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Annette WEBER
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Wer heute die Sainte-Chapelle betritt, wird zunächst von der Far-
benpracht der Fenster überwältigt und geblendet, die Apostelstatuen
nimmt man erst auf den zweiten Blick wahr. Dennoch spielen sie als
Meisterwerke der französischen gotischen Skulptur in der Kunstge-
schichte eine mit den Glasfenstern vergleichbare bedeutsame Rolle.
Die stilistische Einordnung der Apostelstatuen wirft jedoch bis heute
Fragen auf. Seit Francis Salet (1951) die Statuen im Musée National
du Moyen Âge in entscheidenden Teilen wieder zusammengefügt und
damit den Originalbestand neu definiert hat1, geht die Forschung
davon aus, dass die zwölf originalen Apostelstatuen während der Bau-
zeit der Sainte-Chapelle zwischen ca. 1242 und 1248 entstanden sind,
sich jedoch in zwei unterschiedlichen Stilgruppen einteilen lassen2 :
gotisch-klassizistisch und preziös-höfisch, wobei die Zuweisung der
Statuen zu diesen Gruppen differiert : als sicher preziös-höfisch gelten
nur die beiden Statuen am vierten und fünften Pfeiler nord der
Sainte-Chapelle.
Ausgangspunkt des nachfolgenden Überlegungen zu den Aposteln
der Sainte-Chapelle ist die Beobachtung, dass die laut Francs Salet
(1954)3 nachweislich originale Apostelstatue des dritten Pfeilers süd
(Abb. 1) auf einer ersichtlich modern ergänzten etwa 15–20 cm hohen
Basis steht und dadurch dennoch nicht die gleiche Höhe erreicht wie
die größere Nachbarstatue am vierten Pfeiler süd (Abb.2), die gleich-
falls auf einer modern ergänzten, jedoch nur wenige cm hohen Basis
steht. Außer diesem Größenunterschied beider Statuen fällt die unter-
schiedliche Gestaltung des Standmotivs auf : die Statue am dritten
Pfeiler süd zeigt leicht nach außen gestellte, bloße Füsse, die nach der
Zeichnung von 1844 aus den Archives des Monuments historiques4
zweifelsfrei original sind (Abb. 3b). Mantel und Gewand enden wie
abgeschnitten über den Knöcheln etwa 10 cm über der originalen
Basis, die kaum größer ist als die Fuß-Standfläche und in den modern
1
F. SALET, « Les Statues d’Apôtres de la Sainte-Chapelle conservées au Musée de Cluny »,
Bulletin monumental, 109, 1951, p.135–157
2
C. GNUDI, « Le Jubé de Bourges et l’apogée du ‘Classicisme’ », Revue de l’art, 3, 1969,
p. 18–37. W. SAUERLÄNDER, Gotische Plastik 1140–1270, München, 1970, p. 152f. ; L. GRO-
DECKI, La Sainte-Chapelle, Paris, 1975, p. 67sq.
3
F. SALET, « Nouvelle note sur les statues d’apôtres de la Sainte-Chapelle », Bulletin monu-
mental 112, 1954, Mélanges, p. 357–363. Bereits der Architekt Guilhermy hatte in : La Ste
Chapelle après les restaurations, Paris, 1857 und in : Itinéraire archéologique de Paris, p. 317 fes-
tgestellt, daß die Apostelstatue am dritten Pfeiler süd original sei. Francis Salet hatte dem
zunächst widersprochen (vgl. Bulletin monumental, 109, 1951, p. 141 Anm. 2) korrigierte sich
aber nach dem Fund der Zeichnung 1954.
4
Vgl. SALET, « Nouvelle note... » (op. cit. Anm. 3) ; Archives des Monuments historiques :
Sainte-Chapelle. « Dessin des statues anciennes telles qu’elles se trouvaient en 1844 ».
364
5
Publiziert von A.ERLANDE BRANDENBURG, in : Bulletin monumental, 129, 1971, p. 69
(Chronique).
6
GNUDI, « Le Jubé de Bourges... » (op. cit. Anm. 2), S.33, Anm. 22.
7
Vgl. die ausführlich vorgestellten Ergebnisse der Verfasserin : « Les grandes et les petites
statues d’apôtres de la Ste. Chapelle de Paris », Bulletin monumental, 155, 1997, S. 81–101.
8
A. ERLANDE-BRANDENBOURG, Y. LEPOGAM und D. SANDRON, Guide des collections,
Hotel National du Moyen Âge, Paris, 1993, Kat. Nr. 154.
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9
1997 hatte die Verf. (vgl. Anm. 7) das bei den kleinen Apostelstatuen zu ergänzende
Fußmaß mit 5–6 cm zu niedrig angesetzt, worauf Mme. Francoise Baron zu recht aufmerk-
sam gemacht hat. Die hier angegebenen Maße zur Fußhöhe basieren auf vor Ort vorge-
nommenen Schätzungen.
10
Bloße Füße zeigt außerdem auch noch die Petrusstatue am sechsten Pfeiler nord der
Sainte-Chapelle. Sie gilt seit Guilhermy (1857) als original und soll von Perrey ergänzt
worden sein (vgl. dazu SALET, « Nouvelle note... » (op. cit. Anm. 3). Die Autopsie der Ver-
fasserin ergab, daß zumindest Kopf, Hände mit Attribut, sowie die ungelenk angestückten
Füße nicht original sind, und das Übrige, wenn nicht ganz modern, so doch stark überar-
beitet und ergänzt ist, dass diese Statue ohne genauere Untersuchung nicht als Original
dieser Gruppe zugeordnet werden kann.
11
Zu dieser Gruppe gehört außerdem der Apostel Paulus am sechsten Pfeiler süd, der
jedoch als nicht original gilt, vgl. SALET, « Nouvelle note... » (op. cit. Anm. 3), wenngleich
seine Komposition weitaus überzeugender und stimmiger wirkt als die geklitterte Petrus-
statue am sechsten Pfeiler nord.
366
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als Einheit gesehen werden sollten. Deutlich zeigt dieses Prinzip die
Apostelstatue am vierten Pfeiler süd mit dem überlängten linken Arm,
der das Kreuz mit Fuß hält. Dieses Detail verdeutlicht, daß die über-
lebensgroßen Apostelstatuen auf die Gestaltung der lebensgroßen
reagieren. Das Ausmaß dieser Reaktion wird noch deutlicher, wenn
man den für beide Gruppen etwas unterschiedlichen Herstellungs-
vorgang berücksichtigt.
Im Gegensatz zu den meisten anderen gleichzeitigen Säulenfi-
guren sind alle originalen Apostelstatuen der Sainte-Chapelle ohne
Säulenteil gehauen, auch wenn sie als Säulenstatuen erscheinen. 12
Sie wurden getrennt von der Architektur gearbeitet und haben im
Rücken lediglich eine konkave Ausbuchtung, die ihre geplante Anpas-
sung an den Pfeiler berücksichtigt. Vermutlich wurde die getrennte
und damit mögliche zeitlich parallel laufende Herstellung von Sta-
tuen und Architektur wegen des großen Zeitdrucks gewählt, mit dem
die Chapelle erichtet wurde. Technisch nehmen die Apostelstatuen
damit eine Zwischenstellung zwischen den echten, d.h. aus einem
einzigen Block gehauenen Säulenfiguren wie z.B. den Aposteln der
Westfassade von Amiens ein, und den als Nischenfiguren frei geschaf-
fenen, einst in das Gewände des Südportals von Notre Dame de Paris
eingestellten Apostelstatuen, deren Fragmente sich heute im Musée
national du Moyen Âge befinden.13 Dennoch sind die kleinen Apos-
telstatuen ihrer Konstruktion nach keine Freifiguren gewesen, denn
die völlig frei gearbeiteten Knöchel und Füsse werden das Gewicht
der nahezu vollrunden Gewandstatue kaum zu tragen vermocht
haben, wenn man sich vor Augen führt, dass die 2 Meter große nackte
Adamstatue der Fassade von N.D. de Paris bei erheblich geringerer
Masse noch zusätzlich von einem Baumstumpf gestützt wird. Tech-
nisch muß zumindest bei den lebensgroßen Apostelstatuen das
Gewicht wesentlich von einer rückseitigen Verankerung am Pfeiler
aufgefangen worden sein. Die Montage der lebensgroßen Apostelsta-
tuen dürfte wegen der fragilen blossen Füsse, die bezeichnenderweise
12
Die an den Statuen des Musée national du Moyen Âge gemachte Beobachtung wurde
von Professor Kurmann als außergewöhnlich indiziert – die genaue Untersuchung der
Rückenpartie bei den Apostelstatuen steht noch aus. Vgl. dazu auch H. BAUER, Die Apostel-
statuen der Sainte-Chapelle in Paris, Dissertation München, 1984, S. 92ff, der zuerst darauf
aufmerksam gemacht hat, dass die Apostel nicht mehr als Säulenstatuen gearbeitet worden
sind, sie jedoch als Freifiguren ansieht.
13
Vgl. D. KIMPEL, Die Querhausarme von Notre Dame de Paris, Dissertation Bonn, 1971, S.
182–187.
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369
wie das Beispiel der Apostelstatuen der Porte Royale von Bordeaux
verdeutlicht, auch dazu benutzte, um ikonographische Aussagen zu
machen. Somit stellt sich die Frage, welche ikonographische Bedeu-
tung diese unterschiedliche Gestaltung hatte.
Eine solche Variation erscheint dann sinnvoll, wenn entweder die
Statuen unterschiedliche Bedeutung hatten, oder wenn von vornehe-
rein unterschiedliche Standorte für die einzelnen Statuen vorgesehen
waren14, oder wenn es während ihrer Herstellung in der Sainte-Cha-
pelle eine Umplanung gegeben hat.
Der Lösungsvorschlag, daß sämtliche Differenzen allein durch
unterschiedliche, jedoch zeitgleich auftretende Kunstströmungen
und verschiedene Bildhauer bedingt seien, wobei man jedoch kein
Auge für Größen- oder Motivunterschiede gehabt hätte, da sie eben
immer wieder vorkämen, erscheint unbefriedigend angesichts der
Beobachtung, dass die beiden Apostelgruppen der Sainte-Chapelle
entwicklungstechnisch aufeinander aufbauen und daß die Position
der Weihekreuze in Bezug auf die absolute Höhe sorgfältig abge-
stimmt wurde. Daß Maßproportionen bei der Komposition von Apos-
telfiguren eine gewichtige Rolle spielen und Hinweise auf Ausführung
und Positionierung geben, belegen die wohl um 1260 geschaffenen
Strebepfeiler-Apostel am Freiburger Münster.15 Diese Statuen lassen
sich nach Größe und Qualität der Ausführung in zwei Gruppen auf-
teilen : die 210 cm hohen Apostel der Südseite sind sorgfältig und
detailliert als Rundplastik skulptiert, da sie unter freischwebenden
Baldachinen stehen, die den Blick auf die Statuen nicht behindern.16
Dagegen stehen die nur 199 cm großen und in der Oberfläche weni-
ger detailliert bearbeiteten Apostelstatuen der Nordseite unter Bal-
dachinen, die durch vier Säulen gestützt werden und damit die All-
14
Dieses könnte etwa die unterschiedlichen Größen der Apostelstatuen für die Hospital-
kirche St Jacques aux Pélérins in Paris Anfang des 14. Jahrhunderts erklären, die nicht nur
von zwei verschiedenen Bildhauern (Guillaume Nourriche und Robert de Lannoy) in zwei
Abschnitten im Abstand von zwei Jahren geschaffen worden sind, sondern nach den Über-
legungen von Françoise Baron auch noch an sehr unterschiedlichen Stellen in dieser vom
üblichen gotischen Sakralraum abweichenden Hospitalkirche platziert waren. Vgl. dazu F.
BARON, « Le décor sculpté et peint de l’hôpital Saint Jacques-aux-Pèlerins », Bulletin monu-
mental, 133, 1975, S. 29–72, hier S. 34.
15
Zur Datierung und zur kunstgeschichtlichen Einordnung vgl. P. KURMANN, « Skulptur
und Zackenstil », Zeitschrift für schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte, 40, 1983, S. 109–
114.
16
Für eine Abbildung der grossen Apostel vgl. O. SCHMITT, Gotische Skulpturen des Freibur-
ger Münsters, Frankfurt am Main 1926, Abb. 29-41.
370
17
Für eine Abbildung der keinen Apostel vgl. SCHMITT, Gotische Skulpturen... (op. cit. n.
16), Abb. 45, 49-51.
18
Für diese Angaben danke ich Frau Heike Mittmann, Kunsthistorikerin am Freiburger
Münsterbauverein und Herrn Christian Leuschner, dem Bildhauermeister der Dombau-
hütte des Freiburger Münsters, der mir freundlicherweise die exakten Maße der Apostel-
statuen an der Nord- und Südseite anhand neuer fotometrischer Aufnahmen ermittelte.
Gemessen wurde die Statue des Johannes am 3. Pfeiler süd (Gesamthöhe mit Sockel 2,19m)
und die Statue des Andreas am 3. Pfeiler nord (Gesamthöhe mit Sockel 2,09m).
19
Für eine Abbildung der Portalapostel von Amiens vgl. SAUERLÄNDER, Gotische Plastik...
(op. cit. n. 2), Abb. 162.
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20
W. SCHLINK, Der Beau Dieu von Amiens – Das Christusbild der gotischen Kathedrale, Frankfurt
am Main, 1991, S. 70.
21
So beobachtete Louis Grodecki, z.B. daß die westlichsten Apsisfenster der Ste. Chapelle
um der optischen Wirkung der Architektur willen 35 cm schmäler konstruiert wurden. L.
GRODECKI, La Sainte-Chapelle, Paris, 1975, S. 26.
22
M. THIBOUT, « À popos des peintures murales de la chapelle Sainte-Catherine de Mont-
bellet (Saone et Loire) », Bulletin monumental, 108, 1950, S. 85–89.
23
P. KURMANN, La Façade de la Cathédrale de Reims, Architecture et sculpture des portails – Étude
archéologique et stylistique, Paris-Lausanne, 1987, Vol. I, S. 168.
24
SALET, « Les Statues d’Apotres... » (op. cit. Anm. 1), GNUDI, « Le Jubé de Bourges... »
(op. cit. Anm. 2), SAUERLÄNDER, Gotische Plastik... (op. cit. Anm. 2), GRODECKI, La Sainte-
Chapelle (op. cit. Anm. 2).
372
25
KURMANN, La Façade... (op. cit. Anm. 23), p. 283.
26
Für eine Abbildung der Lettnerreliefs vgl. SAUERLÄNDER, Gotische Plastik (op. cit. Anm.
2), Abb. XXX.
27
vgl. GNUDI, « Le Jubé de Bourges... » (op. cit. Anm. 2).
28
F. JOUBERT, Le Jubé de Bourges, Paris, 1994, S. 76–81 et 86ff. R. RECHT, Le croire et le voir,
Paris, 1999, S. 299–305, zu dem neuen Predigtstil, cf. N. BÉRIOU, L’avènement des maîtres de
la parole – La prédication à Paris au XIIIe siècle, Paris, 1998, 2 Bde.
29
Zum Lettner von Bourges vgl. JOUBERT, Le Jubé... (op. cit. Anm. 28), zum Lettnerstil : A.
WEBER, « Die Entwicklung des Judenbildes im 13. Jahrhundert und sein Platz in der Lett-
ner- und Tympanonskulptur », Städel Jahrbuch, N.F., 14, 1993, S. 47–49.
373
30
Bible moralisée tripartite (Oxford, Paris, Londres), Paris BnF lat. 11560, fol. 32, A. DE
LABORDE, La Bible moralisée de Oxford, Paris, Londres, Paris-London 1911–1927, Bd. II, fol.
256c.
374
31
Vgl. die Überlegungen der Verf. (wie Anm. 7), S. 90–92.
32
BAUER, Die Apostelstatuen... (op. cit. Anm. 12), S. 127. Zitat des Matthäus Paris in bezug
auf Louis IX : edoctus exemplo nobilissimi triumphatoris Eraclii Augusti (zit. Nach der Angabe
bei BAUER, Die Apostelstatuen... (op. cit. Anm. 12).
33
BAUER, Die Apostelstatuen... (op. cit. Anm. 12), S. 125 ; nach Eusebius errichtete Konstan-
tin eine Apostelkirche mit zahlreichen Reliquien, die ihm zugleich als Grablege diente.
Konstantin betrachtete sich als apostelgleich, als Wegbereiter des Christentums ; darin sah
er seine Mission und damit stand ihm die Würde des Heiligen zu. Vgl. dazu auch A. EFFEN-
BERGER, « Konstantinsmausoleum, Apostelkirche – und kein Ende ? », in : Lithostroton,
Festschrift Marcel Restle, Stuttgart, 2000, S. 69.
375
34
Bible moralisée tripartita (Oxford, Paris, London), Paris BnF lat. 11560, fol. 7, A. DE
LABORDE, La Bible moralisée Oxford-Paris-Londres, Paris, 1911–1927, Tome III, Taf. 231 Aa.
35
J. LE GOFF, Saint Louis, Paris, 1998, S. 148f.
376
ums, die auch der Königsnische zugeteilt wird, bildet gleichsam die
Vorstufe zur Heiligkeit.
Die lebensgroßen Apostel der Sainte-Chapelle erfüllen also eine
multiple Aufgabe : aufgestellt an den Pfeilern der Kapelle und verse-
hen mit den Weihekreuzen stellen sie die Fundamente der Kirche dar.
Zugleich aber dienen sie als persönliche Vorbilder und Patrone des
französischen Königs, der sich mit ihrem Handeln in höchstem Maß
identifizierte. Die feierlich, ernste und zugleich maßvolle Erscheinung
der lebensgroßen Apostel spiegelt ein Modell der Christoformitas, das
Louis IX in den Jahren 1239 –1249 bewußt imitiert zu haben scheint,
um seine eigene Handlungen zu legitimieren.
Im Vergleich zu den lebensgroßen Apostel mit bloßen Füssen
scheinen die überlebensgroßen geradezu die gegenteilige Auffassung
zu verkörpern, denn ihre prachtvolle Gewandung, die kostbaren
Fibeln und ihre majestätische Haltung lassen sich in keiner Form mit
Begriffen wie Demut oder Bußfertigkeit assoziieren. Sehr wohl aber
gehen sie konform mit dem liturgischen Prunk, den Louis IX zu
besonderen Festen speziell in der Sainte-Chapelle wünschte.36
Bedenkt man darüber hinaus die Aussage Jean Jeauduns, daß die
Apostelstatuen ursprünglich vergoldet waren37, dann muß die pracht-
vollere Erscheinung der überlebensgroßen Apostel mit ihren sich auf
dem Boden stauenden, voluminösen Gewändern noch deutlicher
hervorgetreten sein. Sie müssen wie überlebensgroße Goldschmie-
destatuen gewirkt haben, die in ihrer Pracht mit dem goldenen Reli-
quienschrein wetteiferten, der 1249 erstmals erwähnt wird.38
Wenn man bedenkt, dass in der gleichzeitigen Theologie die ver-
goldete Statue als Modell der perfectio, der moralischen Vollkom-
menheit verstanden wird, dann scheint es berechtigt zu fragen, ob
nicht die überlebensgroßen Apostel diesen Aspekt besonders beto-
nen. Durch ihre prachtvolle Erscheinung könnten sie als Ebenbilder
vollendeter Tugend verstanden werden und deswegen als würdiges
Gefolge des himmlischen Königs, der in der Sainte-Chapelle durch
seine Dornenkrone präsent ist. Selbst wenn das Fronleichnamsfest
erst im Laufe des 14. Jahrhunderts institutionalisiert wurde, so war
dennoch der mit ihm assoziierte Gedanke der Majestas Domini, von
Christus als König, bereits im 13. Jahrhundert liturgisch vorgeformt
36
LE GOFF, Saint Louis (op. cit. Anm. 35), S. 564.
37
D. KIMPEL-R. SUCKALE, L’architecture gothique en France, 1130-1270, Paris, 1990, p. 405,
Anm. 50.
38
J. DURAND, « La Grande Châsse aux reliques », in : Le trésor de la Sainte-Chapelle, J.
DURAND und M.-P. LAFFITTE (Hg.), Paris, 2001, S. 107.
377
und gerade von Klerikern, mit denen Louis IX immer wieder zu tun
hatte, propagiert worden.39 Daß das Bild der Majestas Domini und die
mit ihm assoziierten Vorstellungen für Louis IX und damit in der
Sainte-Chapelle von besonderer Bedeutung waren, bedarf keiner
besonderen Erläuterung. Sie war in den Reliquien dauernd präsent
und das bildlliche Leitmotiv der Kapelle von der Darstellung am Tru-
meau bis zum obersten Teil des Apsisfensters. Irdische und himmli-
sche Majestät verschmolzen miteinander am Karfreitag, in dem
Moment, als der König die Tribüne hinaufstieg, um die Reliquien
feierlich zur Schau zu stellen ; der König wurde dadurch zur « realen
Erscheinung ». Diesen Eindruck des über die menschlichen Sphäre
erhabenen Königs müssen die längs des Kapellenschiffs platzierten
Apostelstatuen nochmals betont haben. Über den Köpfen der Betrach-
ter schwebend, bildeten sie gleichsam dessen himmlisches Gefolge
und sakralisierten damit seine Person. In diesem Kontext muß die
majestätische Erscheinung der überlebensgroßen Apostel besonderes
Gewicht gehabt haben, da sie hervorragend geeignet war, die Sakra-
lität des Königs und mit ihm der französischen Monarchie zum Aus-
druck zu bringen.
Diese Überlegungen verknüpfen das Bildkonzept der überlebens-
großen Apostel mit der besonderen Karfreitagsliturgie in der Ste Cha-
pelle, die das Vorhandensein des Schreins und seine Platzierung auf
der Tribüne voraussetzt. Der Schrein wird erstmals in der zweiten
Gründungsurkunde am 29. August 1249 als capsam sanctarum reli-
quiarum erwähnt, wobei nicht ersichtlich ist, ob er damals schon auf
einer Tribüne stand.40 In der ersten Gründungsurkunde von 1246
hingegen ist nur von den sanctuaria, d.h. den Heiltümern und dem
Altar die Rede, vor dem Tag und Nacht drei Kerzen zu je drei Pfund
brennen sollten, aber nicht von der capsa.41 Die zweite Urkunde von
1249 bestätigt nicht nur die liturgische Einrichtung der Sainte-Cha-
pelle von 1246, sondern erweitert sie nicht unbeträchtlich, indem sie
39
Dazu gehörte unter anderem der Dominikaner und Kardinallegat Hugo von St. Cher.
Vgl. auch J. LECLERCQ, L’idée de la royauté du Christ au Moyen Âge, Paris, 1959 sowie auch
den von Thomas von Aquin geschriebenen Hymnus, der zur Liturgi des Fronleichnamfestes
gehört.
40
C. BILLOT, « La fondation de Saint Louis – Le collège des chanoines de la Sainte-Cha-
pelle (1248–1555) », in : Le trésor de la Sainte -Chapelle (op. cit. Anm. 38), S.100. R. BRANNER,
« The Grande Châsse of the Sainte-Chapelle », Gazette des Beaux Arts, 1224, 1971, S. 8 (Datum
von 1249 nach Claudine Billot).
41
Le trésor de la Sainte-Chapelle (op. cit. Anm. 38), Kat. Nr. 23 ; die Passage lautet : videlicet tres
ceres continue nocte et die in bacilibus argenteis ante sanctuaria et altare ardentes quos quibus tres
libres ponderabit …
378
die Anzahl der Kleriker und deren Einkünfte erhöht und die Anzahl
der Kerzen, die anlässlich der Jahresfeste und der Messe der Saintes
Reliques brennen sollten, vervierfacht.42 Diese Angabe präzisiert
außerdem die Position der Kerzen zu Seiten der capsa ; das hat wohl
so ausgesehen, wie es die Kopie der Miniatur aus dem Missale Jean
Jouvenal des Ursins und ein Missale für Paris überliefern43, dass die
Kerzen auf dem um die Tribüne umlaufenden Sims standen.
Robert Branner weist nun darauf hin, daß die unterschiedliche
Terminologie von sanctuaria und capsa fragen läßt, ob der Schrein
überhaupt schon 1246 existiert hat, oder ob er nicht tatsächlich doch
erst nach diesem Datum geplant worden ist.44 Theoretisch könnte er
auch erst dann in Angriff genommen worden sein, nachdem der
Besitz der Reliquien endgültig besiegelt war. Dies geschah jedoch erst
im Juni 1247, als Baudouin II die Zessionsurkunde unterschrieb, mit
der er nicht nur den rechtlichen Erwerb der Reliquien durch Louis
IX bestätigte und sie im einzelnen aufzählte, sondern auch jeglichen
Anspruch auf Rückkauf der von ihm zunächst nur verpfändeten Reli-
quien aufgab.45 Die Überlegung, dass die Grande Chasse erst nach
der endgültigen Bestätigung des rechtmäßigen Besitzes im Juni 1247
begonnen worden sein könnte, bedingt die Frage, ob Louis IX eine
so aufwendige Kapelle für Reliquien errichtete, die er zwar bezahlt
hatte, deren eventuellen Rückkauf er aber, da es sich um ursprünglich
nur verpfändete Objekte handelte, nicht definitiv ausschließen
konnte. Angesichts der ständigen Geldnot Baudouins konnte er zwar
davon ausgehen, daß ein solcher Rückkauf kaum erfolgen würde,
andererseits hatte er herausragende Heiltümer des lateinischen Kai-
serreiches aus zweiter Hand erworben, was nach mittelalterlichem
Pfandrecht durchaus legal war, aber keine sehr hochangesehene Form
der Erwerbung darstellte.
In diesem Zusammenhang muß man sich klarmachen, daß die
Sainte-Chapelle, auch wenn ihre Funktion als Schrein für die Reli-
quien immer wieder hervorgehoben wird, laut der ersten Gründungs-
urkunde von 1246 zunächst einmal für das Seelenheil der königlichen
Familie, d.h. für Louis IX selbst, seine Eltern und seine Vorgänger
bestimmt war. Erst danach kommt die Angabe, dass der Bau auch für
42
BILLOT, « La fondation de Saint Louis... » (op. cit. Anm. 40).
43
Le trésor de la Sainte-Chapelle (op. cit. Anm. 38), Cat.no. 27.
44
BRANNER, « The Grande Châsse... » (op.cit. Anm. 40). Vgl. auch J. DURAND, « La
Grande de Châsse... » (op. cit. Anm. 38), S. 110, Fig. 5. und cat. 25.
45
Le trésor de la Sainte-Chapelle (op. cit. Anm. 34), Cat. no. 11 und Text gedruckt vgl. Cat. no.
31.
379
und um die Reliquien herum gebaut worden sei.46 Mit der Errichtung
des Schreins dokumentierte Louis IX gewissermaßen sichtbar und
offiziell, daß die vorher schon in kostbaren Einzelbehältern bewahr-
ten Reliquien nun als Ganzes, als neues Heiltum endgültig sein legi-
timer Besitz waren, zu dem er persönlich die Schlüssel besaß.
Aufgrund dieser Beobachtungen und Überlegungen muss man sich
fragen, ob es nicht parallel mit der Planung und Errichtung des
Schreins zu einer Umplanung im Bereich der Apsis der Sainte-Cha-
pelle gekommen sein kann. Dazu hätte dann der nachträgliche Einbau
der Tribüne gehört, ob im Anschluss an das Jahr 1247 oder noch spä-
ter bleibt zu klären, und damit verbunden eine Umplanung bei den-
jenigen Apostelstatuen, die im Tribünenbereich standen. Es erscheint
denkbar, dass diese sich wegen der Tribünenarchitektur nicht nur auf
deren Größe bezogen, sondern wegen der unmittelbaren Nachbar-
schaft zum Schrein auch gestalterisch anders konzipiert wurden.
Zwei weitere Beobachtungen zu der Grande Châsse stützen diese
These : Die königlichen Rechnungslisten weisen erst für 1248 den
hohen Geldbetrag von 680 Pfund „pour les travaux d’or, d’argent et
de pierres précieuses, pour les reliques de la Chapelle de Paris” auf –
eine Angabe, die sich nach Robert Branner sehr wahrscheinlich auf
die Anfertigung des nahezu drei Meter hohen Reliquienschreins bezie-
hen läßt.47 Ein so hoher Schrein, der, weil er drehbar konzipiert war,48
noch auf einem Sockel auf dem Altar montiert worden sein muß, kann
von Anfang an wegen seiner Höhe und der geringen Arkadenhöhe
der Tribüne nicht darunter sondern nur darauf gestanden haben. Reli-
quienschrein und die nachträglich eingepassste Tribüne müssen
jedoch aufeinander bezogen gestaltet worden sein. Waren beide Teile
bereits zur Einweihung der Sainte Chapelle am 26.April 1248 vollendet
oder vielleicht doch erst später, und mit ihnen die Apostelstatuen um
die Tribüne ?
46
BILLOT, « La fondation de Saint Louis... » (op. cit. Anm. 40), S. 99.
47
R. BRANNER «The Grande Châsse...» (op. cit. Anm. 40) p. 7-8; vgl. auch J. J. DURAND,
La Grande Châsse... (op cit. Anm. 38), p. 107.
48
J. DURAND, La grande châsse... (op. cit. Anm. 38), p. 111-112.
380
49
Damit wird ein Hauptmotiv des Grande Châsse wiederholt. Vgl. dazu J. DURAND, La
Grande Châsse... (op. cit. Ann. 38) S. 111.
50
R. BRANNER, « Le Premier évangliaire de la Sainte-Chapelle », Revue de l’art, III, 1969,
S. 37–48.
51
BRANNER, Le premier évangéliaire... (op. cit. Anm. 50), R. BRANNER, « The Grande
Châsse... » (op.cit. Anm. 40), S. 10 und R. BRANNER, Manuscript Painting during the Reign of
Saint Louis, Berkeley, 1977, S. 64f, 129f. Die im Katalog Le trésor de la Sainte-Chapelle (op.cit.
Anm. 38), Cat.no. 35 unter Verweis auf Branner vorgeschlagene Datierung des ergänzten
Teils (folio 29 von BnF lat. 8892) als « 1240–1248 » bzw. « peu après 1239–40 » widerspricht
dessen Beobachtungen und publizierten Datierungen von 1255–1260.
381
aus der Zeit um1260 belegt ist (vgl. das in diese Zeit datierte dritte
Evangeliar, Abb. 7c)52, sondern auch die Tatsache, daß das Weihefest
der Sainte-Chapelle auch noch im zweiten Evangeliar (Paris, BnF lat.
9455) fehlt, obwohl es das erste vollständig verfügbare Evangeliar für
die Liturgie der Ste Chapelle bis 1248 darstellte.53
Stilistisch lassen sich sowohl beim Einband des ersten wie beim
Einband des zweiten Evangeliars Parallelen zu den kleinen Apostel-
statuen ziehen. So wird das Gefühl für die Rundung des Körpers
jeweils durch die tektonisch angelegten Gewänder vermittelt, wenn-
gleich die Drapierungen motivisch und qualitativ unterschiedlich
ausfallen : St. Jean des zweiten Evangeliars entspricht den lebensgro-
ßen Apostelstatuen der Ste Chapelle mit blossen Füssen, während St.
Jean des ersten Evangeliars einerseits noch an Gewandstatuen des
Muldenfaltenstils erinnert, aber dafür die Füße fast völlig verhüllt
zeigt. Beim ersten Evangeliars wird der weiche Schmelz der vergolde-
ten Oberfläche genutzt, um Körperlichkeit ebenso wie weich fallende
Stoffdrapierung herauszuarbeiten, während beim zweiten Evangeliar
Draperien mittels kantiger Grate akzentuiert werden. Beide Einbände
unterscheiden sich jedoch deutlich vom dritten, um 1260–1270 datier-
ten Evangeliareinband. Sowohl bei der Figurendarstellung der Kreu-
zigung wie bei der Majestas Domini führen hier Gewanddrapierungen
diagonal über den Körper hinweg und negieren so die Körpertekto-
nik ; Maria und Johannes erscheinen dadurch in ihren Proportionen
überlang. Hier betonen die Faltengrate noch deutlicher den Metallcha-
rakter, was ähnliche Effekte wie bei den großen Apostelstatuen erzeugt.
Diese auf kostbare Pracht hin angelegte Wirkung muß ursprünglich
noch durch den Steinbesatz des Evangeliars gesteigert worden sein.
Die bei den Evangeliaren gemachten Beobachtungen ergeben
somit ein ähnliches Bild wie bei den Apostelstatuen : aus der Sainte-
Chapelle überliefert, sind sie ihrer Enstehung und Konzeption nach
uneinheitlich, umgearbeitet und ergänzt. Diese Uneinheitlichkeit
betrifft auch den Stil, denn parallel gearbeitete Werke wie der Ein-
band des ersten und des zweiten Evangeliars weisen deutliche Unter-
schiede auf. Diese Beobachtungen bestätigen erneut den Eindruck,
dass während der Bauzeit der Ste Chapelle intensiv mit neuen Formen
experimentiert wurde – jedoch nicht unabhängig von der Bildaus-
52
BRANNER, Manuscript Painting... (op. cit. Anm. 51), S. 123–128, Vgl. dazu auch die Minia-
turen des dritten Evangeliars der Sainte-Chapelle (Paris, BnF lat. 17326), das von der For-
schung durchweg zwischen 1260–1270 wird und deutliche stilistische Parallelen zum ergänz-
ten Teil (folio 29) des ersten Evangeliars der Sainte-Chapelle (BnF lat. 8892) aufweist.
53
Le trésor de la Sainte-Chapelle (op.cit. Anm. 38), cat.no. 36, S. 157.
382
54
LE GOFF, Saint-Louis, (op.cit. Anm. 31), p. 370.
55
JOINVILLE, Vie de Saint Louis, J. MONFRIN (Hg.), Paris, 1995, p. 364–365.
383
56
A. ERLANDE-BRANDENBOURG, Le roi est mort, Paris, 1975.
57
A. ERLANDE BRANDENBOURG, Y. LEPOGAM und D. SANDRON, Guide des collections,
Musée national du Moyen Âge, Paris, 1993, Kat. Nr. 159, S. 132f. ; SAUERLÄNDER, Gotische
Plastik... (op. cit. Anm. 2) S. 177f.
58
LE GOFF, Saint-Louis, (op.cit. Anm. 31), p. 258.
59
SAUERLÄNDER, Gotische Plastik... (op. cit. Anm. 2), p. 190.
384
60
P. ARAGUAS, J.-P. DUPLANTIER, B. FAYOLLE-LUSSAC, J. PALARD, La cathédrale ina-
chevée – St. André de Bordeaux, Bordeaux, 1998, Chronique p. 12, 1245 stiftete Henri III der
Kirche 25 Mark Silber.
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387
388
389
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Abb. 6 : Einband (Vorder- und Rückseite) des ersten Evangéliars der Sainte-
Chapelle, Paris, Bnf, ms. lat. 8892. (Photos : RMN, Paris).
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