber auch noch das New York, das zum Versteck vor dem Still-
man Haus wird, nachdem Quinn Stillman Sr. aus den Augen verloren hatte und er
Virginia Stillman nicht mehr erreichen kann. Die Handlung, die ihn diesen Raum betre-
ten lässt, ist ein erneutes zielloses Wandern durch die Straßen von New York. Nur
diesmal schaut er sich dabei um und entdeckt eine Seite von New York, die ihm so bis-
her nicht aufgefallen ist. Diesen Eindruck hält er in seinem Notizbuch fest:

Heute wie nie zuvor: die Obdachlosen, die Heruntergekommenen, die Frauen mit Ein-
kaufstüten, die Ziellosen, die Betrunkenen. Von lediglich Mittellosen bis zu den völlig
Elenden und Gebrochenen. Wohin man sich wendet, sie sind da, in guten und in
schlechten Vierteln. (SG 131)

Damit beschreibt Quinn ein New York, dass eine Abweichungsheterotopie darstellt.
Es ist eine illusorische Heterotopie, die zeigt, dass generell jeder Mensch zum Mittello-
sen werden kann. Denn es ist Quinn, der vom Schriftsteller ohne Überlebenssorgen zu
„einem Penner geworden“ (SG 145) ist, bei dem Versuch Stillman Sr. rechtzeitig abzu-
fangen. Quinn fängt an in diesem Raum zu leben. „Er war gleichsam mit den Mauern
der Stadt verschmolzen“. (SG 141) In sein normales Leben kann er nicht zurück, weil
„er seine Verbindung mit dem Fall noch nicht abbrechen konnte.“ (SG 135)
Auch die Zeit vergeht anders in diesem Raum. Quinn trainiert sich einen anderen
Ess- und Schlafrhythmus an. Es gibt Brüche in der Zeit, denn wie viel Zeit in dieser
Periode des Überwachens generell vergeht, bleibt unklar: „Eine lange Zeit verging. Wie
lange sie genau war, läßt sich unmöglich sagen. Sicherlich Wochen, aber vielleicht so-
gar Monate.“ (SG 137)

Man kann also zusammenfassend sagen, dass New York in Stad aus Glas entweder
als Abweichungsheterotopie, als Kriesenheterotopie, oder als Detektivheterotopie ver-
standen werden kann, und in jedem Fall haben diese Heterotopien eine illusorische
Funktion.

Ketzel 15
3.2. Die heterotope Wohnung der Stillmans

Zu aller erst betritt Quinn die Wohnung der Stillmans, nachdem er den mysteriösen
Auftrag angenommen hat. „Als er über die Schwelle ging, fühlte er eine Leere in sich,
als hätte sein Gehirn plötzlich abgeschaltet. […] Die Wohnung umgab ihn wie etwas
Verschwommenes.“ (SG 22) Dieser Raum öffnet sich ihm und bleibt doch verschlossen.
Er ist nur ein Gast, dessen Aufgabe es ist, sich mit dem Fall vertraut zu machen. Das zu
Hause, das es für die Stillmans ist, bleibt ihm verschlossen. Die Wohnung ist für ihn
auch ein Ort von zeitlichen Brüchen. Quinn merkt gar nicht wie die Zeit vergeht. Schon
beim Eintreten gibt es den ersten Zeitlichen Bruch, wenn es da heißt: „Plötzlich saß er
auf einem Sofa, […]“. (SG 22) Aber auch während der Gespräche mit Peter und Virgi-
nia Stillman vergeht die Zeit anders. Er hatte „dort mehr als vierzehn Stunden verbracht.
Er selbst hatte aber das Gefühl, daß sein Aufenthalt höchstens drei oder vier Stunden
gedauert haben konnte.“ (SG 48)
Für Peter und Virginia Stillman ist es dennoch kein gewöhnliches Zuhause. Sie sind
zwar verheiratet und leben dort zusammen, aber Virginia ist in Wirklichkeit Peters
Krankenschwester. Es ist ein Sanatorium, in dem Peter von Virginia nach seiner Entlas-
sung aus dem Krankenhaus weiter behandelt wird, um richtig Sprechen zu lernen und
generell ein halbwegs normaler Mensch zu werden. Damit ist es eine Heterotopie, wie
sie auch in Foucaults Katalog vorkommt.
Zu einem gänzlich anderen Ort wird die Wohnung der Stillmans schließlich, als
Quinn darin Zuflucht sucht, nachdem er erfahren musste, dass durch die lange Zeit, die
er in der Gasse vor dem Haus der Stillmans verbracht hatte, seine Wohnung, sein ei-
gentliches Zuhause, einfach weitervermietet wurde. Es ist zwar noch die Wohnung der
Stillmans, aber „[s]ie war vollkommen ausgeräumt worden“ (SG 152). Somit ist sie
nicht mehr das Zuhause bzw. das Sanatorium, dass sie davor war. Quinn vollzieht ein
Ritual der Reinigung, als er in diese Heterotopie gelangt.

Dann nahm er seine Uhr ab und steckte sie in die Tasche. Danach zog er sich ganz
aus, öffnete das Fenster und warf nacheinander alles in den Luftschacht, zuerst den
rechten Schuh, dann den linken Schuh, die eine Socke und die andere Socke, sein
Hemd, seinen Sakko, seine Unterhose, seine Hose. (SG 153)

Auch hier gibt es wieder Heterochronien. Die Tage werden schneller dunkel, ohne
das es mit dem Jahreszeiten zu tun hat. „Aber auch nachdem der Winter gekommen war
und sich der Prozess theoretisch hätte umkehren müssen, beobachtete Quinn, daß die
Perioden der Dunkelheit immer länger wurden als die Perioden des Lichts.“ (SG 157)

Ketzel 16
An dieser Stelle der Geschichte scheint ein als real dargestellter Ort zu einer wahren
Fiktion zu werden. Die Wohnung der Stillmans wird zur Utopie, wenn wie im Schlaraf-
fenland aus dem Nichts immer eine Mahlzeit für Quinn bereit gestellt und die stetig
wachsenden Dunkelheit mit dem „Knappwerden der Seiten im roten Notizbuch“ erklärt
wird. Die Wohnung wird zum Nicht-Ort, an dem Quinn nun gar „kein Interesse mehr an
sich selbst“ (SG 158) hat. Auch hier wäre es wohl am sinnvollsten diesen Raum bzw.
Ort als Krisenheterotopie zu beschreiben, denn Quinn befindet sich eindeutig in einer
Krise. Es ist so, als ob Quinn an diesen Ort zum Sterben kommt und sich von der Welt
verabschiedet. „Er erinnerte sich an die endlose Güte der Welt und aller Menschen, die
er je geliebt hatte. Nichts anderes zählte mehr als die Schönheit der von alldem.“ (SG
158) Genau an diesem Ort hört Quinn dann auch auf zu existieren. Es bleibt nur noch
sein Notizbuch von ihm übrig.

3.3. Der heterotope Text

Zu Beginn wurde gesagt, dass literarische Heterotopien Räume ästhetischer Erfah-


rung sind, weil man ähnlich wie beim Spiegel erfahren kann, wie der Raum der Utopie
mit dem realen Raum zusammenfällt. Dabei ist für die heterotope Inversion entschei-
dend, dass das ‚Spiegelbild‘ von der Utopie ausgehend dargestellt wird, wodurch der
Text als ein sich widersetzendes und opakes Medium wahrgenommen wird. Diese wi-
dersetzende Dichte der heterotopen Inversion im Text ist laut Warning an
Wiederholungen erkennbar, die zu offenen bzw. ausbleibenden Enden führen.

3.3.1. Wandern, Navigieren und Kartieren

In Stadt aus Glas gibt es viele solcher Wiederholungen. So ist zum Beispiel das
Laufen, Gehen oder Wandern ein wesentliches, wiederkehrendes Motiv im Text, das
aber zu keinem konkreten Ziel führt. Schon die Einführung dieses Motivs durch Quinns
Wandern in New York deutet dies an, da er sich ja selbst im Nirgendwo verlieren will.
Das Wandern bei Stillman Sr. und bei dem beschattenden Quinn unterscheidet sich
jedoch davon, weil es zu einem kartographierenden Gehen wird. Nun wird nicht mehr
ziellos durch die Stadt gewandert, sondern auf bestimmten Wegen durch sie hindurch
navigiert. Im Text spiegelt sich dieses kartographierende Gehen durch die Wiederho-
lungen von genauen Ortsangaben bzw. Wegrouten wieder. Zuerst erscheinen diese

Ketzel 17
Wegbeschreibungen nur ein Mittel der Narration zu sein, um beim Leser ein reale
Räumlichkeit zu erzeugen. So z.B., wenn Quinn sich auf den Weg in das Restaurant
macht, in dem er das rote Notizbuch kauft: „Er ging die 107th Street zurück, wandte
sich auf dem Broadway nach links, ging weiter in Richtung der Wohnviertel und sah
sich nach einem passenden Lokal um in dem er essen konnte.“ (SG 48) Quinns New
York wird dadurch für den Leser plastischer und realer.
Als Quinn dann aber die für ihn sinnlos erscheinenden Wanderungen des alten
Stillmans anfängt, in richtige Karten zu übertragen, bekommen die Wegbeschreibungen
in Stadt aus Glas eine tiefere Bedeutung. Doch diese Bedeutung wird nur angedeutet,
und ob sie wirklich sinnvoll ist, wird selbst durch eine Reihe von Wiederholungen im
Text hinterfragt.

Schrieb er Unsinn nieder? Vertrödelte er schwachsinnig den Abend, oder versuchte er,
etwas zu finden? Jede Antwort, erkannte er, war unannehmbar. Warum, wenn er ledig-
lich die Zeit totschlug, hatte er sich eine so mühsame Methode dafür ausgesucht? War
er so verwirrt, daß er nicht mehr den Mut aufbrachte zu denken? Andererseits, was
hatte er tatsächlich vor, wenn es sich nicht nur zerstreuen wollte? Es schien ihm, das
er nach Zeichen suchte. (SG 87)

Das Wandern wird als Zeichen verstanden und erzeugt sowohl bei Quinn, als auch beim
Leser die Hoffnung, dass dieses kartographierende Gehen zu einem Ziel führt, sodass
man den Sinn hinter den Handlungen der Charaktere durch diese Karten verstehen kann.
Zu aller erst sieht es auch so aus, als ob in den Bewegungen Stillmans eine Bedeutung
liegt. Indem Quinn die Zeichen der Bewegungen als die Phrase ‚The Tower Of Bable‘
interpretiert, macht er einen intratextuellen Verweis zu Stillmans Buch Der Garten und
der Turm: Frühe Visionen der Neuen Welt. Auch wenn Quinn mit dem alten Stillman
redet, wird eine Brücke zu Quinns Interpretation dieser Zeichen geschlagen, weil Still-
man durch seine Arbeit in New York versucht, die Sprachverwirrung von Babel
rückgängig zu machen. Danach verschwindet Stillman aber einfach aus dem Text und
mit ihm jede weitere Möglichkeit, seine in die Stadt geschriebenen Zeichen zu verste-
hen, bzw. auf die Verbindung zwischen der Arbeit Stillmans und dem Fall weiter
einzugehen. Hier wird also eine Endmarkiertheit angedeutet, die dann doch nicht weiter
ausgeführt wird. Die Karten von Stillmans Bewegungen bleiben nichts weiter, als
Quinns Wunsch, in den Bewegungen Zeichen zu sehen. Der Gedanke von New York als
Geburtsstätte für ein neues Paradies bleibt nur angedeutet.
Aber nachdem Stillman einfach aus der Geschichte verschwindet, gibt es im Text
eine weitere genaue Wegbeschreibung von Quinn. Es ist die Stelle, in der Quinn durch

Ketzel 18
die Straßen von New York läuft, nachdem er beim Schriftsteller Paul Auster war und
ihm die ganze Geschichte bezüglich des Falls erzählt hatte. Quinn wandert wieder, und
als er damit fertig ist, schreibt er „[z]um erstenmal, seitdem er das rote Notizbuch ge-
kauft hatte, […] etwas, was nichts mit dem Fall Stillman zu tun hatte.“ (SG 131) Es sind
die Beobachtungen der mittellosen Menschen auf den Straßen New Yorks, die Quinn
auf eben diesem Wandergang gemacht hatte. Quinn wird zum Flaneur und beendet dann
auch seinen Eintrag mit einem Zitat Baudelaires, dass er wie folgt übersetzt:

Mir scheint, daß immer dort glücklich wäre, wo ich nicht bin. Oder, gröber gesagt: Wo
ich nicht bin, ist der Ort, wo ich ich selbst bin. Oder, um den Stier bei den Hörnern zu
packen: überall außerhalb der Welt. (SG 134)

Das Motiv, dass die Schritte in der Stadt eine Bedeutung haben können, wird also
nicht aufgegeben. Das Wandern bekommt wieder die Bedeutung, die es zu Beginn bei
Quinn hatte. Es geht Quinn darum, „sich mit Äußerlichkeiten zu überflute[n] und sich
aus sich selbst herauszuschwemm[en], einen kleinen Grad von Kontrolle über seine
Anfälle von Verzweiflung“ (SG 78) zu gewinnen. Quinns Verzweiflung rührt in diesem
Fall von dem Verlust der Bedeutung, die Stillmans Zeichen in der Stadt hinterlassen
hatten, weil er mit dessen Verschwinden wieder „zum Anfang zurückgeschickt worden“
(SG 126) war.
Mit Quinn ist der Leser aber auch wieder am Anfang, was den Fall betrifft. Man
hofft, dass nun Quinns kartierte Bewegungen eine Bedeutung bekommen werden, be-
sonders als Quinn zum Ende der Geschichte in der Wohnung der Stillmans lebt und sich
fragt „wie die Karte aller Schritte, die er in seinem Leben getan hatte, aussehen mochte
und was für ein Wort man auf ihr lesen könnte.“ (SG 157) Der Text spielt weiter mit der
Möglichkeit, das die Einschreibungen in der Stadt eine Bedeutung haben. Diese Andeu-
tung wird jedoch nicht aufgelöst. Quinn verschwindet mit dem letzten Satz in seinem
Notizbuch. Es gibt keine Karte von Quinns Bewegungen, die man als Zeichen interpre-
tieren könnte. Quinns New York in Stadt aus Glas bleibt ein nichtlesbarer Raum.
Insofern wird der Text zum heterotopen Spiegel, in dem New York als anderer Raum
erfahren wird, weil die sich wiederholenden kartierten Bewegungen keine Bedeutung
bekommen.

Ketzel 19
3.3.2. Detektive sind Schriftsteller

Eng mit diesem Motiv verbunden, gibt es ein weiteres, sich wiederholendes Motiv,
das des Schriftstellers, der gleichzeitig Detektiv ist. Zum ersten Mal taucht es auf, wenn
in der Geschichte am Anfang erklärt wird, warum Quinn Detektivromane mag:

Der Detektiv ist einer, der beobachtet, der horcht, der sich durch den Morast von Din-
gen und Ereignissen bewegt auf der Suche nach dem Gedanken, der Idee, die alles
zusammenfasst und allem einen Sinn gibt. Tatsächlich sind der Schriftsteller und der
Detektiv austauschbar. Der Leser sieht die Welt mit den Augen des Detektivs und er-
lebt das Wuchern ihrer Einzelheiten wie zum ersten mal. (SG 15)

Dieses Motiv wiederholt sich zum einen in Quinn selbst. Er ist der fiktive Detektiv
Max Work, durch den er in der Welt seiner Bücher und in der Welt überhaupt lebt.
„Wenn Quinn es sich gestattet hatte, sich in die Grenzen eines sonderbaren und hermeti-
schen Lebens zurückzuziehen, so lebte Work weiter in der Welt der anderen“. (SG 16)
In dem Moment, wo Quinn den Fall Stillman annimmt, wird aus dem Schriftsteller und
fiktivem Detektiv Quinn/ Work dann der wirklich in der Geschichte wirkende Privatde-
tektiv Paul Auster. Aber auch als Privatdetektiv Auster bleibt Quinn indirekt ein
Schriftsteller, nämlich der seiner eigenen Geschichte, die durch das rote Notizbuch er-
zählt wird. Quinn ist also Schriftsteller und Detektiv in einem. Bei seiner Tätigkeit als
Privatdetektiv Auster scheint Quinn im Laufe des Falls jedoch etwas zu vergessen, was
er sich mit seinem ersten Eintrag im Notizbuch notierte: „Ich bin nicht engagiert worden
um zu verstehen – nur um zu handeln. Das ist etwas Neues. Etwas, was ich mir um je-
den Preis merken muß.“ (SG 52) Der Schriftsteller/Detektiv Quinn/Auster soll also gar
nicht den „Gedanken, die Idee, die alles zusammenfasst und allem einen Sinn gibt“ fin-
den. Er soll lediglich verhindern, dass der junge Peter Stillman von seinem Vater
ermordet wird. Quinn weicht von diesem reinen Handeln ab, wenn er versucht, einen
Zusammenhang zwischen den Bewegungen Stillmans und dem Fall zu finden. Er ist zu
sehr von all den Detektivgeschichten geprägt, die er so gerne liest, was man an dem
Verweis zu Poe’s Dupin erkennt: „Und dennoch, wie sagt Dupin bei Poe? ‚Eine Identi-
fikation des Verstandes des Denkenden mit dem seines Gegners.‘ Aber das würde hier
für Stillman Senior gelten.“ (SG 52) Das Motiv wird bei Quinn bis zum Schluss wie-
derholt. „Der letzte Satz im roten Notizbuch lautet: ‚Was wird geschehen, wenn in dem
roten Notizbuch keine Seiten mehr sind?‘“ SG 158) Es ist gerade diese für den Schrift-
steller und Detektiv offen bleibende Frage, die den Raum, in dem Quinn lebt, als
Heterotopie besonders deutlich erkennen lässt. Denn mit diesem letzten Satz ist Quinn

Ketzel 20
an einem ganz anderen Ort. Er existiert nun nur noch in seinem Notizbuch und in Aus-
ters Erinnerung.

Zum anderen wiederholt sich das Motiv des Schriftstellers, der auch Detektiv ist, im
Erzähler. Dieser meldet sich auf den letzten zwei Seiten des Textes zum ersten mal
selbst zu Wort und wechselt so seine Perspektive von der dritten Person in die Erste. Er
macht sich nun als Schriftsteller von Quinns Geschichte erkennbar, weil er es ist, der
Quinns rotes Notizbuch an sich nimmt und entschlüsselt. Dadurch wird auch er zum
Detektiv, weil er über das Notizbuch und das, was ihm sein Freund erzählte – der
Schriftsteller Paul Auster, den Quinn vergeblich um Rat fragte – versucht, den sinnge-
benden Gedanken in Quinns Geschichte zu finden. Doch ähnlich wie Quinn ist er kein
Detektiv, der versucht, einen Sinn zu finden, sondern nur der Handelnde. Er erzählt nur,
was passiert ist, weshalb die Geschichte dann auch nicht sagen muss, ob sie etwas be-
deutet. Dass er nur handelt, betont er auch nochmal zum Ende der Geschichte, wenn er
sagt, dass er sich bei der Entzifferung des roten Notizbuchs „aller Deutungen enthalten“
(SG 160) hat.
Auch bei dem Motiv der Kongruenz von Detektiv und Schriftsteller wird durch sei-
ne Wiederholung zuerst die Hoffnung erzeugt, dass es eine Zielgerichtetheit gibt, die
zum Ende des Romans erreicht wird. Doch letzten Endes bleibt diese Hoffnung uner-
füllt. Der Schriftsteller als Detektiv scheitert, weil er weder seine Aufgabe erfüllen,
noch einen Sinn finden kann.

3.3.3. Paul Austers Spiegel

Nun wurde schon erwähnt, dass die Geschichte laut dem Erzähler nicht sagen muss,
ob sie etwas bedeutet. Man hat also die Bedeutung vielmehr in dem zu suchen, was
nicht direkt gesagt wird. Zu solch einer Annahme verleitet eine zweite wichtige Stelle,
in der auf die enge Beziehung zwischen Detektiv und Schriftsteller verwiesen wird, in
der eindeutig gesagt wird, dass es eine Bedeutung gibt. Bei der Erklärung, warum
Quinn Detektivromane mag, steht nämlich auch:

Was ihn an den Geschichten, die er schrieb, interessierte, war nicht ihre Beziehung zur
Welt, sondern zu anderen Geschichten.
[…]
Im guten Detektivroman wird nichts verschwendet, kein Satz, kein Wort ist ohne Be-
deutung. Und selbst wenn es zunächst keine hat, steckt in ihm die Möglichkeit eine zu
haben – was auf dasselbe hinausläuft. (SG 15)

Ketzel 21
Hieran wird deutlich, dass es weniger der Raum ist, der von der Geschichte abgebil-
det wird, in dem die Bedeutungen eingeschrieben sind, als vielmehr der Textraum, den
die Geschichte selbst aufspannt. In diesem Raum muss nach der Bedeutung der Ge-
schichte gesucht werden. Deswegen sind Quinn und der Erzähler auch nicht im Stande,
einen Sinn zu liefern, weil sie nur Charaktere bzw. Orte der Geschichte sind, aus deren
Relationen sich die Bedeutung ergibt. Das Motiv des Schriftstellers als Detektiv ist hier
eine ‚bekleidete‘ Wiederholung, wie Deleuze sagen würde. Es wird wiederholt, aber die
Wiederholung verweist nun auf eine Veränderung des Motivs. Der Leser wird zum De-
tektiv, der die Schrift so zusammenstellen muss, dass sie einen Sinn ergibt, und der
reale Schriftsteller Auster wird zum ‚Täter‘, dem auf die Spur gekommen werden muss.
Besonders deutlich wird dies dann auch, wenn der Erzähler in den letzten Sätzen der
Geschichte sagt, dass Quinns rotes Notizbuch „natürlich nur die halbe Geschichte [ist],
wie jeder empfindsame Leser verstehen wird“ (SG 160). Die andere Hälfte des Ge-
schichte spielt sich eben auf der Seite des Lesers ab, weil er die Arbeit fortsetzten muss,
die von den Detektiven bzw. Schriftstellern der Geschichte unerfüllt bleibt.

Da eine der Thesen dieser Arbeit besagt, dass der Text von Stad aus Glas selbst eine
literarische Heterotopie darstellt, so muss es auch hier Wiederholungen geben, die die
heterotope Inversion markieren und deren Endmarkiertheit einen offenen Bruch hinter-
lässt. Die wohl auffälligste Wiederholung dieser Art ist der Name Paul Auster. Der
Schriftsteller des Romans schreibt sich nicht nur als fiktiven Charakter in Form des
Privatdetektivs, sondern sogar als einen fast autobiographischen Charakter in Form des
Schriftstellers in seine eigene Geschichte. Damit eröffnet er eine metafiktionale Ebene,
die dem Leser permanent vor Augen hält, dass es sich bei Quinns Geschichte um eine
Fiktion handelt, die von Paul Auster geschrieben wurde. Gleichzeitig versucht er jedoch
durch den Erzähler das Bild aufrecht zu erhalten, dass es sich um eine auf Fakten beru-
hende Geschichte handelt:

Da sich diese Geschichte voll und ganz auf Tatsachen gründet, hält es der Autor für
seine Pflicht, die Grenzen des Nachprüfbaren nicht zu überschreiten und den Gefahren
der Erfindung um jeden Preis auszuweichen. (SG 137)

Es wird dadurch mit der Frage nach der wahren Autorschaft des Romans gespielt.
Dieses Spiel wird sogar noch expliziter, wenn der Protagonist Auster Quinn und den
Leser wissen lässt, dass er an einem Essay über die Autorschaft in Cervantes Don Qui-

Ketzel 22
jote schreibt.27 Auster stellt darin die These auf, dass der Erzähler von Don Quijote Cid
Hamete Benengeli in Wirklichkeit eine Kombination aus den vier Charakteren: Sancho
Pansa, dem Pfarrer, dem Barbier und dem Junggesellen Simon Carasco ist. Außerdem
geht er davon aus, dass Don Quijote gar nicht verrückt war, sondern nur so tat und in
Wirklichkeit „das Benengeli-Quartett“ (SG 122) organisierte, um sich in seiner eigenen
Geschichte zu verewigen. Sogar die Übersetzung des arabischen Texts zurück ins Spa-
nische soll Don Quijote laut Auster gemacht haben. „Cervantes beauftragte Don
Quijote, die Geschichte von Don Quijote zu entziffern. Darin steckt große Schönheit.“
(SG 122)
Durch die „rein spekulativ[e]“ (SG 119) Lesart, die er in diesem Essay vertritt, for-
dert er den Leser heraus, Stadt aus Glas auf eine analoge Weise zu lesen. Anspielungen
hierfür finden sich wiederholend im Text. So gibt es z.B. einen indirekten Verweis auf
Cervantes, wenn Quinn Virginia Stillman danach fragt, wer ihn (Paul Auster) als Pri-
vatdetektiv empfohlen hatte, und sie antwortet: „‘Mrs. Saavedras Mann, Micheal.“ (SG
41). Saavedra ist aber gleichzeitig der Familienname von Miguel de Cervantes und Mi-
chael die anglophone Variante seines Vornamens. 28 Noch auffälliger sind hingegen
schon die Initialen D.Q., die Quinn in sein Notizbuch schrieb, und, dass er sich dann
auch selbst kurz vor seinem Verschwinden fragt, „warum Don Quijote nicht einfach
Bücher wie die, die er liebte, geschrieben, hatte anstatt ihre Abenteuer zu erleben. Er
fragte sich, warum er die gleichen Initialen hatte wie Don Quijote.“ (SG 156) Auster
fordert somit den Leser heraus, ähnliche Spekulationen bezügliche des Romans anzu-
stellen wie er es im Essay tut, jedoch würden diese zu noch mehr Verwirrung führen, als
das sie etwas auflösen.29
Diese Verwirrung um die Autorenschaft verstärkt sich zudem, wie bereits erwähnt,
durch die sich wiederholenden autobiografischen Anspielungen, die uns der ‚Täter‘ Paul
Auster im Text hinterlässt. Die meisten davon fallen jedoch nur dem kritischen Leser
auf, der auch sonst mit dem Werk und Leben Austers, oder dessen literaturwissenschaft-
lichen Analyse vertraut ist. Eine Stelle, die jedoch auch so recht auffällig dafür ist, ist
der Moment, in dem der Protagonist Auster Quinn mit seinem Sohn bekannt macht:

27
Vgl. Rabl, Claudia. „Spielarten des Kriminalgenres.“ Universitäts Bibliothek - Universität Wien. 2008.
http://othes.univie.ac.at/2261/ (Zugriff am 3. Januar 2011). S. 86-87
28
Ebd. S. 94
29
Lavender 1993 S. 223

Ketzel 23
Ich sehe, ihr habt euch schon kennengelernt. „Daniel“, sagte er zu dem Jungen, „das
ist Daniel.“ Dann zu Quinn mit demselben ironischen Lächeln: „Daniel, das ist Da-
niel.“
Der Junge lachte auf und sagte: „Alle sind Daniel.“
„Richtig“, sagte Quinn. „Ich bin du, und du bist ich.“ (SG 125)

Quinn ist als Sohn ein Teil des Schriftstellers Auster. Aber auch in Wirklichkeit ist
der Name des Sohns von Auster Quinn und seine zweite Frau heißt auch im wahren
Leben Siri. 30 Ähnlich wie Quinn, hatte der reale Auster in seiner Jugend “einige Ge-
dichtbände veröffentlicht, […] Stücke und kritische Essays geschrieben und an
mehreren langen Übersetzungen gearbeitet.“ (SG 10)
Stadt aus Glas kann somit als ein literarischer heterotoper Spiegel verstanden wer-
den, aus dem Paul Auster „mit einem gewissen ironischen Vergnügen“ (SG 123) den
Leser anlächelt. Man kann soweit gehen und sagen, dass beide Charaktere, Quinn und
der Schriftsteller Auster, zwei verschiedene, ‚andere‘ Bilder des wahren Schriftstellers
Paul Auster sind. Paul Auster bestätigt solch eine Schlussfolgerung in einem Interview,
in dem er gefragt wurde, warum er sich selbst in die Geschichte geschrieben hat – so-
wohl wörtlich, als auch indirekt durch die Autobiographischen Ähnlichkeiten zu Quinn.

I think it stemmed from a desire to implicate myself in the machinery of the book. I
don't mean my autobiographical self, I mean my author self, that mysterious other who
lives inside me and puts my name on the covers of books. What I was hoping to do, in
effect, was to take my name off the cover and put it inside the story.
[…]
Paul Auster appears as a character in City of Glass, but in the end the reader learns
that he is not the author. It's someone else, an anonymous narrator who comes in on
the last page and walks off with Quinn's red notebook. So the Auster on the cover and
the Auster in the story are not the same person. They're the same and yet not the same.
Just as the author of War and Peace is both Tolstoy and not Tolstoy.
[…]
If I hadn't gone through that experience of pseudonymity myself, I never would have
been able to develop Quinn in the way I did. 31

Hier wird also explizit gesagt, dass Stadt aus Glass nicht nur auf autobiographische
Details zurückgreift, sondern auch, dass der Text auf eine bestimmte Art ein Spiegel
vom Schriftsteller Paul Auster ist. Es handelt sich jedoch um einen Spiegel der verzerrt,
der einen anderen Auster portraitiert. Als solcher kann er dann auch als eine Heterotopie
verstanden werden.

30
Vgl. Rabl 2008 S. 96ff
31
McCaffery, Larry, Sinda Gregory, und Paul Auster. „An Interview with Paul Auster.“ Contemporary
Literature, 1992, 33, No.1 Ausg. S. 14-16

Ketzel 24
4. Fazit
Es hat sich gezeigt, dass Stadt aus Glass Räume abbildet, die mit Hilfe von
Warnings Erweiterung des Foucault‘schen Heterotopie-Konzepts als Räume ästheti-
scher Erfahrung verstanden werden können. Denn all diese Räume weisen die
Merkmale der heterotopen Inversion auf, als auch dessen Markierung durch Wiederho-
lungen, die dem Leser zwar Bedeutungsmöglichkeiten anbieten, jedoch eine eindeutige
Endmarkiertheit verweigern.
So wird New York zur Heterotopie par excellence. Wie der Titel des Romans es
schon andeutet, wird es zu einer Stadt aus vielen Spiegeln, in der man sich verliert, in
der man den Bezug zu den gewohnten Karten nicht mehr erkennen kann. Sie wird zu
einem anderen Ort, indem das orientierungslose Gehen und die mehrdeutigen Ein-
schreibungen im Raum im Widerspruch zu der Utopie einer absoluten Wahrheit, einer
für wahr geglaubten Objektivität, stehen.
Durch die heterotope Darstellung der Welt im Text, und vor allem durch typische
postmoderne Stilmittel der Erzählung wie Intertextualität, Metafiktionalität und die
Negierung objektiver Wahrheiten, wird der Text selbst zur Heterotopie. Es ist ein ‚ande-
rer‘ Ort im Raum der Detektivgeschichten und all jener, für die die klassische
Detektivgeschichte der zugrundeliegende Prototyp zielorientierter Erzählungen ist. Der
Text wird beim Lesen zu einem Spiegel, in dem sich aus den Tiefen der Utopie die Rea-
lität als das Andere zu erkennen gibt.

Ketzel 25
5. Literaturverzeichnis
Auster, Paul. Die New York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter
verschlossenen. Hamburg: Rowohlt, 2007.
Borsò, Vittoria. „Grenzen, Schwellen und andere Orte.“ In Kulturelle Topografie,
Herausgeber: Reinhold Görling. Stuttgart/Weimar: Metzler, 2004.
Certeau, Michel de. „Praktiken im Raum.“ In Raumtheorie: Grundlagentexte aus
Philosophie und Kulturwissenschaften, Herausgeber: Jörg Dünne und Stephan
Günzel. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006.
Döring, Jörg. Spatial Turn: das Raumparadigma in den Kultur- und
Sozialwissenschaften. Bielefeld: transcript, 2008.
Engelke, Jan. Kulturpoetiken des Raumes : die Verschränkung von Raum-, Text- und
Kulturtheorie. Würzburg : Königshausen & Neumann, 2009.
Foucault, Michel. „Von anderen Räumen.“ In Raumtheorie: Grundlagentexte aus
Philosophie und Kulturwissenschaften, Herausgeber: Jörg Dünne und Stephan
Günzel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2006.
Günzel, Stephan. „Spatial Turn – Topographical Turn – Topological Turn. Über die
Unterschiede zwischen Raumparadigmen.“ In Spatial Turn. Das Raumparadigma
in den Kultur- und Sozialwissenschaften, von J. Döring und T. Thielmann.
Bielefeld: transcript, 2009.
Klumbies, Paul-Gerhard, Ingrid Baumgärtner, und Franziska Sick. Raumkonzepte:
Disziplinäre Zugänge. Göttingen: V&R unipress, 2009.
Lavender, William. „The Novel of Critical Engagement: Paul Auster’s City of Glass.“
Comtemporary Literatur, 1993, 34, No.2 Ausg.
Lefebvre, Henri. „Die Produktion des Raums.“ In Raumtheorie: Grundlagentexte aus
Philosophie und Kulturwissenschaften, Herausgeber: Jörg Dünne und Stephan
Günzel. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006.
McCaffery, Larry, Sinda Gregory, und Paul Auster. „An Interview with Paul Auster.“
Contemporary Literature, 1992, 33, No.1 Ausg.
Rabl, Claudia. „Spielarten des Kriminalgenres.“ Universitäts Bibliothek - Universität
Wien. 2008. http://othes.univie.ac.at/2261/ (Zugriff am 3. Januar 2011).
Russel, Alison. „Dekonstructing The New York Trilogy: Paul Auster's Anti-Detective
Fiction.“ In Paul Auster (Bloom's Modern Critical Views), Herausgeber: Harold
Bloom, 97-112. Philadelphia: Chelsea House, 2004.
Springer, Carsten. Crises: The Works of Paul Auster Peter . Frankfurt am Main: Peter
Lang GmbH, 2001.
Urban, Urs. Der Raum des Anderen und Andere Räume: Zur Topologie des Werkes von
Jean Genet. Würzburg: Königshausen & Neuman, 2007.
Warning, Rainer. Heterotopien als Räume ästhetischer Erfahrung. München: Wilhelm
Frink, 2009.

Ketzel 26

Vous aimerez peut-être aussi