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Linkes Straßenbankett für linke die anderen / Struktuelle Gewalt: Die und Segen - Zwei Facetten einer griechi-
DemonstrantInnen / Systematisierung von Deportationen/ schen Hafenstadt / Sie behaupten jetzt,
Burschenschafterkommers 2009? - Abschiebung, Charter, Menschenrechte / dort wäre alles sicher - Interview mit
Alpenfestung schleifen / Der Mythos von Das Prinzip FRONTEX / Töten ohne einem ehemaligen Kindersoldaten aus
Bleiburg / Wahlsieg mit einem Toten und Konsequenzen / Grenzen im Inneren Sierra Leone / Interview mit Gabriel Kuhn
andere „Witze“ / Die Macker sind immer Europas / Am Anfang war die Kuh / Fluch / Ein harmloser Zufall / Rezensionen
2 Euronen P R O J E C T X
Impressum:
Herausgeberin: Margarete Nowaski Berggasse 17, 1090 Wien
Redaktion: Dani Kermit, Mike Fozzie, Maria Scooter, Franz Gonzo
Grafikkonzept: Link Ringelschwanz,
Herstellerin: Floyd Pepper GmbH, Boulevard Beauregard, 38100 Grenoble
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Inhalt
Kurzmeldungen............................2
Aktuelles.............................5
In euren Händen haltet ihr die nunmehr schon zweite Wahlsieg mit einem Toten
Ausgabe des seit einem halben Jahr vierteljährlich und andere Witze“.......................................9
erscheinenden ProjectX. Viel hat sich getan, wie etwa
unsere inzwischen tatsächlich funktionierende email- Der Mythos von Bleiburg
Adresse, welche jetzt offen ist für eure Anmerkungen, Kärnten/Koroška - Ein Magnet für
überschwängliches Lob, vernichtende Kritik, oder faschistisch revisionistische Feiern?..........10
dazwischen angesiedelte- und sonstige geistige
Ergüsse. Interview mit der
Besonders an Herz legen wir euch unsere Interviews, Zeitzeugin Stefa Kolowratnik....................15
bei denen eine „echte Sozialistin“, Gabriel Kuhn, ein
Ex-Kindersoldat sowie die Gründerin von „Exit“ zu Strukturelle Gewalt:
E d i t o r i a l
K u r z m e l d u n g e n
Die dort geplanten Biodiesel-Projekte stellen eine
owohl in Ungarn und Tschechien als auch in
große Gefahr für die artenreichen Cerrado- und
Caatinga-Wälder, traditionellen Weiden in
Gemeindebesitz, Küstenwälder und kleinbäuerli-
S den
der Slowakei gab es am Wochenende rund um
14. März 2009 starke rechtsextreme
che Landwirtschaft dar. Entscheidend dabei ist, Aktivitäten zu beobachten. In Budapest wurden,
dass bei der Projektumsetzung traditionelle zeitgleich zu einer Gedenkveranstaltung der natio-
Landrechte der bäuerlichen Gemeinschaften nicht nalistischen Jobbik- Partei zum 161. Jahrestag der
beachtet werden. Besonders betroffen sind soge- Revolution von 1848 - die sich gegen die
nannte gemeinschaftliche Weidegebiete („fundos Habsburger Herrschaft richtete - rund 650 neue
de pasto“), welche eine Art kollektives Eigentum Mitglieder der „Ungarischen Garde“ (‚Magyar
von Kleinbauern/ Gárda’) vereidigt.
Kleinbäuerinnen und Mittlerweile
eine weitere Form der gehen die
Existenzsicherung Schätzungen von
neben ihrer landwirt- Beobachter_innen
schaftlichen Tätigkeit auf 2.500
darstellen. In der Bahia Mitglieder seit der
existieren ca. 300 sol- Gründung von
cher gemeinschaftlich genutzter “Tag der Ehre”, Budapest 2007 2007, die sich öffentlich verei-
Weidegebiete, an welchen an die 20 000 Familien digt haben, um „die
und mehr als 100 000 Menschen teilhaben. Zigeunerkriminalität zu bekämpfen“. Nach der
Das sich im baianischen Bezirk Casa Nova befin- Veranstaltung, der auch hunderte Neonazis und
dende traditionelle Weidegebiet Areia Grande Bürger_innen beiwohnten, kam es zu
stellt eines dieser von Landraub betroffenen Ausschreitungen zwischen Polizei und Neonazis.
Weidegebiete dar. Dort eskalierte nun am 7. Gerade angesichts der Brandsatz-Anschläge auf
Februar 2009 der Konflikt zwischen den betroffe- Wohnungen von Roma im Februar und anschlie-
nen bäuerlichen Gemeinden und Biosprit- ßender Ermordung von herauslaufendem Vater
InvestorInnen um das geplante Vorhaben: die und Sohn, zeigt sich die stark antiziganistische
Leitfigur des Widerstands - der Kleinbauer José gesellschaftliche Tendenz in Ungarn, der es gilt,
Braga- wurde erschossen. Dieser Mord bildete nun antifaschistische Aufmerksamkeit zu widmen.
den Höhepunkt der Einschüchterungs- und In Plzeň fanden sich an dem besagten
Vertreibungsversuche Wochenende ca. 180 junge Neonazis ein, um dem
Protestschreiben gibt es unter:
vonseiten der Aufruf der ‘Autonomen Nationalisten Plzeň’
www.regenwald.org/
Biosprit- gerecht zu werden: Mit Parolen wie "Zvolejme
protestaktion.php?id=369
InvestorInnen, welche společně - Izrael, táhněte do pekel!!!" - "Rufen wir
seit März 2008 die dort ansässige Bevölkerung alle gemeinsam - Israel, geh zur Hölle!", forderten
immer wieder durch gezielte Zerstörung von die ‘Freien Kräfte’ zum „Widerstand gegen
Häusern, Stallungen und Zäunen durch sogenann- Zionismus und jüdische Gewalt“ an diesem
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bedeutungsträchtigen Tag auf. Am 15. März jährte sich Strafverfügungen über 2 Instanzen bekämpft und in der
zum 70. Mal der Tag der Besetzung der Tschecho- 2. Instanz noch inhaltliche Ergänzungen vorgebracht
slowakei durch die Nazis 1939. Diese antisemitische werden können. Leider ist der Exekutive in
Demonstration wurde jedoch auch von mehren Kärnten/Koroška die Schikane mittels
Hunderten antifaschistischen Gegenprotestant_innen Verwaltungsstrafen nicht genug – neben den ange-
begleitet und somit nicht einfach stillschweigend blichen Verstößen nach der Straßenverkehrsordnung
hingenommen. ermittelt Polizei und Staatsanwaltschaft nun auch wegen
Historischen – nationalsozialistischen - Jahrestagen § 285 StGB – Verhinderung oder Störung einer
wurde auch in Bratislava mittels einer Kundgebung Versammlung. Zum genannten Straftatbestand kann
gedacht: Anlässlich der Proklamation des faschistischen angemerkt werden, dass es zu diesem Paragraphen keine
„slowakischen Staates“ unter Jozef Tiso 1939 fand mit Rechtsprechung gibt, weil seit dessen Einführung dieser
ungefähr 300 Teilnehmenden aus der Skinheadszene nicht zur Anzeige gebracht wurde bzw. nicht zu
und dem Kreis der ‚Autonomen Nationalisten’ am 14. Verurteilungen geführt hat. Außerdem sind momentan
März eine Kundgebung statt. Tiso war mitverantwort- zwei Betroffene bekannt, die bei der Kundgebung in
lich für die Massendeportation von Juden und Jüdinnen Karnburg willkürlich festgenommen wurden und nun
in die NS- Vernichtungslager und wurde 1947 wegen im Februar 2009 einen Prozesstermin wegen
Kollaboration mit dem nationalsozialistischen Widerstand bzw. schwerer Körperverletzung gegen die
Deutschland hingerichtet. Eigentlich sollte die Staatsgewalt hatten. Während einer freigesprochen
Versammlung zu seinem Grab ziehen, wurde jedoch wurde, zeigte sich im Prozess gegen einen
von der Polizei aufgrund von verbotenen Äußerungen Antifaschisten aus Slowenien die Arbeitsweise der
seitens der Teilnehmer_innen aufgelöst. Kärntner Justiz. Er konnte beispielsweise nicht auf
unwahre Ausführungen der Polizisten reagieren, weil sie
ihm nicht übersetzt wurden. So meinte er selbst: „Drei
Linkes Straßenbankett für linke Polizisten haben kontradiktorisch ausgesagt, der Richter,
DemonstrantInnen? welcher sichtlich auf ihrer Seite stand, hat ihnen sogar
- Repression nach Protesten gegen das Wörter in den Mund gelegt. Dabei war die Übersetzung
Ulrichbergtreffen ins
Slowenische
Relativ kurz nach den Protesten gegen das schlecht und
Ulrichsberg-Treffen 2008 erhielten viele unvollständig,
AntifaschistInnen, die im Zuge der Aktionen so manche
perlustriert oder festgenommen wurden wichtige
Strafverfügungen von den zuständigen Information
Polizeistellen in Kärnten/Koroska. Die konkre- wurde mir
ten Vorwürfe der Strafverfügungen gegen ca. sogar ver-
30 AntifaschistInnen finden ihre Begründung schwiegen, der
in der Straßenverkehrsordnung und lauten bei Richter hat der
sämtlichen Betroffenen: "Sie haben als Fußgänger auf Übersetzerin nicht erlaubt, Aussagen bis zum Ende und
der Freilandstraße nicht das linke Straßenbankett vollständig zu übersetzen, während er meine Aussagen
benützt, obwohl dies zumutbar gewesen wäre." sowie nicht niederschrieb.“ Der Prozess wurde dennoch ver-
"Sie haben die Fahrbahn trotz Anordnung nicht verlas- tagt, da die DVD, mit der die Polizei die Schuld des
sen wodurch der Fahrzeugverkehr blockiert wurde." Als Angeklagten belegen wollte, sich als leer erwies.
Verwaltungsstrafe (also ähnlich wie z.B. Falschparken)
werden Beträge von € 30,-- bzw. € 50,-- verhängt, aller- Mehr Infos sowie Kontonummer für Solispenden unter:
dings haben die meisten Betroffenen die u-berg.at
Strafverfügungen beeinsprucht, d.h. dass die
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nicht mehr offen für ein vereinigtes Deutschland Aktivist_innen aus Frankreich und Großbritannien
auftreten können, wird der großdeutsche Gedanke laden vom 23. - 29. Juni 2009 zu Aktionen an der
hinter dem Begriff der „Deutschen Kulturnation“ Grenze zwischen den beiden Staaten in Calais auf.
versteckt und Südtirol so zu einem Teil dieser und Dort hat GB die Überwachung der Grenze auf fran-
der Kommers gibt Anlass, eben diesen völkischen zösisches Territorium vorverlagert, was es Menschen
Gedanken offen zu propagieren. Nachdem es die ohne entsprechende Papiere massiv erschwert, nach
„Zivilgesellschaft“ und die politischen Parteien bis GB zu reisen bzw. dort einen Asylantrag zu stellen.
heute nicht oder nur unzureichend geschafft haben, Diese Grenze ist ein Ort der internen Konkrolle der
das Problem anzugehen, rufen wir zu einem autono- EU und dient der Regulierung von Migration. Um
men Protest gegen den Kommers auf. Es soll keinen dies zu ändern, soll im Rahmen der Proteste eine
Platz für die Netzwerke der korporierten Rechten Diskussion über das EU-Grenzregime und die
und ihre Vetternwirtschaft geben, weder in Tirol, Situation jener Menschen angestoßen werden, die
noch sonst wo! über Frankreich versuchen, GB zu erreichen. Seit der
Schließung des Flüchtlingslagers in Sangatte/Calais
Infos unter http://www.antifa-ibk.it.tt sind die Migrant_innen gezwungen, in provisori-
Kontakt: schen
antifa_innsbruck@riseup.net Unterkünften
in den Wäldern
G8: Reif für die Insel rund um den
Hafen zu schla-
er G8-Gipfel findet 2009 fen, oft werden
D wieder in Italien statt, vom
08. bis 10. Juli auf der Insel La
sie hin und her
getrieben und
Maddalena vor Sardinien. oft nach Paris
Während die Regierung gebracht, wo
Berlusconi Schulungen von sie ebenfalls
Polizeioffizieren durchführt, um „Fehler“ wie in unter miserablen Bedingungen auskommen müssen.
Genua 2001 auszuschließen, ist eine bis dato unbe- Weitere Infos:
kannte Kleinfirma aus Rom und ihre 26 Mitarbeiter http://london.noborders.org.uk/calais2009
mit dem Großteil der 300 Millionen schweren http://no-racism.net/rubrik/35
Bauarbeiten auf der militarisierten Insel beauftragt
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Aktionswoche gegen Abschiebung in eines Monats das Land verlassen. Jene, die ihre
Deutschland Reise in den Westen fortsetzen wollen, stranden
meist in Häfen im Westen von Griechenland, wie
om 24. bis zum 30. August 2009 wird zu einer Patras. Das Stellen eines Asylantrages bedeutet die
V Aktionswoche gegen Abschiebung in
Deutschland aufgerufen. Die Organisator_innen
Verwicklung in entwürdigende bürokratische
Verfahren. Staatliche Gewalt ist eher die Regel als
knüpfen dabei an die Proteste zum Gedenktag für die Ausnahme. So gab es Ende 2008 zwei Tote bei
die Opfer der rassistischen Migrationspolitik in der der Ausländer_innenbehörde in Athen.
BRD an, die im Jahr 2008 im Rahmen eines Tages In Lesbos, wo die Grenzkontrollsysteme der europä-
ohne Abschiebungen mit Aktionen in mindestens ischen Grenzen klar sichtbar sind, findet vom 25. -
19 Städten ihren bisherigen Höhepunkt fanden. 31. August 2009 ein noborder Camp statt, um
Kampagnenseiten: Auch in diesem Jahr soll gemeinsame Erfahrungen zu sammeln, zu diskutie-
mit vielfältigen ren, sich zu koordinieren und zu kämpfen. Die
http://abschiebefrei.blogsport.de Aktionen an den unter- Koordination für das No Border Lesvos 2009 in
http://toaneuss.blogsport.de schiedlichen Orten wie Mitili ruft Gruppen und Individuen dazu auf, sich
http://www.30august.org Knäste, Lager, Grenzen, an der Organisation des Camps
Kontakt: Kontakt:
Flughäfen, Aus- zu beteiligen und mit der
Bürengruppe Paderborn noborder.lesvos.2009@gmail.com
länder_innenbehörden, Koordinationsgruppe in
info@aha-bueren.de Weitere Infos:
Profiteur_innen etc. Verbindung zu setzen.
http://www.aha-bueren.de http://no-racism.net/rubrik/35
Sand in die
http://lesvos09.antira.info
Abschiebemaschinerie
gestreut werden.
enn es anderenorts heißt, dass die Wiener Durch die antisexistische Antifabrille
W „linke“ Szene in Bezug auf Antisexismus und
Feminismus „viel weiter“ als andere wäre und man- Die Antifa als Männerbund, Mackertum und masku-
che diesem heterogenen Sumpf „große Sensibilität“ linistisches Verhalten, Ausschluss von Frauen* und
im Umgang mit den besagten Themen zuschreiben, dergleichen sind wohl die gängigsten Schlagwörter,
mögen diese Menschen wahrscheinlich Recht haben. die in den, seit vielen Jahren rund um die Antifa-
Tatsächlich lassen sich in Wien szene geführten, Diskussionen im
zahlreiche Diskussionen, Stagnation verzeichnen, die Mittelpunkt der Kritik stehen.
Veranstaltungen, Texte und derglei- nicht zuletzt auf die scheinbar Tatsächlich haben diese
chen finden, die es sich nicht nur klare Ortung des immer gleich Diskussionen sowie die konsequente
zur Aufgabe gemacht haben, geglaubten „Bösen“ Einforderung von mackrigem
Sexismus und Mackertum außer- zurückzuführen ist und sich Verhalten Abstand zu nehmen,
halb dieser Szene zu kritisieren, blind erweist gegenüber sowohl zu Reflexion als auch zu
sondern gerade auch in den so Veränderungen oder der kon- Veränderungen innerhalb dieser
D e b a t t e
genannten „eigenen Kreisen“. stanten Beteiligung von Szene geführt. Die konstante
Antisexistische Mindeststandards Frauen* in Infragestellung von Demoverhalten
sind demnach den meisten Antifazusammenhängen. und anderen politischen Praxen hat
Angehörigen dieser „Kreise“ geläufig und zumindest nicht nur einen neuen Handlungsspielraum mit sich
theoretisch sollten diese auch umgesetzt werden, was gebracht, sondern vor allem auch in Bezug auf das
zumeist auch in der Praxis passiert. Obgleich dies auf Geschlechterverhältnis und die Beteiligung von
einen durchwegs emanzipatorischen Zugang zu Frauen* in der Praxis einiges geändert. Dabei steht
Geschlechterverhältnissen hinweist, zeigen sich bei natürlich außer Frage, dass nach wie vor mackriges
genauerer Betrachtung der Entwicklung dieser Auftreten, sexistische Verhaltensweisen und derglei-
Debatten jedoch auch weniger fortschrittliche chen auf Antifademos wie auch in anderen politi-
Tendenzen. So lässt sich beispielsweise in Bezug auf schen Zusammenschlüssen anzutreffen sind und ein
die Diskussionen rund um Antifa und Optimalzustand noch lange nicht erreicht wurde.
Männlichkeit/Mackertum einerseits eine ziemliche Dennoch wäre ein knieender “Schwarzer Block” (auf
Stagnation verzeichnen, die nicht zuletzt auf die die Aufforderung der Radical Cheers mit der Parole:
scheinbar klare Ortung des immer gleich geglaubten Kniet nieder ihr Macker, die Antifa ist da!), wie er
„Bösen“ zurückzuführen ist und sich blind erweist bei der nowkr-Demo 2009 anzutreffen war, bei einer
gegenüber Veränderungen oder der konstanten Anti-Burschi-Demo vor wenigen Jahren wahrschein-
Beteiligung von Frauen* in Antifazusammenhängen. lich noch kaum denkbar gewesen. Dass die
Andererseits zeigt sich aber auch, dass hinter dem Diskussionen nach der Demo in einschlägigen Foren
ach so reflektierten antisexistischen Bewusstsein oft- und anderen Zusammenhängen nicht davon abkom-
mals vielmehr eine Instrumentalisierung des men, „Radical Cheerleading“ und „Schwarzer Block“
Vorwurfs des Sexismus steckt, der zur Absicherung nicht nur politisch, sondern auch als Demostrategie
der eigenen politischen Identität aber auch des Status gegeneinander auszuspielen und auf- und abzuwer-
in der Gruppe/Szene dient. ten, scheint gerade angesichts des durchwegs pro-
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gressiven Nebeneinanders auf der besagten Demo um sich diesen Handlungsraum auch zu nehmen
schade. Dass sich beide Protestformen und und anzueignen. Gerade jene, die stets die
Demostrategien durchaus ergänzen können und Abwesenheit von Frauen beklagen, tragen folglich
nicht gegeneinander arbeiten, wird dabei ebenso zu deren Unsichtbarmachung und der
übersehen. In weiterer Folge kommt es nicht selten Aufrechterhaltung eines frauenfeindlichen Klimas,
zu den Zuschreibungen „männlicher“ “Black Block” das auf den “Schwarzen Block” projiziert wird, bei
und „weibliches“ Cheerleading und so werden diese und entwerten die politische Handlungsfähigkeit
beiden Aktionsformen in gewisser Form auch natu- von Frauen* insofern, als dass ihnen gerade diese
ralisiert, so dass ein “Schwarzer Block” quasi von Quotenfunktion und der Minderheitenstatus zuge-
Natur aus „männlich“ und damit einhergehend sprochen wird. So sollte es vielleicht doch auch
„böser“ wäre, wohingegen das bei den Cheers wohl darum gehen, die selbstverständliche Position von
anders herum wahrgenommen wird. So wird Frauen* in einem „Black Block“, einer „militanten“
zumeist nicht nach dem konkreten Verhalten und Aktion oder einer ganzen „Antifa“ zu stärken und
Auftreten bewertet und kritisiert, sondern vielmehr das Geschlechterverhältnis zu analysieren und kriti-
das gefestigte Bild der mackrigen Antifamänner in sieren anstatt stets ihre Abwesenheit überzubetonen
jedem Auftreten eines solchen Blocks gesucht - egal und zu beklagen.
ob vorhanden oder nicht. Die „bösen“ Sexisten und
Macker bieten auch die einzigartige Möglichkeit, Wie hübsch darf sie sein, die Antifa-Frau?
sich ganz klar davon abzugrenzen und sich auf der Dass Frauen* ein gern gesehenes Motiv auf Flyern,
Seite der „Guten“ zu wissen. Sexismus immer bei Plakaten, Transparenten sind, ist wahrlich keine
den Anderen zu orten, dient damit nicht zuletzt zur Neuheit, soll es doch darum gehen, dass sich nicht
Absicherung des Status in der eigenen Politgruppe - ausschließlich Männer den politischen
der reflektierte, gender- und sexismussensible Typ GegnerInnen entgegenstellen und auch auf einen
zu sein - und immer schön mit dem Finger auf die reflektierten Umgang mit Antisexismus hinweisen,
“bösen” Anderen zeigen zu können. Denn Dürfen nur die Bilder nicht der letztendlich Frauen* auch in
die Macker, das sind ja wohl auch immer so aussehen oder auch die aktiven Rollen repräsentiert, so
die anderen – offensichtlich egal, wie sehr Antifa- bzw. Szenefrauen* dass es auch in der Realität mög-
diese Anderen oder Frauen* dabei instru- selbst? Schließlich entspre- lich sein sollte, dass Frauen* sich
mentalisiert werden und nur der eigenen chen die Frauen*bilder der aktiv einbringen können. Die
Rechtfertigung dienen. Dass es bei den „linken“ Norm nicht unbe- Devise lautet dabei vordergrün-
Cheers nach biologischen Maßstäben dingt überein mit den dig weg von der Unsichtbar-
einige Männer gab und auch in den ersten realexistierenden Frauen* machung von Frauen* und den
Reihen der Demo mindestens ein Drittel in der Szene. etablierten mackrigen Bildern
Frauen* anzutreffen waren, wird dabei starker, kämpfender Männer.
gerne übersehen und damit in gewisser Weise auch Nicht genau definiert wurde in dieser
unsichtbar gemacht. So wird gerade auch auf Herangehensweise jedoch die Frage danach, wie
Antifagruppen gerne mal projiziert, dass es viel denn diese Frauen*bilder aussehen dürfen und sol-
weniger engagierte Frauen* geben würde oder diese len, da man(n) ja nicht patriarchale
manchmal sogar bevormundet würden und auf Repräsentationen von (sexualisierten) Frauen*-
Demos wenig oder in den ersten Reihen keine körpern reproduzieren wolle. Auch in vielen auto-
Frauen* anzutreffen wären. Dass ein Drittel immer nomen Kreisen lässt sich das unausgesprochene
noch nicht die Hälfte oder mehr ist, steht dabei Gesetz antreffen, dass Frauen* gewissen
ebenso außer Frage, aber gerade die Frauen*, die Vorstellungen, die zumeist mit etablierten
sich in den ersten Reihen beteiligt haben, taten dies Schönheitsnormen assoziiert werden, nicht entspre-
sicher nicht aus irgendwelchen Quotenfunktionen chen dürfen. Prinzipiell scheint doch die Devise zu
heraus oder um das Bild breiter zu fächern, sondern gelten: Je aggressiver, wütender, furchterregender ...
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(hässlicher), desto besser oder desto mehr der Bruch Plakaten etc. unter eine der ausgemachten Schön-
mit diesen Schönheitsnormen. Im Subtext oder um es heitsnormen fallen, nicht auch Züge davon trägt.
überspitzt auszudrücken, Frauen*, die sich schminken, Schließlich verfügt nicht nur die Gesellschaft als ganze
haben’s noch nicht kapiert und wahrscheinlich auch sol- über Normen, sondern auch die „Szene“. In diesem
che nicht, die auf rosa oder pink stehen, figurbetonte Sinne heißt es beispielsweise auch im AS.ISM_2 Reader
Kleidung tragen, dünn sind oder blonde Haare haben. in einem Text über lookism: „Wie soll mensch
Wer diese „Normen“ festlegt, ist dabei meist nicht klar ihren_seinen Körper vorbehaltslos mögen, solange es
und so hat sich gerade auch in letzter Zeit gezeigt, dass gesellschaftliche/ szeneinterne/ ... Normvorstellungen
es dann nicht selten Männer sind, die über von „schön“ und „hässlich“, von einem „richtigen“ und
Frauen*körper verhandeln und sich anmaßen, bewerten einem „falschen“ Körper gibt?“ Es geht schließlich nicht
zu können, welcher Frauen*körper der „linken“ antise- darum, ob Frauen* diesen Normen entsprechen, son-
xistischen „Norm“ entsprechen würde und welcher dern darum, dass die Kategorien und damit verbunde-
nicht. Dass der sexistische Gebrauch von Frauen*- nen Denkmuster und Bewertungen überwunden wer-
bildern abermals klar bei den Anderen (Männern) geor- den. Eine ständige Betonung des konkreten Aussehens
tet wird, liegt auf der Hand. Gleichzeitig stellt sich auch von Frauen* oder Bildern von Frauen* hält jedoch ein-
die berechtigte Frage: Dürfen nur die Bilder nicht so deutig an diesen Kategorien fest. Gerade feministische
aussehen oder auch die Antifa- bzw. Szenefrauen* Ansätze der letzten Jahrzehnte haben versucht zu ver-
selbst? Schließlich entsprechen die Frauen*bilder der deutlichen, dass feministische Praxis nicht Selbstaskese
„linken“ Norm nicht unbedingt den realexistierenden und Selbstuntersagung bedeutet oder das Aufzwängen
Frauen* in der Szene. neuer Normen, sondern vielmehr den Versuch, patriar-
Nun ist „lookism“ seit einiger Zeit zu einem Schlagwort chale Normen so zu hinterfragen, dass es auch möglich
geworden, das versucht gesellschaftliche sein kann, diese subversiv zu unterwandern, zu
Diskriminierungsformen, die mit der Bewertung des „befreien“ und sich Elemente davon anzueignen.
Aussehens von Menschen verbunden sind, zu fassen. So Wie sonst hätte gerade Pink und Glitzer sowohl in
stellt sich in gewisser Hinsicht doch die Frage, ob die Antifa- als auch feministischen Kreisen so populär wer-
ständige Blickrichtung darauf, ob die Frauen*figuren auf den können?
Uhren sind stehen geblieben“ in Zusammenhang gerückt ist. So hätten auf Befehl von Jörg Haider im
mit Haiders Tod, sondern vor allem auch durch April letzten Jahres nicht nur mehrere Tschetschen-
seine rassistischen Eskapaden. In einer Pressekon- Innen in andere Bundesländer abgeschoben werden
ferenz in Bad Kleinkirchheim begrüßte Dörfler den sollen (was schlussendlich auch in einigen Fällen
Sänger Roberto Blanco vor laufenden Kameras mit geschah), sondern im Oktober wurde auch eine so
einem Witz über eine „Negermama“. Da er jedoch, genannte „Sonderanstalt“ für mutmaßlich „straftä-
nachdem die anwesenden JournalistInnen mit tig gewordene“ AsylwerberInnen auf der Saualpe in
Schweigen reagierten, vermutete, den Witz schlecht 1.200 Metern Höhe eingerichtet. Obgleich der
erzählt zu haben, veranschaulichte er sein Verständ- Pachtvertrag ausläuft, das Gebäude selbst große
nis von Humor abermals am Villacher Fasching Mängel aufweist und es nach wie vor politischen
(Karneval). Dort trat er nämlich mit zwei als halb- Protest gibt, hält Dörfler an dem Projekt fest. Er
nackte „Negermamas“ kostümierten Männern auf müsse die Sicherheit im Land heben. Dass gegen
und posierte für Fotos nuckelnd an deren Brüsten. drei der momentan acht „untergebrachten“
„Ein Landeshauptmann wird zu einer guten Laune Personen nicht einmal eine Anzeige vorliegt, ist
etwas beitragen dürfen“ - wie Dörfler meint. dabei wohl Ausdruck eines kärntnerischen Ver-
Schließlich wäre es ja auch ein „Kakaowitz“ gewe- ständnisses von Sicherheit. Dörflers "sensibles"
sen und kein „Negerwitz“. Weniger „Spaß“ verstan- Verständnis von Frauen in der Politik hingegen
den haben die LandesvertreterInnen hingegen in vedeutlichte er Ende März in einem Interview in
Hinblick auf die hartnäckige Konstruktion des "Österreich", in dem er meinte "Frauen sind zu
Feindbilds „krimineller Ausländer“, das seit einigen schade für die Politik, sie sind viel sensibler als
Jahren in den Mittelpunkt xenophober Agitationen Männer - zu sensibel."
edes Jahr im Mai, weitgehend unbeachtet von trägt der/die VerkäuferIn doch stolz ein "Gotovina-
J österreichischer Politik und österreichischen
Medien, treffen sich am Loibacher Feld bei Blei-
Shirt", welches diesen als kroatischen Helden aus-
weist. Über eine Bahnstraße erreicht mensch einen
burg/Pliberk an der 1985 neu errichteten Gedenk- Hügel, von dem aus die Gedenkstätte überblickt
stätte Tausende, um der "Tragödie von Bleiburg" zu werden kann. Was schon bisher kaum zu übersehen
gedenken. Bereits am Hinweg zur Gedenkstätte war, wird Gewissheit: Die "Gedenkveranstaltung" in
bekommt mensch von mehreren HändlerInnen Bleiburg/Pliberk ist wohl eines der größten faschi-
diverse Ustaša-Abzeichen angeboten, es werden stischen Treffen in Österreich.
DVDs angepriesen, die laut VerkäuferIn, "die ganze
Wahrheit" erläutern sollen. Entschließt mensch sich Hunderte Menschen in schwarzen Ustaša-Uni-
eine DVD zu kaufen, gibt es dazu "gratis" noch eine formen und entsprechende Fahnen schwingend,
geschenkt, die wiederum "die ganze Wahrheit" über versammeln sich vor der Stätte. Ein kleiner Zaun
den General Ante Gotovina (1), gegen den seit 2005 trennt den offiziellen Teil der Veranstaltung mit
ein Prozess vor dem Internationalen Strafgerichts- Vertretern der kroatischen Kirche und Politiker-
hof in Den Haag läuft, näher bringen soll. Welche Innen vom Rest der BesucherInnen. Die Sprecher:
"Wahrheit" das wohl sein soll, ist schnell erkannt, Geistliche und der kroatische Innenminister.
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Nervös überwachen Bodyguards in schwarzen Anzügen Eröffnung in St. Andrä hätte auftreten sollen. Anti-
und mit "Knopf im Ohr" das Geschehen. Während also faschistische Proteste und Bedenken der Sicherheits-
im inneren Teil das offizielle Kroatien – Folklore inklu- direktion führten jedoch zur Absage dieses Konzerts.
sive - seinen Platz hat, wird der überwiegende Teil der "Thompson", der sich nach dem Maschinengewehr
Gedenkstätte von Symbolen beherrscht, die in Kroatien benannt hat, das er im Krieg 1991 benützte, bezieht sich
verboten sind. Ist der offizielle Teil der Veranstaltung in seinen Liedern positiv auf die Ustaša und den
vorbei, drängen die BesucherInnen zu dem Gedenk- "Unabhängigen Staat Kroatiens" (NDH) oder macht sich
stein, um sich selbst davor ablichten zu lassen - begehrt gleich direkt über das Lager Jasenovac, in dem tausende
hierbei ist die Nähe zu prächtigen Ustaša-Uniformen SerbInnen, Juden und Jüdinnen, Roma und Wider-
oder martialisch aussehenden Nazihools. Dass dann die standskämpferInnen ermordet wurden, lustig.(2)
Trennung, wie es sie vorher gegeben hat, nicht ganz so Bezeichnenderweise wurde "Thompson" nach der
ernst genommen wird, zeigt sich, wenn mit "Crna Absage vom verstorbenen Kärntner Landeshauptmann
Legija"-Symbolen (eine als "Eliteeinheit" der Ustaša persönlich zu einem EM-Spiel eingeladen.
bezeichnete Truppe) gekleideten Ustaši gemeinsam mit
Geistlichen ein Tänzchen wagen, während der kroati- Der Mythos
sche Minister, eskortiert von seinen Bodyguards und
einer Truppe österreichischer PolizistInnen, das Feld Was bewegt nun also all diese Leute zum Loibacherfeld
verlässt. Doch die BesucherInnen tragen nicht nur zu pilgern und hier gemeinsam mit offiziellen kroati-
Ustaša-Uniformen und Symbole, viele von ihnen tragen schen RegierungsvertreterInnen und Geistlichen den
T-Shirts mit dem Bild von Ustaša-Sänger Marko faschistischen Truppen des NDH-Regimes zu geden-
Perkovic alias "Thompson", der zur EM-Fan-Zonen- ken? Entgegen der Legende gab es keine zentrale
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Kapitulation der Ustaša-Einheiten in Bleiburg/ wurden vor allem während des Krieges 1991-1995
Pliberk, sondern mehrere unabhängig von einander ganz gezielt Ustaša-Symbole und der positive Bezug
entlang der Grenze zwischen Kärnten/Koroška und auf den NDH-Staat gesucht und die Ustaša-
Slowenien/Slovenija. Ebensowenig ist es belegbar, Ideologie verbreitet. In der ersten Version der kro
dass es vor Ort Erschießungen bzw. Massen- atischen Flagge begann das Schachbrettmuster wie
tötungen durch die Jugoslawische Armee gegeben im Ustaša-Staat mit einem weißen Feld, was bald
hat. Überliefert sind Tote und Verletzte in den letz- danach jedoch geändert werden musste. Der Name
ten Gefechten vom 14. und 15. Mai 1945 rund um der Währung, Kuna, wurde 1994 ebenfalls über-
Bleiburg/Pliberk sowie diverse Selbstmorde. Nach nommen. Gleichzeitig wurden PartisanInnen-
der Kapitulation der einzelnen Einheiten wurden Denkmäler und -Gedenktafeln zerstört oder
diese nach Jugoslawien zurückgebracht und abmontiert, dafür Straßen nach Ustaša-Verbrechern
Tausende in Lagern interniert. Hierbei kam es, wie z.B. Mile Budak, gefeierter NDH-Dichter und
großteils auf slowenischem Gebiet, zu Tötungen Stellvertreter von Pavelić, umbenannt. Der Zagreber
und Erschießungen. Aktuelle Forschungen gehen "Platz der Opfer des Faschismus", auf dem sich im
von mehreren Zehntausenden Menschen aus. In NDH die Gestapo- und Ustaša-Zentralen befunden
Kroatien haben sich dafür die höchst tendenziösen hatten, wurde bereits 1990 in "Platz der kroatischen
Begriffe "Kreuzwege" und "Todesmärsche" eingebür- Größen" umbenannt und erhielt erst nach
gert.(3) Doch schon bald nach Kriegsende bemühten Tudjmans Tod 2000 seinen Namen zurück.
sich kroatische Exil-Verbände in Österreich um eine Opferzahlen des KZ-Jasenovac wurden klein gere-
Gedenkstätte, und so wurde 1976 ein Gedenkstein det, die Politik einer nationalen "Versöhnung" zwi-
auf dem Friedhof in Loibach errichtet. Nach dem schen Ustaša und PartisanInnen, die angeblich
Zusammenbruch Jugoslawiens erhielten die kroati- beide auf ihre Art für die kroatische Sache gekämpft
schen Ustaša-Exil-Verbände neuen Auftrieb, da sie hätten, unterworfen und eine TäterInnen-Opfer-
einen unabhängigen Staat Kroatien in direkter Ver- Umkehr betrieben (z.B. in Tudjmans Buch "Irrwege
bindung zum NDH-Staat sahen. Unterstützung der Geschichtswirklichkeit", in dem die Juden und
erhielt dieser Gedanke auch von der Regierung Jüdinnen als verantwortlich für die Ereignisse in
Tudjman ab 1990. Trotz der offiziellen Verankerung Jasenovac dargestellt wurden)(4). Erst nach dem Tod
des Antifaschismus in der kroatischen Verfassung Tudjmans und der Annäherung Kroatiens an die
P R O J E C T X NO 2 2 0 0 9 13
EU versuchten Teile des offiziellen Kroatiens wieder die
NDH-Vergangenheit kritisch zu betrachten. So wurden Literaturempfehlung:
Straßen wieder umbenannt und vom Plan Tudjmans,
aus dem Konzentrationslager Jasenovac eine "gemeinsa- Kroatien-Nummer der Zeitschrift Zeitgeschichte -
me" Gedenkstätte für TäterInnen und Opfer zu machen, http://www.univie.ac.at/zeitgeschichte/,
Abstand genommen. Der Höhepunkt der Erscheinungsdatum: Herbst 2008
Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg war der Ljiljana Radonic: Vergangenheitspolitik in Kroatien –
"Fall Šakić". Der ehemalige Lagerkommandant von Vom Geschichtsrevisionismus zur Aufarbeitung der
Jasenovac Dinko Šakić war noch 1990 selbst beim Vergangenheit?
Bleiburger Ustaša-Treffen in Österreich und traf den Stefan Dietrich: Der Bleiburger Opfermythos
Präsident Tudjman 1994 in Argentinien. Später signali-
sierte er ihm, er habe das "Recht" auf eine Rückkehr Fußnoten
nach Kroatien, denn er sei "ein Opfer historischer 1) Ante Gotovina ist ein kroatischer General im Ruhestand. Seit
Umstände". Šakić wurde 1999 in Zagreb zur 2005 läuft gegen ihn ein Prozess vor dem Internationalen
Höchststrafe von 20 Jahren Haft verurteilt, obwohl dem Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien. Er wird angeklagt,
Urteil monatelange Debatten über den antikroatischen während der "Befreiung" der Krajina 1995 als General der kroati-
internationalen Druck "gewisser Kreise" und schen Armee und damit als Oberbefehlshaber der kroatischen
Verschwörungstheorien bezüglich des Zeitpunkts des Truppen Kriegsverbrechen gegen SerbInnen befohlen zu haben.
Verhaftungsgesuchs des Simon Wiesenthal Zentrums 2) http://cafecritique.priv.at/blog/2008/0 ... er-patriot
vorangegangen waren(5). Ein anderer gesuchter kroati- 3) Siehe Stefan Dietrich: "Der Bleiburger Opfermythos", in:
scher Kriegsverbrecher konnte noch nicht zur Zeitgeschichte, Herbst 2008
Rechenschaft gezogen werden. Milivoj Ašner, ehemali- 4) Siehe Ljiljana Radonic: Vergangenheitspolitik in Kroatien – Vom
ger Ustaša-Polizeichef von Pozega, entzieht sich bis Geschichtsrevisionismus zur Aufarbeitung der Vergangenheit?, in:
heute erfolgreich der kroatischen Justiz. Er lebt unbehel- Zeitgeschichte, Herbst 2008
ligt – da angeblich vernehmungsunfähig – in 5) http://www.shoa.de/content/view/231/46/
Klagenfurt/Celovec und plauderte während der EM, 6) http://www.nachkriegsjustiz.at/aktuelle ...schner.php
nachdem er in der Klagenfurter Fan-Zone gefilmt
wurde, mit einem Sun-Reporter, dem er erzählte, "er sei
jederzeit bereit, vor Gericht auszusagen."(6)
Ihren Vater beschreibt Stefa als groß, schön und char- Über Umwege und alte Freunde kommt die 19-Jährige
mant. Früher diskutierten die beiden viel über Bücher, nach ihrem Spitalsaufenthalt in Kontakt mit dem orga-
Theaterstücke und politische Themen. Dann war er nisierten Widerstand. Fortan arbeitet sie als Kurierin für
weg. Herr Antoni, der Portier ihres Wohnhauses, begibt die Polnische Heimatarmee und schmuggelt Medika-
sich nach drei Tagen voller Sorge und Ungewissheit auf mente, Lebensmittel und die Gazetki genannte Unter-
die Suche und findet ihn mit mehreren anderen grundpresse von Kontaktpersonen zu PartisanInnen-
Gefangenen bei Straßenarbeiten. Doch seine Bitte, Vater einheiten im Wald. Die Professionalität der Gruppe
möge sich ins Auto setzen und mitkommen, weist dieser beeindruckt sie, doch ist sie noch heute darüber
zurück. Es ist gerade Mittagszeit. Keine Wachen, keine
Aufseher, aber Vater sagt: „Dafür werden andere
Kein Jude wird das Blatt mit „Auschwitz-Lüge“
erschossen.“ 14 Tage später werden Stefas Vater und alle
verfassen – denn dort in Auschwitz liegen
seine Mitgefangenen hingerichtet. Stefa notiert: „Soviel
Knochen oder Staub seiner Eltern und Brüder
zu dem Kapitel, 'Sowas tut man nicht'“.
August 1942. Die Stadt ist in Aufruhr. Razzien, Treib- erstaunt, wie naiv sie sich teilweise verhalten hat und
jagden und Verhaftungen läuten die Nacht ein und Stefa wie wenig sie die Gefahren dieser Arbeit einzuschätzen
beschließt in der Werkstätte, wo sie arbeitet, zu über- wusste. So berichtet sie, wie der Zug, in dem sie sitzt, im
nachten. Plötzlich fliegt die Tür auf und ein Tross der Rahmen einer großen Razzia nach Nahrungsmitteln
Gestapo leuchtet mit grellen Taschenlampen in die durchsucht wird. Als sie aussteigt, steht dort ihr Freund
Augen der, vor Angst paralysierten, Frauen. Als einzige Poldek, blass im Gesicht, aufgelöst und sichtlich erleich-
flüchtet Stefa durch einen beherzten Sprung aus dem tert: „Gott sei Dank, Gott sei Dank“ und auf Stefas ver-
Fenster im ersten Stock. Diese Fluchtaktion rettet ihr wunderten Einwand, dass sie doch gar keine
das Leben, bei der Landung auf der Straße erleidet sie Lebensmittel bei sich hätte, antwortet dieser: „Du hast
einen Ellenbogen-, und wie sie erst später erfährt, aber eine Pistole in der Tasche.“ Stefa schreibt später
Schädelbasisbruch. Mit Hilfe einer Prostituierten gelingt dazu: „Die Pistole war ganz klein und leicht. Und ich
ihr der gefährliche Fußmarsch nach Hause, wo Mutter, habe es vergessen...“.
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Ihre Unbekümmertheit und Leichtigkeit erscheint „Kein Jude wird das Blatt mit „Auschwitz-Lüge“
in der Nachbetrachtung jedoch nicht nur als Risiko, verfassen – denn dort in Auschwitz liegen Knochen
sondern auch als Bestandteil ihres Erfolgsrezeptes. oder Staub seiner Eltern und Brüder“, empört sich
Auf die Frage ihres Freundes Kazik, wieso sie in all Stefa Kolowratnik und fügt hinzu: „Herr Wiesenthal
der Zeit keine Schwierigkeiten gehabt hat, antwortet braucht keine standing ovations, er agiert unter
sie: „Ich habe es mir überlegt und ich glaube, dass anderen Voraussetzungen. Er ist überzeugt von
es von der eigenen Haltung abhängt, und einer Spur
Glück. Du musst du selbst bleiben, möglichst wenig Man denkt nicht ob man bleibt,
lügen, keinen Loser-Blick haben und nicht traurig man lebt dort
schauen.“ So fährt sie häufig im Eisenbahnwaggon
„Nur für Deutsche“, um dort ihren Kontaktoffizier dem, was er tut und das genügt ihm.“
der Polnischen Heimatarmee zu treffen und ver- 2003 fährt sie nochmal nach Lemberg und besucht
langt bei Leibesvisitationen den befehlstragenden all die Orte aus ihrer Erinnerung. Orte die Kindheit
Kommandanten, um diesen dafür runter zumachen, und Jugendlichkeit, Leichtigkeit und Freude, aber
dass seine Leute unbescholtene, aufrechte Bürger auch Furcht und Tod bedeuten. Die Stadt ist ihr
aufhalten würden. immer noch vertraut. Die Fassaden sind renoviert
Flucht war für Stefa Kolowratnik kein Thema. „Die und die Bauten zeugen von vergangenen Epochen,
Beweglichkeit war unmöglich“ und ihr Bezug zu von der Renaissance bis zum letzten Kriegs-
Polen zu groß. „Man denkt nicht, ob man bleibt, ausbruch.
man lebt dort“, sagt sie und verweist auf Familie, Gedenkstätten an den Orten, wo so viele ihrer
Freunde und die gemeinsame Sprache. Emigriert ist Lieben ihr Leben lassen mussten, sucht sie
sie erst nach dem Krieg. vergeblich. „Ich brauche sie nicht, aber sie.“
1945 beginnt sie ihr Medizinstudium in der Schweiz
und schlägt damit einen Weg ein, der sie mal hier Der Tag an dem wir sie besuchen ist der Tag nach
und mal dort hinführt. In der Folge praktiziert sie ihrem 85. Geburtstag. Unzählige Blumengeschenke
unter Anderem in Polen, Ungarn, Korea und treuer PatientInnen schmücken das Wohnzimmer.
schlussendlich in Österreich. Dem realen „Jetzt höre ich auf “, betont sie noch einmal. Neben
Sozialismus in Polen attestierte sie keine Überle- Kekskrümeln und leeren Kaffeetassen liegt irgend-
benschancen: „er [wurde] nicht erkämpft, sondern wo auf dem Tisch „Krieg und Frieden“ von Leo
nur aufgedrängt und aufgezwungen, und das durch Tolstoj. Das will sie jetzt nochmal lesen. Aber nicht
die aus historischen Gründen verhassten Russen.“ die deutsche Übersetzung, sondern im russischen
Das System beschreibt sie als „totalitär und polizei- Original. „Die ist wunderschön.“
lich“ und erinnert sich an ein Telefonat, dass sie mit
einem Freund auf französisch hielt. „Plötzlich schal-
tete sich eine Männerstimme ein und sagte: 'Bitte
polnisch sprechen'.“
1975 eröffnet sie ihre Praxis im dritten Bezirk in
Wien. Ende der 80er Jahre hält Simon Wiesenthal
einen Vortrag in der Wiener Josefstadt. Kurz vor
Beginn beschimpft ihn jemand lautstark als
„Mörder“ und vom Balkon werden Flugblätter mit
der Aufschrift „Auschwitz jüdische Lüge“ geworfen.
In geselliger Runde bei Patient und Nachbar Hans
wird über die Geschehnisse debattiert und ein
anwesender Theaterintendant wirft in die Runde,
dass das alles von den Juden inszeniert gewesen sei.
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Strukturelle Gewalt:
Die Systematisierung von
Deportationen
ine Entwicklung im Rahmen der mit Charterflugzeugen zu organisieren. Da
E Abschottungspolitik der EU ist, Menschen Abschiebungen mit kleinen Chartermaschinen sehr
S c h w e r p u n k t
mittels Charter- oder Militärflugzeugen außer teuer waren, wurden Linienflugzeuge genutzt. Dies
Landes zu schaffen. Diese Operationen gehen prak- sei jedoch nur dann gegangen, wenn sich die
tisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit vonstattenAbzuschiebenden ruhig verhielten. (1)
und sie finden kaum kritische Aufmerksamkeit. Zum Zeitpunkt des Prozesses wurden in Österreich
Gelegentlich dringen Meldungen der Behörden bis in bereits Charterabschiebungen durchgeführt, zum
die Medien vor, in denen diese ihre "Erfolge" bei ersten mal am 24. Juni 1999 mit einem Lear-Jet des
"effizienten Deportationen" feiern. Dieser Artikel Internationalen Flugrettungsdienstes (IFRA). Diese
fasst Informationen der letzten 10 Jahre zusammen, Charterabschiebung war eine Reaktion der Behörden
um einen Einblick in die europäische auf den gewaltsamen Tod von Marcus Omofuma.
Abschiebepolitik zu geben. Kurz danach, am 1. Juni 1999, traten neue
"Richtlinien für die Organisation und Durchführung
Anfänge gemeinsamer Massenabschiebungen von Abschiebungen auf dem Luftweg" in Kraft. Diese
Richtlinien sehen vor, dass sogenannte
Im Prozess gegen jene drei Fremdenpolizisten, die "Problemabschiebungen" nur mehr mit gecharterten
Marcus Omofuma im Zuge einer Deportation mit Flugzeugen durchgeführt werden. Schon damals gab
einem Linienflugzeug am 1. Mai 1999 töteten, wur- es europaweit Bestrebungen, gemeinsame
den Abschiebungen mit Charterflugzeugen themati- Charterabschiebungen zu organisieren.
siert. Der Richter stellte die Frage, warum Der Kostenfaktor diente beim Prozess gegen die drei
Problemabschiebungen nicht abgebrochen und die Fremdenpolizisten in Korneuburg als Haupt-
Schubhäftlinge in der Folge wegen Widerstand gegen argument zur Rechtfertigung der Durchführung von
die Staatsgewalt angezeigt, bzw. warum keine Deportationen in Linienflugzeugen unter massiver
Chartermaschinen eingesetzt würden. Der Antwort Anwendung von Gewalt. Einerseits ging es um die
eines ehemaligen Kriminalbeamten zufolge würden entstehenden Kosten beim Abbruch einer
Abschiebungen mit Charterflugzeugen ca. 47.000 Abschiebung, andererseits um die hohen Kosten von
Euro kosten, andere nur 4360. Ein leitender Beamter Charterflugzeugen, insbesondere dann, wenn nur
der Fremdenpolizei rechtfertigte die massive wenige Abzuschiebende in ein Land geflogen wer-
Gewaltanwendung bei den. Einige der Beamten
Abschiebungen, die u.a. wünschten sich vor Gericht
zum Tod von Marcus mehr Geldmittel von der
Omofuma führte, mit Politik, damit Deportationen
einer "extrem schwierigen effizienter durchgeführt wer-
Situation". Von politischer den können. Die Anwendung
Seite sei keine Möglichkeit von Gewalt wurde dabei nicht
geschaffen worden, euro- in Frage gestellt.
paweit Abschiebungen
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ls am 1. Mai 1999 drei Beamte der österreichischen sie, dass es sich um einen Menschen handelte, der sich
A Fremdenpolizei damit begannen, eine Abschiebung
durchzuführen, starteten sie eine zwar nicht alltägliche
in einer Notlage befand, der Angst hatte. Eine Person,
die um ihr Leben kämpfte.
aber doch durchaus übliche Amtshandlung. Da bei der Die begleitenden Beamten waren sich demgegenüber
Abschiebung von Marcus Omofuma mit Widerstand zu einig, dass das Verhalten des ihnen Anvertrauten recht-
rechnen war, wurden drei Beamte zur Begleitung des fertigte, das mitgebrachte Set einzusetzen. Dieses
Schubhäftlings nach Nigeria eingeteilt. Sie sollten die bestand laut Aussagen vor Gericht aus Leukoplast,
Gelegenheit nutzen, Marcus Omofuma abzuschieben, Klebebändern und Klettverschlussbändern, die bei
bevor er in seinem laufenden Asylverfahren, das in Abschiebungen von Beamten zu Beamten weitergegeben
zweiter Instanz abgewiesen worden war, einen weiteren wurden und nicht zur offiziellen Ausrüstung gehörten,
Schritt einleitet würde. Ein durchaus übliches Vorgehen. sondern privat angekauft wurden.
Die Fremdenpolizisten brachten Marcus Omofuma mit
einem Bus zum Flughafen Wien-Schwechat. Alles sei
ruhig verlaufen, bis sie das Rollfeld erreichten. Dort
hätte der Gefangene plötzlich begonnen, um sich zu
schlagen, um sich selbst zu verletzen und so die
Abschiebung abzubrechen. Sogar einen Fluchtversuch
hätte er begangen. Gemeinsam mit am Flughafen zur
Unterstützung von Abschiebungen anwesenden
Kranichen (Flughafenpolizei) gelang es, den sich gegen
die Abschiebung Wehrenden zu fesseln und zu knebeln.
Irgendwann - ein paar Tage später - wurde dann davon
gesprochen, Marcus Omofuma hätte gebissen. Die
Kronenzeitung, die auflagenstärkste Tageszeitung in
Österreich mit einer Reichweite von ca. 40 Prozent, titel-
te: "So tobte der Schubhäftling" und wurde dafür vom
Presserat verurteilt. Doch die Vorverurteilung des
Getöteten war längst geschehen.
Der sich nicht mehr bewegen könnende Gefangene
wurde dann von zwei Kranichen in das bereits mit
PassagierInnen besetzte Flugzeug getragen und auf sei-
nen Sitz gesetzt. Bis zu diesem Zeitpunkt habe keine
strafbare Handlung vorgelegen, darüber waren sich
Staatsanwalt, Richter und Verteidigung einig.
Selbst konnte Omofuma zu diesem Zeitpunkt aufgrund
der ihm "zu seinem Schutz" - wie vor Gericht zynisch
formuliert wurde - angelegten Fesselungen nicht mehr
gehen. Die vor Gericht erschienenen PassagierInnen
waren sich jedenfalls darüber einig, dass von Marcus
Omofuma keine Gefahr ausging, vielmehr erkannten Marcus Omofuma Stein auf der Mariahilferstraße
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Das Innenministerium setze zwar private Charter- eines derartigen Abschiebeflugzeugs zu klein. Daher
maschinen für Sammeltransporte ein, doch in die- laufe die "Marktforschung" bei den europäischen
sen herkömmlich ausgestatteten Fliegern müssten Regierungen. Erst wenn der ungefähre Bedarf an
bei jedem Abzuschiebenden zwei Cobra-Beamte sit- Personen und Flugkilometern feststehe, könne auch
zen. Damit seien zwei Drittel des Flugzeuges mit die Entscheidung für die Flugzeugtype fallen.
Polizei besetzt.
Dieser Vorschlag erregte merhmaliges mediales
Deshalb entwickelten die "Abschiebeexperten" den Interesse auf EU-Ebene, doch bald war nichts mehr
Vorschlag, in speziell adaptierten Abschiebeflugzeu- davon zu hören. Doch Abschiebungen werden
gen kleine Kojen zu montieren, um die Bewegungs- weiterhin durchgeführt: sowohl mit Linien-, als
freiheit der Betroffenen zu reduzieren. So könne auch mit gecharterten und Mitlitärflugzeugen.
gegebenenfalls auf Fesseln und Klebebänder ver- Zahlreiche Unternehmen beteiligen sich an diesem
zichtet werden. Alle Metallteile sollten mit Geschäft. Die Unternehmer Berger, Heller und
Schaumstoff abgedeckt, die Sanitäranlagen umge- Wagner sind ein Beispiel - stellvertretend für viele
baut werden. Außerdem sollte eine Profiteur_innen der Abschiebepolitik und ihrer
Wachmannschaft, medizinisches Personal und einE Umsetzung.
BeobachterIn einer Menschenrechtsorganisation an
Bord sein. Nach Angaben der drei selbsternannten Mehr zu Abschiebefluglinien: http://no-
Abschiebeexperten ist Österreich mit seinen 71 racism.net/thema/50
Luftabschiebungen im Jahr 2006 für den Betrieb
Im Rahmen des Prozesses wurde mehrmals die ver- Heinz Patzelt fand für seine Forderung Unterstützung
mehrte Nutzung von Charterflugzeugen als „Lösung“ vom Verteidiger der Folterpolizisten. Der Anwalt eines
für das Problem der Gewaltanwendung bei Abschie- angeklagten Beamten fragte in seinem Schlussplädoyer:
bungen durch Exekutivorgane gefordert. Was das mit "Sollen gar keine Abschiebungen mehr stattfinden?
dem Verhalten der Angeklagten zu tun hat? Eine be- Dann soll man sich dazu bekennen!" Doch dazu ringe
rechtigte Frage: Die Praxis von Charterdeportationen man sich nicht durch, statt dessen würde eine "humane
zeigt, dass diese mit noch massiverer Gewalt durchge- Abschiebepolitik" betrieben. Es würden schon ein paar
führt werden, unter Ausschluss der Öffentlichkeit und Sätze eines Abzuschiebenden genügen, um eine
fast ohne Möglichkeit für die Gefangenen, sich dagegen Abschiebung per Linienflugzeug zu verhindern. Dass es
zu wehren. Sie sind, an Händen und Füßen gefesselt, der diese überhaupt noch gäbe, liege an den niedrigeren
Willkür der Beamten ausgeliefert und werden notfalls Kosten gegenüber Charterdeportationen. Und daran,
unter zwangsweiser Verabreichung von Medikamenten dass sich die Behörden "nach außen hin ein Mäntelchen
"ruhig gestellt", wie eine Sammeldeportation im April der Humanität" umhängen würden. Die rassistischen
2006 von Hamburg in den Benin veranschaulichte. Rechtfertigungen des Verteidigers der Folterpolizisten
erfolgten während des gesamten Prozesses ohne
Umso mehr verwundern die Forderungen von soge- Einspruch des Richters und der übrigen im Gerichtssaal
nannten Menschenrechtsverteidiger_innen in Öster- Anwesenden.
reich. So schlug Heinz Patzelt, Generalsekretär von
amnesty international in Österreich vor, Abschiebungen Mehr zum Prozess: http://no-racism.net/article/1795
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Bilder von den Protesten gegen die Repression "Stop the massive arrests and the police pressure around the camp"
gegen das Refugees Camp Afgan Refugees
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bar. Trotzdem hat Mustafa es geschafft als junger Mann Mustafa kroch damals unter eine LKW Plane und ver-
ein zweites Mal aus Afghanistan zu fliehen, sein Weg steckte sich. Er wurde mit dem LKW auf die Fähre ver-
führte ihn über den Iran und die Türkei nach Griechen- laden, wo er über 30 Stunden an Bord ausharrte, immer
land bis nach Partas. Doch hier hat er keine Zukunft, mit der Angst ertappt zu werden. Ohne Proviant oder
denn körperliche Arbeit kann er nicht verrichten und Sanitäranlagen und unbemerkt von den, sich auf Deck
als afghanischer Ingenieur mit schlechten Griechisch- sonnenden, TouristInnen. Es war Zufall, dass er nicht
Kenntnissen findet er hier keine Arbeit. Große Hoff- am Hafen schon ertappt wurde, denn die LKW- Fahrer
nung sieht er in Griechenland nicht für sich. Belgien ist sind sehr gründlich bei der Kontrolle ihrer Wagen. Falls
sein Ziel, sein Onkel wohnt dort und da sei vieles besser, die Polizei einen Flüchtling auf ihrem Wagen erwischt,
sagt er mit überzeugtem Blick. Er sei schon einmal dort ist die Anzeige wegen Menschenhandel Usus. In Italien
gewesen, mehrere Male habe er es schon geschafft nach angekommen hatte die Tortur noch kein Ende, sein Ziel
Westeuropa zu kommen. Er versuchte es jeden Tag und war Belgien. Mit dem Zug ohne Ticket, zum Teil zu Fuß
auf verschiedenste Arten auf die, im Sommer täglich kam er nur langsam voran, mehrere Wochen dauerte
ablegenden, Fähren nach Italien zu kommen. Und ein- sein Weg. Natürlich war er sehr erleichtert, als er wirk-
mal schaffte er es wirklich. Bei Tag über den drei Meter lich bei seinem Onkel in Belgien ankam, so erzählt er,
hohen und mit Nato-Draht gesicherten Zaun am Hafen. und alles ohne eine einzige Polizeikontrolle auf dem
Das gelingt meistens noch. Dann versteckte er sich vor Weg dorthin, was seinem Glück zu verdanken war. Seit
der patroulierenden Hafenpolizei. Denn nicht nur, dass dem Schengener Abkommen kann die Polizei innerhalb
sie ihn des Hafengeländes verweisen würden, Tote des Schengen Raumes jederzeit willkürlich Personen-
durch die Polizei gibt es immer wieder, ihre Zahl ist kontrollen durchführen.
schwer zu schätzen, niemand weiß wer die Überfahrt Als er nun endlich in Belgien mit Hilfe seines Onkels
geschafft hat und wer verschwindet; Schläge von der Asyl beantragte, schoben die Behörden ihn kurzer Hand
griechischen Polizei stehen auf der Tagesordnung. wieder nach Griechenland ab. Nach den Verträgen von
Noch während wir mit Mustafa sprechen, kommt ein Dublin werden Asylsuchende in das Land abgeschoben,
Mann mit Platzwunde am Kopf; er ist am Hafen von der in das sie als erstes in die europäische Union eingereist
Polizei verprügelt worden. Außer für uns ist es für nie- sind. Um die Durchführung dieser Verordnungen zu
manden bemerkenswert oder außergewöhnlich. Alle gewährleisten, werden seit Jänner 2001 Fingerabdrücke
paar Wochen wird auch die Siedlung von Polizei inspi- von Asylsuchenden mit sogenannten „Live Scannern“
ziert, manchmal gehen sie mit Fotos durch und suchen genommen und in der Regel zehn Jahre lang in der
einzelne Menschen. „Eurodac“ Datenbank gespeichert.
Der Hafen von Patras ist wie eine Hochsicherheitszone „Und jetzt bin ich wieder hier.“, sagt er mit einem bitte-
abgeriegelt, die Hafenpolizei ist stark präsent und sie ren Lächeln, er sitzt in der Siedlung fest und kann nicht
geht rigoros vor. vor und nicht zurück. Die Lage in Afghanistan bleibt für
"Freedom is our fundamental right that must be given to us" - Afgan Refugees "Stop the massive and inhuman persecutions against us"
Afgan Refugees
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nicht absehbare Zeit gefährlich, wenn die Taliban dem richtigen Moment Patras hinter sich zu lassen.
ihn ein weiteres Mal erwischen, würden sie ihn Im Rückspiegel des Autos sehen wir noch den Be-
töten, das ist für Mustafa Gewissheit. Nach Belgien ginn eines Versuchs den Zaun das letzte Mal zu
zu seiner Familie zu kommen, bleibt ihm durch die erklimmen. Das ist das Spiel, das jeden Tag aufs
Dublinverordnung verwehrt. Neue beginnt. Ein Spiel, bedingt durch die Europä-
Die Lage in Patras ist nicht tragbar für die Migran- ische Asylpolitik, welche für Menschen auf der
ten in der Siedlung, alle wollen weiter auf das euro- Flucht fatale Folgen hat.
päische Festland. Die Gründe sind, neben den Der Moment der noch lange bitter nachwirkt, ist
Lebensbedingungen in Patras und dem Wunsch auf jener, das Hafentor an Polizei vorbei zu durch-
körperliche Unversehrtheit, auch die Hoffnung auf schreiten, die Fähre mit allen nur das Ende ihres
der Flucht verstreute, Verwandte zu finden. Sommerurlaubs bedauernden TouristInnen zu
Patras ist Zwischenstation. besteigen und als privilegierte westeuropäische
„Und wenn ich zurück will?“ fragt ein Mann mit Person mit westeuropäischen Papieren, Patras zu
einem sarkastischen Unterton in der Stimme. Dann verlassen.
müsste er den ganzen gefahrenvollen Weg über die
Türkei und den Iran wieder zurücklegen, ohne (1) Warum nur Männer in der Siedlung leben, war
finanzielle Mittel und ohne jegliche Unterstützung. nicht genau herauszufinden. Wahrscheinlich liegt es
Da wird deutlich, es gibt weder vor noch zurück für daran, dass die Bedingungen zur Flucht für Frauen,
die Männer von Patras. gerade aus Afghanistan oder dem Iran, stark
Als wir auf dem Rückweg von der Siedlung zum erschwert sind und für diejenigen Frauen, denen die
Hafen sind, sehen wir Gruppen von Männern am Flucht gelingt, diese Siedlung in Patras keine Option
Zaun entlang streifen, immer auf der Suche nach darstellt.
Wie viele Verwandte von Dir sind in die USA gegan- und Schlafen besteht. Freiheiten haben sie keine.
gen? Was waren ihre Erwartungen und Hoffnungen Und natürlich ist auch der Weg in die USA sehr
und was hat sich davon erfüllt? schwierig. Ich habe auch einen Bruder, der vor drei
Jahren gegangen ist, um uns unterstützen zu kön-
Ich habe elf Cousinen und Cousins, die gegangen
nen. Er hatte ein Stipendium und hat in El Salvador
sind. Sie leben jetzt an verschiedenen Orten in den
Zahnmedizin studiert. Aber er hat gemerkt, dass
USA. Meine Onkel haben geschaut, was sie tun
das Geld nicht reicht. Von dem Stipendium konnte
können, um ihnen die Reise zu ermöglichen. Sie
er nicht den Buspreis und Essen bezahlen und auch
haben Kühe verkauft, die sie hatten, um den ersten
noch mir helfen, da ich noch zur Schule ging.
zu schicken. Danach war es wie eine Kettenreaktion:
Verzweifelt hat er gesehen, dass auch meine Eltern
Einer hat den nächsten nachgeholt. Ich habe den
kein Geld mehr hatten. Er wollte ihnen helfen, uns
Eindruck, dass sie viel erreicht haben. Sie und ihre
allen ein besseres Leben ermöglichen, deswegen hat
Familien haben einen höheren Lebensstandard.
er sich entschieden, in die USA zu gehen. Meine
Aber sie haben ein hartes Leben, das nur aus Arbeit
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Mutter ist gestorben, ohne dass er sie noch einmal sehen mich hätten, wenn ich käme. Ich hätte in einem Hotel
konnte, denn er ist ohne Papiere dort. Es war schreck- die Betten bezogen oder so etwas.
lich für ihn.
Hat sich für Euch als Familie die Lebenssituation dadurch
Deine Verwandten leben weiterhin alle ohne Papiere in verbessert, dass Ihr so viele Angehörige in den USA habt?
USA?
Ja klar. Es gibt einen großen Unterschied in den
Ja, und das ist ganz schön schwierig. Sie haben immer Annehmlichkeiten, die wir heute haben. Es ist nicht so,
Angst, in Kontrollen zu geraten. Sie sind immer auf der dass wir jetzt alles hätten, aber es ist besser geworden.
Flucht und leben eingesperrt. Von der Arbeit in die Und zum Beispiel mein Cousin, der als „Coyote“ (2)
Wohnung und zurück. Meine Cousins erzählen mir, arbeitet, hat jetzt Geld. Er hat ein paar schöne Häuser
dass es langweilig ist und dass sie El Salvador vermissen. und Grund gekauft. Auch unser Haus in Chalatenango
Das einzige, was sie dort machen wollen, ist arbeiten, (3) ist jetzt richtig schön hergerichtet. Aber als Familie
Geld verdienen und zurückkehren. Sie sagen, die USA fühlt sich diese Trennung schrecklich an. Sie sind so
sind nicht so, wie es aus der Ferne dargestellt wird, die weit weg, und du kannst sie nicht sehen. Höchstens tele-
Lösung aller unserer Probleme. Es fühlt sich an, als sei fonieren. Mir fehlt mein Bruder sehr.
man im Gefängnis. Sie können auch nicht viel ausgehen,
nicht in die Disco, weil da manchmal die „Migra“ (1) Hast Du noch vor in die USA zu gehen?
kontrolliert. Auch in die Arbeit kommt die „Migra“
Nein. Mich hat das eigentlich nie gereizt. Für mich war
manchmal. Sie müssen sich dann verstecken oder krie-
es nie ein Traum, dort hinzugehen, um zu arbeiten.
gen einen Tag frei, weil der Chef schon weiß, dass sie
Vielleicht um zu studieren. Aber das ist natürlich ganz
kommen. Klar, die müssen ja
was anderes. Ich habe einfach keine Lust, ohne
auch hohe Strafen zahlen, wenn
Papiere dort zu leben. Im Juni dieses Jahres woll-
sie "Illegale" beschäftigen.
te ich mich dann jedoch auch auf den Weg
machen, um meiner Lebenssituation zu entkom-
Was arbeiten sie?
men und wegen meiner Mutter, die gestorben
Mein Bruder arbeitet als Maurer war. Ich war depressiv und wollte hier weg. In
auf Baustellen. Von meinen den USA sah ich eine Möglichkeit, allem zu ent-
Cousinen arbeitet eine in einem kommen. Und mein Cousin, der „Coyote“, hatte
Restaurant, eine andere badet schon alles vorbereitet. Ich hätte ihn im
Hunde. Und sie verdient gut! Ich Nachhinein bezahlen können, sobald ich eine
Schild der Borderpatrol:
hätte nie geglaubt, dass man für das Achtung! Setze nicht das Arbeit gehabt und Geld verdient hätte. Mein
Baden von Hunden viel Geld Leben den Elementen aus. Bruder, der mit mir in El Salvador lebt, hat mich
Es zahlt sich nicht aus...
bekommt! Eine andere pflegt alte unterstützt und wollte, dass ich gehe. Aber mein
pflegebedürftige Menschen, ein anderer als Gärtner, anderer Bruder, der in den USA ist, sagte mir, dass er
andere als Hausangestellte. mich nicht empfangen wolle, weil er nicht wolle, dass
ich auf dem Weg mein Leben riskiere. Es ist so schwie-
Wie sind sie zu diesen Jobs gekommen? rig, gerade für Mädchen und Frauen. Ich hätte auf dem
Weg vergewaltigt werden können. Auch meine Cousine
Über andere Verwandte. Als mein Bruder angekommen
hat mir damals abgeraten.
ist, hatten sie schon Arbeit für ihn besorgt. Über
Cousins, die schon seit Jahren dort sind. Genau so war
Wie kam es, dass dein Cousin „Coyote“ geworden ist?
es bei meinen Cousinen. Es ist wie eine Kette. Wenn Du
planst, zu gehen, musst Du ja schon wissen, wo Du Auch er hatte kein Geld und sah keine Perspektiven für
ankommen wirst, und wer Dir helfen wird. Zumindest sich. Angefangen hat es mit seiner Schwester, die einen
für die ersten Tage, bis Du das Arbeiten anfängst. Meine Verehrer hatte, der „Coyote“ war. Der hat dann meinen
Cousinen haben mir gesagt, dass sie sofort Arbeit für Cousin beschäftigt, hat ihm vieles beigebracht und
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gezeigt, wie man Geld damit verdient. Mein Cousin Guatemala. Dann an der Grenze übernimmt ein
fing dann an, Leute zu suchen, die gehen wollen anderer. Es wäre sehr hart für die „Coyotes“ immer
und das Geld dafür beisammen haben. Dafür hat er den ganzen Weg zu machen. Eine Gruppe sind
ungefähr 200-300 US-$ verdient. Danach hat er immer mindestens 30 Personen und alle zwei
angefangen, nicht mehr nur Interessierte für andere Wochen geht so eine Gruppe von ihm los.
„Coyotes“ zu suchen, sondern auch selbst Leute auf Manchmal bleibt er dann gleich in Mexiko und
den Weg in die USA mitzunehmen. So hat er die übernimmt den Teil, sie in die USA rein zu bringen
mexikanischen Grenzen kennen gelernt und den und andere bringen sie von El Salvador zu ihm. Das
ganzen Weg. Inzwischen hat er einen großen ist dann ein Problem, weil diese anderen schon häu-
Kundenstamm und wird weiter empfohlen. fig ihre Macht missbrauchen und z.B. die Frauen
vergewaltigen.
Wer sind denn die, die weggehen? Ein „Coyote“ ist ja
nicht billig. Dieser Job ist aber auch sehr riskant für ihn, oder?
Es ist eben wieder diese Kette. Die, die schon in den Ja, er hat jetzt schon öfter gesagt, dass er keine Lust
USA sind, holen die nächsten nach. Und da die mehr auf den Job hat. Er ist schon zweimal von der
meisten aus den Dörfern hier schon Verwandte in „Migra“ gefasst worden. Er hatte allerdings Glück,
den USA haben, werden sie "nachgeholt". dass die Leute sich dran gehalten haben, nichts zu
verraten und so ist er durchgegangen als einer derer,
Sie zahlen dann dort also erstmal ihre Schulden ab? die einreisen möchten. Dann wurden sie ins
Gefängnis gesteckt. Aber wenn jemand verraten
Ja genau. Oder wenn die „Coyotes“ nett sind, dann
hätte, dass er der „Coyote“ ist, dann hätte er ernst-
kannst Du es in Raten bezahlen. 3.500 US-Dollar
hafte Probleme gehabt und hätte sehr lange
vorher, 3.500 nachher, wenn du schon zu arbeiten
Gefängnisstrafen bekommen können.
angefangen hast. Mein Cousin hat schon viele Leute
so mitgenommen. Die haben dann halt erst im
Die Kontrollen beginnen ja aber nicht erst in den
Nachhinein bezahlt. Aber es gab natürlich auch wel-
USA…
che, die nicht mehr gezahlt haben. Seitdem hat er
keine Lust mehr, das zu machen. Die Kontrollen beginnen in Guatemala, und schon
für Mexiko brauchen wir ein Visum. Es ist sehr
Du siehst also den Job deines Cousins nicht als schwer, dieses Visum zu bekommen. Sie gehen
schlecht an? natürlich davon aus, dass die Leute das Visum wol-
len, um bequemer Richtung USA reisen zu können.
Mein Cousin macht das, weil er von der extremen
Es ist billiger so: Du zahlst dann "nur noch" 3.000
Armut hier weiß. Und er hat ein großes Herz. Wenn
US-$, um über die Grenze in die USA gebracht zu
er Leute sieht, die wirklich gehen müssen, dann bie-
werden und hast nicht vorher schon die ganzen
tet er ihnen Hilfe an. Meine ganze Familie ist ja auf
Qualen in Guatemala und Mexiko. Es ist weniger
diese Art gegangen. Die haben ihn alle erst hinter-
riskant.
her bezahlt. Aber mein Cousin ist sehr verantwor-
tungsbewusst. Von ihm wirst Du nie solche
Denkst Du, dass die Mauern, die gebaut werden und
Geschichten hören, dass er sich an den Mädchen
die ganze Überwachungsmaschinerie den täglichen
vergriffen hätte. Er wird deswegen auch viel weiter-
MigrantInnenstrom irgendwann bremsen werden?
empfohlen, weil eben die Leute, die schon gegangen
sind, Empfehlungen geben an die, die gehen wollen. Nein, letztlich ist das eine Farce. Sie machen das,
Das Problem ist allerdings, dass er selten die ganze um uns Angst einzujagen. Und es kommt ihnen
Reise mit der Gruppe unternimmt. Er arbeitet doch auch sehr gelegen, dass es so viele
immer mit anderen zusammen in Ketten. Einer MigrantInnen ohne Papiere gibt, die für sie arbei-
bringt sie von El Salvador zur Grenze nach ten. Als die „Illegalen“ ihre Demonstrationen
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gemacht haben und gestreikt haben (4), da stand alles Meine Mutter ist von meinem Vater erniedrigt und
still. Da hat man gemerkt, wie grundlegend ihre Rolle geschlagen worden, als sie noch zusammenlebten. Er hat
für die Wirtschaft ist. ihr immer gesagt, dass sie zu nichts nütze sei und dass
sie nie etwas erreichen würde. Meine Mutter konnte
Was sind deine Pläne für die nächsten Jahre? nicht lesen und schreiben. Und ich möchte studieren,
weil ich nicht möchte, dass ich eines Tages von irgend-
Ich habe letztes Jahr Abitur gemacht und möchte jetzt
wem erniedrigt werde. Ich möchte arbeiten und meine
Jura studieren. Ich möchte es nicht so machen wie viele
Kinder ernähren können. Stell Dir vor, du heiratest
aus meiner Familie, die als einzigen Ausweg sehen, in
einen Akademiker und der sagt dir vielleicht am Anfang
die USA zu gehen. Und sie reden auf mich ein: „Wozu
noch, wie toll du bist und wie sehr er dich schätzt, aber
willst du denn studieren, um dann fertige
letztlich wird es schwer sein, wenn du ihm intellektuell
Rechtsanwältin zu sein und keine Arbeit zu finden?“ Ich
unterlegen bist. Da wird es dann immer Unterdrückung
bin mir bewusst, dass sie da schon Recht haben, denn
geben. Das soll mir nicht passieren!
ich sehe ja die Realität El Salvadors. Aber eine gute
Bildung und Wissen kann dir keineR nehmen. Bei mir
hat diese Einstellung auch mit meiner Familie zu tun.
n Sierra Leone herrschte von 1991 bis 2002 Krieg zwi- Hinweis: Das Interview wurde von uns aus dem
I schen der Regierung und den regierungstreuen
Milizen und der Rebellenorganisation RUF (Revolu-
Englischen ins Deutsche übersetzt und gekürzt. Wir
haben uns bemüht, das Gesagte möglichst unverändert
tionary United Front). Seit 2002 gilt dieser als offiziell wiederzugeben. Durch die Kürzung und Übersetzung
beendet. Die Konfliktursachen sind vielfältig: Neben war dies leider nicht hundertprozentig möglich.
Gründen wie die auf die Unabhängigkeit folgenden
dreißig Jahre, während derer verschiedene politische Worum ging es deiner Meinung nach im Krieg?
Parteien um die Vorrangstellung konkurrierten, und die
geprägt waren von Militärumstürzen, offizieller Kor- Sogar in Sierra Leone wissen viele Menschen nichts
ruption, Wahlbetrug usw. Es gilt vor allem das reichliche über die Gründe des Krieges. Manche sagen, es wurde
Vorkommen an Diamanten und der daraus resultieren- um Diamanten gekämpft, andere sagen, es ging um das
de Konflikt um die Kontrolle der bedeutenden Diaman- Präsidentenamt. Alle Teile des Landes, wo Diamanten
tengebiete als eine entscheidende Konfliktursache. geschürft wurden, wurden von den Rebellen kontrol-
Sowohl in den Rebellengruppen als auch in den regie- liert. Sie rekrutierten junge Burschen, gaben ihnen Geld
rungstreuen Milizen der CDF (Civil Defence Forces) und Munition. Wenn du versucht hast, dich zu weigern,
wurden KindersoldatInnen in großer Zahl eingesetzt. haben sie dich getötet oder dich festgehalten und gesagt:
„So you go, choose, Short sleeves or either long sleeves“.
Mamadi war ein Kindersoldat bei der RUF. Er ist im Das hieß, sie haben dir bei Verweigerung entweder die
Kono-Distrikt, im Westen Sierra Leones geboren. Seit Hand beim Handgelenk oder beim Ellbogen abgehackt.
vier Jahren lebt er in Wien. In einem Interview erzählte Du denkst vielleicht, wenn du mitgehst, könntest du
er uns über seine Zeit als Kindersoldat. später noch einmal weglaufen, aber das stimmt nicht.
Wen sie verdächtigten, dass er weglaufen wollte, haben
sie getötet.
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Du warst ein Kindersoldat in diesem Krieg. Wie ist es und nach Diamanten gesucht.
dazu gekommen?
Wie habt ihr gelebt?
Die Rebellen kamen nie direkt in die großen Städte,
sie zogen von Dorf zu Dorf. Als der Krieg begann, Im Wald haben wir aus Ästen Zelte gebaut.
wollten viele Menschen fliehen. Doch die Regierung Irgendwer musste in der Nacht immer Wache hal-
sagte, dass nichts passieren würde und alle bleiben ten. Um wach bleiben zu können, habe ich „gun
sollten. Sie haben gelogen. Meine Mutter wollte powder“ genommen. Wir haben dauernd die Stand-
auch gehen, doch mein Vater beruhigte sie: Die orte gewechselt. Einige Zeit lang waren wir in der
Rebellen würden nicht ins Kono-Distrikt kommen. größten Stadt im Kono-Distrikt. Diese Gegend ist
Eines Morgens hörte ich: heute Nacht haben die sehr reich an Diamanten. Die Rebellen brauchten
Rebellen angegriffen. Sie haben die Straße blockiert, die Diamanten, um sie gegen Munition zu tauschen.
die einzige, die von uns nach Freetown führte. Auch die Regierung wollte die Kontrolle über die-
Darum flüchteten wir alle in den Wald. Dort wur- sen Ort. Als die Regierungstruppen zu stark wur-
den aber auch viele gefangen. Ich wurde von meiner den, mussten die Rebellen wieder abziehen. Wir
Familie getrennt und gezwungen, mit zu gehen. Seit folgten in den Wald…oder in eine andere Stadt.
dem habe ich nie mehr etwas von meiner Familie
gehört. Gab es auch Mädchen?
Wie ist es dann weitergegangen? Nicht viele. Wenn sie (die Rebellen; Anm.
der Red.) in eine Stadt eindrangen und
Sie zeigten mir, wie man ein ein schönes Mädchen sahen, haben sie sie
Gewehr bedient. Aus den einfach mitgenommen. Der Captain
Patronen haben sie das Pulver würde einfach sagen: “Komm mit mir, ich
herausgenommen, es mit etwas mag dich.“ Du kannst nicht nein sagen.
anderem vermischt und dir Manchmal haben sie das Mädchen ein
dann gegeben. Deine Augen paar Mal missbraucht und sie dann ein-
wurden davon rot. Du hast dich fach getötet.
vor nichts mehr gefürchtet…du
wolltest töten. Irgendwann Hattest du Freunde innerhalb der
willst du die Gruppe nicht mehr Rebellengruppe? Halft ihr euch gegenseitig?
verlassen, du bist "happy".
Nein, in unserer Sprache sagen wir: „Jeder kämpft
Wie viele Kinder wart ihr in eurer Gruppe? um seinen Kopf.“ Keiner hat auf dich aufgepasst.
Du hast auf keinen aufgepasst.
So viele... Jeden jungen Mann, den sie gefunden
haben, haben sie zwangsrekrutiert. Sie haben uns
Namen gegeben: killer, confidence, blood, usw. Hattest du manchmal Angst oder hast du die Angst
mit der Zeit verloren?
Wie alt warst du, als du zu den Rebellen kamst?
Ja, manchmal hattest du Angst. Aber dann gaben sie
So um die elf oder zwölf. In die Schule war ich bis (die Rebellen; Anm. der Red.) dir dieses „gun pow-
dahin noch nicht gegangen. Alles, was ich kannte, der“, damit du nicht so viel Angst hattest und damit
war die Arbeit mit Diamanten, die Arbeit meines du nicht so viel über dein Leben und deine Familie
Vaters. Gleich hinter unserem Haus haben wir ge- nachdachtest. Du warst dann glücklich und frei, um
schürft. Jeden Tag habe ich im Wasser gestanden Häuser zu zerstören, um zu töten. Du wusstest nicht
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mehr, was du tatest. Wenn du das nicht nahmst, warst dich umgebracht – manchmal lebendig verbrannt. Den
du nicht imstande, einen Menschen zu töten. Wenn du Leuten war bewusst, dass die jungen Männer gezwun-
aufhörtest, es zu nehmen, erkanntest du, was du tatest gen worden waren, den Rebellen zu folgen. Trotzdem
und du wolltest die Gruppe verlassen. Aber du hattest haben sie dich gehasst. Die Sicherheit in meinem Land
keine Chance, weil du mitten im Wald warst. Du ist schwach. Sie schützen nur die Minister und den
wusstest weder Rechts noch Links. Auch verdächtigte Präsidenten, Menschen mit Geld. Aber keine Sicherheit
dich die Gruppe, wenn du traurig dreinschautest. Sie für dich.
würden sagen, dass du kein Mann bist.
Ein wichtiger Aspekt in diesem Krieg waren die
Sie schützen nur die Minister
Hast du Geschwister? Diamanten...
und den Präsidenten, Menschen
mit Geld. Aber keine Sicherheit
Eine Schwester. Ja, seit ich klein war hatte ich damit zu tun.
für dich.
Überall in meiner Heimatstadt gab es
Bist du im Kontakt mit deiner Familie? Diamanten - typisch für Sierra Leone. Es kam vor, dass
du in ein “office” (Büro/ offizielle Einrichtung) kamst,
Nein, keine Chance. Ich bin zweimal zum Roten Kreuz wo kurz vorher Leute gewesen waren. Dort konntest du
gegangen. Ich habe ungefähr vier Briefe an das Rote Diamanten finden. Auf die Art bin ich zu welchen
Kreuz in Freetown geschrieben, ob sie etwas über meine gekommen, und beschloss sofort, das Land zu verlassen.
Familie wissen. Bis jetzt habe ich keine Antwort. Ich habe mich nicht gefürchtet; mittels der Diamanten
konnte ich mich selbst sichern. Ich konnte jemanden
Hast du dich oft gefragt: Scheisse, warum tue ich das - dazu bringen mir zu helfen. Also habe ich Sierra Leone
warum muss ich das alles tun? verlassen. Ich kam nach Morovia (Liberia). In Morovia
haben sie auch gekämpft. Wäre ich geblieben, wäre ich
Ja, dieses Gefühl hatte ich schon. Die Kämpfe waren in die Kämpfe verwickelt worden. Deshalb verliess ich
sinnlos... Als den Rebellen die Munition ausging, haben wiederum das Land, kam nach Abidjan
sie aufgehört, “bullet powder” auszugeben. Sie haben (Elfenbeinküste). Ich erzählte dem Mann, bei dem ich
ihn nur mehr zum Schießen verwendet. Ohne musst du dort wohnte, dass ich Diamanten habe. Aber keine
plötzlich an so vieles denken. Du denkst über dein Le- Papiere. Dieser Mann besaß ein kleines Radio, womit er
ben nach, und dass es kein gutes Leben ist. Du weisst jeden Tag die Nachrichten abhörte. Er erzählte mir, sie
nicht, wo deine Familie ist... Die Soldaten haben ihre würden nach den ehemaligen Rebellen suchen, und dass
Familien zerstört. Sie haben die Häuser zerstört, die ihre es besser für mich sei, wenn ich ihm die Diamanten
Väter gebaut haben. Das Ende der Kämpfe ist ausgeru- überlassen würde, sodass er mir Kontakte für die Fahrt
fen worden. Alle haben jetzt versucht zu entkommen. nach Europa vermitteln könne. Er hat mir Angst
Die UN wollte die Rebellen zusammentrommeln – gemacht. Vielleicht auch, um an meine Diamanten zu
jedem, der sein Gewehr im UN Camp abgibt, haben sie kommen. Ich bin mit dem Schiff nach Italien gelangt,
100 Dollar versprochen. Viele hatten Angst, sie haben wo mein Geld dann aufgebraucht war.
gedacht: wenn ich das Gewehr zurückbringe, werden sie
mich töten. Sie werden sagen, dass ich ein Verbrechen Was ist, wenn du kein Asyl bekommst?
begangen habe. Und sterben muss. Also haben die mei-
sten von uns ihre Gewehre im Wald gelassen. Sie werden mich zurückschicken. Ich habe nicht die
Macht um hier zu bleiben. Sie behaupten jetzt, dort
Hast du auch versucht zu fliehen? wäre alles sicher. Sicherheit...nur für die Regierung! Sie
kommen und töten dich in der Nacht. Du hast keine
Ich wollte zurück zu meinem Geburtsort. Aber dort Papiere. Was könnte sie daran hindern dich zu töten.
stand kein Haus mehr. Und wenn jemand dich erkannte,
verriet, dass du mit den Rebellen gelaufen bist, haben sie
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“In diesem Fall hoffe ich wohl, dass die Linke im deutsch-
sprachigen Raum Parallelen zu einigen der strukturellen
Probleme sieht, mit denen sich Greg Jackson in
Zusammenhang mit den USA auseinandersetzt”
Ein Gespräch mit Gabriel Kuhn
ie unschwer im Laufe des Interviews ersicht- war eine Entwicklung, die mir nie geheuer war
W lich, würden sowohl Gabriel Kuhns
Publikationsprojekte als auch skizzierte politische /
und von der ich mich klar zu distanzieren ver-
suchte. Wobei das auch Teil einer allgemeinen
persönlicheEntwicklungslinien den Rahmen so man- Abneigung gegen die Universität als Institution
cher Zeitschrift sprengen, ergo wagen wir den vor- war. Ich schloss meine Studien ab, weil mir die
freudigen Sprung mitten in die Materie und erlau- Arbeit an meiner Dissertation Spaß machte und
ben uns, die obligatorische Vorstellungsfrage restlos ich dieses "Projekt" – wenn wir ein Studium als
zu streichen. solches sehen wollen – zum Abschluss bringen
A r t e f a c t s
wollte. Interessiert an einer akademischen
Warum hast du dich nach der "theorielastigen, Laufbahn war ich aber nicht.
francophon-europäischen Anfangsphase" (Jenseits Insofern habe ich mich damals auch nicht
von Staat und Individuum und Tier-Werden, besonders um eine Veröffentlichung meiner
Schwarz-Werden, Frau-Werden) vermehrt den USA Arbeiten bemüht. Es gab ein paar Angebote, aber
gewidmet? die setzten Druckkostenzuschüsse voraus, und
mich um solche zu kümmern, war es mir einfach
Ich denke, solche Sachen ergeben sich oft aus nicht wert. So blieben die Arbeiten zunächst lie-
Konstellationen, auf die wir nur beschränkt gen – aber es gab immer wieder Menschen, die sie
Einfluss haben, und sind gar nicht so sehr die sich aus Universitätsbibliotheken besorgten, mich
Folge bewusster Entscheidungen. Meine ersten kontaktierten und meinten, ich sollte sie doch ver-
beiden Unrast-Bücher sind im Grunde Überarbei- öffentlichen. Dies war letztlich der Grund dafür,
tungen meiner Diplomarbeit bzw. meiner warum ich mich vor ein paar Jahren noch einmal
Dissertation. Als solche sind sie einfach noch stark um die Publikation bemühte. Unrast hatte sich
in meiner Studienzeit verwurzelt und diese war inzwischen zu einem einflussreichen linksradika-
wesentlich von der Auseinandersetzung mit post- len Verlag entwickelt und ich war froh, dass die
strukturalistischer Theorie geprägt. Leute dort interessiert waren. Einerseits ist es
Poststrukturalistische Theorie habe ich damals für natürlich schade, dass es so lange mit der
durch und durch revolutionär gehalten. Daran hat Publikation dauerte; aber andererseits hat mir das
sich eigentlich nicht viel geändert, aber ich war auch erlaubt, die Arbeiten an einigen Punkten –
wohl etwas zu euphorisch und damit auch roman- aus meiner Sicht – noch entscheidend zu verbes-
tisierend – wobei ich glaube, dass das nicht immer sern.
schlecht sein muss. Das Buch zum Anarchismus in den USA ergab
Gegen Ende meines Studiums verlor ich dann aber sich einfach daraus, dass ich dort sowohl Mitte der
ein bisschen das Interesse an diesen Theorien – 90er Jahre als auch zwischen 2000 und 2005 mei-
oder genauer: das Interesse, mich mit ihnen aus- nen Lebensmittelpunkt hatte und mich in der
einanderzusetzen. Nicht weil ich sie schlecht fand, anarchistischen Bewegung gut auskannte. Ich war
sondern weil ich mich einfach mit anderen Sachen der Meinung, dass die Entwicklung der Bewegung
beschäftigen wollte. Außerdem wurde diese total nach den Seattle-Protesten 1999 ausgesprochen
akademisierte und entpolitisierte interessant war, und so entstand die Idee für das
Poststrukturalismus-Rezeption immer stärker. Das Buch. Ich kann mich erinnern, dass ich die Idee
P R O J E C T X NO 2 2 0 0 9 37
an irgendeinem Abend im März 2007 an Unrast mailte Die Rezeption des Werkes "Neuer Anarchismus in den
und am nächsten Morgen die Zusage für das Buch USA" war bemerkenswert bipolar. Einerseits gab es mehr
bekam. Wie gesagt, oft passieren solche Sachen einfach. als berechtigte;-)) Lobeshymnen ob der Kompilation, des
Abhängig ist das von verschiedenen Faktoren: Wer will gewährleisteten Überblickes und sogar die Hoffnung, dass
gerade jetzt zu bestimmten Themen etwas veröffent- die Rezeption dieser "engagierten Zusammenstellung"
lichen? Welche Themen sind in der Linken im Moment Früchte tragen wird. Andererseits waren reflexartige
von besonderem Interesse? An welchen Themen arbeite Abwehrreaktionen von klassischer Theorie verhafteten
ich gerade selbst? Wenn einige dieser Faktoren im rich- Gruppen wegen der theoretischen und aktivistischen
tigen Moment richtig zusammenspielen, kommt es zu Beliebigkeit der präsentierten Positionen zu beobachten
einem Buch. So in etwa funktioniert das in den meisten oder wurde gar (frech,frech) deine Zusammenstellung kri-
Fällen, denke ich. tisiert: "Da geht alles bunt durcheinander, mäandert vor
sich hin und er schenkt auch den kuriosesten
Mensch könnte meinen, du trittst als Autor immer dezen- Randerscheinungen der selbsternannten Freidenker
ter in den Hintergrund. Sowohl bei "Neuer Anarchismus Raum. Zwischendurch gibt es Manifeste und Erklärungen,
in den USA" als auch bei der aktuellsten Publikation fun- die teilweise etwas von Erweckungsbotschaften haben und
gierst du als Kompilator und/ oder Übersetzer. Wieso vor Floskeln triefen." Wolltest du auch polarisieren oder
dies? ist ein Darstellung des "neuen Anarchismus"-Spektrums
ohne Kritik ein Ding der Unmöglichkeit?
Ich glaube, das schließt an das an, was ich eben gesagt
habe. Es gab keine bewusste Entscheidung, jetzt eher Was die Polarisierung betrifft, so ist es dazu wohl wirk-
was als Übersetzer und Herausgeber zu machen. Es hat lich gekommen. Ehrlich gesagt, überrascht es mich ein
sich schlicht so ergeben. Ich übersetze gerne. Überset- bisschen und meine Absicht war es sicher nicht. Dass es
zen verlangt einerseits durchaus Kreativität, ist aber Kritik geben würde, war klar, aber ich dachte mir, die
andererseits auch eine ganz andere Arbeit als Texte würde sich eher auf bestimmte Positionen beziehen und
selbst zu verfassen. Das Material, an dem du arbeitest, es würde zu entsprechenden Diskussionen kommen.
ist bereits da, du bist nicht darauf angewiesen, es erst Zum Beispiel würden sich Leute darüber streiten, ob
selbst zu schaffen, und erst einmal Ideen zu Papier zu Albert recht hat oder Zerzan, oder ob CrimethInc.
bringen, kann ja einer der anstrengendsten Aspekte des scheiße ist oder NEFAC. Stattdessen kam es eher zu all-
eigenen Schreibens sein. Insofern ist Übersetzen eher gemeinem Lob: eine wirklich spannende Bewegung mit
eine Art "handwerkliche" Arbeit. Ich mag das manchmal spannenden Debatten!, oder zu allgemeiner Ablehnung:
sehr. alles individualistisch, es fehlt die Theorie etc.
Auch die Herausgebertätigkeit verlangt Kreativität – Ich denke, dass der letzteren Haltung zum Teil eine
schließlich wollen Bücher auch gut zusammengestellt prinzipielle Skepsis allem US-amerikanischen gegenüber
sein, du musst mit den Texten verschiedener zugrunde liegt (auch wenn es sich um radikale oder
AutorInnen arbeiten und so weiter. Was mir an der anarchistische Inhalte handelt) und zum Teil die
Herausgebertätigkeit aber vor allem gefällt, ist, dass sie Verteidigung anarchistischer Strukturen, die in Europa
die oft doch recht isolierte Position auflockert, in der du oft noch sehr stark in der traditionellen Linken veran-
dich als AutorIn meist befindest. Übersetzen kann das kert sind – was in den USA ja von vielen Gruppen (und
auch tun, aber nicht in gleichem Maße. Als nicht nur den betont "Post-Linken" oder "Anti-Linken")
HerausgeberIn bist du ständig in Kontakt mit anderen in Frage gestellt wird. Was ich dabei etwas schade finde,
Menschen. Das macht Spaß und ist meines Erachtens in ist, dass es keine stärkeren Bemühungen gibt, aus seinen
vielerlei Hinsicht wichtig. eigenen Identitätsblöcken herauszutreten und nach
Um das zusammenzufassen: Ich arbeite gerne mit neuen Verbindungsmöglichkeiten zu suchen. Meines
Texten in allen möglichen Rollen: als Autor, Übersetzer Erachtens können solche Versuche unsere Bewegung
oder Herausgeber. Und je mehr Abwechslung ich nur lebendiger, spannender und innovativer machen.
bekomme, desto besser. Ich verstehe in diesem Sinne nicht, warum sich Leute so
38 NO 2 2 0 0 9 P R O J E C T X
oft auf jene Punkte konzentrieren, zu denen sie vorzustellen. Das hat zunächst einmal wenig mehr
unterschiedliche Ansichten haben. Oft genug wer- als Informationswert, aber ich denke dies ist immer
den dann aus Mücken Elefanten und "GenossInnen" einer der zentralen Motivationen des Publizierens:
beginnen, sich gegenseitig zu verfluchen. Wem Wir wollen LeserInnen Materialien zur Verfügung
bringt das was? Warum konzentrieren wir uns nicht stellen, anhand derer sie sich Wissen aneignen kön-
auf das, was wir gemeinsam haben, und versuchen, nen, das sie vorher vielleicht nicht hatten. Ob sich
Konfliktpunkte als Herausforderungen zu sehen, die dieses Wissen auf ihre unmittelbaren sozialen
wir diskutieren, um alle gemeinsam klüger zu wer- Zusammenhänge bezieht oder auf weit entfernte
den? In diesem Sinne antworte ich manchmal auf oder lang zurückliegende, ist, so gesehen, erst ein-
die Frage, wo ich mich innerhalb des zeitgenössi- mal egal. Der Wert der Information wird sich in
schen US-Anarchismus verorte, mit "zwischen den jeweiligen Anwendungen der LeserInnen zei-
CrimethInc. und NEFAC". Für viele ist das ein tota- gen. Da haben die Publizierenden eigentlich wenig
ler Gegensatz: auf der einen Seite Containern damit zu tun. Soviel zum
und Party-Stimmung, auf der anderen relativ Allgemeinen.
rigide Organisationsformen. Aber ich denke, bei- Gleichzeitig ist es natürlich
des hat seinen Wert, und immer nur in so, dass sich mit meinen
Entweder-oder-Schablonen zu denken, kann uns Veröffentlichungen auch
kaum weiterbringen.Was die Kritik der spezifische persönliche
Zusammenstellung des Buches betrifft, gut, da Hoffnungen verbinden. In
wird es immer unterschiedliche Meinungen diesem Fall hoffe ich wohl,
geben. Allerdings sind manche Kritiken – wie dass die Linke im deutsch-
auch die, die ihr zitiert habt – so verfasst, dass sprachigen Raum Parallelen
ich den Eindruck habe, das Problem sei, dass ich zu einigen der strukturellen
den zeitgenössischen Anarchismus in den USA Probleme sieht, mit denen
nicht klar definiert hätte. Aber daran hab ich sich Greg Jackson in
kein Interesse, und es geht auch gar nicht, weil Zusammenhang mit den
das Phänomen zu vielfältig ist. Das Buch geht in USA auseinandersetzt. Beispielsweise was die
diesem Sinne "bunt durcheinander", weil es eine Dominanz von RepräsentantInnen der
bunte Bewegung präsentiert, und ich persönlich Mehrheitsgesellschaft in der Linken betrifft. Diese
finde das nur gut. Was die LeserInnen dann zum ist in vielerlei Hinsicht ein Widerspruch. Das macht
Schluss von den einzelnen Gruppen oder dem zeit- die Linke nicht zwangsläufig unglaubwürdig, gibt
genössischen Anarchismus in den USA halten, kön- aber Anlass, über die Beziehungen zwischen "wei-
nen sie ja selber bestimmen, sie haben ja alle ihre ßen" und "nicht-weißen" Personen innerhalb der
eigenen Köpfe. Mich brauchen sie dazu sicher nicht. Linken zu reflektieren. Das ist in den deutschspra-
chigen Ländern genauso notwendig wie in den
Dein aktuelles Buch widmet sich Texten Greg USA.
Jacksons. Warum sind die hierin skizzierten Dazu kommt das Problem struktureller
Positionen für deutschsprachige Unterdrückung. Es gibt in den euroamerikanischen
Unrastverlagleser_innen besonders wichtig? Oder Industrieländern seit langem einzelne nicht-weiße
etwas polemischer: Was sollen (ganz klischeehaft) Aushängeschilder, die gesellschaftlich erfolgreich
weiße Autonome mit Diskursen, welche auf völlig sind – meist im Bereich des Sports oder der
unterschiedlichen demographischen, historischen,... Unterhaltungsindustrie, seltener in Wirtschaft oder
Gegebenheiten basieren, anfangen? Politik. Im deutschsprachigen Raum gibt es den
Roberto Blanco, die Arabella Kiesbauer oder den
Eine Motivation, dieses Buch herauszugeben, war Gerald Asamoah, in den USA zahlreiche
es, einem deutschsprachigen Publikum die Debatte SchauspielerInnen, MusikerInnen, SportlerInnen –
P R O J E C T X NO 2 2 0 0 9 39
und jetzt mit Barack Obama sogar einen Präsidenten Jahren nicht mehr mit PiratInnen beschäftigt hatte,
(was dem Buch im Übrigen noch einmal einen sagte ich zu – über PiratInnen zu arbeiten ist ja immer
besonders aktuellen Bezug gegeben hat). Aber heißt das, irgendwie spannend. Als nächstes ergab sich dann ein
dass es in diesen Ländern keinen Rassismus mehr gibt? Projekt, von dem ich immer geträumt hatte: ein Buch zu
Kaum. Der Erklärung dafür geht – unter anderem – die- den Verbindungen zwischen Straight Edge und linker
ses Buch nach. Dazu geht es um die Konstruktion von Politik. Straight Edge ist, vor allem in den USA, poli-
Kategorien wie "Weiß" und "Schwarz", um das tisch oft ganz schlimm besetzt – sehr wertkonservativ,
Verhältnis zwischen Anarchismus und Antirassismus, sehr patriarchal –, und Leute vergessen darüber oft, dass
um taktische und strategische Fragen linker Politik – ich es seit jeher eine lebendige Geschichte linker Straight-
denke, das ist alles von Interesse für Bewegungen im Edge-Kultur gibt. Diese dokumentieren wir jetzt in
deutschsprachigen Raum. einem Band (ich fungiere als Herausgeber). Wir haben
Interviews mit Ian MacKaye und Dennis Lyxzén, Artikel
Du bist ja einer der eifrigsten Publizierer. Sind weitere von CrimethInc.- und Anarchists-Against-the-Wall-
Bücher in Planung? AktivistInnen, Beiträge zu Straight Edge und Queer-
Kultur, Straight Edge und Crust und so weiter. Ich freu
Ja, eine ganze Reihe sogar. Wie gesagt, mein Entschluss, mich unheimlich, dass ich an dem Buch arbeiten darf!
mich wieder sesshaft zu machen, hatte wesentlich damit Es kommt – wie das PiratInnenbuch – Ende des Jahres
zu tun, mich verstärkt Publikationsprojekten zu wid- heraus.Ein recht ambitioniertes längerfristiges Projekt
men.Einige der Projekte, die gerade am Laufen sind, betrifft die Übersetzung klassischer Texte des deutschen
sind auch wieder Resultate von sol- Dazu geht es um die Anarchismus ins Englische. Ein Band mit
chen Konstellationen, die sich nicht Konstruktion von Übersetzungen von Gustav Landauer ist
wirklich kontrollieren lassen. Ramsey Kategorien wie "Weiß" praktisch fertig und erscheint Anfang
Kanaan, der vor etwa 20 Jahren AK und "Schwarz", um das nächsten Jahres. Ein englischer Erich-
Press gegründet hat, mittlerweile der Verhältnis zwischen Mühsam-Band soll ein Jahr später folgen,
weltweit größte Vertrieb anarchisti- Anarchismus und und dann noch ein Band mit Texten von
scher Bücher und auch einer der ange- Antirassismus, um den rätekommunistischen Strömungen der
sehensten anarchistischen Verlage, hat taktische und strategische Deutschen Revolution 1918/19. Einen
sich vor etwa eineinhalb Jahren dazu Fragen linker Politik Beitrag dazu leisten zu können, dass diese
entschlossen, einen neuen Verlag zu historischen Dokumente endlich im
gründen, PM Press. Ich kannte Ramsey, weil AK Press Englischen zugänglich werden – von Landauer gibt es
Hefte vertrieb, die ich mit Alpine Anarchist Productions beispielsweise nur sehr wenig auf Englisch, von
herausgegeben hatte. Alpine Anarchist Productions ist Mühsam praktisch gar nichts –, freut mich natürlich
ein DIY-Projekt, das ich im Jahr 2000 gründete. Ich gab sehr.
dort – mit der Hilfe einiger FreundInnen – jedes Jahr Bei Unrast erscheint im Herbst ein Büchlein mit gesam-
ein paar Hefte heraus, alles von politischen Aufsätzen melten Texten zum Anarchismus, die ich in den letzten
über Kurzgeschichten bis zu Bildersammlungen. Es war Jahren verfasst und publiziert habe, großteils auf
alles recht einfach und bescheiden, aber die einzige Art, Englisch und Schwedisch. Das Buch schließt gewisser-
auf die ich während des Reisens ein Publikationsprojekt maßen an ›Neuer Anarchismus‹ in den USA an, mit
betreuen konnte. In jedem Fall fragte mich Ramsey Texten zu Postanarchismus, Primitivismus, dem
nach der Gründung seines neuen Verlags, ob ich nicht Schwarzen Block, CrimethInc. und so weiter. Diesmal
an ein paar Sachen für PM Press arbeiten wollte. aber alles mit mehr Stellungnahme. Während ich mich
Seine erste Idee war, ein Buch über PiratInnen zu in ›Neuer Anarchismus‹ in den USA sehr um
schreiben (ich hatte Anfang der 90er Jahre bei Monte "Neutralität" – so gut das halt geht – bemüht habe,
Verita in Wien ein kleines Büchlein zur Piraterie heraus- beziehe ich in diesen Texten mehr Stellung. Es gibt auch
gegeben, das dann auch ins Englische übersetzt wurde Pläne, mehr CrimethInc.-Texte bei Unrast herauszu-
und recht populär war), und obwohl ich mich seit bringen, aber da ist noch nichts konkret.
40 NO 2 2 0 0 9 P R O J E C T X
Ware: weiblich
Einer modernen Form der Sklaverei widmen sich Corinna Milborn und Mary Kreutzer
in ihrem jüngst erschienenen Buch über Frauenhandel.
chätzungen zufolge arbeiten derzeit etwa 100.000 „Madames“ auf, die für die
S Frauen aus Afrika außerhalb des Kontinents –
vor allem als so genannte Zwangsprostituierte.
Betreuung der Mädchen und
Frauen zuständig sind und
Diese Zahl nennen Mary Kreutzer und Corinna dafür sorgen, dass diese ihre
Milborn in ihrem eben erschienenen Buch „Ware Schulden an den Schlepper
Frau – Auf den Spuren moderner Sklaverei von rechtzeitig bezahlen.
Afrika nach Europa“. Die meisten Frauen haben
unter falschen Versprechungen mit gefälschten Kreutzer und Milborn lassen
Papieren das Land verlassen und dabei unglaublich verschiedene Frauen zu Wort
hohe Schulden gemacht, die sie ihren Schleppern kommen, die den beschwerlichen Weg nach Europa
zurückzahlen müssen. In Europa finden sie sich in überlebt haben. Deren Erzählungen veranschaulichen
einer sklavenähnlichen Situation wieder, zu deren nicht nur den individuellen Leidensweg und die
Aufrechterhaltung die HändlerInnen viel beitragen. damit verbundene Aussichtslosigkeit eindringlich, sie
Auch in Österreich sind viele aufgrund von illega- führen dabei auch vor Augen, wie viele Menschen
lem Visa-Handel gelandet. bereits unterwegs auf der Strecke bleiben und auf
dem Weg durch die Sahara oder im Meer zwischen
Die Recherche für ihre Reportage führte die beiden Marokko und Spanien den Tod finden.
Autorinnen nicht nur ins Stuberviertel in Wien und
in österreichische Freierforen, sondern auch nach Die stark emotionalisierende Argumentation der
Italien, Spanien, Deutschland und nach Nigeria. Die beiden Autorinnen scheint dabei jedoch häufig
beiden Politikwissenschafterinnen beleuchten in unangebracht, da die Fakten ohnehin für sich spre-
ihrer Studie die restriktiven Gesetzeslagen der Ziel- chen. Ebenso ist fraglich, ob den Betroffenen mit
länder sowie die Mittäterschaft und Ignoranz von der Forderung nach Kriminalisierung der Inan-
Staat und Behörden. Darüber hinaus nennen sie spruchnahme von Zwangsprostitution wirklich
aber auch die Bedeutung anderer Mittel wie Ein- geholfen wäre. Stattdessen wäre zu klären, ob es
schüchterung der Familien oder Vodoo-ähnliche nicht vielmehr an den rassistischen Gesetzeslagen
Rituale, mit denen die Frauen abhängig gemacht der europäischen Länder liegt, die vielen Migrant-
werden und ihnen der Ausstieg erschwert wird. Innen kaum eine andere Möglichkeit, als jene auf
Viele Menschenhändler verlangen in Zusammen- Schlepper zurückzugreifen, lässt, um in die Festung
arbeit mit Juju-Priestern von den Frauen vor ihrer Europa zu gelangen und dort auch legal arbeiten zu
Abreise einen magischen Schwur, mit dem die können.
Frauen massiv unter Druck gesetzt werden. Sie
müssen geloben, jede Arbeit zu machen, ihre Den Autorinnen gelingt es jedoch, darauf aufmerk-
Schlepper nicht zu verraten und ihnen das Geld sam zu machen, welche Ausmaße Menschenhandel
zurückzuzahlen. Bei Nichteinhaltung, so wird ge- mittlerweile angenommen hat und sensibilisieren
droht, folge Krankheit, Wahnsinn oder gar Tod. damit wieder für ein Thema, das in Europa seit
Die Autorinnen heben hervor, dass Frauenhandel geraumer Zeit eine gewisse „Normalisierung“ und
keine rein männliche Domäne ist. Viele ehemalige damit auch Entdramatisierung erfahren hat. Aus-
Zwangsprostituierte steigen zu so genannten schlaggebend für die Entstehung des journalistisch
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gehaltenen Sachbuchs war die Bekanntschaft mit Joana ren europäischen Ländern, vor allem auch im deutsch-
Adesuwa Reiterer, die durch ihre Heirat mit einem sprachigen Raum, verbreitet hat. In den 1990ern sind
Menschenhändler, der sich als Reiseunternehmer ausgab, viele Frauen aus Nigeria gekommen, weil sie festgestellt
2003 in Wien landete. Sie hätte eigentlich als Madame haben, dass es als Asylwerberin legal ist, in der Sexarbeit
arbeiten sollen, wagte jedoch die Flucht und entschied zu arbeiten. Andere haben diese Gesetzeslagen dann
sich, besser Deutsch zu lernen, Fuß zu fassen und eine ausgenützt und angefangen, Frauen nach Europa zu ver-
NGO zu gründen. Um so jenen Frauen, deren Schicksal kaufen. Die meisten Biographien der Frauen sind ähn-
sie aus nächster Nähe beobachten konnte, zu helfen. lich. Viele Mädchen wollen einfach weg, weil sie vor sex-
ueller Gewalt, Unterdrückung, Ungleichbehandlung,
In „Ware Frau“ heißt es über Joana: „Sie wurde weder Armut und der ökonomischen Aussichtslosigkeit fliehen
zum Opfer noch zur Täterin. Aber sie wurde zur Auf- wollen. Da diese Aspekte jedoch nicht als Fluchtgrund
deckerin. Joana ist Schauspielerin, und das merkt man: reichen, haben die meisten keine andere Möglichkeit, als
Sie betritt jedes Café und jede Wohnung wie ein Bühne. einen Schlepper zu bezahlen. Manche wissen vorher,
Und wenn sie eine Tür öffnet, drehen sich die Köpfe dass sie in der Sexarbeit tätig sein werden, andere nicht,
nach ihr um. Sie lacht viel, hat einen bissigen Humor, keine weiß jedoch die Bedingungen – nämlich Zwangs-
und man kann lange Nächte mit ihr verbringen, ohne prostitution. Es heißt dann, dass die Schlepper viel Geld
Themen wie Frauenhandel zu berühren. Und doch für die Mädchen ausgegeben hätten – für falsche Doku-
arbeitet sie konstant dagegen. Sie hat in vier Jahren seit mente, Bestechung, den Flug oder die Reise durch die
ihrer Flucht Deutsch gelernt, zwei Ausbildungen ge- Wüste. Diese Beträge belaufen sich auf 20.000 bis 60.000
macht, ihre Arbeit als Schauspielerin in Österreich wie- Euro, die sie zurückzahlen müssen. Nach der Ankunft
der aufgenommen und einen Film gedreht. Vor allem haben sie meist einen Tag frei und müssen danach auf
aber hat sie den Verein ‚Exit‘ gegründet, mit dem sie den Strich gehen und wöchentlich bestimmte Beträge
von Menschenhandel Betroffene berät und Aufklär- abliefern, ansonsten droht ihnen Gewalt bzw. gibt es
ungsarbeit in Nigeria leistet.“ auch noch andere Druckmittel. Die meisten müssen
ohne Kondome arbeiten, weil sie von ihren Madames
Aussagen keine zur Verfügung gestellt bekommen und sie selber
kein Geld dafür ausgeben können. Um das Geld zu-
Joana Adesuwa Reiterer ist Schauspielerin, Regisseurin rückzahlen zu können, nehmen sie oftmals auch alles,
und Gründerin der NGO „Exit“. Es sind vor allem die was kommt und müssen häufig sehr billig, manchmal
Asylgesetze, die ein selbstbestimmtes Leben für gehan- nur für zehn Euro arbeiten. Wenige sind sich im Klaren,
delte Frauen verhindern, sagt sie im Gespräch. dass sie keinen legalen Aufenthaltsstatus haben oder
welche Rechte ihnen zustehen, weil die Händler oder
Frauenhandel und Zwangsprostitution aus Afrika sind Madames meist ihre einzigen InformantInnen sind.
noch ein relativ neues Phänomen in Europa. Wann hat Andere wiederum haben große Angst vor Kontrollen,
das angefangen und wie sehen die meisten Geschichten Abschiebung und Schubhaft und auch kein Vertrauen in
dieser Frauen aus? die österreichischen Behörden. Zur Zeit sind ca. 400
Frauen aus Nigeria als Sexarbeiterinnen in Österreich
Joana Adesuwa Reiterer: Ja, Frauenhandel aus Afrika, angemeldet, die Dunkelziffer ist jedoch viel höher. Die
insbesondere Nigeria ist ein Phänomen der 1980er, das meisten arbeiten auf der Straße, auch in den Bundes-
zuerst in Italien aufgetaucht ist und sich dann in ande- ländern, weil es sehr schwer ist, in einem Bordell Arbeit
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zu bekommen. Viele wollen gar keine Nigerianer- Nummer selber weiter. So hab ich seit 2003 Geschi-
innen haben – schwarze Frauen lieber aus Brasilien. chten von etwa sechzig Frauen dokumentieren kön-
Ich bin der Meinung, dass Zwangs- und selbststän- nen, etwa 15 Frauen betreuen wir gerade regelmä-
dige Prostitution unterschieden werden sollten und ßig und davon wollen vier auch wirklich aussteigen.
ersteres bekämpft werden muss. Dafür setzen wir Um ihre Sicherheit sowie die ihrer Familien zu
uns ein und wir unterstützen Frauen, die aussteigen garantieren, kooperieren wir auch mit den nigeria-
wollen. nischen Behörden.
Was macht „Exit“ genau? Die wenigsten Frauen haben einen legalen
Aufenthaltsstatus, was den Ausstieg sicher noch
Ich habe die NGO „Exit“ 2006 mit dem Ziel ge- erheblich erschwert. Wie können die betroffenen
gründet, AfrikanerInnen über die Realität in Europa Frauen deiner Meinung nach vorgehen?
zu informieren und aufzuklären. Dafür haben wir
beispielsweise einen Aufklärungsfilm gemacht, den Betroffene von Frauenhandel haben einerseits die
wir in Nigeria an Schulen gezeigt haben. Aber auch Möglichkeit, in Schutzprogramme reinzukommen
in Österreich ist diese Arbeit sehr wichtig, weil viele und andererseits Asyl oder Aufenthaltsgenehmigu-
Behörden sich einfach weigern, die Geschichten ngen zu beantragen. Auch die Frauen, an deren
dieser Frauen ernst zu nehmen und damit abtun, Ausstieg wir jetzt gerade arbeiten, haben Aussagen
dass „die eh nur hier bleiben wollen.“ Gerade an gemacht über ihre Geschichten und versuchen jetzt,
solche Frauen richtet sich unsere Arbeit, an der sich einen legalen Aufenthaltsstatus zu bekommen. Aber
momentan etwa fünf Leute aktiv beteiligen. Weitere das reicht natürlich oft noch nicht. Zwangsprostitu-
sechs arbeiten mit, niemand ist jedoch fix angestellt. tion und Frauenhandel müssten einfach anerkannte
Gerade jetzt gibt es aber viele Hilfsangebote. Flucht- und Asylgründe sein. Da müsste sich das
Nachdem wir von Personen angesprochen wurden, Gesetz schon noch um einiges ändern. Die Frauen
die Frauen kannten, die Hilfe brauchten, haben wir hätten dann viel mehr Möglichkeiten, aber so profi-
angefangen, auch Beratung anzubieten. Dabei geht tieren auch die Händler davon, da die Anträge meist
es nicht nur um die rechtliche Dimension, sondern so lange dauern, dass die Frauen bis dahin ihre
vor allem auch darum, ein Subjektbewusstsein zu „Schuld“ abbezahlt haben. Den Schleppern kommt
bewirken, das erkennt, dass Zwangsprostitution ein es eigentlich zugute, dass die Frauen dann abge-
Unrecht ist und Menschenhandel eine Menschen- schoben werden, weil sie so, wenn sie frei sind,
rechtsverletzung. Und dass es möglich ist, dagegen keine Konkurrenz darstellen und einfach ein neues
etwas zu unternehmen. Wir versuchen auch, die Mädchen ihren Platz besetzt. Wir versuchen daher,
Mädchen und Frauen mit anderen Organisationen den Frauen zu erklären, wie die westliche Welt bzw.
wie LEFÖ oder Diakonie für die weitere Betreuung wir ihre Situationen sehen, dass es sich nämlich um
zu vernetzen, weil wir selber kein Opferschutzhaus Sklaverei und Ausbeutung handelt, in der sie leben
oder ähnliches haben. Außerdem betreiben wir und arbeiten. Und dass sie etwas dagegen unterneh-
auch Recherche, dokumentieren die Geschichten, men sollten. Wir raten ihnen, ihre wahre Geschichte
die uns Frauen erzählen und versuchen Öffentlich- zu erzählen, neue Asylverfahren zu beantragen,
keitsarbeit zu machen, indem wir Seminare, Work- Aussagen vor der Polizei zu machen und Schutz-
shops, Diskussionsveranstaltungen organisieren häuser in Anspruch zu nehmen. Weiters kümmern
oder einzelne Geschichten auf Websites, im Radio wir uns dann auch darum, dass die Polizei weiterer-
oder in Printmedien veröffentlichen, um mehr mittelt. Ein zweiter, sehr wichtiger Schritt ist dann,
Problembewusstsein zu erzielen. Am Anfang sind dass der Asylgrund akzeptiert wird. Wenn wir Er-
wir auf den Strich gegangen, um Frauen zu infor- folg mit den Frauen haben, die wir gerade betreuen,
mieren. Inzwischen hat sich aber schon rumgespro- und dadurch zeigen können, dass der Ausstieg mög-
chen, dass es uns gibt und die Frauen geben unsere lich ist, wird sich das sicher herumsprechen und
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mehr Frauen motivieren, unsere Arbeit in Anspruch zu auch heißen, hier zu leben und sich die Existenz sichern
nehmen. zu können, also eine Arbeitserlaubnis zu bekommen –
auch da müssten sich die Gesetze noch ändern. Wichtig
Andere Organisationen, die sich mit Sexarbeit beschäfti- ist auf jeden Fall auch, dass sich die Frauen auch weiter-
gen, meinen, ein Ausstieg wäre oft nicht möglich, weil die bilden, denn nur so haben sie die Chance, irgendwann
meisten Frauen aufgrund mangelnder Ausbildung und gutbezahlte Jobs zu haben.
dem Fehlen einer Arbeitsgenehmigung keine andere
Arbeit machen können. Wie siehst du das?
Queer gelesen
Der von Susanne Hochreiter und Anna Babka herausge- „Queeres Lesen ist Lesen
gebene Sammelband „Queer Reading in den Philolo- quer zu Kategorisierungen,
gien“ entstand in Anlehnung an eine gleichnamige und Normierungen und
international einzigartige Konferenz, die im November Ordnungen.“ Queer gelesen
2006 an der Universität Wien stattgefunden hatte. werden u.a. auch das
Neben Beiträgen von deutschsprachigen Größen der Nibelungenlied, Kureishis
Queer Theory und Studies wie Gudrun Perko, die die „The Buddha of Suburbia“
unterschiedlichen Deutungsebenen des Begriffs queer oder Wielands „Novelle
nachzeichnet oder Sabine Hark, die vor der „Diszipli- ohne Titel“. Wenn auch
nierung“ der Queer Studies als akademische „Disziplin“ stellenweise eher (theore-
warnt, wurden auch unterschiedliche Repliken und tisch-)trocken, handelt es
Respondenzen auf deren und andere Texte in den Band sich dennoch um ein um-
aufgenommen und verschiedene Standpunkte skizziert. fassendes Werk, das die Pluralität der akademischen
In den unterschiedlichen Thematisierungen zeigt sich und künstlerischen Annäherungen an Queer nachzeich-
dabei vor allem eines, dass der Begriff queer fern davon net und anregend diskutiert.
ist „Eindeutigkeiten“ zu schaffen und die unterschiedli-
che Verwendung nach wie vor weit divergiert. Auch in Babka, Anna/ Hochreiter, Susanne (Hg.innen): Queer
Bezug auf queer reading werden unterschiedliche An- Reading in den Philologien. Modelle und Anwendungen,
sätze wie jener von Andreas Krass, der nicht nur eine Vienna University Press bei V&R unipress, Göttingen
queere Leseweise von Grimms „Die kleine Meerjung- 2008, ISBN 978-3-89971-387-9
frau“ anbietet, sondern auch zeigt, dass es sich beim 26,90 €
queer lesen um eine Frageperspektive handelt, vorge-
stellt. So meinen auch die beiden Herausgeberinnen:
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es wichtig sein könnte und entschied, dass es von außeror- auch älter sein. ... das ist wahrscheinlich günstig. ... ich
dentlicher wichtigkeit sein musste, wenn jemand zu so habe sie tatsächlich gekränkt? vorhin sprachen sie noch
später stunde anrief. also rannte ich die treppen hoch, von 3 wochen. ... sie machen eine ausnahme für mich?
nahm zwei stufen auf einmal und als ich keuchend die tür vielen dank. dann sind sie wohl nicht mehr gekränkt! ...
aufschloss hatte es aufgehört. ich nahm trotzdem den aber das wären ja ein monat und zwei wochen. ich habe
hörer ab, sagte, hallo, aber von der anderen leitung bekam keine zeit, eigentlich. ... zweiundvierzig tage, richtig. das
ich nur ein tüten zur antwort. ich setzte mich auf das sofa ist sehr lange. ... gut. ich nehme sie. für eine woche die ich
neben dem tisch auf dem sich das telefon befand und zün- bezahle. ... nein? aber ich möchte bezahlen. ... ach, das
dete eine zigarette an. dann stand ich wieder auf, ging in rentiert sich nicht. schade. also dann. vielen dank. eben-
die küche, öffnete einen schrank, nahm ein glas, schenkte falls. danke. wiederhören. danke.
whisky ein, ging zurück in den vorraum, schaute auf das
telefon, stellte das glas auf den tisch, dachte nach. asche zan
fiel auf den boden. ich ging in die küche um einen aschen-
becher zu holen, den ich auf dem sofa abstellte. mein blick
streifte das telefon, ich wollte mich hinsetzen, bemerkte
aber das leere glas, ging deshalb von neuem in die küche
und brachte die flasche in den vorraum. dann setzte ich Weitere Text, Kontakt,...
mich auf das sofa und wartete auf den vermeintlich wich- unter www.mezzanin.org
tigen anruf.
9.
hallo? ... ob ich kurz zeit habe? ... nun... ein abonnement?
nein danke. sehr günstig, wirklich günstig. ich habe jetzt
keine zeit. ... nein. wirklich. ich danke ihnen. weil, ich lese
keine zeitungen. einfach, weil ich mich nicht interessie-
re.... wenn sie meinen. ... drei wochen gratis, aha. ... doch,
doch, verstehen sie mich nicht falsch! ich finde es äußerst
entgegenkommend von einer zeitung, ich meine, sich für
drei wochen gratis zu verkaufen, wer macht das schon? ...
aber nein, danke, vielen dank, auf ... ja, politisches
geschehen ist mir gleichgültig. kulturelles? auch. ... ach so,
bei ihnen überwiegt der wirtschaftsteil. nun, vielen dank.
nein, es wäre wirklich schade, wegen dem papier und der
druckerschwärze, wirtschaftlich meine ich. es wäre eine
verschwendung mit mir. ... ach, der druck ist sehr billig, 5
cent kostet so eine zeitung, ach so, aber nicht im verkauf.
wie viel profit meinten sie? ... 95 ... wie bitte? ... ähm, älter.
nein, nicht unbedingt älter als sie. eben älter. meine stim-
me klingt jünger? danke (das war mir unangenehm). ...
lieber nicht, ich war noch nie gut im schätzen. nun, wenn
es sein muss. ... (ich zögerte), jünger, aber ... sie könnten
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