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DER ROMAN UND SEINE KONZEPTION IN DER DEUTSCHEN ROMANTIK

Monika Schmitz-Emans

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2009/2 n° 248 | pages 99 à 122


ISSN 0048-8143
ISBN 9782960064094
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Der Roman und seine Konzeption
in der deutschen Romantik

Monika Schmitz-Emans
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1. Die Aufwertung des Romans in der frühen Romantik
Das 18. Jahrhundert gewöhnte sich nur langsam an die Vorstellung, aus Texte
ohne Versform könnten ernstzunehmende Dichtungen sein. Obwohl Romane
beim Lesepublikum der Aufklärung sehr beliebt waren, wurde der Roman als
ästhetische Gattung lange nicht anerkannt, denn es gab keinen bis auf die Antike
zurückdatierenden Kanon der Romanliteratur, und die spätantiken, mittelalter-
lichen und barocken Vorläufer des modernen Romans galten eher als Unterhal-
tungsliteratur. Schiller qualifiziert den Romanautor noch als „Halbbruder“ des
echten Dichters ab.1 Die Gattung in ihrer formalen Freiheit ist für ihn eben darum
„schlechterdings nicht poetisch“. Auch bezogen auf Inhaltliches sieht er den
Roman skeptisch: In einem Brief an Goethe, dessen „Wilhelm Meister“ Schiller
freilich schätzt und wohlwollend kommentiert, deutet er an, die zeitgenössische
Romanliteratur wende sich Themen zu, die doch eher in den Kompetenzbereich
der Philosophie gehören (an Goethe, 9. Juli 1796).2
Gerade wegen seiner Unabhängigkeit von determinierenden Vorbildern und
einengenden Gattungskonventionen wird der Roman aber seit der Aufklä-
rung für die bürgerliche Literatur zur zentralen Gattung – und für die dezi-
diert „Modernen“ unter den vorromantischen und romantischen Autoren zur
Lieblingsform.3 Seine oft lockere Form schien den Autoren und ihren Lesern
der Erfahrungswelt in ihrer Vielgestaltigkeit und Vieldeutigkeit am besten zu
entsprechen. Johann Gottfried Herder betont in seinem „99. Brief zur Beför-

1. Friedrich Schiller: „Über naive und sentimentalische Dichtung“. In: Schriften zur Philosophie und
Kunst. München 1964, S. 189.
2. Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Artemis-Gedenkausgabe. Bd. 20. S. 213.
3. Der Aufstieg des deutschen Romans erfolgte später als der des englischen und französischen.
Maßgeblichen Einfluß auf den deutschen Roman des 18. Jahrhunderts nahmen englische und
französische Werke, insbesondere Romans von Defoe, Swift, Richardson, Smollett, Goldsmith und
Sterne, von Diderot, Voltaire und Rousseau. Wichtige Stationen der deutschen Romangeschichte
vor der Romantik waren vor allem Wielands Romane, hier besonders die „Geschichte des Agathon“
und Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“ sowie „Wilhelm Meisters Lehrjahre“.
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derung der Humanität“ (1796), welche Fülle an Wissen unterschiedlicher Art


der Roman in sich aufnehmen könne, wie er die Gegenstände diverser Wissen-
schaften mit dem Interesse am Menschen und die darstellung des Wirklichen
mit der des Möglichen verbinde. Vor allem als Vermittler anthropologischen
Wissens erscheint der Roman gleichsam unersetzbar:
„Keine Gattung der Poesie ist von weiterem Umfange, als der Roman; unter
allen ist er auch der verschiedensten Bearbeitung fähig: denn er enthält oder
kann enthalten nicht etwa nur Geschichte und Geographie, Philosophie und
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die Theorie fast aller Künste, sondern auch die Poesie aller Gattungen und
Arten – in Prose. Was irgend den menschlichen Verstand und das Herz inte-
reßiret, Leidenschaft und Charakter, Gestalt und Gegenstand, Kunst und
Weisheit, was möglich und denkbar ist, ja das Unmögliche kann und darf in
einen Roman gebracht werden […].“4

Friedrich von Blanckenburg bezeichnet schon in seinem „Versuch über den


Roman“ (1774) als das wichtigste Thema des Romans das Individuum und
seine individuelle Geschichte. Er legitimiert die Gattung über ihre Beziehung
zur bürgerlichen Kultur und deren Ethos und verdeutlicht damit eine wichtige
Tendenz: die zur realistischen Darstellung menschlicher Lebensverhältnisse.
Durch seine Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Wirklichkeit, mit der
alltäglichen Welt und ihren Bewohnern, mit deren Eigenschaften, Denk- und
Handlungsweisen gewann der Roman an Glaubwürdigkeit, und man respektierte
ihn zunehmend mehr. Zur Darstellung seelischer Zustände und Konflikte erwies
sich der Briefroman als besonders geeignet. Madame de Staëls „Versuch über
Dichtungen“, 1796 von Goethe ins Deutsche übersetzt, würdigt das in Romanen
vermittelbare anthropologische Wissen und hebt hervor, „daß ein Roman, der
mit Feinheit, Beredtsamkeit, Tiefe und Moralität das leben darstellt, wie es ist,
die nützlichste von allen Dichtungen sey.“5
Der Roman der Romantik geht aus dem Roman der Aufklärung und der
Empfindsamkeit hervor, und er bleibt dessen realistischem und psychologisch-
anthropologischem Grundzug zu weiten Teilen verpflichtet. Allerdings kommen
neue Akzentsetzungen hinzu. Denn wie die Erzählliteratur insgesamt erweist
sich der Roman als besonders geeignete Form, um die Grenzen zwischen
Erfahrungswelt und den unermeßlichen Räumen der Imagination durchlässig
zu machen. Er gestattete es Autoren wie E. T. A. Hoffmann, Tieck und dem

4. Herders Sämmtliche Werke. Hg. v. Bernhard Suphan. Bd. 18, Berlin 1883, S. 109f.
5. Madame de Staël: Versuch über Dichtungen, übers. v. J.W.Goethe. In: Die Horen. Eine Monats-
schrift. Hg. v. F. Schiller. Jg. 1976, Nr. 5, Stück 2, S. 22f. (Photomechanischer Nachdruck Darm-
stadt 1959).
Der Roman und seine Konzeption in der deutschen Romantik 101

Verfasser der „Nachtwachen von Bonaventura“ (Klingemann) Traumhaftes und


Mythisches in die erlebte Welt eindringen zu lassen. Bei allen Unterschieden
zwischen realistischem und phantastischem Erzählen besteht dabei dennoch ein
gemeinsamer Nenner: Der Roman gilt seit vorromantischer Zeit vor allem als
Medium der ästhetischen Bespiegelung von Subjektivität.
Zu einer nachdrücklichen theoretischen Aufwertung des Romans kommt
es in der Frühromantik. Dies geschieht im Rahmen umfassender Reflexionen
über die Kunst, über ihren Status gegenüber Wissenschaft, Philosophie und
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Leben – und über ihre Modernität. Friedrich Schlegel ist der wohl wichtigste
Theoretiker dieser Moderne. Er spricht von der romantischen Poesie als von
einer „progressiven Universalpoesie“, deren Bestimmung es sei, „alle getrennten
Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie
und Rhetorik in Berührung zu setzen.“6 Gerade die durch keine Formkonvention
eingeengte Gestalt des Romans erscheint nun erstens wie prädestiniert dazu,
im Sinn dieses Vereinigungsprogramms Elemente verschiedener Gattungen in
sich aufzunehmen – narrative, dramatisch-dialogische und lyrische. Zweitens
ermöglicht gerade der Roman eine Synthese zwischen literarischer Darstellung,
philosophischer Reflexion und rhetorischer Praxis.7
Friedrich Schlegels „Gespräch über die Poesie“ ist ein zentrales Dokument
frühromantischer Poetik. Schlegel vermeidet hier durch die Dialogform die
Formulierung definitiver Thesen oder Theorien. Durch die Dialogteilnehmer läßt
er seine programmatischen Vorstellungen über romantische Dichtung vortragen.
Ein Kernstück des „Gesprächs“ ist der „Brief über den Roman“.8 Hier wird die
Bedeutung des Romans für die Romantik betont: „Ein Roman ist ein roman-
tisches Buch“, so heißt es lakonisch und programmatisch.9 Auch Schlegels
berühmte Forderung nach einer neuen Mythologie wird im „Gespräch über die
Poesie“ formuliert. Schlegel knüpft an die „Wissenschaftslehre“ Fichtes und

6. Friedrich Schlegel: 116. Athenäumsfragment, in: Kritische Friedrich-Schlege-Ausgabe [KSA].


Hg. v. Ernst Behler u.a. München/Paderborn u.a., 1958ff. Bd. II, S. 182.
7. Der Briefroman war schon seit dem mittleren 18. Jahrhundert ein wichtiges Medium ästhetischer
Darstellung von Subjektivität. Paradigmenbildend wirkten die Romane Richardsons, Rousseaus
(„Julie, ou la Nouvelle Heloise“), Die „Liaesons dangereuses“ von Choderlos de Laclos und
Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“. – Neben dem Bildungs- und dem Briefroman ist die
„gothic novel“, in Deutschland auch „Schauerroman“ genannt, ein wichtiges Subgenre. – Der
deutsche romantische Roman steht so stark im Zeichen der Erkundung von Subjektivität und des
subjektiven Entwurfs von Welt, daß der historische Roman sich erst nach Walter Scotts Erfolgen
durchsetzt. „Waverley“ erschien 1814, Arnims „Die Kronenwächter“ 1817.
8. Friedrich Schlegel hat eine Fülle von Reflexionen über den Roman verfaßt: in den kritischen Äuße-
rungen über Goethes „Wilhelm Meister“, in den „Lyceums“- und den „Athenäums“-Fragmenten,
in seinem eigenen Roman „Lucinde“ sowie im „Brief über den Roman“.
9. Fr. Schlegel: Brief über den Roman, in: Gespräch über die Poesie. KSA II, S. 329-338.
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die pantheistische Philosophie Spinozas an, die er im Sinne des Idealismus


umdeutet, und umreißt die Vorstellung einer vom Geist durchdrungenen Natur;
„jede schöne Mythologie“ gilt ihm als ein „hieroglyphischer Ausdruck der
umgebenden Natur in dieser Verklärung von Fantasie und Liebe“.10 Er regt
dazu an, im Zeichen der neuen romantischen Naturauffassung auch alte Mythen
aufzugreifen, umzudeuten und in die erstrebte neue Mythologie zu integrieren.11
Allerdings geht es ihm nicht um eine anachronistische Wiederholung der alten
Mythen, sondern um eine autonome erst zu realisierende Mythenwelt, welche
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„das künstlichste aller Kunstwerke“ sein soll.12 Nicht zufällig stellt Friedrich
Schlegel nun eine spekulative Verbindung zwischen dem Roman und der Mytho-
logie her, indem er den Romanautoren die Orientierung an mythologischen
Erzählungen empfiehlt. Er fordert, „daß jeder Roman nach Art eines Mährchens
construiert seyn sollte, jede wahre Mythologie es aber unfehlbar ist“, und er
nennt als „glücklicherweise“ bereitstehendes Beispiel, an dem der „Übergang
vom Roman zur Mythologie zu zeigen“ sei, den „Heinrich von Ofterdingen“
des Novalis.13
Novalis schätzt die Romanform nicht weniger hoch ein als Friedrich Schlegel.
(Das Epos ist für ihn nur die schlichtere Vorstufe des Romans.) „Ein Roman ist
ein Leben als Buch“ – dieses Diktum ist mehrdeutig, suggeriert aber vor allem
eine ästhetische Teleologie: Das Leben scheint für Novalis – in Antizipation
eines berühmten Wortes von Mallarmé über die „Welt“ – dazu bestimmt zu sein,
ins Buch, in den Roman, zu münden. Manche Notizen des Novalis suggerieren,
daß sich das Leben an der Form des Romans orientieren, also nicht die Kunst das
Leben, sondern die leben ein künstlerisches Organisationsmodell nachahmen
soll: „Das Leben soll kein uns gegebener, sondern ein von uns gemachter Roman
seyn.“14 Um das eigene Leben zu verstehen, kann es demnach kein besseres
Mittel geben als seine Bespiegelung im Roman: „Man sollte, um das Leben
und sich selbst kennen zu lernen, einen Roman immer nebenher schreiben.“15
Demnach ist ein Roman die kondensierte Form individueller Selbstdarstellung,

10. Schlegel, KSA II, S. 318.


11. Schlegel, KSA II, S. 319.
12. Schlegel, KSA II, S. 312.
13. Das „Gespräch über die Poesie“ wurde in den späten Monaten des Jahres 1799 verfaßt und im April
1800 publiziert. In dieser Zeit entstand der erste Teil des „Heinrich von Ofterdingen“; Novalis
stand mit Fr. Schlegel und Tieck in lebhaftem Ideenaustausch. In den hinterlassenen Schriften,
welche der geplanten Fortsetzung des Romans gelten, finden sich Notizen, welche die Nähe zu
Fr. Schlegels Postulat einer neuen Mythologie bezeugen. Vgl. u.a. Novalis: Schriften, hg. v. Paul
Kluckhoihn u. Richard Samuel 2. Aufl. Stuttgart 1960-1975. Bd. I, S. 343). Klingsohrs Märchen
und die Forderung nach einer neuen Mythologie erhellen sich wechselseitig.
14. Novalis, Bd. II, S. 563.
15. Novalis, Bd. II, S. 544.
Der Roman und seine Konzeption in der deutschen Romantik 103

wie auch Friedrich Schlegel bestätigt, wenn er den Roman bezogen auf den
Menschen als „vollständigste(n) Ausdruck seines ganzen Wesens“ bezeich-
net.16 Allerdings gelten solche Spekulationen eher einer regulativen Idee davon,
was ein Roman sein sollte, als einem wirklichen oder auch nur realisierbaren
Romanprojekt. Wenn Schlegel meint, jeder Mensch, der gebildet sei und sich
bilde, enthalte „in seinem Innern einen Roman“, dann spricht er gar nicht über
die existierende Romanliteratur, denn er setzt hinzu, daß der Mensch den Roman
in seinem Innern „äußre und schreibe“, sei „nicht nötig“. 17
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1.1 Die offene Form des Romans und ihre Ambivalenz
Der Roman gestattete die Darstellung vieler heterogener und disparater Gegen-
stände, und er erlaubte das Experimentieren mit wechselnden und kontrastie-
renden Darstellungsformen. Diese formale Freiheit, die der Roman bot, wurde
sowohl als sein Vorzug wie auch als Schwäche gewertet. Jean Paul wirdmet
in seiner „Vorschule der Ästhetik“ dem Roman ausführliche Erörterungen.
Im 69. Paragraphen, wo es um den „poetischen Wert“, also den ästhetischen
Rang dieser Gattung geht, trägt er zusammen, was dem Roman an Vorbehalten
entgegengebracht wurde: Er besitze kein organisierendes Zentrum in Gestalt
einer einheitlichen Erzählerinstanz, keine einheitliche Schreibweise, ja nicht
einmal klare Grenzen zu den literarischen Nachbargattungen.
„Der Roman verliert an reiner Bildung unendlich durch die Weite seiner
Form, in welcher fast alle Formen liegen und klappern können. Ursprünglich
ist er episch; aber zuweilen erzählt statt des Autors der Held, zuweilen alle
Mitspieler. Der Roman in Briefen, welche nur entweder längere Monologen
oder längere Dialogen sind, grenzet in die dramatische Form hinein, ja wie
in Werthers Leiden, in die lyrische. Bald geht die Handlung, wie z. B. im
Geisterseher, in den geschlossenen Gliedern des Drama; bald spielet und
tanzet sie, wie das Märchen, auf der ganzen Weltfläche umher.“18

Der Roman verziehe, so Jean Paul weiter, die Romanautoren zu Nachlässig-


keiten, weil er keine strikten Regeln kenne, und er verwöhne den Leser, der jedes
strengen Kunsturteils enthoben sei: „[…] die Freiheit der Prose fließet schädlich
ein, weil ihre Leichtigkeit dem Künstler die erste Anspannung erlässet und den
Leser vor einem scharfen Studium abneigt“ (§ 69). Außerdem sei er oft wegen
seiner Länge unüberschaubar und unterwerfe sich dadurch besonders schwer

16. Schlegel, KSA Bd. II, S. 156 – Vgl. 1797-1801 (Literary Notebooks). Hg. v. Hans Eichner.
Frankf./M./Berlin/Wien 1980. Nr. 572, S. 75.
17. Fr. Schlegel, KSA Bd. 156.
18. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, § 69. Werke. Abt. I. Hg. von Norbert Miller, München 1959ff.,
Bd. 5. S. 248f.
104 Monika Schmitz-Emans

einer Beurteilung: „Sogar seine Ausdehnung – denn der Roman übertrifft alle
Kunstwerke an Papier-Größe – hilft ihn verschlimmern […].“ (§ 69)
Nun hat Jean Paul allerdings genau das, was er hier als ästhetische Schwächen
des Romans würdigt, selbst für seine eigenen Romane gründlich ausgenutzt: die
formalen Freiheiten, die Möglichkeit der Integration von Briefen, Monologen
und Dialogen, den Wechsel zwischen verschiedenen Stimmungswerten wie etwa
zwischen Sentimentalität und Satire, die Tendenz zur Länge. Und so liegt die
These nahe, daß bei Jean Paul mit dem angeblichen Aufzählen von Schwächen
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indirekt gerade Stärken des Romans aufgelistet werden. Entsprechend leitet
der Verfasser der „Vorschule“ dann auch zur positiven Evaluation des Romans
über: zur Idee einer poetischen Enzyklopädik:
„Auf der andern Seite kann unter einer rechten Hand der Roman, diese einzige
erlaubte poetische Prose, so sehr wuchern als verarmen. Warum soll es nicht
eine poetische Enzyklopädie, eine poetische Freiheit aller poetischen Frei-
heiten geben? Die Poesie komme zu uns, wie und wo sie will, sie kleide sich
wie der Teufel der Eremiten oder wie der Jupiter der Heiden in welchen
prosaischen engen dürftigen Leib; sobald sie nur wirklich darin wohnt: so
sei uns dieser Maskenball willkommen.“ (§ 69)

Und mit einer bemerkenswerten vergleichenden Wendung setzt Jean Paul dann
sogar den „Geist“ eines Romans in eine Analogie zum „Weltgeist“, um hervor-
zuheben, daß der geistige gehalt eines Werks wichtiger sei als dessen äußere
Form: „Sobald ein Geist da ist, soll er auf der Welt, gleich dem Weltgeiste, jede
Form annehmen, die er allein gebrauchen und tragen kann.“ (§ 69) Wie ihre
vorromantischen Wegbereiter, vor allem Herder, schätzen die Romantikern den
Roman letztlich vor allem deshalb so sehr, weil er alle möglichen Textgattungen,
Schreibweisen und Stile in sich aufnehmen kann. Friedrich Schlegel – dem in
Fortsetzung der „Querelle des Anciens et des Modernes“ ja gerade die Unter-
scheidung zwischen den „Alten“ und den „Modernen“ wichtig ist, sieht in der
Formenvielfalt und dem hybriden Zug des Romans die entscheidende Signatur
der Modernität:
„Der Roman ist die ursprünglichste, eigentümlichste, vollkommenste Form
der romantischen Poesie, die eben durch diese Vermischung aller Formen
von der alten klassischen, wo die Gattungen ganz streng getrennt wurden,
sich unterscheidet.“19

19. Fr. Schlegel, Geschichte der europäischen Literatur (Paris-Kölner Vorlesung 1803-04), KSA,
Bd. XI, S. 160.
Der Roman und seine Konzeption in der deutschen Romantik 105

Tatsächlich sind viele romantische Romane als Kombinationen aus verschie-


denen Darstellungsformen konstruiert. So ergibt sich eine bemerkenswerte
formale Vielfalt: Lyrisches und Dramatisches wechselt oft mit narrativen und
reflexiven Partien ab, verschiedene Stimmen kommen zu Wort – in Vorweg-
nahme des Bachtinschen Theorems von der „Vielstimmgkeit des Romans“ –,
und vor allem wird diese Polyphonie dazu genutzt, unterschiedliche Sichtweisen
der Wirklichkeit miteinander zu kontrastieren. Damit vermag gerade der Roman
die Welt in ihrer Vieldeutigkeit und Interpretationsfähigkeit zu reflektieren. Es
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hängt vom jeweiligen Standort des Betrachters ab, wie sich Personen, Ereig-
nisse und vermeintliche „Wahrheiten“ darstellen, und jeder Standort kann sich
zudem immer wieder verschieben. Für Goethe ist eine subjektive Beziehung
zu den Dingen die Grundlage der romanhaften Darstellung: Er charakterisiert
den Roman in den „Maximen und Reflexionen“ als eine Gattung, „in welcher
der Verfasser sich die Erlaubnis ausbittet, die Welt nach seiner Weise zu behan-
deln. Es fragt sich also nur, ob er eine Weise habe; das andere wird sich schon
finden.“ (Nr. 938).
Die Bedeutung der Darstellungsform für die Interpretation der an sich viel-
deutigen Welt läßt sich im Roman vor allem durch verschiedene Schreibweisen
sinnfällig machen: Elemente des Briefromans vermischen sich in romantischen
Romanen mit Bausteinen zu philosophischen Romanen, Bildungsromanen oder
Künstlerromanen, Satiren, Elegien, Parodien, Pastiches. In Übereinstimmung
mit Herder und Jean Paul schreibt Friedrich Schlegel dem Roman die Macht zu,
„alle getrennte(n) Gattungen wieder zu vereinigen“.20 Wolle der Roman „eine
besondere Gattung“ sein, so „verabscheue“ er ihn, sagt Schlegel in charakte-
ristischer Zuspitzung.21 „[…] ich kann mir einen Roman kaum anders denken,
als gemischt aus Erzählung, Gesang und andern Formen.“22 Novalis teilt diese
Idee, wenn er im „Allgemeinen Brouillon“ unter dem Stichwort „ROMANTIK“
notiert: „Sollte nicht der Roman alle Gattungen des Styls in einer durch den
gemeinsamen Geist verschiedentlich gebundenen Folge begreifen?“23 In seinen
„Literarischen Notizen“ nennt Schlegel den Roman sogar ein „gebildetes künst-
liches Chaos“24 und betont: „Das Wesentliche im Roman ist die chaotische
Form“.25 So weit wäre Goethe freilich nicht gegangen.

20. Fr. Schlegel, KSA, Bd. II, S. 182.


21. Fr. Schlegel, KSA, Bd. II, S. 335.
22. Fr. Schlegel, KSA, Bd. II, S. 335.
23. Novalis, Bd. III, S. 271.
24. Fr. Schlegel: Literarische Notizen, S. 146.
25. Fr. Schlegel: Literarische Notizen, S. 184.
106 Monika Schmitz-Emans

1.2 Der Roman als potenzielle Enzyklopädie


Wichtige Leitbilder des idealen „romantischen Buches“, wie es in den Speku-
lationen der Frühromantiker erörtert wird, sind zum einen die Bibel, zum anderen
die Enzyklopädie als eine auf Totalisierung angelegte Darstellung des mensch-
lichen Wissens. Das besondere Interesse der Romantiker an den Möglichkeiten
und Spielform einer Darstellung enzyklopädischen Wissens hat tiefere Ursa-
chen: Das romantische Bewußtsein ist tief durch die Erfahrung von Zeitlichkeit
und Verzeitlichung geprägt – und durch die Frage, ob und wie sich die Zeit
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aufheben lasse. Wie der Romantikforscher Helmut Schanze dargelegt hat, gilt
aus romantischer Sicht das Buch als ein Medium, das im ansonsten allseits
wahrgenommenen Fluß der vergänglichen Dinge Bestand hat, wenn es darum
geht, den Geist sich selbst darstellen zu lassen.26 Vor allem Friedrich Schlegel
und Novalis sind von der Idee einer poetischen Enzyklopädie fasziniert – und
von der Idee eines offenen, unabgeschlossenen Werks, das immerzu erweitert
und angereichert werden kann. Sie widmen dem Projekt der Entgrenzung des
Buches Spekulationen, welche auf moderne literaturtheoretische Konzepte
vorausdeuten, insbesondere auf das einer universalen intertextuellen Vernetzung
aller Werke. Unter dem „absoluten Buch“ versteht Friedrich Schlegel nicht ein
„einzelnes Buch im gewöhnlichen Sinne“, sondern „ein System von Büchern“,27
und er möchte dafür den Begriff der „Bibel“ reservieren: „[…] gibt es ein
andres Wort, um die Idee eines unendlichen Buchs von der gemeinen zu unter-
scheiden als Bibel, Buch schlechthin, absolutes Buch?“28 Novalis fordert analog
dazu: „Alles soll zu Encyklopaedieen gemacht werden“.29 Als eine grenzenlose
und auf Entgrenzung angelegte Gattung nähert sich gerade der Roman – wie
schon Jean Pauls „Vorschule“ betont – wie von selbst dem Enzyklopädischen;
er kommt der Idee einer poetischen Enzyklopädie am nächsten. Auch darauf
beruht seine zentrale Bedeutung in der Romantik. In seinen „Lyceums“-Frag-
menten verbindet Friedrich Schlegel die Idee des Enzyklopädischen mit der der
individuell-perspektivischen Weltsicht. Der Roman wird hier charakterisiert
als „ein Kompendium, eine Encyclopädie des ganzen geistigen Lebens eines
genialischen Individuums“.30 Und in den Notebooks sprich er vom Roman
als der „Vereinigung zweier Absoluten, der absoluten Individualität und der
absoluten Universalität“.31

26. Helmut Schanze (Hg.): Romantik-Handbuch. Stuttgart 1994, Einleitung, S. 2.


27. Fr. Schlegel, KSA, Bd. II, S. 265.
28. Fr. Schlegel, KSA, Bd. II, S. 265.
29. Novalis Bd. II, S. 18.
30. Fr. Schlegel, KSA, Bd. II, S. 156.
31. Fr. Schlegel: Literarische Notizen, Nr. 434.
Der Roman und seine Konzeption in der deutschen Romantik 107

Zu Recht ist die kritische Frage gestellt worden, ob es den von Schlegel
modellierten Roman je gegeben habe und ob er überhaupt realisierbar sei. Bruno
Hillebrand zitiert Schlegels Diktum, die romantische Poesie könne ‘ewig nur
werden’ und ‘durch keine Theorie’ erschöpft werden, um mit Blick auf die Idee
des Romans, der seine eigene Theorie enthalte, die Folgerung zu ziehen, den
romantischen Roman könne es demnach gar nicht geben.32 Er betont aber auch,
daß Logik nicht „die rechte Methode“ ist, „um sich dem Schlegelschen System
zu nähern.“33 Um die romantische, vor allem die Schlegelsche Romantheorie
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angemessen zu rezipieren, sollte man bedenken, daß es mit ihr nicht – oder doch
nicht nur – darum geht, den Roman als das zu beschreiben, was er ist. Vielmehr
wird „der Roman“ auch als Gegenstand von visionären Antizipationen themati-
siert – und sogar als eine Art ästhetischer Grenzwert (limes), auf den sich jede
konkrete künstlerische Darstellung zubewegen sollte, ohne ihn doch je erreichen
zu können.34 So konvergieren in Schlegels Spekulationen „der Roman“ und das
„Absolute“ zur Idee eines „absoluten Romans“, den er auf eine Weise skizziert,
die mit konventioneller Gattungstheorie nichts mehr zu tun hat:
„Absoluter R[oman] = ps[ychologischer] R[oman] + ph[ilosophischer]
R[oman] + F[antastischer] R[oman] + S[entimentaler] R[oman] + absolute
M[imik] + absolut S[entimental-] Fantastisches + absolutes p[oetisches]
D[rama] + rh[etorisches] D[rama] + Proph[etie].“35

1.3 Der Roman als Medium der Autoreflexion


Literatur, Kunst und Ästhetik um 1800 stehen unter dem Vorzeichen der
Autonomieästhetik. Zu deren wichtigsten Dokumenten gehören Immanuel
Kants „Kritik der Urteilskraft“ und die ästhetischen Schriften des Karl Philipp
Moritz. Das Theorem von der Autonomie der Kunst besagt, daß Kunstwerke
nicht aus außerästhetischen Bedingungs- oder Zweckzusammenhängen heraus
erklärt werden können. Sie gehorchen allein den immanenten Gesetzen ihrer
Gattung; sie geben sich selbst ihre Spielregel vor. Sie stehen weder weder im
Dienst praktischer Zwecke noch sind sie bloße Instrumente wissenschaftlicher,
religiöser oder philosophischer Belehrung. Eine Kunst (und Literatur), die
ihren Zweck in sich selbst hat, muß sich auch selbst begründen. Wenn es einen
verbindenden Grundzug romantischer Literatur gibt, so ist es die Tendenz zur

32. Bruno Hillebrand: Theorie des Romans. München 1972, S. 159.


33. Hillebrand: Theorie des Romans, S. 159.
34. Vgl. Hillebrand, Theorie des Romans, S. 161, über das Athenäums-Fragment 116, das Schle-
gels Romantheorie in nuce enthalte: „Was hier entworfen wird an literarischer Möglichkeit, ist
schlechterdings nicht vorstellbar […]. Es ist so wenig vorstellbar wie alles utopische Denken.“
35. Fr. Schlegel: Literarische Notizen, Nr. 418.
108 Monika Schmitz-Emans

Selbstbegründung im Sinne des Autonomiekonzepts: Sie vollzieht sich durch


Selbst-Darstellung und Selbst-Bespiegelung (Autoreflexion). Darum ist das
zentrale Thema romantischer Literatur – die Literatur.
Jean Paul betont im ersten Paragraphen seiner „Vorschule der Ästhetik“, die
Dichtung müsse sich selbst bespiegeln, und zwar weil abstrakte theoretische
Begriffe ihr nicht gerecht werden könnten. Was sich unter negativer Akzentu-
ierung als Vorbehalt gegenüber Dichtungs-Theorien liest, rechtfertigt positiv
zugleich alle Formen poetischer Autoreflexivität. „Das Wesen der dichterischen
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Darstellung ist wie alles Leben nur durch eine zweite darzustellen […]. Sogar
bloße Gleichnisse können oft mehr als Worterklärungen aussagen […]“.36 Die
hier ähnlich wie bei Schlegel erhobene Forderung nach poetischer Reflexivität
wird vom Roman in exemplarischer Weise eingelöst. Romantische Romane
widmen sich auf inhaltlicher Ebene immer wieder der Kunst und Literatur sowie
deren Bedeutung für das menschliche Leben. Sie enthalten Dialoge, philoso-
phisch-reflexive Partien und literaturhistorische Reminiszenzen, mit denen es
um „Literatur“, um „Poesie“, um Schreibweisen und Stile, Schreibprozesse und
Lektüren geht. Aber nicht nur bezogen auf die Inhaltsebene sind romantische
Romane reflexiv: Sie weisen auch und vor allem auf das hin, was sie in ihrer
Eigenart als ästhetische Werke ausmacht: ihre Form. Unter allen literarischen
Gattungen hat gerade der Roman einen wichtigen strategischen Vorteil: Weil er
einen breiten Raum für formale Experimente bietet, kann er die Aufmerksamkeit
des Lesers besonders gut auf seine Form lenken. Mit Formen gespielt wird auf
unterschiedliche Weisen; vor allem Paratexte bieten Gestaltungspotenziale:
So spielt Jean Paul durch die Aufteilung und Benennung seiner Kapitel auf
Formen der Wissensvermittlung und auf Medien der Kommunikation, aber
auch auf die Bruchstückhaftigkeit des Vermittelten an. Vor- und Nachworte,
Fußnoten, Appendices, angebliche Herausgeberinformationen und andere (nur
scheinbare) Nebentexte werden zu Orten poetischer Autoreflexion, zu Anlässen
der facettenreichen Thematisierung von Poesie.
Offensichtlich ist gerade der Roman dazu disponiert, die Leitidee einer roman-
tischen „Transzendentalpoesie“ sinnfällig zu machen. Dieser neologistische
Terminus aus Friedrich Schlegels viel zitiertem 238. Athenäums-Fragment ist
analog zu dem der „Transzendentalphilosophie” gebildet. Transzendentalphilo-
sophie im Sinne Kants ist eine Philosophie, welche den Erkenntnisprozeß durch-
gängig mit der Reflexion über die Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnis
verbindet; das transzendentalphilosophische Wissen weiß – anders gesagt –

36. Jean Paul: Vorschule, § 1 (S. 30).


Der Roman und seine Konzeption in der deutschen Romantik 109

immer auch von sich selbst. Eben diese Selbstpotenzierung überträgt Friedrich
Schlegel von der Philosophie auf die Poesie. Analog dazu wäre Transzenden-
talpoesie eine Poesie, die in den Darstellungsprozeß selbst die Reflexion über
ihre eigenen und spezifischen Möglichkeitsbedingungen integriert. Romantische
„Transzendentalpoesie“ ist „Poesie der Poesie”. Friedrich Schlegel, der diesen
Terminus im 238. Athenäums-Fragment verwendet, sieht darin die zentrale
Tendenz der „modernen“ Dichtung.
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„Es gibt eine Poesie, deren eins und alles das Verhältnis des Idealen und des
Realen ist, und die also nach der Analogie der philosophischen Kunstsprache
Transzendentalpoesie heißen müßte.” 37

In immer neuen Wendungen spielt Friedrich Schlegel die Idee der reflexiven
Selbstpotenzierung durch. „Philos[ophie] des Romans im Roman selbst“, notiert
er sich.38 Und im „Brief über den Roman“ heißt es, daß es eine „Theorie des
Romans“ eigentlich noch nicht gebe – eine „Theorie […], die im ursprünglichen
Sinne des Wortes eine Theorie wäre: eine geistige Anschauung des Gegen-
standes mit ruhigem, heitern ganzen Gemüt“ –, macht aber auch deutlich, wo
der rechte Ort für solche „Anschauung“ (Theoria) wäre: „Ein solche Theorie
des Romans würde selbst ein Roman sein müssen […].“39 Das insofern gerade
mit der Roman-Ästhetik eng verknüpfte Konzept einer „Transzendentalpoesie“
ist auf zwei Weisen auslegbar. Es bedeutet einerseits, daß die Poesie ihre Affi-
nitäten zum philosophisch-reflexiven Diskurs entdeckt – mit entsprechenden
inhaltlich-thematischen Konsequenzen: Viele Romane enthalten ja Abhand-
lungen, Exkurse, Essays und Aphorismen über philosophische Themen. Es
bedeutet aber auch, dass die Poesie in eine Art Konkurrenz- oder doch Komple-
mentärverhältnis zur Philosophie eintritt und auf die „poetische” Dimension
der Philosophie selbst aufmerksam macht. Der Roman, so schreibt Friedrich
Schlegel, „ist Poesie in Verbindung mit Wissenschaft, daher (!) mit Kunst; daher
die Prosa und die Poesie der Poesie.“40
Versucht man, sich von der romantischen Theorie oder „Philosophie“ des
Romans ein Bild zu machen, so erscheint es verfehlt, sich allein an theoretische
Schriften zu halten, auch wenn es deren verschiedene gibt. Auch und gerade
die Romane selbst sind auf ihre immanente „Philosophie“ zu befragen. Denn
es entspricht ja dem romantischen Verständnis des Romans wie auch seiner
Theorie, daß die literarischen Texte selbst der privilegierte Rahmen theoretischer

37. Fr. Schlegel, KSA, Bd. II, S. 204. (238. Ath.fragment.)


38. Fr. Schlegel: Literarische Notizen, Nr. 376.
39. Fr. Schlegel: KSA, Bd. II, S. 337.
40. Fr. Schlegel: Literarische Notizen, Nr. 1566.
110 Monika Schmitz-Emans

Reflexion sind. Die romantischen Autoren selbst haben nicht nur ihre Ideen über
den Roman bevorzugt in Romanform bzw. in Form poetischer Aphorismen und
Dialoge ausformuliert – sie haben diese Vorstellungen auch bei der produktiven,
sei es kritischen, sei es zustimmenden Lektüre von tatsächlichen Romanen
entwickelt. (Vor allem Goethe inspirierte die Frühromantiker zu Konzepten
des Romans.) Wortschöpfungen wie „Transzendentalphilosophie“ illustrieren
im übrigen, daß die romantische Poetik selbst ein poetisches Projekt ist. Sie
dokumentiert eine Arbeit an der Sprache, die selbst als poetisch gelten darf, weil
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sie sich darum bemüht, einem neuen Denken neue Artikulationsmöglichkeiten
zu verschaffen. Mit der Verwendung tradierter Begriffe sich die romantische
Ästhetik ebensowenig zufrieden geben wie überhaupt mit der Ausformulierung
statischer Thesen.

1.4 Das Erbe des Cervantes


Obwohl der Roman um 1800 noch eine gemessen an anderen Gattungen
junge Form ist, gibt es für die Romanautoren dieser Zeit doch ein wichtiges
Vorbild, dem sie nacheifern: Viele Romantiker entwickeln ein besonders enges
Verhältnis zu „Don Quijote“. Friedrich Schlegel sieht im Roman des Cervantes
ein „System der romantischen Elementarpoesie“.41 Die Aufwertung des Helden
Don Quijote selbst hatte sich schon seit der Aufklärung vollzogen: Mehr und
mehr hatte man in diesem nicht mehr (oder doch nicht ausschließlich) einen
Narren gesehen, sondern einen wenn auch weltfremden Idealisten. Für einige
Interpreten des 18. Jahrhundert wird der Ritter in seiner Eigenschaft als Visi-
onär und als idealistischer Außenseiter sogar zum Sinnbild der künstlerischen
Existenz. Auch die romantische Rezeption dieser Figur ist durch diese Verklä-
rungstendenz charakterisiert. Doch die Frühromantiker (darunter die Brüder
August Wilhelm und Friedrich Schlegel, Novalis und Schelling) schätzten nicht
nur Hauptfigur und Inhalt des Cervantes-Romans, sondern auch und besonders
seine Form. In ihren seit Mitte der 1790er Jahre verfaßten Entwürfen zu einer
neuen Ästhetik stellen sie Cervantes neben Shakespeare und Goethe. August
Wilhelm Schlegel sieht in Don Quijote und Sancho Pansa die komplemen-
tären Prinzipien von „Poesie und Prosa“ repräsentiert. Jean Paul stellt dieses
„Zwillingsgestirn der Torheit“ über das „ganze Menschengeschlecht“ und läßt
sich von Cervantes dazu anregen, seine eigenen Romanhelden paarweise als
Vertreter komplementärer Prinzipien und Lebenshaltungen auftreten zu lassen.42
Mit dem Paar Don Quijote und Sancho wie mit den Konflikten zwischen dem

41. [Literary Notebooks, Nr. 1023]


42. Jean Paul: Vorschule (Werke I, 5), S. 126.
Der Roman und seine Konzeption in der deutschen Romantik 111

Ritter und seiner Umwelt verbindet sich die Vorstellung, es gebe keine abso-
lute und vorgegebene Wirklichkeit, sondern diese unterliege wechselnden und
kontriversen Auslegungen.
Ein Kernthema idealistischer Ästhetik ist die Spannung zwischen dem Ideal
und der Realität. Deren Auseinanderklaffen wird als Kennzeichen der Moderne
gegenüber der Antike verstanden, in welcher noch ein harmonischer Ausgleich
möglich gewesen sei, auf den die Moderne aber nicht mehr hoffen könne. Eine
wichtige Leitfrage in der Theorie der Künste und ästhetischen Gattungen ist,
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wie die einzelnen Kunstformen auf jene Spannung reagieren, ob sie sich mit
ihren Stoffen und Darstellungsformen eher auf die Seite der Idealität oder auf die
der Realität schlagen, und wie sie den Abgrund zwischen Idealem und Realem
reflektieren. Schiller deutet die Gattung der Satire als Reaktion auf die Diskre-
panz zwischen Realem und Idealem, durch welche diese Diskrepanz noch betont
werde. Der Roman des Cervantes gilt Schiller als Inbegriff der so verstandenen
Satire. Das Interesse der Dichter und Dichtungstheoretiker um 1800 konzentriert
sich unter inhaltlichen Aspekten auf die Zusammenstöße zwischen den von Don
Quijote vertretenen Idealen mit einer Wirklichkeit, welche ihnen feindlich und
widersetzlich erscheint. In Sancho entdeckt man das „realistische“ Gegenstück
zum „idealistischen“ Don Quijote. Dadurch wird der Knappe als Bestandteil der
Romankomposition deutlich aufgewertet. In ihm verkörpert sich rezeptionsge-
schichtlich gleichsam das realistische Erbe des Aufklärungsromans, während
Don Quijote für die Möglichkeit steht, die Alltagswelt durch die Imagination
zu verklären und zu verwandeln.
Mit seinem letzten, fragmentarisch gebliebenen Roman, „Der Komet“, hat
sich Jean Paul unmißverständlich am „Don Quijote“ orientiert. Zentrales Thema
des Werks ist die poetische Einbildungskraft. Der Protagonist Nikolaus Marg-
graf hält sich für einen heimlichen Prinzen, und er führt ein Leben, das seinen
Vorstellungen von inkognito reisenden Fürstensöhnen entspricht. Durch seine
fixe Idee ist er ein Nachfahre Don Quijotes; zugleich schildert Jean Paul ihn
als eine Art Postfiguration Christi. Sein Gefährte Peter Worble, ein säkularer
Heiliger Petrus, ist zugleich ein Pendant zu Sancho Pansa. Anspielungen auf
die Geschichte des Ritters von La Mancha und Anspielungen auf die Wunder
Jesu durchflechten sich aufs engste. Begreift man Nikolaus als einen zweiten
Messias, so erscheint die Einbildungskraft das eigentliche Medium einer Welter-
lösung. Die „Wunder“, von denen Jean Pauls Roman berichtet, sind Wunder der
Phantasie; vorstellbar werden sie in der Welt des Romans mit ihren besonderen
Spielregeln. Als Roman über die Phantasie (und über eine moderne Quijote-
Figur) ist der Text autoreflexiv – ein Dokument der „Transzendentalpoesie“.
112 Monika Schmitz-Emans

2. Poetisierung der Welt oder Prosa der Verhältnisse:


Novalis und Hegel als kontroverse Theoretiker des Romans.
Prägend für viele Romane um 1800 ist das Modell des Bildungsromans. Im
Prozeß der Auseinandersetzung mit der Welt erfolgt dessen Grundmuster zufolge
zugleich die Selbstbildung des Protagonisten, also die Entfaltung angeborener
Fähigkeiten sowie der Erwerb von Erfahrungen und Einsichten. Vorausgesetzt
ist dreierlei: daß der Einzelne darauf angelegt sei, sich zu entwickeln, daß diese
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Entwicklung sich in der Auseinandersetzung mit der Welt vollziehe und daß
ein Ausgleich zwischen dem Einzelnen und der Welt zumindest prinzipiell
möglich sei, sich der Einzelne also einen ihm gemäßen Platz in dieser Welt
erringen könne. Der Bildungsromans stellt eine literarische Reaktion auf die
Aufhebung der ständischen Ordnung und die daraus resultieren Vervielfälti-
gung von Möglichkeiten individueller Lebensgestaltung dar. Damit entsteht
er im Zeichen eines Gewinns an Handlungsspielräumen, der zugleich einen
Orientierungsverlust bedeutet: Der Einzelne ist nicht durch die gesellschaft-
liche Ordnung festgelegt, sondern er muß sich innerhalb von deren Rahmen ein
individuelles Lebensmuster schaffen, seinem Leben eine auf seine Besonderheit
hin ausgerichtete Ordnung geben. Ob und in welchem Maße die bestehende
Realität dies zuläßt, ist allerdings zweifelhaft; und genau damit setzt sich der
Bildungsroman auseinander. Daher vollzieht sich der Werdegang des proto-
typischen Helden eines solchen Romans im Zeichen der Spannung zwischen
Kontingenz und Ordnung.
In Beschreibungen der Moderne und in deren Abgrenzungen von der Vergan-
genheit spielen Reflexionen über den Roman eine tragende Rolle. Die Gegenüber-
stellung von Vormoderne (Antike und Mittelalter) und Moderne (Gegenwart)
steht im Zeichen der Dichotomie von Totalität und Partikularisierung, von
ganzheitlichem Erleben und Denken einerseits, Individualisierung andererseits.
Als literarische Formen, die diesen beiden epochalen Konzepten jeweils entspre-
chen, gelten das Epos und der Roman. Schelling würdigt in seinen Vorlesungen
über die „Philosophie der Kunst“ (1802/03) den Roman als Ausdrucksform des
Zeitalter der Individualität. Wenn in der Moderne „das Individuum oder Subjekt“
an Bedeutung gewinne, so als der Repräsentant einer „getheilten Welt“. Das
Epos sei kollektives Produkt einer mythisch geeinten Gesellschaft gewesen, der
Roman sei dagegen jeweils Erzeugnis eines Einzelnen.43

43. Friedrich Wilhelm Joseph Schellings sämmtliche Werke. Abt. I, Bd. V. Stuttgart/Augsburg 1859,
S. 669f.
Der Roman und seine Konzeption in der deutschen Romantik 113

So intensiv sich die Romantiker und ihre Zeitgenossen einerseits auch mit
dem Roman auseinandersetzen, so hoch auch die Erwartungen sind, die sie
gerade dieser literarischen Gattung entgegenbringen, so unterschiedlich sind
andererseits doch die Perspektiven und die Modelle, die sich in den Jahrzehnten
vor und nach 1800 aus dem Nachdenken über dem Roman ergeben. Als zwei
Pole des breitem Spektrums zeitgenössischer Romantheorie können Novalis und
Hegel gelten. Für ersteren ist der Roman – ähnlich wie für Friedrich Schlegel –
Inbegriff des romantischen Kunstwerks und vor allem ein wichtiges Medium
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ästhetischer Überhöhung und Verklärung der Welt. Autonom ist der Roman
vor allem insofern, als er nicht darstellen muß, was wirklich ist, sondern eine
harmonische Welt im Zeichen des Als-ob gestalten darf – als Gegenentwurf zum
Faktischen, als ideales, bedeutungsvolles Konstrukt des poetischen Geistes.
Hegels Romantheorie hingegen leitet zu modernen Betrachtungen des Romans
über, denen zufolge gerade im Roman als dem Produkt einer spätzeitlichen
Kultur Ernüchterung und Desillusionierung des Menschen artikuliert werden.
Der Roman ist für Hegel eine Auseinandersetzung mit dem Historisch-Fakti-
schen. Darum gilt es, an modellhaften Geschichten die Gesetzmäßigkeiten
menschlichen Lebens und menschlicher Auseinandersetzung mit Wirklichkeit
zu bespiegeln. Wie kommt es innerhalb eines recht engen historischen Zeitraums
zu solch diskrepanten Perspektiven auf den Roman?

2.1 „Heinrich von Ofterdingen“: Der Roman als Verklärung des Faktischen
Die Frühromantiker-Generation, zu der auch Novalis gehört, war von Goethes
„Wilhelm Meister“ stark geprägt. Ludwig Tiecks Maler- und Bildungsroman
„Franz Sternbalds Wanderungen“ ist wie eine ganze Reihe anderer roman-
tischer Werke durch den „Meister“ angeregt worden. Allerdings führt Tieck
seinen Helden auch ähnlich in ein verklärtes Mittelalter, eine Welt der bedeut-
samen Erscheinungen und Gestalten wie Novalis eigener Roman „Heinrich von
Ofterdingen“. Gerade dieses fragmentarisch gebliebene, von Tieck posthum
veröffentlichte Werk gilt schon den Zeitgenossen als Inbegriff des ‘transzen-
dentalpoetischen’ romantischen Künstlerromans. „Heinrich von Ofterdingen“
ist als Geschichte eines Bildungswegs ebenfalls in „Wilhelm Meisters“ Spuren
entstanden. Doch nach anfänglicher Hochschätzung hat sich gerade Novalis
von diesem klassischen Bildungsroman klar distanziert: „So viel ich auch aus
Meister gelernt habe und noch lerne, so odiös ist doch im Grunde das ganze
Buch”, so schreibt er an Tieck (23.2.1800). Als besonders ernüchternd empfand
Novalis an Goethes Modellgeschichte über den Weg eines Individuums in die
Welt, daß hier ein kompromißartiger Ausgleich mit den Ansprüchen der Realität
114 Monika Schmitz-Emans

gesucht und gefunden wird. Tatsächlich konfrontiert Goethe seinen Helden ja


mit verschiedenen ernüchternden Erfahrungen, die seine Ideale relativieren.
Wilhelms Bildungsgang führt ihn insbesondere von dichterischen Anfängen in
ein Leben der praktischen Zwecksetzungen und des Erwerbs. Die Ökonomie
siege über die Philosophie, so registriert Novalis ungehalten;44 und der „Meister“
sei „ein Candide, gegen die Poësie gerichtet“.45 Aus der Kritik des von den
Frühromantiker zunächst verehrten Goethe-Romans wird via negations ablesbar,
was Novalis vom romantischen Roman erwartet. „Gegen Wilhelm Meisters
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Lehrjahre. Es ist im Grunde ein fatales und albernes Buch – so pretentiös und
pretiös – undichterisch im höchsten Grade, was den Geist betrifft […] Aus Stroh
und Hobelspänen ein wolschmeckendes Gericht […].“46
Das Oeuvre des Novalis bezeugt seine intensive Auseinandersetzung mit
der Philosophie Kants wie auch Fichtes und Hemsterhuis’ Konzeption der
Einbildungskraft. Sein auf dieser Basis entwickeltes Konzept des magischen
Idealismus kann als Radikalisierung des philosophischen Idealismus gelten.
Die kritische Distanzierung von der alltäglichen Welt und ihrer ernüchternden
„Normalität“ und ihren Ernüchterungen, ist zu Recht als verbindenden Grundzug
romantischen Denkens und Schreibens herausgestellt worden.47 Die Idee des
Novalis, die Welt müsse „romantisiert“ werden, läßt sich als Forderung nach
einer Überwindung des Alltäglichen, Trivialen, Banalen, Starren und Normierten
verstehen. „Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen
ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem
Endlichen einen unendlichen Schein gebe(,) so romantisire ich es“.48 In vielen
romantischen Werken wird eine solche Transformation des Bekannten und
Endlichen vollzogen; für Novalis liegt hier die Hauptaufgabe des Romans.
„Ein Roman muß durch und durch Poësie seyn […] Es scheint in einem ächt
poëtischen Buche, alles so natürlich – und doch so wunderbar – Man glaubt
es könne nicht anders sein – und gehe einem nun erst der rechte Sinn für die
Welt auf.“49

Der „Ofterdingen“ ist auf inhaltlicher wie auf struktureller Ebene eine Selbst-
darstellung der „Poesie“; diesem Grundzug entsprechen sowohl seine Charak-
tere, die jeweils einzelne Aspekte des Dichterischen und des Dichtertums

44. vgl. Novalis, Bd. III, S. 639, 505.


45. Novalis, Bd. III, S. 646, 536.
46. Novalis, Bd. III, 638f.
47. Vgl. Lothar Pikulik: Romantik als Ungenügen an der Normalität, 1979.
48. Novalis, Bd. II, S. 545.
49. Novalis, Bd. III, S. 558.
Der Roman und seine Konzeption in der deutschen Romantik 115

repräsentieren, als auch seine Handlung. Ganz „Poesie der Poesie“, ist Hein-
richs Geschichte die eines Dichters und einer poetischen Phantasie, welche die
Gründung eines ewigen Reiches in Angriff nimmt. Novalis setzt seinen Helden
keiner Gefährdung und keiner echten Versuchung aus – geschweige denn, daß
er ihn einer fremden Welt begegnen, sich an dieser zerreiben und ihn sich selbst
entfremden ließe. Stattdessen entwirft er eine poetische Weltordnung, in der das
Subjekt das Zentrum der Welt bildet. Das poetische Imaginationsvermögen als
ordnungsstiftende Instanz tritt der Zerrissenheit und Diskontinuität, der Kontin-
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genz, der drohenden Sinn- und Ordnungslosigkeit der Dinge entgegen – vor
allem auf der Ebene der Romankomposition. Dabei ist er nicht ‘mimetisch’,
er stellt nicht dar, was ist, sondern was sein soll – einen Zustand utopischer
Versöhnung, der mit den zerrissenen und unsicheren Zeitverhältnissen kontras-
tiert. In gewissem Sinn tritt bei Novalis der Roman an die Stelle der anachro-
nistisch gewordenen metaphysischen Tradition. Die reale Welt vermag er nicht
zu erlösen. Aber er dokumentiert das Vermögen des menschlichen Geistes, sich
die Welt im Zustand der Erlösung vorzustellen.

2.2 Hegels Konzept des Romans als Dokument der Ernüchterung


Hegels Romankonzept ist stark durch die Form des klassischen (Goetheschen)
Bildungsromans geprägt; in seinen Vorlesungen über die Ästhetik hat er eine
Definition des Bildungsromans gegeben, die einen regelrechten Gegenentwurf
zum romantischen Roman à la „Ofterdingen“ bietet. Für den Systemphilosophen
Hegel ist der Roman eine Kunstform, in der sich modellhaft die Auseinanderset-
zung zwischen dem Ich in seiner Eigenschaft als Subjekt der Erfahrung und der
Geschichte mit der Welt als der Totalität seiner Objekte bespiegelt. Auch wenn
er nicht im trivialen Sinn mimetisch, also nicht an die treue und überprüfbare
Wiedergabe historischer Tatsachen gebunden ist, entspricht es doch seinem
Ethos, zum Medium der Auseinandersetzung zwischen menschlichem Subjekt
und objektiver Welt zu werden.
Als ‘die moderne bürgerliche Epopöe’ setzt der Roman eine bereits zur „Prosa“
gewordene Wirklichkeit voraus. An die von Novalis geforderte „Poetisierung“
der Welt kann er nicht glauben. Der „ursprünglich poetische Weltzustand“ ist
verloren, die „Prosa der Verhältnisse“ steht der „Poesie des Herzens“ gegen-
über. Was „Prosa der Verhältnisse“ bedeutet, wird klarer, wenn es ernüchternd
heißt, daß jeder Held am Ende doch eine Frau, irgendeine Stellung und Kinder
bekommt, unter einem verdrießlichen Amt und einem ehelichen Hauskreuz zu
leiden beginnt und der „Katzenjammer“ der bürgerlichen Existenz sich stets
aufs neue wiederholt.
116 Monika Schmitz-Emans

„Diese Kämpfe [zwischen Ich und Welt] […] sind in der modernen Welt
nichts Weiteres als die Lehrjahre, die Erziehung des Individuums an der
vorhandenen Wirklichkeit, und erhalten dadurch ihren wahren Sinn. Denn das
Ende solcher Lehrjahre besteht darin, dass sich das Subjekt die Hörner abläuft,
mit seinem Wünschen und Meinen sich in die bestehendem Verhältnisse und
die Vernünftigkeit derselben hineinbildet, in die Verkettung der Welt eintritt
und sich in ihre einen angemessenen Standpunkt erwirbt. Mag einer auch noch
soviel sich mit der Welt herumgezankt haben, umhergeschoben worden sein,
zuletzt bekommt er meistens doch sein Mädchen und irgendeine Stellung,
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heiratet und wird ein Philister, so gut wie die anderen auch; die Frau steht der
Haushaltung vor, Kinder bleiben nicht aus, das angebetete Weib, das erst die
Einzige, ein Engel war, nimmt sich ungefähr ebenso aus wie alle anderen,
das Amt gibt Arbeit und Verdrießlichkeit, die Ehe Hauskreuz, und so ist der
ganze Katzenjammer der übrigen da.“ (Hegel, Werke, XIV 220)

Viele Romantheoretiker des 19. Jahrhunderts sind Hegel gefolgt. So schreibt


Friedrich Theodor Vischer in seiner „Ästhetik“, die Grundlage des Romans sei
die empirische Wirklichkeit als eine „schlechthin nicht mehr mythische“, eine
„wunderlose Welt“.50

3. Selbstbespiegelungen des Romans


Die romantische Literatur entwickelt, wie angedeutet, viele und einfalls-
reiche Strategien der Selbstbespiegelung. Vor allem in Romanen geht es oft
um Künstler und Dichter, um ihr Leben, ihre Erfahrungen, ihre Visionen und
Werke, und mit der Romanform läßt sich besonders gut experimentieren. Zu
den beliebtesten Kunstgriffen romantischer Romanautoren gehören die Inei-
nanderschachtelung mehrerer Fiktions- oder Berichtsebenen sowie, damit
verbunden, ein oft kunstvolles paratextuelles Arrangement durch Einbettung
des Haupttextes in Vorreden, Nachworte, Rahmengeschichten, in ein Geflecht
aus Kommentaren, Herausgeberfiktionen, Fußnoten und eingeschaltete Digressi-
onen. Gern erzählen Texte auf von ihrer eigenen (erfundenen) Entstehungs- und
Überlieferungsgeschichte.

3.2 Geschichten vom Schreiben


Der Motivkomplex um Buchstaben, Schriftzüge, Schriften, Bücher und
Schreibprozesse spielt in der Literatur der Jahrzehnte um 1800 eine zentrale
Rolle. Lese- und Schreibprozesse werden zu einem bevorzugten Thema. Darü-

50. Friedrich Theodor Vischer. Ästhetik oder Wissenschaft vom Schönen. 6 Bde. München 1921/22.
§ 879, 2.
Der Roman und seine Konzeption in der deutschen Romantik 117

berhinaus florieren die Buch- und Schriftmetaphern: Buchstaben, Schriften,


Schreib- und Lesevorgänge werden zu Gleichnissen für fundamentale Erfah-
rungsbereiche und menschliche Praktiken. Den Buchstaben und dem Alphabet
setzt Jean Paul in seinem Roman über das „Leben Fibels“ ein Monument: Erzählt
wird die Geschichte eines Mannes, der angeblich ein ABC-Buch erfunden und
verbreitet hat und dessen ganzes Leben im Zeichen seiner passionierten Liebe
für Schriftzeichen, Texte und Bücher steht. Das ABC-Buch selbst, dessen Entste-
hung ausführlich geschildert und „biographisch“ motiviert wird, ist im Anhang
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des Romans selbst mit allen Illustrationen und Übungstexten abgedruckt – Jean
Paul verwendete dazu ein tatsächlich existierendes (altes) Unterrichtswerk.
Das Buch bzw. der Text werden in der Literatur um 1800 nicht zuletzt zu
Zentralmetaphern für Natur und Geschichte. Dies impliziert unter anderem, daß
die Tätigkeit dessen, der ‘ein Buch macht’, einen Text schreibt, zum privile-
gierten Gleichnis der Schöpfung von „Welt“ wird. Variationen des Topos von
der Welt als verrätselter Schrift und geschriebener Mitteilung findet sich mit
verschiedenen Akzenten bei nahezu allen romantischen Schriftstellern. Das wohl
berühmteste Beispiel findet sich in einem Romanfragment des Novalis: „Die
Lehrlinge zu Sais”. Hier findet sich einleitend die für das Denken des Novalis
bestimmende Idee von der Natur als einer Chiffrenschrift ausformuliert. Für
die Chrarakterisierung der dichterischen Arbeit wird der Topos von der Natur
als einer Schrift oder einem Buch vielfach funktionalisiert. „Die Poesie“, so
Jean Paul in der „Kantate-Vorlesung“ seiner „Vorschule der Ästhetik“, solle
„die Wirklichkeit, die einen göttlichen Sinn haben muß, weder vernichten,
noch wiederholen, sondern entziffern.“51 Gerade in den Ausführungen über den
Roman wird expliziert, in welchem Sinne Dichtung den Leser belehrt: Sie kann
ihm Lesehilfen geben: „[…] voll Zeichen steht […] die ganze Welt, die ganze
Zeit; das Lesen dieser Buchstaben eben fehlt; wir wollen ein Wörterbuch und
eine Sprachlehre der Zeichen. Die Poesie lehrt lesen […].“52
Auch Schopenhauer charakterisiert die Wirklichkeit als eine verschlüsselte
Botschaft und erörtert die Funktion der Kunst für deren Erschließung.53 Wenn
in diesen und anderen Reflexionen über die Entzifferungs- und Deutungskunst
des Dichters von der Welt als einem verrätselten Text, einem geheimnisvollen,
einem „hieroglyphischen“ Text die Rede ist, so kommt darin eine spezifisch
romantische Akzentuierung zum Ausdruck: Der Text der Dinge setzt dem Lesen
Widerstände entgegen, er ist vieldeutig, verrätselt oder fragmentarisch. Der

51. Jean Paul: Werke. Abt. I. Bd. 5. S. 447.


52. Jean Paul: Werke. Abt. I. Bd. 5. S. 250.
53. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Buch III. § 45.
118 Monika Schmitz-Emans

romantische Roman bespiegelt sich selbst besonders gern im Bild eines Meta-
Textes zu solcherart widerständigen Texten von Natur und Geschichte. Eine
Romanfigur Joseph von Eichendorffs, der romantische Dichter Leontin, bemerkt
in dem Roman „Ahnung und Gegenwart“:
„Das Leben […] mit seinen bunten Bildern, verhält sich zum Dichter, wie
ein unübersehbar weitläufiges Hieroglyphenbuch von einer unbekannten,
lange untergegangenen Ursprache zum Leser. Da sitzen von Ewigkeit zu
Ewigkeit die redlichsten, gutmütigsten Weltnarren, die Dichter, und lesen
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und lesen. Aber die alten, wunderbaren Worte der Zeichen sind unbekannt
und der Wind weht die Blätter des großen Buches so schnell und verworren
durcheinander, daß einem die Augen übergehn.“54

Und eine andere Figur desselben Romans, Friedrich, spricht in von der Natur
als einer Instanz, „die sich mit ihren Bächen, Bäumen und Bergen wie mit
abgebrochenen Worten, auszusprechen sucht.“55 Wenn die Natur schon ein
fragmentarischer Text ist, wie sollte dann von den Dichtern, die ebenfalls Bücher
produzieren, mehr erwartet werden als bloßes Stückwerk? Jean Paul rechtfertigt
im Vorwort zur Neuauflage der „Unsichtbaren Loge“ von 1825 diesen „unvoll-
endet gebliebenen Roman“ mit der Bemerkung, die „ganze Weltgeschichte“ sei
nichts anderes.56 Er spricht dem unvollendeten Zustand des Romans offenbar
einen Aussagewert zuspricht, den ein abgeschlossenes Werk nicht hätte; das
Fragment nämlich spiegle die Verfassung der Wirklichkeit selbst.
„Welches Leben in der Welt sehen wir denn nicht unterbrochen? Und wenn
wir uns beklagen, daß ein unvollendet gebliebener Roman uns gar nicht
berichtet, was aus Kunzens zweiter Liebschaft und Elsens Verzweiflung
darüber geworden, und wie sich Hans aus den Klauen des Landrichters und
Faust aus den Klauen des Mephistopheles gerettet hat – so tröste man sich
damit, daß der Mensch rund herum in seiner Gegenwart nichts sieht als
Knoten, – und erst hinter seinem Grabe liegen die Auflösungen; – und die
ganze Weltgeschichte ist ihm ein unvollendeter Roman.“57

Die Romane Jean Pauls geben sich als „Biographien“ aus. Der rahmenden
Fiktion nach sind sie verfaßt von einem Erzähler, der sich meist unter dem
Namen Jean Paul vorstellt. Der Leser bekommt nun neben der eigentlichen
Geschichte stets eine zweite erzählt: die fiktive Geschichte der Entstehung
des Romans selbst. Alle Erzähler-Biographen bekommen Disparates zu orga-

54. Eichendorff: Werke. Hg. von Jost Perfahl und Ansgar Hillach. München o. J. Bd. II. S. 28
55. Eichendorff: Werke. Bd. II. S. 92
56. Die Unsichtbare Loge. Vorrede. In: Jean Paul: Werke. Hg. v. Norbert Miller. München 1959ff.
Abt. I. Bd. 1.
57. Jean Paul: Werke I 1, S. 13.
Der Roman und seine Konzeption in der deutschen Romantik 119

nisieren; sie müssen eine Welt aus einzelnen Informationen zusammenbaue,


eine Fülle von Einzelheiten strukturieren. Auf ihre eigene produktive Leistung
kommen sie immer wieder ausdrücklich zurück.
Viele romantische Romane geben sich als Neudrucke älterer Texte oder als
Editionen aufgefundener nachgelassener Handschriften aus. Die dafür wohl
wichtigste Anregung findet man bei Cervantes, der in seinem „Don Quijote“
ein komplexes Spiel mit Schichtungen fingierter Überlieferungen spielt. Solche
Rahmenkonstruktionen gestatten die implizite und explizite Reflexion über
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Voraussetzungen des Schreibens, über tatsächliche und erwünschte Lesehal-
tungen, über die Beziehung literarischer Darstellung zum Erfahrungsstoff, über
die Relation des schreibenden Ichs zu seinem Text. Sie dienen der Illusionsbre-
chung und der ironischen Relativierung des Mitgeteilten; sie fördern eine krea-
tive Lektüre und einen spielerischen Umgang mit dem Inhalt des Mitgeteilten.
Damit lösen gerade sie Friedrich Schlegels Forderung nach einer „Poesie der
Poesie“ ein.

3.3 „Künstliche Ruinen“. Fragmentarische Formen


Die für die romantische Romankonzeption wichtige Idee des enzyklopä-
dischen, ja des absoluten Buches besitzt ein Pendant in der Idee, alle Bücher
seien fragmentarisch. Das menschliche Denken selbst kommt für Friedrich
Schlegel niemals an ein Ziel, sondern steht im Zeichen endloser Progression.58
Auch ästhetische Gebilde sind ‘Projekte’ und (mit einer paradoxen Wendung
gesagt) ‘Fragmente aus der Zukunft’.59 Ein jedes ist ‘subjektiver Keim eines
werdenden Objekts’60 und Teil eines unrealisierbaren Ganzen. Texte müssen
also keineswegs abbrechen, um Fragment zu sein; sie weisen über sich selbst
hinaus – auf das, was sie nicht sind, nicht darstellen, nicht ausdrücken, nicht
einlösen können.
Diverse Romantiker experimentieren im Zeichen der Idee des Fragmentari-
schen mit der Romanform. Friedrich Schlegels vieldiskutierte, weil der Unsitt-
lichkeit verdächtigte „Lucinde“ (1799) verknüpft narrative und reflektorische
Partien; eine kohärente Geschichte wird dabei nicht erzählt. Clemens Brentano
schreibt mit „Godwi“ (1801) einen im Untertitel so genannten „verwilderten
Roman“. Erzählt wird auf zwei Ebenen: vom Autor, der sich „Maria“ nennt
(und den Brentano schließlich sterben läßt), und von Godwi, der Hauptfigur.

58. Fr. Schlegel: KSA, Bd. II, S. 112.


59. Fr. Schlegel: KSA, Bd. II, S. 168 (Athenäumsfragment 22).
60. Fr. Schlegel: KSA, Bd. II, S. 168.
120 Monika Schmitz-Emans

Gespielt wird hier mit der Idee des fragmentarisch bleibenden Textes. In Hoff-
manns „Lebenserinnerungen des Katers Murr“ kommt es zur Durchflechtung
zweier Biographien (1820). Ein schriftstellernder Kater verfaßt der Rahmen-
konstruktion dieses Werks zufolge seine Memoiren, die plötzlich abreißen,
weil er unerwartet stirbt. Der Lebensbericht des Katers wird außerdem mehr-
fach unterbrochen durch Partikel eines anderen Lebensberichts, einer Biogra-
phie des Kapellmeisters Kreisler, deren Blätter der Kater als Makulaturbögen
zwischen seine Aufzeichnungen geschoben hatte, woraufhin sie versehentlich
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mit abgedruckt wurden. Auch und gerade das Leben des ‘zerrissenen’ roman-
tischen Künstlers Kreisler spiegelt sich in der fragmentarischen Gestalt seiner
Teilbiographie.
Verfremdende Experimente mit der Erzählstruktur sind stets auch gedankliche
Experimente mit der Linearität der Zeit und dem Modell der sich zum ganzen
rundenden Lebensgeschichte. Dies illustrieren Jean Pauls Romane, deren fiktive
Erzählerfiguren vorzugeben pflegen, sie seien von der Auffindung und Zulie-
ferung bestimmter Materialien abhängig und müßten sich immer wieder über
Informationslücken hinwegretten. Im „Leben Fibels“ beispielsweise ist das der
fiktiven Biographie zugrundeliegende Wissen angeblich zusammengesucht aus
Fragmenten früherer Texte. Die Gestalt des Romans selbst spiegelt die Idee der
Suche nach fragmentarischen Informationen wider: Es gibt lange und kurze,
teilweise sogar sehr kurze Kapitel, deren hauptsächliche Funktion es ist, auf die
Fortsetzung der Materialsuche aufmerksam zu machen. Im „Quintus Fixlein“
bezieht Jean Paul seine Informationen aus „Zettelkästen“. Stets wird darauf
hingewiesen, daß die dem Erzählerbericht zugrundeliegenden Informationen
etwas Kontingentes an sich haben. Was immer dargestellt wird, ist von Brüchen,
Rissen, Leerstellen durchzogen. So entstehen Modelle einer zerrissenen, frag-
mentierten Erfahrung – zugleich aber Dokumente der synthetisierenden Kraft
des Romanerzählers. Dieser vermag selbst das Unförmlichste zu übermitteln,
indem er durch die Kontinuität seiner Reflexion aus Bruchstücken einen höheren
Zusammenhang herstellt.

4. Kontingenzerfahrung und romantischer Roman


Laut Friedrich Schlegel ist sein eigenes Zeitalter durch drei Grundtendenzen
geprägt: die Französische Revolution, Fichtes „Wissenschaftslehre“ und Goethes
„Wilhelm Meister“.61 Was haben ein historisches Ereignis, ein philosophisches
System und – immerhin! – ein Roman gemeinsam? Ihr gemeinsamer Nenner ist

61. Fr. Schlegel: KSA, Bd. II, S. 198.


Der Roman und seine Konzeption in der deutschen Romantik 121

die Idee der Gestaltbarkeit der Welt. Dem modernen Blick der Romantiker gilt
diese als etwas, das dem erfahrenden Ich nicht als fertige Struktur vorgegeben ist,
sondern vom Menschen hervorgebracht werden muß. Als menschliche Hervor-
bringung ist das Wirkliche zwar kontingent, also un-begründet und (bemessen
am Maßstab absoluter Vernunft) beliebig. Aber deshalb zeigt sich an diesem
Produkt des Menschen eben auch, was und wie er selbst ist. Für die Philosophie
des deutschen Idealismus übernimmt das erfahrende Subjekt eine tragende Rolle
bei der Konstitution der Erfahrungswelt selbst: Nach den Strukturen seines
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Erkenntnisvermögens richtet sich die Ordnung der Erfahrungswelt – so die These
Kants in der „Kritik der reinen Vernunft“ (1781/1787). Fichtes „Wissenschafts-
lehre“, von Schlegel als Ausdruck des Geistes seiner Zeit gewürdigt, geht noch
einen Schritt weiter und erklärt die Welt zur Setzung des transzendentalen Ichs.
Die damit vollzogene Aufwertung und Autorisierung des erkennenden Subjekts
hat allerdings eine Schattenseite: Wie gerade die romantische Literatur zeigt,
ist es nur ein Schritt von der Radikalisierung des philosophischen Idealismus
zu solipsistischen Phantasien und existenziellen Angstvorstellungen. Die Lite-
ratur der Romantik setzt sich – vor allem im Medium des Romans – mit der
bedrückenden Vorstellung auseinander, ein jedes Ich lebe eingeschlossen in
eine selbstgeschaffene Welt, eine Welt ohne absolute Ordnung, eine Welt ohne
Gott. Wichtige Romane dieser Zeit sind geprägt durch regelrecht nihilistische
Tendenzen, so die unter dem Pseudonym Bonaventura erschienenen „Nachtwa-
chen“ von August Wilhelm Klingemann, aber auch zentrale Texte Jean Pauls:
die „Clavis Fichtiana“, in der ein Weltschöpfer-Ich sich seiner Einsamkeit im
Weltall bewußt wird, und die „Rede des toten Christus…“, in der die Idee von
der Nichtexistenz Gottes durchgespielt wird. Kein Medium eignet sich so gut
wie der Roman für Reflexionen über die metaphysische Grundlosigkeit der
Welt, die Nichtigkeit aller Erfahrungen und Begriffe – und die Haltlosigkeit
des Ichs selbst.
Die Französische Revolution – um zu Schlegels zweiter „Tendenz“ zu
kommen – führt den Zeitgenossen drastisch vor Augen, wie wandelbar alle
gesellschaftlichen, politischen und ethisch-moralischen Ordnungen sind. Der
Mensch bringt seine Welt und ihre Strukturen selbst hervor; nichts ist ihm
verbindlich vorgegeben, und seine leitenden Werte – in diesem Fall Freiheit,
Gleichheit und Brüderlichkeit – bestimmt er selbst. Auch und vor allem die
Stellung des Einzelnen in der Welt gilt nun nicht mehr als vorherbestimmt. Ein
jeder muß sich selbst seinen Ort im sozialen Gefüge suchen, einen Platz in der
Welt verschaffen – wenn dieses ihm denn gelingt. Der seit dem späten 18. Jahr-
hundert leitende, für die Moderne maßgebliche Gedanke, dem Ich sei mangels
122 Monika Schmitz-Emans

einer metaphysisch fundierten absoluten Weltordnung auch keine besondere


Identität, keine besondere Rolle innerhalb des Weltzusammenhangs vorge-
geben, ist ambivalent: Er berechtigt den Einzelnen dazu, aus sich zu machen,
was er werden möchte, sich also seine Identität und seine Rollen selbst zu
suchen; er provoziert aber auch die Angst zu scheitern. Von den Versuchen
des Menschen, in der Welt einen Ort zu finden, an dem sich leben läßt, erzählt
der Roman, vor allem der Bildungsroman, der in Goethes „Wilhelm Meister“
exemplarische Gestalt annimmt – und damit wären wir bei Schlegels dritter
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„Tendenz“. Das Schicksal des menschlichen Individuums, so zeigt sich an der
Geschichte des Goetheschen Helden, ist einzigartig und inkommensurabel. Es
steht im Zeichen der Suche – nach der eigenen Identität und ihren Wurzeln,
nach anderen Menschen, nach Leitbildern und praktikablen Lebensformen, nach
Erkenntnis und nach ethischer Orientierung. Darum ist sein Symbol die Wande-
rung. Goethes Figur des Wilhelm folgt dem Vorsatz, sich selbst auszubilden, mit
all seinen Anlagen, und er erprobt dabei wechselnde Rollen. Er wird dabei unter
anderem als Theaterregisseur tätig, und darin kommt der Inszenierungscharakter
des menschlichen und sozialen Lebens ebenso zum Ausdruck wie der Wunsch,
die Kunst zum Medium der Reflexion über solche Inszenierungen zu machen.
So wenig Wilhelm Meister in seinem Tun durch eine vorgegebene soziale
Rolle bestimmt ist – er ist doch auch nicht autonomer Gestalter seines Schicksals.
Die mysteriöse Gesellschaft vom Turm bildet eine Art säkularer Vorsehung;
andere Menschen bestimmen über Wilhelms Schicksal mit. Aber auch der Zufall
hat an diesem Anteil. Alle drei von Schlegel benannten „Tendenzen“ – die Idee
der Gestaltbarkeit gesellschaftlicher Ordnungen und Wertesysteme, die Idee der
Abhängigkeit der Erfahrungswelt vom erfahrenden menschlichen Subjekt und
die Idee von der Nicht-Festgelegtheit des Einzelnen – sind seit der Romantik
vor allem die großen Themen der Romanliteratur. Sie haben maßgeblich Einfluß
darauf genommen, als was der Roman betrachtet und wie er gelesen wurde – bis
ins 20. Jahrhundert. Wenn Georg Lukács den Roman als Ausdruck der „transzen-
dentalen Obdachlosigkeit“ bestimmt,62 wenn Robert Musil darüber nachdenkt,
ob und wie sich das Leben des Menschen noch erzählend ordnen lasse,63 dann
steht die romantische Romantheorie im Hintergrund.
Ruhr-Universität Bochum

62. Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Zuerst 1920. Franf./M. 1989.
63. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. In: Werke, hg.v. Adolf Frisé. Reinbek 1978/1983,
Bd. 1/2, S. 650.

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