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Originalia

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56 Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“© Kirchheim-Verlag Mainz


Kinderärztliche Praxis
Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin
Begründet von Stefan Engel und Erich Nassau, wiederbegründet von Hubertus von Voss
Herausgeber:Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin, Präsident: Prof.
Dr. med. Harald Bode, Schillerstraße 15, 89077 Ulm, Tel. (0731) 50021731.
Redaktion des Sonderheftes „Unaufmerksam und hyperaktiv“: Prof. Dr. med. Dr. h. c.
Hubertus von Voss
Chefredaktion: Prof. Dr. med. Rüdiger von Kries, Kinderzentrum München, Telefon (089)
71009-314, Fax (089) 71009-315. Stellvertretender Chefredakteur: Prof. Dr. med. Hans G.
Schlack, Waldenburger Ring 46, 53119 Bonn. Redaktion und Koordination: Angelika
Leidner, Kirchheim + Co GmbH, Kaiserstraße 41, 55116 Mainz, Telefon (06131) 96070-29, Fax
(06131) 96070-90.
Themenbereichsleiter: Prof. Dr. Volker Hesse: Wachstum und Ernährung; Prof. Dr. Peter
Hoyer: Chronische Erkrankungen; Prof. Dr. Rüdiger von Kries: Prävention, Epidemiologie; Dr.
Ursula Lindlbauer-Eisenach: Praxisfragen; Prof. Dr. Richard Michaelis: Entwicklung und
Entwicklungsstörungen; Dr. Hartmut Schirm: Öffentlicher Jugendgesundheitsdienst; Prof. Dr.
Hans Georg Schlack: Kind und Gesellschaft, Rehabilitation; Prof. Dr. Heinz-Josef Schmitt:
Infektiologie; Prof. Dr. Eberhard Schulz: Jugendmedizin; Prof. Dr. Dr. h. c. Hubertus von Voss:
Kasuistik (Der interessante Fall).
Die mit Verfassernamen gekennzeichneten Beiträge geben in erster Linie die Auffassung der
Autoren und nicht in jedem Fall die Meinung von Herausgeber und Redaktion wieder.
Geschäftsstelle der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin
e. V.: Kinderzentrum München, Heiglhofstraße 63, 81377 München, Telefon (0 89) 7 10 09-232
oder -233.
Verlag: Kirchheim + Co GmbH, Kaiserstraße 41, 55116 Mainz, Telefon (0 61 31) 9 60 70-0, Fax
(0 61 31) 9 60 70 70 - E-Mail: Info@kirchheim-verlag.de - Fax Anzeigenabteilung (0 61 31) 9 60
70 80 - Bankkonto: Mainzer Volksbank e. G. (BLZ 551 900 00) 11 591 013 - Geschäftsführung:
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9 60 70 12 - Anzeigenpreise nach Tarif Nr. 18 vom 1. 10. 1999 - Vertrieb: Ute Schellerer, Tel. (0
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Mail: kirchheim@pan-adress.de. Vertrieb Ausland: Buchhandlung und Verlag A. Hartleben,
Inh. Dr. Rob, Schwarzenbergstraße 6, A-1015 Wien. Buchhandlung und Verlag Hans Huber AG,
Länggass-Strasse 76, CH-3000 Bern 9 - Erscheinungsweise: jeweils zum 15. der Monate Februar,
März, April, Juni, August, Oktober, November, Dezember, insgesamt 8 Hefte pro Jahr -
Bezugspreis jährlich 100,-DM/788 öS/100 sFr, Einzelpreis 14,50 DM/113 öS/15 sFr, Studentenabo
54 DM/452 öS/58 sFr pro Jahr. Für die Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie
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9 58 94-0 - ISSN 1432-3605.

© Kirchheim-Verlag Mainz
http://www.LA-MED.de

Das Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“wurde unterstützt von der


Firma Novartis.

Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“ © Kirchheim-Verlag Mainz 55


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● Bei spezifischen Schwierigkeiten ● Hausaufgaben in kleine, überschau- agogik sollten deshalb auch fester Be-
(z. B. beim Schreiben) können spezi- bare „Portionen“ mit unterschiedli- standteil der Ausbildung von Lehrkräf-
fische Hilfen gegeben werden (z. B. chem Inhalt zerteilen. ten sein.
Lückentexte statt kompletter Tex- ● Die Hausaufgabenzeit sollte alters-
te). abhängig begrenzt sein. Entschei-
● Fordern Sie das Kind explizit auf, die dend ist nicht die Menge der bewäl-
Aufgaben (z. B. bei Diktaten) noch tigten Hausaufgaben, sondern die
einmal zu kontrollieren oder unter- benötigte Zeit.
stützen Sie es bei der Kontrolle. ● Der Lehrer kann mit den Eltern einen
● Geben Sie häufige Rückmeldung und festen Hausaufgabenort sowie
Lob auch für das Bemühen des Kin- eine festeHausaufgabendauerbe-
des. sprechen. Kann das Kind die Aufga-
ben in dieser Zeit nicht bewältigen,
Hilfen für die Hausaufgaben sollte der Lehrer dies in Rücksprache
Besonders schwierig gestaltet sich häu- mit den Eltern akzeptieren.
fig die Hausaufgabensituation. In einer ● Die Hausaufgaben müssen durch den
Rangreihe problematischer Situationen Lehrer kontrolliert werden. Auch
stehen die Hausaufgaben für Eltern hy- hier gilt die Regel, daß die Bemühun-
perkinetischer Kinder an erster Stelle. gen zu verstärken sind.
Deshalb können auch gemeinsam mit Die Behandlung des hyperkinetischen Korrespondenzadresse
den Eltern Hilfen für die Hausaufgaben Syndroms setzt einen multimodalen Dipl.-Psych. Norbert Beck
vom Lehrer erarbeitet werden: Behandlungsansatz voraus (siehe Bei- Tagesklinik für Kinder- und Jugend-
● Das Kind sollte ein Hausaufgaben- trag Steinhausen, S. 28), bei dem Päd- psychiatrie und Psychotherapie
heftchen führen, die Eintragungen agogik und Therapie ineinander grei- Lindleinstraße 7
sollten vom Lehrer kontrolliert und fen. Die Wissensvermittlung über kin- 97080 Würzburg
von den Eltern gegengezeichnet der- und jugendpsychiatrische Störungs- Tel.: 0931/2508040
werden. bilder und die Möglichkeiten der Päd- Fax: 0931/2508041

Video: ADHD-Kinder im Unterricht


Ablenkbarkeit, Unruhe, Unaufmerksamkeit Das Video dauert 25 Minuten und ist eine
sind neben Gewaltbereitschaft die häufig- Co-Produktion der Stadtbildstelle Nürn-
sten Klagen von Lehrern über Schüler, aber berg in Zusammenarbeit mit dem Staatsin-
auch von Eltern über ihre Kinder. Im ersten stitut für Schulpädagogik und Bildungsfor-
Teil des Videos „Aufmerksamkeitsgestör- schung, München.
te, hyperaktive Kinder im Unterricht“ gibt
es allgemeine Informationen über Kinder,
die als aufmerksamkeitsgestört und hy-
peraktiv bezeichnet werden. Im zweiten
Teil kann man anhand zahlreicher Origi-
nalszenen aus dem Unterricht typische
Verhaltensweisen dieser Kinder erken-
nen, unterscheiden und beobachten. Bezug:
Die Beispiele bieten Gedächtnisanlässe, Stadtbildstelle Nürnberg
mit deren Hilfe pädagogisch angemes- Fürther Straße 80a
sene Lösungen - die der Film allerdings 90429 Nürnberg
nicht vorgibt - für den Umgang mit Tel.: (0911) 263198
derart belastenden Situationen gefunden Fax: (0911) 289031
werden können. Preis inkl. Porto und Verpackung: 39,00 DM

54 Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“© Kirchheim-Verlag Mainz


klare Regeln und schnelle Konse-
quenzen. Im Einzelkontakt können
mit dem Kind solche Regeln festge-
legt und auch schriftlich fixiert wer-
den (zunächst nur wenige Regeln).
Diese Regeln sollten kurz und deut-
lich formuliert sein. Die Konsequen-
zen sollten möglichst zeitnah zum
Verhalten erfolgen. Wichtig dabei
ist, erwünschtes Verhalten und das
Einhalten der Regeln häufig und in-
tensiv (durch Lob oder andere Be-
lohnungen) zu verstärken.
● Dem Bewegungsdrang hyperkineti-
scher Kinder kann man durch „Hilfs-
jobs“ entgegenkommen. So kann
man solche Kinder öfters die Tafel
wischen oder kleine Besorgungen
machen lassen.
● Anweisungen an das Kind müssen in
einfachen Worten formuliert sein.
Vergewissern Sie sich, daß das Kind
Sie dabei anschaut, lassen Sie das
Kind die Anweisung mit seinen eige-
nen Worten wiedergeben, um sicher-
zugehen, daß die Anweisung ver-
standen wurde.
● Änderungen gewohnter Abläufe soll-
ten rechtzeitig angekündigt werden,
die Gleichförmigkeit von Abläufen
(immer wiederkehrende „Routinen“)
hilft diesen Kindern.
● Am Arbeitsplatz sollten nur die ak-
tuell benötigten Materialien liegen,
alles andere sollte weggeräumt sein,
da es die Kinder nur ablenkt.

Abb. 3: Auszüge aus verschiedenen standardisierten Beobachtungsskalen. Hilfen im Leistungsbereich


● Der Unterricht und der Stoff sollten
in kleinere überschaubare Einheiten
te ein Austausch (mit Wissen und zes Berühren der Schulter) auf den gegliedert sein. Hilfreich ist es, wenn
Einverständnis der Eltern) zwischen Unterricht zu lenken. Diese Kinder die Inhalte dieser Einheiten wech-
Lehrer und Arzt hinsichtlich der Be- sollten immer den gleichen Sitzplatz seln (Wechsel von Stillarbeit zu eher
handlungserfolge stattfinden. haben, günstig ist ein ruhiger Sitz- aktiver Arbeit, Wechsel von Einzel-
Diese Kooperation stellt die Rahmen- nachbar, Gruppentische sind eher arbeit zu Partnerarbeit).
bedingung dar, in diekonkrete Hilfen ungünstig. ● Räumen Sie dem Kind ausreichend
für den Unterricht eingebettet sein ● Hyperkinetische Kinder benötigen Zeit für spezifische Aufgaben ein.
sollten:
Das Wichtigste
Hilfen durch strukturierende Maß- für die Praxis . . .
nahmen ● Effektive Hilfe für unaufmerksame und hyperaktive Kinder setzt voraus,
● Aufmerksamkeitsgestörte Kinder daß Eltern, Lehrer, Schulpsychologen und Ärzte kooperieren.
sollten möglichst vorne sitzen. Dies ● Lehrer können einen wichtigen Beitrag zur Diagnostik leisten.
ermöglicht dem Lehrer, immer wie- ● Das Wissen und das Verständnis für dieses Störungsbild ist die Basis für
der kurze Kontakte zum Schüler auf- eine effektive Hilfe.
zunehmen und seine Aufmerksam- ● Strukturierung und konsequente Unterstützung sind die Kernpunkte
keit durch direktes Ansprechen oder der pädagogischen Hilfen.
ein vereinbartes Zeichen (z. B. kur-

Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“ © Kirchheim-Verlag Mainz 53


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Tab. 1: Leitfaden für einen pädagogischen Bericht

Konzentrationsvermögen, Ausdauer leicht ablenkbar, nur kurzfristig bei der Sache, Tagträume, Konzentrationsvermö-
Durchhaltevermögen gen im Verlaufe des Schultages, Hausaufgaben vergessen, Aufgaben nicht zu Ende
führen?

Motorische Unruhe zappeln mit Händen und Füßen, im Klassenzimmer herumlaufen, besondere
Schwierigkeiten bei ruhigen Arbeiten, hoher Bewegungsdrang auf dem Pause-
hof?

Impulsivität dazwischenreden, sich nicht melden, mit der Antwort herausplatzen, schnelle
Wutausbrüche?

Sozial- und Kontaktverhalten Klassenkaspereien, Mittelpunktstreben, sozialer Rückzug, wechselnde Freund-


schaften, in Prügeleien verwickelt, Sachen zerstören, Beschimpfungen von Mit-
schülern oder Lehrern, Ignorieren von Anweisungen, Schwindeln?

Emotionalität starke Stimmungsschwankungen, plötzliche Stimmungswechsel, sich isolieren,


bedrückt wirken?

Leistungsverhalten siehe Abschnitt Leistungsverhalten

richt die in Tabelle 1 genannten Aspek- Standardisierte Verfahren rungen und körperlichen Beschwerden
te berücksichtigt werden. Für die Diagnostik des hyperkinetischen zur Verfügung.
Syndroms, für die möglichst unabhän-
Leistungsverhalten gige Beobachtungen aus verschiede- Was kann der Lehrer im
Einen besonderen Stellenwert in der nen Situationen erforderlich sind, ste- Unterricht tun?
Beurteilung durch den Lehrer nehmen hen einige standardisierte Verfahren Eine Grundvoraussetzung für die ef-
Leistungsaspekte ein. Abzuklären ist, speziell zur Bewertung der Symptoma- fektive Unterstützung hyperkinetischer
ob z. B. eine schulische Überforderungs- tik in der Schule zur Verfügung. Kinder im Unterricht ist eine entspre-
situation oder eine Teilleistungsstörung Es handelt sich dabei zum einen um chende Einstellung gegenüber dem
vorliegt. Bei Leistungsproblemen muß die Lehrerversion der sogenannten Kind: Diese Kinder sind nicht besonders
eine ausführliche Leistungsdiagnostik „Conners-Skalen“, durch die 28 faul oder frech, sondern leiden an einer
und unter Umständen eine Teilleistungs- Verhaltensmerkmale hinsichtlich Symptomatik, die eine enge Kooperati-
diagnostik durchgeführt werden, dies ihrer Ausprägung bewertet werden on zwischen Eltern, Lehrer, Schulpsy-
kann z. B. durch den Psychologen oder können. Weiter steht der Eltern- chologe und Arzt/Therapeut verlangt.
Schulpsychologen geschehen. Lehrer-Fragebogen (Kurzform) zur Für dieseKooperationim Sinne des
Darüber hinaus sollte der Lehrer fol- Verfügung, der die Bewertung des Aus- Kindes können folgende Punkte wich-
gende Leistungsaspekte berücksichti- maßes von zehn für das hyperkineti- tig sein:
gen: sche Syndrom kennzeichnende Verhal- ● Keine Schuldzuweisungen! Vielmehr
● Leistungsverweigerung, Leistungs- tensweisen ermöglicht. Als drittes spe- sollen sich Eltern und Lehrer als
abbrüche zifisches Verfahren kann mittels des Partner für eine Hilfe zum Wohle
● unvollständige Leistungen (z. B. Fragebogen zur schulischen Situa- des Kindes gemeinsam einsetzen.
Hausaufgaben) tion das Auftreten und das Ausmaß ● Gegenseitiges Informieren, z. B.
● Leichte Frustration durch Mißerfol- von Unruhe und Konzentrationsschwie- durch ein „Haus-Schule-Haus-Heft-
ge rigkeiten in unterschiedlichen schuli- chen“.
● Nachlassen oder starke Schwankun- schen Situationen beurteilt werden ● Der Lehrer sollte über die Medikati-
gen des Leistungsverhaltens über (Abb. 3). on informiert sein und diese vorbe-
den Schultag Über diese störungsspezifische Ver- haltlos bejahen, da eine Unterstüt-
● „Flüchtigkeitsfehler“ fahren hinaus steht mit dem Lehrer- zung der Kinder bei der Medikamen-
● Unordnung in der Heftführung und fragebogen über das Verhalten von teneinnahme notwendig ist. Nur
den für die Schule benötigten Mate- Kindern und Jugendlichen (deut- wenn das Kind das Gefühl hat, daß
rialien sche Form der Teacher’s report form der Lehrer die Medikation unter-
● Ungeschickte Graphomotorik (unzu- der CBCL) ein störungsübergreifendes stützt, wird es diese Hilfe unbelastet
längliche Zeilenkonstanz, Größen- Verfahren zur Beurteilung von Verhal- annehmen können.
konstanz, Richtungskonstanz) tensauffälligkeiten, emotionalen Stö- ● Neben der diagnostischen Hilfe soll-

52 Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“© Kirchheim-Verlag Mainz


beiten schnell fertig, kontrollieren
ihre Lösungen aber nicht. Der erste
Gedanke, der ihnen in den Kopf
kommt, wird umgesetzt. Dies führt
im Leistungsbereich häufig zu fal-
schen Lösungsstrategien.
● Diese Kinder sind oft kurzfristig be-
geisterungsfähig, können dies aber
nicht durchhalten und wirken da-
durch sprunghaft. Es fällt ihnen auch
schwer, Freundschaften aufrechtzu-
erhalten und sind damit oft sozial
schlecht integriert.
● Hyperkinetische Kinder fallen oft
durch Klassenkaspereien auf, sie wol-
len gerne im Mittelpunkt stehen und
drängen sich aber immer mehr an
den Rand.
● Geringe Störreize wie ein vorbeifah-
rendes Auto oder ein heruntergefal-
Hyperkinetische Kinder im Unterricht: Ihnen fällt es schwer, ruhig auf einem Stuhl zu
lenes Lineal zieht die Aufmerksam- sitzen, Arme und Beine können ständig in Bewegung sein, sie laufen im Klassenzim-
keit dieser Kinder auf sich. Alles mer herum.
scheint für diese Kinder gleich be-
deutend zu sein.
● Häufig werden Hausaufgaben nicht den Hintergrund, wobei die Aufmerk- aldiagnostisch sind organische oder
oder nicht vollständig gemacht. Die samkeits- und Konzentrationsschwie- andere psychiatrische Gründe auszu-
Kinder vergessen, was sie aufhatten. rigkeiten weiterbestehen. schließen. Der Lehrer kann wichtige dia-
Die Büchertasche ist zum Teil in ei- gnostische Bausteine liefern.
nem chaotischen Zustand. Teilweise Welchen diagnostischen Bei-
fallen die Kinder auch dadurch auf, trag kann der Lehrer leisten? Verhaltensbeobachtung
daß sie z. B. ständig ihre Sportsachen Nicht alle oben aufgeführten Verhal- Häufig können wichtige Hinweise für
oder andere Schulmaterialien liegen- tensweisen und Probleme sind bei al- eine hyperkinetische Störung bereits in
lassen oder verlieren. len hyperkinetischen Kindern wieder- der verbalen Beurteilung im Rahmen
● Hyperkinetische Kinder besitzen oft zufinden. Andererseits finden wir die der Schulzeugnisse gefunden werden.
nur eine geringe Frustrationstole- beschriebenen Verhaltensweisen zum Die Beobachtungen des Lehrers finden
ranz, sie sind schnell wütend oder Teil auch bei Kindern, die nicht an einer hier eher unsystematisch ihren Nieder-
traurig, wenn sie Fehler machen oder hyperkinetischen Symptomatik leiden. schlag (siehe Abb. 2).
im Spiel verlieren. Eine ausführliche fachärztliche Diagno- Ausführlicher und differenzierter
stik ist deshalb unumgänglich, da das können die Beobachtungen des Leh-
Mit diesen genannten Auffälligkeiten Ausmaß der Symptome, die Situati- rers in einem pädagogischen Bericht
verbinden sich häufig Lern- und Lei- onsunabhängigkeit sowie der Grad dargestellt werden, der oft im Rahmen
stungsstörungen, emotionale Störun- derBeeinträchtigungwesentliche Kri- der Diagnostik angefordert wird. Als
gen und Kontaktschwierigkeiten. Bei terien für die Diagnose sind. Differenti- Leitfaden können in einem solchen Be-
einem recht hohen Anteil dieser Kinder
treten Teilleistungsstörungen wie die
Legasthenie oder die Dyskalkulie als
vergesellschaftete Symptomatik auf.
Grundsätzlich können die genann-
ten Verhaltensschwierigkeiten sowohl
bei Mädchen als auch bei Jungen in
gleicher Weise auftreten, allerdings ste-
hen bei den Jungen die motorischen
Auffälligkeiten (gesteigerte motorische
Unruhe, Zappeligkeit) stärker im Vor-
dergrund. Die Symptomatik unterliegt
auch einer gewissen Entwicklungsab-
hängigkeit. Mit zunehmendem Alter
tritt die motorische Unruhe stärker in Abb. 2: Auszüge aus der verbalen Beurteilung in Zeugnissen hyperkinetischer Kinder.

Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“ © Kirchheim-Verlag Mainz 51


Originalia

Was der Lehrer wissen sollte


Norbert Beck1, Uwe Hemminger2, Andreas Warnke2
1
Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Würzburg
2
Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Universität Würzburg

Zusammenfassung
Für die Lehrkräfte bedeutet der Umgang mit hyperkinetischen Kindern eine besondere fachliche und oft auch
persönliche Herausforderung. Der folgende Beitrag zeigt Möglichkeiten der Lehrer bei der Erkennung und Diagnostik
dieses Störungsbildes. Weiter gibt er konkrete Hinweise für die Unterstützung hyperkinetischer Kinder im Unterricht.
Schlüsselwörter: hyperkinetisches Syndrom, Schule, Lehrer, Lehrkräfte, Unterricht, Pädagogik.

Einleitung ● Hyperkinetischen Kindern fällt es hyperkinetische Kinder häufig auch


Das hyperkinetische Syndrom - mit oder schwer, ruhig auf einem Stuhl zu Gefahren falsch ein und neigen zu
ohne Störung des Sozialverhaltens - sitzen, Arme und Beine können stän- Unfällen.
tritt häufig dann am stärksten zu Tage, dig in Bewegung sein, diese Kinder ● Solche Kinder können im Unterricht
wenn besondere Anforderungen an die laufen im Klassenzimmer umher. Der abwesend, verträumt wirken. Wer-
Konzentrationsfähigkeit und das Aufforderung, still zu sitzen, kön- den sie aufgerufen, können sie nicht
Durchhaltevermögen, an Regelverhal- nen diese Kinder nur kurzzeitig Fol- antworten, da sie die Frage nicht
ten und Rücksichtnahme, an Still-Sit- ge leisten. mehr wissen. Sie scheinen oft nicht
zen-Können und Abwarten-Können ● Die gesteigerte motorische Unruhe zuzuhören oder „auf Durchzug“ zu
gestellt werden. Das Störungsbild ma- ist nicht selten begleitet von einer stellen.
nifestiert sich deshalb häufig in beson- motorischen Ungeschicklichkeit, die ● Umgekehrt können solche Kinder
derer Weise im schulischen Alltag. Häu- sich oft in beeindruckender Weise nicht warten, bis sie aufgerufen wer-
fig führt erst ein drohendes Leistungs- im Schriftbild niederschlägt. Den Kin- den. Sie platzen mit ihrer Antwort
versagen oder eine drohende Ausschu- dern gelingt es nicht, die Zeile einzu- heraus, oft noch bevor die Frage zu
lung aus disziplinarischen Gründen und halten, die Buchstaben zeigen keine Ende gestellt ist, oder rufen einfach
damit das Drängen der Schule dazu, die Größen- oder Richtungskonstanz, dazwischen. Häufig legen diese Kin-
Verhaltensproblematik klinisch zu über- die Schrift ist inhomogen und manch- der auch einen gesteigerten Rede-
prüfen. Der Sensibilität der Lehrer für mal kaum leserlich (siehe Abb. 1). drang an den Tag, sie scheinen in
dieses Störungsbild und der Zusammen- ● In den Pausen imponieren diese Kin- ihrem Redefluß kaum zu unterbre-
arbeit mit den Eltern und den behan- der durch einen gesteigerten Bewe- chen zu sein.
delnden Ärzten und Therapeuten gungsdrang, schon auf dem Weg in ● Beim Abschreiben von der Tafel, in
kommt deshalb in der Diagnostik und den Pausenhof, auf dem Schulweg Nachschriften oder Diktaten machen
Behandlung des hyperkinetischen Syn- oder im Schulbus können sie kaum diese Kinder vermehrt „Flüchtig-
droms eine besondere Bedeutung zu. zu bremsen sein. Dabei schätzen keitsfehler“. Sie sind bei Klassenar-

Was kann auf eine hyperkineti-


sche Symptomatik in der Schu-
le hinweisen?
Das Erscheinungsbild des hyperkineti-
schen Syndroms ist gekennzeichnet
durch die KernsymptomeUnaufmerk-
samkeit und erhöhte Ablenkbar-
keit, Impulsivität und leichte Er-
regbarkeit sowie durch eine gestei-
gerte motorische Unruhe. Wie aber
äußern sich diese Symptome konkret in
der Schule? Abb. 1: Schriftbild eines hyperkinetischen Mädchens.

50 Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“© Kirchheim-Verlag Mainz


● früh einsetzende schwere und hart-
näckige oppositionelle und aggres-
sive Verhaltensstörung;
● schlechte Beziehung zu Gleichaltri-
gen und Eltern; schlechte soziale Ein-
bindung;
● psychische Störungen der Eltern;
● familiäre Instabilität und Eheproble-
me;
● niedriger sozioökonomischer Status;
● niedrige Intelligenz;
● strafender und inkonsistenter Erzie-
hungsstil der Eltern.

Langzeiteffekte der Therapie

Pharmakotherapie
Langzeiteffekte wurden bislang in nur
wenigen Studien untersucht, die zu-
dem meist erhebliche methodische Soziale Folgen zeigen sich z. B. in den Schulkarrieren: Kinder mit einer hyperkineti-
schen Störung verlassen die Schule im Durchschnitt mit einem geringeren Schulab-
Schwächen aufweisen. Effekte über
schluß. Und sie sind häufiger arbeitslos.
Zeiträume von zwölf bis 24 Monate
sind allerdings gesichert, solange Sti-
Das Therapieprogramm wird durch ei- Literatur beim Verfasser und im Internet (http:/
mulanzien eingenommen werden. Es /www.uni-koeln.de/med-fak/kjp)
gibt keinen Hinweis, daß dies nicht auch nen Ratgeber für Eltern, Lehrer und
für längere Zeiträume zutrifft. Ältere Erzieher ergänzt.
Studien konnten jedoch Langzeiteffek- Die Kurzzeiteffekte von Verhaltens-
te bei ausschließlich mit Stimulanzien therapie sind in jüngster Zeit sowohl
behandelten Kindern im Vergleich zu durch die amerikanische MTA-Study mit
unbehandelten Kindern nicht belegen. mehr als 500 Kindern als auch durch die
Bei der Langzeittherapie mit Stimulan- Kölner Studie zur multimodalen Thera-
zien stellt sich häufig ein erhebliches pie von Kindern mit hyperkinetischen
Problem in der Compliance für die Me- Störungen belegt worden. In beiden
dikamenteneinnahme ein. Studien erwies sich sowohl Verhaltens-
therapie als auch Pharmakotherapie als
Verhaltenstherapie ausgesprochen wirkungsvoll. Bei der
Neben der Pharmakotherapie hat sich Veränderung der hyperkinetischen
die Verhaltenstherapie als wirkungsvoll Kernsymptome ist die Stimulanzienthe-
erwiesen. Im deutschen Sprachraum rapie der Verhaltenstherapie auf eini-
wurde das Therapieprogramm für Kin- gen, jedoch nicht auf allen Parametern
der mit hyperkinetischem und opposi- überlegen. Der Stellenwert der Kombi-
tionellem Problemverhalten entwickelt nationsbehandlung (multimodale The-
und evaluiert. Dieses Therapiepro- rapie) bleibt weiterhin umstritten. Äl- Korrespondenzadresse
gramm besteht aus einer Kombination tere Studien der Arbeitsgruppe um Sat- Prof. Dr. sc. hum. Manfred Döpfner,
verschiedener verhaltenstherapeuti- terfield weisen darauf hin, daß durch Dipl.-Psych.
scher Techniken: die multimodale Therapie langfristig Klinik und Poliklinik für Psychiatrie
● Aufklärung der Eltern, des Kindes bessere Effekte als durch eine aus- und
und anderer Bezugspersonen; schließliche Stimulanzientherapie er- Psychotherapie des Kindes-
● Eltern-Kind-Therapie mit Interven- zielt werden. Die Leitlinien der Deut- und Jugendalters
tionen in der Familie zur Verminde- schen Gesellschaft für Kinder- und Ju- der Universität zu Köln
rung von Verhaltensproblemen, die gendpsychiatrie und Psychotherapie Robert-Koch-Str. 10
im familiären Rahmen auftreten; empfehlen auch bei der Durchführung 50931 Köln
● Interventionen im Kindergarten einer Stimulanzientherapie zumindest Tel.: (0221) 478-6271
bzw. in der Schule; eine auf verhaltenstherapeutischen Fax: (0221) 478-3962
● Training des Kindes zur Verbesse- Prinzipien basierende Beratung des (äl- E-Mail:
rung seiner Selbststeuerungsfähig- teren) Kindes, seiner Eltern und ande- manfred.doepfner@medizin.uni-
keit. rer Bezugspersonen (Lehrer). koeln.de

Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“ © Kirchheim-Verlag Mainz 49


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Unbehandelte ADHD und


Langzeiteffekte der Therapie
Manfred Döpfner
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Universität zu Köln

Zusammenfassung
Unbehandelt vermindern sich zwar einige Symptome der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung im Jugend-
alter, doch häufig persistieren behandlungsbedürftige Residualsymptome sowie komorbide Störungen, vor allem
Störungen des Sozialverhaltens und Leistungsstörungen. Die Kurzzeiteffekte von Verhaltens- und von Pharmakothe-
rapie sind gut belegt; die Langzeiteffekte beider Behandlungsansätze wenig untersucht. Die Bedeutung der Kombina-
tionsbehandlung bleibt umstritten.
Schlüsselwörter: unbehandelte ADHD, soziale Folgen, Therapie-Langzeiteffekte.

Probleme bleiben me in bis zu 80 % der Fälle bis in das holt (im Vergleich zu 11 % der Kin-
Der Verlauf bei Kindern mit Aufmerk- Erwachsenenalter hinein persistieren. der, die bei der Erstuntersuchung
samkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstö- Zwar wird seltener eine volle Symptom- unauffällig waren)
rung (ADHD) oder hyperkinetischen ausprägung beobachtet; aber auch ein- ● in 46 % wurden sie vom Unterricht
Störungen (HKS) ist mittlerweile gut zelne Symptome können Einschränkun- vorübergehend suspendiert (Ver-
bekannt und lange nicht so günstig, gen in der psychosozialen Anpassung gleich: 15 %)
wie noch vor einem oder zwei Jahr- in der Familie und im Beruf nach sich ● in 11 % wurden sie von der Schule
zehnten vermutet. Mittlerweile liegen ziehen, so daß auch im Erwachsenenal- verwiesen (Vergleich: 1,5 %)
genügend Verlaufsstudien vor, die zei- ter weiterhin Behandlungsbedarf be- ● in 10 % der Fälle erfolgte der Schul-
gen, daß ein erheblicher Anteil der Kin- stehen kann. abbruch (Vergleich: 0 %)
der mit dieser Symptomatik auch noch Insgesamt ist die hyperkinetische ● in 33 % der Fälle war ein Besuch
als Jugendliche und Erwachsene ausge- Störung als eine Symptomatik mit ho- einer Sonderklasse für Lernstörun-
prägte Probleme haben, wenn sie nicht hem Chronifizierungsrisiko zu betrach- gen notwendig (Vergleich: 3 %) und
oder nicht ausreichend behandelt wer- ten, die sich in der frühen Kindheit ● in 36 % der Fälle wurde eine Sonder-
den: entwickelt und bis in das Erwachsenen- klasse für Kinder mit Verhaltensstö-
Im Jugendalter beträgt die Stabilität alter hinein persistieren kann. Der Ver- rungen besucht (Vergleich: 6 %).
der Störung zwischen 30 % und 70 %. lauf der Störung ist vor allem dann eher
Die Symptomatik unterliegt einem Sym- ungünstig, wenn sich neben den Kern- Es verwundet daher nicht, daß
ptomwandel, da die motorische Unru- symptomen weitere Auffälligkeiten Kinder mit diesem Störungs-
he nachläßt, während Impulsivität und entwickeln. Vor allem, wenn aggressive bild im Durchschnitt mit ei-
Aufmerksamkeitsstörungen eher per- Verhaltensauffälligkeiten oder Lei- nem geringeren Schulab-
sistieren. Im Vordergrund der Proble- stungsstörungen (mit schulischen Lei- schluß die Schule verlassen
matik stehen in dieser Entwicklungs- stungsdefiziten) auftreten. und häufiger arbeitslos sind.
phase neben der Schulleistungsproble-
matik in zunehmenden Maße Störun- Soziale Folgen Vermutlich aufgrund der persistieren-
gen des Sozialverhaltens und delinquen- Die sozialen Folgen der Störung wer- den Impulsivität sind Kinder, Jugendli-
te Handlungen, die bei 25 bis 50 % der den besonders eindrucksvoll durch eine che und junge Erwachsene gehäuft in
hyperkinetischen Jugendlichen auftre- amerikanische Studie belegt, die von Verkehrsunfälle auch mit tödlichem
ten. Der Anteil der Jugendlichen, die Russel Barkley durchgeführt wurde. Ausgang verwickelt.
dissoziale Störungen des Sozialverhal- Danach zeigen sich große Unterschie-
tens entwickeln, liegt auch in Deutsch- de in den Schulkarrieren von Kindern Risikofaktoren für einen un-
land bei etwa 40 %, wie die Mannhei- mit der Diagnose einer hyperkineti- günstigen Verlauf
mer Längsschnittstudie der Gruppe um schen Störung im Vergleich zu unauf- Die empirisch weitgehend gesicherten
Schmidt und Esser zeigt. fälligen Kindern. Acht Jahre nach die- Risikofaktoren für einen eher ungün-
Entgegen früherer Annahmen kön- ser Diagnose hatten die Jugendlichen: stigen Verlauf der Störung sind:
nen einzelne hyperkinetische Sympto- ● in 29 % der Fälle eine Klasse wieder- ● stark ausgeprägte Symptomatik;

48 Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“© Kirchheim-Verlag Mainz


und die Aufnahme des Krankheitsbil-
des in den Ausbildungskatalog von Leh-
rern, Erziehern, Ärzten, Psychologen
und Therapeuten.
Auch bei bester Behandlung bleibt
häufig ein Residualtyp im Erwachse-
nenalter bestehen. Der Kinder- und Ju-
gendarzt kann den Eltern helfen, ihre
Erziehungsarbeit durchzustehen, die
bei diesen Kindern länger dauert und
mühsamer ist. Die Betroffenen haben
den sogenannten „Normalen“ etwas
voraus: Durch ihre Filterschwäche neh-
men sie mehr - auch Unwichtiges - auf,
so daß ihr Wahrnehmungs- und Erleb-
nisspektrum größer ist. Mit kindlicher
Begeisterungsfähigkeit, erfrischendem
Neugierverhalten, originellen Problem-
lösungen bringen sie Leben in den grau-
en Alltag. Mit ungewöhnlichen Verhal-
tensweisen und anders strukturierter
Sensibilität sind sie oft so phantasie-
ADHD-Kinder: Mit ungewöhnlichen Verhaltensweisen sind sie oft so phantasiereich, reich, daß Gleichaltrige neben ihnen alt
daß Gleichaltrige neben ihnen alt aussehen. ausschauen. So findet man sie beson-
ders in Künstlerkreisen, in Helfer- und
Manager-Berufen und auch in der Poli-
Steigerung um eine 1/4 bis 1/2 Tablette ginge problemarm auch ohne Medika- tik. Oft sind sie eine Bereicherung unse-
(bzw. alternativ 2 mg DL-Amphetamin) mente. Intermittierend Gespräche mit rer Gesellschaft. Aber nur mit unserer
unter Einführung einer Mittagsdosis, Patient und Eltern, auch mit Erziehern/ Hilfe und der Kooperation der Helfer
bis deutliche Wirkung merkbar. Bei grö- Lehrern. Halbjährlich körperliche Un- scheitern sie nicht vorher auf ihrem
ßeren Schulkindern 3 x oder häufigere tersuchung (auch Gewicht, Länge); Blut- Lebensweg.
Gabe. Steigerung bis maximal 1 mg/kg untersuchungen sind im Regelfall nicht
KG/Tag; wenn dann immer noch keine nötig, manchmal für die Beruhigung
deutliche Wirkung merkbar, dringend der Eltern und Betreuer sinnvoll. Zeug- Literatur beim Verfasser

Diagnose überprüfen! In Einzelfällen nisse, Schulhefte (Ordnung, Schrift)


kann eine höhere Dosis nötig sein. Rück- zeigen lassen!
sprache mit den Eltern jeweils nach 1 Diätetische Maßnahmen: Sie ha-
Woche (Eltern-Tagebuch). Rückfragen ben in allen größeren Studien keinen
der Eltern bei Erziehern in Kindergar- Nutzen gezeigt. Bei begleitenden aller-
ten oder Schule nach 2-4 Wochen (die gischen Erkrankungen kann eine ge-
Eltern sollten diese vorher nicht über zielte Diät unter ärztlicher Kontrolle
den Beginn der medikamentösen Be- für die Gesamtsituation von Nutzen
handlung informieren, damit eine un- sein.
voreingenommene Bewertung erhalten
werden kann; später Information der Ausblick
Erzieher sinnvoll). Die einzig mögliche Prävention ist die
Dauerphase:Dosis beibehalten, nö- Minimierung der Folgen des ADHD
tige Dosisanpassung mit 2,5 mgMethyl- durch frühzeitige Diagnosestellung,
phenidat bzw. 2 mg DL-Amphetamin. rechtzeitige und konsequente multi-
Beim Ausstellen eines neuen Rezeptes modale Therapie, langfristige und sorg- Korrespondenzadresse
bisherigen Verlauf zu Hause und in der fältige Therapieüberwachung. Dazu Dr. Klaus Skrodzki
Schule beschreiben und Zeugnisse, gehört die Kooperation mit Erziehern/ Kinderärztliche Gemeinschaftspraxis
Schulhefte (Ordnung, Schrift) zeigen Lehrern, Selbsthilfegruppen, Kinder- Dr. Walter Kunz & Dr. Klaus Skrodzki
lassen. Therapie auch an Wochenenden und Jugendpsychiatern, Psychothera- Gleiwitzer Straße 15
und in den Ferien fortsetzen. Keine peuten und Heilmittelerbringern. Not- 91301 Forchheim
eigenmächtigen Dosisänderungen wendig ist auch die Berücksichtigung Tel: (09191) 14911
durch Eltern oder Lehrer zulassen. Pau- der ADHD-Symptomatik in Kindergär- Fax: (09191) 66690
sen nur, wenn die Eltern meinen, es ten, Schulen und Ausbildungsstätten E-Mail: skrodzki@skrodzki.franken.de

Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“ © Kirchheim-Verlag Mainz 47


Originalia

Maßnahmen sind nur bei Krisensitua- de gefunden, daß 70-85 % der ADHD-
tionen notwendig. Patienten auf die Stimulantientherapie
ansprechen. Es besteht keine Korre-
Medikamentöse Therapie lation zwischen Körpergewicht und
Bei deutlicher Beeinträchtigung im Lei- notwendiger Dosis!
stungs- und psychosozialen Bereich, Die Wirkung tritt schnell ein und
großem Leidensdruck bei Kindern/Ju- zeigt sich in deutlich besserer Aufmerk-
gendlichen und Eltern und somit Ge- samkeit, Selbststeuerung, Ausdauer,
fahr für die weitere Entwicklung ist Konzentration; besserem Zuhören und
medikamentöse Therapie notwendig. sinnvollem Umsetzen des Gehörten; Ver-
Spontanremissionen gibt es praktisch ständnis für Logik, Zusammenhänge
nie; ohne medikamentöse Behandlung und Ermahnungen, Einsicht; besserer
verschlechtert sich die Situation meist Schrift und Rechtschreibung, weniger
zunehmend. Auch für viele Vorschul- Flüchtigkeitsfehlern; besserer Körper-
kinder besteht be- koordination,
reits ein Behand- Das Wichtigste Wahrnehmung
lungsbedarf (nach für die Praxis . . . und Ausführung
DSM IV treten die von Mimik, Gestik
Symptome bereits ● In allen Lebensabschnitten und Körperspra-
vor dem Alter von gibt es Hinweise für Aufmerk- che; weniger Re-
7 Jahren in Erschei- samkeitsstörung, Hyperaktivi- den und Geräu-
nung), um zuneh- tät und Impulsivität. Die Leit- sche machen; bes-
mende Entwick- symptome kann man bei den serer Motivation,
lungsverzöge- Vorsorgeuntersuchungen und Leistung zu erbrin- Leitsymptome im Grundschulalter: we-
rung, Sekundär- in den Berichten der Eltern ent- gen, Dinge zu Ende nig Ausdauer, starke Ablenkbarkeit, ag-
störungen und decken oder bei anderen Be- zu bringen; Spaß gressives Verhalten, schlechte Schrift etc.
Ausgrenzung zu suchen des Patienten. an Arbeit und Lei-
verhindern. Gera- ● Die Diagnose ergibt sich aus stung. lung - Nebenwirkungen auf. Die mei-
de in ungünstigem der Lebensgeschichte. Die Nebenwir- sten Nebenwirkungen lassen sich be-
sozialem Umfeld ● Ohne medikamentöse Be- kungen sind ge- herrschen durch Verminderung der
haben diese Kin- handlung verschlechtert sich ring und bestehen Dosis, Änderung der Verabreichungs-
der ein hohes Risi- die Situation meist zuneh- in abnehmender zeiten oder Wechsel des Medikamen-
ko, emotionale mend. Auch für viele Vorschul- Häufigkeit in Ap- tes. Es gibt keine Suchtentwicklung
und körperliche kinder besteht bereits Behand- petitmangel, (körperliche oder psychische Abhängig-
Mißhandlungen lungsbedarf. Schlafstörungen keit) unter der Stimulanzientherapie.
zu erleiden. Viele (die z. T. ver- Die Gefahr des Drogenmißbrauchs wird
übende Therapieformen (Ergotherapie, schwinden unter niedriger abendlicher durch Stimulantienbehandlung sogar
Psychomotorik, Logopädie) erzielen erst Stimulanziengabe), Dysphorie, Weiner- gemindert. Bei Langzeitbehandlung
bei medikamentöser Therapie der Kin- lichkeit, Kopfschmerzen, Bauchschmer- tritt in üblicher Dosierung keine Tole-
der wirkliche Erfolge. zen, Schwindel, Reboundhyperaktivi- ranzentwicklung ein. Eine antikonvul-
tät bei Nachlassen der Wirkung, Auslö- sive Behandlung ist kein Hindernis für
Behandlungsbedarf auch für sung oder Verschlechterung bestehen- die Stimulanzientherapie.
Vorschulkinder. der Tic-Störung (fast immer vorüberge-
hend, manchmal Aufhören der Tics un- Praktisches Vorgehen bei der Sti-
Als Medikamente stehen an erster Stel- ter Stimulantienbehandlung, persistie- mulanzientherapie
le die in Tabelle 1 genannten Psychosti- rend bei 1 %; eventuell zusätzliche Be- Informationsgespräch mit Eltern und
mulanzien Methylphenidat (z. B. Rita- handlung nötig), vorübergehender (älteren) Kindern/Jugendlichen über die
lin®) und DL-Amphetamin (Rezeptur als Wachstumsverlangsamung bei norma- medikamentöse Therapie: Aufklärung
Saft). Antidepressiva, Neuroleptika und ler Endgröße, Dosisabhängiger Puls- und über Wirkweise, Nutzen und mögliche
MAO-Hemmer spielen kaum eine Rolle. Blutdruckerhöhung (bei Kindern ex- Nebenwirkungen (wobei auch über in
Wirkungen und Nebenwirkungen sind trem selten). der Öffentlichkeit kursierende Vorur-
in etwa gleich bei Methylphenidat und In Langzeitstudien konnten keine teile gesprochen werden sollte); Bereit-
DL-Amphetamin, die Ansprechbarkeit negativen psychischen oder somati- schaft für sofortige Rückfragen bei Un-
auf die Substanzen ist individuell un- schen Auswirkungen durch die Thera- sicherheiten oder Problemen.
terschiedlich gut. Die angegebenen mg/ pie mit Psychostimulanzien festgestellt Einstellungsphase: 1/4 bis 1/2 Ta-
kg KG sind Durchschnittswerte und werden. Im normalen Dosisbereich (un- blette Methylphenidat (alternativ: 2 mg
können individuell erheblich unter- oder ter 1 mg/kg KG/Tag) treten nur selten - DL-Amphetamin als Saft) nach dem
überschritten werden. Empirisch wur- und meist nur zu Beginn der Behand- Frühstück für 1 Woche; wöchentliche

46 Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“© Kirchheim-Verlag Mainz


dauerndes Geräuschemachen während der- und jugendärztlichen Praxis zu er- belastete(n) in der Familie zur Erholung
der Untersuchung. füllen. Von dort sollte diemultimoda- sichergestellt werden. Die Steuerung
Testpsychologische Untersuchungen le Therapiekoordiniert werden inKo- der Freizeit mit Dosierung des Fern-
wie Entwicklungs-, Intelligenz- und Auf- operation mit Kinder- und Jugend- sehkonsums, Sport (Judo o. ä., Reiten),
merksamkeitstests (siehe Beitrag Fröh- psychiatern, Psycho- Jugendgrup-
lich, S. 18) können nötig sein. Häufig therapeuten, Heil- pe, viel Spiel
aber ist ein Rückgriff auf Vorbefunde mittelerbringern Wichtige Adressen und Spaß im
von Frühfördereinrichtungen, Schule u. a. Kinder- und Jugendärzte Familienver-
u. a. möglich. Es sollte ein EEG durchge- Eine Behandlung der Arbeitsgemeinschaft ADHD der band sind
führt werden, wenn aufgrund anamne- Ursache von ADHD, die Kinder- und Jugendärzte wichtige Er-
stischer und klinischer Auffälligkeiten wahrscheinlich in einer Postfach 228 gänzungen.
ein Anfallsleiden vorliegen könnte. Wei- Veränderung von 91292 Forchheim Bezüglich
tere apparative Diagnostik ist wis- Transmitteraktivität E-Mail: AG-ADHD@web.de der Behand-
senschaftlichen Fragestellungen vorbe- regulierenden Genen lung von Teil-
halten. Videoaufzeichnungen kön- liegt, ist nicht möglich. Elternverband leistungs-
nen hilfreich sein zur diagnostischen Bundesverband Aufmerksamkeits- schwächen,
Beurteilung und für das Elterngespräch. Allgemeine Maßnah- störung-Hyperaktivität e. V. Komorbiditä-
Die Abgrenzung gegenüber an- men Postfach 60 ten und er-
deren Erkrankungen, die ähnliche Die Aufklärung der El- 91291 Forchheim heblichen in-
Symptome aber andere Ursachen ha- tern und älteren Kin- Tel/Fax: (09191) 34874 trafamiliären
ben als ADHD, gelingt in der Regel auf der/Jugendlichen über E-Mail: 0919134874@t-online.de Problemen
Grund der Anamnese, des klinischen das Krankheitsbild, des- www.osn.de/user/hunter/ muß der Kin-
Befundes, des Verlaufs und spezieller sen Pathogenese, Ver- badd.htm der- und Ju-
Untersuchungen. Abzugrenzen sind: al- lauf und Behandlungs- Gutes und einfaches Informa- gendarzt de-
tersentsprechend hohes Aktivitätsni- möglichkeiten ist die tionsmaterial ren Wertig-
veau, milieubedingte Verhaltensauffäl- wichtigste therapeuti- Novartis Pharma GmbH, keit abschät-
ligkeiten, isolierte Teilleistungsschwä- sche Maßnahme. Diese GE Neurologie/Psychiatrie zen. Bei Stö-
chen (Lese-Rechtschreib- oder Rechen- initiale Aufklärung ent- Roonstraße 25 rung der Kör-
störung), Seh-, Hörstörungen, Anfalls- lastet die Eltern von 90429 Nürnberg perkoordina-
leiden, umschriebene Angst-, Zwangs- Schuldgefühlen und tion und Kör-
und Tic-Störungen, ein Tourette-Syn- den Vorwürfen, „in der perwahrneh-
drom, isolierte Störungen des Sozial- Erziehung versagt zu haben“, und mung, bei visuomotorischen und leich-
verhaltens, Psychosen, Autismus, Fra- nimmt von den Kindern den Vorwurf, teren sozialen Integrationsstörungen
giles X und in extrem seltenen Fällen „nur böse zu sein und nicht zu wollen!“ kommen Ergotherapie (sensorische In-
eine Schilddrüsenüberfunktion (bei Hy- Sie setzt aber auch den Rahmen für die tegration etc.) als Einzel-, und Psycho-
perthyreose, Schilddrüsenhormonresi- Möglichkeiten der Therapie. Notwen- motorik als Gruppentherapie in Frage.
stenz). dig ist ein eingehendes (und im Verlauf Lese-Rechtschreib-, Rechenschwäche
öfter zu wiederholendes) Gespräch über müssen in Zusammenarbeit mit den
Therapiemanagement Maßnahmen im gegenseitigen Um- Schulpsychologen diagnostiziert und
Therapieziele sind die soziale Inte- gang, die die ADHD-spezifischen Be- entsprechende Therapien eingeleitet
gration, genügend stabiles Selbstwert- sonderheiten des Kindes berücksichti- werden. Bei erheblichen intrafamiliä-
gefühl und Gewährleistung einer bega- gen: verläßliche Strukturierung des ren Problemen ist Familien-/Erzie-
bungsentsprechenden Schul- und Be- Tagesablaufs mit geregelter Zeitabfol- hungsberatung und Psychotherapie
rufsausbildung. In Anbetracht des chro- ge für Mahlzeiten, Arbeit, Spiel/Frei- angezeigt. Kognitive Therapie von
nischen und wechselvollen Verlaufs, ist zeitaktivitäten. Schulkindern/Jugendlichen (Selbstin-
eine wohnortnahe, kontinuierliche, struktionstraining, Selbstmanagement)
auch kurzfristig zugängliche Betreu- Wichtigste therapeutische helfen, im Alltag sicherer zu werden
ung von Patient und Familie nötig mit Maßnahme: die Aufklärung und ordnende Prinzipien anzuwenden.
den Möglichkeiten der bedarfsorien- von Kind und Eltern. Elterntraining hilft allen Eltern beim
tierten Gesprächstherapie. Wiederhol- schwierigen Umgang mit diesen schwie-
te Kontaktaufnahme zu Erziehern/Leh- Im Umgang mit dem Kind müssen rigen Kindern. Förderkindergarten,
rern, das Wissen welche anderen Thera- die ElternRegelnfür Abläufe und Pflich- Förderschule (kleine Gruppen mit der
piemöglichkeiten sinnvoll und vor Ort ten vereinbaren, konsequentGrenzen Möglichkeit intensiverer pädagogischer
vorhanden sind und die Kooperation setzen, Absprachen über Belohnungen Förderung) sind manchmal unumgäng-
mit Kotherapeuten verlangen Kennt- und Strafen vornehmen, Positives be- lich. Selbsthilfegruppen sind für El-
nisse der regionalen Gegebenheiten. stärken, Negatives weniger beachten tern und Selbstbetroffene oft eine gro-
Auch diese therapeutischen Rahmen- und Zuneigung spontan zeigen. Es müs- ße Hilfe, weil sie dort frei über ihre
bedingungen sind am besten in der kin- sen Freiräume für den/die Haupt- Probleme sprechen können. Stationäre

Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“ © Kirchheim-Verlag Mainz 45


Originalia

Kleinkindalter (U7, U8):plan- und finden sich aber bereits als zentrale Die Exploration der Eltern und der Kin-
rastlose Aktivität, geringe Ausdauer bei Steuerungsstörung im Kleinkindalter: der/Jugendlichen selbst gehört genau-
Einzel- und Gruppenspiel, ausgeprägte mangelnde Merkfähigkeit, auditive und so dazu, wie die Fremdbeurteilung
Trotzreaktionen, unberechenbares So- visuelle Wahrnehmungsprobleme, durch Erzieher und Lehrer zu Sozial-,
zialverhalten, Teilleistungsschwächen schnelle Blickwechsel, polternde Spra- Lern-, Leistungsverhalten und Persön-
bezüglich auditiver und visueller Wahr- che, unkoordinierte Bewegung. In allen lichkeitsstruktur. Diese Informationen
nehmung, Fein- und Grobmotorik; Altersgruppen zeigt sich eine verzö- werden erleichtert durch ADHD-spezi-
Sprachstörungen; keine beständigen gerte psycho-soziale und emotionale fische Fragebögen und werden ergänzt
Freundschaften; Kind und Eltern sind Entwicklung. durch Beurteilen der Schulmappe, der
isoliert wegen des auffallenden kindli- Hefte und der Zeugnisse.
chen Verhaltens. In allen Altersgruppen zeigt
Vorschulbereich (U9): Schwierig- sich eine verzögerte psycho-
Typischer Zeugnistext
keiten, verbale Aufforderungen in mo- soziale und emotionale Ent-
Der Schüler hat nach wie vor größ-
torische Handlungen umzusetzen; kei- wicklung.
te Probleme, sich auf das Wesent-
ne Ausdauer, kein Bemühen, Aufgaben
liche des Unterrichts zu konzen-
sorgfältig zu Ende zu bringen; Auffäl- Es ist wichtig, ausgeprägte komorbide
trieren. Er träumt und ist mit sei-
ligkeiten in Zeichen- und anderen ori- Störungen im individuellen Symptom-
nen Gedanken ständig abwesend.
entierenden Tests. spektrum zu erkennen, da sie sich un-
So ist er nicht fähig, sich auch nur
Grundschulalter: mangelnde Re- günstig auf die Prognose auswirken und
kurzzeitig zu konzentrieren. Er
gelakzeptanz in Familie, Spielgruppe spezielle therapeutische Maßnahmen
kann recht flott, jedoch mit Feh-
und Klassengemeinschaft, Stören im Un- erfordern: oppositionelle Störungen des
lern vorlesen. Seine Schrift ist zu
terricht, wenig Ausdauer, starke Ab- Sozialverhaltens, aggressive Verhal-
ungelenk, fahrig und eckig. Beim
lenkbarkeit, emotionale Instabilität, ge- tensstörungen, depressive Störungen,
Aufschreiben wie auch beim Ab-
ringe Frustrationstoleranz, aggressives Angst-, Zwangs- und Lernstörungen,
schreiben von Sätzen unterlau-
Verhalten, schlechte Schrift, chaotisches Teilleistungsschwächen, Sprachstörun-
fen ihm viele Fehler. Beim Schrei-
Ordnungsverhalten; andauerndes, oft gen, Tic-Störungen und das Tourette-
ben von Geschichten läßt er noch
überhastetes Reden; häufig Einnässen Syndrom.
die gedankliche Ordnung vermis-
oder Schmierspur in der Unterhose; Un-
sen. Mathematische Aufgaben
geschicklichkeit; Lern-Leistungsproble- Diagnostisches Vorgehen
bereiten ihm nach wie vor große
me mit Klassenwiederholungen trotz Das diagnostische Vorgehen zielt dar-
Probleme. Die gelernten Einmal-
guter Intelligenz; keine dauerhaften auf ab nachzuweisen, ob die Diagnose-
eins-Reihen beherrscht er über-
sozialen Bindungen, Außenseitertum; kriterien nach DSM IV zutreffen. Die
haupt nicht. Der Schüler muß sich
niedriges Selbstbewußtsein. Diagnose ergibt sich aus der Lebensge-
gewaltig steigern und viel besser
Adoleszenz (J1): Unaufmerksam- schichte. Daher ist die sorgfältige Ana-
aufmerken. Er muß auch verträg-
keit, Null-Bock-Mentalität, Leistungs- mnese die wichtigste diagnostische
licher werden, um von den Mit-
verweigerung, oppositionell-aggressi- Maßnahme. Die genaue Erforschung
schülern angenommen zu wer-
ves Verhalten, stark vermindertes Selbst- der Familiensituation, Erkrankungen in
den.
wertgefühl, Ängste, Depressionen; Kon- der Familie, Schwangerschaft, Geburt,
takte zu sozialen Randgruppen, Nei- Entwicklung des Kindes, Vorerkrankun-
gung zu Verkehrsunfällen, Delinquenz, gen und derzeitigen sonstigen Be- Wichtig ist eine neurologische, mo-
Alkohol, Drogen. schwerden ist unerläßlich. toskopische undGanzkörperuntersu-
Die hyperaktiv-impulsiven Verhal- chung und genaue Verhaltensbeob-
tensauffälligkeiten fallen schon früh Die Lebensgeschichte - nach achtung während der Untersuchun-
auf, die Aufmerksamkeitsstörung meist sorgfältiger Anamnese - führt gen und Exploration. Häufig zu finden
erst mit den Leistungsanforderungen zur Diagnose. sind Koordinationsstörungen, gestörte
der Schule. Sublime Ausdrucksformen Mimik, Gestik, Sprache, Kaspern und

Tab. 1: Psychostimulanzien

Psychostimulanzien Wirkungseintritt Wirkdauer Mittlere tägl. Kontraindikationen


Dosis
Methylphenidat 10mg 20-30 Min. 2-4 h 0,5-0,8mg/kg KG,
(z. B. Ritalin®) (Max. nach 1 h) nur nach Wirkung! Psychosen,
extreme
DL-Amphetamin 30-60 Min. 3-6 h 0,2-0,5mg/kg KG Angstzustände
(Rezeptur als Saft) (Max. nach 11/2 h) nur nach Wirkung!
(siehe S. 33)

44 Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“© Kirchheim-Verlag Mainz


ADHD aus Sicht
des Kinder- und Jugendarztes
Klaus Skrodzki
Kinder- und Jugendärztliche Gemeinschaftspraxis, Forchheim

Zusammenfassung
ADHD ist eine häufige Erkrankung, die sich vom Kleinkind- bis ins Erwachsenenalter erstreckt. Hinweisende Symptome
findet der Kinder- und Jugendarzt schon bei den Vorsorgeuntersuchungen. Da er die Kinder und Jugendliche bis ins
18. Lebensjahr begleitet, hat er eine zentrale Rolle im multimodalen Betreuungskonzept bei ADHD. Er ist verantwortlich
für Diagnosestellung und das Alltagsmanagement von Therapie und Kooperation von Eltern, Schule und Therapeuten
sowie für die Koordination aller Maßnahmen.
Schlüsselwörter:Symptome, Vorsorgeuntersuchungen, Therapiemanagement.

Einleitung bedarfsorientiert und praxisgerecht dabei um ADHD? Nach DSM IV liegt


Schon 1902 stellte der Kinderarzt G. F. umzusetzen. Pädiatrische ADHD-Leitli- ADHD vor, wenn unaufmerksames und
Still in drei Vorlesungen am Royal Col- nien wurden erarbeitet. impulsives Verhalten mit oder ohne
lege in London „Kinder mit Mängeln Hyperaktivität ausgeprägt sind, nicht
der moralischen Kontrolle“ vor. Es dau- dem Alter und Entwicklungsstand ent-
erte aber noch viele Jahre, bis dieses Vom Störungsbild zur Diagnose sprechen und zu Störungen in den so-
Krankheitsbild, zunächst unter der Be- zialen Bezugssystemen, der Wahrneh-
zeichnung „Hyperkinetisches Syn- Fallbeispiel mung und im Leistungsbereich von
drom“, als nosologische Einheit aner- Dennis, ein Wunschkind, schlief wenig, Schule und Beruf führen.
kannt wurde. Seit mehr als 30 Jahren war lebhaft, anstrengend, lief viel weg
engagieren sich Kinder- und Jugend- und mußte ständig gesucht werden, er Man unterscheidet drei
ärzte in Deutschland in der Betreuung hatte zahlreiche Unfälle. Die Mutter Subtypen:
von Patienten und ihren Angehörigen, wollte lieber kein zweites Kind haben ● den vorwiegend hyperaktiv-
der mit 4-8 % häufigsten psychiatri- und ihre beste Freundin meinte: „Die- impulsiven Typ,
schen Erkrankung des Kindesalters. Erst ses Kind ist unmöglich!“ Im Kindergar- ● den vorwiegend unaufmerk-
allmählich wird diese Herausforderung ten war er schwierig, hat gebissen, ge- samen Typ und
auch im Bereich der Erwachsenenmedi- kratzt, geschlagen und die meisten ● den kombinierten Typ.
zin angenommen. Inzwischen hat sich Gruppenspiele nicht mitgemacht. In ei-
der Name ADHD - nach DSM IV - einge- ner kleinen Klasse, bei einer älteren,
bürgert und Eltern und Allgemeinheit geduldigen und strengen Lehrerin kam Leitsymptome, auf die Sie achten
werden reichlich - nicht immer richtig - er anfangs in der Schule zurecht. Die sollten
durch die Medien informiert. Hausaufgaben jedoch waren ein tägli- In allen Lebensabschnitten gibt es Hin-
Mit der Frage „Ist mein Kind hyper- cher, mehrstündiger Kampf zwischen weise für Aufmerksamkeitsstörung,
aktiv?“ wird der Kinder- und Jugend- Mutter und Dennis. Später, in einer Hyperaktivität und Impulsivität. Diese
arzt immer häufiger konfrontiert. Und neuen Klasse, mit 30 weiteren Schülern Leitsymptome kann man bei den Vor-
immer mehr Kollegen sind darauf bes- und einer jungen, engagierten Lehre- sorgeuntersuchungen und in den elter-
ser vorbereitet, besuchen Fortbildun- rin fand er keine Freunde und galt nach lichen Berichten entdecken und bei
gen und nehmen an den zahlreichen 3 Wochen als untragbar. Nach längeren Konsultationen aus anderen Gründen
pädiatrischen Qualitätszirkeln teil. Verhandlungen kam er in eine Schule beobachten:
Kürzlich wurde die „Arbeitsgemein- zur Erziehungshilfe. Die Mutter schloß Säuglingsalter (U3 bis U6): uner-
schaft ADHS der Kinder- und Jugend- den Bericht über Dennis mit dem Satz: klärliche langdauernde Schreiphasen,
ärzte“ gegründet (siehe Kasten: wichti- „Unsere Familie ist überall gern gese- motorische Unruhe, Eß- und Schlafpro-
ge Adressen). Ziel der Arbeitsgemein- hen - ohne Kind!“ bleme, Ablehnung von Körperkontakt,
schaft ist es, die Betreuung dieser Pati- Kinder mit solchen Lebensgeschich- Mißlaunigkeit. Diese Schreibabys sind
enten weiter zu verbessern und die ten gehören zum Praxisalltag des Kin- anstrengend für die Eltern und verunsi-
neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse der- und Jugendarztes. Handelt es sich chern sie.

Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“ © Kirchheim-Verlag Mainz 43


Originalia

Es entsteht keine „automati-


sche Verhaltenskontrolle“ Das Wichtigste
für die Praxis . . .
● Der nonverbale Arbeitsspei- ● Je besser der diagnostizierende Arzt/Psychologe Eltern zuhört, hinter-
cher bleibt zu klein. Ein unbe- fragt und dabei nicht nur die „Defekte“ sieht, desto besser fühlen sich
wußtes Vergleichen mit Altda- Eltern und Betroffene verstanden. Das erhöht sofort die Compliance.
ten aus dem Langzeitspeicher ● „Syndromtypisch“ sind auch: ausgeprägte Hilfsbereitschaft bei Erken-
erfolgt mangelhaft. Daher kön- nen von Not, Gerechtigkeitssinn, interessierte Offenheit, Kreativität und
nen die Kinder nur unzurei- vieles mehr. Leider gesellen sich vielfältige Begleiterscheinungen dazu.
chend „aus Erfahrungen ler- ● Sehr sorgfältige Diagnosestellung auf allen 6 Achsen des multiaxialen
nen“. Das „Zeitfenster“ bleibt Klassifikationsschemas psychischer Störungen, und - so gut wie möglich
im Hier und Jetzt, ein Zeitge- - multimodaler Behandlungsansatz, nutzt Kindern und Eltern wirklich.
fühl entsteht nicht.
● Sprache wird nicht verinner-
licht, planvoll zielgerichtetes lie. (Viele Kinder mit ADHD wachsen Die Tatsachen, daß sich die Kinder im
Arbeitsverhalten ist erschwert. nicht in ihrer Familie auf!) gesamten Umfeld nicht einschätzen kön-
● Die Gefühle werden im Laufe nen und die äußerlichen Reize im Alltag
der Entwicklung nicht ge- Eltern hören oft Vorwürfe und weiter zunehmen, wird zur aufrechter-
dämpft vom Frontalhirn. Mo- Erziehungstips haltenden Bedingung für die Kinder
tivation ist Emotion: entweder Schwierige Kommunikationsmuster und Jugendlichen mit ADHD, sich im-
vorhanden oder nicht. und Verhaltensweisen werden von au- mer weniger autonomisieren zu kön-
● Nach Gedankenanalyse ist Re- ßen beobachtet und natürlich beur- nen, immer unsicherer zu werden und
synthese erschwert, weil „der teilt: Viele Eltern von Kindern und Ju- immer früher sekundär erheblich zu
Faden verloren wird“. gendlichen mit ADHD können ein lan- erkranken. Es kommt zu depressiven
ges Lied singen von den vielen Vorhal- Verstimmungen bis hin zu Äußerungen
Sie monologisieren, etikettieren, benut- tungen, die sie schon bekommen ha- von Suizidabsichten, dem Wunsch, aus-
zen gerne Extrembezeichnungen wie ben. Sie werden bezichtigt, eine schlech- ziehen zu wollen, Prüfungsangst und
„immer“, „ständig“, „nie“, verfallen te Beziehung zu ihrem Kind oder Ehe- hintergründig ganz früh entstehender
schnell in einen schulmeisternden Ton, konflikte zu haben. Mütter bekommen Verlust- und Existenzangst.
unterbrechen das Gegenüber, wollen oft vorgeworfen, das Kind vor der Ge-
ihrerseits auch gern das letzte Wort burt unbewußt schon abgelehnt zu Die Vorhaltungen des Umfel-
haben. haben. des lösen bei allen Eltern in-
Da alle Menschen mit ADHD hyper- Sie suchen sich Hilfe, bekommen gut- termittierend heftige Schuld-
sensibel auf den falschen Tonfall, gemeinte Erziehungstips, müssen aber gefühle aus und beim hyper-
schwierige Mimik oder Gestik reagie- oft erkennen, daß dies überhaupt nicht sensiblen selbstbetroffenen
ren, ist der Konflikt vorprogrammiert. fruchtet oder daß sie in den Beschrei- Elternteil häufig hochimpul-
Die Kommunikation ist belastet durch bungen der Fachleute ihre Kinder gar sive Kompensationsversuche
die Hypersensibilität auf der aufneh- nicht wiedererkennen. - der Teufelskreis ist program-
menden Ebene und die Impulssteue- Die Verhaltensanalyse ist eigentlich miert.
rungsschwäche auf der Umsetzungs- immer dieselbe: Das nicht angepaßte
ebene. Verhalten der Kinder und Jugendlichen Wünschenswert ist daher eine profun-
Auch die verträumten „Chaos-Prin- in allen möglichen Umfeldsituationen de Kenntnis des Störungsbildes mit ent-
zessinnen und -Prinzen“ haben dieses im Lernleistungsbereich sowie im so- sprechender solider Aufklärung und Er-
Problem. Noch lange in ihrem Leben zialen Bereich wird schnell zur aufrecht- klärung sowie kompetenten multimo-
können Kinder und Jugendliche und erhaltenden Bedingung für immer wie- dalen Behandlungsansätzen (vgl. Bei-
auch viele Erwachsene nicht die Per- der andersartige, inhomogene Erzie- trag Steinhausen, S. 28).
spektive wechseln, was bei einer norm- hungsversuche durch die Eltern und
gesteuerten Person mit spätestens 12 durch das Umfeld. Dies verschärft sich Korrespon-
Jahren möglich ist. Alles wird nur aus heute ganz besonders dadurch, daß im denzadresse
der eigenen Sicht gesehen und beur- Kindergarten und in der Schule immer Cordula Neu-
teilt. Daneben besteht die Wahrneh- mehr sehr früh einsetzende Selbstän- haus, Dipl.-
mung, alles genauso machen zu kön- digkeit und Eigenregulation gefordert Psychologin,
nen wie das Gegenüber, bei viel zu werden. Die Kinder sind selbst nicht in Alleenstr. 29,
kurzem Realitätsabgleich und mangeln- der Lage, sich zu strukturieren, bleiben 73730 Esslingen,
der Selbstüberwachung. Der Konflikt noch lange in ihrem Leben nur extrin- Tel.: (0711)
ist vorprogrammiert - aber nicht nur in sisch motivierbar und trudeln nicht sel- 367014
der Herkunftsfamilie, sondern sehr wohl ten von einem Mißerfolg in den näch- Fax: (0711)
auch in der Pflege- oder Adoptivfami- sten. 367873

42 Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“© Kirchheim-Verlag Mainz


Die Art der Kommunikationsaufnah- se; Enuresis nocturna ist hochcomor- Schule und Familie
me, offen und direkt, mit zum Teil pro- bid mit ADHD. Viele sprechen und Kummer bringt den Kindern und ihren
blematischen Verbalisationen (nicht schreien im Schlaf; Pavor nocturnus Eltern das syndromtypische man-
selten fäkalsprachlich und sexistisch findet sich häufig, ebenso Schlaf- gelhafte Dosierenkönnen grober
geprägt) führt zur Verzweiflung und wandeln. Kraft, speziell in der graphomotori-
auch Beschämung. Kollisionen sind un- - Die Thermoregulation ist anders: schen Umsetzung, bei in aller Regel
ausweichlich, wenn ein solches Kind sich Im Winter rennt das Kind am lieb- verzögerter Feinmotorikentwicklung.
schon rechtfertigt, bevor Kritik voll- sten mit einem T-Shirt herum. Im Obwohl ADHD-Kinder später dann
ständig geäußert worden ist, es immer Sommer zieht es aus „unerfindlichen beim Basteln oft sehr geschickt sind,
das letzte Wort haben will, vom Hun- Gründen“ den Pulli nicht aus. Die bleibt die Schrift vor allen Dingen
dertsten ins Abertausendste gerät. Hausschuhe werden nicht angezo- bei schnellem Schreiben krakelig (mit
Entsprechend ist Anecken unaus- gen, aber nicht etwa, weil man „zu und ohne ergotherapeutische Behand-
weichlich, egal wo, vor allen Dingen faul“ dazu ist, sondern weil man ein- lung).
auch in der Gruppe der Gleichaltri- fach heiße Füße hat. Viele der Kinder In unserem schwierigen Schulsy-
gen, in der die meisten Kinder und Ju- schwitzen sehr leicht, vor allen Din- stem in Deutschland mit immer wieder
gendlichen mit ADHD eher Außensei- gen auch nachts. neuen Methoden zum Lese-, Schreib-
ter sind. - Das Bedürfnis nach Nahrung ist und Rechenerwerb entstehen früh „Leg-
zeitweise unendlich groß, dann wie- asthenien“ im Zusammenhang mit die-
Nicht nur „Defekte“ der gar nicht vorhanden. Diese Kin- sem Umsetzungsproblem und dem syn-
Eltern kennen aber auch andere Seiten: der haben höchst eigenwillige Vor- dromtypischen oberflächlich abtastend
einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, lieben: phasenweise für ein und die- überhüpfenden Wahrnehmungsstil.
nicht nur für sich, sondern auch für selbe Speise, die plötzlich aus uner- Eine Aufgabe wird kurz angeschaut und
andere, eine ausgeprägte Hilfsbereit- findlichem Grund dann überhaupt dann wird drauflos geraten. Viele Kin-
schaft beim Erkennen der Hilfsbedürf- nicht mehr schmeckt. Als kleine Kin- der mit ADHD bleiben in der schriftli-
tigkeit von einem Gegenüber, eine in- der trinken sie oft große Mengen, chen Schulleistung hinter ihren Intelli-
teressierte Offenheit, einen oft verblüf- vergessen aber oft das Trinken, wenn genzressourcen zurück. Oft klafft eine
fend guten Orientierungssinn, ein „Ele- sie älter sind. deutliche Lücke zwischen mündlicher
fantengedächtnis“ für Kleinigkeiten aus - Die Nähe-Distanz-Regulierungist Mitarbeitsleistung und schriftlicher
der Vergangenheit (in Abhängigkeit eigenwillig: Auf Körperkontakt ein- Umsetzung.
von der Motivationslage), eine ausge- gestellt, geht Schmusen gut - wenn Bei den expansiv auffälligen Kindern
prägte Liebe für Tiere und Natur, oft nicht, dann nicht. Viele sind als klei- kommt das mangelhafte Einschätzen-
verblüffende Kreativität und nicht sel- ne Kinder „Non-Cuddler“, sitzen mit können derGefahrbelastend dazu mit
ten ein schauspielerisches Naturtalent. 12 und 13 aber gerne noch stunden- häufigen Unfällen und Liebe zum Hoch-
Gearbeitet wird gern „mit der Hand am lang auf dem Schoß und lassen sich risiko sowie der Geschwindigkeit.
Arm“ - diese Art die Welt zu sehen und am liebsten den Rücken kraulen „Syndromtypisch“ können die Kin-
auf sie zu reagieren besteht erfreuli- - im Babyalter wird die Abwehr von der in aller Regel blitzschnell reagieren
cherweise nicht nur aus „Defekten“. Körperkontakt nicht selten als „tak- und haben offensichtlich viele Schutz-
tile Abwehr“ interpretiert und fata- engel.
Fragt man genauer nach, zeigt lerweise nicht nur durch sensorische Kummer entsteht mit der Desorga-
sich, daß ADHD offensicht- Integrationsbehandlung, sondern nisation der Kinder und Jugendlichen,
lich eine Dysregulation aller auch durch „Festhaltetherapie“ be- dem Aufschieben von Unangenehmem
autonomen Selbststeue- handelt. bis zum letzten Moment, dem zuneh-
rungsfunktionen ist: - Viele Kinder scheinen auch einfach menden Schwindeln, dem Vermeiden,
„anders“ zu atmen: Sie halten in „Tricksen“.
- Erwiesenenermaßen besteht eine an- Abhängigkeit vom Spannungsgrad Bei der hohenfamiliären Häufung
dersartigeSchlafarchitektur: Klei- oft lange einfach den Atem an. und der immer wahrscheinlicheren ge-
ne Kinder wachen oft früh auf, und - Die Schmerzempfindung scheint netischen Ursache von ADHD kennen
haben dann tausend Ideen im Kopf, ebenfalls „eigenwillig“: Bei selbst zu- viele selbstbetroffene Elternteile die
die sie auch sofort umsetzen. Sie gefügten Verletzungen, selbst Symptome von sich selbst. Sie wollen
stellen häufig schon sehr früh den Schnittverletzungen, wird oft gar ihren Kindern gern eigenerfahrenen
Mittagsschlaf ab. Schulkinder kom- nicht darauf geachtet, blaue Flecke Kummer ersparen, haben aber leider
men morgens schlecht aus dem Bett erscheinen „unerklärlich“. Kommt Kommunikationsstrukturen, unter
(in Abhängigkeit von der Motivati- allerdings eine Injektionsnadel auf denen sie selbst schon gelitten ha-
onslage zur Schule?) und kommen ein solches Kind oder einen solchen ben, bei einfach mangelhaft heranrei-
abends ewig nicht in den Schlaf. Jugendlichen zu, kann dies zu hef- fender „automatischer“ Verhaltenskon-
Wenn sie schlafen, schlafen sie sehr tigsten Panikattacken führen, wobei trolle, bedingt durch die eingeschränk-
tief aber unruhig, sind oft noch nicht die Kinder Bärenkräfte bei der Ab- ten Funktionen der „Executive
einmal weckbar durch die volle Bla- wehr entwickeln. Functions“.

Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“ © Kirchheim-Verlag Mainz 41


Originalia

ADHD aus Sicht


der Angehörigen
Beobachtungen, Probleme, Schuldgefühle
Cordula Neuhaus
Dipl.-Psychologin, Esslingen

Zusammenfassung
Aktueller denn je - gerade bei der Diskussion um ADHD als „Modediagnose“ oder „erfundene Krankheit, um
Methylphenidat (Ritalin®) vermarkten zu können“ -, ist eine profunde Störungsbildkenntnis für Fachleute wichtig.
Eltern stolpern über die unzähligen Eigenheiten dieser Kinder. Alles muß immer anders sein oder anders gemacht
werden. Die typischen „harten Kriterien“ außerhalb der Kriterienkataloge ICD 10 und DSM IV unterscheiden Kinder/
Jugendliche mit ADHD eindeutig von reaktiv unruhigen Kindern.
Schlüsselwörter: Eltern, Angehörige, Beobachtungen, Probleme, Schuldgefühle.

Von zappelig bis total konzen- der Extreme ist ein solches Kind „total Wenn sich ein Kind mit ADHD auf-
triert begeistert, stinksauer, sturzbeleidigt“ - regt und man es mit Worten zu beruhi-
Weit verbreitetet ist die Annahme, daß nur alles dazwischen gibt es nicht. Bei gen versucht, erzielt man in aller Regel
Eltern von Kindern mit ADHD ein durch- plötzlichen Veränderungen oder fremd- das Gegenteil - das Kind wird immer
gehendes Muster von Zappeligkeit, stän- erzeugter Hektik erfolgt Bocken und erregter. Sätze, die mit „du mußt...“
diger Abgelenktheit und ständigem Blocken mit unerklärlich heftiger Ab- oder „du sollst...“ beginnen, führen nur
impulsivem Wechsel der Beschäftigung wehr und größten Schwierigkeiten im zur Opposition.
sehen. Im Gegensatz dazu kennen El- Umgang mit „Übergängen“, z. B. Pause Die Kinder sind entscheidungs-
tern durchaus Situationen, in denen - Unterricht, Spiel - Hausaufgaben. schwach, entscheiden sich entweder
ihre Kinder weitgehend bis völlig un- Eltern sind oft verzweifelt, weil sie nicht oder sehr spontan - das Einteilen
auffällig sind. Ist ein Kind oder ein Ju- das Gefühl haben, sie kommen irgend- von Geld gelingt nicht. Entweder es
gendlicher mit ADHD wirklich motiviert wie an das Kind nicht richtig heran, da „brennt“ in der Tasche, oder man sitzt
für eine Sache oder eine Person, weil es über sich und seine Gefühle meist drauf.
diese faszinierend neu oder spannend erst jenseits des 16. Lebensjahres wirk- Nicht nur das Trödeln bei stereoty-
ist, reduziert sich die motorische Unru- lich berichten kann. pen Umsetzungsverrichtungen ist ein
he oder verschwindet. Das Kind ist fo- Zur Verzweiflung treibt, daß die Kin- Problem, sondern daß es offensichtlich
kussiert und möglicherweise sogar so der und Jugendlichen sich und ihre Ei- sehr lange dauert, bis eine Regel
konzentriert, daß die Welt rundherum genleistung nicht realistisch einschät- überhaupt gelernt wird (nach Sam
zu versinken scheint. zen können, schlecht oder gar nicht aus Goldstein ’98 brauchen Kinder und Ju-
Ist jedoch etwas nicht so interessant Erfahrung lernen können. gendliche mit ADHD die 8- bis 18fache
oder wird subjektiv schwierig einge- Direkt nach einer Situation können Zeit zur Verautomatisierung einer Re-
schätzt, kann das gleiche Kind/der glei- sie in aller Regel nicht viel berichten, gel).
che Jugendliche schlagartig ermüden stundenversetzt danach hingegen oft Unerklärlich scheint, warum ein sol-
bis hin zum Augenreiben und Gähnen, flüssig und detailliert. ches Kind im Vergleich zu Gleichaltri-
sich räkeln oder stereotyp an sich her- Einsicht, Rücksicht, Übersicht und gen einfach irgendwie immer deutlich
ummanipulieren, was wie Selbststimu- Nachsicht scheinen noch lange im Le- jünger erscheint in seiner ganzen Art,
lation aussehen kann. ben eines solches Kindes/Jugendlichen trotz oft völlig unauffälligem sonsti-
Ein Hauptproblem sind die heftigen Fremdwort zu sein, genauso wie unbe- gem Heranreifen; wenngleich Jungen
Stimmungsschwankungen mit regel- kannt erscheint, daß man doch, um mit ADHD häufig erst spät in die Puber-
rechtem „Gefühlsabsturz“ aus gering- eine Fertigkeit zu erwerben, üben muß tät kommen und dann auch erst sehr
sten Anlässen heraus. Beim Syndrom und nicht schon alles „können“ kann. spät zu wachsen beginnen.

40 Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“© Kirchheim-Verlag Mainz


nen, oft dramatisch; gerade Menschen,
die nie verstanden haben, warum sie
„anders“ sind, hoffen nicht mehr dar-
auf, von der Umgebung in ihrer wech-
selnden Stimmung und Leistungsfähig-
keit verstanden zu werden. Sie entwik-
keln das Gefühl, nochmals ein neues
Leben beginnen zu müssen, um ihre
unerwarteten neuen Kräfte und Fähig-
keiten in erfolgreiches Handeln umzu-
setzen. Die Menschen, die von dieser
Störung betroffen sind, haben oft ein
hohes kreatives Potential: Einstein,
Mozart (nach Time Magazin auch Bill
Clinton) zählen zu dieser Gruppe; For-
scher gehören wahrscheinlich deshalb
dazu, weil sie erfolgreich ungewöhnli-
che Wege bei der Betrachtung eines
Problems verfolgen und ein Problem,
das sie interessiert, intensiv bearbeiten
können.

Das Selbstwertgefühl betroffener Erwachsener ist oft stark beeinträchtigt, daß neben Schlußfolgerung
der medikamentösen Therapie eine psychotherapeutische Behandlung erforderlich Kinderärzte sind meist die erste An-
wird. laufstation für betroffene Familien.
Deshalb ist es sehr wichtig, darauf zu
desalter präsentiert und weil viele Er- ten Zeitpunkt nicht mehr steuerbar sind. achten, wer von den Eltern des Kindes
wachsene berichten, die Kindheit ver- Die Behandlung der Erwachsenen ist die Störung vererbt hat, um bei deutli-
gessen zu haben. Zur Diagnostik einer deutlich schwieriger als die der Kinder, cher Ausprägung der Symptome auch
ADHD im Erwachsenenalter ist aber weil die Wirkung bei einer medikamen- die Erwachsenen einer adäquaten me-
zwingend die retrospektive Klärung er- tösen Einstellung nicht prompt eintritt, dikamentösen und psychotherapeuti-
forderlich, ob die Störung bereits im wie das im Kindesalter der Fall ist. Der schen Behandlung zuführen zu kön-
Kindesalter vorgelegen hat; hierzu kön- Hirnstoffwechsel scheint durch mehr nen.
nen Fragebögen in Anlehnung an die Faktoren beeinflußt zu werden als bei
Conners-Skalen eingesetzt werden. Bei Kindern. Dies führt dazu, daß bei jedem
hypoaktiven Betroffenen ist jedoch häu- Patienten ein eigenes Therapieschema
fig erst in der Pubertät ein Auftreten entwickelt werden muß. Die notwendi-
von Symptomen typisch. Die psychia- ge Dosis an Stimulanzien ist oft gering,
trische Diagnose ist in erster Linie phä- eine Medikamentenüberempfindlich-
nomenologisch zu stellen; hilfreich kön- keit ist bei diesen Menschen oft ver-
nen auch Fragebögen wie die WURS mehrt, sehr häufig sind paradoxe Reak-
(Wender Utah Rating Scales), der tionen auf Medikamente. Die Selbst-
CAARS (Connors´ Adult ADHD Rating wertproblematik ist häufig sehr ausge-
Scales) und die Brown-ADD-Scales sein; prägt und hat die Handlungsfähigkeit
letztere differenzieren besonders die Betroffener schon lange stark beein-
Symptomatik der hypoaktiven, unauf- trächtigt, so daß meistens auch eine
merksamen Patienten. psychotherapeutische Behandlung not-
wendig ist. Eine Verhaltenstherapie im
Therapie und Selbstmedikation Sinne eines Coaching kann den Betrof-
Im Erwachsenenalter haben viele Be- fenen helfen, in der Realität besser zu-
troffene erkannt, daß ihnen Nikotin rechtzukommen; die Selbstwertproble-
und Koffein helfen. Sie rauchen des- matik kann jedoch im Rahmen einer
halb häufig sehr stark, trinken viel Kaf- tiefenpsychologischen Behandlung bes-
fee und versuchen, sich abends mit Al- ser bearbeitet werden. Bei erfolgreich
kohol zu entspannen. Aus diesen miß- behandelten Erwachsenen ist der Zu- Korrespondenzadresse
lungenen Selbsttherapien können sich wachs an Selbstvertrauen und die neu- Dr. Johanna Krause
Abhängigkeiten entwickeln, die dann gewonnene Fähigkeit, das Leben wie- Schillerstr.11a
für die Betroffenen ab einem bestimm- der nach eigenen Vorstellungen zu ord- 85521 Ottobrunn

Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“ © Kirchheim-Verlag Mainz 39


Originalia

der Lage, wenn sie von einem Thema ist schneller erschöpft, weil sie sich in- Bei vielen Betroffenen kann die Dia-
begeistert sind (Hyperfokussierung), sie tensiv von Störungen beeinflußt füh- gnose sehr schwierig sein, weil sie eher
fühlen sich anschließend aber wie aus- len. Antriebsstörungen hemmen Be- zu ruhig und verträumt sind, gleichzei-
gebrannt. Wegen des Wechsels in der troffene, wichtige Aufgaben auszu- tig aber über innere Unruhe und starke
Leistungsfähigkeit werden Jugendliche führen, sie haben nicht die Möglich- Konzentrationsschwäche klagen. Oft
jenseits der Pubertät als junge Erwach- keit, antizipatorisch eine Aufgabe gesellt sich bei Betroffenen noch eine
sene oft falsch eingeschätzt; sie wer- durchdenken zu können, sie in Teilauf- Neigung zu schnellen oft nicht situativ
den als faul und leistungsverweigernd gaben einzuteilen. Ein Probehandeln bedingten Stimmungswechseln hinzu.
abgeurteilt. ist ihnen in diesem Sinne nicht möglich, Diese Menschen verzweifeln daran, daß
sie fühlen sich deshalb von Aufgaben sie sich nicht für längere Zeit in einer
Fehldiagnose Depression überfordert, erleben jeden Anspruch gleichförmigen seelischen Verfassung
Bei Erwachsenen mit überwiegenden an sich als einen unüberwindlichen befinden, sondern daß sich innerhalb
Symptomen aus dem Bereich der Auf- Berg. weniger Minuten ihr Befinden von ei-
merksamkeitsstörung ist die schnelle nem Hoch in ein Tief verwandeln kann.
Ermüdbarkeit ab dem dritten Lebens- Hyperaktivität, Hypoaktivität Diese mangelnde Fähigkeit, eine kon-
jahrzehnt besonders ausgeprägt, sie und Stimmungsschwankungen stante Arbeitsfähigkeit, gleichbleiben-
führt oft zu der Diagnose Depression. Erwachsene mit einer ausgeprägten Hy- de Stimmung und Konzentration bei
Allerdings ist die Medikation dann an- peraktivität haben überwiegend kei- der Lösung einer Aufgabe aufrechtzu-
ders, als wenn die ADHD erkannt wäre nen ausgeprägten Leidensdruck, da sie erhalten, führt schon in der Schulzeit
und die Medikation auch in Stimulanzi- ihre Aktivität als positiven Charakter- häufig trotz guter Begabung zu Schul-
en bestünde. Einige Erwachsene haben zug ansehen und versuchen, mit ihrer versagen und im späteren Arbeitsleben
Taktiken entwickelt, mit ihren Schwie- eher manischen Gestimmtheit auch die zu schlechten Beurteilungen am Ar-
rigkeiten zurechtzukommen, so daß der Umgebung mitzureißen. Bei diesen Be- beitsplatz. Das beeinträchtigt das
Leidensdruck eher aus einer Erschöp- troffen klagen mehr die Familienange- Selbstbewußtsein der betroffenen Ju-
fung herrührt. Diese Gruppe, vor allem hörigen über die unerträgliche Unrast gendlichen und Erwachsenen nachhal-
Frauen, leidet gegen Ende des dritten im Zusammenleben mit diesen Men- tig.
Lebensjahrzehnts häufig unter einer schen.
depressiven Entwicklung, die dann als Zusätzliche Teilleistungs-
beginnendes Klimakterium mißgedeu- Bei den meisten Erwachsenen störungen
tet werden kann. steht jedoch die motorische Kommt dann noch eine Teilleistungs-
Unruhe (Hyperaktivität) nicht störung beispielsweise in Form einer
Störung der Reizkontrolle im Vordergrund. Es handelt Legasthenie oder Dyskalkulie dazu, sind
Die Reizoffenheit ist Folge einer man- sich eher um eine innere Un- die Chancen einer begabungsgemäßen
gelhaften Hemmung der Reizkontrol- ruhe, um die Unfähigkeit, an Ausbildung und späteren Berufstätig-
le, die normalerweise unbewußt Unter- einem Platz zu verweilen. Eine keit sehr gering.
drückung und Selektion störender Im- gleichförmige Tätigkeit ohne
pulse regelt. Deshalb fühlen sich diese den Reiz des Wechsels oder Impulsivität und mangelnde
Menschen schnell belästigt oder kön- des Neuen ist diesen Men- Frustrationstoleranz
nen nur nachts konzentriert arbeiten, schen ein Greuel. In der Übergangszeit von der Jugend-
wenn es ganz ruhig ist. Ihre „Geduld“ zeit zum Erwachsensein spielt die Im-
pulsivität eine wichtige Rolle: Überkom-
pensatorisch zum schlechten Selbst-
Das Wichtigste wertgefühl und zur Frustrationsintole-
für die Praxis . . . ranz verführt die mangelhafte Impuls-
● Die ADHD persistiert bei ein bis zwei Drittel der betroffenen Kinder im kontrolle zum Ausleben aller Gefühls-
Jugend- und Erwachsenenalter. ausbrüche, und die Notwendigkeit, an
● Die Symptome bei Erwachsenen bestehen hauptsächlich aus Aufmerk- sich zu arbeiten, Taktiken der Reizkon-
samkeits- und Konzentrationsstörung bei erhöhter Ablenkbarkeit sowie trolle zu erlernen, wird nicht als sinn-
verminderter Impulskontrolle bei erhöhter Frustrationsintoleranz. Er- voll erlebt. Viele Lehrherren beenden
wachsene zeigen weniger Symptome der Hyperaktivität. deshalb Ausbildungverträge, weil der
● Erwachsene profitieren ebenso wie Kinder von einer medikamentösen Umgangston der Betroffenen sehr zu
Behandlung mit Stimulanzien; wegen ausgeprägter Selbstwertproble- wünschen übrig läßt.
me benötigen sie meist eine zusätzliche Psychotherapie.
● Da es sich möglicherweise um eine genetische Störung handelt, sollte Diagnose oft schwierig
jeder Kinderarzt darauf achten, welcher Elternteil des Kindes betroffen Die Diagnose betroffener Jugendlicher
sein könnte, um ihn gegebenenfalls einer geeigneten Diagnostik und und Erwachsener ist deshalb oft so
Therapie zuführen zu können. schwierig, weil sich das Erscheinungs-
bild nicht mehr so deutlich wie im Kin-

38 Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“© Kirchheim-Verlag Mainz


erscheinen als gleichaltrige Altersge-
nossen. Oft werden sie gehänselt, weil Bei ADHD han-
sie noch verspielt und körperlich klein delt es sich
sind. Aggressive Verhaltensweisen kön- möglicherwei-
nen auf diesem Nährboden gut wach- se um eine
sen, wenn niemand in der unmittelba- Fehlfunktion
ren Umgebung erkennt, was die Ursa- im Hirnstoff-
che der Unruhe und der verzögerten wechsel, die
Entwicklung ist. Zu Beginn der Pubertät wie die Fehl-
werden die Weichen für die Zukunft funktion im
gestellt. Gerade bei schwerer betroffe- Pankreas beim
nen Kindern lassen die schulischen Diabetes mel-
Leistungen zu diesem Zeitpunkt stark litus mit den
nach; vor allem bei schriftlichen Prü- Mitteln der
fungen, die konzentriertes Lernen Schulmedizin
voraussetzen, versagen auch hochin- diagnostiziert
telligente Kinder. Innerhalb einer Ge- und behandelt
schwisterreihe können deshalb betrof- werden muß.
fene Kinder weit hinter dem Ausbil-
dungsniveau ihrer Geschwister zurück-
bleiben. Die Folgen einer solchen Ent- Wandel des
wicklung sind schwere Selbstwertkri- Erscheinungsbil-
sen. des nach der
Pubertät
Auswirkungen auf die Familie In der Pubertät wan-
Die Familie eines solchen Kindes ist deln sich die Sympto-
zum Zeitpunkt der Pubertät mehr als me: Die äußere Unru-
ein Jahrzehnt mit Erziehungsproblemen he verliert sich lang-
massiv belastet gewesen, oft hält eine sam und kann in eine
Ehe diesen Schwierigkeiten nicht stand phlegmatische Ver- In der Pubertät wandeln sich die Symptome: Aus der
und so liegt für Außenstehende die haltensweise um- hektischen Getriebenheit wird eine Antriebslosigkeit - aus
Vermutung nahe, daß das Verhalten schlagen, was früher dem Zappelphilipp wird eine „Schlaftablette“.
des Kindes eine Reaktion auf die häus- zu dem Mißverständ-
lichen Verhältnisse ist. nis geführt hat, es
Es wird nicht verstanden, daß die handele sich um eine Störung des Kin- mehr erreichbar. Eine weitere Einschrän-
Leidensfähigkeit der Eltern, gerade desalters. Aus der hektischen Getrie- kung der Konzentration ergibt sich aus
wenn sie selbst von ADHD betroffen benheit wird eine Antriebslosigkeit - der Ablenkbarkeit, die aus der Reizof-
sind, eher geringer ist als in anderen aus dem Zappelphilipp wird eine fenheit resultiert. Den Betroffenen ist
Familien. „Schlaftablette“. es meist nicht möglich, eine Unterschei-
So werden über viele Jahre pädago- dung zwischen „wichtig“ und „unwich-
gische und psychotherapeutische Hil- Konzentration und tig“ zu treffen, so daß jeder neue Reiz
fen angeboten, es ist jedoch wenig be- Ablenkbarkeit auch von der Bearbeitung wichtiger
kannt und akzeptiert, daß es sich bei Viele Betroffene berichten, daß sie un- Aufgaben ablenkt.
der Störung möglicherweise um eine fähig sind, einen Zeitungsartikel zu le-
Fehlfunktion im Hirnstoffwechsel han- sen, auch für ein ganzes Buch reicht Belastbarkeit und Arbeits-
delt, die wie die Fehlfunktion im Pan- ihre Konzentration praktisch nie. Sie fähigkeit
kreas beim Diabetes mellitus ebenfalls verfolgen Zeilen des Textes, doch den Die betroffenen Erwachsenen erleben
mit den Mitteln der Schulmedizin dia- Inhalt nehmen sie schon nach wenigen schon als Kinder und Jugendliche eine
gnostiziert und behandelt werden muß. Minuten nicht auf. Der Rückzug in eine deutliche Ausgrenzung aus der Gemein-
Studien in den USA und in Deutschland gesellschaftliche Isolation wird oft da- schaft; sie artikulieren deshalb nicht
konnten zeigen, daß rechtzeitig medi- mit begründet, daß es nicht möglich ist, mehr den für sie selbst unverständli-
kamentös behandelte Kinder später sta- einer Unterhaltung mit mehreren Per- chen Wechsel ihres Verhaltens. Sie lei-
tistisch signifikant weniger drogenab- sonen zu folgen. Der gegenteilige Ef- den weiterhin unter den Symptomen
hängig wurden und in ihrer sozialen fekt tritt auf, wenn die Betroffenen wie Aufmerksamkeits- und Konzentra-
Kompetenz deutlich besser abschnit- sich von einem Thema sehr angezogen tionsstörungen, hinzu kommt eine
ten, als Kinder, die nur psychothera- fühlen, sie können sich dann von die- deutliche Einschränkung der Belastbar-
peutische oder heilpädagogische Hil- sem Objekt nicht mehr lösen und sind keit. Viele Jugendliche und Erwachsene
fen bekommen hatten. auch für Reize aus der Umgebung nicht sind kurzfristig zu Höchstleistungen in

Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“ © Kirchheim-Verlag Mainz 37


Originalia

Wenn ADHD-Kinder
erwachsen werden . . .
Johanna Krause
Praxis für Psychiatrie und Psychotherapie, Ottobrunn

Zusammenfassung
Bei ein bis zwei Drittel der von einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung betroffenen Kinder persistiert
die Erkrankung im Jugendlichen- und Erwachsenenalter. Die Symptome der Hyperkinese treten dabei eher in den
Hintergrund, es dominieren innere Unruhe, vermehrte Ablenkbarkeit aufgrund der Störung der Reizkontrolle,
vermehrte Impulsivität mit mangelhafter Frustrationstoleranz, Konzentrationsschwäche mit der Folge einer vermin-
derten Belastbarkeit und Arbeitsfähigkeit sowie häufig einer depressiven Entwicklung. Das Selbstwertgefühl betrof-
fener Erwachsener ist oft so stark beeinträchtigt, daß neben der medikamentösen Therapie eine psychotherapeutische
Behandlung erforderlich wird.
Schlüsselwörter: ADHD, Jugendliche, Erwachsene, Wandel der Symptome, Auswirkungen, Diagnostik, Therapie.

Einleitung Hilfe erhalten, daß sie von einer für sie werden müssen. Adoptierte Kinder
Viele Kinderärzte werden sicher ver- wichtigen Therapie ausgeschlossen mit dieser Störung sind in ihrem Verhal-
wundert sein, daß in diesem Schwer- werden. In Studien konnte gezeigt wer- ten ihren biologischen (betroffenen)
punktheft zum Thema Aufmerksam- den, daß die Störung auf einer geneti- Eltern ähnlicher als den Adoptiveltern.
keitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung schen Veranlagung beruht, weil Kin-
(ADHD) ein Kapitel den betroffenen der, die eindeutig unter einer ADHD Pubertät: Weichen für die
Erwachsenen gewidmet ist. Lange Zeit leiden, häufiger auch Eltern haben, die Zukunft werden gestellt
wurde die Störung als reines Problem bei genauer Anamnese und aktueller Die oft recht spät einsetzende Pubertät
des Kindesalters verstanden, weil vor Diagnostik als betroffen angesehen läßt Jugendliche noch lange kindlicher
allem das Symptom Hyperaktivität, das
im deutschen Sprachraum die Diagno-
se hyperkinetisches Syndrom prägte,
als maßgeblich angesehen wurde. Heu-
te hat sich diese Ansicht gewandelt.
Vor allem in der amerikanischen Litera-
tur zur Störung ADHD (attention de-
ficit hyperactivity disorder) wurde ab
1995 von Wender, Nadeau und ande-
ren namhaften Wissenschaftlern die
Symptomatik der betroffenen Erwach-
senen beschrieben, die sich von der der
Kinder deutlich unterscheidet.

Nach den bisher vorliegen-


den Studien geht man davon
aus, daß bei ein bis zwei Drit-
tel der betroffenen Kinder die
Störung im Jugendlichen- und
Erwachsenenalter weiterhin
besteht.

Um so verwunderlicher ist es, daß Menschen, die von dieser Störung betroffen sind, haben oft ein hohes kreatives
Erwachsene in Deutschland bisher kaum Potential: Einstein, Mozart u. a. zählen zu dieser Gruppe.

36 Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“© Kirchheim-Verlag Mainz


Hyperkinetische
Verhaltensstörung
Wesentliches in Kürze

Hauptsymptome
Die hyperkinetische Verhaltensstörung äußert sich in einer Störung der Aktivität, die überschießend und unkontrol-
liert, aber auch deutlich reduziert erscheinen kann. Die Aufmerksamkeit und die Fähigkeit, ausdauernd und
konzentriert Beschäftigungen nachzugehen, ist deutlich reduziert. Hinzu kommen Störungen der sprachlichen und
motorischen Entwicklung sowie Störungen der Affektkontrolle, die sich häufig in unkontrollierter Impulsivität äußern
und zu schweren Beeinträchtigungen des Sozialverhaltens führen können.

Dosierung von Stimulanzien


Die Dosierung zentralwirksamer Stimulanzien erfolgt individuell. Grundsätzlich sollte mit geringen Dosierungen
begonnen werden, eine Dosisanpassung sollte nach Klinik in wöchentlichen Abständen erfolgen. Die Dosierung von
Methylphenidat (Ritalin® ) beträgt zu Beginn 5-10 mg, die durchschnittliche Tagesdosis beträgt 0,3-0,8 mg/kg und
sollte 60 mg/24 h nicht überschreiten. Die Startdosierung von Amphetaminracemat beträgt 5 mg bei einer durch-
schnittlichen Dosis von 0,15-0,4 mg/kg. Eine Dosis von 40 mg/24 Std. sollte nicht überschritten werden.

Häufige Nebenwirkung von Stimulanzien


Die häufigsten Nebenwirkungen von Stimulanzien sind Störungen des Appetits und des Schlafes. Meist treten diese
zu Beginn der Therapie auf und sind spontan reversibel oder sprechen gut auf eine kurzfristige Dosisreduktion an. Eine
Erhöhung des Blutdrucks sowie Tachycardien sind meist Zeichen einer Überdosierung. Ein Auftreten von Tics kann eine
Beendigung der Therapie oder eine Kombination mit anderen Substanzen notwendig machen. Tics können auch unter
der Therapie wieder spontan verschwinden.

Dauer der Behandlung


Die Dauer der Behandlung orientiert sich am klinischen Bild der Patienten. Es empfiehlt sich, in regelmäßigen
Abständen (6-12 Monate) Auslaßversuche ggf. mittels Placebo durchzuführen, um den Krankheitsverlauf zu beurtei-
len. Medikationspausen an Wochenenden sind möglich, aber nicht notwendig, eine Medikation kann auch über die
Pubertät hinaus erfolgen. Auch bei langfristiger Anwendung über Jahre wurden bislang keine nachteiligen Folgen
beschrieben. Manche Patienten müssen bis in das Erwachsenenalter hinein behandelt werden.

Kontrolluntersuchungen vor und während Ritalin-Therapie


● Puls und Blutdruck
● Körpergewicht und Körperlänge
● Blutbild mit Differentialblutbild, GOT,GPT,GT,T3*, T4*, TSH* (* = vor Therapie)
● EKG bei kardialen Vorerkrankungen
● EEG bei entsprechender Vorgeschichte (z. B. Fieberkrämpfe)

Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“ © Kirchheim-Verlag Mainz 35


Originalia

vor der Entwicklung einer Toleranz oder Wachstumsstörungen ausbilden, sowie war, kein erneutes Auftreten dieses Ver-
langfristiger Nebenwirkungen zur Befürchtungen, daß eine Toleranz bzw. haltens nach Zugabe von Stimulanzien
Durchführung von Therapiepausen an Abhängigkeit von verabreichten Sti- (hier erneut überwiegend Methylpheni-
den Wochenenden. Heute ist die wis- mulanzien bei langfristiger Einnahme dat).
senschaftliche Auffassung eher dahin- ausgelöst wird. Aktuelle Studien bele- Insgesamt ist unwahrscheinlich, daß
gehend ausgerichtet, daß Therapiepau- gen, daß ein Unterschied in der Körper- Stimulanzien eine Störung der sexuel-
sen an Wochenenden nur bei den Pati- größe zwar zwischen Patienten mit hy- len Entwicklung des Heranwachsenden
enten sinnvoll erscheinen, deren Sym- perkinetischer Verhaltensstörung und verursachen könnten.
ptomatik sich ausschließlich im außer- einem Normalkollektiv besteht, nicht
häuslichen, d. h. zumeist schulischen aber in der Differenzierung zwischen
Bereich zeigt. Die meisten Patienten behandelten und unbehandelten Pati-
zeigen jedoch auch in heimischer Um- enten. Die Entwicklung einer Toleranz
gebung Auffälligkeiten, die bei einer oder Abhängigkeit ist ebenfalls in gro-
Medikationspause ein Hindernis für die ßen Studien widerlegt worden, insge-
notwendige Erholung am Wochenen- samt scheinen Stimulanzien die krank-
de mit entsprechenden Sozialkontak- heitsbedingte Tendenz hyperkineti-
ten darstellen könnten. scher Patienten zu Drogenmißbrauch
Die Ausbildung einer Toleranz sogar zu reduzieren.
braucht aufgrund gut basierter wissen- Das Krankheitsbild der hyperkineti-
schaftlicher Studien zumindest für schen Störung bedingt unbehandelt er-
Methylphenidat nicht befürchtet zu hebliche emotionale Konflikte, die z. B.
werden, so daß therapeutische Pausen auf einer Störung des Selbstbewußt-
am Wochenende nicht notwendig er- seins durch ständige negative Rückmel- Korrespondenzadresse
scheinen. dungen beruhen sowie auf fortgesetz- Prof. Dr. med. Dr. h. c. Hubertus von
Zur Beurteilung der weiteren Medi- ten Störungen im Kontakt mit Eltern Voss
kationsbedürftigkeit der Patienten ist und Gleichaltrigen. Die Therapie mit Institut für Soziale Pädiatrie und
es jedoch sinnvoll, etwa alle 6 bis 12 Stimulanzien zeigt hier deutlich positi- Jugendmedizin
Monate einen Auslaßversuch des Prä- ve Effekte. Zu betonen ist hier die Not- der Universität München
parates durchzuführen, ggf. auch pla- wendigkeit, die medikamentöse Thera- Kinderzentrum München, Heiglhof-
cebounterstützt. Hierfür bieten sich am pie in ein Gesamtkonzept einzubetten, straße 63
ehesten die Schulferien an. Wie bei Be- das psychoedukative Maßnahmen ent- 81377 München
ginn der Therapie sollte auch hier kein halten sollte. Die Kombination beider Tel.: (089) 71009-232
plötzliches Absetzen, sondern ein all- therapeutischer Verfahren ist Grundla- Fax: (089) 71009-248
mähliches „Ausschleichen“ gewählt ge für die nachgewiesen bessere sozia- E-Mail: h.v.voss@gmx.de
werden. Wissenschaftlich nicht eindeu- le Prognose der Patienten, für die eine
tig geklärt ist bisher, warum ein Teil der emotionale Stabilität eine der Grundla-
Patienten nach Absetzen der Therapie gen darstellt.
kein erneutes Auftreten der Sympto- Die Frage, inwieweit Psychostimu- Service:
matik zeigt, ein anderer Teil hingegen lanzien auf die sexuelle Entwicklung
über Jahre therapiebedürftig bleibt. des Heranwachsenden einwirken, ist wis- kostenloses
Vermutlich spielen hier Reifungspro- senschaftlich bislang nur unzureichend
zesse des Gehirns zumindest eine Teil- untersucht worden. Einzelfallbeschrei- Infomaterial
rolle. bungen zeigen durchaus die Möglich-
Alle Therapieänderungen etc. müs- keit der Beeinflussung des Sexualver- Informationshefte zum hyperkine-
sen mit dem behandelnden Arzt abge- haltens durch Psychostimulanzien. Im tischen Syndrom für Eltern, Lehrer
stimmt werden. Rahmen von Untersuchungen wurde und Kinder, Literatur zur hyperki-
geprüft, inwieweit ein durch die Ein- netischen Verhaltensstörung und
Frage: Früher wurde empfoh- nahme von modernen Antidepressiva Ritalin®-Placebos zur Durchführung
len, eine Stimulanzientherapie wie SSRI gestörtes Sexualerleben be- von Auslaßversuchen erhalten Sie
mit Beginn der Pubertät zu einflußt werden kann (SSRI: selektiver kostenfrei bei der:
beenden. Was ist der Hinter- Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer).
grund, und wie wirken Stimu- Methylphenidat zeigte dabei in einer NOVARTIS Pharma GmbH
lanzien auf die emotionale und Studie von Roeloffs et al. eine Verbes- Geschäftseinheit Neurologie/
sexuelle Entwicklung? serung der Beschwerdesymptomatik Psychiatrie
Empfehlungen, eine Therapie mit Sti- der Patienten. Kafka et al. sahen bei Postfach
mulanzien nicht über die Pubertät hin- Patienten, die mit SSRI therapiert wur- 90327 Nürnberg
aus fortzusetzen, entstammen insbe- den und bei denen sexuell abweichen- Fax: (0911) 273 12723
sondere Befürchtungen, daß sich des Verhalten (Paraphilien) bekannt

34 Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“© Kirchheim-Verlag Mainz


Im Vergleich zu den früheren Regelun- sichtigung der o. g.
gen hat sich die Verwendung von Be- Kautelen auf einem
täubungsmittelrezepten (BtM) erheb- gewöhnlichen Re-
lich vereinfacht: zept verordnet wer-
● BtM-Rezepte dürfen jetzt - wie an- den.
dere Rezepte auch - maschinell aus-
gefüllt werden. Frage: Können
● Angaben zur Menge brauchen nicht Stimulanzien
mehr in Worten wiederholt zu wer- ins Ausland
den. mitgeführt
● Angaben zusätzlich zur Arzneimit- werden, z. B.
telbezeichnung wie Darreichungs- bei Urlaubsrei-
form und BtM-Gehalt sind nur noch sen?
erforderlich, wenn die Arzneimittel- Wie jedes andere
bezeichnung allein nicht eindeutig Arzneimittel auch,
ist. können auch dem
Methylphenidat steht in Deutschland Betäubungsmittel-
als Fertigarzneimittel z. B. unter dem gesetz unterliegen-
Handelsnamen Ritalin® zur Verfügung. de Pharmaka für
Hierbei darf Methylphenidat für einen den persönlichen
Bedarf von 30 Tagen bzw. bis zu einer Bedarf bei grenz-
Höchstmenge von 1500 mg/Rezept ver- überschreitenden
ordnet werden. Eine Überschreitung Reisen mitgeführt
dieser Grenzen bei besonderem Grund werden. Nach der
muß auf dem BTM-Rezept mit „A“ ge- Betäubungsmittel-
kennzeichnet werden. Eine mit „A“ Außenhandelsver-
gekennzeichnete Verschreibung ordnung (§ 12) ist
braucht jedoch nicht mehr der Überwa- das Verbringen über
chungsbehörde gemeldet zu werden. Staatsgrenzen hin-
Das in der Schweiz verfügbare, jedoch weg nicht genehmi-
in Deutschland nicht zugelassene Me- gungspflichtig,
thylphenidat-Präparat mit Retard-Wir- wenn das Medika-
Es ist unwahrscheinlich, daß Stimulanzien eine Störung der
kung Ritalin SR™ ® kann nur im Rahmen ment für die Dauer
sexuellen Entwicklung des Heranwachsenden verursachen
der Einzelverordnung rezeptiert und der Reise (maximal können.
importiert werden. Aufgrund der zur 30 Tage) in ange-
Verfügung stehenden Packungsgröße messener Menge
von 100 Tbl. zu 20 mg muß das Rezept auf Grund ärztlicher Verschreibung für sten Landesgesundheitsbehörde oder
hier in jedem Fall mit „A“ gekennzeich- den eigenen Bedarf mitgeführt wird. einer von ihr beauftragten Stelle zu
net werden. Eine gesonderte Anmeldung beim Zoll beglaubigen ist.
Amphetaminracemat steht in ist nach § 15 Betäubungsmittel-Außen- Werden Stimulanzien auf Reisen mit-
Deutschland nicht als Fertigarzneimit- handelsverordnung in diesem Falle genommen, sollten aber in jedem Fall
tel zur Verfügung, sondern muß z. B. nicht notwendig. die ggf. abweichenden klimatischen Be-
als Sirup zubereitet werden. Ein Mu- Zu empfehlen ist in jedem Fall, eine dingungen (Hitze, Feuchtigkeit) bei
sterrezept (nach Trott, 1998) für 100 ml entsprechende ärztliche Bescheini- Transport und Verpackung der Präpa-
Saft mit 20 mg/10ml lautet z. B.: gung mitzunehmen (z. B. auch in eng- rate berücksichtigt werden. Außerdem
lisch), die bescheinigt, daß die Einnah- wichtig: Auch am Urlaubsort muß für
Rezept me und die verordnete Dosis notwen- eine sichere Aufbewahrung der Präpa-
D,L Amphetaminsulfat dig sind. rate, insbesondere vor einem Zugriff
0,2724 Gramm Nach Artikel 75 des Schengener Dritter gesorgt werden.
Acid citric 0,2 Durchführungsübereinkommens vom
Sirup simpl. 30,0 ml 19. Juni 1990 haben sich die Beitritts- Frage: Müssen bei der Thera-
Aqua conserv. 70,0 ml staaten des Schengener Abkommens pie mit Stimulanzien Therapie-
kons. mit 0,1 % Sorbinsäure (Mitgliedsstaaten der EU mit Ausnah- pausen gemacht werden?
100 Milliliter me von England, Irland, Dänemark, Die medikamentöse Therapie der hy-
Schweden und Finnland) auf ein geson- perkinetischen Verhaltensstörung er-
Die Verschreibungshöchstmenge für dertes Formblatt zur Bescheinigung folgt im Rahmen eines Gesamtkonzep-
Amphetaminracemat beträgt 600 mg. geeinigt, das bei der Bundesopium- tes und ist meist langfristig angelegt. In
Pemolin (Tradon® ) kann unter Berück- stelle zu beziehen und von der ober- früheren Jahren riet man aus Furcht

Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“ © Kirchheim-Verlag Mainz 33


Originalia

?
Die häufigsten Fragen aus
der Praxis . . .
. . . zur Ritalin-Therapie*
Hubertus von Voss
Institut für Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität München, Kinderzentrum München

Frage: Welche zusätzlichen auftretende Sinustachycardie ist zu- störung eingesetzt werden - mit Aus-
Untersuchungen sind vor der meist klinisch bedeutungslos. nahme von Pemolin - unterliegen dem
Einleitung einer Stimulanzien- Stimulanzien können grundsätzlich Betäubungsmittelgesetz und können
therapie bzw. während der eine Veränderung der Krampfschwelle daher nur auf dem hierfür vorgesehe-
Therapie erforderlich? verursachen. Die Frage, ob bei Patien- nen Vordruck verordnet werden. Pe-
Neben der psychopathologischen Dia- ten mit epileptischer Voranamnese eine molin (Tradon®) darf zudem bislang nur
gnostik empfiehlt sich vor Einleitung Behandlung mit Stimulanzien möglich nach Versagen von Methylphenidat und
einer Medikation mit Stimulanzien, Puls ist, wurde in aktuellen Studien dahin- Amphetamin nach Diagnosesicherung
und Blutdruck zu kontrollieren, um gehend beantwortet, daß bei anfalls- durch einen Kinder- und Jugendpsych-
eine bestehende Hypertonie auszu- freien bzw. anfallsfrei antikonvulsiv ein- iater sowie besonderer Aufklärung der
schließen. Diese Parameter sollten auch gestellten Patienten eine Therapie mit Eltern verordnet werden. Zudem ist hier
im Verlauf der Behandlung aufgrund Stimulanzien durchaus indiziert sein zunächst nur ein Therapieversuch zu-
der sympathomimetischen Effekte der kann. Zur Klärung der Situation sollte lässig, im Rahmen dessen drei Wochen
Substanzen regelmäßig kontrolliert hier die Kontrolle des EEG bei entspre- nach erfolgter Aufdosierung eine Ef-
werden. chend disponierten Patienten vor und fektivitätsbeurteilung durchgeführt
Auch wenn aktuelle Studienergeb- während der Therapie unbedingt zum werden muß.
nisse im Gegensatz zur wissenschaftli- diagnostischen Vorgehen gehören.
chen Meinung der Vorjahre keine Ein- Bei der Behandlung mit Pemolin (Tra-
wirkung von Stimulanzien (Methyl- don®) sind aufgrund möglicher hepato- Die zur Verordnung notwen-
phenidat) auf das Größenwachstum toxischer Wirkungen der Substanz re- digen Vordrucke können Sie
zeigen, wird dennoch weiterhin emp- gelmäßige Kontrolluntersuchungen der bei der Bundesopiumstelle
fohlen, Körpergröße und Körperge- Leberparameter GOT, GPT und GT vor- anfordern:
wicht regelmäßig zu kontrollieren. geschrieben. Diese sind vor Beginn der Bundesinstitut für Arzneimittel
Vor Beginn der Therapie und wäh- Therapie und in zweiwöchigen Abstän- und Medizinprodukte
rend der Behandlung sollte in regelmä- den während der Therapie zu kontrol- - Bundesopiumstelle -
ßigen Abständen (3- bis 6monatlich) lieren. Ein Anstieg um mehr als das Friedrich-Ebert-Allee 38
eine Kontrolle des Differentialblutbil- zweifache der Norm muß zum Abset- 53113 Bonn
des erfolgen, da Stimulanzien in selte- zen der Therapie führen. Zudem sollten Weitere Auskünfte gibt es telefo-
nen Fällen einen negativen Einfluß auf die Eltern und weitere Bezugspersonen nisch montags bis freitags in der
das weiße Blutbild ausüben können. über die Symptomatik von Leberstö- Zeit von 9.00 bis 11.00 Uhr unter
Bei Patienten mit kardialer Vorana- rungen aufgeklärt werden. den Tel.Nr. (0228) 207-5119 und
mnese (z. B. frühkindliche Herzfehler, (0228) 207-5150.
wie VSD, ASD etc.) sollte eine Aufzeich- Frage: Wie genau funktioniert
nung des EKG erfolgen, um relevante die Verordnung zentralwirksa-
Herzrhythmusstörungen auszuschlie- mer Stimulanzien zur Therapie
ßen. Aufgrund der bereits oben ge- der hyperkinetischen Verhal-
nannten sympathomimetischen Wir- tensstörung? Was muß man
*
kung könnte es hier zu einer Beeinflus- beachten? Herrn Dr. med. Sven Schellberg, Medical Advisor
Psychiatry der Novartis Pharma GmbH (Nürn-
sung der kardialen Situation kommen. Sämtliche Stimulanzien, die zur Thera- berg), danke ich für die hervorragende Zusam-
Eine passager zu Behandlungsbeginn pie der hyperkinetischen Verhaltens- menarbeit bei der wissenschaftlichen Recherche.

32 Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“© Kirchheim-Verlag Mainz


koexistenten Lernstörungen der betrof-
fenen Kinder. Bei gleichzeitig beste- Das Wichtigste
henden Störungen des Sozialverhaltens für die Praxis . . .
kann die Pädagogik im Klassenraum von ● Das Prinzip der multimodalen Behandlung mit einer individuellen Anpas-
verhaltenstherapeutischen Interventio- sung verschiedener Therapiekomponenten ist speziell bei HKS/ADHD
nen Gebrauch machen. indiziert.
● Medikation und Psychoedukation sind unverzichtbar. Verhaltensthera-
Diäten peutische Maßnahmen können dagegen sowohl additiv als auch alterna-
Aufwendige wissenschaftliche Unter- tiv bei Medikationsverweigerung eingesetzt und somit gut kombiniert
suchungen haben keine Wirksamkeits- werden.
belege für Eleminationsdiäten gefun- ● Für alternative Heilverfahren (z. B. Homöopathie, Bachblütentherapie,
den, die sich auf eine vermeintliche pa- Magnetresonanztherapie) fehlt jeglicher Wirkungsnachweis. Sie haben
thogene Wirkung von Nahrungsmittel- daher in der kompetenten Behandlung von Kindern mit HKS/ADHD
zusätzen (Salizylate, Farbstoffe, ande- keinen Raum.
re Zusätze) oder Zucker gründen. Nur
die sogenannte oligoantigene Diät
mit Elimination von Nahrungsmittelin- Behandlungsintegration und siven) Störungen sowie Angststörun-
toleranzen ist als wirksam erwiesen. Sie komorbide Störungen gen. Bei den koexistenten emotionalen
ist jedoch nur bei einer Minderheit von Das Prinzip der multimodalen Behand- Störungen können auch andere, nicht
HKS/ADHD-Kindern indiziert und dar- lung mit einer individuellen Anpassung verhaltensorientierte psychotherapeu-
über hinaus kostenintensiv, sozial ein- verschiedener Therapiekomponenten tische Verfahren eingesetzt werden (z.
schneidend und bei ungenügender fach- ist speziell bei HKS/ADHD indiziert. Es B. klientenzentrierte oder psychodyna-
licher Überwachung gefährlich, zumal erstreckt sich jedoch auch auf andere mische Psychotherapie oder Familien-
eine Fehl- bzw. Mangelernährung re- psychische Störungen im Kindes- und therapie). Diese Verfahren sind jedoch
sultieren kann. Jugendalter. Während die Medikation hinsichtlich der Kernsymptomatik der
und Psychoeduka- HKS/ADHD wirkungslos.
tion unverzicht- Für sogenannte alternative Heilver-
bar sind, können fahren (z. B. Homöopathie, Bachblü-
verhaltensthera- tentherapie, Magnetresonanztherapie)
peutische Maß- fehlt jeglicher Wirkungsnachweis. Sie
nahmen sowohl haben daher in der kompetenten Be-
additiv als auch handlung von Kindern mit HKS/ADHD
alternativ bei Me- keinen Raum.
dikationsverwei-
gerung einge- Literatur beim Verfasser

setzt und somit


gut kombiniert
werden.
Die Behand-
lung komorbider
Störungen erwei-
tert die Indikati-
on für die Verhal-
tenstherapie, zu-
mal sie bei der
häufig mit HKS/
ADHD verbunde-
nen Störung des Korrespondenzadresse
Sozialverhaltens Prof. Dr. Dr. H.-C. Steinhausen
die Methode der Zentrum für Kinder- und Jugendpsych-
Wahl darstellt. iatrie
Das gleiche gilt für Universität Zürich
die seltenere Ko- Neumünsterallee 9
existenz mit Tic- Postfach
störungen, aber CH-8032 Zürich
Für alternative Heilverfahren (z. B. Homöopathie) fehlt jeglicher auch für die Ko- Tel.: (0041) 1 422 18 60
Wirkungsnachweis. Sie haben in der kompetenten Behandlung morbidität mit af- Fax: (0041) 1 422 18 73
von HKS/ADHD keinen Raum. fektiven (depres- E-Mail: steinh@kjpd.unizh.ch

Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“ © Kirchheim-Verlag Mainz 31


Originalia

erkannt und die Medikation abgesetzt


werden sollte. Andererseits sollte auf Tab. 4: Prinzipien der Verhaltensmodifikation in sozialen Kontexten
eine gute Compliance, d. h. die Konti-
● Identifikation spezifischer Problemsituationen und spezifischer Verhaltens-
nuität der Einnahme geachtet werden,
probleme
da die von Eltern bisweilen praktizierte
Medikamentenpausen an den Wochen- ● Kontinuierliches Aufzeichnen von Verhaltensverbesserungen
enden unnötige Exazerbationen pro- ● Analyse positiver und negativer Konsequenzen und Kontingenzen für ange-
vozieren und wahrscheinlich auch über- messenes und problematisches Verhalten
flüssige Belastungen der betroffenen ● Verbesserung der Wahrnehmung von Eltern/Lehrern in Supervisionssitzun-
Neurorezeptoren schaffen. Im Rahmen gen, wenn negative Interaktionen dominieren
der meist mittel- bis langfristigen Be- ● Vermittlung von effektiver Kommunikation
handlung müssen regelmäßige Kontrol- ● Einsatz von Münzverstärkung für angemessenes Verhalten
len und ganz besonders die Einstel- ● Einsatz von angemessenen negativen Konsequenzen für problematisches
lung des Kindes zur Medikation Verhalten (Verstärkerentzug und Verhaltensverträge)
überprüft werden. Sofern das Kind sei- ● Einbeziehung des Kindes als aktiven Teilnehmer des Therapieprozesses
ne Verhaltensstabilisierung nur der
Medikation und nicht auch seinen eige-
nen Kräften zuschreibt, entsteht eine zur Medikation weniger ausgeprägte Das Therapieprogramm THOP (The-
kognitive Abhängigkeit, die der Ent- Effekte erzielte, ist sie für die Behand- rapieprogramm für Kinder mit hyperki-
wicklung zu Autonomie und Kompe- lungspraxis dennoch von großer Be- netischem und oppositionellem Pro-
tenz entgegenläuft. deutung, zumal sie wesentlich zu Sym- blemverhalten von Döpfner und Mitar-
ptomreduktion, sozialer Beziehungsver- beitern) hat im deutschsprachigen Be-
Verhaltenstherapie besserung und Aufbau von Kompeten- reich diese Prinzipien umgesetzt und
Wenngleich die isolierte Verhaltensthe- zen beiträgt. In Kombination mit Sti- kann für die therapeutische Praxis mit
rapie in der MTA-Studie im Vergleich mulanzien ist sie einer ausschließlichen Erfolg eingesetzt werden. Die ebenfalls
Verhaltenstherapie in verschiedener Form verfügbaren
überlegen und ist ge- Selbstinstruktionstrainings gehören in
mäß der MTA-Studie in den Bereich der kognitiven Verhaltens-
ihrer Wirksamkeit bei therapie. Sie sind, sofern es sich nicht
komorbiden Angststö- um Spieltrainings zur Verbesserung des
rungen der Medikati- Spielverhaltens im Kindergartenalter
on bzw. der kombi- handelt, erst ab dem Schulalter einsetz-
nierten Therapie bar. Bei sorgfältiger und kritischer Prü-
gleichwertig. Sie ist zu- fung ihrer Wirksamkeit als ausschließli-
sätzlich immer dann cher Behandlungsmethode bei HKS/
angezeigt, wenn Eltern ADHD sind sie nicht ausreichend er-
oder Kinder eine Me- folgversprechend und sollten daher
dikation verweigern. eher als Ergänzung bei entsprechend
Grundsätzlich können motivierten Kindern eingesetzt werden.
die Verhaltensmodifi- Sämtliche verhaltenstherapeutischen
kation in Familie, Kin- Vorgehensweisen sind nicht nur an hohe
dergarten und Schule therapeutische Kompetenz gebunden,
nach dem Prinzip von sondern sind zugleich auch sehr ko-
Eltern- und Mediato- stenintensiv.
rentrainings sowie das
Selbstinstruktionstrai- Psychoedukation
ning eingesetzt wer- Mit dem Begriff der „Psychoedukati-
den, sofern entspre- on“ lassen sich alle aufklärenden, bera-
chend ausgebildete tenden und pädagogischen Maßnah-
Therapeuten - in der men zusammenfassen. Information und
Regel Psychologen Beratung erstrecken sich auf Eltern,
oder auch Kinder- und Lehrer und andere Bezugspersonen und
Jugendpsychiater - ver- schließen sämtliche Aspekte der Defini-
fügbar sind. Die Prinzi- tion, Diagnostik und Therapie von HKS/
pien der Verhaltens- ADHD ein. Sonderpädagogische Maß-
modifikation in sozia- nahmen - zum Beispiel spezielle Unter-
Die richtige Therapie bei ADHD: Medikation und Psycho- len Kontexten sind in richtsformen, Spezialklassen, Lernpro-
eduktion sind unverzichtbar. Tabelle 4 dargestellt. gramme - richten sich auf die häufig

30 Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“© Kirchheim-Verlag Mainz


men müssen, und das Risiko eines Le-
berversagens machen Pemolin nur zu
einem Stimulans der zweiten Wahl. Hin-
gegen sind die in Tabelle 2 dokumen-
tierten Nebenwirkungen von Methyl-
phenidat weniger problematisch, zu-
mal die initialen Nebenwirkungen in
der Regel schneller abklingen oder ver-
mieden werden können, indem die Sub-
stanz nur in Verbindung mit Mahlzei-
ten und nach Möglichkeit nicht mehr
am Abend verabreicht wird. Auch mög-
licherweise durch Stimulanzien ausge-
löste Tics sowie eine komorbide Epi-
lepsie als Komorbidität stellen kei-
ne Kontraindikation für die Verab-
reichung von Methylphenidat dar.
Trotz der einfachen Steuerbarkeit
und der schnellen Wirksamkeit der Sti-
mulanzien, muß ihr Einsatz sorgfältig
überwacht und kontrolliert werden.
Jedes Kind ist anders: Deshalb muß die Behandlung individuell und zusätzlich
multimodal angepaßt werden. AbsoluteKontraindikationenstel-
len im Kindesalter eher seltene Diagno-
sen dar, zu denen die Schizophreni-
en, Hyperthyreosen, kardiale Ar-
erreicht ist, und kann nur langsam in stige Galenik mit der Folge, daß die rhythmien, Angina Pectoris, Blut-
der Dosis gesteigert werden. Die betroffenen Kinder mehrere Tabletten hochdruck und das Glaukom gehö-
schlechtere Steuerbarkeit, eine ungün- - allerdings nur einmal am Tag - einneh- ren. Antidepressiva sind lediglich Medi-
kamente der zweiten Wahl und Neuro-
leptika sind bei Kindern mit HKS/ADHD
eher zu meiden. In Tabelle 3 sind die
Tab. 2: Medikation bei HKS/ADHD Regeln zusammengefaßt, die für die
Durchführung der Medikation bedeut-
● Substanzen der Wahl: (1) Stimulanzien; (2) Antidepressiva
sam sind.
● Dauer der Therapie: prinzipiell nicht begrenzt Nach sorgfältiger Indikationsstellung
● Dosis für Methylphenidat: 0,3-1,0 mg/KG/24 h; 2-3 /24 h und Information muß dieindividuelle
● Nebenwirkungen von Methylphenidat: Dosisinnerhalb des angegebenen Rah-
- Schlafstörungen, Appetitminderungen, Dysphorie: eher zu Beginn; mens titriert werden. Dabei gibt die
- Motorische Tics bei prädisponierten Kindern: zusätzliche Gabe Verbesserung der Aufmerksamkeitslei-
von Tiaprid oder Reduktion von Methylphenidat; stung den zentralen Parameter ab, und
- keine Verschlechterung von Krampfleiden; die Minderung der motorischen Unru-
- keine erhöhte Gefahr von Substanzmißbrauch.
he ist eher nachgeordnet. Eine Entspan-
nung der in der Regel stark beeinträch-
Tab. 3: Regeln für die Durchführung von Medikation
tigten familiären und sozialen Bezie-
hungen sowie eine Besserung der Schul-
- Ausschluß von Substanzmißbrauch in der Familie leistungen sind keine direkten, wohl
- Information von Kind, Eltern und Lehrer über Wirkungen und Nebenwirkun- aber sekundäre Effekte der primären
gen Verbesserung der Aufmerksamkeit un-
ter Stimulanzienbehandlung. Da die
- Auflösung von Fehlinformationen (z. B. sedierender Effekt oder Drogengefähr-
dung) Symptomatik nicht durchgängig rück-
läufig ist und HKS/ADHD bei Jugendli-
- Individuelle Dosisgestaltung
chen und Erwachsenen persistieren,
- Medikamentenpause in den Ferien bzw. in Teilsymptomen fortbestehen
- Beachtung der Compliance kann, ist die Behandlungsspanne grund-
- Regelmäßige Überprüfung der Effekte mit Interviews und Beurteilungsskalen sätzlich nicht zeitlich eingeschränkt.
- Beachtung der Einstellung des Kindes zur Medikation Eine Medikamentenpause ist in den
- Kontrolle von Größe, Gewicht, Puls und Blutdruck
Ferien aber insofern angezeigt, als Kin-
der mit einer vollständigen Remission

Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“ © Kirchheim-Verlag Mainz 29


Originalia

Therapeutisch richtig
vorgehen
Grundzüge der multimodalen Behandlung
bei HKS/ADHD in der Praxis
Hans-Christoph Steinhausen
Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Universität Zürich

Zusammenfassung
In diesem Beitrag werden die Grundzüge der multimodalen Therapie bei HKS/ADHD in der Praxis dargestellt. Die
einzelnen Komponenten der Medikation, Verhaltenstherapie, Psychoedukation, Diätbehandlung, ihre Integration
sowie die Berücksichtigung komorbider Störungen müssen individuell an das betroffene Kind angepaßt werden.
Schlüsselwörter: ADHD, multimodale Therapie, Medikation, Verhaltenstherapie, Psychoedukation, Diät.

Einleitung eine zentrale Rolle einnimmt. In dieser überlegen war. Die MTA-Studie muß
Trotz klar ausgewiesener Leitlinien für kollaborativen Studie an 579 Kindern wegen ihres Umfangs und Aufwandes
hyperkinetische Störungen (HKS) in der mit ADHD in den USA wurde die Wirk- als ein Meilenstein der Kinder- und Ju-
ICD-10 bzw. für ADHD im DSM-IV ist die samkeit von individuell titrierter gendpsychiatrischen Forschung be-
Gruppe der betroffenen Kinder hete- Medikation mit Verhaltenstherapie, trachtet werden.
rogen: Sie variiert hinsichtlich der Aus- kombiniertem Vorgehen - jeweils unter
prägung der Kernmerkmale Unauf- hochstrukturierten Bedingungen - und Medikation
merksamkeit, Hyperaktivität und Im- einer Routinebehandlung in der Praxis Die Grundzüge der medikamentösen
pulsivität, der verschiedenen begleiten- einschließlich Medikation verglichen. Behandlung bei HKS/ADHD sind in Ta-
den Störungen (Komorbiditäten), des Wenngleich unter allen vier Bedingun- belle 2 dargestellt.
Ausmaßes der situativen gegenüber si- gen eine Symptomreduktion zu beob- Grundsätzlich werden Stimulanzien
tuationsübergreifenden Manifestation, achten war, erwiesen sich die Medika- als Mittel der ersten Wahl eingesetzt,
des Zeitpunktes bei Beginn der Störung tion und die kombinierte Behand- wobei Methylphenidat (z. B. Ritalin® )
und der Geschlechtsverteilung. Diese lung als der ausschließlichen Verhal- als Fertigpräparat, Dextroamphetamin
Heterogenität macht nicht nur eine tenstherapie und der Routinebehand- nur als Rezeptur (mit halb so hoher
sorgfältige kinder- und jugendpsychia- lung überlegen; die Kombinationsbe- Dosierung wie Methylphenidat) und
trische Diagnostik und differentialdia- handlung erzielte keine der Medikati- Pemolin (Tradon® ) zur Verfügung ste-
gnostische Abklärung erforderlich, son- on überlegenen Ergebnisse, während hen. Pemolin braucht im Gegensatz zu
dern führt auch zu der Konsequenz, die sie hinsichtlich einiger erfaßter Merk- Methylphenidat etwa drei bis vier Wo-
Behandlung individuell und zusätzlich male der reinen Verhaltenstherapie chen, bis der therapeutische Spiegel
multimodal anpassen zu müssen.
Tab. 1: Bausteine der multimodalen Therapie bei HKS/ADHD
Multimodale Therapie
Die Bausteine der multimodalen Be- ● Medikation, speziell Stimulanzien
handlung sind in Tabelle 1 zusammen-
● Verhaltensmodifikation in sozialen Kontexten (Familie, Kindergarten, Schule)
gestellt. Eine der größten kontrollier-
ten Studien der Kinder- und Jugend- ● Selbstinstruktionstraining
psychiatrie, die sogenannte MTA-Stu- ● Psychoedukation: Aufklärung/Beratung/Pädagogik
die (Multimodal Treatment of ADHD), ● Oligoantigene Diät
hat noch einmal die seit Jahrzehnten ● Integration der verschiedenen Ansätze
gut etablierte Erkenntnis bekräftigt, ● Behandlung komorbider Störungen
daß die Medikation mit Stimulanzien

28 Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“© Kirchheim-Verlag Mainz


Technetium gekoppeltes TRODAT-1) ein normal funktionierendes Gehirn, dividuell optimale Dosis zu ermitteln
bei unbehandelten Erwachsenen mit sondern in pathologisch veränderte ist.
ADHD durchgeführten Studien im Ver- Hirnstoffwechselprozesse korrigierend
gleich zu Normalpersonen eindeutig eingegriffen. Daß dies tatsächlich der
erhöhte Werte für die striatäre Dopa- Fall ist, konnten wir bei unseren er-
mintransporterdichte. Sollte sich die- wachsenen Patienten mit ADHD nach-
ser Befund an größeren Kollektiven weisen, deren erhöhte Dopamintrans-
bestätigen lassen, besäße man erstmals porter-Werte nach 4wöchiger Gabe
ein spezifisches diagnostisches Instru- von 3 x 5 mg Methylphenidat sämtlich
ment, das noch dazu den Vorteil hätte, abfielen, z. T. sogar bei dieser relativ
nach Zulassung der radioaktiven Tracer niedrigen Dosierung unter die Werte
in jeder nuklearmedizinischen Praxis der Kontrollpersonen (Abb. 1).
leicht durchführbar zu sein. Für die Praxis heißt das - und dies
deckt sich mit unseren klinischen Erfah-
Schlußfolgerung rungen bei der Behandlung Erwachse-
Für die Argumentation mit Kritikern ner -, daß in vielen Fällen bereits Korrespondenzadresse
des Konzeptes der ADHD und ihrer Be- sehr niedrige Dosen eine Korrektur der Prof. Dr. med. K.-H. Krause
handlung mit Methylphenidat bedeu- Symptome bewirken dürften, so daß Friedrich-Baur-Institut
ten diese neu erhobenen Befunde fol- in jedem einzelnen Fall mittels lang- Medizinische Klinik Innenstadt der LMU
gendes: Bei der Therapie von Patienten sam einschleichender und initial sehr Ziemssenstr. 1a
mit ADHD mittels Ritalin® wird nicht in niedrig dosierter Medikation die in- 80336 München

Literatur-Tips
E. Aust- T. Hartmann: C. Neuhaus:
Claus, P.-M. Eine andere Das hyperak-
Hammer: Art, die Welt tive Kind und
Das ADS- zu sehen. Das seine Proble-
Buch. Aufmerksam- me. Ravensbur-
Aufmerk- keits-Defizit- ger Buchverlag,
samkeits- Syndrom ISBN 3-332-
Defizit- (ADD). Eine 00872-2, DM
Syndrom. praktische 19,90.
Neue Lebenshilfe für
Konzentra- aufmerksam-
tions-Hilfen keitsgestörte
für Zappelphilippe und Träumer. Kinder und Jugendliche. Schmidt-
Oberstebrink Verlag GmbH, ISBN Römhild, ISBN 3-7950-0735-6, DM
3-9804493-6-X, DM 38,00. 24,90. R. Spallek: Große Hilfe für kleine
Chaoten.
Ein Ratgeber
M. Döpfner, J. Krause:Leben bei kindli-
J. Frölich, G. mit hyperakti- chen
Lehmkuhl: ven Kindern. Aufmerk-
Hyperkine- Informationen samkeitsstö-
tische Stö- und Ratschläge. rungen.
rungen. Bundesverband Patmos
Leitfaden der Elterninitia- Verlag
Kinder- und tiven zur GmbH & Co.
Jugendpsy- Förderung KG, ISBN 3-
chotherapie. hyperaktiver 530-30056-X,
Hogrefe Ver- Kinder, ISBN 3- DM 38,00.
lag, ISBN 3-8017-1354-7, DM 44,80. 933067-01-4.

Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“ © Kirchheim-Verlag Mainz 27


Originalia

Abb. 1A-C: Selektive Darstellung der striatären Dopamintransporter im [Tc-99m]TRODAT-1-SPECT bei einer 30 jährigen Patientin
mit ADhd vor (A) und 4 Wochen nach Therapie mit 3 x 5 mg Ritalin®/d (B) im Vergleich zu einer gesunden gleichaltrigen weiblichen
Kontrollperson (C); semiquantitative Dichtemessung im Striatum (STR) mittels ROI(regions of interest)-Technik mit dem Kleinhirn
als Background (BKG).
bei gleichbleibender Dosierung nach hochinteressante Befunde, die mittels einer placebokontrollierten Doppel-
ca. 4 Wochen wieder verschwanden. funktioneller Kernspintomographie er- blindstudie bei Kindern mit ADHD, die
Das Auftreten von Anfällen unter hoben wurden, mitgeteilt. Bei 10 Jun- positiv auf Methylphenidat reagierten,
Methylphenidat ist bei gut eingestell- gen mit ADHD im Vergleich zu 6 nicht eine frontale Reduktion der Alpha- und
ten Epileptikern mit komorbider ADHD betroffenen, die zwei Aufmerksam- Theta-Tätigkeit bei Anstieg der Beta-
nicht zu befürchten. Nach Resultaten keitstests (go-/no-go-Aufgaben) durch- Aktivität gefunden werden, während
neuerer Studien mindert eine rechtzei- führten, zeigten die Kinder mit ADHD die Nonresponder gegensätzliche Re-
tige Behandlung mit Methylphenidat vor Methylphenidateinnahme vermehr- sultate zeigten. Mit Hilfe neu entwik-
das Risiko bei betroffenen Kindern und te frontale und verminderte striatale kelter Liganden ist es inzwischen mög-
Jugendlichen, später Medikamenten-, Aktivierung. Unter Methylphenidat lich, im SPECT ganz selektiv die Dopa-
Drogen- oder Alkoholabusus zu betrei- stieg die striatale Aktivierung bei 8 der mintransporter im Striatum darzustel-
ben. 10 Kinder mit ADHD an, während sie len. Da wir es hier mit dem vermuteten
bei 5 von 6 der gesunden Kontrollen Hauptwirkungsort von Methylphenidat
Neurobiologische Objektivie- absank; frontal aktivierte Methylpheni- zu tun haben, erschienen entsprechen-
rung der Wirkung von Methyl- dat bei beiden Gruppen. Diese Resulta- de Untersuchungen bei Patienten mit
phenidat te legen den Verdacht nahe, daß Me- ADHD vielversprechend. Es fanden sich
Nachdem in vielen placebokontrollier- thylphenidat die striatalen Funktionen dann tatsächlich in zwei unabhängig
ten Doppelblindstudien bei Kindern, Ju- bei Gesunden möglicherweise anders voneinander mit verschiedenen
gendlichen und Erwachsenen der ein- beeinflußt als bei Patienten mit ADHD. Markern (einmal an radioaktives Jod
deutig positive Effekt von Methylphe- Elektroencephalographisch konnte in gekoppeltes Altropan, zum anderen an
nidat auf die klinischen Symptome der
ADHD gesichert werden konnte, wur- Das Wichtigste für die Praxis . . .
de in den letzten Jahren versucht, diese ● Bei Patienten, die unter einer deutlichen ADHD leiden, ist die Gabe von
klinisch beobachtete Besserung mittels Stimulanzien Basis der Behandlung.
bildgebender Verfahren zu objektivie- ● Mittel der ersten Wahl ist Methylphenidat (Ritalin® ), das sich durch ein
ren und bestimmten Hirnarealen zuzu- sehr günstiges Nebenwirkungsspektrum auszeichnet.
ordnen. Bereits vor über 10 Jahren wur- ● Eine Normalisierung initial erhöhter striatärer Dopamintransporter bei
de bei Durchblutungsstudien mit Xe- Patienten mit ADHD durch Methylphenidat konnte nachgewiesen wer-
non-133-Inhalations-SPECT eine Ten- den.
denz zur Normalisierung einer primär ● Die Wirkung von Methylphenidat dürfte somit in erster Linie auf einer
verminderten Durchblutung im Fron- Erhöhung der Dopamin-Konzentration am synaptischen Spalt im primär
tallappen und Striatum durch Methyl- gestörten frontostriatalen System beruhen.
phenidat beschrieben. Kürzlich wurden

26 Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“© Kirchheim-Verlag Mainz


Interessant ist, daß im Tierversuch me der ADHD ist beschrieben. Als Wirk- gel von Stimulanzien keine Rückschlüs-
eine Blockade der Dopamintransporter mechanismus dieser Substanzen wer- se auf die Wirksamkeit im Einzelfall
mit Methylphenidat nur bis zu 80 % den u. a. eine Hemmung der Wieder- ziehen, so daß bisher keine Empfeh-
möglich war, während mit Amphet- aufnahme von Noradrenalin und Sero- lung für ein Monitoring einer Stimulan-
amin eine 100%ige Blockierung - mit tonin angenommen, weniger dagegen zientherapie mit Hilfe der Plasmaspie-
letalem Ausgang für die Versuchstiere - Beeinflussungen des Dopamin-Stoff- gel gegeben werden kann.
erreicht wurde. Als Amphetaminzube- wechsels, so daß sich ein gänzlich ande-
reitungen werden in den USA vier phar- res Wirkungsspektrum als bei Methyl- Wichtig für die Praxis ist, daß
makologische Formen eingesetzt: 1. ein phenidat darstellt und diese Substan- eine Toleranzentwicklung bei
racemisches Gemisch aus D- und L-Iso- zen nicht als Mittel der ersten Wahl bei Langzeitgabe von Stimulanzi-
meren von Amphetaminsulfat (Ben- der ADHD anzusehen sind. Für die po- en generell nicht zu beobach-
zedrin), 2. gemischte Sulfate und Sac- sitive Wirkung auf ADHD-Symptome ten ist, dies wurde lediglich in
charinate von D- und L-Isomeren (Ad- wird bei den trizyklischen Antidepres- Einzelfällen speziell für Pe-
derall), 3. reines D-Amphetaminsulfat siva vor allem die Noradrenalin-Wie- molin beschrieben.
(Dexedrin) und 4. racemisches Metham- deraufnahmehemmung verantwortlich
phetaminsulfat (Desoxyn). gemacht; wegen ihrer kardialen und
In Deutschland ist Amphetamin als sedativen Nebenwirkungen sind diese Nebenwirkungen von
Fertigsubstanz nicht im Handel und muß Substanzen nicht unproblematisch. Methylphenidat
als Saft oder Kapsel rezeptiert werden. Hinsichtlich der Nebenwirkungen gilt
Der Wirkmechanismus von Amphetami- Pharmakokinetik von Methyl- Methylphenidat aufgrund der inzwi-
nen erscheint wesentlich komplexer phenidat und anderen Stimu- schen jahrzehntelangen Erfahrungen
als der von Methylphenidat. Gemäß lanzien als eines der sichersten Pharmaka über-
tierexperimentellen Befunden wirken Stimulanzien werden generell oral ge- haupt.
die Amphetamine nicht nur wie Me- geben. Die Resorption im Gastrointe-
thylphenidat dopaminerg, sondern in stinaltrakt und die Passage der Blut- Beschriebene Nebenwirkun-
komplexer Weise auch noradrenerg Hirn-Schranke erfolgen rasch, der ma- gen sind Appetitminderung,
über eine erhöhte Katecholaminpro- ximale Plasmaspiegel wird bei Methyl- Schlafstörungen, Sedation, Agi-
duktion und -freisetzung im Zytosol phenidat 1,5-2,5 Stunden nach Einnah- tation, gelegentlich Magenbe-
der Nervenendigung, und auch sero- me erreicht, somit rascher als beim D- schwerden, Kopfschmerzen, Dys-
tonerge Mechanismen sind für die Am- Amphetamin (2-3 Stunden), die Plas- phorie und leichte Erhöhung von
phetamine beschrieben. D-Amphet- mahalbwertszeit ist beim Methylpheni- Blutdruck und Herzfrequenz,
amin ist hinsichtlich der ZNS-Effekte dat mit 2-3 Stunden entsprechend kür- wobei nur in sehr wenigen Fällen
drei- bis viermal potenter als reines L- zer als beim D-Amphetamin (4-6 Stun- ein Absetzen der Medikation nö-
Amphetamin und hat dabei eine gerin- den). Man geht davon aus, daß Methyl- tig ist. Gravierende Nebenwirkun-
gere sympathikomimetische Wirkung phenidat und D-Amphetamin die er- gen wie beim Pemolin sind nicht
in der Peripherie, so daß es als Mittel sten Effekte innerhalb von 30-60 Minu- bekannt.
zur ADHD-Behandlung vorzugsweise ten nach Einnahme zeigen mit maxima-
eingesetzt wird und in allen Amphet- ler Wirkung nach 1-3 Stunden und Ende Differenziert zu sehen ist die Gabe
aminpräparaten zumindest als Bestand- der Wirkung nach spätestens 6 Stun- von Stimulanzien bei gleichzeitigem
teil vorhanden ist. den, wobei erhebliche interindividuelle Vorliegen von Tic-Erkrankungen; gele-
Für die Praxis ist zu folgern, daß bei Unterschiede zu beobachten sind. Die gentlich werden unter Methylphenidat
Patienten mit ADHD, die auf Methyl- Plasmahalbwertszeit des Retardpräpa- einfache Blinzel-, Grimassier- oder Räus-
phenidat nicht ausreichend positiv an- rates Ritalin SR® ist etwa doppelt so pertics, aber auch komplexere Tics wie
sprechen, ein Versuch mit Amphetami- lang wie die von Ritalin®, die ersten Kopf-, Nacken-, Drehbewegungen oder
nen durchaus erfolgversprechend sein Effekte beginnen nach 1-2 Stunden mit choreoathetoid anmutende Bewegun-
kann, dies könnte speziell auf Patien- einem Peak nach 3-5 Stunden und all- gen der Arme und Beine beobachtet.
ten mit komorbiden aggressiven Ver- mählichem Nachlassen der Wirkung Bisweilen bringt eine geringfügige Do-
haltensstörungen (Serotoninhaushalt!) nach 5-8 Stunden. sisreduktion diese Symptome zum Ver-
zutreffen. Zu beachten ist eine mögli- Pemolin hat eine längere Halbwerts- schwinden, manchmal muß das Medi-
cherweise deutlich geringere therapeu- zeit als die anderen Stimulanzien (bei kament abgesetzt werden. Da nicht
tische Breite bei den Amphetaminen, Kindern 7-8, bei Erwachsenen 11-13 selten eine Komorbidität von ADHD
von denen ja bekannt ist, daß bei chro- Stunden) mit wahrscheinlicher Zunah- und Tourette-Syndrom besteht, ist
nischer Zufuhr hoher Dosen toxische me bei chronischer Zufuhr, was den manchmal eine Stimulanzien-Therapie
paranoid-halluzinatorische Psychosen öfters erst nach 3 - 4 Wochen eindeuti- trotz komorbider Tic-Erkrankung un-
auftreten können, wie sie unter Me- gen Wirkungseintritt dieses Präparates verzichtbar.
thylphenidat kaum zu beobachten sind. erklären könnte. Studien zeigten, daß hierbei eventu-
Ein positiver Einfluß von trizykli- Nach bisherigen Untersuchungen ell auftretende vermehrte Tics zu Be-
schen Antidepressiva auf Sympto- lassen sich aus der Höhe der Blutspie- ginn der Therapie mit Methylphenidat

Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“ © Kirchheim-Verlag Mainz 25


Originalia

le Anwendung beliebt, die 1988 des- amin, das sich auch in den Neurotrans-
halb weltweit vom Markt genommen mittern Dopamin und Noradrenalin fin-
wurden. Aufgrund der negativen Pres- det. Speziell das Dopamin-System dürf-
se wagte die Herstellerfirma in den zu- te nach den bisher bekannten Fakten
rückliegenden Jahren kaum noch, ihr für die Kontrolle der Aktivität und für
Präparat adäquat zu bewerben. Daß Aufmerksamkeitsleistungen eine ent-
trotzdem Jahr für Jahr mehr Kinder - scheidende Rolle spielen: Lokalisiert ist
und inzwischen auch Erwachsene - er- Dopamin vor allem im präfrontalen
folgreich mit dieser Substanz behan- Kortex, im Striatum und in den Assozia-
delt werden, spricht für die Güte des tionsbahnen zu den temporalen und
Pharmakons hinsichtlich Wirkungswei- parietalen Lappen. Es wird produziert
se und Verträglichkeit. Daß bereits 1996 im ventralen Tegmentum und der Pars
die Zahl der mit Stimulanzien behan- compacta der Substantia nigra, Kern-
delten Kinder und Jugendlichen in den gebieten des Mittelhirns. Vom Produk-
USA auf 1,5 Millionen (2,8 %) geschätzt tionsort im ventralen Tegmentum lau-
wurde, überrascht bei der hohen Inzi- fen Projektionsbahnen zum Nucleus
denz der Erkrankung (zwischen 3 und 9 accumbens, der ein eng mit dem limbi-
%) nicht. In Deutschland besteht hier schen System verknüpfter Teil des Stria-
sicherlich ein massiver Nachholbedarf. tums und wesentlich für das Motivati-
ons- und Belohnungssystem ist. Gene-
„Overdiagnosis“ und „Misdia- rell scheint dieses mesokortikolimbische
gnosis“ als Ursachen der The- System entscheidend für die Steuerung
rapie mit Methylphenidat? Bei Patienten, die unter einer deutlichen der motorischen Aktivität, für Neugier-
Immer noch und immer wieder werden ADHD leiden, sind Stimulanzien Basis der verhalten und für die Entwicklung von
von Kritikern „overdiagnosis and mis- Behandlung. Handlungsstrategien. Die anderen do-
diagnosis“ bei der ADHD reklamiert. Es paminabhängigen Bahnen ziehen von
erscheint aber kaum nachvollziehbar, der Substantia nigra zum Körper des
daß Eltern ihrem Kind eine durchaus ja von Bachblüten, Edukinesiologie und Striatums und zum Frontallappen; die-
auch stigmatisierende psychiatrische ähnlichen für die Behandlung einer ses mesostriatale System wird als we-
Diagnose aufdrücken und anschließend ADHD nutzlosen esoterischen pseudo- sentlich für stereotype Verhaltenswei-
eine medikamentöse Langzeittherapie wissenschaftlich verbrämten Ansätzen sen und für die Aufrechterhaltung der
durchführen lassen sollten, wenn nicht beherrscht wird, geradezu ein rotes Aufmerksamkeit angesehen. Es über-
ganz gravierende psychische Probleme Tuch. rascht somit nicht, daß Patienten mit
vorlägen, die sich durch die Behand- ADHD bei Untersuchungen mit EEG,
lung eindeutig bessern ließen. Ande- Es überrascht immer wieder, Kernspintomographie, Positronen-
rerseits ist weitgehend auszuschließen, wie oft Lehrer, die nie wagen Emissions-Tomographie und Single-Pho-
daß Ärzte aus Gewinnstreben die ADHD würden, sich in die ärztliche ton-Emission-Computer-Tomographie
überdiagnostizieren. Verlangt doch Behandlung von Kindern mit (SPECT) Auffälligkeiten speziell in den
gerade die Behandlung Betroffener eine Anfallsleiden oder Diabetes dopaminabhängigen Hirnbereichen des
besondere Investition an Zeit und Zu- mellitus einzumischen, sich Striatums und des Frontallappens bo-
wendung, die bei der heutigen appara- bei der medikamentösen Be- ten.
tegläubigen Mentalität von Gesund- handlung der ADHD mit Sti-
heitspolitikern und KV-Funktionären mulanzien zu Kritik berufen Nach den bisher vorliegenden, im
nicht einmal ansatzweise adäquat ab- fühlen - verbunden mit ein- wesentlichen tierexperimentellen
gegolten wird. Das Argument, daß eine deutigen Ratschlägen für die Befunden greift Methylpheni-
Überverordnung von Ritalin® erfolgt, Eltern. dat in das Dopamin-System ein,
weil Lehrer eine Domestizierung unru- in dem es die Wiederaufnahme
higer Schüler durch Medikamente wie Wie wirken nun aber die Substanzen, des Transmitters am synaptischen
Ritalin ® fordern, ist unsinnig: Ganz im die gemäß vielen kontrollierten Thera- Spalt durch eine Blockade der Do-
Gegenteil erfordert es doch in den mei- piestudien die ADHD so positiv beein- pamintransporter verhindert.
sten Fällen eine hohe Überzeugungs- flussen? Man nimmt an, daß Pemolin ei-
kraft seitens der Eltern und der behan- nen ähnlichen Wirkmechanismus
delnden Ärzte, Lehrern den Nutzen und Chemische Struktur und Wir- aufweist; dieses Psychostimulanz
die Notwendigkeit einer regelmäßigen kungsweise von Methylpheni- ist aber inzwischen wegen seiner
Einnahme von Stimulanzien klarzuma- dat im Vergleich mit anderen potentiellen Lebertoxizität nicht
chen. Denn diese sind für viele Lehrer, Stimulanzien mehr Mittel der ersten Wahl bei
deren medizinischer Horizont ganz ent- Methylphenidat enthält wie die ande- der ADHD.
sprechend dem herrschenden Zeitgeist ren Stimulanzien als Kern Phenyläthyl-

24 Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“© Kirchheim-Verlag Mainz


Wirkmechanismus
von Methylphenidat
Klaus-Henning Krause1, Stefan Dresel2 und Johanna Krause3
1
Friedrich-Baur-Institut, LMU München, 2Klinik für Nuklearmedizin, LMU München, 3Praxis für Psychiatrie und Psychotherapie,
Ottobrunn

Zusammenfassung
Nach den bisher vorliegenden Daten beeinflußt Methylphenidat (Ritalin® ) in erster Linie das Dopamin-System, das für
die Kontrolle von Aktivität und Aufmerksamkeitsleistungen eine entscheidende Rolle spielt. In SPECT-Untersuchungen
wurde eine Erhöhung der Dopamintransporter bei von der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHD)
betroffenen Erwachsenen im Vergleich zu Normalpersonen gefunden. Es wurde nachgewiesen, daß Methylphenidat
die Dichte der Dopamintransporter im Striatum reduziert und somit das am synaptischen Spalt vorhandene Dopamin
erhöht. Es ergibt sich somit eine rationale Basis für die ADHD-Therapie mit Ritalin®. Hinsichtlich Nebenwirkungen ist
Ritalin ®als ausgezeichnet verträglich anzusehen, ernsthafte Komplikationen wie beim Pemolin sind nicht bekannt. Im
Hinblick auf die Gefahr, daß unter ADHD leidende Kinder im späteren Leben ein Suchtproblem entwickeln, ist eine
rechtzeitige Behandlung mit Ritalin® als prophylaktisch günstig und nicht als bahnend anzusehen.
Schlüsselwörter: Methylphenidat, Ritalin, chemische Struktur, Wirkmechanismus, Pharmakokinetik, Nebenwirkungen.

Einleitung Historischer Rückblick noch unbekannt. Generell sollte ge-


Ende 1999 wurden in den USA die mit Leandro Panizzon, ein bei der CIBA tä- mäß der damaligen Empfehlung mit
Spannung erwarteten Resultate der tiger Arzneimittelchemiker, syntheti- diesem Mittel nach „durchwachter
MTA-Studie, in der prospektiv verschie- sierte 1944 Methylphenidat, das man durchgrübelter Nacht“ die Leistungs-
dene Therapie-Optionen bei der Auf- als mildes Psychostimulanz klassifizier- fähigkeit für den kommenden Tag wie-
merksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts- te. Im Selbstversuch beeindruckte den derhergestellt werden können.
störung (ADHD) verglichen worden Entdecker seine Substanz wenig, wäh- Ritalin® wurde als harmlose Substanz
waren, veröffentlicht. Es bestätigte sich rend seine Frau Marguerite von der eingeschätzt - in der Wiener Medizini-
eindrucksvoll, was mit diesem Krank- belebenden Wirkung durchaus profi- schen Wochenschriftstand 1957: „Rita-
heitsbild vertraute Ärzte schon lange tierte: Sie nahm das Mittel, wie sie spä- lin®wirkt milder und länger als Coffein
in der täglichen Praxis immer wieder ter erzählte, gelegentlich vor dem Ten- und die Weckamine und führt nicht zur
erfahren hatten: Als entscheidendes nisspielen ein; und so benannte Paniz- Gewöhnung“ - und war in den deut-
therapeutisches Instrument ist bei der zon die Substanz nach seiner Frau (ab- schen Apotheken rezeptfrei erhältlich.
ADHD die medikamentöse Behandlung gekürzt Rita) Ritalin®. Wie 1954 in der Deutschen Apotheker-
mit Stimulanzien anzusehen, die einer Zeitung zu lesen war, wurde Ritalin®
intensiven Verhaltenstherapie eindeu- Von Rita zu Ritalin gern als Antidepressivum und Appetit-
tig überlegen war. Daß sich zwischen Leandro Panizzon, ein bei der zügler eingesetzt. Der vollkommen frei-
einer rein medikamentösen Therapie CIBA tätiger Arzneimittelchemi- zügige Umgang mit dem Psychostimu-
und einer kombiniert medikamentösen ker, synthetisierte 1944 Methyl- lanz führte dann zunehmend zu Kritik
und verhaltenstherapeutischen Be- phenidat. Der Entdecker benann- - in den USA engagierten sich beson-
handlung keine signifikanten Unter- te dann die Substanz nach seiner ders die Scientologen gegen diese Sub-
schiede finden ließen, unterstreicht Frau (abgekürzt Rita): Ritalin®. stanz wie gegen jede Form von Psycho-
zusätzlich die Bedeutung der Medikati- pharmaka-Therapie und Psychiatrie
on. Nach heutigen Erkenntnissen ist es 1954, 10 Jahre nach der Synthetisie- (was bei Kenntnis der psychopatholo-
somit als Kunstfehler anzusehen, wenn rung, wurde Ritalin® dann auf den gischen Auffälligkeiten des Sektengrün-
Patienten mit einer ausgeprägten Markt gebracht, und zwar mit den Indi- ders Hubbard nicht sonderlich über-
ADHD eine Therapie mit Stimulanzien kationen „gesteigerte Ermüdbarkeit“, rascht). Auch in der Drogenszene hat-
vorenthalten wird. Als Mittel der er- „depressive Verstimmungszustände“ ten die Stimulanzien eine gewisse Be-
sten Wahl gilt nach wie vor Methyl- und „Rekonvaleszenz“ - das Krankheits- deutung erlangt - hier waren vor allem
phenidat (z. B. Ritalin® ). bild der ADHD war zu diesem Zeitpunkt die Trockenampullen für die parentera-

Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“ © Kirchheim-Verlag Mainz 23


Originalia

Tab. 2: Klinisch-psychologische Diagnostik

● Intelligenzdiagnostik, z. B. WPPSI-R, HAWIK III


● Leistungstests, z. B. Rechtschreibtests, Lesetests, Sprachtests
● Konzentrationstests, auch rechnergesteuert, z. B. Wiener Testsystem
● Fragebögen für Eltern, Erzieher u. Lehrer, z. B. CBCL 4-18, VBV 3-6
● Persönlichkeitsfragebögen, z. B. PFK 9-14, AFS, Depressions-Fragebogen
● strukturierte Interaktionsbeoachtung, z. B. Hausaufgaben, Regelspiel
● freie Interaktionsbeobachtung während des Spiels mit der Familie

wünscht darzustellen. Eine Einschät- Für diese Fragebögen gilt, ebenso


zung durch den Lehrer ist zum Ver- wie bei den Eltern- und Erzieherfrage- Korrespondenzadresse
gleich mit einem entsprechenden Fra- bögen, daß sie nur einen ersten Dipl.-Psych. Gisela Fröhlich
gebogen möglich. Eindruck einer Störung vermitteln. Sie Psychol. Psychotherapeutin
Das Depressionsinventar für Kin- ersetzen zur genauen Diagnose einer Kinderzentrum München - Institut für
der und Jugendliche (DIKJ, 8-16 Persönlichkeits- oder emotionalen Stö- Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin
Jahre) ist kürzlich neu normiert er- rung keinesfalls eine ausführliche Fa- Heiglhofstr. 63
schienen. Bei 26 Aussagen soll das Kind milienanamnese und differenzierte Ex- 81377 München
auf einer 3stufigen Skala entscheiden, ploration und Beobachtung des Kin- Tel.: (089) 71009231
inwieweit diese auf es zutreffen. des. Fax: (089) 71009248

Adressen von Selbsthilfegruppen


Arbeitskreis Überaktives Kind e.V. Bundesarbeitsgemeinschaft zur Förderung der
Bundesgeschäftsstelle Kinder und Jugendlichen mit Teilleistungs-
Dieterichstraße 9 störungen e.V.
30159 Hannover Postfach 45 02 46
Tel.: (0511) 3 63 27 29 50877 Köln
Fax: (0511) 3 63 27 72 Tel.: (0221) 4 99 59 98, Fax: (0221) 49 14 64
Ansprechpartnerin: Frau Büge-Lomba E-Mail: BAG-TL@t-online.de
Ansprechpartner:
Bundesverband der Elterninitiativen zur Förde- Frau Asmuth, Frau Schulte, Herr Eichler
rung hyperaktiver Kinder e. V.
Postfach 60 Selbständigkeitshilfe bei Teilleistungsschwächen
91291 Forchheim e. V. (SEHT)
Tel./Fax: (09191) 34874 Bundesvereinigung
Internet: http://www.osn.de/user/hunter/badd.htm Niedererstraße 105, 67071 Ludwigshafen
E-Mail: BVdE@t-online.de Tel.: (0621) 6858842, Fax: (0621) 6858743
Ansprechpartnerin: Irene Braun Ansprechpartner: Dr. W. Herrmann

AdS e. V. Verein zur Förderung der Kinder mit cerebraler


Elterninitiative zur Förderung von Kindern mit Aufmerk- Dysfunktion
samkeitsdefizit-Syndrom mit/ohne Hyperaktivität Friedemann-Bach-Str. 1, 82166 Gräfelfing
Postfach 1165 Tel.: (089) 8 54 31 41, Fax: (089) 85 21 66
73055 Ebersbach Internet. www.mcd.de
Tel./Fax: (07163) 2855 E-Mail: J.Kindereit@mcd.de

22 Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“© Kirchheim-Verlag Mainz


kann auch entschieden werden, welche
Das Wichtigste für die Praxis . . . Komponenten der Aufmerksamkeit
● ADHD ist im Prinzip schwierig zu diagnostizieren. untersucht werden sollen, z. B.
● Jede verkürzte Diagnostik birgt die Gefahr in sich, tatsächlich Betroffene ● Aufmerksamkeit und Aufmerksam-
nicht identifizieren zu können, aber auch diese Diagnose leichtfertig keitsspanne bei immer wiederkeh-
einem Kind mit auffälligem Verhalten zuzuordnen. renden Aufgaben (z. B. 20 Min.):
● Jeder Arzt und Psychologe muß wissen, daß einerseits tatsächlich Betrof- kurze Zeiten zwischen den Darbie-
fene nach einer umfassenden Diagnostik auch intensiv medikamentös tungen, viele kritische Reize oder
und psychotherapeutisch betreut werden müssen. Andererseits stigma- ● Vigilanz, d. h. Ausmaß der Aufmerk-
tisiert eine unpräzise Diagnostik Kinder und ihre Familien, die eigentlich samkeit auf selten auftretende Rei-
nicht von diesem Krankheitsbild betroffen sind. ze: größere Pausen zwischen den Rei-
● Der Standard international anerkannter Diagnostik läßt erkennen, daß zen und selteneres Auftreten der
der Kinderarzt Partner auf der psychologischen und psychotherapeuti- kritischen Reize,
schen Seite benötigt. Dies gilt umgekehrt ebenso für Psychologen und um nur einige Aspekte der Aufmerk-
Psychotherapeuten. samkeit zu nennen, die auch im Unter-
● Verhalten und Verhaltensstörungen sind multifaktoriellen Einflüssen richt eine Rolle spielen können.
ausgesetzt. Beim Verdacht auf Vorliegen einer ADHD muß in sorgfältig Die Reaktionszeiten können der rech-
durchdachten Schritten versucht werden, die Persönlichkeit des betrof- nergesteuerten Auswertung über ver-
fenen Kindes aus den erhobenen Untersuchungsergebnissen abzubil- schiedene Zeitabschnitte der Aufgabe
den. entnommen werden. Damit sind Aussa-
gen über die Art der Störung möglich,
wie beispielsweise rascher Abfall der
natürliche Umfeld bezieht. Dies kann aussetzungen für das Gelingen der Konzentration, Schwankungen im Ver-
aber zusätzlich anhand von Videoauf- Aufgaben sind. lauf des Tests oder auch lange Gewöh-
nahmen mit beurteilt werden, die die Günstiger sind einfache Aufgaben am nungsphase an die Aufgabe bei dann
Eltern zu Hause bei problematischen Computer, bei denen das Kind bei Auf- stabiler Aufmerksamkeit.
Situationen anfertigen. treten eines bestimmten Reizes nur eine
Taste drücken muß. Für ältere Kinder Wichtig: gesamte Persön-
Konzentrationstests gibt es den normierten Continuous lichkeit sehen
Tests erlauben immer die direkte Ein- Performance Test (9-14 Jahre) aus Letztendlich müssen aber alle
schätzung eines Problems durch den den USA. Im deutschsprachigen Raum überprüften Leistungen im Zu-
Untersucher, wenn auch in der Laborsi- empfiehlt sich z. B. das Wiener Deter- sammenhang mit der Gesamtper-
tuation. Der Vorteil ist, daß auch Fein- minationsgerät, bei dem Farben und sönlichkeit eines Kindes gesehen
heiten beispielsweise beim Abfall der Töne zugeordnet werden, normiert ab werden. Vor allem, wenn sich aus
Konzentration und Motivation wäh- 7 Jahre. Möglicherweise können fein- den Beschreibungen der Erwach-
rend der Aufgabe beobachtet werden motorische Probleme bei der Messung senen und den eigenen Beobach-
können. Im Gespräch, gerade bei älte- der Reaktionszeit eine Rolle spielen, da tungen Hinweise auf emotionale
ren Kindern, können unmittelbar Be- die Tasten fest gedrückt werden müs- Störungen ergeben.
dingungen erfragt werden, die hinder- sen. Es gibt unterschiedlich schwierige
lich für andauernde Aufmerksamkeit Versionen. Persönlichkeitsfragebögen
sein können („woran denkst du gerade, Der UntertestDaueraufmerksam- Für ältere Kinder gibt es Fragebögen zu
was hast du von draußen gehört, was keit aus dem Wiener Testsystem verschiedenen Bereichen, bei denen sie
würde dir jetzt helfen, aufmerksam hat zwar nur Normen für Erwachsene, einschätzen sollen, ob eine bestimmte
weiter zu arbeiten“ usw.). Papier- und eignet sich aber sehr gut zur intraindi- Aussage auf sie zutrifft oder nicht.
Bleistift-Tests, z. B. der Test d2 oder viduellen Verlaufskontrolle bei Thera- Der Persönlichkeitsfragebogen
der Konzentrationstest für 3. und pien. Er kann auf die Bedürfnisse einer für Kinder (PFK 9-14) erfragt die
4. Klassen, beinhalten für eine ein- bestimmten Patientengruppe oder ei- Einschätzung des Kindes bezüglich sei-
deutige Diagnose einer ADHD zu viele nes Kindes abgestimmt werden. Auf nes Selbstbildes, seiner Motive für eige-
parallele Informationen. dem Bildschirm erscheint kurzzeitig eine nes Handeln und seiner Verhaltensstile.
Es müssen in der Regel aus visuellen Reihe von Dreiecken. Das Kind muß Da der Fragebogen sehr umfang-
Vorlagen bestimmte Zeichen oder Bil- eine Taste (leicht) drücken, wenn eine reich ist, was ebenso für die Auswer-
der angekreuzt werden. Dabei wird bestimmte Anzahl der Dreiecke mit der tung gilt, empfiehlt sich die computer-
häufig übersehen, daß z.B. Spitze nach unten zeigt. gesteuerte Fassung.
1. gutes Sehen (Kontrolle durch den Die Anzahl der Dreiecke, die Darbie- Der Angstfragebogen für Schü-
Augenarzt!), tungszeit, die Pausenzeit zwischen den ler (AFS, 9-17 Jahre) beinhaltet Aus-
2. altersgerechte Wahrnehmung räum- Darbietungen und die Anzahl der kriti- sagen zu Prüfungsangst, allgemeiner
licher Beziehungen und schen Reize (Dreieck mit der Spitze nach (manifester) Angst, Schulunlust und
3. visuo-motorische Fähigkeiten Vor- unten) können variiert werden. Damit erfaßt die Tendenz, sich als sozial er-

Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“ © Kirchheim-Verlag Mainz 21


Originalia

tende Probleme erfragt werden kön-


Tab. 1: Abgrenzung zu anderen Störungen nen. Die Child Behavior Checklist 4-
18 (Achenbach 1991, deutsche Bear-
● Minderbegabung/Hochbegabung
beitung und Normierung der Arbeits-
● Teilleistungsstörungen gruppe um M. Döpfner in Entwicklung)
● emotionale Störungen ist von 4-18 Jahre normiert und enthält
● organische Störungen wie auch Syndrome, z. B. fragiles X-Syndrom jeweils einen Fragebogen für Eltern und
Lehrer über Kompetenzen, Verhaltens-
auffälligkeiten und emotionale Auffäl-
möglicherweise vorliegenden ADHD tung der Testsituation erforderlich.Am ligkeiten des Kindes bzw. Jugendlichen.
genauer überprüft werden sollten. Ende einer solchen Diagnostik sollte die Es gibt ebenfalls eine Version für 2- bis
Entscheidung stehen, ob beispielsweise 3jährige Kinder und einen Selbstbeur-
Spezifische Leistungstests unterdurchschnittliche Ergebnisse auf teilunsgbogen für Jugendliche und jun-
Bei Verdacht auf umschriebeneRecht- kognitive Defizite oder mangelnde ge Erwachsene.
schreibstörungen liegen standardi- Motivation bzw. Konzentration - die ja Gerade neu erschienen ist das Dia-
sierte Verfahren für die verschiedenen für die Therapieplanung wichtig ist - gnostik-System für psychische Stö-
Klassenstufen vor ( z. B. Diagnosti- zurückzuführen sind. rungen im Kindes- und Jugendal-
scher Rechtschreibtest DRT 1, 2, 3, 4, Ergänzt wird die strukturierte Ver- ter nach ICD-10/DSM-IV (Döpfner
5, Rechtschreibtest für 6. und 7. Klassen haltensbeobachtung durch Interakti- und Lehmkuhl), das sich jedoch noch in
RST 6-7). Es handelt sich um Lückendik- onssituationen mit den Eltern, gegebe- der Normierungsphase befindet. Es gibt
tate, d.h. das Kind muß einzelne kriti- nenfalls auch Geschwistern, während momentan Normwerte für einen Fra-
sche Wörter in Sätzen ergänzen. der Hausaufgaben und während eines gebogen (6-10 Jahre) zum sogenann-
Ebenso kann dieLesefähigkeitbei- Regelspiels. ten hyperkinetischen Syndrom für El-
spielsweise mit dem Zürcher Lesetest Das Verhalten des Kindes kann aber tern, Lehrer und Erzieher, an einer
von der 2. bis zur 6. Klasse standardi- in überschaubaren Situationen wenig Stichprobe von 327 Kindern erhoben.
siert überprüft werden. Beim Vorlesen auffällig sein, so daß eine freie Spiel- Bereits seit 1993 gibt es denVerhal-
von Wortlisten und kurzen Texten wird oder Gesprächssituation ein realistische- tensbeurteilungsbogen für Vor-
die Anzahl der Fehler und die benötig- res Bild seiner Probleme gibt. Dabei ist schulkinder (3-6 Jahre) in einer Versi-
te Zeit notiert und mit den Normwer- die Video-Dokumentation der Interak- on für die Eltern und einer für die Erzie-
ten verglichen. tions- und Kommunikationsfähigkeit herinnen im Kindergarten.
Sprach- und Sprachverständnis- des zu untersuchenden Kindes häufig Er wurde ebenfalls von M. Döpfner
störungen können ebenfalls mit nor- unverzichtbar. Die Einverständniserklä- mit Mitarbeitern entwickelt. Der Fra-
mierten Verfahren näher bestimmt rung der Eltern muß dazu vorliegen. gebogen erfaßt sozial-emotionale Kom-
werden, bei jüngeren Kindern beispiels- Für die Gestaltung dieser Beobach- petenz, oppositionell-aggressives Ver-
weise mit dem Psycholinguistischen tungssituationen sind die Informatio- halten, Aufmerksamkeitsschwächen
Entwicklungstest (PET), bei älteren nen aus den Fragebögen für die Be- und Hyperaktivität versus Spielausdau-
Kindern mit dem Heidelberger zugspersonen des Kindes sehr hilfreich. er und emotionale Auffälligkeiten.
Sprachentwicklungstest (HSET). Allen Eltern/Erzieher-Fragebögen ist
Fragebögen für Eltern, Erziehe- gemeinsam, daß die Erwachsenen an-
Verhaltensbeobachtung rinnen und Lehrer hand einer maximal 5stufigen Skala ein-
Die strukturierte und standardisierte Es gibt verschiedene Rating-Skalen, die schätzen sollen, wie ausgeprägt ein
Durchführung der genannten Tests eig- auf die Einschätzung einer ADHD im Symptom oder eine Fähigkeit ist. In der
net sich sehr gut, um Verhaltensweisen Verlauf von Medikamentengabe abzie- Praxis hat sich gezeigt, daß die Antwor-
zu beobachten, die bei vielen Kindern len. Am häufigsten werden die Con- ten häufig im mittleren Bereich ange-
mit einem Aufmerksamkeitsdefizit-Syn- ners-Skalen verwendet, die zuletzt kreuzt werden - vor allem, wenn der
drom typisch sind. Machen sie eine ge- 1997 revidiert wurden. Erwachsene sich nicht spontan für eine
zielte Diagnostik unmöglich, empfiehlt Einschätzung entscheiden kann („so
sich häufig ein verhaltenstherapeuti- Conners-Skalen schlimm ist er auch nicht“ - Ankreuzen
sches Vorgehen bei der Testdurchfüh- Es gibt verschiedene Rating-Ska- bei „manchmal“). Nur bei extremen
rung, damit eindeutige Aussagen über len, die auf die Einschätzung ei- Verhaltensweisen des Kindes gelingt
Fähigkeiten und Defizite des Kindes ner ADHD im Verlauf von Medi- eine eindeutige Beurteilung. Der spon-
möglich sind. Es müssen dann u. U. kamentengabe abzielen. Am häu- tane Bericht der Eltern über das Kind
mehrere Sitzungen durchgeführt wer- figsten werden die Conners-Ska- hört sich häufig wesentlich negativer
den, als dies bei der Testkonstruktion len verwendet. an. Daher sollten die Informationen aus
vorgesehen ist. Wichtig ist, daß das zu den Rating-Skalen keinesfalls einzige
untersuchende Kind kooperativ ist. In- Andere Fragebögen erfassen meh- Grundlage für eine Therapieentschei-
sofern ist nicht selten eine Phase der rere Bereiche kindlichen Verhaltens, so dung sein. Der Vorteil der Fragebögen
verhaltenstherapeutischen Vorberei- daß auch zum ADHD parallel auftre- ist, daß sich die Beobachtung auf das

20 Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“© Kirchheim-Verlag Mainz


meinsamen Gespräch
mit Kind und Eltern Klinisch-psychologischer
geben erste Hinweise Standard . . .
auf das weitere dia- . . . zur Diagnostik einer ADHD ist
gnostische Vorgehen. die Information aus Beobach-
Schulprobleme müssen tungsbögen (rating-scales) sowie
in jedem Fall mit Intel- direkte strukturierte Interaktions-
ligenz- und Schullei- beobachtung in unterschiedlichen
stungstests abgeklärt Situationen, Intelligenzdiagnostik
werden, um kognitive und Persönlichkeitsdiagnostik
Defizite und Teillei- durch einen Psychologen oder
stungsstörungen zu Arzt bzw. durch beide Fachgrup-
erfassen. Ebenso sollte pen, die sich ergänzen sollten.
eine mögliche Hochbe-
gabung verifiziert wer-
den. In diesem Ge- Intelligenztests
spräch sollte auch er- Zur Einschätzung der kognitiven Fähig-
wähnt werden, daß die keiten sollte man möglichst neu nor-
Mitarbeit der Eltern für mierte Verfahren verwenden, die so-
die weitere Diagnostik wohl nonverbale als auch verbale Lei-
Voraussetzung ist. Un- stungen überprüfen. Für den deutsch-
verzichtbar dabei ist sprachigen Raum sind dies der Ham-
die Erhebung der Fa- burg-Wechsler Intelligenztest für
milienanamnese (ge- Kinder (HAWIK III, 6-16;11 Jahre) bzw.
häuftes Auftreten von für das Vorschulalter (HAWIVA, 4-6 Jah-
ADHD in der Familie, re); letzterer wird gerade neu normiert.
Das Verhalten des Kindes kann in überschaubaren Situatio- Ehe, Trennung und Um Differenzen zwischen den Unter-
nen wenig auffällig sein. Eine freie Spiel- oder Gesprächs- Scheidung, Geschwi- tests besser beurteilen zu können, emp-
situation gibt daher ein realistischeres Bild seiner Proble- ster-Rivalität, Wohnsi- fiehlt sich momentan noch die revidier-
me. tuation, Sozialstatus, te englische Version Wechsler Pree-
Arbeitslosigkeit usw.). school and Primary Scale of Intel-
Alle weiteren dia- ligence -UK (WPPSI-R, 2;11-7;3 Jahre).
und das Vorrücken in die nächste Klas- gnostischen Maßnahmen ergeben sich Bei diesen Verfahren werden 5 bzw.
senstufe ist gefährdet. Liest man die durch die Beobachtungen und Unter- 6 verbale und 5 non-verbale Bereiche
Zeugnisse chronologisch, geht es nicht suchungsergebnisse der fortlaufenden überprüft: allgemeines Wissen und Ver-
nur um schlechte Noten. Auch die Be- ärztlichen und psychologischen Diagno- ständnis, rechnerisches Denken, Finden
schreibung des Verhaltens und der Mit- stik. Letztendlich muß entschieden von Oberbegriffen, Wortschatz, audi-
arbeit im Unterricht läßt ahnen, welche werden, ob mangelnde Konzentration tives Kurzzeitgedächtnis (Zahlenreihen,
Probleme das Kind hat und dem Lehrer und Unruhe Ursache oder Folge von HAWIK III), Visuo-Motorik (Zeichnen
macht. anderen Störungen ist bzw. welche Stö- geometrischer Figuren bzw. Labyrin-
rungen parallel auftreten und vonein- the), Wahrnehmung räumlicher Bezie-
Therapie sinnvoll planen ander abzugrenzen sind („Läuse und hungen (Mosaikmuster, Puzzles), Erken-
Es ist notwendig, bei Kindern mit Flöhe“). nen fehlender Teile auf Bildern (WPPSI-
dem Verdacht auf spezifische Auf- Klinisch-psychologischer Standard R) und Bildergeschichten anordnen (HA-
merksamkeitsstörungen diese zur Diagnostik einer ADHD - beispiels- WIK III).
möglichst frühzeitig mit Hilfe ei- weise auch bei der sehr gut kontrollier- Zum Teil unterliegen die Aufgaben
ner umfassenden ärztlich-psycho- ten MTA-Studie (Multimodality Treat- einer Zeitbegrenzung bzw. es werden
logischen Diagnostik nachzuwei- ment of ADHD, 1999) des National In- Zusatzpunkte für schnelles Bearbeiten
sen, auszuschließen oder parallel stitutes of Health in USA - ist die Infor- gegeben.
auftretende Störungen einzu- mation aus Beobachtungsbögen (rating- Da „Intelligenz“ ein Konstrukt aus
grenzen. Nur so kann eine sinn- scales) für Eltern, Erzieherinnen und verschiedenen Fähigkeiten ist, die in
volle Therapieplanung erfolgen. Lehrer sowie direkte strukturierte In- den Tests gemessen werden, kann ein
teraktionsbeobachtung in unterschied- erster Eindruck über das Vorliegen von
Anamnese und Einstiegs- lichen Situationen, Intelligenzdiagno- umschriebenen Teilleistungsstörungen
diagnostik stik und Persönlichkeitsdiagnostik durch gewonnen werden, beispielsweise im
Die Erhebung der Anamnese mit den einen Psychologen oder Arzt bzw. Rechnen, in der Sprachentwicklung, im
Eltern durch den Arzt und Psychologen durch beide Fachgruppen, die sich er- Sprachverständnis, Lesen und Schrei-
sowie eine erste Beobachtung im ge- gänzen sollten (Tab. 2). ben, die differentialdiagnostisch zur

Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“ © Kirchheim-Verlag Mainz 19


Originalia

Psychologische Aspekte
bei ADHD
Welche Testverfahren gibt es?
Gisela Fröhlich
Kinderzentrum München, Institut für Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität München

Zusammenfassung
Aufmerksamkeits-und Hyperaktivitätsstörungen bei Kindern haben viele Aspekte. Sie sollten daher von ärztlicher
und psychologischer Seite sorgfältig untersucht und gegen andere Störungen abgegrenzt werden, bevor einschnei-
dende Therapiemaßnahmen getroffen werden. Genetische Faktoren ebenso wie das familiäre Umfeld und soziale
Bedingungsgefüge sind in die Diagnostik und Therapie mit einzubeziehen. Dabei helfen psychometrische Verfahren,
Fragebögen für Eltern und Erzieher bzw. Lehrer und Verhaltensbeobachtungen in verschiedenen „settings“ durch
speziell ausgebildete Psychologen und Ärzte, die Probleme und ihr Bedingungsgefüge zu identifizieren, um ein
individuell abgestimmtes Therapiekonzept einzuleiten.
Schlüsselwörter: Diagnostik, ADHD, Testverfahren, psychometrische Verfahren, Fragebögen.

Einleitung oder Depressionsfragebögen für die bar sind, kommen Eltern oft bereits mit
Aufmerksamkeitsdefizite, Konzentrati- Kinder/Jugendlichen selbst geben zu- dem Wunsch, das Kind „auf ADHD“
onsstörungen, motorische Unruhe, Im- sätzlich einen Einblick in die emotiona- untersuchen zu lassen. Sie erkennen in
pulsivität, oppositionelles Verhalten, le Entwicklung. Probleme in diesen Be- den verfügbaren Informationen - z. B.
mangelnde Ausdauer bei Spielen und reichen können ebenfalls zu erhebli- „Eltern-Ratgeber“ im Buchhandel - ihr
Schularbeiten oder Probleme mit Gleich- chen Störungen der Kommunikation Kind wieder und haben den Eindruck,
altrigen können bei Kindern Sympto- und Interaktion mit der Umwelt füh- daß „dort mein Kind beschrieben“ wur-
me vielfältiger Entwicklungsstörungen ren, die mit Anzeichen einer ADHD de. Wenn sie auch erfahren haben, daß
sein. Aber auch Kinder, die in ihrer Ent- verknüpft sein können. die ADHD eine hirnorganische Störung
wicklung ihrem Alter weit voraus sind Auch bei verschiedenen Syndromen, ist - also nichts mit „falscher Erziehung“
(z. B. Hochbegabte), zeigen häufig sol- z. B. fragiles X-Syndrom, ist mangelnde zu tun hat - und einer Medikamenten-
che Verhaltensweisen. Standardisierte Aufmerksamkeit und Unruhe ein typi- einnahme positiv gegenüberstehen,
Entwicklungs- und Intelligenztests sind sches Merkmal. Tabelle 1 zeigt, wie warten sie dann u. U. nur noch auf die
diagnostisch der Einstieg zur Einschät- ADHD von anderen Störungen abge- Ausstellung eines Rezepts. Sie hoffen,
zung einer möglichen kognitiven Un- grenzt werden kann. daß mit Hilfe von Medikamenten die
ter- oder Überforderung, die zu oben Probleme beseitigt sein werden.
beschriebenen Störungen führen kann. Patienten-Karrieren
Sie geben außerdem Hinweise auf mög- Mangelnde Aufmerksamkeit, motori- Viele Eltern hoffen, daß mit
liche Teilleistungs-Störungen. Fragebö- sche Unruhe, Verweigerung bei Anfor- Hilfe von Medikamenten die
gen für Eltern, Erzieherinnen im Kin- derungen oder übermäßige Ablenkbar- Probleme beseitigt werden
dergarten oder Lehrer zur Einschätzung keit: Diese Verhaltensweisen geben El- können.
des Spiel-, Leistungs- und Sozialverhal- tern immer häufiger in der kinderärzt-
tens enthalten wichtige Informationen lichen und psychologischen Praxis oder Andere Eltern haben bereits einen „Rita-
über Situationen, die der Untersucher im Sozialpädiatrischen Zentrum als Ur- lin-Versuch“ hinter sich und haben ei-
nicht selbst beobachten kann. Werden sache für unangemessenes Verhalten genmächtig das Medikament abgesetzt,
spezifische Leistungs- und Konzentra- im Kindergarten oder schlechte Schul- da es „sowieso nichts gebracht“ hat.
tionstests durchgeführt, können unmit- leistungen an. Auch das Zusammenle- Nun suchen sie an einer anderen Stelle
telbar Aufmerksamkeitsdefizite beob- ben in der Familie wird durch solche Beratung, in der Hoffnung, daß sich
achtet werden. Tiefenpsychologische Verhaltensweisen erschwert. Da durch „endlich etwas tut“. Mittlerweile ist
Verfahren, Persönlichkeitstests, Angst- die Medien Informationen gut verfüg- das Kind u. U. bereits in der 4. Klasse

18 Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“© Kirchheim-Verlag Mainz


liären Rahmenbedingungen möglicher-
weise etwas relativieren. Von den Be- Tab. 2: Differentialdiagnose zum hyperkinetischen Syndrom bei
zugspersonen ausgefüllte Beurteilungs- Kindern
fragebögen (z. B. Connors-Skalen, DI-
SYPS-KJ) können darüber hinaus von Emotional/psychisch
Nutzen sein. ● kontinuierliche Überforderung/Erschöpfungszustand
● Vernachlässigung/Mißhandlung/sexuelle Gewalt
Bei der Abklärung einer eventuell
● schwere Krankheiten in der Familie
bestehenden Intelligenzminderung, ei- ● familiäre psychosoziale Belastungen: Arbeitslosigkeit, Sucht etc.
ner umschriebenen Entwicklungs- bzw. ● Depression
Lernstörung (Teilleistungstörungen) ● manische bzw. schizophrene Episoden
oder der Feststellung einer begleiten- ● mobbing
den emotionalen Störung leistet die ● Außenseiterrolle (Ausländer etc.)
testpsychologische Diagnostik einen
wichtigen Beitrag. Eine körperlich-neu- Kognitiv
rologische Untersuchung inklusive La- ● Intelligenzminderung
● Hochbegabung
boruntersuchung (z. B. Schilddrüsen-
● umschriebene Teilleistungsstörungen
funktionsstörung) und eine EEG-Unter-
suchung (akute oder chronische cere- Somatisch
brale Erkrankung) runden das Prozede- ● Seh- und Hörstörungen
re ab. ● Epilepsie
● ZNS-Tumor
Differentialdiagnostik und ● Tic
Komorbidität ● Hyperthyreose
Wie schon angesprochen, besteht die ● Sydenham-Chorea
Gefahr, ein Kind zu schnell diagnostisch ● Übermüdung und Erschöpfung/Fernsehkonsum
● fehlendes körperliches/sportliches Training
einzuordnen als primär hyperkinetisch
● Medikamenten-Nebenwirkungen (Antihistaminika, Psychopharmaka, Vitamine
oder aufmerksamkeitsgestört. Im Hin- etc.)
blick darauf ist zunächst in jedem Ein- ● Drogen
zelfall zu hinterfragen, inwieweit das
von den Eltern beklagte Aktivitätsni-
veau bzw. Aufmerksamkeitsdefizit ei- von organischer Seite Seh- oder Hör- denz, die manchmal eine erfolgreiche
nes Kindes noch in der Altersnorm liegt störungen bzw. Medikamente (z. B. An- medikamentöse Therapie erschwert.
und hier vor allem eine unangemessene tihistaminika) evidente Aufmerksam-
Erwartungshaltung korrigiert werden keitsprobleme bedingen. Ebenso kön-
muß. Zu berücksichtigen ist ferner, daß nen organisch-neurologische Störun-
Kinder aus einem schlecht organisier- gen wie Epilepsie, Hyperthyreose, eine
ten, inadäquaten oder emotional stark Sydenham-Chorea oder Erschöpfungs-
belasteten Milieu fälschlich als primär zustände im Rahmen oder Gefolge so-
aufmerksamkeitseingeschränkt bzw. matischer Erkrankungen einmal die
aggressiv-hyperaktiv imponieren. Mas- Ursache für ein hyperkinetisches Syn-
sive Vernachlässigung und Mißhand- drom sein.
lung des Kindes, chronische Übermü- In die differentialdiagnostischen
dung, grenzenloser Fernsehkonsum Überlegungen mit einzubeziehen ist
und mangelnde körperlich-sportliche schließlich der bedeutende Aspekt, daß
Betätigung können im Einzelfall zumin- hyperkinetische Störungen eine hohe
dest als kausale Kofaktoren wirken. Komorbiditätsrate für eine Reihe ande- Korrespondenzadresse
Differentialdiagnostisch (Tab. 2) zu rer kinder- und jugendpsychiatrischer Dr. med. Franz Joseph Freisleder
bedenken ist, daß sich ursächlich hinter Diagnosen aufweisen: Für den schuli- Facharzt für Psychiatrie und
einem hyperkinetischen Syndrom im schen Kontext spielen hier die umschrie- Neurologie, Psychotherapie
Kindesalter eine bislang nicht erkannte benen Entwicklungsstörungen eine her- Facharzt für Kinder- und Jugend-
Intelligenzminderung oder eine tiefgrei- ausragende Rolle. Die relativ häufige psychiatrie und -psychotherapie
fende Entwicklungsstörung verbergen Kombination mit Störungen der Emo- Ärztlicher Direktor der Heckscher-
können. Im Jugendalter kann eine Auf- tionen und vor allem des Sozialverhal- Klinik für Kinder- und Jugendpsychia-
merksamkeitsstörung auch Ausdruck ei- tens bringt meist erheblich schlechtere trie und -Psychotherapie des Bezirks
ner Depression und motorische Über- Therapieresultate und damit eine un- Oberbayern
aktivität Symptom einer manischen günstigere Prognose mit sich. Keine Heckscher Straße 4 + 9, 80804 Mün-
bzw. schizophrenen Episode oder einer Seltenheit ist schließlich das Zusammen- chen, Tel.: (089) 36097-100, Fax: (089)
Panikstörung sein. Desweiteren können treffen mit Tic-Störungen; eine Koinzi- 36097-102

Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“ © Kirchheim-Verlag Mainz 17


Originalia

Tab. 1: Synopsis der Symptomkriterien nach ICD-10 und DSM-IV (nach Döpfner, 2000)

Unaufmerksamkeit
1. Beachtet häufig Einzelheiten nicht oder macht Flüchtigkeitsfehler bei den Schularbeiten, der Arbeit oder anderen
Tätigkeiten.
2. Hat oft Schwierigkeiten, längere Zeit die Aufmerksamkeit bei Aufgaben oder Spielen aufrecht zu erhalten.
3. Scheint häufig nicht zuzuhören, wenn andere ihn ansprechen.
4. Führt häufig Anweisungen anderer nicht vollständig durch und kann Schularbeiten, andere Arbeiten oder Pflichten am
Arbeitsplatz nicht zu Ende bringen (nicht auf Grund von oppositionellem Verhalten oder Verständnisschwierigkeiten).
5. Hat häufig Schwierigkeiten, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren.
6. Vermeidet häufig, hat eine Abneigung gegen oder beschäftigt sich häufig nur widerwillig mit Aufgaben, die länger
andauernde geistige Anstrengungen erfordern (wie Mitarbeit im Unterricht oder Hausaufgaben).
7. Verliert häufig Gegenstände, die er/sie für Aufgaben oder Aktivitäten benötigt (z. B. Spielsachen, Hausaufgabenhefte,
Stifte, Bücher oder Werkzeug).
8. Läßt sich oft durch äußere Reize leicht ablenken.
9. Ist bei Alltagstätigkeiten häufig vergeßlich.

Hyperaktivität
1. Zappelt häufig mit Händen oder Füßen oder rutscht auf dem Stuhl herum.
2. Steht (häufig) in der Klasse oder in anderen Situationen auf, in denen Sitzenbleiben erwartet wird.
3. Läuft häufig herum oder klettert exzessiv in Situationen, in denen dies unpassend ist (bei Jugendlichen und Erwachsenen
kann dies auf ein subjektives Unruhegefühl beschränkt werden).
4. Hat häufig Schwierigkeiten, ruhig zu spielen oder sich mit Freizeitaktivitäten ruhig zu beschäftigen.
5. Ist häufig „auf Achse“ oder handelt oftmals, als wäre er „getrieben“.

Impulsivität
1. Platzt häufig mit der Antwort heraus, bevor die Frage zu Ende gestellt ist.
2. Kann häufig nur schwer warten, bis er/sie an der Reihe ist (bei Spielen oder in Gruppensituationen).
3. Unterbricht oder stört andere häufig (z. B. platzt in Gespräche oder in Spiele anderer hinein).
4. Redet häufig übermäßig viel, ohne angemessen auf soziale Beschränkungen zu reagieren.

neben einem ausgeprägten Aufmerk- Exploration der Eltern und des Kindes hilfreich können zusätzliche Informa-
samkeitsdefizit auch motorische Hyper- zur Anamnese einschließlich einer Ver- tionen aus Kindergarten und Schule
aktivität und Impulsivität vorhanden haltensbeobachtung. Hierbei müssen sein. Dadurch lassen sich auch subjektiv
sein; von dieser wird die prognostisch jedoch nicht immer hyperkinetische gefärbte Elternangaben zu ihrem Er-
ungünstigere hyperkinetische Störung Symptome in Erscheinung treten. Sehr ziehungsverhalten und zu innerfami-
des Sozialverhaltens (F90.1) abgegrenzt.
Dagegen unterscheidet DSM-IV drei
Unterformen: 1. Mischtyp einer Auf- Das Wichtigste
merksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts- für die Praxis . . .
störung; 2. Vorherrschend unaufmerk- ● Eine gewisse diagnostische Unschärfe führte in den vergangenen Jahren
samer Subtyp; 3. Überwiegend hyper- bei den hyperkinetischen Störungen dazu, daß dieser psychiatrische
aktiv-impulsiver Subtyp. Demnach de- Störungsbegriff gelegentlich zu breit ausgelegt wurde.
finiert die ICD-10 lediglich eine Kern- ● Zum anderen wird eine nicht zu geringe Anzahl von betroffenen Kindern
gruppe hyperkinetisch auffälliger Kin- und Jugendlichen bisher nicht richtig diagnostiziert und deshalb auch
der und Jugendlicher, DSM-IV um- nicht adäquat behandelt.
schreibt dagegen unter diesem Stö- ● Unverzichtbare Voraussetzung für eine richtige Diagnose und Behand-
rungsbild ein größeres Auffälligkeits- lung ist eine ausführliche ärztliche Diagnostik durch einen Spezialisten.
spektrum. ● Die Diagnostik soll sich auf die aktuellen psychiatrischen Klassifikations-
systeme beziehen und auch an den erst kürzlich erschienenen „Leit-
Diagnostisches Procedere linien zu Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säug-
Zu einer störungsspezifischen kinder- lings-, Kindes- und Jugendalter“ (Deutscher Ärzteverlag 2000) orientie-
und jugendpsychiatrischen Diagnostik ren.
gehört unabdingbar eine ausführliche

16 Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“© Kirchheim-Verlag Mainz


symptome der ADHD zusammenfas- gulations- und Kompensationsprozes- 37075 Göttingen
send durch ein unzureichendes globa- sen sowie wirksamen therapeutischen Tel.: (0551)
les zentralnervöses „supervidierendes“ Interventionen in Beziehung gesetzt 396727
Inhibitionsvermögen bzw. eine dadurch (Tab. 1, S. 13). Fax: (0551)
bedingte mangelhafte Fähigkeit, Ver- 398120
halten adäquat und situationsgerecht E-Mail:
zu inhibieren, weitgehend erklärt wer- arothen@
den („defizitäre Verhaltensinhibition“). Korrespondenzadresse gwdg.de
Abschließend werden in einem pa- Prof. Dr. Aribert Rothenberger
thophysiologischen Modell der Klinik und Poliklinik für Kinder- und
ADHD die aufgeführten neurobiologi- Jugendpsychiatrie/Psychotherapie
schen Grundlagen zu möglichen Re- von-Siebold-Str. 5

Das A und O:
die richtige Diagnose
Franz Joseph Freisleder
Heckscher-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, München

Zusammenfassung
Ob bei einem verhaltensauffälligen Kind ein hyperkinetisches bzw. hyperaktives Syndrom vorliegt, gehört zu den
häufigsten Fragen an den Kinder- und Jugendpsychiater. Die richtige Diagnosestellung und differentialdiagnostische
Überlegungen bei hyperkinetischen bzw. Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitäts-Störungen werden in diesem Bei-
trag kurz dargestellt.
Schlüsselwörter: Diagnose, Differentialdiagnose, hyperkinetisches Syndrom.

Einleitung fe eine nicht geringe Anzahl von Her- 10 der WHO (1991) und das DSM-IV der
Gerade im ambulanten kinder- und ju- anwachsenden, bei denen erhebliche American Psychiatric Association (Deut-
gendpsychiatrischen Bereich entstand anhaltende Defizite im Bereich der Im- sche Übersetzung 1996). Ihre jeweili-
in jüngerer Zeit nicht selten der Ein- pulskontrolle und des Aufmerksam- gen Störungsbezeichnungen setzen
druck, daß sich folgende Dinge in zwei- keitsverhaltens übersehen oder nicht zwar noch immer unterschiedliche Ak-
erlei Hinsicht auch in Deutschland aus- als entsprechend schwerwiegend ein- zente (ICD-10: hyperkinetische Störun-
wirken: die semantische Weitläufigkeit geschätzt werden. Ihnen wird deshalb gen; DSM-IV: Attention Deficit Hyper-
der psychopathologischen Begriffe „hy- eine oft wirksame Verhaltens- und activity Disorder (ADHD)); sie sind je-
perkinetisch“ oder „hyperaktiv“ und Pharmakotherapie vorenthalten - ver- doch inzwischen in ihren diagnostischen
die „weicheren“ Diagnosekriterien des bunden mit dem Risiko der zusätzli- Kriterien weitgehend identisch (Tab. 1).
- inzwischen überholten - amerikani- chen Etablierung von psychiatrischen Die in Tabelle 1 aufgelistete Sympto-
schen DSM-III aus dem Jahr 1980 für Begleitstörungen. matik muß bereits vor dem Alter von 6
„Attention Deficit Disorder with Hy- Jahren begonnen haben, weitgehend
peractivity (ADDH)“. So wird einerseits Diagnostische Kriterien zeitstabil und situationsübergreifend
bei manchen Kindern mit leichteren Vor dem skizzierten Hintergrund sol- sein, also in mehreren Lebensbereichen
Aufmerksamkeitsproblemen und gele- len Diagnosestellung und differential- wie Familie, Schule und Freizeit auftre-
gentlicher motorischer Unruhe diese diagnostische Überlegungen bei hyper- ten und deutlich stärker imponieren als
Diagnose zu rasch gestellt und deshalb kinetischen bzw. Aufmerksamkeitsde- üblicherweise bei gleichaltrigen Kin-
unnötig eine nicht indizierte Behand- fizit-Hyperaktivitäts-Störungen kurz dern mit gleicher intellektueller Aus-
lung eingeleitet. Andererseits gibt es dargestellt werden. Den Bezugsrahmen stattung.
wegen eines Mangels an Fachleuten für bilden die beiden aktuellen, internatio- Entsprechend ICD-10 müssen für die
dieses Störungsbild und der Gefahr ei- nal gebräuchlichen Klassifikationssyste- Diagnose einer einfachen Aktivitäts-
ner gewissen diagnostischen Unschär- me für psychische Störungen: die ICD- und Aufmerksamkeitsstörung (F90.0)

Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“ © Kirchheim-Verlag Mainz 15


Originalia

tiko-striato-pallido-thalamo-kortikaler h. in unkontrollierbaren Streßreaktio-


Das Wichtigste sensomotorischer Regelkreis), wobei nen. Dagegen führen verminderte An-
für die Praxis . . . hier der mögliche Einfluß genetischer forderungen an die Informationsverar-
● Die ADHD-Symptomatik kann und immunologischer Prozesse weiter beitung, d. h. externe Hilfestellung,
als eine in früheren Zeiten vor- abzuklären bleibt. Eine „Hypofrontali- Kontrolle und Motivation z.B. durch
teilhafte (genetisch bedingte) tät“ spiegelt sich wider in Verminde- unmittelbare Verstärkung („Außen-
Verhaltensausstattung ange- rungen des zerebralen Blutflusses, der steuerung“) sowie hochstrukturierte
sehen werden, die in der heu- Glukoseutilisation und der Aktivitäts- und wenig „streßbeladene“ Umge-
tigen modernen Gesellschaft zunahmen bei Leistungsanforderungen bungsbedingungen, zu einer Minimie-
allerdings zum Nachteil wird insbesondere im frontalen Kortex, ei- rung der Auswirkungen dieser Störun-
und die Entwicklung und Ad- ner Verminderung der Aktivität des do- gen zentralnervöser Steuerungs- und
aptation von Kindern gefähr- paminergen Neurotransmittersystems Selbstregulationsprozesse.
det. sowie einem Mangel an aufgabenbezo-
● Als neurobiologische Grund- gener Fokussierung hirnelektrischer Ak- Im Mittelpunkt eines Erklä-
lage wird ein generelles Inhi- tivität. Ein insuffizientes dopaminer- rungsmodells der ADHD steht
bitionsdefizit v. a. im kogniti- ges System, das eventuell auch weiter- eine mangelhafte Fähigkeit,
ven und motorischen Regelsy- reichende Imbalancen neurochemischer Verhaltensweisen ausrei-
stem bzw. ein unzureichen- Systeme bedingt, könnte von zentraler chend und den jeweiligen Be-
des globales zentralnervöses Bedeutung sein. Eine verminderte do- dingungen bzw. Situationen
„supervidierendes“ Inhibiti- paminerge Aktivität könnte dabei durch angepaßt zu hemmen.
onsvermögen angenommen, eine beschleunigte Dopamin-Rückauf-
welches insbesondere über nahme aus dem synaptischen Spalt in Insbesondere die Ergebnisse zur Mes-
eine Dysfunktion der dopa- die präsynaptische Nervenendigung zu- sung der motorischen Hemmungsfähig-
minergen Neurotransmission stande kommen („Staubsaugereffekt“), keit stützen die Annahme einer Stö-
vermittelt sein könnte. Da- die auf einer genetisch bedingten er- rung im sensomotorischen Regelsystem
durch ist, insbesondere unter höhten Expression von präsynaptischen - erhöhte und unzureichend kontrol-
erhöhten Leistungsanforde- Dopamin-Transportern („erhöhte Do- lierte Bereitschaft zur motorischen Ak-
rungen, eine stetige, adäqua- pamin-Transporter-Dichte“) beruht. tion - bei Kindern mit ADHD („defizitä-
te und situationsgerechte Ver- Folgen dieser „Hypofrontalität“ bzw. re intrakortikalen Inhibition“). Daraus
haltensinhibition nicht mög- Dysfunktionen sind mangelhafte Fä- folgen Dysfunktionen bzw. Defizite in
lich. higkeiten zur zentralnervösen Verhal- der Vorbereitung, Auswahl und Aus-
● Das Auftreten und die Aus- tenssteuerung, Verhaltenskontrolle und führung motorischer Abläufe im Sinne
prägung der klinischen Sym- Selbstregulation. Diese äußern sich ins- einer defizitären motorischen Steue-
ptomatik hängen von den je- besondere in Defiziten in der Organisa- rung, Kontrolle und Regulation moto-
weiligen Umgebungsbedin- tion und sequentiellen Planung von rischer Antworten („Motor response
gungen ab. Hochstrukturier- Handlungen, in der Mobilisierung und regulation“-Defizit bzw. „Motor out-
te, wenig streßbeladene Um- Aufrechterhaltung „mühevoller“ Dau- put“-Defizit). Dabei scheint nicht die
gebungsbedingungen sowie er-Aufmerksamkeit („energetisches De- Geschwindigkeit motorischer Bewe-
externe Hilfestellung, Kon- fizit frontaler und evtl. auch parietaler gungen, sondern die Ausführung kom-
trolle und Motivationshilfen Aufmerksamkeitssysteme“) wie auch in plexer und aufeinander abgestimmter
(„Außensteuerung“) können der Hemmung unangemessener moto- Bewegungsabläufe beeinträchtigt. Dies
dazu führen, daß die Auswir- rischer Reaktionen („exekutive Funk- dürfte durch Schwierigkeiten in der Vor-
kungen der Störungen zen- tionen“). Dabei scheint nicht die quali- programmierung sowie dem Programm-
tralnervöser Steuerungs-, tative Seite der Informationsverarbei- Monitoring während der raschen, flüs-
Kontroll- und Selbstregulati- tung gestört zu sein, da die Defizite vor sigen und modulierten Ausführung
onsprozesse minimiert wer- allem dann auftreten, wenn die Anfor- komplexer und aufeinander abgestimm-
den. derungen quantitativ gesteigert wer- ter motorischer Bewegungsabläufe be-
den. Dies bedeutet, daß Zunahmen der dingt sein. Weiter abzuklären bleibt,
Menge, Interferenzen und Komplexi- ob die kognitiven Defizite bei Kindern
frontalen Kortex als auch im Bereich tät der zu verarbeitenden Informatio- mit ADHD nicht nur auf der Stufe der
der Basalganglien wird von einer funk- nen, der Geschwindigkeit, der Gründ- Aufmerksamkeit oder Informationsver-
tionellen „Hypofrontalität“ ausgegan- lichkeit und der Dauer - im Vergleich zu arbeitung (Stufe der Antwortauswahl)
gen. Die morphometrischen Befunde gesunden Kindern - Leistungseinbußen beruhen, sondern auch auf der Stufe
sprechen dabei für eine abweichende bedingen. Noch verstärkt werden kön- des motorischen „presettings“, das in
Entwicklung der strukturellen Gehirn- nen die psychopathologischen Auffäl- die motorische Vorbereitung einer
organisation der Systeme zur Verhal- ligkeiten bzw. Leistungseinschränkun- Handlung einbezogen ist.
tenssteuerung (präfrontaler/frontaler gen in Anforderungen/Situationen, die Nach diesen neurobiologischen Vor-
Kortex) und motorischen Kontrolle (kor- als nicht bewältigbar erlebt werden, d. stellungen können die klinischen Kern-

14 Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“© Kirchheim-Verlag Mainz


Tab. 1: Modell von entwicklungsbezogen gestörten Hirnleistungen für die Aufmerksamkeitsdefizit-/
Hyperaktivitätsstörung (ADHD)

ADHD Neurobiolog. Grundlagen Regulation/Kompensation Therapie

Gestörte Steuerung Dysfunktion frontokortiko- Aktivierung frontokortikaler Multimodales Vor-


und Kontrolle zielge- striataler Regelsysteme. Steuerungs- und Kontrollsy- gehen, u.a. mit
richteter und/oder Inhibitionsdefizite kognitiver steme („Gegenregulation“)/ Methylphenidat,
flexibler Verhaltens- und motorischer Prozesse. Verstärkung neuronaler Kontingenzmanage-
weisen, insbesonders Inhibitionsmechanismen ment, Selbstinstruk-
kognitiver und moto- Gestörte frontalhirnsensitive kognitiver und motorischer tionsprogrammen,
rischer Prozesse exekutive Funktionen. Prozesse. (Neurofeedback),
(„defizitäre Verhal- Verminderte dopaminerge Kurzfristig: Erhöhte Transmis- Elterntraining.
tensinhibition“). (u. noradrenerge) Aktivität (?) sion von Dopamin (und Nor-
adrenalin).

(Entwicklungsverzögerung, Langfristig: Nachreifung und


Entwicklungsabweichung) Neuorganisation neuronaler
Systeme zur Verbesserung
von Steuerungs- und Kontroll-
funktionen.

ben, die den richtigen Zeitpunkt einer sche Mechanismen nicht aus, spricht holt kontrollierbare Streßreaktionen
motorischen Antwort auf einen senso- aber mehr dafür, daß höchstens bei sich in einer Verbesserung neurobeha-
rischen Hinweisreiz verlangten) waren kleinen ADHD-Untergruppen immuno- vioraler Funktionen und Leistungen nie-
bei Kindern mit ADHD im Vergleich zu logische Auffälligkeiten zu erwarten derschlagen, kann es in nicht-kontrol-
gesunden niedrigere Aktivierungen im sind. lierbaren Streßreaktionen zu ausge-
rechten mesialen präfrontalen Kortex Bei etwa 10 % der Betroffenen sind prägten und umfassenden Beeinträch-
(in beiden Aufgaben) und im rechten Nahrungsmittelintoleranzen zu finden. tigungen kommen. So kann u. a. auf-
inferioren präfrontalen Kortex und lin- Auf welchen biologischen Grundlagen grund einer übermäßigen katechola-
ken Nucleus caudatus (in der Stop-Auf- sie beruhen, bleibt ebenfalls noch zu minergen Stimulation des präfrontalen
gabe) aufzeigbar, also mangelnde Ak- klären, zumal hierbei die sog. oligoanti- Kortex das Arbeitsgedächtnis, das we-
tivierungen in denjenigen präfronta- gene Diät therapeutisch erfolgreich ge- sentlich für eine reflexive situationsge-
len Neuronensystemen, die übergeord- nutzt werden könnte (die allerdings rechte Verhaltenssteuerung und Selbst-
nete motorische Kontrollaufgaben er- wegen des großen Aufwands, der Ko- regulation ist („exekutive Funktionen“),
möglichen. sten und der notwendigen großen Dis- in seiner Leistungsfähigkeit einge-
ziplin erfordernden Mitarbeitsbereit- schränkt werden. Gleichzeitig können
Immunologie: mögliche patho- schaft in der Praxis nur eine sehr gerin- neuronale Systeme in Amygdala, Hip-
genetische Faktoren? ge Rolle spielt). pocampus, Striatum sowie in posterio-
Näher abgeklärt werden muß die Hy- ren kortikalen Regionen aktiviert und
pothese, inwieweit - wie auch bei den Bei etwa 10 % der Betroffe- dabei impulsive, phylogenetisch und on-
häufig mit ADHD komorbid vorkom- nen sind Nahrungsmittelin- togenetisch alte, in der Regel der aktu-
menden Tic- und Zwangsstörungen - in toleranzen zu finden. Auf ellen Situation nicht angepaßte Verhal-
der Pathogenese (auto)immunologische welchen biologischen Grund- tensweisen hervorgebracht werden
Prozesse, z. B. im Rahmen wiederholter lagen sie beruhen, bleibt noch („evolutionäre Sichtweise“).
Streptokokken-Infektionen, von Bedeu- zu klären.
tung sein könnten. Hierbei könnten An- Pathophysiologisches
tikörper u. a. gegen neuronale Struktu- Erklärungsmodell: defizitäre
ren gebildet werden, die z. B. die bei Streß: verstärkte Auffälligkei- Verhaltensinhibition
ADHD-Patienten beschriebenen Volu- ten in unkontrollierbaren Im Mittelpunkt eines Erklärungsmodells
menveränderungen (im Basalganglien- Streßsituationen der ADHD steht eine mangelhafte Fä-
bereich) mit erklären würden. In Streßsituationen werden verschie- higkeit, verschiedenste Verhaltenswei-
Nicht zweifelsfrei belegt ist ein Zu- dene Anteile bestimmter neuronaler sen ausreichend und den jeweiligen Be-
sammenhang der ADHD mit atopischen Netzwerke unterschiedlich aktiviert, je dingungen bzw. Situationen angepaßt
Erkrankungen (z. B. Neurodermitis), ins- nachdem ob Anforderungen/Aufgaben zu inhibieren. Aufgrund struktureller
besondere konnte keine IgE vermittel- subjektiv als kontollierbar oder als nicht- Volumenverminderungen (um etwa 10
te ADHD-Symptomatik gefunden wer- kontrollierbar und damit unbewältig- %) und neurochemischer Veränderun-
den. Dies schließt zwar andere allergi- bar erlebt werden. Während wieder- gen im Bereich des präfrontalen und

Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“ © Kirchheim-Verlag Mainz 13


Originalia

einander verbunden sind. Der Motor- also einer gegenüber Gesunden nicht flusses im Bereich des frontalen Kortex
kortex hat dabei die Rolle der „letzten nur quantitativ gesteigerten, sondern und der Basalganglien gemessen wer-
Relaisstation“ inne, bevor der „Erre- früh einsetzenden, desorganisierten, den. Dieser stieg nach Verabreichung
gungsweg“ eines motorischen Impul- mangelhaft modulierten und überschie- von Stimulanzien (Methylphenidat) le-
ses über Fasern der Pyramidenbahn zu ßenden allgemein erhöhten motori- diglich im Basalganglienbereich an.
den jeweiligen Zielmuskeln weiterführt. schen Aktivität, könnten demnach de- Unter dieser Medikation konnte auch
Planvolle und zielgerichtete motorische fizitäre inhibitorische Mechanismen im eine Abnahme des zerebralen Blutflus-
Abläufe bedürfen abgestimmter Ver- sensomotorischen Regelsystem zugrun- ses im Bereich des sensomotorischen
hältnisse exzitatorischer und inhibito- deliegen. Kortex gezeigt werden, die als Zeichen
rischer Erregungsmuster sowohl „inner- Dieser Befund gibt zudem einen er- einer besseren Inhibition von Bewe-
halb“ der beteiligten neuronalen Ele- sten Hinweis darauf, daß bei ADHD gungsmustern - und damit in Zusam-
mente (z. B. Basalganglienebene), als auch der motorische (und nicht nur der menhang stehend einer Abnahme der
auch „zwischen“ den einzelnen Be- präfrontale und evtl. auch parietale) motorischen Überaktivität und Ablenk-
standteilen des motorischen Regelsy- Kortex in seiner Funktionsweise beein- barkeit - diskutiert wurden. In einer
stems. Störungen motorischer Abläufe trächtigt ist. Untersuchung mit der Positronen-Emis-
wie die allgemeine motorische Überak- sions-Tomographie von Eltern betrof-
tivität (und häufig schlechte Grapho- Neurochemie: verminderte fener Kinder, die selbst ein „residual-
motorik) bei ADHD könnten auf Dysba- dopaminerge Aktivität type“ einer ADHD hatten, zeigte sich
lancen von Fazilitations- und Inhibiti- Auf neurochemischer Ebene werden in eine Verminderung der gesamten zere-
onsprozessen beruhen, die u. a. durch erster Linie Dysfunktionen im dopa- bralen Glukoseutilisation, am ausge-
strukturell/funktionelle Beeinträchti- minergen Neurotransmittersystem an- prägtesten im Bereich des rechtsfron-
gungen von Neuronensystemen einzel- genommen. Erste Hinweise auf eine Ver- talen Kortex. Hingegen erbrachte eine
ner Elemente des Regelsystems (z. B. minderung der Dopaminausschüttung Untersuchung von Jugendlichen mit
frontaler Kortex, Basalganglien) bzw. im zentralen Nervensystem lieferten ADHD keine Unterschiede in der globa-
deren Konnektivitäten (z. B. frontokor- die bei Kindern mit ADHD im Vergleich len oder absoluten Glukoseutilisation
tikal-striatale Verbindungen) hervorge- zu gesunden erniedrigten Homovanil- im Vergleich zu gesunden; allerdings
rufen werden. linsäure-Spiegel (Hauptmetabolit von war für die Gruppe der Mädchen im
Dopamin) im Liquor cerebrospinalis. Als Vergleich zu gesunden Mädchen eine
Neurophysiologie: mangelhafte Grundlage für Abweichungen in der verminderte absolute Metabolismus-
motorische Kontrolle dopaminergen Neurotransmission wer- Rate aufzeigbar. Für die Region des
In neurophysiologischen Untersuchun- den Dysfunktionen der postsynapti- linken anterioren frontalen Kortex
gen zur Messung der Fähigkeit zur „mo- schen Dopamin-Rezeptoren (oder be- konnte sogar eine signifikante inverse
torischen Hemmung“ (Stop-Signal-Pa- stimmter Unterformen, z. B. D4-Rezep- Beziehung zwischen Metabolismus-
radigma) zeigten Kinder mit ADHD im tor) sowie Dysfunktionen des präsyn- Rate und Ausprägungsgrad der ADHD-
Vergleich zu Gesunden ein mangelndes aptischen Dopamin-Transporters disku- Symptomatik hergestellt werden.
Vermögen zur Hemmung motorischer tiert. Gestützt werden konnte letztere Weitere Erkenntnisse erbrachten
Anworten, d. h. ein motorisches Inhibi- Vorstellung durch neuere Single-Pho- funktionell-bildgebende Untersuchun-
tionsdefizit. Bei Untersuchungen des ton-Emissions-Computertomographie- gen unter solchen Aufgabenstellungen,
Bereitschaftspotentials ergaben sich Untersuchungen mit hochselektiven in denen Patienten mit ADHD schlech-
Anhaltspunkte für Defizite auf der Liganden, mit denen im Striatum bei tere Leistungen als gesunde erbringen,
motorischen Vorbereitungsstufe, denn erwachsenen ADHD-Patienten im Ver- also z. B. Aufmerksamkeits- oder Hem-
im Gegensatz zu einer zentralen gleich zu Gesunden eine um ca. 70 % mungs-(Stop-)-Aufgaben. So konnten
Schwerpunktbildung bei gesunden hat- erhöhte Dichte des Dopamin-Transpor- in einer Untersuchung mit der Single-
ten Kinder mit ADHD eine diffuse fron- ters gemessen wurde. Photon-Emissions-Computertomogra-
to-zentrale Verteilung. Danach könn- Neben Dysfunktionen im dopaminer- phie während der Durchführung einer
ten diese Kinder eine ungenügende gen System werden solche auch für das Daueraufmerksamkeitsaufgabe im Ver-
Fähigkeit besitzen, ihre neuronalen noradrenerge und serotonerge Neuro- gleich zu einer psychiatrischen Kon-
Netzwerke zur Durchführung einer mediatorsystem diskutiert, wobei hier- trollgruppe bei Erwachsenen mit ADHD
willentlichen Bewegung ausreichend für aber noch keine ausreichende Da- verminderte Perfusionswerte im Be-
präzise und abgestimmt zu regulieren. tenlage besteht. reich der linken frontalen und linken
In Untersuchungen mit der transkra- parietalen Kortexareale gemessen wer-
niellen Magnetstimulation, mit der die Funktionelle Bildgebung: den, also in Regionen, deren neuronale
Exzitabilität des motorischen Systems niedrigere Aktivitätszunahmen Systeme in die Kontrolle von Aufmerk-
direkt in vivo untersucht werden kann, in kortikalen und subkortika- samkeitsprozessen einbezogen sind.
wiesen Kinder mit ADHD im Vergleich len Regionen Während der Durchfühung von Inhibi-
zu gesunden eine signifikant vermin- Mittels funktionell-bildgebender Ver- tionsaufgaben (Stop-Aufgabe, die die
derte intrakortikale Inhibition auf. Der fahren konnte bei Kindern mit ADHD Hemmung einer geplanten motorischen
allgemeinen motorischen Überaktivität, eine Verminderung des zerebralen Blut- Antwort und motorische Zeit-Aufga-

12 Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“© Kirchheim-Verlag Mainz


denen Auffälligkeiten bzw. Dysfunk-
tionen ließen sich Befunde im Sinne
einer Entwicklungsverzögerung wie
auch Befunde im Sinne einer Entwick-
lungsabweichung aufführen. Für eine
Entwicklungsverzögerung sprechen die
bei Kindern mit externalisierender Sym-
ptomatik, also auch mit ADHD erhobe-
nen Befunde zur Altersentwicklung ein-
zelner EEG-Frequenzbänder. So hatten
die auffälligen Kinder im Vorschul- und
Schulalter einen für ihr chronologisches
Alter zu hohen Anteil langsamer Wel-
len, welcher sich aber im Jugendlichen-
alter weitgehend normalisiert hatte.
Ebensolches konnte für die Altersent-
wicklung visuell evozierter Potentiale
aufgezeigt werden. Diese Befunde spre-
chen dafür, daß bei diesen Kindern ba-
sale Leitungsbahnen sensorischer Sy-
steme erst im späteren Alter als bei
Gesunden optimal funktionsfähig wer-
Auftreten und Ausprägung der klinischen Symptome bei ADHD hängen von den den. Auf eine Entwicklungsabweichung
Umgebungsbedingungen ab: Günstig sind z. B. wenig streßbeladene Umgebungs- weisen die bei etwa der Hälfte der Kin-
bedingungen, externe Hilfestellungen, Kontrolle und Motivationshilfen. der mit ADHD im Standard-EEG zu be-
obachtenden Auffälligkeiten wie er-
höhte frontale Beta-Aktivität, sponta-
tersuchungen ereignisbezogener Hirn- aktionszeit-Aufgabe, zeigten sich bei ne zentral dominante 4-5 Hz oder fron-
potentiale (EP), die durch reizbezoge- Kindern mit ADHD gegenüber gesun- to-zentral dominante 6 Hz Rhythmisie-
ne oder antwortbezogene Messungen den Defizite sowohl in visuellen Auf- rungen, Vertex-Transienten und/oder
des EEGs entstehen und einen direkten merksamkeits-, zentralen als auch in okzipitale Transienten hin, die im Ent-
Einblick in den Ablauf der Informati- prämotorischen Prozessen. Topographi- wicklungsverlauf der elektrischen Hirn-
onsverarbeitung geben, ließen sich in sche Analysen der postimperativen ne- aktivität nicht als physiologisch anzu-
Untersuchungen späterer EP-Kompo- gativen Variation - mit der Aussagen sehen sind. Zudem sprechen die in mor-
nenten bei älteren Kindern mit ADHD über die Kontingenzevaluation zwi- phometrischen Untersuchungen erho-
wiederholt verkleinerte P300-Amplitu- schen Zielreiz und darauf bezogener benen Volumenveränderungen für eine
den - als „energetisches Defizit“ bei der motorischer Antwort möglich sind - wie- Entwicklungsabweichung im Rahmen
Zielreizverarbeitung - und teilweise sen zudem auf eine unzureichende Fä- der Neurogenese.
verzögerte P300-Latenzen - als Verzö- higkeit der Kinder mit ADHD hin, ihre
gerung der reizbezogenen Verarbei- Hirnaktivität aufgabenbezogen zu fo- Motorische Steuerung und
tung interpretiert - feststellen. Diese kussieren. Gesunde Kinder sind dage- Kontrolle: sensomotorisches
Veränderungen (die allerdings nicht als gen in der Lage, ihre frontokortikalen Regelsystem
störungsspezifisch für ADHD angese- Netzwerke umschrieben, d. h. effizient An der Initiierung, Programmierung,
hen werden können) waren nicht in zu aktivieren. Steuerung, Kontrolle und Regulation
allen Studien nachweisbar, wofür un- motorischer Abläufe sind somatoto-
terschiedliche kognitive Anforderun- Kinder mit ADHD sind nur pisch organisierte Systeme neuronaler
gen und Paradigmen/Aufgabenbedin- unzureichend fähig, ihre Hirn- Elemente beteiligt. Neben dem Klein-
gungen verantwortlich sein könnten. aktivität aufgabenbezogen zu hirn, dessen Neuronensysteme insbe-
Denn es scheint nicht die qualitative fokussieren. Darauf haben to- sondere wichtig für Bewegungskontrol-
Seite der Informationsverarbeitung pographische Analysen der le und -koordination sind, bilden die
gestört zu sein, da die Defizite vor al- postimperativen negativen wesentlichen Elemente der funktionel-
lem dann auftraten, wenn die Anforde- Variation hingewiesen. len motorischen Systeme multiple par-
rungen quantitativ gesteigert, d. h. die allel organisierte kortikal-subkortikale
Aufgaben zunehmend komplexer wur- Entwicklungsabhängigkeit: Regelkreise, in denen Neurone des pri-
den. In topographischen Untersuchun- Entwicklungsverzögerung und mären motorischen (Motorkortex) und
gen reiz- und anwortbezogener EP- -abweichung supplementär motorischen Kortex, des
Komponenten, d. h. im gesamten zeit- Zur Frage der Entwicklungsabhängig- Putamen und Nucleus caudatus, des
lichen Verlauf einer visuellen Wahlre- keit der bei Kindern mit ADHD gefun- Globus pallidus und des Thalamus mit-

Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“ © Kirchheim-Verlag Mainz 11


Originalia

gen sind aber noch unklar. So tragen Bedingungen auch nicht mehr unbe- Kinder mit ADHD eine „Frontalhirn-
zwar genetische Faktoren zur ADHD- dingt hilfreich sein. Die Kernsymptome Störung“ haben könnten.
Vulnerabilität bei, es ist aber nicht si- der ADHD beschreiben in diesem Sinne
cher, welche ungünstigen Umgebungs- Umkehrungen der Vorteile einer frü- Neuropsychologie: unzureichen-
einflüsse diese Vulnerabilität zum Phä- her u. a. bei aktuellen Bedrohungen de exekutive Funktionen
notyp werden lassen. Auch geht eine oder beim Jagen wichtigen raschen (im- Klinisch zeigen Kinder mit ADHD ihre
genetische Vulnerabilität weit über die pulsiven) Antwortbereitschaft gegen- Zielsymptome Unaufmerksamkeit, Im-
kategoriale Diagnose einer ADHD hin- über heute vorteilhaften wohlbedach- pulsivität und motorische Überaktivi-
aus. Dabei ist ebenfalls nicht geklärt, ob ten (reflexiven) Problemlösungsfähig- tät am deutlichsten in komplexen Si-
es in Ergänzung zu einem breiten, ge- keiten in einer komplexen, sich immer tuationen, die ein hohes Maß an Ver-
netisch bestimmten Muster von „Auf- schneller verändernden Lebenswelt. haltenssteuerung und -kontrolle erfor-
merksamkeitsstörung“ und „Überakti- dern - also einen besonderen Einsatz
vität“ (möglicherweise als eine Risiko- Verhaltenssteuerung und exekutiver Funktionen. In einer Reihe
dimension zu betrachten) tatsächlich -kontrolle: von Untersuchungen konnte gezeigt
eine zwar seltene, aber ebenso gene- exekutive Funktionen werden, daß Kinder mit ADHD in Ver-
tisch bestimmte qualitativ unterschied- Um ihr Verhalten zu steuern und zu fahren, die zur Messung exekutiver
liche Kategorie einer ADHD gibt. Auch kontrollieren, können Kinder und Ju- Funktionen eingesetzt werden, signifi-
ist zu bedenken, daß ein bestimmter gendliche mit zunehmendem Alter - kant schlechter abschneiden als gesun-
Phänotyp (z. B. ADHD- und Tic-Sym- und damit verbundener zentralnervö- de Kinder; hierbei bestanden Defizite
ptomatik) einer unterschiedlichen ge- ser Reifung - besondere Fähigkeiten insbesondere in der kognitiven Flexibi-
netischen Basis zugeordnet werden einsetzen, die durch die sog. exekuti- lität, im Arbeitsgedächtnis, in der Inter-
kann, je nachdem, ob er vor bzw. nach ven Funktionen beschrieben werden. ferenzkontrolle sowie im (motorischen)
der psychopathologischen Kernsympto- Als „Teilfunktionen“ werden hierzu Pla- Inhibitionsvermögen.
matik (hier ADHD) auftritt. So scheint nungsvermögen, Arbeitsgedächtnis,
die ADHD genetisch mit einem Touret- selektive und dauerhafte Aufmerksam- Morphometrie: verminderte
te-Syndrom assoziiert zu sein, wenn die keit, kognitive Flexibilität oder Interfe- Volumina kortikaler und sub-
ADHD-Symptomatik nach Beginn der renzkontrolle gerechnet. Wesentliche kortikaler Regionen
Tics erscheint, während sie wahrschein- Aufgaben dieses Systems der Informa- In morphometrischen Untersuchungen
lich eine eigenständige genetische Ba- tionsverarbeitung sind die „Hervorbrin- wurden bei Kindern mit ADHD gegen-
sis hat, wenn sie schon vor Auftreten gungen“ generalisierter Strategien zur über gesunden bzw. nicht-ADHD Kin-
der Tics bestanden hatte. Erreichung von Problemlösungen. Dazu dern folgendes beschrieben: Volumen-
sind insbesondere planvolle und mit- verminderungen der rechtsseitigen an-
Evolutionäre Sichtweise: einander koordinierte Handlungsse- terioren Region des frontalen Kortex
ehemals vorteilhaftes Ver- quenzen sowie die Hemmungen unan- bzw. der rechten präfrontalen und fron-
haltensmuster gemessener, nicht zur Lösung einer talen Hemisphärenregion, bilateral der
Zur Bewertung genetischer Befunde Aufgabe führender Verhaltensweisen parietal-okzipitalen Hemisphärenregi-
empfiehlt sich auch, eine evolutionäre erforderlich. Dieses System, das beson- on und des Corpus callosum sowie des
Sichtweise einzunehmen. Hierbei kann ders auf den Aktivitäten neuronaler Cerebellum; an subkortikalen Volumen-
ein Großteil unserer Verhaltensausstat- Netzwerke des präfrontalen Kortex verminderungen konnten ein kleinerer
tung am ehesten dadurch verstanden beruht, wird als eine übergeordnete (linker) Nucleus caudatus - bzw. ein
werden, wie sich der Mensch in Bezie- Struktur (im Vergleich zu den übrigen Fehlen der bei gesunden Kindern vor-
hung und Auseinandersetzung mit frü- „Teilen“ des Kortex) angesehen, deren liegenden Asymmetrie im Kopfbereich
heren Umgebungsbedingungen ent- universelle Funktion die „supervidie- des Nucleus caudatus - sowie ein kleine-
wickelt hat. In der Menschheitsge- rende“ Verhaltensregulation ist. rer Globus pallidus gemessen werden.
schichte haben in den letzten Jahrhun- Betont wurden wiederholt Ähnlich- Diese morphometrischen Befunde spre-
derten dramatische Veränderungen der keiten zwischen der ADHD-Symptoma- chen für eine Entwicklungsabweichung
Umwelt- und Gesellschaftsbedingun- tik und in Folge von Frontalhirnläsio- im Rahmen der Neurogenese und be-
gen stattgefunden: von der ständigen nen (z. B. Blutung, Verletzung, Tumor) treffen wesentliche Elemente fronto-
Bedrohung durch Umweltgefahren (z. entstandenen Verhaltens- und Lei- kortikal-subkortikaler Regelsysteme.
B. Wildtiere) und der Lebensnotwen- stungsauffälligkeiten. So führten die
digkeit zum Jagen über eine landwirt- bei betroffenen Patienten neu aufge- Neurophysiologie: einge-
schaftliche und später industrielle Ge- tretenen Störungen von Aufmerksam- schränkte kognitive Informati-
sellschaft bis hin zur modernen Dienst- keit, Impulskontrolle, Planung von Ant- onsverarbeitung
leistungs- und Kommunikationsgesell- wortsequenzen sowie Schwierigkeiten, In neurophysiologischen Studien konn-
schaft. Deshalb können ehemals vor- motorische Reaktionen zu kontrollie- te - wenigstens für eine Untergruppe
teilhafte Verhaltensmuster mittlerwei- ren, gegensätzliche Handlungen aus- von Kindern mit ADHD - ein zentralner-
le nicht mehr sinnvoll bzw. notwendig zuführen oder imitative Bewegungen vöses „underarousal“ aufgezeigt wer-
sowie für eine Adaptation an heutige zu hemmen sogar zur Hypothese, daß den, d. h. ein „Arousaldefizit“. In Un-

10 Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“© Kirchheim-Verlag Mainz


Neurobiologische Grundlagen
Ein pathophysiologisches Erklärungsmodell der ADHD
Gunther H. Moll und Aribert Rothenberger
Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, Georg-August-Universität Göttingen

Zusammenfassung
Bei der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS oder ADHD) liegen umfangreiche Kenntnisse über
neurobiologische Grundlagen vor: veränderte molekulare dopaminerge Struktur (Genetik), unzureichende exekutive
Funktionen (Neuropsychologie), verminderte Volumina kortikaler und subkortialer Strukturen (Morphologie), einge-
schränkte kognitive Informationsverarbeitung und mangelhafte motorische Kontrolle (Neurophysiologie), verminder-
te dopaminerge Aktivität (Neurochemie), niedrigere Aktivitätszunahmen in kortikalen und subkortikalen Hirnregio-
nen (funktionelle Bildgebung). Diese Kenntnisse können in einem pathophysiologischen Erklärungsmodell zusammen-
gefaßt werden. In dessen Mittelpunkt steht eine mangelnde Fähigkeit der Kinder mit ADHD, ihre Verhaltensimpulse
ausreichend und den jeweiligen Bedingungen bzw. Situationen angepaßt zu hemmen.
Schlüsselwörter: ADHD, Neurobiologie, Inhibitionsdefizit, dopaminerge Neurotransmission.

Kindern und Eltern Genetik: verän-


kein Unrecht tun derte molekulare
Immer wieder fragen Eltern, warum dopaminerge
gerade ihr Kind so anders, so unauf- Struktur?
merksam, so impulsiv, so unruhig ist. Familien-, Adoptions-
Sie suchen nach Erklärungen - bei sich und Zwillingsuntersu-
selbst: Haben wir unser Kind falsch er- chungen zeigen eine
zogen, ihm zu wenig Wärme geschenkt, starke genetische Kom-
uns zu wenig Mühe gegeben oder nicht ponente von ca. 80 %.
richtig ernährt? - oder beim Kind: Ist es Die bisherigen moleku-
einfach zu dumm oder zu ungezogen? largenetischen Befun-
Auch erfahren sie häufig Abwertungen de - Zusammenhänge
ihrer Familienangehörigen, ihrer Um- mit Dopamin-Rezeptor
gebung oder Schule („Sie können mit D4-Gen und Dopamin-
ihrem Kind nicht richtig umgehen!“). Transporter-Gen - le-
Eine Darstellung und verständliche gen dabei nahe, daß die
Erklärung der neurobiologischen erbliche Übertragung
Grundlagen der ADHD kann nicht nur in solchen Genen zu
Eltern mehr Klarheit erbringen, son- suchen ist, deren Pro-
dern auch wesentlich dazu beitragen, dukte wesentliche Be-
daß die betroffenen Kinder von Eltern standteile der Neuro-
oder Lehrern nicht für ihr unaufmerk- transmission dopa-
sames, impulsives und unruhiges Ver- minerger Systeme kon-
halten zu Unrecht getadelt oder be- trollieren bzw. deren
schimpft werden. Aktivitäten bestim-
Zudem können hierdurch alle Be- men. Die Beziehungen
troffenen/Beteiligten eine bessere In- und Wechselwirkun-
formationsgrundlage als Vorausset- gen zwischen einer Neurobiologische Grundlagen der ADHD verständlich er-
zung erhalten, um die Krankheit er- genetischen Kompo- klären: Das bringt Eltern mehr Klarheit und trägt so dazu
folgreich zu bewältigen und die Umge- nente und psychoso- bei, daß die betroffenen Kinder von Eltern oder Lehrern
bungsbedingungen bestmöglich zu zialen bzw. sozioöko- nicht zu Unrecht für ihr unaufmerksames, impulsives und
gestalten. nomischen Bedingun- unruhiges Verhalten beschimpft werden.

Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“ © Kirchheim-Verlag Mainz 9


Originalia

Tab. 5: Kurzfragebogen zur hyperkinetischen Störung nach Conners

Bitte beurteilen Sie das Verhalten des Kindes


(Name ..................................., Vorname ..................................., Geburtsdatum ..............................), auf der vorgegebenen
Antwortskala. Lassen Sie bitte kein Merkmal aus. Vielen Dank für Ihre Mitarbeit!

trifft . . . zu
überhaupt ein wenig ziemlich sehr stark
nicht
0 1 2 3
unruhig oder übermäßig aktiv M M M M
erregbar, impulsiv M M M M
stört andere Kinder M M M M
beendet angefangene Dinge nicht,
kurze Aufmerksamkeitsspanne M M M M
zappelt ständig M M M M
unaufmerksam, leicht ablenkbar M M M M
Wünsche müssen sofort erfüllt werden M M M M
weint schnell und häufig M M M M
schnelle und ausgeprägte Stimmungswechsel M M M M
Wutausbrüche, unvorhersagbares Verhalten M M M M

Ausgefüllt von:

Datum:

bewährt, die von familiären Bezugs- ● die Symptomatik situationsübergrei- Korrespon-


personen bzw. Lehrer/Innen relevante fend auftritt; denzadresse
Informationen abfragen (vgl. Tab. 5). ● der Störungsbeginn im Vorschulal- Prof. Dr.
Bei einem Punktwert > 12 ist die Dia- ter liegt; Bernhard Blanz
gnose hyperkinetische Störung wahr- ● unter Berücksichtigung des Entwick- Klinik für
scheinlich. lungsstandes das Verhalten des be- Kinder- und
Für die Diagnose einer hyperkineti- troffenen Kindes bzw. der/des Ju- Jugend-
schen Störung ist notwendig, daß gendlichen abnorm ist. psychiatrie
● die Leitsymptome (Hyperaktivität, Sind gleichzeitig die Kriterien für Klinikum der
Unaufmerksamkeit, Impulskontroll- eine Störung des Sozialverhaltens er- Friedrich-
störung) über einen Zeitraum von füllt, wird eine „hyperkinetische Stö- Schiller-Universität Jena
mindestens sechs Monaten ununter- rung des Sozialverhaltens“ diagnosti- Postfach, 07740 Jena
brochen vorliegen; ziert. Tel.: (03641) 936581, Fax: (03641) 936583

Wichtige Abkürzungen und Synonyme

H
ADS Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom
ADDH attention deficit disorder with hyperactivity
ADHD attention deficit hyperactivity disorder
Synonyme
ADHS Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
HKS hyperkinetische Störung; hyperkinetisches Syndrom
MCD minimale cerebrale Dysfunktion
MTA-Studie MTA steht für Multimodal Treatment of ADHD. Studie, in der prospektiv verschiedene Therapieoptionen bei der Aufmerksam-
keitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung verglichen worden sind; die Ergebnisse wurden 1999 veröffentlicht. Die Studie hat die seit
Jahrzehnten gut etablierte Erkenntnis bekräftigt, daß die Medikation mit Stimulanzien eine zentrale Rolle einnimmt.

8 Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“© Kirchheim-Verlag Mainz


die Unfähigkeit, die Aufmerksamkeit
Tab. 2: Klinisches Bild der Hyperaktivität zu steuern. In Tabelle 3 sind typische
Symptome aufgelistet.
● zappelt häufig mit Händen und Füßen, rutscht auf dem Stuhl herum;
Die Impulskontrollstörung führt häu-
● steht häufig in der Klasse oder in anderen Situationen auf, in denen Sitzenblei- fig zu regelverletzendem Verhalten und
ben erwartet wird; entsprechender Zurechtweisung durch
● hat einen unangemessenen Bewegungsdrang (bei Jugendlichen oder Er- Bezugspersonen bzw. zur Ablehnung
wachsenen kann dies auf ein subjektives Unruhegefühl beschränkt bleiben); durch Gleichaltrige. Typisches Verhal-
● klettert auf Bäume, Mauern oder andere Gegenstände, ohne die damit ten zeigt Tabelle 4.
verbundenen Gefahren zu beachten; Fakultative, jedoch häufige Begleit-
● hat generell Schwierigkeiten, ruhig zu spielen oder sich ruhig zu beschäftigen; symptome sind Distanzstörungen; sie
● ist immer „auf Achse“, verhält sich wie „getrieben“; zeigen sich bspw. durch das Fehlen von
● zeigt ein anhaltendes Muster exzessiver motorischer Aktivität, das durch alterstypischer Zurückhaltung gegen-
Bezugspersonen unbeeinflußbar imponiert. über Fremden bzw. im wahllosen An-
sprechen von nicht-vertrauten Perso-
nen insbesondere im Vorschul- und
Grundschulalter. Weitere häufige Be-
Tab. 3: Klinisches Bild der Unaufmerksamkeit gleitsymptome: Unbekümmertheit in
gefährlichen Situationen, Auffälligkei-
● beachtet Einzelheiten nicht, macht Flüchtigkeitsfehler bei Schularbeiten oder ten in der Sprachentwicklung, motori-
anderen Tätigkeiten; sche Ungeschicklichkeit, Schulleistungs-
● hat grundsätzlich Schwierigkeiten, über längere Zeit bei Aufgaben oder störungen bis zum Schulversagen, spe-
Spielen konzentriert zu bleiben; zifische Lernschwierigkeiten (Lese-
● scheint häufig nicht zuzuhören, auch bei direkter Ansprache; Rechtschreibstörung), fehlendes Ein-
● Anweisungen werden nicht vollständig ausgeführt; Schularbeiten, andere
fühlungsvermögen in die sozialen Er-
Arbeiten oder Pflichten können nicht zu Ende gebracht werden (dabei spielen wartungen anderer, erhöhte Unfallhäu-
Verständnisschwierigkeiten oder oppositionelles Verhalten keine Rolle); figkeit durch impulsives Verhalten, Dis-
● hat häufig Schwierigkeiten, Aufgaben oder Aktivitäten zu organisieren;
ziplinprobleme, oberflächliche und häu-
fig wechselnde Freundschaften, Unbe-
● Aufgaben, die Konzentrationsleistungen erfordern (bspw. Schulunterricht
liebtheit bei Gleichaltrigen und außer-
oder Hausaufgaben) werden entweder vermieden oder nur widerwillig erle-
digt; familiären Bezugspersonen sowie
Selbstwertbeeinträchtigungen.
● verliert häufig notwendige Gegenstände (bspw. Spielsachen, Hausaufgaben-
hefte, Stifte, Bücher oder Werkzeug);
Diagnostik
● läßt sich durch äußere Reize leicht ablenken; Zur Erfassung der typischen Verhaltens-
● „vergißt“ Pflichten. auffälligkeiten haben sich Fragebögen

Das Wichtigste
für die Praxis . . .
Tab. 4: Klinisches Bild der Impulskontrollstörung
● Hyperkinetische Störungen
● platzt häufig mit Antworten heraus, bevor Fragen zu Ende gestellt wurden; wurden schon Mitte des 19.
● kann nur schwer abwarten, bis er/sie an der Reihe ist (bei Spielen, in Gruppen- Jhr. beschrieben.
situationen); ● Die Begriffe „hyperkinetische
● unterbricht oder stört andere (mischt sich rücksichtslos in Gespräche oder in Störung“ und „Aufmerksam-
Spiele ein); keitsdefizit-/Hyperaktivitäts-
● redet zuviel, ohne auf entsprechende Hinweise zu reagieren. störung (ADHD)“ bezeichnen
dieselbe Störung.
● Der häufig verwendete Begriff
des Aufmerksamkeitsdefizit-
eigener Verhaltenskontrolle verlangen. Tätigkeiten oder von gestellten Aufga- Syndroms (ADS) ist problema-
Solche typischen Situationen sind ge- ben sowie durch häufige Tätigkeits- tisch, weil damit die Störung
meinsame Mahlzeiten, der Unterricht wechsel; dies kommt vor allem durch auf eine Aufmerksamkeits-
in der Schule oder die Hausaufgabensi- Ablenkung zustande, wodurch das In- schwäche reduziert wird.
tuation. Typische Verhaltensmuster teresse an der aktuellen Tätigkeit rasch ● Die Störung tritt bei Jungen 3-
zeigt Tabelle 2. verlorengeht. Hinter diesem Verhalten bis 9mal häufiger auf als bei
Unaufmerksamkeit zeigt sich insbe- stehen die mangelnde Fähigkeit, die Mädchen.
sondere im vorzeitigen Abbrechen von Aufmerksamkeit zu fokussieren, sowie

Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“ © Kirchheim-Verlag Mainz 7


Originalia

Geschichte der hyperkineti-


schen Störung Tab. 1: Epidemiologie hyperkinetischer Störungen
Das Syndrom wurde bereits Mitte des
● Vollbild des Syndroms im Grundschulalter: 3-4 %
19. Jahrhunderts beschrieben. Der
Frankfurter Nervenarzt Dr. Heinrich ● Vollbild des Syndroms im Jugendalter: 2 %
Hoffmann (1845) hat in der Figur seines ● sehr schwer ausgeprägte Störungen (unbeschulbare Kinder): 1 %
bekannten „Zappelphilipp“ die typische ● Jungen sind 3- bis 9mal häufiger betroffen als Mädchen
Unruhe und Zappeligkeit sowie das
ungesteuerte Verhalten eindrucksvoll unterscheidet zwei Subtypen: Symptom, das bei sehr unterschiedli-
dargestellt. Auch die heute noch typi- 1. einfache Aktivitäts- und Aufmerk- chen Störungsbildern (bspw. Angst-,
schen elterlichen Reaktionen sind be- samkeitsstörung (F90.0); Zwang- oder depressive Störungen)
reits herausgearbeitet: Der Vater ver- 2. hyperkinetische Störung des Sozial- auftreten kann.
sucht pädagogisch zu intervenieren: verhaltens (F90.1); hier sind sowohl Lange Zeit wurde von einer hirnor-
„Ob der Philipp heute still wohl bei die Kriterien für eine hyperkineti- ganischen Verursachung der Störung
Tische sitzen will? Also sprach in ern- sche Störung als auch für eine Stö- ausgegangen. Dies drückt sich in den
stem Ton der Papa zu seinem Sohn“, rung des Sozialverhaltens erfüllt. damals häufig gebrauchten Begriffen
während die Mutter bereits (aufgrund Der zweite Subtyp trägt der Häufig- aus, die teilweise synonym für die hy-
leidvoller Erfahrungen?) resigniert hat: keit Rechnung, mit der beide Störun- perkinetische Störung verwendet wur-
„Und die Mutter blickte stumm auf dem gen gemeinsam auftreten (ca. 30 % der den: „minimal brain damage“, „hirnor-
ganzen Tisch herum.“ Die Aktionen des hyperkinetischen Störungen), sowie der ganisches psychisches Achsensyn-
„Zappelphilipp“ führen schließlich ungünstigeren Prognose im Vergleich drom“, „frühkindlich exogenes Psycho-
dazu, daß die Eltern über sein Verhal- zur einfachen Aktivitäts- und Aufmerk- syndrom“, „minimal cerebral dys-
ten sehr verärgert sind: „Beide sind gar samkeitsstörung. function“ (MCD), „frühkindliches psy-
zornig sehr...“ DSM-IV unterscheidet drei Subtypen: choorganisches Syndrom“. Diese Begrif-
Der französische Psychiater Bourne- 1. vorherrschend unaufmerksamer Sub- fe bzw. die Gleichsetzung hyperkineti-
ville (1897) beschrieb Ende des 19. Jahr- typ (314.00); scher Störungen mit frühkindlich ent-
hunderts in seinem Buch „Medizinische 2. vorherrschend hyperaktiv-impulsiver standenen Hirnfunktionsstörungen
und erzieherische Behandlung verschie- Subtyp (314.01); sind inzwischen überholt, weil dies nicht
dener Formen der Idiotie“ hyperaktive 3. gemischter Subtyp (314.02). mehr dem aktuellen Wissensstand ent-
und aufmerksamkeitsgestörte Kinder. Bei Jugendlichen und Erwachsenen, die spricht.
Kramer und Pollnow führten 1932 den nicht mehr das Vollbild der Störung
Begriff „Hyperkinetische Erkrankung im aufweisen, kann die Diagnose durch Epidemiologie
Kindesalter“ ein und schilderten be- den Zusatz „teilremittiert“ spezifiziert Hyperkinetische Störungen gehören zu
reits detailliert die auch heute noch werden. den häufigsten - von Kinder- und Ju-
geltenden Leitsymptome Hyperaktivi- gendpsychiatern sowie Kinder- und Ju-
tät, Unaufmerksamkeit und Impulskon- Viele Begriffe für dieselbe gendärzten diagnostizierten - Syndro-
trollstörung. Der Begriff „hyperkineti- Störung men im Kindes- und Jugendalter. Trotz
sches Syndrom“ wurde erstmals 1955 Während ICD-10 den Begriff hyperki- der altersbedingten Verbreitung von
von Ounsted verwendet. netische Störung verwendet, bezeich- Ablenkbarkeit, Unruhe und Impulsivi-
net DSM-IV das Syndrom als Aufmerk- tät bei Kindern und Jugendlichen ge-
Definition samkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstö- hen konservative Schätzungen von fol-
Hyperkinetische Störungen (HKS) sind rung (Attention Deficit Hyperactivity genden Prävalenzraten aus (Tab. 1):
gekennzeichnet durch ausgeprägte Disorder, ADHD). Diese unterschiedli- Unabhängig von der höheren Präva-
motorische Unruhe (Hyperaktivität), lei- chen Begriffe bezeichnen jedoch die- lenzrate werden Jungen mit dieser Stö-
stungsbeeinträchtigende Konzentrati- selbe Störung, die Störungsdefinitio- rung häufiger vorgestellt als betroffe-
onsstörungen (Unaufmerksamkeit) so- nen in den beiden Klassifikationssyste- ne Mädchen, wahrscheinlich weil bei
wie massive Schwierigkeiten, das eige- men unterscheiden sich nur marginal. Jungen generell ein höherer Ausprä-
ne Verhalten zu planen und zu steuern Der häufig verwendete Begriff des gungsgrad der Störung vorliegt. Die
(Impulskontrollstörung). Die Störung Aufmerksamkeitsdefizit-Syndroms meisten Vorstellungen erfolgen im
tritt situationsübergreifend in verschie- (ADS) ist problematisch, weil damit die Grundschulalter, also in einem Alters-
denen Lebensbereichen (in Familie und Störung auf eine Aufmerksamkeits- bereich, in dem erstmals erhöhte An-
Schule, auf dem Spielplatz) auf und schwäche reduziert wird. Das ist falsch! passungs- und Leistungsanforderungen
beginnt definitionsgemäß im Vorschul- Im Jugend- und Erwachsenenalter kön- bewältigt werden müssen.
alter. nen Aufmerksamkeitsstörungen zwar
als Restsymptomatik übrigbleiben, im Klinisches Bild
Untergruppen Kindesalter begründen Aufmerksam- Die Hyperaktivität zeigt sich insbeson-
Das Klassifikationssystem der Weltge- keitsstörungen aber kein eigenständi- dere in strukturierten Situationen, die
sundheitsorganisation (WHO, ICD-10) ges Störungsbild; sie sind vielmehr ein relative Ruhe bzw. ein hohes Maß an

6 Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“© Kirchheim-Verlag Mainz


Hyperkinetische Störung,
ADHD, Hyperaktivität
Was ist was?
Bernhard Blanz
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Klinikum der Friedrich-Schiller-Universität Jena

„Ob der Philipp heute still wohl bei Tische sitzen will?“ Der „Zappelphilipp“ von Heinrich
Hoffmann (1845) ist sicher die berühmteste Darstellung eines hyperaktiven Kindes. (© Copyright
2000 Middelhauve Verlag GmbH für Siebert Verlag, München.)

Zusammenfassung
Die Kernmerkmale der hyperkinetischen Störung wurden bereits Mitte des 19. Jahrhunderts eindrucksvoll beschrieben;
sie finden sich auch in den aktuellen Diagnosekriterien und bestehen aus verschiedenen Aspekten von Hyperaktivität,
Unaufmerksamkeit und Impulskontrollstörungen. Für die Diagnose einer hyperkinetischen Störung ist notwendig, daß
diese Leitsymptome über einen Zeitraum von mindestens 6 Monaten ununterbrochen vorliegen, die Symptomatik
situationsübergreifend auftritt und der Störungsbeginn im Vorschulalter liegt. Häufige Begleitsymptome sind Distanz-
störungen, Unbekümmertheit in gefährlichen Situationen, Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung, motorische
Ungeschicklichkeit, Schulleistungsstörungen, Disziplinprobleme, Kontaktstörungen und Selbstwertbeeinträchtigun-
gen. Im Grundschulalter ist etwa jedes 25.-30. Kind vom Vollbild der Störung betroffen, im Jugendalter etwa jeder 50.
Jugendliche. Die Störung tritt bei Jungen 3- bis 9mal häufiger auf als bei Mädchen. Zur Erfassung der typischen
Verhaltensauffälligkeiten haben sich Fragebogen bewährt, die von relevanten Bezugspersonen (Eltern, Lehrer/innen)
wesentliche Informationen ökonomisch abfragen.
Schlüsselwörter: hyperkinetische Störung, ADHD, Hyperaktivität, Definitionen.

Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“ © Kirchheim-Verlag Mainz 5


Inhalt
Originalia

Editorial ________________________________________ 3 Neurobiologische Grundlagen


Hubertus von Voss Gunther H. Moll, Aribert Rothenberger
Kinder mit ADHD weisen eine eingeschränkte kognitive
Hyperkinetische Störung, ADHD,
Informationsverarbeitung auf, und dies insbesondere in
Hyperaktivität: Was ist was? _________________ 5
strukturierten Situationen der Leistungsanforderung. Dys-
Bernhard Blanz
funktionen im Neurotransmitter-
system und andere neurobiologi-
Neurobiologische Grundlagen _________________ 9
sche Funktionsveränderungen
Gunther H. Moll, Aribert Rothenberger
können u. a. die Entstehungswei-
se der ADHD erklären. Stimulan-
Das A und O: die richtige Diagnose __________ 15
zien zählen zu den Mitteln der
Franz Joseph Freisleder
ersten Wahl. Methylphenidat
(Ritalin®) ist das weithin gebräuch-
Psychologische Aspekte bei ADHD.
lichste Medikament. Gunther H.
Welche Testverfahren gibt es? _______________ 18
Moll und Aribert Rothenberger
Gisela Fröhlich
erarbeiten ein pathophysiologi-
sches Erklärungsmodell für ADHD
Wirkmechanismus von Methylphenidat ______ 23
und unterstreichen damit die Forderung nach einem sich
Klaus-Henning Krause, Stefan Dresel, Johanna Krause
ergänzenden Therapiekonzept zur Verstärkung von Regu-
lations- und Kompensationsprozessen. Seite 9
Therapeutisch richtig vorgehen:
Grundzüge der multimodalen Behandlung
bei HKS/ADHD in der Praxis _________________ 28
Hans-Christoph Steinhausen Psychologische Aspekte bei ADHD.
Welche Testverfahren gibt es?
Die häufigsten Fragen aus der Praxis Gisela Fröhlich
zur Ritalin-Therapie __________________________ 32 Kriterien eines klinisch-psychologischen Standards bei der
Hubertus von Voss Diagnostik von ADHD setzen sich durch. Die Beurteilung
des intellektuellen Profils, Verhaltensbeobachtung, Ana-
HKS: Wesentliches in Kürze __________________ 35 mnese-Erhebung beim Patienten und zur Familie beschrei-
ben in ihrer Komplexität die ADHD. Kinder mit ADHD
Wenn ADHD-Kinder erwachsen werden... ___ 36 weisen eine spezifische Persönlichkeitsstruktur auf. Ver-
Johanna Krause kürzte Diagnostik birgt die Gefahr der Fehldiagnose in sich.
Mit einem sich vernetzenden System der Diagnostik - durch-
ADHD aus Sicht der Angehörigen ___________ 40 geführt vom Kinderarzt und klinischen Psychologen - lassen
Cordula Neuhaus sich die tatsächlich betroffenen Kinder mit ADHD identifi-
zieren. Seite 18
ADHD aus Sicht des Kinder-
und Jugendarztes _____________________________ 43
Klaus Skrodzki
ADHD aus Sicht des Kinder- und Jugendarztes
Unbehandelte ADHD und Langzeiteffekte Klaus Skrodzki
der Therapie __________________________________ 48 Der aufmerksame und erfahrene Kinderarzt findet bereits
Manfred Döpfner im Rahmen der Früherkennungsuntersuchungen erste Hin-
weiszeichen für eine sich entwik-
Was der Lehrer wissen sollte ________________ 50 kelnde ADHD. Subtypen der
Norbert Beck, Uwe Hemminger, Andreas Warnke ADHD erschweren die eindeuti-
ge Diagnose. Die psychosoziale
Service und emotionale Entwicklung ist
Adressen von Selbsthilfegruppen ____________ 22 bei Kindern mit ADHD verzögert.
Literatur-Tips _________________________________ 27 Umschriebene Teilleistungsstö-
Kostenloses Infomaterial _____________________ 34 rungen können das klinische Bild
Video: ADHD-Kinder im Unterricht __________ 54 der ADHD vortäuschen. Die Fol-
gen der ADHD müssen minimiert
Impressum ____________________________________ 55 werden. Die Kooperation der
Fachgruppen bei der Bewälti-
gung der Folgen einer ADHD ist
Titelbild: © Mattes unverzichtbar. Seite 43

4 Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“© Kirchheim-Verlag Mainz


Editorial

Kinder entlasten
und Eltern befreien
Das hyperkinetische Syndrom bei Kin- Die soziale Ausgrenzung und Stigmati- ideale Dosierung individuell überprüft
dern mit seinen vielen synonymen Be- sierung sind es, die diese Kinder ohne zwischen 0,3 bis maximal 1,0 mg/kg
zeichnungen erregt in den letzten Jah- frühzeitig einsetzende Therapie in die Körpergewicht pro Einzeldosis (mor-
ren zunehmend die Gemüter: Einerseits Isolation in der Gruppe, in der Klasse gens und mittags, ggf. auch nachmit-
nehmen verschiedene Fachgruppen für und vor allem auch in der Familie drän- tags) anzusetzen wäre.
sich in Anspruch, die einzigen Experten gen. Und dabei benötigen diese Kinder Beruhigen muß Eltern wie auch Kin-
für die betroffenen Kinder zu sein, an- so unendlich viel Verständnis und auch der- und Jugendärzte, Kinder- und Ju-
dererseits haben sich Propagandisten emotionale Zuwendung, aber auch eine gendpsychiater und Psychotherapeu-
und auch Gurus auf den Weg gemacht klar strukturierte Führung - ob zu Hau- ten, daß Methylphenidat keine Sucht-
und wollen möglichst vielen Eltern sug- se oder in der Schule etc. Schläge trei- neigung bezüglich späterem Drogen-
gerieren, ihr Schulkind habe „ganz ein- ben die Unruhe und fehlende Aufmerk- konsum induziert.Immer mehr läßt sich
deutig“ das „Zappelphilipp-Syndrom“. samkeit der Kinder nicht aus. aufklären, wie Methylphenidat im Zen-
Wenn auch innerhalb von 5 Jahren Kaum ein Medikament ist für das tralnervensystem seine Wirkungen ent-
(1990 bis 1995) der Verbrauch von Me- Kindesalter so gut untersucht worden faltet. Mit bildgebenden Verfahren und
thylphenidat (Ritalin® ) als dem wich- wie gerade Methylphenidat (Ritalin® ). zunehmend biochemischen Erkenntnis-
tigsten wirksamen Medikament bei die- Erhalten die richtigen Kinder dieses Me- sen läßt sich erklären, wie komplex die-
sem Syndrom weltweit von 3 Tonnen dikament, so kann man mit nachhaltig ses Medikament insbesondere in Neu-
auf 8,5 Tonnen zugenommen hat (90 % positiven Wirkungen bei bis zu 70 % rotransmitter-Abläufe eingreift.
des Medikaments werden in den USA der Betroffenen rechnen. Der Behand- Kein Zweifel, nicht alle Kinder mit
verbraucht), so liegen die Prävalenzra- lungseffekt steigt an, wenn unipolare klinisch nahezu eindeutigen Zeichen
ten für das Syndrom weiterhin bei 3-5 Therapieempfehlungen verlassen wer- eines hyperkinetischen Syndroms ha-
% - je nachdem, welche Altersgruppe den und die medikamentöse Behand- ben dann tatsächlich diese Erkrankung.
betrachtet wird. Entscheidend ist auch lung komplementär durch z. B. Verhal- Viel zu wenig werden differentialdia-
zukünftig, jene Kinder ab dem Alter tenstherapie, Elternberatung, Beratung gnostische Überlegungen dahingehend
von 6 Jahren zu identifizieren, die mit von Lehrern erweitert wird. Die Praxis angestellt, ob emotionale Belastungen
an Sicherheit grenzender Wahrschein- zeigt, daß die umfassende und zeitin- bei den Kindern selbst, in ihrem psycho-
lichkeit nun tatsächlich jenes hyperki- tensive Aufklärung über Wirkungen und sozialen Umfeld oder gar schwere so-
netische Syndrom haben. Sie, ihre Fa- Nebenwirkungen bei dieser Therapie, matische oder auch psychiatrische Er-
milien, ihre Lehrer etc. brauchen wirk- vor allem mit Methylphenidat, die Ab- krankungen das Symptomspektrum des
lich Hilfe und Unterstützung. Und auf wehrhaltung bei vielen Eltern überwin- hyperkinetischen Syndroms vortäu-
dem Weg der Diagnostik zeigt sich im- den kann. Nicht nur die Kinder mit schen. Gewalt an Kindern bis hin zum
mer mehr, daß Schnellschüsse häufig hyperkinetischem Syndrom brauchen wachsenden Hirntumor und schließlich
die falschen Kinder identifizieren. Es viel Zeit, nein, die Eltern benötigen auch schwere psychiatrische Erkrankun-
geht also zukünftig um eine unbedingt ebenso viel Zeit, bis sie verstehen ler- gen sind es, die u. a. unbedingt ausge-
erwünschte Qualitätssicherung, um die nen können, warum ihr Kind so „aus schlossen werden müssen.
Trefferquote für tatsächlich vorhande- der Reihe getanzt“ ist, und warum ge- Kindern mit hyperkinetischem Syn-
ne hyperkinetische Syndrome bei den rade ihr Kind ein solches Medikament drom kann heute in großem Umfang
Kindern erhöhen zu können. tatsächlich benötigt. geholfen werden. So steigen u. a. die
Es hat sich längst als richtig erwie- Gottlob wissen wir nun sehr viel zu Schulleistungen und der „Zappelphil-
sen, daß über die umfassende Anamne- der zu empfehlenden Dosierung, zur ipp“ wird von seiner Umgebung nun
se-Erhebung, und damit auch biogra- Durchführung der psychotherapeuti- doch wieder angenommen und ge-
phische Anamnese unter Einbeziehung schen Begleitung. Eines ist vor allem schätzt und ist nicht mehr länger der
familiärer Strukturen, die Verhaltens- gesichert: Medikamentöse Dosisüber- Sündenbock für alle „Verfehlungen“.
beobachtung einerseits, die Durchfüh- schreitungen über den bekannten Rah-
rung psychometrischer Verfahren an- men hinaus sind nicht wissenschaftlich Univ. Prof. Dr. med.
dererseits, unerläßlich sind, will man abgesichert und können sogar zu haf- Dr. h. c. Hubertus von Voss
auf seriösem Weg die Diagnosen si- tungsrechtlichen Problemen im Einzel- Institut für Soziale Pädiatrie und Ju-
cherstellen. Schließlich muß doch das fall führen. Die Gesamtdosis pro Tag gendmedizin der Ludwig-Maximilians-
Ziel verfolgt werden, mit möglichst ex- für Methylphenidat (Ritalin® ) sollte 2,0 Universität München - Kinderzentrum
akter Diagnostik frühzeitig betroffe- mg/kg Körpergewicht nicht überschrei- München, Heiglhofstraße 63, 81377
nen Kindern gezielt helfen zu können. ten, wobei sich nachweisen ließ, daß die München, E-Mail: h.v.voss@gmx.de

Kinderärztliche Praxis (2001) Sonderheft „Unaufmerksam und hyperaktiv“ © Kirchheim-Verlag Mainz 3

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